HARVARD UNIVERSITY.
LIBRARY
OF THE
MUSEUM OF COMPARATIVE ZOÖLOGY.
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den Generalbericht über die Arbeiten und Veränderungen
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A Hierzu ein Ergänzungsheft bibliographischen Inhalts.
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Siebzigster
Jahres-Bericht
der
chlesischen Gesellschaft
für vaterländische Gultur.
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den (eneralbericht über die Arbeiten und Veränderungen
der Gesellschaft
im Jahre 1898.
Hierzu ein Ergänzungsheft bibliographischen Inhalts.
” Breslau.
G. P. Aderholz’ Buchhandlung.
1893.
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Inhalt des 70. Jahres- Berichtes.
Allgemeiner Bericht
über die Verhältnisse und die Wirksamkeit der Gesellschaft im Jahre 1892,
abgestattet vom General-Secretair, Geh. Regierungsrath Diekhuth...
Barrelit DDer 'uie BIDlLotmeRrt er. na en N AT NE N
Bertchie übererlier Herbanien. 2.02. zu 000 ran Ben ae are ehe ae ho
Bericht über die Kassenverwaltung im Jahre 1892...........e.e.ece2eccnns
Verzeichniss der Gesellschaften ete.,, mit denen die Schlesische Gesellschaft
0 Schrmtenaustauseh- stehts... in len. Sea I
Wanderversammlung zu Jauer am 26. Jam 1892. „mn en
Wissenschaftliche Vorträge, gehalten auf der Wanderversammlung zu Jauer:
Chun, C.: Ueber die pelagische Thierwelt in grossen Meerestiefen ....
Cohn, Herm.: Demonstration einiger Apparate für die Hygiene des
Gerward: Weber. die Räteriauna der Hessberge... u... .. 202. 2...
Gürich: Ueber den geologischen Bau der Berge bei Jauer..........
Neisser: Ueber die sogenannten „Psorospermosen“ der Haut ........
Schröter: Ueber angeblich giftige Johannis- und Stachelbeeren.....
Rosenfeld: Ueber die Aetiologie des Diabetes mellitus..........-.:.
Röhmann: Ueber die diastatische Wirkung des Blutes. .-..........
I. Medieinische Abtheilung.
Sitzungen der medicinischen Section.
Adler: Ein Fall von traumatischer Halbseitenläsion im Halsmark .........
Asch, R.: Ueber die operative Behandlung der Salpingo-Oophoritis .......
Beine rUeBer Syria semawelle.. 2.un u. DER EN ERMIRENRER DPD.
Born: Bericht über die Sitzung der 5 Secretaire der medicinischen Section.
Seite
1
2
8
8
IV Inhalts -Verzeichniss.
Brieger: Zur Pathologie und Therapie der Sinusthrombose bei Mittelohr- S
eItETUNBEN- Aa aaa ee en ee te De ee Een 26
Fränkel: Aseptische Geburtshilfe oder geburtshilfliche Antiseptik? ........ 27
— Demonstration eines Präparats von Ovarialcareinom ..........:...0.. 60
Fritsch. Weber. Ventrohxation - ....0.4: 2 22 02er ee ee
Hecke: Ueber die operative Freilegung der Paukenhöhle behufs Heilung von
chronischen Eiterungen ete. .....:..,.... ee ee ERSERUEN 46
Henle: Ueber einen, Fall von Tumor,am Hals...» - . - „2... 2.e 2. „mn 50
Hirt: Ueber eine an einer Dorfschule (Gross-Tinz) beobachtete Epidemie von
hysterischen Krampfen - 2.37.02... abe ae Se A 96
Hürthle: Ueber die Erklärung des Cardiogramms mit Hilfe der Herztöne
und über eine Methode zur mechanischen Registrirung der Töne..... 59
Jacob: Die Beziehungen der arbeitenden Muskeln zum Herzen ............ 583
Martin, E.: Vorstellung eines Falles von Tumorbildung in einer über-
zähligen Brustdrüse und Demonstration eines wegen Tuberculose
resecirten. CHecuMmS .- „un Lens ran ae 51
Mikulicz: Der heutige Stand der Kropfbehandlung...-- 2.2... nr... .00zs 21
Müller :- Deber Teterus.n "2.2: „esse een ae Sr ne ee 1
Neisser: Deber lichen serophulosorum 7 2..- u... 2. 0% Sue ann ee 20
Riegner: Ueber einen Fall von Resection beider Oberkiefer wegen Enchon-
Ürommsr. a ee U EEE 2 6
— Ueber einen Fall von Exstirpation der traumatisch zerrissenen Milz... 61
Schmidt, Ad.: Demonstration mikroskopischer Präparate................. 14
Silbermann: Carbolsäurevergiftung bei Säuglingen............... ....... 23
Simm: Ein Fall.yon Addisonscher Krankheit... -.. ap u... . 2 25 42
Sitzungen der Section für öffentliche Gesundheitspflege.
Bender: Deber.die Cholera rer. 2 un a. a .. AO
Bienk 0: Veber die Cholera Bpzer u R 103. 106
Bitter: Ueber die Cholera ..... REN ET EL EEE TE EEE 98
Cohn, Herm.: Ueber die Augen“der Müsiker.-...7..:... u. see 93
Flügge: Eine Kritik der bisherigen prophylaktischen Maassnahmen gegen
die »Chalera.. u... 2. Sr De ee RR eye el 2 SS 112
9ac0b1: Weber die Cholera 2.7 2: 200. 0. 00 ee ee ee a 101
Kayser: Ueber die (Cholera. 22... He 20 an a RE 111
Ponfick: Deber die Lholerass.r.2- usb: 30 were 96
1. Naturwissenschaftliche Abtheilung.
Sitzungen der naturwissenschaftlichen Section.
Althans, Deher..die nordische Eiszeit. „„n.aA 0. ana ee 1i
— Ueber die Beziehungen der Basalte in den Vorbergen des Isergebirges
ZU Z Eee Be ee ee RE te 19
Inhalts - Verzeichniss,
Althans: Ueber einen Quarzkantner aus dem Katzengebirge ..............
— Ueber die für die Weltausstellung von Chicago von dem hiesigen
Königl. Oberbergamte: gelieferten Beiträge »rr...... nn el Hop.
Galle: Allgemeine Uebersicht der meteorologischen Beobachtungen auf der
Königl. Universitäts-Sternwarte zu Breslau im Jahre 1892............
Gürich: Ueber die quartäre Säugethierfauna von Venezuela und über
nordamerikanisches Mastodentenn ta. na ei arlolbr
— Ueber Monograptus priodon und’ über Silur und Devon des polnischen
N RES LEN ER Se NLA ORTE BR IRENER N RESERTERRERICEIRR: :° = 7,871
— Ueber ein neues Vorkommen von Lias und oberen Jura auf der Insel
Rotti bei Timor und über diluviale Knochen von Münsterberg .......
— Ueber neuere Pubicationen zur Geologie Schlesiens .................
Kunisch: Ueber neue Beiträge zur paläontologischen Kenntniss des ober-
Sehlesisehem‘ Muschelkalkes 11H. il. la nanms is. oral} >5%
Kadenburg. Ueber. das, Hyosan.: . Aserlaaı ed -andaa HT oderrusblo} :
— Ueber das Isoconiin und den asymmetrischen Stickstoff ......... SIR?
Meyer, 0. : Weber. den Drebstrom. .....02....-.24..22.22.22 2 :H6HroKa
Michael: Veber; Genomap und. Turonrbei, Cudowa =. 442107 .- 22. %25%
Mille Weber. Verrugand: ........-:...0.22 hl Alerniligerashssu 1adsll Tl
Poleck: Ueber die Haltbarkeit von Kaliumpermanganatlösungen .........-
— Mittheilungen der Resultate einiger wissenschaftlichen Arbeiten des
pharwseeutischen, Tnstitutscalas A: 35% anrmeidlsstsdtt ih ad -I>r
— Ueber eiue neue krystallisirte Eisen-Wolfram - Legirung ............-.
Raciborski: Ueber ein neues fossiles Lebermoos ...........:. 2... 2...
Runge: Mineralegische, Mittheilungen....... 1... 3Prupf nor Hart -
Schiff: Ueber die theoretischen Vorstellungen der Chemiker des 13. Jahr-
Va re N SE ER RE VATER N
—t Ueber ein Vorkommen von Gyps-Krystallen in der Nähe der Stadt Posen
v. Trautschold: Ueber die Bewegungen des Erdoceans während der
SEOlOBISChHeN: Perioden. re. ame ae: arten are re a ee eg
Wolffenstein: Ueber die Einwirkung des Wasserstoffsuperoxyds auf
TEN N RE EEE u Sn 2 2 ee ee
Sitzungen der botanischen Section.
Auerbach: Ueber den Gang und die Resultate seiner auf die Ermittelung
tinctioneller Differenzen in den Zellkernen höherer Thiere gerichteten
ÜBiessrenumsene a m a een ee en ehe
Cohn, Ferd.: Das Herbar von Georg Rudolph, Herzog in Schlesien zu Liegnitz
und Brieg, aus dem, Jahn 1612 12.2000. Hi ante ash
— Demonstration von 2 Stammabschnitten des westindischen Spitzenbaums
40
1
49
60
VI Inhalts - Verzeichniss.
Cohn, Ferd.: Ueber das projectirte Beinert-Denkmal zu Charlottenbrunn...
— Ueber Entstehung von Kalk- und Kieselgestein durch Vermittelung
von Algen. »xa.: nun» v2 DREH E Bari OEE RR aa au:
— Demonstration von Zweigen der Buche mit rothen, gezähnten Blättern
Fiek & Schube: Ergebnisse der Durchforschung der schlesischen Phane-
rögßarhenflor&: imidahre 4899 an. alla „nern aba yuie
Gerhardt: Poa Figerti (nemoralis X compressa) nov. hybr. ..............
Prantl: Ueber das System der Monocotyledonen, insbesondere die Gruppe
Harınasaec nr nn DER En me se ee Be en BO
Priemer: Untersuchungen über die Anatomie der Ulmaceen ..............
Rosen: Ueber die chromatischen Eigenschaften der Nucleolen und der
Sexualzellkerne beiden Tdliaceen:s.). 2:2. var 2. Sir :®
— ‚Weber Versuche: mit Topfpflänken un. nur nn. ea.
Runge: Ueber ein neues Vorkommen der Stigmaria ficoides auf der Stein-
kohlengrube..Piesberg bei, Osnabrück ; . .,. 2.1.1043. Kl. HIER RE
Schottländer: Ueber histologische Untersuchungen über Sexualzellen bei
Kryptogamen. ne van sa 5 ns TRADE
Schröder, Br.: Vorläufige Mittheilung neuer schlesischer Algenfunde .....
Schröter: Ueber südamerikanische.Pilza 2... .. =... .DORENENE RER
— Ueber einen in der Nähe von Grünberg gewachsenen Polyporus
TORUBSUS:H BARRIERE OR AH AERO IE
Stenzel: Ueber die Artberechtigung von Asplenium germanicum Weis.....
— Ueber einige Bildungsabweichungen.............22.2c0ceneneeenennn
v Trautschold: Sammlung getrockneter Pflanzen von Abazzia (Istrien) ..
—. "Pflanzen von Tarvis «na. ARTEN RE BEE DIRTHE E
Sitzungen der Section für Obst- und Gartenbau.
Schröter: Ueber eine Reise des Herın E. Frank nach den Azoren und der
Küste yon Marokko; 7... ee al ee a
Schütze: Ueber die Chrysanthemum-Ausstellung in Liegnitz...............
Sutter: Vorschläge zur zweckmässigen Bepflanzung unserer Strassen in
DEHIESIEN wu ae nl a ee RS ER NE
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III. Historiseh-staatswissenschaftiche Abtheilung.
Sitzungen der Section für Staats- und Rechtswissenschaft.
Elster: Ueber die Neuordnung der Gewerbe-Inspection in Preussen........
Eras: Ueber Gesellschaften mit beschränkter Haftung. ..........c.2.......
Grünhagen: Ueber die Steuerverhältnisse Schlesiens vor hundert Jahren. .
Inhalts - Verzeichniss.
Keil: Ueber Schwierigkeiten bei dem Inkrafttreten der Landgemeinde-Ordnung
— Ueber das Termin- und Differenzgeschäft an der Börse..............
Schmidt:’Ueber die Arbeiterwohnungsfrage. ..imerre.. essen
Wagner: Ueber die statistischen Grundlagen und Ergebnisse des Invaliditäts-
und" Altersversicherungsgeseizen. nme nee ana man
Sitzungen der historischen Section.
Reimann: Ueber den Ausbruch des Krieges zwischen Russland und der
Pfortegime Jahre 1782: 2... Hr a 2 1} EN ER IN ER
— Katharina Il. und Joseph II. im Bunde gegen die Türken 1788.......
Nekrologe
auf die im Jahre 1892 verstorbenen Mitglieder.......
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schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur,
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Jahresbericht. Allgemeiner Bericht.
1892.
Allgemeiner Bericht über die Verhältnisse und die
Wirksamkeit der Gesellschaft im Jahre 1892
abgestattet
in der allgemeinen Versammlung am 5. December 1892
von
Dickhuth, Geh. Regierungsrath,
z. Z, General-Secretair,
In der am 2. Januar 1892 unter dem Vorsitze ihres Präses, Herrn
Geheimen Medicinalraths Professor Dr. Heidenhain, abgehaltenen
ordentlichen Generalversammlung der Schlesischen Gesellschaft für vater-
ländische Cultur wurde zunächst der im Laufe des verflossenen Jahres
verstorbenen Mitglieder gedacht, und die Versammlung erhob sich zu
Ehren der Verewigten. Darauf erstattete der Präses in Vertretung des
General-Secretairs den Verwaltungsbericht für das Jahr 1891. Von der
Mittheilung des Etats für die Verwaltungsperiode 1892/93 musste abge-
sehen werden, weil in Folge des erst kürzlich erfolgten Todes des bis-
herigen Schatzmeisters, Herrn Commerzienrath F.W. Rosenbaum, und
der noch ausstehenden Neuwahl eines Schatzmeisters die vollständige
Aufstellung des Etats nicht zu ermöglichen war; dafür gab der Präses
im Allgemeinen eine Uebersicht der Finanzlage der Gesellschaft.
Hierauf erfolgte die Wahl der 15 Mitglieder des Directorii der Ge-
sellschaft für die Verwaltungszeit 1892/93; es wurden statutengemäss zu
Directoren gewählt die Herren:
1. Geheimer Medieinalrath Professor Dr. Heidenhain,
. Geheimer Medicinalrath Professor Dr. Biermer,
. Bürgermeister Dickhuth,
Geheimer Regierungsrath Professor Dr. Poleck,
. Kaufmann und Fabrikbesitzer Max Wiskott,
. Geheimer Regierungsrath Professor Dr. Ferd. Cohn,
. Geheimer Medicinalrath Professor Dr. Förster,
. Geheimer Medieinalrath Professor Dr. Fritsch,
. Geheimer Archivrath Professor Dr. Grünhagen,
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) Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
10. Staatsanwalt Dr. jur. Keil,
11. Ober-Regierungsrath a. D. Schmidt,
12. Domprobst Professor Dr. Kayser,
13. Geheimer Commerzienrath Leopold Schöller,
14. Generalmajor z. D. Weber und
15. Geheimer Regierungsrath Professor Dr. Ladenburg.
In der sich anschliessenden Directorialsitzung wählten die Herren
Direetoren in den vollziehenden Ausschuss für die neue Verwaltungs-
periode die Herren:
1. Geheimen Medieinalrath Prof. Dr. Heidenhain als Präses,
2. Geheimen Mediecinalrath Prof. Dr. Biermer als Vicepräses,
3. Bürgermeister Diekhuth zum ersten Generalsecretair,
4. Geheimen Regierungsrath Professor Dr. Poleck zum zweiten
General-Secretair und
5. Kaufmann und Fabrikbesitzer Max Wiskott zum Schatzmeister.
Einen schweren Verlust erlitt die Gesellschaft und insbesondere
auch deren Präsidium durch den am 25. Juni erfolgten Tod des Vice-
präses, Herrn Geheimen Mediecinalraths Professor Dr. Biermer.
An seine Stelle wurde in der Präsidial-Versammlung vom 10. October
1892 Herr Oberbürgermeister Bender zuerst zum Mitgliede des Direetorii
und darauf in der sich anschliessenden Directorialsitzung zum Vicepräses
der Gesellschaft gewählt. In derselben Sitzung erfolgte auch die Wahl
des Herrn Banquier Albert Holz zum Rechnungsrevisor der Gesell-
schaft, welches Ehrenamt Herr Geheimer Regierungsrath Professor
Dr. Galle vor langen Jahren gütigst übernommen hatte, wofür ihm hier
seitens der Gesellschaft der wärmste Dank ausgesprochen sei.
Durch den Tod verlor die Gesellschaft im verflossenen Jahre
von einheimischen Mitgliedern die Herren:
. Geheimer Medicinalrath Professor Dr. Biermer,
. Stadtrichter a. D. Friedländer,
. Dr. med. Paul Lion,
. Geheimer Bergrath von Tschepe und
. Geheimer Regierungsrath Martins;
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von auswärtigen Mitgliedern die Herren:
l. Dr. med. Fellsmann, Dittmannsdorf,
2. Oberbürgermeister von Forckenbeck, Berlin,
3. Geheimer Sanitätsrath Dr. Krause, Liegnitz, und
4. Geheimer Sanitätsrath Dr. Schirmer, Grünberg i. Schl.
Ausgeschieden sind in diesem Jahre 1 einheimisches Mitglied und
6 auswärtige Mitglieder.
Allgemeiner Bericht.
Dagegen sind im Jahre 1892 aufgenommen worden
als wirkliche einheimische Mitglieder die Herren:
. Dr. phil, Julius Abel,
. Dr. med. Arthur Adler,
. Privatdocent Dr. phil. Felix Ahrens,
. Dr. phil. Hans Alexander,
. Kaufmann Reinhold Auras,
. Geheimer Justizrath Biernacki,
„Dr. med. Oskar Brieger,
. Rentier Louis Burgfeld,
„Dr. med, 8. Creutizberger,
. Kaufmann J. Ehrlich,
. Dr. med. Adolf Goldstein,
. Kaufmann A. Goldstein,
. Kaufmann J. Goldstein,
. Oberstabsarzt Dr. Gellner,
. Generallandschafts-Syndikns Grützner,
. Mathematiker A. Hartmann,
. Apotheker V. Hellmann,
. Privatdocent Dr. med. Hürthle,
. Primärarzt Dr. Jadassohn,
. Direetor der med. Klinik Professor Dr. Kast,
21.
22.
23.
. Generalarzt Dr. Kirchner,
. Dr. med. Georg Kobrak,
. Staatsanwalt Koblisk,
. Oberstabsarzt Dr. Küntzel,
iDrämed. ‚Walter Kruse;
. Dr. med. Paul Landsberg,
. prakt. Stenograph Max Langer,
. Dre) med. Lasker,
. Dr. med. Felix Loewenhardt,
. Oberstabsarzt und Garnisonarzt von Breslau Dr. Meilly,
. Wirklicher Geheimer Bergrath Meitzen,
. Berghauptmann H. Pinno,
. Dr. phil. Gotthold Prausnitz,
. Fabrikbesitzer Dr. phil. Prommnitz,
. Badearzt Dr. med. J. Rosenthal,
. Regierungsrath Rüdiger von Haugwitz,
. Stadtrath E. Sachs,
. Apotheker H, Sachs,
Dr. phil. Georg Karau,
Geheimer Baurath Fr. Keil,
Stabsarzt Dr. Kiesewalter,
1*
4 | Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
42. Dr. phil. Georg Schneidemühl,
43. Dr. phil. P. Schottländer,
44. Oberstabs- und Regimentsarzt Dr. Schulte,
45. Obergärtner J. Schütze,
46. Kaufmann Hugo Schweitzer,
47. Partikulier Simon Schweitzer,
48. Königl. Oekonomierath Stoll,
49. Dr. med. Friedrich Weinhold,
0. Dr. med. M. Wertker,
5l. Redacteur Wittschewsky,
52. Professor Dr. F. Wohltmann,
53. Dr. phil. Richard Wolffenstein,
54, Dr. phil. Conrad Wutke;
als wirkliche auswärtige Mitglieder die Herren:
1. Lieutenant und Rittergutsbesitzer Creydt, Jauer,
2. Sanitätsrath und Stabsarzt der Landwehr Dr. Dorn, Jauer,
3. Dr. med. Fröhlich, Jauer,
4. Ober-Regierungsrath von Gräbenschütz, Liegnitz,
5. Dr. med. Günter, Jauer,
6. Guercke, Stadtrath und Buchhändler, Jauer,
7. Dr. Georg Hasse, Saarau,
8. Director Dr. Arnold Heintz, Saarau,
9. Dr. med. Herrnstadt, Reichenbach i. E.,
10. Direetor Kepp, Zuckersiederei Alt-Jauer,
11. Banquier O. Knapp, Jauer,
12. Rechtsanwalt Kühn, Jauer,
13. Bürgermeister Lindemann, Jauer,
14. Stadtrath und Kaufmann Mager, Jauer,
15. Prorector und Professor Dr. Münscher, Jauer,
16. Professor Dr. Noss, Jauer,
17. Apotheker Arthur Presting, Domslau,
18. Landschafts-Syndieus Pritsch, Jauer,
19. Dr, med. Rieger, Brieg,
20. Dr. med. Schmidt, Jauer,
21. Lehrer Scholtz II, Jauer,
22. Dr. med. Paul Schüller, Domslau,
23. Dr. med. Tornier, Obernigk und
24. Dr. med. et phil. Traube, Berlin,
Die Gesellschaft zählt mithin:
343 wirkliche einheimische Mitglieder,
151 wirkliche auswärtige Mitglieder,
30 Ehrenmitglieder und
143 correspondirende Mitglieder,
Allgemeiner Bericht. h)
Die Section für Obst- und Gartenbau besteht für sich aus 152 Mit-
gliedern.
Dieser unserer Section ist auch im Jahre 1892 seitens des Pro-
vinzial-Landtages der Provinz Schlesien eine Unterstützung von 1650
Mark gewährt worden, wofür wir unseren Dank auch an dieser Stelle
aussprechen,
Im Laufe des Jahres 1892 haben stattgefunden: 4 Präsidial- und
3 Directorial-Sitzungen, 2 ordentliche und 1 ausserordentliche General-
Versammlung, eine Wanderversammlung und 3 allgemeine Versamm-
lungen.
In der Präsidial-Sitzung am 22. April d. J. macht der Präses die
erfreuliche Mittheilung, der Ausschuss der Provinzial-Verwaltung von
Schlesien habe das Directorium der Schlesischen Gesellschaft benach-
richtigt, dass der Provinzial-Ausschuss aus dem Dispositionsfonds vom
1. April 1892 bis dahin 1893 der Schlesischen Gesellschaft eine Unter-
stützung von 3000 Mark bewilligt und in sichere Aussicht stellt, die
Summe als ständigen Betrag in den Etat der Provinz aufzunehmen,
dabei die Erwartung ausspricht, dass die Höhe der Mitgliederbeiträge
ermässigt werde.
Infolgedessen hat die am 10. Mai d. J. stattgefundene ausserordent-
liche General-Versammlung beschlossen: den jährlichen Beitrag für ein-
heimische Mitglieder von 18 Mark auf 10 Mark herabzusetzen und diese
Herabsetzung schon zum 1, Juli d. J. eintreten zu lassen. Dieser Beschluss
wurde unterm 30. Juli 1892 (O0. P. L. 6245) durch den Oberpräsidenten
der Provinz Schlesien bestätigt und Absatz 3 $ 4 des Statuts vom
11. November 1878 dahin abgeändert:
„Der Aufgenommene übernimmt die Verpflichtung, einen
fortlaufenden jährlichen Beitrag, sofern er in Breslau wohnt, von
10 Mark, sofern er nicht in Breslau wohnt, von 6 Mark zu
entrichten, welcher Beitrag auch im Falle des Ausscheidens,
jedenfalls für die dann laufende Etatsperiode zu zahlen ist,“
In der Präsidial-Sitzung vom 7. März 1892 wurde auf das vom
26. Februar d,. J. datirte Schreiben des Vereins christlicher Kaufleute;
des Besitzers der von der Schlesischen Gesellschaft gemietheten Räume,
beschlossen, fortan auf den nach dem Rossplatz gelegenen Theil der
Räume zu verzichten und die bisherige Gesammtmiethe von 1800 Mark
weiter für den nach dem Blücherplatz und dem Hofe gelegenen Theil
der früheren Räume allein zu zahlen. Weiter wurde beschlossen, die
der Gesellschaft gehörenden Mineralien- und Conchylien-Sammlungen in
Folge der jetzigen Raumbeschränkung zu verkaufen, was bereits er-
folgt ist,
6 Jahresbericht der Schles, Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Die allgemeine Wanderversammlung der Schlesischen Gesell-
schaft fand am 26. Juni zu Jauer statt, damit war ein Ausflug zu Wagen
nach der an Naturschönheiten reichen Moisdorfer Schlucht verbunden.
In der Allgemeinen Versammlung
1) am 22. Januar d, J. hielt der Director des städtischen Elek-
trieitätswerkes, Herr B. Leitgebel, einen mit Demonstrationen
begleiteten Vortrag über die Erzeugung und Vertheilung der
Elektrieität in Elektrieitätswerken;
2) am 14. März d. J. hielt Herr Geh. Rath Professor Dr. Laden-
burg einen Vortrag über den chemischen Bau der Materie;
3) am 7. November d. J. sprach Professor Dr. Prantl über die
Jugendformen der Pflanzen;
4) am 5. December d. J. hielt Herr Amtsgerichtsrath Dr. Lunge
einen Vortrag über Siam mit Demonstration siamesischer Objecte.
Das Stiftungsfest der Gesellschaft wird am 17. December d. J.
gefeiert und durch einen Vortrag des Herrn Privatdocent Dr. Semrau
über die Jugendwerke Michel Angelo’s eingeleitet werden.
Zum Jahresberichte für 1891 (69. Jahresbericht) wurde als Er-
gänzungsheft ausgegeben: Professor Dr. J. Partsch, Literatur der
Landes- und Volkskunde der Provinz Schlesien, Heft I (92 Seiten).
Die Rechnung der Allgemeinen Kasse für das Jahr 1891 ist durch
den Schatzmeister, Herrn Kaufmann und Fabrikbesitzer Max Wiskott,
und für die besondere Kasse der Section für Obst- und Gartenbau für
1891 durch Herrn Verlagsbuchhändler Max Müller heut ordnungs-
mässig gelegt worden und die genannten Herren wurden nach erfolgter
Prüfung durch das Präsidium entlastet.
Ueber die Thätigkeit der einzelnen Sectionen haben die Herren
Secretaire berichtet:
Die medieinische Section
(Secretaire: Geh. Medicinalrath Professor Dr. Ponfick, Geh. Medieinal-
rath Professor Dr. Fritsch, Geh. Mediecinalrath Professor Dr. Mikulicz,
Prosector Professor Dr. Born und Privatdocent Dr. Buchwald)
hielt im Jahre 1892 14 Sitzungen.
Die Section für Öffentliche Gesundheitspflege
(Secretaire: Professor Dr. Flügge, Sanitätsrath und Bezirks- Physikus
Dr. Jacobi und Professor Dr. Herm. Cohn)
hielt im Jahre 1892 3 Sitzungen,
Die naturwissenschaftliche Section
(Seeretaire: Geh. Regierungsrath Professor Dr. Poleck und Professor
Dr. Hintze)
hielt im Jahre 1892 8 Sitzungen.
Allgemeiner Bericht. 7
Die botanische Section
(Secretair: Geh. Regierungsrath Professor Dr. Ferdinand Cohn)
hielt im Jahre 1892 9 Sitzungen.
Die Section für Staats- und Rechtswissenschaft
(Secretaire: Professor Dr. Elster, Staatsanwalt Dr. jur. Keil, Ober-
Regierungsrath a. D. Schmidt und Geh. Commerzienrath Leopold
Schöller)
hielt im Jahre 1892 6 Sitzungen.
Die historische Section
(Seceretair: Director Professor Dr. Reimann)
hielt im Jahre 1892 3 Sitzungen,
Die Section für Obst- und Gartenbau
(Secretaire: Professor Dr. Prantl, Garten-Inspector Richter)
hielt im Jahre 1892 8 Sitzungen.
Bericht über die Bibliothek.
Die im Laufe des Jahres 1892 der Schlesischen Gesellschaft zuge-
gangene Literatur setzt sich wie in früheren Jahren zusammen: aus den
Gegensendungen der Akademien, Gesellschaften etc, mit denen die
Schlesische Gesellschaft in Schriftenaustausch steht, ferner aus Ge-
schenken von Behörden und Privatpersonen und aus den von der Buch-
handlung Trewendt & Granier hier abgelieferten Schriften des bota-
nischen Lesezirkels.
Diese Zugänge zur Bibliothek wurden nach laufenden Nummern
gebucht und gemäss dem Vertrage vom 15. Juli 188€ den Vertretern
der Königlichen und Universitätsbibliothek an vier Terminen zur Ver-
waltung übergeben, nämlich:
1. am 13. Januar 1892 Herrn Custos Dr. von Hagen No. 2381
bis No. 2507,
2. am 27. April 1892 Herrn Custos Dr. Leopold Cohn No. 2508
bis No. 2696,
3. am 19. October 1892 Herrn Custos Dr. Leopold Cohn Nr, 2697
bis No. 2896,
4. am 25. Januar 1893 Herrn Custos Dr. Leopold Cohn Nr. 2897
bis No. 3095.
Im Laufe des Jahres sind dem Schriftenaustausch unserer Gesellschaft
neu zugetreten:
8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
1. Akademische Lesehalle in München,
2. Redaction der naturwissenschaftlichen Wochenschrift von Dr. H.
Potoni& in Berlin,
3. Gesellschaft zur Förderung Deutscher Wissenschaft, Kunst und
Literatur in Prag,
4, Fauna, Verein Luxemburger Naturfreunde in Luxemburg, und
5. Alterthums-Verein zu Worms,
Breslau, am 5. December 1892.
G. Limpricht.
Bericht über die Herbarien der Gesellschaft.
Die Einordnung der Nachträge zu dem Hauptherbar und die Unter-
bringung desselben in Kästen wurde in diesem Jahre vollendet; die Zahl
der letzteren beträgt nunmehr 450. Ferner sind jetzt die gesammten
Gefässkryptogamen des Hauptherbars anfgeklebt; ein Theil derselben
befindet sich zur Durchsicht bei Prof, Prantl.
Von andern Benützern der Sammlungen ist noch Rent. Scharlok
(Graudenz) zu nennen.
Breslau, den 31. December 1892.
Dr. phil. Theodor Schube.
Bericht über die Kassenverwaltung im Jahre 1892.
Zu dem Bestande der Kasse Ende 1891 von 1602,80 Mark traten
an Einnahmen im vergangenen Jahre 10 171,60 Mark, wogegen veraus-
gabt wurden 11 482,35 Mark, so dass ein Ueberschuss von 292,05 Mark
verblieb. Dagegen konnten aus den Erträgen 3000 Mark 31/, procentige
Posener Pfandbriefe angeschafft werden. Das Effecten-Conto beläuft sich
nunmehr per 1. Januar 1893 auf 48 200 Mark, wogegen sich das Ver-
mögen der Gesellschaft um 1689,75 Mark vermehrt hat, mithin im
Ganzen 48 492,55 Mark betragend.
Breslau, den 16. Mai 1893.
Max Wiskott, z. Z. Schatzmeister.
Kassen-Abschluss für das Jahr 1892.
Allgemeine Kasse.
Einnahme.
An Bestand aus dem Jahre 1891 .
An Zinsen von Werthpapieren:
pro I. Semester .
I. ”
vb)
An Zinsen vom Baarbestand bei der städtischen Sparkasse.
An Beiträgen einheimischer Mitglieder:
pro I. Semester von 284 Mitgliedern a 9 M.
” Il ” ” 273 ” a B) Dress
An Beiträgen auswärtiger Mitglieder:
151 Karten 6 M.
Beitrag vom Provinzial-Ausschuss (jährlich 3000 #) vom 2 92 be-
ginnend, mithin auf °, Jahre
Jahres-Beitrag des Magistrats zu Breslau . o
Mieths-Beitrag vom Gewerbe-Verein bis 30./6. 92.
5 vom Verein für Geschichte .
Zahlung von H. Wagner für die verkaufte Mineraliensammlung .
Erlös für diverse alte Gegenstände .
» „ verkaufte Conchylien.
Aussergewöhnliche Einnahmen:
Zahlung der Aderholz’schen Buchhandlung für 10 Jahresberichte und
Ergänzungshefte
Erlös für 1 Exemplar GeneHsehafeschrift
Entschädigung für Heizung und Beleuchtung .
Neu erworben:
3000 # 3°, %, Posener Pfandbriefe .
Ist eingekommen
Werth-
papiere
M
45200
3000
48200
Baar
NM
1602
62
21
11774
a
80
40
Allgemeine Kasse.
Ausgabe.
Für Miethe an den Verein christl. Kaufleute inel, Wassergeld
Honorare und Remunerationen
Gehalt an den Castellan .
Pension an Frau Reisler
Heizung.
Beleuchtung . a
Prämie Schlesische Feuerversicherung .
Unterhaltung des Mobiliars. .
Schreib-Bedürfnisse .
Zeitungs-Inserate .
Druckkosten . ee
Anschaffung von Büchern und Journalen .
Buchbinder-Arbeiten .
Porto-Auslagen .
Kleine Ausgaben .
Zinsen an Castellan Kreusel für seine hinterlegte Cantion. :
gekaufte nom. 3000 Mark 3'/, %, Posener Pfandbriefe.
Bestand am Schlusse des Jahres 1892.
31, %/%, Oberschl. Eisenb.-Prioritäts-Oblig. Litt. E.
3"), % Prämien-Anleihe .
4 %, Consolidirte Anleihe.
4 %h „ „ .
3 Io DD) D
31), %, Sehlesische Pfandbriefe Litt, ande
3 '; % >) „ Litt. D..
Schlesische Bankvereins-Antheilscheine .
Neu erworben:
31), % Posener Pfandbriefe.
Ist verausgabt
48200
Baar
N %
|
1860 | —
330 | —
1200 | —
150 | —
244 | 50
211 | 80
26 | —
44 | 95
31 | 50
189 | 80
3326 | 59
225 | 80
222 | 56
292 | 59
234 | 25
18 | —
2874 | 05
292 | 05
11774 | 40
Max Wiskott, z. Z. Schatzmeister der Gesellschaft.
Kassen- Abschluss der Seetion für Obst- und Gartenbau für das Jahr 189.
Fri
nn nn nee m
Effecten
Einnahmen. 2
An Vortrag aus Rechnung 1891 19600
„ Mitglieder-Beiträgen:
29gBeiträgp dür 1892 IE ENEEREIRER REN —
„ Garten-Erträgnissen:
Verkaufte Baumschul-Artikel . . . .....3174 M 58 %
5 BlumennundGremüse. . 2. 2.22.3602 ,,.407, =
„ Subventionen:
Subvention vom Schles. Provinzial-Ausschusse für 1892. . . . =
„ Zinsen:
31, %, v. 1./10. 1891 bis 30./9. 1892 von 3000 AM
Oberschl. Prioritäts-Obligationen Litt.E.. . 15 M — %
3, °, vom 1,10. 1891 bis 30./9. 1892 von
1800 M Preuss. 3%, %, Consols ... . 6
4%, für 1892 von 5000 A Schlesische Erbe
eredit-Pfandbriefe. . . . 200.2, m.
4 %, für 1892 von 3800 M Brousdisches 4 1
Konsolen 2 Da
3, °%) für 1892 von 5000 nn each.
CentialBfandbriefe = 0 el
3, % für 1892 von 3000 4 Schlesische
Pfandbriefe . . . 105 „u — ,„
Zinsen auf Bechnüngehneh der Schles, handsol
Bank Va ee, 0138010, =
„ Lesezirkel:
22 Beiträge zum Lesezirkel fir 189%, +. -. -. +. lsah alsihsr ng
»„ Verschiedenem:
Antheil am Ueberschuss des Obstmarktes im
Hienbat- 1892... =... 2 I AM—
Rückzahlung des ro za, Nerbendas Schles.
Gartenbau-Vereine für in früheren Jahren zu
welerhobene Beiträge . .» . 2... .. Gas 20,,r; >
„ Effecten:
Für gekaufte 4 %, Schlesische Bodeneredit-Pfandbriefe . . . . | 2000
21600
Baar
M u
4645| 11
5560| —
Sr 98
1650 | —
838 | 10
66| —
56 | 20
39
11592 |
Ausgaben,
Für den Garten:
Görtnergehalt, Heizung und Beleuchtung 1670 HM 17 8%
Arbeitslöhne . 2603 02, Ad:
Dunsstoffe . : 405: 5,70 „
Wildlinge und Beeren 5 439 1 erden
Baulichkeiten und Geräthschaften 400,0, Une
Porti, Steuern, Drucksachen ete.. 1172, 4008
„ den Lesezirkel:
Colportage . : 2M — %
Buchbinderarbeit anal Diner schen : 10 008 >;
„ Insgemein:
Gekaufte 2000 MA 4°, Schlesische Bodeneredit-
Pfandbriefe . 2035 M 65 %&
Porti RN sy
Inserate . Don Lo 0ER
Druckkosten- laıkea., am Jalmesb rich, für 1891 10SMEM 03 #5
Angeschaffte Werke. 6 De
Beitrag zum Provinzial-Verband Bahler Car tenbau-
Vereine und zum Deutschen Pomologen-Verein 24 „ 25 „
Gratis-Sämereien-Vertheilung an Mitglieder . NO
Weiterer Vorschuss zu den Kosten der Aus-
stellung Breslau 1892/93 EL nen,
Verschiedenes. Damen So,
»„ Bestand im Vortrage:
31%, "% Oberschles. Prioritäts-Obligat. Litt. E.. 300 4 — %
3"), %, Preussische Consols 3 1800 „ — ,„
4 °%, Sehlesische Bodenceredit- Pfandbuiers‘ 5000 „ — ,,
4 %, Preussische Consols ß 3800 „ —
3'/, °%, Landschaftliche Central- Pfandbriefe . 5000 „ — ,„
31, °% Sehlesische Pfandbriefe . 3000 —
Dr. Schröter,
z. Z. Vorsitzender
Effeeten
21600
21600
Max Müller,
z. 2. Kassenvorsteher
des Verwaltungsvorstandes der Section für Obst- und Gartenbau.
11592
Baar
I Me S.
9752| 52
70
2546 | 91
3185 | 26
Verzeichniss
der Akademien, Vereine u. s. w., mit denen die Schlesische
Gesellschaft in Schriftenaustausch steht.
Amerika.
Litterarisches Institut des Staates Arkansas.
American Academy of Arts and Sciences — Society of Natural History
in Boston.
Museum of Comparative Zoölogy at Harward College in Cambridge, Mass.
Elisha Mitchell Scientifie Society in Chapell Hill, N. C.
American Medical Association in Chicago.
Academia Nacional de Ciencias in Gordoba (Argentinien).
Universität des Staates in Jova City, Jova.
Wiseonsin State Agriculturial Society — Wisconsin Academie in Madison.
Royal Society of Canada in Montreal.
Wisconsin Natural History Society in Miiwaukee.
M. A. Conklin, Director of the New-York Zoological-Gardens, New-York.
Connecticut Academy of Arts and Sciences in New-Haven.
American Medical Association — Academy of Natural Sciences of
Philadelphia — American Philosophical Society, Held at Philadelphia.
National-Museum in Rio de Janeiro.
Deutscher wissenschaftlicher Verein in Santiago de Chile.
Surgeon general of the U. St. Army — Smithsonian Institution in
Washington.
Asien.
Geological Survey of India in Calcutta.
College of Medicine, Imperial University, Tokyo, Japan.
Australien.
Vietoria Instituts — Botanischer Garten — Office & Mines Melbourne
Vietoria in Melbourne.
Portugal.
Sociedale Broteriana in Coimbra.
Commission des travaux geologiques du Portugal in Lissabon.
10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Italien.
Accademia R. delle Scienze dell’ Istituto di Bologna.
R. Accademia econ.-agrar. dei Georgofili in Florenz.
Societä di Letture e Conversazioni Seientifiche in Genua.
R. Istituto Lombardo di Sceienze e Lettere — Societä Italiana di Scienze
Naturali — Societä Crittogamologieca Italiana in Mailand.
Societä dei Naturalisti di Modena.
Zoologische Station in Neapel.
Societä naturali et de oekonomiche in Palermo.
Societ& Toscana di Sceienze naturali in Pisa.
R. Accademia dei Lincei — Societä Geografica Italiana — Istituto Bo-
tanico — R. Comitato Geologico d’Italia in Rom.
R. Istituto teenico in Udine.
R. Istituto Veneto di Scienze, Lettere ed Arti — L’Ateneo Veneto in
Venedig.
Accademia di Agricultura, Commercio ed Arti in Verona.
Frankreich.
Societe des Sciences physiques et naturelles de Bordeaux.
Societe nationale des Sciences naturelles et mathematiques in Cherbourg.
Societe Linneenne de Lyon in Lyon.
Acad&mie des Sciences et Lettres de Montpellier.
Soeiete des Sciences in Nancy.
Soeiete Geologique de France — Societe nationale d’horticulture de
France in Paris.
Grossbritannien und Irland.
Cambridge Philosophical Society in Cambridge.
Royal Society in Dublin.
Royal Physical Society of Edinbourgh in Edinburg.
Royal Society of London — Royal Microscopical Society — Society of
Arts in London.
Belgien.
Acad&mie Royale de Medecine de Belgique — Societe Royale de bo-
tanique de Belgique — Societ& Royale malacologique de Belgique —
Königl. Akademie der Wissenschaften — Redaction du Journal de
Medeeine, de Chirurgie et de Pharmacologie — Königl. Sternwarte
in Brüssel.
Geologische Gesellschaft Belgiens — SocieteE Royale des Sciences in
Lüttich.
Allgemeiner Bericht. 11
Holland.
Kon. Neederlandsche Akademie v. Wetenschappen in Amsterdam.
Soeiete Hollandaise des Sciences — Teyler v. d. Hulst Fundation in
Harlem.
Maatschappy der Neederlandsche Letterkunde — Neederland. dierkundige
Vereeniging — Niederländische botanische Vereinigung in Leiden.
Universitäts-Bibliothek in Utrecht.
Luxemburg.
Institut R.-G.-D. de Luxembourg: Section des Sciences naturelles et
math&matiques — Section historigque — Section de Botanique — Fauna,
Verein Luxemburger Naturfreunde in Luxemburg.
Dänemark.
Acad&mie Royale — Kgl. Universitäts-Bibliothek — Kgl. Nordiske Old-
skrift Selskab — Botaniske Forening — Societe Royale des Antiquaires
du Nord in Kopenhagen.
Schweden.
Kgl. Akademie der Wissenschaften — Kgl. Vitterhets historie och anti-
quitets Akademie in Stockholm.
Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften — Kgl. Universitäts-Bibliothek in
Upsala.
Norwegen.
Bergens Museum in Bergen.
Kgl. Frederiks Universität — Videnskabs Selskabet — Norske Nordhavs
Expedition in Christiania.
Tromsö Museum in Tromsö.
Russland.
Esthnische gelehrte Gesellschaft in Dorpat.
Societas pro Fauna et Flora fennica in Helsingfors.
Societe des naturalistes in Kiew.
Kurländische Gesellschaft für Litteratur und Kunst — Lettisch litterarische
Gesellschaft in Mitau.
Soeiet& Imperiale des Naturalistes — Societ&e Imperiale d’Agriculture
in Moskau.
L’Acadömie Imperiale des Sciences — Kaiserl. Bibliothek — Kaiserl.
geographische Gesellschaft — Jardin Imperial de Botanique — Das
geologische Comite des Ministeriums der Reichsdomainen — Soeiete
Entomologique de Russie in Petersburg.
Naturforschender Verein — Gesellschaft für Geschichte und Alterthums-
kunde der russischen Ostseeprovinzen in Riga.
12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Schweiz.
Naturforschende Gesellschaft — Historische und antiquarische Gesell-
schaft in Basel.
Schweizerische naturforschende Gesellschaft — Historischer Verein des
Kantons Bern in Bern.
Naturforschende Gesellschaft Graubündens in Chur.
Thurgauisch naturforschende Gesellschaft in Frauenfeld.
Naturwissenschaftliche Gesellschaft — Historischer Verein in $t. Gallen.
Soeiete d’histoire et d’arch&ologie — Schweizerische naturforschende
Gesellschaft in Genf.
Historisch-antiquarischer Verein in Schaffhausen.
Universitäts-Bibliothek — Naturforschender Verein — Die antiquarische
Gesellschaft — Schweizerische Botanische Gesellschaft in Zürich.
Oesterreich - Ungarn.
Gewerbeschule in Bistritz.
K. K. Mährisch-Schlesische Gesellschaft zur Beförderung des Ackerbaues,
der Natur- und Landeskunde — Naturforschender Verein — Historisch-
statistische Section in Brünn.
K. M. Termeszettudomänyi Tarsulat, Budapest.
Historischer Verein für Steiermark — Zoologisches Institut der K. K.
Universität — Naturwissenschaftlicher Verein für Steiermark —
K. K. Universitäts-Bibliothek — Das Joanneum — Akademischer
Leseverein in Graz.
Siebenbürgischer Verein für Naturwissenschaften — Verein für sieben-
bürgische Landeskunde in Hermannstadt.
Ferdinandeum für Tirol und Vorarlberg — K. K. landwirthschaftlicher
Verein für Tirol und Vorarlberg — Naturwissenschaftlich-medieinischer
Verein in Innsbruck.
Naturhistorisches Landesmuseum von Kärnthen in Klagenfurt.
Medieinisch-naturwissenschaftliche Section des Siebenbürgischen Museums-
Vereins — Ungarisches Botanisches Jahrbuch vonDr.Kanitz in Klausenburg.
Akademya umiejetnosei — Physiographische Section der K. K. gelehrten
Gesellschaft in Krakau.
Städtische Archiv-Bibliothek in Kronstadt.
Historischer Verein für Krain — Der krainische Musealverein in Laibach.
Nordböhmischer Excursionselub in Böhmisch-Leipa.
Ungarischer Karpathen-Verein in Leutschau.
Verein für Naturkunde in Oesterreich ob der Enns — Museum Franeisco-
Carolinum in Linz.
Kgl. Böhmische Gesellschaft der Wissenschaften — Kgl. Landescultur-
rath — Oesterreichischer Riesengebirgs-Verein — Naturhistorischer
Verein „Lotos“ — Verein für die Geschichte der Deutschen in
Allgemeiner Bericht. 13
Böhmen — K. K. Deutsche Universität — Lesehalle der Deutschen
Studenten — Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft,
Kunst und Litteratur in Prag.
Verein für Naturkunde in Pressburg.
Gesellschaft für Salzburger Landeskunde in Salzburg.
Societä Adriatica di Scienze naturali — Museo eivio di storia naturali
in Triest.
K. K. Akademie der Wissenschaften — K.K. geologische Reichsanstalt —
K. K. Hof-Mineralien-Cabinet — K. K. naturhistorisches Hofmuseum
— K.K. Universitäts-Bibliothek — K. K, landwirthschaftliche Ge-
sellschaft — K. K. geographische Gesellschaft — K. K. zoologisch-
botanische Gesellschaft — Oesterreichische Gesellschaft für Meteoro-
logie — Central-Anstalt für Meteorologie und Erdmagnetismus —
Anthropologische Gesellschaft — Verein zur Verbreitung naturwissen-
schaftlicher Kenntnisse in Wien.
Deutsches Reich.
Aachener Geschichtsverein in Aachen.
Gesellschaft für die gesammten Naturwissenschaften — Geschichts- und
Alterthumsforschende Gesellschaft des Osterlandes zu Altenburg.
Annaberg-Buchholzer Verein für Naturkunde in Annaberg im Erzgeb.
Historischer Verein für Mittelfranken in Ansbach.
Historischer Verein für Unterfranken in Aschaffenburg.
Naturwissenschaftlicher Verein für Schwaben und Neuburg (a. V.) —
Historischer Verein für Schwaben und Neuburg in Augsburg.
Naturforschende Gesellschaft — Historischer Verein — Gewerbeverein
in Bamberg.
Historischer Verein für Oberfranken in Bayreuth.
Kgl. Preuss. Akademie der Wissenschaften — Universitäts-Bibliothek —
Geheimes Staatsarchiv — Kaiserl. Admiralitätt — Hydrographisches
Amt der Kaiserl. Admiralität — Kgl. Preuss. meteorologisches In-
stitut — Kgl. Preuss. statistisches Bureau — Kgl. Preuss. geodätisches
Institut — Kgl. Preuss. geologische Landesanstalt und Berg-Akademie
— Kgl. Museum für Völkerkunde — Gesellschaft für naturforschende
Freunde — Deutsche geologische Gesellschaft — Botanischer Verein
der Provinz Brandenburg — Berliner medieinische Gesellschaft —
Gesellschaft für Erdkunde — Verein für Geschichte der Mark Bran-
denburg — Verein zur Beförderung des Gartenbaues in den Kgl.
Preuss. Staaten — Verein für die Geschichte Berlins — Juristische
Gesellschaft Berlins — Verein „Herold“ — Physiologische Gesell-
schaft — Expedition der Naturwissenschaftlichen Rundschau von
Dr. W. Sklarek — Redaction der naturwissenschaftlichen Wochen-
schrift von Dr. H. Potoni& in Berlin.
14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Rheinische Friedrich-Wilhelm-Universität — Naturhistorischer Verein
der preussischen Rheinlande, Westfalens und des Regierungs-
bezirks Osnabrück — Landwirthschaftlicher Verein für Rheinpreussen
in Bonn.
Landwirthschaftlicher Verein — Historiseher Verein in Brandenburg a. H.
Verein für Naturwissenschaft zu Braunschweig.
Naturwissenschaftlicher Verein — Landwirthschaftlicher Verein in Bremen.
Provinzial-Landwirthschafts-Verein in Bremervörde.
Kgl. Universitäts-Sternwarte — Universitäts-Bibliothek — Verein für
schlesische Inseectenkunde — Verein für das Museum schlesischer
Alterthimer — Kaufmännischer Verein — Verein für Geschichte und
Alterthum Schlesiens — Statistisches Amt der Stadt Breslau —
Kgl. Oberbergamt — Schlesischer Forstverein — Handelskammer —
Landwirthschaftlicher Centralverein — Gewerbeverein — Alter Turn-
verein — Humboldt-Verein — Jüdisch-theologisches Seminar in
Breslau.
Centralstelle des landwirthschaftlichen Vereins im Grossherzogthum
Baden — Naturwissenschaftlicher Verein in Carlsruhe in Baden.
Verein für hessische Geschichte und Landeskunde — Verein für Natur-
kunde in Gassel.
Verein für Chemnitzer Geschichte — Naturwissenschaftliche Gesellschaft
Chemnitz.
Naturforschende Gesellschaft —— Hauptverein westpreussischer Landwirthe
in Danzig.
Verein für Erdkunde — Historischer Verein für das Grossherzogthum
Hessen in Darmstadt.
Gesellschaft für Botanik und Gartenbau — Naturwissenschaftliche Ge-
sellschaft ,‚Isis — Oekonomische Gesellschaft im Königreiche
Sachsen — Verein für Erdkunde — Statistisches Bureau des Kgl.
Sächsischen Ministeriums des Innern — Gesellschaft für Natur- und
Heilkunde in Dresden.
Naturwissenschaftlicher Verein der Rheinpfalz „‚Pollichia“ in Dürkheim.
Verein für Geschichte und Alterthümer der Grafschaft Mansfeld zu
Eisleben.
Naturwissenschaftlicher Verein in Elberfeld.
Naturforschende Gesellschaft in Emden.
Kgl. Akademie gemeinnütziger Wissenschaften — Verein für Geschichte
und Alterthumskunde in Erfurt.
Kgl. bayerische Universitäts-Bibliothek — Physikalisch - medieinische
Societät in Erlangen.
Naturforschende Gesellschaft des Senckenbergischen Institus — Verein
für Geschichte und Alterthumskunde — Aerztlicher Verein — Physi-
kalischer Verein in Frankfurt a. M.
Allgemeiner Bericht. 15
Naturwissenschaftlicher Verein des Regierungsbezirks — Historischer
Verein in Frankfurt a. 0.
Freiberger Alterthumsverein — Kgl. Bergakademie in Freiberg i. S.
Grossherzogl. Universität — Naturforschende Gesellschaft in Frei-
burg i. B.
Verein für Geschichte des Bodensees in Friedrichshafen.
Verein für Naturkunde in Fulda.
Oberhessische Gesellschaft für Natur- und Heilkunde in Giessen.
Naturforschende Gesellschaft — Oberlausitz’sche Gesellschaft der Wissen-
schaften in 6örlitz.
Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften und der Georg-August-Universität
in Göttingen.
Baltisch-landwirthschaftlicher Centralverein — Geographische Gesellschaft
in Greifswald.
Verein der Freunde der Naturgeschichte in Mecklenburg in Güstrow.
Kaiserl. Leopoldipisch-Carolinische Akademie der Naturforscher — Kgl.
Universitäts-Bibliothek — Verein für Erdkunde — Naturwissenschaft-
licher Verein für Sachsen und Thüringen in Halle a. 8.
Naturwissenschaftlicher Verein — Verein für naturwissenschaftliche Unter-
haltung in Hamburg.
Wetterauische Gesellschaft der gesammten Naturkunde in Hanau.
Naturhistorische Gesellschaft — Historischer Verein für Niedersachsen —
Kgl. Landwirthschafts-Gesellschaft in Hannover.
Grossherzogl. Universitäts- Bibliothek — Naturhistorisch - medieinischer
Verein — Historisch-philosophischer Verein in Heidelberg.
Oekonomisch-patriotische Societät der Fürstenthimer Schweidnitz und
Jauer in Jauer.
Grossherzogl. Universitäts-Bibliothek — Medicinisch-naturwissenschaftliche
Gesellschaft — Verein für thüringische Geschichte und Alterthums-
kunde in Jena.
Kgl. Universitäts- Bibliothek — Schleswig-Holstein-Lauenburgische Ge-
sellschaft für vaterländische Geschichte — Naturwissenschaftlicher
Verein für Schleswig-Holstein — Schleswig-Holstein-Lauenburgische
Gesellschaft für Sammlung und Erhaltung vaterländischer Alterthümer
in Kiel.
Kgl. physikalisch-ökonomische Gesellschaft — Kgl. Universitäts-Bibliothek
in Königsberg i. Ostpr.
Botanischer Verein in Landshut a. Isar.
Kgl. Sächsische Gesellschaft der Wissenschaften — Medieinische Gesell-
schaft — Polytechnische Gesellschaft — Naturforschende Gesellschaft
— Verein für Erdkunde in Leipzig.
Naturhistorisches Museum der Stadt Lübeck.
16 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Naturwissenschaftlicher Verein — Museumsverein für das Fürstenthum
Lüneburg in Lüneburg.
Naturwissenschaftlicher Verein in Magdeburg.
Mannheimer Verein für Naturkunde in Mannheim.
Kgl. Universitäts-Bibliothek — Gesellschaft zur is der ge-
sammten Naturwissenschaften in Marburg.
Historischer Verein in Marienwerder Westpr.
Verein für die Geschichte der Stadt Meissen in Meissen.
Kgl. bayerische Akademie der Wissenschaften — Gesellschaft für Mor-
phologie und Physiologie — Historischer Verein für Oberbayern —
Landwirthschaftlicher Verein in Bayern — Akademische Lesehalle
in München.
Westfälischer Provinzial- Verein für Wissenschaft und Kunst — Kgl.
Akademie — Verein für Geschichte und Alterthumskunde Westfalens
in Münster i. Westf.
Philomathie in Neisse.
Germanisches National-Museum — Naturhistorische Gesellschaft — Verein
für Geschichte der Stadt Nürnberg in Nürnberg.
Lahnsteiner Alterthumsverein in Oberlahnstein.
Verein für Naturkunde in Offenbach.
Philomatische Gesellschaft in Oppeln.
Naturwissenschaftlicher Verein in Osnabrück.
Historische Gesellschaft für die Provinz Posen in Posen.
Landwirthschaftlicher Verein für die Mark Brandenburg in Potsdam.
Zoologisch-mineralogischer Verein — Historischer Verein für die Ober-
pfalz in Regensburg.
Grossherzogl. Universitäts-Bibliothek in Rostock.
Verein für Henneberg’sche Geschichte in Schmalkalden.
Grossherzogl. statistisches Bureau — Verein für mecklenburgische Ge-
schiehte und Alterthumskunde in Schwerin.
Botanischer Verein „Irmischia“ — Verein zur Beförderung der Land-
wirthschaft in Sondershausen.
Gewerbeverein in $prottau.
Gesellschaft für pommersche Geschichte und Alterthumskunde — Ento-
mologischer Verein — Verein für Erdkunde — Polytechnische Ge-
sellschaft in Stettin.
Kaiserl. Universitäts-Bibliothek in Strassburg i. E.
Wissenschaftlicher Verein in Striegau.
Kgl. württembergisches statistisches Landesamt — Kgl. württem-
bergisches Polytechnikum — Kgl. württembergische Centralstelle für die
Landwirthschaft — Verein für vaterländische Naturkunde in Stuttgart.
Copernieus-Verein für Wissenschaft und Kunst in Thorn.
Allgemeiner Bericht. 17
Naturwissenschaftlicher Verein in Trier.
Verein für Kunst und Alterthum in Ulm und Oberschwaben in Ulm.
Harzverein für Geschichte und Alterthumskunde — Naturwissenschaft-
licher Verein des Harzes in Wernigerode.
Nassauischer Verein für Naturkunde — Verein für nassauische Alter-
thumskunde und Geschichtsforschung in Wiesbaden.
Alterthumsverein zu Worms.
Physikalisch-medieinische Gesellschaft — Kgl. bayerische Universitäts-
Bibliothek — Polytechnischer Centralverein —- Historischer Verein
für Franken und Aschaffenburg in Würzburg.
G. Limpricht.
Wanderversammlung
der
Schlesisechen Gesellschaft für vaterländische Cultur
zu Jauer
Sonntag, den 26. Juni 1892.
Eine erhebliche Zahl von Mitgliedern der Schlesischen Gesellschaft
traf Sonntag, den 26. Juni, von Breslau, Schweidnitz, Reichenbach,
Liegnitz u. s. f. in Jauer ein, um daselbst die diesjährige Wander-
versammlung abzuhalten. Für dieselbe die Vorbereitungen zu treffen,
war ein Orts-Comite zusammengetreten, bestehend aus den Herren Stadt-
rath Guercke, Apothekenbesitzer Harttung, Kreisphysikus Dr. La
Roche, Bürgermeister Lindemann, Professor Dr. Noss, Landschafts-
Syndicus Pritsch, Landrath Freiherr von Richthofen und Lehrer
Scholtz. Der Unermüdlichkeit und Umsicht, mit welcher die genannten
Herren nach allen Seiten hin für die Versammlung gesorgt hatten, dankt
diese ihren erfreulichen Verlauf.
Nach einem Gange durch die Stadt und eingenommenem gemein-
schaftlichem Frühstück begann im Gesellschaftshause um 12 Uhr die
Sitzung, welche der Präses mit einigen Worten des Andenkens an den
soeben verstorbenen Kammerherrn von Prittwitz auf Moisdorf er-
öffnete. Seit langen Jahren Mitglied der Schlesischen Gesellschaft, hat
derselbe für ihre Bestrebungen stets das lebhafteste Interesse bethätigt.
Die Anwesenden ehrten den Verblichenen durch Erhebung von ihren
Sitzen.
Sodann bewillkommnete Herr Bürgermeister Lindemann die Ge-
sellschaft in freundlichster Weise im Namen der städtischen Behörden.
Der Präses erwiderte die überaus wohlwollende Ansprache mit Worten
des herzlichsten Dankes an die zahlreich anwesenden Bewohner der
Stadt sowie an die Mitglieder des Comites, und legte kurz die Ziele
der Schlesischen Gesellschaft dar,
„Unsere Gesellschaft hat, gemäss ihrer Stiftungsurkunde, eine
doppelte Aufgabe. Sie will den wissenschaftlich interessirten Elementen
Breslaus einen Mittelpunkt für ihren wissenschaftlichen Verkehr schaffen.
In welchem Umfange dieser Aufgabe genügt wird, dafür legen unsere
jährlichen Sitzungsberichte Zeugniss ab,
Wanderversammlung. 19
Aber wir haben noch ein anderes Ziel unverrückt im Auge: die
Förderung der Kenntniss von Land und Leuten in unserer Provinz, die
wissenschaftliche Durchforschung des schlesischen Heimathlandes in
Gegenwart und in Vergangenheit. Auch in dieser Beziehung ist seitens
unserer Gesellschaft im Laufe von 9 Jahrzehnten Vielerlei geschehen,
was sich in unseren Druckschriften veröffentlicht findet.
Ein systematischer Fortschritt auf dem viel verzweigten Gebiete
der Landeskunde setzt die Kenntniss dessen voraus, was bereits auf
demselben an Arbeiten und Forschungen nach den verschiedenen Rich-
tungen hin vorliegt.
Eine erschöpfende Uebersicht über die Literatur der Landeskunde
war ihrer weiten Zerstreuung wegen bisher schwer zu erreichen,
Um hier günstigere Bedingungen für die Arbeit zu schaffen, hat die
Schlesische Gesellschaft mit Freude ihre bescheidenen Mittel zur Dis-
position gestellt. Sie hat die Kosten für die Herausgabe eines voll-
ständigen Verzeichnisses der Literatur der schlesischen Landeskunde
übernommen, dessen Zusammenstellung Herr Professor Partsch mit
ausserordentlichem Aufwande an Zeit und Mühe besorgt hat. Dieses
für die Zwecke provinzieller Forschung unentbehrliche Hilfswerk nimmt
einen ungeahnten Umfang an. Soeben ist als Ergänzungsheft zu unserem
Jahresberichte der erste Theil erschienen, welchen ich dem Orts-Comite
zu überreichen die Ehre habe. Zwei andere Theile werden in den
nächsten beiden Jahren folgen. —
Werfen Sie einen Blick in dieses erste Heft, so werden Sie darüber
erstaunen, was in Schlesien bereits an landeskundlicher Literatur vor-
handen ist. Nimmt doch allein die Aufzählung der Schriften über die
Oder volle 7 Seiten ein. —
Bei der Abfassung des mühevollen Werkes hat Herr Professor
Partsch wesentliche Unterstützung erfahren theils durch Breslauer Ge-
lehrte (namentlich durch Herrn Professor Markgraf, Herrn Custos
Dr. Wendt), theils aber auch durch Forscher in der Provinz: durch
Herrn Seminardirector Dr. Volkmer in Habelschwerdt, durch die
Herren Dr. Scholz, Dr. Regell und Oberstlieutenant Mitschke zu
Hirschberg.
Auf Unterstützung durch landeskundige Männer in der Provinz sind
wir bei unseren Arbeiten vielfach angewiesen. Um sie uns zu sichern,
um dafür Freunde zu werben, suchen wir bei unseren Wander-
versammlungen Verbindungen anzuknüpfen. Lassen Sie, meine Herren,
mich hoffen, dass, wenn wir gelegentlich auch in Ihrem Kreise mit der
Bitte um Förderung erscheinen, wir nicht vergeblich an die Thür klopfen,
sondern ebenso freundliche Aufnahme finden, wie an dem heutigen Tage.
Ich kann nicht schliessen, ohne in dem weiteren Kreise der heutigen
Versammlung dankbar der hohen Provinzialverwaltung zu gedenken,
2%
20 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
welche uns durch ihre Liberalität eine wichtige Reform in unserer Ver-
waltung ermöglicht hat.“
Nunmehr ceonstituirte sich das Tagespräsidium; Herr Bürgermeister
Lindemann übernahm den Vorsitz, die Herren Apotheker Harttung
und Professor Noss von Jauer, Oberbürgermeister Bender und Geh.
Rath Professor F. Cohn von Breslau fungirten als Beisitzer, die Herren
Dr. Jadassohn und Dr. Kunisch als Schriftführer. Die wissenschaft-
liche Sitzung währte bis 2 Uhr. (Die Vorträge s. unten.)
Nach Schluss derselben begab die Versammlung sich in das festlich
seschmückte Concerthaus, dessen geräumiger Festsaal gegen 120 Theil-
nehmer zu heiterem Festmahle vereinigte. Bei demselben folgte auf
den durch den Präses ausgebrachten Kaiser-Toast ein Trinkspruch auf
die Schlesische Gesellschaft, ausgebracht durch Herrn Professor Noss,
welchen Geh. Rath Professor F. Cohn mit einem Toaste auf die Stadt
Jauer erwiderte. Geh. Rath Professor Poleck widmete dem Comite
Worte des Dankes, auf welche Herr Bürgermeister Lindemann ant-
wortete, in liebenswürdigster Weise der Bestrebungen der Schlesischen
Gesellschaft gedenkend. Ganz besonders trugen zur Erhöhung der
Stimmung die von Herrn Professor Noss und von Herrn Öberstabsarzt
Dr. Schröter gedichteten Tischlieder bei.
Unmittelbar nach aufgehobener Tafel begab die Gesellschaft sich in
30 von Besitzern der Stadt und Umgegend in liebenswürdigster Weise
zur Disposition gestellten Wagen nach Moisdorf, um einen Spaziergang
durch den herrlichen Waldgrund nach der Gemskirche anzutreten. Ein
vorübergehender Regenschauer war nicht im Stande, die Gemüthlichkeit
zu stören, welche sich an dem Rastorte bei einem Trunke frischen
Bieres unter den hochragenden Bäumen entwickelte. Auf dem Rück-
wege wurde unter der von dem verstorbenen Kammerherrn von Prittwitz
gepflanzten „Göppert-Eiche“ des langjährigen, unvergesslichen Leiters
der Schlesischen Gesellschaft gedacht, während Breslauer Studirende
einen Lorbeerkranz unter dem Gedenkbaume niederlegten.
Wenn der ganze Verlauf der Versammlung als ein nach jeder
Richtung hin gelungener gelten darf, so verdankt die Schlesische Gesell-
schaft den glücklichen Erfolg wesentlich den unermüdlichen Mitgliedern
des Orts-Comites, was bei dem Abschiede auf dem Bahnhofe der Präses
der Gesellschaft in kurzen warmen Worten nochmals zum Ausdrucke
brachte.
Vorträge.
Herr Professor Carl Chun:
Ueber die pelagische Thierwelt in grossen Meerestiefen.
Die Erkenntniss, dass thatsächlich die Tiefen der Oceane bevölkert
sind, ist erst eine Errungenschaft der letzten Jahrzehnte; sie ging aus
Wanderversammlung. 21
dem begreiflichen Bestreben hervor, Aufschluss über irdische Regionen
zu erhalten, in welehe nie der Mensch vordringen wird. Wenn kühne
Entdeekungsreisende unser geographisches Wissen zu erweitern suchen,
so haben wir die Ueberzeugung, dass trotz der sich aufthürmenden
Hindernisse es gelingen wird, allmählich eine ausreichende Kenntniss
von dem Öberflächenrelief der Erde zu gewinnen. Ganz anders, wenn
der Bann vorgefasster Meinungen den Forschungstrieb in unbekannte
Regionen lahm legt. Und eine solche vorgefasste Meinung war es,
welcher ein talentvoller englischer Zoologe, Eduard Forbes, auf der
British Association im Jahre 1841 Ausdruck gab, indem er auf Grund
seiner Untersuchungen im Mittelmeer darzulegen suchte, dass unterhalb
einer Tiefe von 300 Faden thierisches Leben nicht mehr vorkomme und
überhaupt nicht mehr vorkommen könne. Rasch fand seine Ansicht all-
gemeinen Beifall, rasch erkaltete das kaum erst grweckte Interesse für
Tiefseeforschungen. Und doch war es kein Geringerer als John Ross,
der bereits zu Anfang des Jahrhunderts, 1818, auf seiner Polarfahrt in
der Baffinsbay aus einer Tiefe von 1000 Faden Schlamm hob, in dem
er lebende Schlangensterne (Asterophyton Linckii) nachwies. Sein Fund
gerieth aber in Vergessenheit, und es bedurfte der stillen Thätigkeit
nordischer Forscher, um allmählich Zweifel an der Forbes’schen
Abyssustheorie wachzurufen. Doch noch von einer anderen Seite sollte
die Anregung zu Tiefseeforschungen kommen. In den fünfziger Jahren
wurde die Legung der transatlantischen Kabel geplant. Eifrig war man
bemüht, die Tiefen zu lothen, bevor die Kabel versenkt wurden. Schon
bei diesen Vorarbeiten ergaben sich unzweideutige Beweise für die
Existenz einer Fauna in Tiefen von mehr als 1000 Faden; noch
drastischer mehrten sich die Beweise, als das erste transatlantische
Kabel, welches 1858 gelegt wurde, riss und bald darauf dem Sardinien
und Algier verbindenden Kabel dasselbe Schicksal widerfuhr. Beide
Kabel wurden wieder aufgefischt, auf beiden hatten sich Thiere ange-
siedelt. Drei Jahre hatten genügt, dass auf dem mittelländischen Kabel
in einer Tiefe von 3600 m Vertreter von 15 Thierarten festsitzend ge-
funden wurden. Diese Funde erregten allgemeines Aufsehen. Lehrten
sie doch eine Geschmeidigkeit und Anpassungsfähigkeit des thierischen
Organismus an Existenzbedingungen kennen, die Alles überbot, was wir
bisher von der geographischen Verbreitung thierischer Organismen in
anscheinend dem Leben feindlichen Regionen wussten. Die gefeiertsten
Biologen, Ehrenberg, Huxley und Milne Edwards, äusserten sich
in Gutachten über die Tiefseeproben und stimmten alle darin überein,
dass bei systematisch betriebenen Tiefseeforschungen eine neue Welt
dem Zoologen sich eröffnen würde, Der richtige Mann, welcher mit
umfassendem Wissen und nie versagender Begeisterung die neue Aera
inaugurirte, fand sich denn auch bald in dem Edinburger Professor
22 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Wyville Thomson. Angeregt durch die Funde, welche Sars an den
Lofoten gemacht hatte, wusste er gemeinsam mit seinem älteren Freunde
Carpeuter, dem Vicepräsidenten der Royal Society, es zu erreichen,
dass zwei kleinere Marineschiffe zur Verfügung gestellt wurden. Von
1868—1870 wurden eine Reihe von Lothungen und Dretschzügen um
das Inselreich, längs der Küste von Spanien und im Mittelmeer aus-
geführt. Mit ihnen war der Grund zu unseren neueren Anschauungen
gelegt. Nun trat an Stelle der phantastischen Gestalten, mit denen man
die Tiefsee bevölkerte, eine Fauna, so üppig, so farbenprächtig und reiz-
voll, dass man die Begeisterung begreifen wird, mit der ein Mitglied
des Parlamentes auftrat und es als Ehrenpflicht Englands bezeichnete,
eine Expedition in grossem Stile auszurüsten, welche die Tiefen der ge-
sammten Oceane in den Kreis ihrer Thätigkeit ziehe. Einstimmig wurde
der Antrag angenommen. Im December 1872 verliess die Corvette
„Challenger“ England mit einem Stabe gewiegter Forscher an Bord
unter Leitung von Wyville Thomson; nach fünf Jahren kehrte sie
zurück. Was sie leistete, ist eine wissenschaftliche Grossthat, die sich
würdig den Ergebnissen der glanzvollsten Expeditionen zur Seite stellt.
Die 30 voluminösen Quartbände, in denen bis jetzt die Ergebnisse der
Expedition, bearbeitet von Gelehrten aller Nationen, niedergelegt sind,
sprechen eine so beredte Sprache, dass für die neue Periode, in welche
die Oceanographie und Zoologie eintraten, kein würdigerer Ausgangs-
punkt denkbar ist.
Zwei Drittel der Erdoberfläche sind in den beiden letzten Jahr-
zehnten uns neu erschlossen, ja geradezu neu entdeckt worden. Niemand
hat mit eigenen Augen die unterseeischen Gründe geschaut, und doch
sind wir über das Relief des Meeresbodens, über die Beschaffenheit des
Tiefseeschlammes, über die chemischen und physikalischen Eigenschaften
des Tiefseewassers und vor Allem über die Fauna, welche hier lebt und
webt, an manchen Stellen besser orientirt als über die geologische Ge-
staltung und über die Organismenwelt grosser Länderstrecken. Wir
überzeugen uns, wie allmählich von der Küste her die Thiere in die
Tiefe einwanderten; wir verfolgen Schritt für Schritt die Anpassungen,
welche an den gewaltigen Druck, an die Dunkelheit und an den Aufent-
halt in eisigkalten Regionen erfolgten; wir beobachten neben Arten,
welche ihre nächsten Verwandten in oberflächlichen Regionen auf-
weisen, auch solche, die man bisher nur als Leitfossilien alter Schichten-
complexe kannte. Zum Erstaunen des Zoologen und Paläontologen sind
in wundervollem Formenreichthum Glasschwämme und Seelilien lebend
in der Tiefe gefunden worden, für deren Existenz nur die Schalenreste
paläozoischer Arten Beweise abgeben. Sie haben sich dort unten, wo
unter monotonen Existenzbedingungen der Pulsschlag der oberflächlichen
Umgestaltungen sich kaum fühlbar macht, aus einer Zeit herübergerettet,
Wanderversammlung. 23
für die der Geologe freigebig Millionen von Jahren zur Verfügung stellt.
Wie ernähren sich nun die Tiefseethiere, wie vermögen sie ihre Beute
wahrzunehmen, wie pflanzen sie sich fort? Auf diese Fragen vermögen
wir entweder gar nicht oder nur mit Reserve zu antworten. Es ist klar,
dass solche Fragen erst dann der Lösung entgegengebracht werden
können, wenn wir sicheren Aufschluss über das Vordringen von marinen
pflanzlichen Organismen und frei schwimmenden, sogenannten pelagischen
Thieren in verticaler Richtung bis zu tieferen Wasserschichten erlangen.
Die Gesammtheit dieses an der Oberfläche treibenden organischen
Materials wurde von Vietor Hensen als „Plankton“ bezeichnet. Die
„Challenger“-Expedition hat gelehrt, dass dem Plankton eine ungeahnte
Wichtigkeit für den Aufbau der Erdrinde zukommt. Die Schalenreste
der oft mikroskopisch kleinen Organismen rieseln nach dem Absterben
der Weichtheile auf den Meeresboden nieder und häufen sich dort im
Laufe der Zeit zu hohen Bänken an. Der Meeresboden ist eine riesen-
hafte Grabstätte für Alles, was an der Oberfläche lebt und webt.
Milliarden von Leichen sickern täglich und stündlich in die Tiefe und
gleichzeitig mit ihnen die feinen Schlammpartikel, welche die Flüsse an-
schwemmen, der kosmische Staub, vulcanische Asche, die festeren Ge-
schiebe, welche von dem Eisberge weit über die arktischen und ant-
arktischen Meere zerstreut werden. All dies organische und anorganische
Material wird bei dem gewaltigen Druck und vielleicht auch unter
thätiger Mitwirkung der im Tiefseewasser reichlicher absorbirten Kohlen-
säure zersetzt und metamorphosirt, bis schliesslich der für die grössten
Tiefen charakteristische rothe Thon übrig bleibt.
Ueber die Vertheilung der pelagischen Organismen suchte man von
zwei Seiten Aufschluss zu erhalten, indem man nämlich einerseits das
Quantum organischer Substanz an der Oberfläche des Meeres bestimmte,
andererseits über das Vordringen pelagischer Organismen in tiefere
Schichten gesicherte Vorstellungen sich verschaffte. Den Bestrebungen,
welche darauf hinausgehen, über die Productionskraft der Oberfläche an
organischer Substanz Aufschlüsse zu erhalten, gelten vorwiegend die
Untersuchungen Victor Hensen’s. An der Hand sinnreicher Apparate,
welche im Laufe der Zeit derart vervollkommnet wurden, dass sie mit
wünschenswerther Genauigkeit functioniren, hat er nachgewiesen, dass
die Gesammtproduction der Ostsee an organischer Substanz im Laufe
eines Jahres etwa °/, der Production einer Wiese gleicher Oberfläche
ausmacht. Weit geringer stellt sich nach den Ergebnissen der Plankton-
Expedition die Production des freien Oceans an organischer Substanz
heraus, aber immer noch bedeutend genug, um es begreiflich erscheinen
zu lassen, dass die niederrieselnden Skelettmassen im Laufe der Jahr-
hunderte sich zu hohen Bänken auf dem Meeresgrunde ansammeln.
Einen bedeutenden Procentsatz des schwimmenden Materials machen
24 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
niedere pflanzliche Organismen, nämlich Diatomeen, Algen und chloro-
phyliführende Flagellaten aus. Sie bilden die Nahrung der pelagischen
Thiere, vor Allem der Urthiere (Protozoen), der Myriaden kleiner Kruster
(Copepoden), der schwimmenden Tunicaten und Flimmerlarven. Sie
fallen wieder den Quallen, Schwimmpolypen, Würmern, den grösseren
Crustaceen, den Mollusken und den Legionen von Fischen zur Beute,
bis in immer weiteren Kreisen die organische Substanz in den Giganten
der pelagischen Lebewelt, nämlich in den Haien, Walen und Riesen-
formen von Tintenfischen aufgespeichert wird. Wie ist nun überhaupt
thierisches Leben in Regionen denkbar, in welche nie ein Lichtstrahl
hingelangt? Kann sich überhaupt da, wo niedere Pflanzen nicht mehr
zu assimiliren vermögen, wo also die „Urnahrung“ fehlt, eine thierische
Lebewelt entfalten? Die Experimente über das Vordringen des-Lichtes
im Seewasser haben gelehrt, dass in Tiefen von 460—550 Metern
empfindliche photographische Platten trotz stundenlanger Exposition
nicht mehr vom Lichte angegriffen werden; die Erfahrung zeigt denn
auch, dass unterhalb 300—400 Metern festsitzende Pflanzen, nämlich
Algen und Florideen, nicht mehr vorkommen. Da nun trotzdem die
Tiefseeexpedition eine üppige abyssale Fauna in Tiefen von mehreren
Tausenden von Metern nachwiesen, so bleibt nur die eine Annahme
übrig, dass es die von der Oberfläche herabrieselnden Organismen sein
müssen, welche entweder lebend oder wenigstens noch in geniessbarem
Zustande der abyssalen Fauna zur Nahrung dienen. Weit reichlicher
müsste indessen die Nahrungsquelle für abyssale 'Thiere fliessen, falls
nicht nur die Oberfläche, sondern auch die tieferen Wasserschichten
schwimmende Thiere bergen. Bereits auf der „Challenger“-Expedition
suchte man der Frage nahe zu treten, ob die tieferen Wasserschichten
von schwimmenden Organismen belebt seien. Man versenkte die offenen
Schwebnetze in mehrere Tausende von Metern und fand in ihnen pela-
gische Thiere, welche an der Oberfläche nie oder nur selten beobachtet
wurden. Während einige Forscher sich auf Grund dieser Befunde der
Annahme zuneigten, dass es keine Grenze in verticalem Sinne für die
Verbreitung von Organismen gebe, so hoben doch andere mit Recht
hervor, dass diese erst in der Nähe der Oberfläche in die Netze ge-
rathen sein könnten, und dass die Anwendung offener Netze keine
sichere Bürgschaft für die Annahme einer pelagischen Tiefseefauna ab-
gebe. Man construirte nun selbstthätig wirkende Schliessnetze, die sich
auch auf der Plankton-Expedition bewährten. Das wesentlichste und
wichtigste der mit dem Schliessnetze gewonnenen Ergebnisse dürfte nun
der Nachweis sein, dass die so ungemein zarten pelagischen Thiere die
gesammte Wassermasse in verticaler Richtung durchsetzen. Die Plankton-
Expedition hat in umfassender Weise die Ergebnisse früherer Unter-
suchungen bestätigt und zudem noch den Nachweis erbracht, dass selbst
Wanderversammlung. 25
Tiefen von 3500 Metern schwimmende thierische Organismen bergen.
Allerdings zeigt es sich, dass bei zunehmender Tiefe die Menge nicht
nur der einzelnen Individuen, sondern auch der Thierarten erheblich
abnimmt. Nur in der Nähe der Continente und grösseren Inseln stauen
sich die pelagischen Organismen auch in grösseren Tiefen in beträcht-
licher Zahl an,
Die schwebenden Tiefseethiere setzen sich nun einerseits aus Formen
zusammen, welche auch an der Oberfläche häufig gefunden werden,
andererseits aber aus Arten, die bisher nie oder nur selten in belichteten
Regionen beobachtet wurden. Neue Typen von Thierformen sind bis
jetzt ebensowenig in tieferen Schichten nachgewiesen worden wie unter
den abyssalen festsitzenden Thieren, Viele dieser pelagischen Tiefsee-
thiere nehmen indessen durch ihre in der Organisation sich aussprechende
Anpassung an das Leben in kalten dunklen Regionen, in denen sie unter
dem Drucke von mehreren Hunderten von Atmosphären stehen, be-
sonderes Interesse in Anspruch. Oberhalb 1000 Meter wird die Fauna
immer reichhaltiger, je näher die Züge der Oberfläche rücken. Was
nun zunächst die Ernährung dieser Tiefseeformen anbelangt, so zeigen
die Schliessnetzzüge neben lebenden Formen auch in Zersetzung befind-
liche, von der Oberfläche niedersickernde Organismen. Sie werden
offenbar von vielen nicht räuberisch lebenden Tiefseeformen gefressen,
Ja selbst lebende pflanzliche Organismen stehen den Tiefseeformen zur
Verfügung. Die Plankton-Expedition wies in Tiefen von 2000 bis 1000
Metern zahlreiche Exemplare einer grünen chlorophyllführenden Alge
nach. Immerhin ist in diesen finsteren Regionen vielen räuberisch
lebenden Thierformen der Erwerb der Nahrung ausserordentlich er-
schwert. Gerade die in grösseren Tiefen immer spärlicher fliessende
Nahrungsquelle mag es hauptsächlich bedingen, dass auch eine all-
mähliche Abnahme der Individuen- und Artenzahl erfolgt. Denn es ist
kaum anzunehmen, dass Individuen, welche einen Druck von 100 Atmo-
sphären in etwa 1000 Metern Tiefe zu ertragen im Stande sind, nicht
auch einen doppelten oder vierfachen auszuhalten vermöchten. Ebenso-
wenig kann die Annahme der Helligkeit und der Temperatur eine Ver-
minderung der Zahl in grösseren Tiefen bedingen, da ja in einigen
Hunderten von Metern unterhalb der Oberfläche bereits Dunkelheit
herrscht und eine Temperatur beobachtet wird, welche bis zu den
grössten Tiefen eine nur unwesentliche Abnahme zeigt. Einen deut-
liehen Wink für die Schwierigkeit des Nahrungserwerbes giebt die
geradezu monströse Ausstattung mancher Tiefseeformen mit Spürorganen,
wie sie der Vortragende an Zeichnungen von einigen Crustaceen er-
läuterte. So giebt es Arten, die mit enorm verlängerten äusseren
Fühlern ausgestattet sind, welche den Körper um das Zehnfache an
Länge überbieten. Oft sind sie mit Borsten ausgestattet, deren jede
26 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
einzelne wiederum mit feinen Sinneshärchen besetzt ist. Andere haben
gewaltige Raubfüsse, welche mit Scheerenhänden enden. Dass ein
Sinnesorgan bei gleichzeitiger Rückbildung sonstiger Orientirungsapparate
eine übermächtige Ausbildung erlangt, ist eine dem Zoologen häufig
entgegentretende Thatsache. Thatsächlich sind viele pelagische Thier-
formen blind, während ihre an der Oberfläche lebenden Verwandten mit
wohl entwickelten Augen ausgestattet erscheinen. Dass thatsächlich eine
allmähliche Rückbildung der Augen mit der Anpassung an das Leben in
der Tiefe Hand in Hand geht, zeigen grosse Familien pelagischer
Organismen. Um so auffälliger erscheint aber die Thatsache, dass neben
blinden oder mit rudimentären Augen ausgestatteten pelagischen Tiefsee-
formen auch solche mit ungewöhnlich grossen und fein eonstruirten
Augen auftreten. Gerade die auf den Zeichnungen dargestellten räube-
rischen Sergestiden und Schizopoden zeigten Augen von beispiellos hoher
und feiner Ausbildung. Es ist das eine Thatsache, welche den ersten
Erforschern der auf dem Meeresboden lebenden abyssalen Fauna sofort
bei vielen Vertretern der Crustaceen und Fische auffiel. Man war rasch
mit der Annahme bei der Hand, dass für unsere Augen nicht wahrnehm-
bare grüne oder ultraviolette Strahlen bis auf den Boden des Meeres
vordringen und den auf solche Strahlen reagirenden Tiefseeaugen eine
Örientirung ermöglichen. Der Physiker ist uns freilich bis jetzt den
Beweis, dass unterhalb 500 Metern eine Perception von aus der Ober-
fläche vordringenden Strahlen stattfinde, schuldig geblieben. Bevor er
nicht mit aller Schärfe geführt wird, bleibt uns nur die Annahme übrig,
dass Licht den Tiefseethieren zur Verfügung stehen müsse, welches in
der Tiefe erzeugt wird. Die Vorstellung, dass dieses Licht von den
Thieren selbst produeirt werde, ist um so ansprechender, als thatsäch-
lich eine grosse Zahl, ja, wie wir jetzt behaupten können, die über-
wiegende Mehrzahl der Tiefseethiere mit Leuchtorganen ausgestattet ist.
Bald phosphoreseirt der ganze Organismus schwach bläulich oder grün-
lich, bald strahlen unregelmässig über den Körper verbreitete Drüsen
ein intensives Licht aus, bald treten symmetrisch vertheilte Leuchtorgane
mit Hohlspiegeln und Pigmentbechern auf, Derartige complieirt ge-
staltete, oft auffällig grosse Organe finden sich sowohl bei vielen Tief-
seefischen wie bei spaltfüssigen Krebsen direet unterhalb der Augen in
Gestalt von Blendlaternen. Wer je die wundervolle Phosphorescenz,
welche von den Leuchtorganen der genannten Formen ausstrahlt, mit
eigenen Augen geschaut hat, wer sich je an dem magischen Anblick
geweidet hat, wenn bei Nacht die von pelagischen Organismen wimmeln-
den Netze wie glühende Ballons der Oberfläche nahe kommen — der
wird nicht daran zweifeln, dass auffällig vergrösserte und fein organi-
sirte Augen für Tiefseebewohner von besonderem Werthe sind. Zum
Schlusse wies der Redner darauf hin, dass wir noch in den ersten An-
Wanderversammlung. 97
fängen unserer Kenntnisse über das Getriebe der pelagischen Organismen
an der Oberfläche und in den grossen Tiefen stehen; es sei ausser-
ordentlich wünschenswerth, dass auch in unserem Vaterlande das Inter-
esse für Tiefseeforschungen einen Widerhall in den maassgebenden
Kreisen und bei den breiten Schichten des Volkes finden möge, damit
wir hinter den anderen Nationen nicht zurückstehen und uns einen
Ehrenplatz in der Erforschung jener Regionen sichern, über denen so
lange der Schleier des Unzulänglichen und Geheimnissvollen schwebte,
Professor Neisser (Breslau):
Ueber die sogenannten ‚„Psorospermosen‘ der Haut.
Im Laienpublikum herrscht schon lange die Vorstellung, dass manche
kleine Hautgeschwülste, speciell die bekannten Warzen an den Händen
u. 8, w. ansteckender Natur sind; der Nachweis des ansteckenden Agens
ist bei diesen noch nicht geglückt, aber in der That spricht sehr viel
dafür, dass sie durch Ansteckung erworben werden. Bei anderen Haut-
krankheiten aber sind neuerdings Gebilde gefunden worden, die von
Vielen als zu den kleinsten Lebewesen, zu den Psorospermien, Gregarinen
oder Coceidien gehörig angesehen worden sind. Dieselben sind sehr
schwer von den Zellen des menschlichen Epithelgewebes, zwischen
denen sie liegen, zu unterscheiden, weil sie keine charakteristische Farben-
reaction, wie die Bacterien, geben; auf der anderen Seite sehen sie aber
den erwähnten Protozoen sehr ähnlich und es sind Degenerationsproducte
der Epithelzellen, welche ein gleiches Aussehen haben, bei anderen
Processen kaum bekannt. Zu den Krankheiten, welche hier in Frage
kommen, gehört die von dem berühmten englischen Chirurgen Paget
zuerst beschriebene und nach ihm benannte Krankheit der Brustwarzen,
eine erst in letzter Zeit genauer charakterisirte eigenartige Haut-
erkrankung (Psorospermosis follieularis vegetans oder Keratosis follieularis),
vor Allem aber das „Mollusecum contagiosum“ — eine kleine Haut-
geschwulst sicher ansteckender Natur, bei der die charakteristischsten
und typischsten solcher psorospermienähnlichen Gebilde gefunden worden
sind. Die Frage, ob es sich bei allen diesen Formen wirklich um
Lebewesen handelt, hängt eng zusammen mit der viel wichtigeren und
jetzt ganz allgemein erörterten, ob auch der Krebs ansteckender Natur
ist, ob gewisse im Krebsgewebe sehr häufig nachzuweisende „Zell-
einschlüsse‘‘ parasitärer Natur sind. Diese Frage ist der Entscheidung
noch viel ferner, als die erst besprochene. Die schwierigsten, allgemein-
pathologischen Erörterungen knüpfen hier an, und es ist zu hoffen, dass
gerade die Untersuchungen bei den erwähnten Hautkrankheiten zu Fort-
schritten auf diesem Gebiete führen und dass sich schliesslich an alle
diese theoretisch sehr bedeutungsvollen Forschungen auch praktische
Erfolge anschliessen werden. Der Vortrag wurde durch Mikrophoto-
28 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
sramme und Wachsnachbildungen (aus Baretta’s Atelier in Paris)
illustrirt.
Herr Privatdocent Dr. Gürich berichtet, anknüpfend an die Schil-
derung des Untergrundes der Liegnitzer Gegend, welche Ferd. Roemer
bei Gelegenheit der letzten Wanderversammlung der Schlesischen Gesell-
schaft in Liegnitz gegeben hatte, über den geologischen Bau der Berge
bei Jauer. Er besprach die Lage des Ortes in der Nähe der Scheide-
linie zwischen der diluvialen Ebene und dem Gebirge. Es wurde darauf
das Schiefergebirge von Mertschütz-Damsdorf, die Zusammensetzung des
Bober-Katzbach-Gebirges aus Thonschiefern und Grünschiefern mit ein-
gelagerten Diabasen (Grünsteinen), krystallinischen Kalken und Kiesel-
schiefern erwähnt. In den letzteren haben sich bei Schönau die ein-
zigen bestimmbaren Versteinerungen, Graptoliten gefunden, auf Grund
deren das Alter der Schiefer mit Sicherheit als silurisch bestimmt
werden kann.
Für jünger als die Schiefer wird der Granit von Striegau, dessen
Vorzüge hervorgehoben werden, angesehen, da am Ostfusse des Streit-
berges die Schiefer im Contact mit dem Granit eine weitgehende Um-
wandlung erlitten haben. Jüngere Formationen, so namentlich das Stein-
kohlengebirge fehlen in der Umgegend von Jauer. Erst das Roth-
liegende tritt im NW. des Bober-Katzbach-Gebirges auf und reicht von
hier aus in Form eines schmalen Armes quer durch den Rand des Ge-
birges, der in Folge dessen hier — zwischen Kauder und Falkenberg —
eine Scharte zeigt.
Die nächst jüngeren Bildungen bei Jauer sind Basalt und Basalt-
tuffe; ersterer tritt an hervorragenden Punkten des Gebirgsrandes: Raths-
berg, Breiteberg bei Moisdorf, Hessberg, Wilmannsdorfer Höhe ete. auf,
sowie auch auf isolirten Erhebungen im Diluvium: Weinberg bei
Kolbnitz, Höhen bei Bremberg, Hennersdorf etc. und endlich in einzelnen
Kuppen im NO, von Jauer bei Nicolstadt.
Die Basalttuffe bei Hennersdorf enthalten miocäne Pflanzen, so
namentlich einen Farn: Woodwardites Münsterianus. Anhäufungen von
Braunkohlenstämmen haben Veranlassung zu Braunkohlen-Versuchsbauen
gegeben. Auch sonst ist Jauer reich an Erfahrungen in Erfolgen und
und Enttäuschungen im Bergbau. Erwähnt wurden: der Kupferbergbau
bei Hasel, die Eisensteinlagerstätte von Wilmannsdorf und der Bergbau
auf Fahlerz, Kupferkies und Bleiglanz haltige Quarz- und Spateisenstein-
lagerstätte von Kolbnitz.
Die Goldsandlager von Nicolstadt, bei deren Ausbeutung heutzutage
die Kosten den Ertrag um das Fünffache übersteigen würden, gehören
dem Diluvium an. Es wurde dann ein neuer Fund von diluvialen
Säugethierknochen: Rhinoceros tichorhinus und Equus fossilis aus einer
Wanderversammlung. 39
Thongrube von Münsterberg mitgetheilt. Solche Funde kommen in der
Provinz häufiger vor; von Jauer sind sie noch nicht bekannt. Der Vor-
tragende spricht daher die Bitte aus, es möchten doch in Zukunft
eventuelle Funde dem Mineralogischen Museum der Universität über-
wiesen werden. Nicht minder empfehlenswerth wäre es, die Resultate
aller Tiefbohrungen aus der Gegend von Jauer mit den dazu gehörigen
Belegstücken dem Mineralogischen Museum mitzutheilen, da über die
speciellen Untergrundsverhältnisse des Ortes noch gar nichts bekannt ist.
Herr Professor Hermann Cohn (Breslau):
demonstrirt einige Apparate, welche für die Hygiene des Auges
von Bedeutung sind, und zwar ein Pult, das er in der auch sonst
hygienisch ausgezeichnet geleiteten Schule des Herrn Dr. Beier in Wien
zuerst gesehen hat; dasselbe befindet sich auf dem Tisch jedes Kindes
und dient dazu, das Buch in der richtigen Entfernung vom Auge zu
halten. Ferner ein sehr einfaches Instrument, das Herr Dr. Schubert
ip Nürnberg construirt hatte, um die Schiefstellung des Kopfes und der
Schultern der Kinder beim Schreiben zahlenmässig festzustellen. Nur
durch solche Messungen kann man in zuverlässiger Weise die Vor- und
Nachtheile der einzelnen Schriftarten ete. erweisen; Schubert hat mit
diesem Instrument z. B. gefunden, dass die schlechte Haltung bei Steil-
schrift häufiger ist, als bei Schrägschrift. Nur durch regelmässig und
consequent durchgeführte Messungen bei allen Schulkindern lässt sich
eine Entscheidung aller hier in Betracht kommenden Fragen herbei-
führen.
Redner demonstrirt ferner einen sehr einfachen Apparat, welchen
Herr Sanitätsrath Dürr (Hannover) angegeben hat, um zu verhindern,
dass die Kinder den Kopf zu tief herabbeugen; bei dem bisher viel ge-
‘ brauchten Kopfhalter von Kallmann (Breslau) war eine seitliche Be-
wegung des Kopfes ausgeschlossen; Dürr’s Apparat besteht wesentlich
aus einem in bestimmter Höhe über dem Pult angebrachten Stab, der
seitliche Bewegungen, nicht aber solche nach vorn gestattet. Endlich
zeigt der Vortragende eine Anzahl von verschieden construirten Schutz-
brillen für Steinarbeiter ete,, die von Simmelbauer, Wendschuh,
Dr. Schubert etc. angegeben worden sind und durch deren Anwendung
die Zahl der Verletzungen in bestimmten Bergdistrieten schon wesentlich
vermindert worden ist. Gerade durch unsere neue Unfallversicherungs-
gesetzgebung ist das Interesse für zwangsweise einzuführende Schutz-
maassregeln gesteigert worden; bei der grossen Abneigung der Arbeiter,
Schutzbrillen zu tragen, sollten in der That bei Unfällen, welche durch
eine Vernachlässigung der hygienischen Forderungen der Verwaltung zu
Stande kommen, die Invaliditätsansprüche nicht anerkannt, freie Be-
handlung ete. aber müsste natürlich auch dann gewährt werden,
30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Herr Lehrer Gerhard aus Liegnitz sprach:
Ueber die Käferfauna der Hessberge,
welche sich auf 1500 Arten beziffert, schilderte einen bezüglichen Aus-
flug und legte die dabei gesammelten Käfer vor. Besonders hervor-
gehoben wurden: Carabus intricatus, Kallistus lunatus (unter Steinen),
Hydroporus platynotus und Agabus Silesiacus (im Wasser), Hydrophiliden
(im Wassermoos), Elmiden (im schnell fliessenden Wasser), Stenus
glacialis (im Moos am Basalt), Staphyliniden (in zersetzten Milch-
reizkern). Die weitere Aufführung der häufigsten Käfer, welche vor-
zugsweise an Baumstämmen, Laub und Blüthen beobachtet worden sind,
musste wegen vorgeschrittener Zeit unterbleiben.
Herr Oberstabsarzt Prof. Dr. Schroeter berichtete
Ueber die vom Marine-Stabs-Apotheker Milch aus Wilhelmshaven
eingesandten Johannis- und Stachelbeeren,
deren Genuss schwere Erkrankung und den Tod mehrerer Kinder zur
Folge gehabt hatten. Der Vortragende fand auf den Beeren als röth-
lichen Ueberzug Aecidium grossulariae, einen Rostpilz, welcher sonst
nur auf den Blättern der genannten Pflanzen vorzukommen pflegt. Ob
dieser Pilz der Krankheitserreger war oder nicht, steht nicht ganz fest;
das Experiment an Kaninchen hat kein sicheres Ergebniss geliefert.
Die Möglichkeit, dass der Pilz in den Beeren eine derartige Zersetzung
hervorgerufen hat, dass giftige Fäulnissproducte entstanden sind, und
diese die Krankheits- bezw. Todesursache waren, ist nicht ausgeschlossen.
— Wie übrigens neuere Forschungen ergeben haben, sollen auch mehr-
fach bei Vergiftungen durch Genuss von Morcheln faulende Albumin-
stoffe der letzteren als Todesursache erkannt worden sein.
Herr Dr. Rosenfeld (Salzbrunn):
Ueber die Aetiologie des Diabetes mellitus.
Bei der scheinbar immer häufiger werdenden Zuckerkrankheit sind
zwei Fragen auseinanderzuhalten: 1) Die Ursache des Siechthums, zu
welchem die Krankheit führt, scheint nach den Untersuchungen Koch’s,
Pettenkofer’s ete. der Zuckerverlust zu sein, welcher bei langer Dauer
zum Verbrauch des eigenen Organeiweisses und -Fettes und damit zum
„Verhungern‘“ führt. 2) Die Ursache der Krankheit selbst war bisher noch
sehr dunkel. Durch die Untersuchungen Minkowski’s ist in neuerer
Zeit erwiesen worden, dass wenigstens ein grosser Theil der Fälle von
Zuckerkrankheit auf einer Erkrankung der Bauchspeicheldrüse beruht;
denn Minkowski hat durch Ausschneiden dieses Organes bei 'T'hieren
die Krankheit künstlich hervorrufen können. Es scheint sich um den
Ausfall einer von der Bauchspeicheldrüse gelieferten und aus dieser in
die Saft- und Blutbahn übergehenden Substanz zu handeln, Diese be-
Wanderversammlung. 31
wirke normalerweise die Verbrennung des Zuckers im Körper; ihr Ver-
lust verhindere also diesen Process und dadurch werde dann der Zucker
unverwerthet abgeschieden. Diese Auffassung Minkowski’s hat mehr-
fache Opposition erfahren; speciell H&don hat zwar das Siechthum,
nicht aber den Diabetes bei seinen Thieren beobachtet. Redner selbst
hat bei seinen Versuchen immer Diabetes bis zum Ende des Siechthums
beobachtet; nur in einem Falle fehlte derselbe, in diesem aber war eine
Eiterung eingetreten, nach deren Aufhören der Diabetes wieder begann;
daraus glaubt R. schliessen zu können, dass die Eiterung es ist, welche
in seinem und wohl auch in den Fällen H&edon’s den Diabetes auf-
sehoben hat.
Versuche, durch Einheilung der Bauchspeicheldrüse in die Haut ete.
von Thieren vor oder nach der Entfernung der Drüse das Auftreten der
Krankheit zu verhindern, sind nicht gelungen.
Herr Dr, Röhmann (Breslau):
Ueber die diastatische Wirkung des Blutes.
Die Diastase, welche in der keimenden Gerste, im Speichel, im
Dünndarm- und Bauchspeicheldrüsenseeret vorkommt und das Mittel ist,
durch das die in unseren Nahrungsmitteln enthaltene Stärke in leicht
resorbirbare Stoffe übergeführt wird, kommt auch im Blute vor; die
hier vorhandene Diastase aber führt nicht nur zur Umwandlung der
Stärke in Dextrine und Maltose, sondern zur vollständigen Fermentirung
in Traubenzucker. Redner hat jetzt Stärke in grösserer Menge durch
Blut fermentirt, und demonstrirt den sich dabei bildenden Traubenzucker,
sowie die sich bildenden Zwischenproducte — die Dextrine (Erythro-,
Porphyro-, Achroodextrin).. Welche Bedeutung die Diastase des Blutes
für den Organismus hat, lässt sich noch nicht sagen — es ist aber zu
vermuthen, dass zwischen diesem Ferment und den in den Organen vor-
handenen Kohlenhydraten (Glycogen) eine Wechselbeziehung besteht.
Da
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Sehlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur.
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Jahresbericht. Medieinische
1892. Abtheilung.
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Sitzungen der medicinischen Section im Jahre 1892.
1. Sitzung vom 15. Januar 1892.
Vorsitzender: Herr Prof. Dr. G. Born. Schriftführer: Herr Dr. Gaupp.
1) Herr Friedrich Müller spricht
Ueber Icterus.
Durch die Forschungen der letzten Jahre ist die alte und vieldiscutirte
Frage über den hepatogenen und haematogenen Ieterus ziemlich ein-
stimmig dahin entschieden worden, dass es einen haematogenen Icterus
im Sinne der früheren Autoren nicht giebt, dass der Entstehungsort des
Gallenfarbstoffes auch bei Vergiftungen und Zerstörungen des Blutes in der
Leber zu suchen ist, dass die kleinen Mengen von Haematoidin, welche
sich in alten Blutextravasaten bilden können, nicht zur Gelbsucht führen.
Neben diesem Streit über den haematogenen und hepatogenen Icterus
geht einher die Frage vom Urobilinieterus, und mit dieser beschäftigen
sich die Untersuchungen, über welche ich Ihnen heute berichten will.
Man versteht darunter jene Form von Gelbsucht, bei welcher der
Harn nicht die gewöhnliche Gallenfarbstoffreaction giebt, sondern bei
Unterschiehtung mit Salpetersäure nur einen braunen Ring erkennen
lässt, und bei welcher sich statt des Bilirubins dessen Reductionsproduct,
das Urobilin, im Urin vorfindet, Diese Art des Ieterus findet sich bei
manchen Leberkrankheiten, z. B. der alkoholischen Cirrhose, dann bei
Herzfehlern, bei Lungenentzündung, bei gewissen Vergiftungen, z. B. der
Bleivergiftung. Man nahm an, dass bei diesen Krankheiten das Urobilin
die schmutzig gelbliche Hautfärbung veranlasse; doch ist diese Ansicht
bestritten worden.
Es ıst die Frage zu entscheiden: giebt es überhaupt einen Urobilin-
icterus, bei welchem die Hautfärbung durch Urobilin und nicht durch
Bilirubin bedingt ist, dann die zweite Frage: woher stammt das im
Harn nachweisbare Urobilin, und schliesslich: welche diagnostische Be-
deutung kommt ihm zu.
Nach den Untersuchungen von Maly ist das Hydrobilirubin ein
Reductionsproduet des Bilirubins, das durch Natriumamalgam aus dem
letzteren gebildet wird. Aber nicht nur durch Natriumamalgam findet
1
) Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
diese Umwandlung des Bilirubins zu Hydrobilirubin statt, sondern es .
bildet sich auch durch die reducirende Wirkung der Fäulnissbacterien:
Lässt man Galle oder auch reines Bilirubin mit Peptonlösungen unter
Wasserstoffatmosphäre, also in sogenannten anaerobischen Culturen mit
Kothbacterien faulen, so verschwindet nach etwa 2 Tagen das Bilirubin
allmälig und statt dessen tritt eine grosse Menge Hydrobilirubin auf.
Es ist darnach wahrscheinlich, dass auch im Darm durch Fäulnissprocesse
Bilirubin zu Hydrobilirubin redueirt wird. Die wichtigste Stätte dieser
Hydrobilirubinbildung dürfte im Diekdarm zu suchen sein, und zwar
schon von den obersten Abschnitten desselben an. Es finden sich aller-
dings bereits in der oberen Hälfte des Dünndarms kleine Mengen von
Hydrobilirubin neben dem gewöhnlichen Gallenfarbstoff, ebenso wie ja
auch in der Galle und im galligen Erbrochenen; in den unteren Ab-
schnitten des Dünndarms ist der Hydrobilirubingehalt des Chymus (auf
Trockensubstanz berechnet) ein grösserer als in den oberen, aber er ist
doch noch gering im Verhältniss zu dem des Blinddarminhaltes und der
Faeces. Neben dem Hydrobilirubin findet sich im Koth aber sehr häufig
noch in wechselnder Menge Gallenfarbstoff vor, welcher der Reduction
nicht oder nicht so weit unterlegen ist, und der sich nach Behandlung
des sauren alkoholischen Extractes mit Chlorzink und Ammoniak als
Choleeyanin auf spectralanalytischem Wege nachweisen lässt. Ver-
gleichende Untersuchungen haben mir ergeben, dass zwischen diesen
beiden Pigmenten meist ein gewisses gegensätzliches Verhältniss besteht.
Ein hydrobilirubinreicher Koth zeigt meist nur schwach Cholecyanin-
reaction, ein Koth, der viel Cholecyanin nachweisen lässt, giebt oft gar
keinen Hydrobilirubinstreifen. Dieses letztere Verhalten trifft man bis-
weilen in den erbsenfarbigen diarrhoischen Typhusstühlen, ausserdem
fast constant im Koth des Hundes. Das Hydrobilirubin ist offenbar
identisch mit dem Urobilin des Harns. Einige neuere Autoren haben die
Identität dieser beiden Farbstoffe geleugnet, indem sie besonders auf die
Angaben Mac Munns hinwiesen, Meine Untersuchungen haben mir bis
jetzt noch nicht den geringsten Unterschied zwischen dem Urobilin des
Harns und dem Hydrobilirubin des Kothes erkennen lassen und haben mir
auch nicht erlaubt, die Angaben Mac Munns zu bestätigen, der zwischen
dem „normalen Urobilin“ des gesunden Menschen und dem „febrilen
Urobilin“ bei Fiebernden bei Herz- und Leber-Kranken Unterschiede auf-
gestellt hat. Es wird deshalb im Folgenden das Urobilin als identisch mit
dem Hydrobilirubin und als ein einheitlicher Körper angenommen werden.
Auch vom Choletelin hat man angegeben, dass es mit dem Hydro-
bilirubin identisch sei. In der That erhält man durch Behandlung reinen
Bilirabins mit Jod und darauf mit Salpetersäure einen Farbstoff, der mit
dem Hydrobilirubin die grösste Aehnlichkeit zeigt. Es erscheint sehr
merkwürdig, dass sich also aus dem Bilirubin sowohl durch Oxydation
I. Medicinische Abtheilung. 3
als Reduction derselbe Farbstoff bilden sollte. Ob aber im lebenden
Körper eine Choletelinbildung vorkommt, erscheint deswegen zweifelhaft,
weil die stark gefärbten Zwischenstufen der Oxydationsreihe meines
Wissens nicht beobachtet werden. Die künftige Forschung wird sich
mit diesen Umwandlungsproducten des Gallenfarbstoffes noch eingehender
beschäftigen müssen,
Um den oben gestellten Fragen näher zu treten, war es vor allem
nothwendig, Methoden zu finden, mittelst deren Gallenfarbstoff und
Hydrobilirubin von einander getrennt und einzeln nachgewiesen werden
konnten, dann auch einen Weg zu finden, um die Menge des Hydro-
bilirubins in Harn und Koth quantitativ zu bestimmen, — Nach lange
vergeblichen Bemühungen glaube ich jetzt in den Besitz solcher Methoden
gelangt zu sein, doch ist hier nicht der Ort, sie zu beschreiben, es genüge
zu sagen, dass die quantitative Bestimmung des Hydrobilirubins nach
Isolirung und nach Auflösung des Farbstoffs in saurem Alkohol auf
spectralanalytischem Wege möglich ist. Nachdem ich früher diese Be-
stimmungen mittelst des Vierordt’schen Spectrophotometers ausgeführt
hatte, war es mir hier in Breslau durch die liebenswürdige Unterstützung
von Herrn Prof. Dieteriei ermöglicht, das Glansche Speetrophotometer
zu benützen, das viel leichter und viel genauer zu beobachten gestattet.
Mit diesen Methoden war es möglich, zuerst die Mengen von Hydro-
bilirubin zu bestimmen, die bei gesunden Menschen in Harn und Koth
erscheinen, und dann damit das Verhalten unter pathologischen Zuständen
zu vergleichen.
Wählt man, wie üblich, den Exstinetionscoeffieienten («) als directen
Ausdruck der Concentration des Farbstoffs, so ergab sich, um einige
Beispiele zu nennen:
Im Harn von Gesunden
© — 0,134 e—= (004 ') Tagesmenge — 14,8 mer,
&, == 0,1459 € —='0,00795 - 13,315: -
& — 0,0540. ce — 0.002972 - 12,95 =
@ — 0,0841 e — 0,004637 h 20,256 -
& — Suuren ce — spüren - Spuren
bei mehrtägigem Hunger betrug
«@ — 0,09895 ce = 0,00546 Tagesmenge — 9,2303.
Unter pathologischen Verhältnissen fand sich vielfach eine Ver-
mehrung des Hydrobilirubingehaltes.
Be ber’Porenniomerohne leterus" nn. 2.0. 0 ua. N. 3.0,
z - MuNeterue oe ren eların nad 200,
REN ELDER N ee een, 08,
!) Der Berechnung des Concentrationsgrades c = Millisramm im Cubikcenti-
meter habe ich die von Vierordt angegebene Zahl A —= 0,0552 zu Grunde gelegt.
1#
4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
bei vorgeschrittener Phthise mit Fieber . . . sole,
- eineranderen Phthise mit Fieber ohne Spur von Teködk a — 3,64,
- ‚einem Fall von Sepsis 'puerperalis. Wu. 1a =4,0,
z - z -tiBleivergiftungrü.euen I EM}
bei Herzfehlern z. B.:
einem Fall von Mitralstenose mit leichtem Ieterus . «= 1,04,
- - = Mitralinsufficienz ohne Iceterus. . . «= 2,401,
- - = Mitralstenose mit Lungeninfaret und
darnach sich entwickelndem Icterus anfangs . . «= 1,200,
3. Lage "späler, 7 HR NER re. tee er
bei einem Fall von EN u RIO Bun ai Verse
= = = = = n A : H r . h . . = 12,006,
bei einem Fall von Hirntumor . . 2 2 2.2.2.2 = 12,98,
bei atrophischer Lebereirrhose, . 211. 11.) 11. u. @ = 14,289,
mit Andeutung von Icterus . . ei)...
bei hypertrophischer Lebereirrhose mit ER
Teberus. | Ale N : ; , a 2,948,
bei hypertrophischer Tcherniteoen it naht suckem
Teterusr’;, 2%. er TE
bei Lebercareinom En Kent Tores ea 0;
a — 3,520,
bei einem Fall von Lebercareinom mit sich entwickeln-
dem leterus anfangs . . . ee a |)...
als der Icterus stark a: war, enthielt der
Harn gewöhnlichen Gallenfarbstoff, eh nur wenig
Hydrobilirubin, nämlich . . . . 008238:
Bei einem Fall von Careinom des Pankraks fand Ab anfangs viel
Hydrobilirubin im Harn und Koth, bald entwickelte sich starker leterus,
das Hydrobilirubin verschwand aus Harn und Koth vollständig.
Bei einem Fall von Gallenblasencareinom, das mehrere Monate zu
absolutem Verschluss des Ductus Choledochus geführt hatte, war bei
wiederholter Untersuchung weder im Harn noch im Koth Hydrobilirubin
nachweisbar.
Bei einem Fall von Icterus catarrhalis, bei welchem der Koth nur
wenig Hydrobilirubin enthielt, war im Harn « = 0,1426
& == 0,174
a —= 0,0555.
Bei einem Fall von Gallensteinkolik mit geringem Hydrobilirubin-
gehalt der Faeces waren im Harn nur Spuren dieses Farbstoffs zu finden.
Bei einem Fall von Icterus catarrhalis waren weder im Harn noch
im Koth Spuren von Hydrobilirubin nachweisbar.
Aus dieser Zusammenstellung lässt sich entnehmen, dass das Auf-
treten von Ieterus mit dem des Hydrobilirubin in keinem geraden Ver-
I. Medicinische Abtheilung. 5
hältniss steht; einerseits finden sich oft grosse Mengen von Hydrobili-
rubin bei Kranken, die keine Spur von Ieterus haben (Phthisis, Scarlatina),
andererseits gehen gerade die stärksten Formen von Gelbsucht ganz ohne
Urobilinurie einher.
Ist schon dadurch der Zusammenhang der Urobilinurie mit Gelbsucht
in Frage gestellt, so wird derselbe noch unwahrscheinlicher durch
folgende Untersuchungsreihe, die von Dr. Dietrich Gerhardt angestellt
worden ist: ')
Bei einer Anzahl von Kranken, deren Hautfarbe, Harn und Koth
während des Lebens beobachtet worden war, wurden bei der Obduction
die Gewebsflüssigkeiten, bes. das Blutserum und die Transsudate auf
Gallenfarbstoff und Hydrobilirubin untersucht. Es ergab sich, dass Blut
und Transsudate in denjenigen Fällen Hydrobilirubin enthielten, bei
welchen es intra vitam im Harn reichlich vorhanden war, sowohl bei
ieterischen Patienten als auch bei solchen, die keine Spur von Gelb-
färbung der Haut dargeboten hatten, dass aber gewöhnlicher Gallenfarb-
stoff, Bilirubin, nur dort nachweisbar war und jedesmal gefunden wurde,
wo leterus, wenn auch nur leichtesten Grades, vorhanden war. In zwei
Fällen von hochgradiger Gelbsucht bei absolutem Verschluss des Gallen-
ganges fand ich in Blut, Transsudaten und Galle nur Bilirubin und keine
Spur von Hydrobilirubin.
Somit war erwiesen, dass die Anwesenheit von Hydrobilirubin in
den Körpersäften und im Harn nicht zum leterus führt, dass vielmehr
Ieterus stets an die Anwesenheit von gewöhnlichem Gallenfarbstoff ge-
bunden ist, dass also ein Urobilinieterus, d. h. Gelbfärbung der Haut
durch Hydrobilirubin nicht existirt.
Woher stammt das Hydrobilirubin, das bei manchen Kranken in so
grosser Menge in Gewebsflüssigkeiten und Harn nachweisbar ist? In dieser
Frage stehen sich sehr verschiedene Ansichten schroff gegenüber. Die
einen (z.B. Kiener und Engel) verlegen die Entstehung des Hydrobili-
rubins in die Gewebe und in das Blut und erklären damit die Uro-
bilinurie bei Haemorrhagien. — Andere, namentlich französische Autoren,
Hayem, Dreyfuss-Brissac, Poncet, Tissier, nehmen an, dass die
Leber die Bildungsstätte des Hydrobilirubins sei, und dass gewisse
Störungen der Leberfunctionen, eine „Insuffisance h&patique‘‘ die Ursache
sei, dass nicht Bilirubin, sondern Urobilin in grösserer Menge gebildet
werde.
Leube, der auf Grund einer ganz anderen Versuchsanordnung als
der oben dargestellten, gleichfalls die Existenz eines Urobilinieterus
!) Dietrich Gerhardt: Ueber Hydrobilirubin und seine Beziehungen zum
Icterus. Inauguraldissertation, Berlin 1889 — dieser Arbeit sind auch eine Reihe
der oben angeführten Harnuntersuchungen entlehnt.
6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
leugnet und Gelbsucht stets auf die Anwesenheit von Bilirubin in den
Geweben zurückführt, legt den Gedanken nahe, es werde der in den
Geweben und im Blut angehäufte Gallenfarbstoff in den Nieren zu
Urobilin reducirt.
Um diese letztere Theorie zu prüfen, habe ich bei einer Anzahl
von Hunden nach dem Tod durch Verbluten, die Niere herausgenommen
und durch das noch lebenswarme (,überlebende‘“) Organ das Blut des-
selben Thieres eirculiren lassen, nachdem eine grössere oder geringere
Menge reinen Bilirubins zugesetzt war. Vier dieser Versuche gelangen;
es wurde von der überlebenden Niere Harn secernirt, aber weder in
diesem Harn, noch in dem Blut, das stundenlang durch die Niere gekreist
hatte, war auch nur eine Spur von Hydrobilirubin nachweisbar. Es
hatte also die Niere den im Blut kreisenden Gallenfarbstoff nicht in
Urobilin verwandelt.
Würden diese Versuche positiv ausgefallen sein, d. h. hätte sich
nach der Durchströmung der Niere in Blut oder Harn Urobilin gefunden,
so wären sie beweisend gewesen, das negative Resultat hat keine grosse
Beweiskraft, denn die überlebende Niere verhält sich doch nicht ganz
so wie eine lebende, und die Niere des Hundes anders als wie die des
Menschen.
Die Ansicht von der Bildung des Urobilins in der Niere wird viel
schwerer erschüttert durch folgende Beobachtung am Menschen: Bei
mehreren Kranken (mit Herzfehlern, Lebereirrhose, Pneumonie), welche
reichlich Urobilin im Harn zeigten, wurde dieser Farbstoff auch in den
durch Punction entleerten Aseitesflüssigkeiten, in dem durch die Trichter-
drainage erhaltenen Oedem-fluidum der Extremitäten, ja auch, bei einer
Pneumonie, im Aderlassblut gefunden. Würde das Hydrobilirubin erst
in der Niere gebildet, so wäre es nicht möglich, die Anwesenheit dieses
Farbstoffs in den Gewebsflüssigkeiten zu erklären.
Viel Bestechendes hat die, hauptsächlich von französischen Forschern
vertretene Ansicht, dass das Hydrobilirubin in der Leber gebildet
werde; krankhafte Processe der Leber sollen mit vermehrter Production
von Hydrobilirubin einhergehen, Stauungen der pathologischen hydro-
bilirubinreichen Galle sollen zu Resorption und Ausscheidung des Farb-
stoffs durch die Nieren führen. Einen Beweis für diese Ansicht könnte
man darin erblicken, dass die menschliche Galle meist eine gewisse Menge
Hydrobilirubin neben dem gewöhnlichen Gallenfarbstoff nachweisen lässt.
Wenn auch bei Untersuchung der port mortem aus der Gallenblase
entleerten Galle der Einwurf gemacht werden kann, es möchte sich um
eine portmortale Bildung von Hydrobilirubin gehandelt haben, so trifft
dieses Bedenken doch nicht zu für das gallenhaltige Erbrochene. In
galligem Erbrochenem habe ich bei den verschiedensten Krankheiten,
I. Mediecinische Abtheilung. 7
gleichgiltig ob sie mit vermehrter Urobilinurie einhergingen oder nicht,
constant Hydrobilirubin nachweisen können,
Ausserdem spricht für die Bildung des Hydrobilirubins in der Leber
noch die Erfahrung, dass bei der aleoholischen Lebereirrhose zwar nicht
constant, aber meistens eine recht erhebliche Vermehrung des Urobilins
im Harn gefunden wird.
So beweiskräftig diese Gründe auch erscheinen mögen, so müssen
doch gegen die Theorie von der Entstehung des Hydrobilirubins in der
Leber gewichtige Bedenken erhoben werden auf Grund folgender kli-
nischer Erfahrungen:
Wenn ein über mehrere Tage anhaltender vollkommener Verschluss
des Duetus choledochus zu Stande kommt, gleichgiltig ob durch Catarrh
oder Steine oder durch Neubildungen, so verschwindet, wie ich mich oft
überzeugt habe, das Hydrobilirubin aus den thonfarbigen Stühlen voll-
kommen. In diesen Fällen lässt sich alsdann auch im Harn kein Uro-
bilin mehr nachweisen. Tritt unter zunehmendem lIceterus ein solcher
Gallengang-Verschluss langsam ein, so nimmt das Hydrobilirubin in Koth
und Harn gleichzeitig ab, um von dem Tage ab zu verschwinden, wo
der Gallenabschluss ein absoluter geworden ist. Löst sich aber ein
solcher Verschluss wieder, wird der Stuhl wieder gallenhaltig, so tritt
an demselben Tage auch Hydrobilirubin im Harn wieder auf. Bei zwei
Fällen mit absolutem Gallengangverschluss durch bösartige Neubildung
erwies sich nicht nur Harn und Koth frei von Hydrobilirubin, sondern
es konnte auch nach dem Tode in der Galle und in den Trans-
sudaten kein Hydrobilirubin aufgefunden werden. Diese Erfahrungen
sind kaum vereinbar mit der Lehre von der Hydrobilirubinbildung durch
„Insuffisance hepatique“, denn wie sollte man es erklären, dass dieselbe
Leberkrankheit dann zu Urobilinurie führt, wenn der Gallezufluss zum
Darm erhalten ist, dann aber nicht, wenn der Choledochus ganz unwegsam
ist. Die ‚‚Insuffisance‘‘ kann doch dadurch nicht aufgehoben worden
sein. Auch die Beziehungen der Urobilinurie zur Gallenstauung in der
Leber (bei Herzfehlern, Pneumonieen, Lebereirrhosen) werden durch diese
Erfahrungen zweifelhaft. Wenn Stauung der Galle in der Leber zu ver-
mehrter Ausscheidung des Hydrobilirubins durch den Harn führt, warum
nimmt dann die Urobilinurie ab, sobald diese Stauung eine hochgradige
wird, warum verschwindet das Hydrobilirubin aus dem Harn und aus
der Galle, sobald die Ueberfüllung der Gallengänge bei vollkommenem
Choledochusverschluss den höchsten Grad erreicht hat. Quincke glaubt
das Versiegen der Urobilinausscheidung bei manchen Fällen von gänz-
licher Gallenstauung und starker Ablagerung in den Geweben deuten zu
müssen durch eine Hemmung der Umsetzung in Folge zu reichlicher Ab-
lagerung von Bilirubin in den Geweben. Gegen diese Anschauung
spricht aber, dass das Auftreten und Verschwinden des Urobilins im Harn
8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
nicht abhängig ist von dem geringeren oder grösseren Grade des leterus,
sondern vom Öffensein oder Verschluss des Choledochus, dass ferner
unmittelbar nach Wiederdurchgängigwerden eines vorher verschlossenen
Gallenganges sofort starke Urobilinurie auftritt, obwohl die Gewebe noch
mehrere Tage ganz mit Gallenbestandtheilen durchtränkt sind.
Uebrigens ist diese wiederholt constatirte Erfahrung vom Ver-
schwinden der Urobilinurie bei Choledochus-Verschluss auch unvereinbar
mit der Theorie von der Hydrobilirubinbildung in der Niere. Es ist
nicht wohl anzunehmen, dass die Nieren mit einem Male vollständig die
Fähigkeit verlieren sollten, den ihnen durch das Blut zugeführten Gallen-
farbstoff zu reduciren, wenn keine Galle mehr zum Darm zufliesst,
während sie einige Tage nachher grosse Mengen desselben Farbstoffs
bilden können. \
Diese Erfahrungen lassen sich, wie ich glaube, am besten so deuten,
dass das Hydrobilirubin im Darm aus dem Gallenfarbstoff gebildet wird,
dass es dann vermehrt ist, wenn viel Gallenfarbstoff in den Darm ergossen
und dort redueirt und resorbirt wird, dass es dann fehlt, wenn der Darm
acholisch ist.
Als eine Prüfung auf die Richtigkeit dieser Theorie habe ich fol-
gendes Experiment unternommen:
Bei einem Manne mit hartnäckigem hochgradigem lIeterus, in. dessen
entfärbtem Koth und dunkelbraunem Urin keine Spur von Hydrobilirubin
aufzufinden war, wurde durch die Schlundsonde während einiger Tage
Schweinegalle in den Magen eingeführt. Die Schweinegalle, welche als
hydrobilirubinfrei befunden wurde, konnte in Mengen von 25 bis 125 gr
zugeführt werden, ohne dass der Kranke bedeutende Beschwerden bekam.
Am 2ten Tag des Versuches liess sich in den Faeces Hydrobilirubin und
auch etwas unveränderter Gallenfarbstoff nachweisen und die Menge dieser
Farbstoffe nahm noch zu mit steigender Gallenzufuhr. Auch im Harn
war vom dten Tage an Hydrobilirubin in nicht unbeträchtlicher Menge
(nach Entfernung des Bilirubins) nachweisbar und zwar bis einen Tag
nach Aussetzen der Gallenfütterung. Im Koth liessen sich noch zwei
Tage nach Aufhören der Gallenzufuhr Hydrobilirubin erkennen, von da
ab fehlte der Farbstoff wieder in Harn und Koth, bis nach 12 Tagen
dasselbe Experiment wieder begonnen wurde. Da der Kranke aber
diesmal kurz nach der Gallenzufuhr heftige Kolikschmerzen mit Auf-
treibung des Leibes bekam, so musste der Versuch abgebrochen werden.
Es ist ja möglich, dass ein unglücklicher Zufall zum vorübergehen-
den Auftreten von Hydrobilirubin gerade während der Gallenfütterung
geführt hat; eine Wiederholung des Versuchs wird darüber Aufschluss
bringen. Wenn wir aber einen solchen unwahrscheinlichen Zufall nicht
annehmen, dann spricht das Ergebniss des Versuches sehr entschieden
I. Medicinische Abtheilung. 9
für die Entstehung des Hydrobilirubins im Darm und gegen die Bildung
dieses Farbstoffes in der Leber und den Geweben.
Wenn die Annahme richtig ist, dass Fäulnissprocesse im Darm
die Ursache der Hydrobilirubinbildung sind, dann dürfte bei vollständigem
Fehlen aller Fäulnissvorgänge im Darm Hydrobilirubin weder im Koth
noch im Urin auftreten, auch wenn reichlich Galle ergossen wird. Es
dürfte alsdann ebensowenig Hydrobilirubin beobachtet werden, als wie
bei vollständiger Absperrung der Galle vom Darm.
Der Entscheidung dieser Fragestellung konnte ein besonderes Gewicht
beigelegt werden. Ein solcher Zustand, dass Galle in den Darm zufliesst,
dass aber keine Darmfäulniss stattfindet, kommt nur vor im intrauterinen
Leben und bei den Neugeborenen. Kurz nach der Geburt treten, wie
Escherich gezeigt hat, bereits die ersten Fäulnisserreger in den Magen-
darmcanal des Kindes ein. Das Meconium enthält massenhaft Bilirubin,
aber keine Spur von Hydrobilirubin. Der während oder kurz nach der
Geburt entleerte Harn der Neugeborenen liess gleichfalls keine Spur
von Hydrobilirubin erkennen.') Bereits am dritten Lebenstage
fand sich sowohl im Stuhl als im Harn der Säuglinge Hydrobilirubin vor,
Die oben ausgesprochene Ansicht von der Bildung des Hydrobili-
rubin im Darm würde auch erfordern, dass ein gewisser Parallelismus
zwischen dem Hydrobilirubingehalt des Harns und dem des Kothes besteht.
Ein solcher Parallelismus lässt sich auch in der That nachweisen, aber
nur für die extremen Fälle; in den Mittelstufen entspricht nicht jedesmal
einer vermehrten Urobilinurie auch ein grösserer Gehalt des Kothes an
diesem Farbstoff. Es kann das aber auch nicht verlangt werden, es
lässt sich ja doch auch z. B. bei vermehrter Indicanausscheidung nicht
jedesmal eine grössere Indolmenge in den Faeces nachweisen, und es
würde niemand einfallen, aus einem grösseren oder geringeren Fettgehalt
des Stuhles zu schliessen, dass viel oder wenig Fett resorbirt worden
ist. Ein solcher Parallelismus kann deswegen nicht erwartet werden,
weil Bildung und Resorption des Farbstoffs nicht immer gleichen Schritt hält.
Einige Beispiele mögen das Gesagte illustriren:
Bei einem gesunden Menschen, den Herr Assistenzarzt der Poliklinik
Dr. Boltz auf meine Veranlassung untersuchte, fanden sich im Koth
nur Spuren von Hydrobilirubin; der Gallenfarbstoff war als Choleeyanin
nachweisbar; auch der Harn enthielt nur Spuren von Urobilin.
Bei einem anderen gesunden jungen Mann enthielt der Stuhl
im Tag bei reiner Milchnahrung ...... . 89,45 Milligramm Hydrobilirubin,
- = bei nahezu reiner Eiweissnahrung 83,004 z 2
Ber‘ Harn ‚enthlellr.-Eishke 2 dur 20,065 . -
!) Die Herren Assistenten der geburtshilflichen Klinik in Bonn hatten die
Liebenswürdigkeit, während mehrerer Monate den Harn der Neugeborenen für mich
zu sammeln.
10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Bei einem Fall von schwerem Herzfehler waren im Tag nachweisbar
im Stuhl 104,922 Milligramm Hydrobilirubin,
im Harn 21,65 z z
Bei einem Falle von hypertrophischer Lebereirrhose fand sich
im Stuhl 187,6 Milligramm Hydrobilirubin,
im Harn 93,47 E E
also im Stuhl das 2- bis 3fache des bei normalen bisher Beobachteten.
Beim Hunde und bei der Katze liess sich im Harn nur spurenweise,
oft gar nicht Hydrobilirubin nachweisen, den Harn dieser Thiere habe
ich bisher immer frei von diesem Farbstoff gefunden.
Dass bei vollkommenem Gallenabschluss sowohl Stuhl als Urin
hydrobilirubinfrei sind, ist oben schon erwähnt; als bei einem Kranken
nach mehrwöchentlichem absoluten Gallenabschluss vom Darm der Koth
wieder eine geringe gallige Färbung annahm und eine, anfangs sehr
geringe, Hydrobilirubinreaction zeigte, war auch im Harn eine Spur von
Urobilin nachweisbar; nach einigen Tagen hatte sich in Stuhl und Harn
die Menge des Hydrobilirubins gleichzeitig bedeutend gesteigert.
Bei einem Kranken mit Bleikolik und leichtem Ieterus war in den
ersten Tagen in dem dunkelbraunen Urin nur 10,988 Milligramm Hydro-
bilirubin nachweisbar.
Als nach einigen Tagen die Gelbsucht verschwand, war
im Harn 29,106 Milligsramm Hydrobilirubin,
im Koth 1942,0 z =
vorhanden, also im Harn das 3fache des vorigen,
im Koth das 20fache des normalen.
Die Annahme, dass das Hydrobilirubin ursprünglich aus dem Darm
stammt, macht auch verständlich, warum jedesmal nach einer Gallen-
stauung, z. B. nach einem lcterus catarrhalis, nach einer Gallenstein-
kolik starke Urobilinurie auftritt. Die Menge von Galle, welche sich
nach einer derartigen Retention in den Darm ergiesst, ist abnorm gross,
damit dürfte auch die Bildung und Resorption des Hydrobilirubin im
Darm grösseren Umfang annehmen. Die vermehrte Urobilinurie bei
manchen Herzfehlern kann vielleicht damit in Zusammenhang gebracht
werden, dass bei den Obductionen solcher Fälle oft die Galle abnorm
mit Farbstoff überladen vorgefunden wird. Eine ähnliche „Pleiochromie“
müsste auch bei jenen Fällen von Lebereirrhose angenommen werden,
welche mit starker Urobilinurie verlaufen; doch gebe ich zu, dass ein
Beweis dafür noch nicht erbracht ist, und dass hier überhaupt einer der
schwierigsten Punkte in der Lehre von der Hydrobilirubinbildung und
Ausscheidung vorliegt.
Die klinische Erfahrung lehrt, dass Urobilinurie nicht nur bei Leber-
und Gallengangs-Krankheiten vorkommt, sondern auch bei Resorption
von Blutergüssen, z, B. nach Haemorrhagien in das Cerebrum und
I. Medicinische Abtheilung. 11
in die Hirnhäute, in das Unterhautzellgewebe und die Haut, in die Pleura-
und Peritonealhöhle, bei Scorbut und Purpura, ferner beim haemorrha-
gischen Lungeninfaret; dann findet sich Urobilinurie höheren Grades auch
oft bei Infeetionskrankheiten, die mit Schädigung des Blutes und rasch
auftretender Anaemie einhergehen, sowie bei der Einwirkung von Blut-
giften, z. B. grosser Dosen von Antifebrin. Man hat diese Erscheinung
so deuten wollen, dass das der Zerstörung anheimfallende Blut in den
haemorrhagischen Herden oder in den Geweben zu Hydrobilirubin ver-
wandelt werde, und als Stütze für diese Ansehauung wird die freilich
noch nicht ganz sichergestellte Angabe geltend gemacht, dass durch Re-
duction aus Blutfarbstoff ein dem Hydrobilirubin ähnlicher Körper gewonnen
werden kann. Es lebte also in dieser Form die alte, bereits todt ge-
glaubte Theorie vom haematogenen Icterus wieder auf.
Wenn nun auch diese Annahme nicht ohne weiteres zurückgewiesen
werden kann, so dürften doch noch nicht genügende Beweisgründe für
sie vorhanden sein. Viel näher liegt es, nach Analogie der bekannten
Versuche von Afanassiew und Stadelmann zu schliessen, dass bei
Zerstörung grösserer Mengen von Blut, also bei den Zuständen, die man
als Blutdissolution bezeichnet, oder bei Resorption grösserer Blutergüsse
der aus den Blutkörperchen frei gewordene Blutfarbstoff in der Leber
zu Gallenfarbstoff umgewandelt wird, dass Polycholie, oder besser
gesagt eine abnorm reichliche Bildung von Gallenfarbstoff
(Pleiochromie) die Folge ist. Diese massenhafte Gallenergiessung würde
dann wiederum im Darm zu vermehrter Hydrobilirubinbildung und -Re-
sorption führen. Ist die Menge der von den Leberzellen gebildeten Galle
zu gross, um durch die Gallengänge in den Darm abgeführt zu werden,
läuft die Leber über, wenn man so sagen darf, so kommt es neben
der vermehrten Gallenergiessung in den Darm auch noch zum lIeterus.
Als eine Stütze für diese Auffassung sehe ich die Erfahrung an, dass
bei vollkommenem Gallengangverschluss auch Krankheiten, die sonst mit
vermehrter Urobilinurie verlaufen, z. B. Krebskachexien, Blutungen, nicht
zum Auftreten von Hydrobilirubin führen. Doch müssen hier noch weitere
klinische Erfahrungen gesammelt werden: Beobachtungen von haemor-
rhagischen Infarcten, von multiplen Blutungen, von Pneumonieen und
ähnlichen Zuständen während vollständigen Gallenabschlusses vom Darm
werden die Entscheidung in dieser Frage bringen. Dagegen hat sich mir
das Thierexperiment an Hund und Katze (Kaninchen sind aus anderen
Gründen unbrauchbar) als unzulänglich erwiesen, da bei diesen Thieren
Bluteinspritzungen keine Urobilinurie zur Folge haben.
Fasse ich die bisher vorliegenden Thatsachen zusammen, so stehe
ich nieht an, die Entstehung des Hydrobilirubin im Darm als die allein
sicher bewiesene anzunehmen, und die Urobilinurie durch Resorption des
im Darm gebildeten Hydrobilirubins zu erklären. Diese Annahme erklärt
12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
uns ohne Zwang die bisher beobachteten klinischen Erscheinungen.
Doch ist zugegeben, dass durch die oben erwähnten Erfahrungen und
Experimente auch die Möglichkeit einer Entstehung des Hydrobilirubins
in der Leber und in anderen Geweben des Körpers noch nicht als un-
möglich erwiesen worden ist.
Wir haben in den letzten Jahren schon für manche Stoffe des Harns
die Entstehung aus Fäulnissproducten des Darmes anerkennen müssen, es
sei nur an Phenol, Indican, ja auch an das Cystin erinnert, und vielleicht
werden wir in Zukunft noch mehr pathologische Producte und Agentien
aus den im Darm ablaufenden Zersetzungen herzuleiten lernen.
Nimmt man die vorgetragene Anschauung von der Entstehung des
Hydrobilirubin als richtig an, so schrumpft freilich die diagnostische
Bedeutung dieses Farbstoffs sehr zusammen; man wird die Annahme
eines eigentlichen Urobilinieterus ganz verlassen müssen, und es wird
auch dann nicht mehr gestattet sein, die Urobilinreaction des Harns als
Zeichen einer geheimnissvollen Insuffisance hepatique zu erklären. Da-
gegen wird die Regellosigkeit, mit welcher die Urobilinurie bei derselben
Krankheit bisweilen erscheint, bisweilen fehlt, leichter verständlich.
Doch wird uns immerhin das reichlichere Auftreten des Urobilins
im Harn bisweilen den einen oder anderen diagnostischen Fingerzeig
geben können. So kann bei Zweifeln, ob Gallenstein- oder Nierenstein-
kolik vorliegt, eine starke Urobilinreaction in dem nach dem Anfall ent-
leerten Harn zu Gunsten der ersteren Annahme sprechen; es kann der
Nachweis reichlichen Hydrobilirubins im Harn auf das Vorhandensein
von Blutergüssen hindeuten, von haemorrhagischen Apoplexieen, von
Haematom der Dura mater, von Lungeninfareten, von Blutergüssen in und
um die weiblichen Geschlechtsorgane; auch wird bei bestehenden peri-
tonealen und pleuralen Ergüssen der Verdacht erweckt werden, dass sie
haemorrhagische sind.
Vor allem aber wird aus dem Auftreten des Hydrobilirubins im Koth
und auch im Harn stets der Beweis geliefert, dass der Gallenzufluss zum
Darm erhalten ist, die Abwesenheit des Farbstoffs aber mit Sicherheit
dafür sprechen, dass der Ductus choledochus verschlossen ist.
Der Nachweis des Hydrobilirubins in den Dejectionen und im Darm-
inhalt ist leichter zu führen, als der anderer Gallenbestandtheile, z. B.
der Gallensäuren, und es lässt sich durch die Untersuchung des Darm-
inhaltes der Leiche auf Hydrobilirubin leichter und sicherer der Nachweis
führen, ob intra vitam Galle in den Darm ergossen wurde, als durch die
übliche pathologisch-anatomische Methode des Ausdrückens der Gallenblase.
Discussion.
Herr Geheimrath Heidenhain meint, dass die Ansicht des Vor-
tragenden von der Bildung des Urobilin im Darm wohl das Richtige zu
I. Medicinische Abtheilung. 13
treffen scheine, weist aber auf die Thatsache hin, dass schon die frische
Galle des Menschen Urobilin enthalte. Es ergiebt sich dann die Frage:
Ist hier das aus dem Darm resorbirte Urobilin wieder in der Leber aus-
geschieden und liegen Experimente vor, die speciell die Beantwortung
dieser Frage zum Zweck haben?
Herr Professor Müller bestätigt die Thatsache, von deren Richtig-
keit er sich selbst an mehreren Fällen von galligem Erbrechen und am
Gallenblaseninhalt, der bei Obductionen erhalten worden war, überzeugen
konnte, und pflichtet seinerseits der Annahme einer Resorption aus dem
Darm und die Wieder-Ausscheidung in der Leber bei. Thierexperimente
liegen nicht vor.
Herr Geheimrath Heidenhain: Ein direeter Beweis für die En
stehung des Urobilin durch Fäulniss im Darm könnte geliefert werden,
wenn man den ganzen Darm, wie es Baumann gethan hat, mittelst
Calomel desinficirte.
Ist die Fäulniss wirklich die Ursache der Bilirubin-Reduetion, so
müsste alsdann das Urobilin aus dem Harn verschwinden.
Herr Professor Müller erklärt, dass es ihm weder durch Calomel
noch durch Campher gelungen sei, eine vollständige Desinfection des
Darmes beim Menschen zu erzielen.
(Criterium: Der Nachweis der gepaarten Schwefelsäure) Die
grossen Mengen Calomel, die Baumann seinen Hunden gegeben hat,
sind bei Menschen unanwendbar.
2) Herr Born giebt einen
Kurzen Bericht über die Sitzung der 5 Secretaire der medicinischen Section
am 5. Januar 1892 und die in derselben gefassten Beschlüsse.
Der Bericht lautet:
Die Sitzungen der medicinischen Section finden an von vornherein
festgesetzten Freitagen in etwa l4tägigen Intervallen statt (2 Monate
Sommerferien).
Die Herren Secretaire leiten abwechselnd die Sitzungen (alphabetische
Reihenfolge),
Vorträge sind bei dem geschäftsführenden Secretair Herrn Professor
Born schriftlich anzumelden. Derselbe hat für den Druck und die
Uebersendung der Tagesordnung, die bis zum Dienstag vor dem betr.
Freitag in den Händen der Mitglieder sein soll, zu sorgen.
Je nach Bedarf (zur Fortführung einer Discussion oder dergl.) können
an den Freitagen zwischen den festgesetzten Sitzungstagen noch andere
Sitzungen eingeschoben werden,
Unter die Tagesordnung wird regelmässig hektographirt resp. gedruckt:
1) Die Anweisung: ‚Vorträge sind bei dem Geschäftsführer Herrn
Professor Born (Wallstrasse 8) schriftlich anzumelden,“
14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
2) Die Uebersicht über die für die folgenden Sitzungen angemeldeten
Vorträge.
An den Freitagen zwischen den in der alten Börse abgehaltenen
Sitzungen finden je nach dem vorliegenden Materiale Sitzungen mit kli-
nischen Demonstrationen in den Anstalten selber statt. In diesen führt
jedoch, unabhängig von der sonst innegehaltenen Reihenfolge, der Director
der betreffenden Klinik den Vorsitz. Auch zu diesen Sitzungen lässt der
Geschäftsführer die Einladungen ergehen, jedoch ohne Angabe der Tages-
ordnung.
Alle Assistenten an hiesigen Kliniken, Krankenhäusern und medi-
einischen Instituten sind ohne Weiteres zur Theilnahme an den Sitzungen
der medieinischen Section berechtigt und bedürfen keiner besonderen
Einführung als Gäste. |
Anträge der Secretaire.
1) Ueber die Protokollirung der Discussion. Jedem Secretair soll
ein Schriftführer beigegeben werden, welcher die Aufgabe hat, in der
Sitzung, in der der betreffende Secretair den Vorsitz führt, einen kurzen
Abriss des von jedem Discussionsredner Gesprochenen niederzuschreiben.
Dieser Abriss wird am Tage nach der Sitzung dem Redner zur Correetur
zugestellt. Falls nach 48 Stunden keine Correctur erfolgt, wird ange-
nommen, dass der Redner mit dem Niedergeschriebenen einverstanden ist.
Die Vorträge und die Discussion über dieselben, letztere in der oben
angedeuteten, abgekürzten Form, werden in den Jahresberichten der
Gesellschaft abgedruckt. Die Secretaire behalten sich vor, für eine rasche
Veröffentlichung der Sitzungsberichte in einer oder mehreren angesehenen
medicinischen Zeitschriften zu sorgen.
2) Die Secretaire bitten die Versammlung, darüber zu berathen resp.
zu beschliessen, ob die bisherige Stunde für die Sitzungen beizubehalten
ist, oder ob dieselben auf 8 Uhr Abends zu verlegen sind.
Diese Vorschläge und Anträge der Secretaire finden die Billigung
der Versammlung, nur die Abstimmung über die Frage der Verlegung
der Sitzungsstunden wird vertagt.
2. Sitzung vom 29. Januar 1892.
Vorsitzender: Herr Dr. Buchwald. Schriftführer: Herr Dr. Drewitz.
1) Herr Dr. Ad. Sehmidt demonstrirt mikroskopische Präparate aus
der Lunge einer Patientin, welche während eines asthmatischen Anfalles
gestorben ist. Aus denselben ergeben sich einige Anhaltspunkte über
die bisher unbekannte Bildungsweise der Curschmann’schen Spiralen.
Es lässt sich zeigen, dass dieselbe nicht an einen bestimmten Ort in dem
Bronchialsystem gebunden ist. Vielmehr werden die Spiralen während
der ganzen Passage des Schleimes durch die Lufiwege allmählich ge-
I. Medicinische Abtheilung. 15
bildet. Die Ursache sind wahrscheinlich die Wirbelbewegungen der
Exspirationsluft, welche sich nur unter grossem Druck einen Wes durch
die vollständig mit Schleim verlegten Bronchien bahnen kann.
2) Herr Fritsch:
Ueber Ventrofixation.
Der Vortragende bemerkt zunächst, dass in der Pessarbehandlung,
wie sie Schultze in Jena gelehrt hat, ein ganz enormer Fortschritt
lag, dass aber andrerseits doch Fälle existiren, bei denen die Pessar-
behandlung nicht von Erfolg gekrönt wird. Auch habe die Pessar-
behandlung, namentlich bei armen Frauen, grosse Schwierigkeiten. Die
lange Dauer, der häufige Wechsel der Instrumente, die schädlichen
Folgen bei nicht controlirten Fällen hätten oft den Gynäkologen ge-
zwungen, von der Pessarbehandlung abzustehen. Dann sei eben nichts
mehr zu machen gewesen. Deshalb sei es ein grosses Verdienst Ols-
hausen’s, eine Therapie bezw. eine Operation erfunden zu haben, mit
der man auch in diesen verzweifelten Fällen Heilung erzielen kann,
Dies sei die Ventrofixation. Es wird der Leib zwischen Nabel und
Symphyse eröffnet, der Uterus wird hervorgeholt und mit einigen
Nähten festgenäht.
Die Indication bestehe dann, wenn es unmöglich sei, durch fort-
gesetzte manuelle Versuche (Massage) den Uterus mobil zu machen. In
diesen Fällen sei es nothwendig, die Adhäsionen zu durchtrennen,
eventuell erkrankte Adnexe zu entfernen.
Der Vortragende giebt aber auch zu, dass bei völlig beweglichem
Uterus die Operation gerechtfertigt sei. Hier bestehe dann eine Indi-
cation, wenn das Pessar nicht vertragen würde, keinen Halt fände und
wenn trotzdessen die Beschwerden den Lebensgenuss und die Arbeits-
fähigkeit raubten.
Namentlich bei armen Frauen und Mädchen sei es gerechtfertigt,
die Operation behufs Erlangung der Arbeitsfähigkeit zu machen, Die
Resultate seien allgemein günstige, ja es sei festgestellt, dass Frauen
nach der Operation coneipiren und glücklich gebären könnten, und dass
danach der Uterus noch in normaler Anteversionsstellung gefunden werde,
Somit sei es als ein Fortschritt zu begrüssen, dass Olshausen
eine neue Operation erfunden habe, durch welche Frauen gesund gemacht
werden, die früher ungeheilt und arbeitsunfähig geblieben seien.
Im Anschluss an den Vortrag von Geheimrath Fritsch und eine
Demonstration von Dr. Gläser bemerkt Herr Privatdocent Dr. Fränkel:
Wie die Chirurgen die langdauernde, unzulängliche Behandlung der Brüche
mit Bändern durch operative Eingriffe zu umgehen suchen, so sind auch
wir Gynäkologen bemüht, die Heilung der Retroflexion schneller und
sicherer als durch die Pessarbehandlung operativ zu erzielen.
16 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
So schlimm aber, wie Geheimrath Fritsch scherzhaft andeutete,
ist die Pessarbehandlung nicht. Konnte ich doch schon im Jahre 1886
über 24 Fälle geheilter Retroflexion unter 1000 berichten, während ich in
dem 2. Tausend nahe an 48 Heilungen zu verzeichnen habe, Bei allmählicher
Verkleinerung der Pessare gelingt, wenn Patientin die Ausdauer besitzt,
die Heilung durch eine Parametritis posterior in 31/,—4 Jahren, immer-
hin eine Zeitdauer, die unter Umständen ein schnelleres operatives Vor-
gehen nahelegt. Auch ich verwerfe mit Geheimrath Fritsch die
Alexander’sche Operation, die eine neue pathologische Stellung des
Uterus mit ihren Folgen (Abort etc.) schafft, und neige mehr zu der
Ventrofixation, wie sie durch Köberle inaugirt ist, allerdings mit der
Leopold’schen Modifieation. Auf letztere Weise habe ich 7 Mal operirt.
Einen dieser Fälle habe ich vor 3 Jahren vorgestellt. Noch jetzt liegt
bei dieser Frau, die sich den schwersten häuslichen Arbeiten unterziehen
muss, der Uterus correct.
Aber, meine Herren, die Ventrofixation führt nicht zu physiologischen
Lagerungs-Verhältnissen. Denn wenn auch Ziegenspeck angiebt, dass
die Retroflexion durch ante- oder paracervicale Narben hervorgerufen
wird, zu deren Heilung die eingreifende Operation nach Freund-
Frommel vorgenommen wird, so sind dies die selteneren Fälle. In den
meisten fällt der Uterus zurück durch Erschlaffung der Retractores.
Gegen diese Art von Retroflexionen hat auf der vorigen Natur-
forscher-Versammlung Sänger eine ungemein empfehlenswerthe Methode
angegeben, die auf der Umstechung beider Douglas’scher Falten von der
Scheide aus beruht (Retrocervicale Fixation). Bedingung ist nur, dass
der Uterus gut reponibel ist. Die Operation ist nicht schmerzhaft, man
vermeidet die Chloroform -Narkose. Ein Vorfall von Darmschlingen ist
nicht zu befürchten.
Meine Herren! Jede Laparotomie ist in ihren Folgezuständen un-
berechenbar und daher kein gleichgiltiger Eingriff. Ich möchte daher
vorschlagen:
Die Ventrofixation bleibt auf jene Fälle beschränkt, bei denen der
Uterus durch perimetritische Adhäsionen absolut irreponibel ist. Finden
sich in diese eingebettet Tuben oder ÖOvarien, so ist gleichzeitig die
Salpingo-Ovarioectomie anzuschliessen. Haben parametrane Narben oder
subseröse Schwielen eine sogenannte relative Irreponibilität hervor-
gerufen, so muss erst versucht werden, durch Massage nach Thure
Brandt den Uterus reponirbar und retinirbar zu machen. Anderenfalls
tritt auch hier die Ventrofixation ein.
Bei beweglichem Uterus operire man nach Sänger.
Geheimrath Mikuliez: Ich möchte mir die Frage erlauben, ob
die Erfahrungen so weit zurückreichen, dass man dieser oder jener
Operation eine gewisse Berechtigung zusprechen kann. Herr :Fränkel
1. Medicinische Abtheilung. t7
hat einen Vergleich zwischen der operativen Behandlung der Retro-
flexionen und der der Hernien gezogen. Nun wir Chirurgen wissen, dass
die Verwachsungen zwischen Bauchwand und inneren Organen, z. B. Darm
nur relativ kurze Zeit bestehen. Es bildet sich eine Art Ligament, das
allmählich immer dünner und dünner wird und zuletzt verschwindet.
Auch bei der Radicaloperation der Hernien nach Macewen, die doch
gewiss alle Bedingungen für eine ausgiebige Verwachsung in sich trägt,
treten Recidive ein. Ich glaube also nicht, dass wir die Bruchbänder
werden ganz entbehren können. Doch können ja die Verhältnisse bei
der Ventrofixation des Uterus günstiger liegen als beim Darm. Wenn
jedoch die Kräfte, die den Uterus in seine abnorme Lage hineingedrängt
haben, weiter wirken, so wird, fürchte ich, stets der alte Zustand wieder
eintreten. Ich spreche nicht gegen die Operation, aber ich meine, dass
über die Zweckmässigkeit der einzelnen Methoden sich jetzt schon kaum
wird etwas Bestimmtes sagen lassen.
Privatdocent Dr. Fränkel: Bei Wiederholung des Kaiserschnittes
an derselben Person hat man nicht selten recht feste Verwachsungen
zwischen Uterus und Bauchwand gefunden. Wie schon Geheimrath
Fritsch mittheilte, hat eine Frau, deren Uterus ventrofixirt war, nicht
nur coneipirt, sondern auch ausgetragen und ohne Störungen entbunden.
Der Uterus lag auch nach der Entbindung normal. Einen ähnlichen
Fall, den ich 4 Jahre controliren konnte, habe auch ich zu verzeichnen.
Eine derartige Dauer der Heilung giebt uns für den Eingriff eine gewisse
Berechtigung. Selbstverständlich muss auf die die Retroflexionen ver-
anlassenden oder complicirenden Veränderungen in der Umgebung des
Uterus — Narben, Cervixrisse, Verfall der Blasenwand — bei der
Operation Rücksicht genommen werden. Betonen möchte ich, dass je
mehr die Frau sich dem klimacterischen Alter nähert, desto weniger
eine Operation angezeigt ist.
Dr. Asch jun. bemerkt in Bezug auf die Dauererfolge der Ventro-
fixation, dass er zufällig vor kurzer Zeit Gelegenheit hatte, eine Patientin,
an der vor etwa 4 Jahren die Operation durch Fritsch ausgeführt
worden war, zu untersuchen und sich von der dauernd guten Lage des
Uterus zu überzeugen.
Nicht nur parametrane Narben und peritoneale Fixationen geben
einen Hinderungsgrund für die erfolgreiche Reposition des retroflectirten
Uterus; bei mässigem linksseitigen Cervixriss blieb das leicht reponible
Organ nie in richtiger Stellung, sondern retroflectirte über jedes Pessar,
bis der Riss (durch Lappenspaltung) vereinigt war; nach der Heilung
hielt ein stark gebogenes Celluloidpessar, das sich vorher als untauglich
erwiesen hatte, den Uterus in normaler Lage.
Einen Grund für die Verlagerung des Uterus sieht A. auch in der
durch vorhergegangene Operationen verursachten Verkürzung des Lig.
18 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
latum in sagittaler Richtung. In einer Reihe von Fällen beobachtete er
nach Ovariotomien oder Castrationen, gerade bei leichten Operationen,
bei denen der Stiel, sei es des Tumor, sei es der Adnexa, mit einem
oder zwei Fäden unterbunden wurde, nachher obne sonst ersichtlichen
Grund Retroflexion des Uterus, die übrigens manchmal noch genügende
Beschwerden zu verursachen im Stande ist, zumal bei Virgines, bei
denen eine Pessarbehandlung sehr erschwert ist. A. operirt deswegen
so, dass Tube und Ovarium einzeln abgebunden und die Blätter des
Lig. latum durch Knopfnähte oder, wo keine Spannung dadurch entsteht,
durch fortlaufende Naht vereinigt werden. In mehreren so operirten
Fällen blieb der leichtbewegliche Uterus in Anteflexio-versio.
Nach Entfernung der erkrankten Adnexe, der Salpingo-Oophoreetomie,
in denen ja meist noch eine Perimetritis besteht oder Adhäsionen vor-
handen waren, näht A. den Fundus uteri stets an die Bauchdecken und
zwar einfach mit 2 starken Seidenfäden, die durch die Bauchdecken
und quer durch den Fundus mit Vermeidung des Cavum gelegt sind.
3) Abstimmung über die Frage in Betreff der Verlegung der
Sitzungsstunden.
Die Versammlung beschliesst mit grosser Majorität, die bisherigen
Sitzungsstunden beizubehalten.
3. Sitzung vom 12. Februar 1892.
Vorsitzender: Herr Geheimrath Fritsch. Schriftführer: Herr Dr. Rob. Asch.
Vor der Tagesordnung demonstrirt Herr Dr. Asch
einen durch Vaginal-Exstirpation gewonnenen Uterus
einer Patientin, bei der er im October 1890 die beiderseitigen Adnexa
wegen chronischer Salpingo-Oophoritis entfernt hatte, und
Herr Dr. Kendscher
das Präparat eines nahe der Cardia sitzenden Ulcus ventriculi,
das Herr Geheimrath Mikuliez vor 3 Monaten mit Erfolg exstirpirt
hatte.
1) Herr Dr. Asmus:
Ueber Syringomyelie.
Vortragender bespricht nach einer historischen Einleitung einen Fall
von Syringomyelie bei einer jüngeren Hysterica, die auf der Königlichen
Klinik für Hautkranke wegen frischer Lues behandelt wurde, Bei Leb-
zeiten war der Fall nicht mit Bestimmtheit als Syringomyelie _ dia-
gnostieirt worden, die Section hatte aber den Beweis geliefert, dass die
an Brust, Rücken und Armen vornehmlich rechts entstandenen zahl-
reichen Eruptionen von Blasen auf eine Höhlenbildung in der grauen
I. Medicinische Abtheilung. 19
Substanz des Rückenmarks zurückzuführen waren. Der Vertheilung der
Hautaffeetion entsprechend, breitete sich die Höhle besonders im Hals-
mark und oberen Brustmark aus und zwar nach rechts hin aus. Analgesie
und 'Thermanaesthesie bei intactem Tastsinn waren nicht so ausgesprochen
gewesen, wie dies in den typischen Fällen von Syringomyelie beobachtet
wird.
Die mikroskopische Untersuchung des Rückenmarks ergab im
Wesentlichen folgendes: Im Cervicalmark lag ein normaler Centralkanal
vor, um den besonders nach hinten zu eine Ausbreitung von Gliagewebe
zu constatiren war. In letzterem fand sich neben kleineren Degene-
rationsberden eine grössere Höhle, die mit dem Centralkanal ver-
schiedentlich eommunieirte, ohne jedoch eine Epithelauskleidung wie
jener zu besitzen. An zahlreich angefertigten mikroskopischen Sagittal-
schnitten des Halsmarks liess sich dies Verhältniss der Höhle zum
Centralkanal demonstriren.
Im Brustmark bestanden Höhle und Centralkanal nicht mehr neben-
einander, sondern es lag nur noch ein Hohlraum vor, der an verschiedenen
Stellen der Wand, namentlich vorn, Epithel trug. Auch hier war die
Höhle von Gliagewebe umgeben. Bei der Beantwortung der Frage nach
der Entstehung der Höhle kommen zwei, im Folgenden anzuführende
Deutungen in Betracht, von denen der Vortragende mehr zu der ersten
neigt.
Nach der von Schultze und Anderen vertretenen Anschauung sind
es Degenerationsvorgänge in Gliamassen, die zum Zerfall und dadurch
zur Höhlenbildung führen. Indem der Zerfall in dem beschriebenen
Halsmark nach der Peripherie hin fortschritt, musste er schliesslich den
Centralkanal erreichen und so die Communication herstellen. Während
im Halsmark noch verschiedene Schranken zwischen beiden Hohlräumen
stehen geblieben waren, ist es im Brustmark zur vollständigen Ver-
einigung beider Höhlensysteme gekommen, wobei sich an verschiedenen
Stellen das Centralkanalepithel auf die Höhlenwand fortgesetzt hat. Die
Möglichkeit wurde dabei nicht ausgeschlossen, dass die so entstandene
Höhle durch Flüssigkeitsansammlung passiv erweitert worden sei, indem
sich mit dem Gliazerfall eine stärkere Flüssigkeitsvermehrung verbinde.
Die zweite Erklärung geht von dem Standpunkte aus, dass der
Rückenmarkshöhle ursprünglich ein Hydromyelus zu Grunde gelegen
habe. Da in unserem Falle im Halsmark keine Centralkanalerweiterung
vorliegt, so wäre die Höhle des Cervicalmarks als ein Divertikel der
Dorsalmarkhydromyelie aufzufassen, welches Divertikel an verschiedenen
Stellen in den Centralkanal eingebrochen ist.
Ein zu Hydromyelus disponirendes Moment war in dem beschriebenen
Fall nieht vorhanden und da beglaubigte Beobachtungen vorliegen, bei
denen ähnliche Höhlen in Gliamassen entstanden waren, ohne dass eine
g*
20 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Communication mit dem Centralkanal für Hydromyelie sprach, so möchte
Vortragender an dem zuerst angedeuteten Erklärungsversuche festhalten.
Zum Schlusse sei kurz erwähnt, dass die Untersuchung der peri-
pheren Nerven der Arme sowie der Haut keine wesentlichen Resultate
ergeben hat, so dass demnach der Sitz des Leidens in das Rückenmark
zu verlegen ist.
Discussion: Herren Prof, Neisser, Dr. Asmus, Geheimrath
Heidenhain, Dr. Neuberger.
2) Herr Prof. Neisser spricht:
Veber Lichen scrophulosorum.
Nach kurzer Schilderung des klinischen Bildes und der früheren
mikroskopischen Befunde berichtet er über Jacobi’s (Freiburg i. B.)
Untersuchungen, der in einzelnen exeidirten Stücken das typische Bild
miliarer Tuberkel mit epithelioiden und Riesenzellen, in einem Schnitt
auch Tuberkelbaecillen nachweisen konnte, so dass der genannte Autor
zu dem Schlusse kam, man hätte in dieser Hautaffeetion nicht einen
Lichen serophulosorum, sondern L. serophulosus zu sehen, eine echte
Form der cutanen ‘Tuberkulose.
Der Vortragende hat selbst in zwei bei Lupösen beobachteten Lichen
seroph.-Fällen diese Untersuchungen controliren und die histologischen
Funde Jacobi’s bestätigen können. Herumgegebene Zeiehnungen
illustriren die Ausführungen. Tuberkelbacillen hat er nicht gefunden,
ein negatives Moment, welches aber bei der grossen Spärlichkeit der
Bacillen wenig beweisen kann. Dagegen war in beiden Fällen eine
typische, sehr hochgradige Local-Reaction an allen vom Lichen besetzten
Hautflächen vorhanden. Ausserdem spricht nach Ansicht des Vor-
tragenden für den tuberkulösen Charakter der Lichen-Papel das Abheilen
derselben mit kleinen oberflächlichen dellenartigen Vertiefungen, die
eine Andeutung des in der Tiefe gebildeten Substanzverlustes sind, der
bei einfacher entzündlicher Knötchenbildung sonst fehlt.
Redner verweist sodann auf die Verwandtschaft dieses mikro-papu-
lösen Tuberkulodermas mit dem kleinpapulösen Syphilid, auf die Schwierig-
keit der Deutung des Riesenzellenbefundes, welcher auch bei den klein-
papulösen Syphiliden gemacht worden sei, schliesslich auf die verhältniss-
mässig leichte Heilbarkeit des Lichen scroph. durch externe Chrysarobin-
behandlung,
Schliesslich betont er, dass wahrscheinlich öfter durch Lichen-
Eruptionen bedingte Local-Reactionen nach Tuberkulin-Injectionen mit
sogenannten Tuberkulin - Exanthemen verwechselt worden seien. Im
grossen Ganzen sei also auch er geneigt, den Lichen scrophulosorum als
einen Lichen scrophulosus, als ein Tuberkuloderma mikropapulosum auf-
zulassen.
I. Medicinische Abtheilung. 21
4. Sitzung vom 26. Februar 1892.
Vorsitzender: Herr Geheimrath Ponfick. Schriftführer; Herr Dr. Martini.
Vor der Tagesordnung demonstrirt Herr Geheimrath Mikuliez
einen 62jähr. Patienten, welcher mit einem
Pylorus-Carcinom
behaftet ist. Die Geschwulst ist gut abgrenzbar und wäre leicht zu
operiren, wenn nicht schon lenticuläre Metastasen in der Haut des Ab-
domens vorhanden wären.
Sodann hält derselbe seinen angekündigten Vortrag:
„Der heutige Stand der Kropfbehandlung.‘
Der Vortrag erscheint an einem andern Orte in extenso.
Herr Dr. Riegner berichtet über einen Fall von Kropfexstirpation,
welcher nach glücklicher Beendigung der Operation dadurch tödtlich
endigte, dass die Trachea, welche weich wie ein Gummischlauch ge-
worden war, durch unzweckmässige Kopfhaltung abknickte und colla-
birte. Derselbe verlangt demgemäss, dass während und nach der
Operation eine bestimmte Lage des Patienten innegehalten wird,
welche am Wenigsten seine Athmung behindert. Auch bestätigt er,
dass die parenchymatöse Jodinjeection durchaus kein indifferenter Ein-
griff sei. |
Herr Prof. Richter erinnert daran, dass die Form der Kröpfe nach
Gegenden eine durchaus verschiedene sei und wünscht zu erfahren,
welche Art in Breslau besonders häufig sei.
Herr Geh.-Rath Mikulicz erwidert zunächst auf die letzte Frage,
dass in Gegenden, wo Kropf selten sei, die unangenehmere diffuse
Form, die schwerer zu operiren sei, vorherrsche. So habe er es in
Breslau und Königsberg gefunden; in Krakau und Wien seien, wie auch
in den Alpen, Kropfknoten häufiger.
Was nun eine allmähliche Erweichung der Trachea, einen Schwund
ihrer Knorpel beträfe, so betont Herr Mikulicz, dass er derartiges nie
sesehen habe und berichtet über zwei Fälle aus der Billroth’schen
Klinik, welche durch Lufteintritt in die eröffneten venösen Bahnen in
der geschilderten Weise tödtlich verliefen. Natürlich ist es erforderlich,
dass der Kopf während und nach der Operation in der Lage fixirt wird,
welche am freiesten die Athmung gestatte,
Herr Dr. Janicke stellt sodann ein 16jähr. Mädchen vor, bei welchem
sich im Anschluss an eine Kropfexstirpation — das linke Horn der
Schilddrüse blieb stehen, atrophirte aber nachher — ein mässiger Grad
von Cachexie entwickelt hatte, welche seit zwei Jahren keine Fortschritte
macht. Das Mädchen zeigt etwas schlaffe, gedunsene Gesichtszüge, das
Kopfhaar ist dünn geworden und an den unteren Extremitäten ist eine
3 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
leichte Ernährungsstörung der Haut aufgetreten, die sich als ein mässiger
Grad von Ichtyosis präsentirt.
Herr Dr. Kolaczek wünscht noch über die Behandlung maligner
Strumen eine Discussion.
Herr Geh.-Rath Mikulicz entgegnet, dass ja bei dieser Form alle
Bedenken entstünden, welche bei bösartigen Tumoren überhaupt auf-
träten. Er begnüge sich meist mit einer keilförmigen Excision, wenn
der Tumor schon weit vorgeschritten wäre, aber dennoch eine Opera-
tion nothwendig erscheine.
Wäre indessen die maligne Neubildung gänzlich zu exstirpiren, so
nähme er ohne Rücksicht auf eventuell nachfolgende Cachexie das ganze
Organ heraus.
Wegen vorgeschrittener Zeit wird die Fortsetzung der Discussion
bis zur nächsten Sitzung vertagt.
Der angekündigte Vortrag des Herrn Dr. Silbermann:
„Ueber Carbolsäure-Vergiftung bei Säuglingen“
soll wegen der vorgerückten Zeit in der nächsten Sitzung gehalten
werden.
5. Sitzung vom 11. März 1892.
Vorsitzender: Herr Geh.-Rath Mikulicz. Schriftführer: vacat.
I. Vor der Tagesordnung:
a. Herr Privat-Docent Dr. Kaufmann:
!) Carcinom-Metastase am Halse des Oberschenkels ; — Fractur.
2) 35jähr. Phthisica, Perichondritis des Kehlkopfs. Abscess um
den Oesophagus. Perföration in denselben.
3) Tertiäre Lues im Kehlkopf, Stridor ete. — Careinom der
kleinen Curvatur des Magens.
4) Medullarkrebs des Magens in kolossaler Entwicklung.
b. Herr Dr. Martini:
Rectal-Lues, Strietur; periproctitischer Abscess mit Perfo-
rationen. Amyloid.
Diseussion: Herr Neisser, Ponfick, Mikulicz.
II. Fortsetzung der Discussion: ‚Der heutige Stand der Kropf-
behandlung.“
1) Herr Müller (Beziehung des Morbus Basedowii zur Kropf-
behandlung).
2) Herr Ponfick (wie sind die Fälle plötzlichen Todes zu
deuten — Herztod).
3) Herr Born (Embryologisches).
4) Herr von Noorden (Tübingen, Fall von Kropftod) Tracheal-
veränderung in Tübingen nie gesehen. — Auffallend wenig
I. Medicinische Abtheilung. 233
Verkalkung in Schlesien, in Tübingen fast regelmässig.
Schwierigkeit der Tracheotomie bei malignem Struma. — Eis-
behandlung nach Wöllfler.
5) Herr Riegner: Kropftod — Erklärung: Herz- oder Chloro-
formtod’?
Herr Dr. Silbermann spricht über
Carbolsäurevergiftung bei Säuglingen
und erwähnt zunächst die beiden von ihm beobachteten Vergiftungen,
die wegen ihres Krankheitsverlaufes recht bemerkenswerth erscheinen.
In dem ersten dieser Fälle handelt es sich um einen dreiwöchentlichen
kräftigen Knaben, das zweite Kind gesunder und in den besten hygi-
enischen Verhältnissen lebender Eltern, der bis zum 17. Lebenstage an
der Ammenbrust vorzüglich gedieh. — An diesem Tage zeigte sich am
rechten Oberschenkel eine Zweimarkstück grosse, geröthete und etwas
fluetuirende Geschwulst, eine Phlegmone der Haut, auf welche die Amme
ohne Jemanden um Rath zu fragen, 2procentige Carbolwasserumschläge
applieirtee. — Während nun am folgenden Tage der Knabe noch ganz
wohl war, stellten sich 48 Stunden nach Anwendung dieser Umschläge
zu einer Zeit, wo das Kind vom Vortragenden zum ersten Male gesehen
wurde — leichter Ikterus, Cyanose und allgemeine Körperunruhe ein
ausserdem wurde die dargereichte Brustnahrung fast völlig verweigert.
Die nunmehr vorgenommene Krankenuntersuchung ergab normale Herz-
töne, raschen und fadenförmigen Puls, stark beschleunigte Respiration
und eine Temperatur von 36° C. Die Nabelwunde zeigte nichts Ab-
normes in ihrem Verhalten. — Es wurden jetzt die Carbolumschläge
durch solche von essigsaurer Thonerde ersetzt, ferner Exeitantien ver-
ordnet und die abgespritzte Ammenbrust mit dem Löffel eingeflösst.
Die folgende Nacht verläuft sehr unruhig. Das Kind schreit oft sehr
stark und lässt gegen Morgen etwa 50 Gramm eines dunkelgrünen Urins
(Carbolurinp). Am nächsten Tage zeigte sich starke Zunahme des Ikterus,
ferner Hämoglobinurie und als drittes, sehr beunruhigendes Symptom, eine
sehr bedeutende Reflexerregbarkeit des Kranken. Die jetzt am Kranken-
bette vorgenommene Blutuntersuchung ergab zahlreiche geschrumpfte
rothe Blutscheiben, wenige Blutschatten und eine auffällige Zerfliesslich-
keit des Leukocyten. In 0,6proec. Kochsalzlösung quollen viele ver-
schrumpfte Erythrocyten rasch auf, andere entfärben sich rasch. In
schwachen Methylviolettelösungen färben sich einzelne rothe Scheiben
blau, die Leukocyten dagegen, die in der Norm durch diesen Farbstoff
intensiv gefärbt werden, nehmen denselben jetzt theilweise nur sehr
schwach, theils gar nicht an. Im weiteren Krankheitsverlaufe erholte
sich das Kind unter Darreichung von Exeitantien unter erhöhtem
Nahrungsbedürfniss so bedeutend, dass gegründete Hoffnung vorhanden
94 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
war, den Knaben zu erhalten. — Da plötzlich wurde durch eine aus der
phlegmonösen Hautpartie auftretende sehr starke Blutung ein erneuter
Collaps des Kranken herbeigeführt, dem der exitus lethalis folgte. —
Bei der Autopsie, die sich auf Brust und Bauchhöhle beschränken
musste, wurde nun das rechte Herz, die Pulmonalis, die beiden Cavae,
die Pfortader und ihre Zweige sehr erweitert und strotzend mit Blut
gefüllt gefunden, während das linke Herz nebst der Aorta und ihren
Zweigen auffallend leer waren. — Die Lungen sind lufthaltig, von sehr
verschiedener Farbe, indem hellrothe Partien mit dunkelbraunen ab-
wechseln, die Pleuren mit zahlreichen Blutungen bedeckt. Herzmuskel
blassgelb, stark verfettet, Klappen normal. In den feineren Verzweigungen
der Pulmonalis zahlreiche gemischte Thromben. Milz sehr gross, brüchig,
sehwarzbraun, Leber mässig vergrössert, graugelb, Parenchym trüb und
verwaschen; die interlobulären Gefässe und Gallengänge sehr stark ge-
füllt und in Folge dessen sehr erweitert. — Umbilicalgewebe und Ge-
fässe normal; die Schleimhaut des Magens und des Dünn- und Dick-
darmes zeigt starke Schwellung und zahlreiche linsengrosse Blutungen.
-— Die Nieren sind von sehr buntem Aussehen, zum Theil ganz blass, theils
wieder schwarzblau. In dem Tubulis contortis und rectis zahlreiche
Hämoglobincylinder. Die mikroskopische Untersuchung von Herz,
Leber und Nieren — es wurden nur frische Gefriermikrotomschnitte
angefertigt — ergab eine ganz auffallende Blutfülle in den feineren
Arterien, Venen und Capillaren der genannten Organe; dieselben stellten
sich theils als einfache Stauungen, theils aber als Stasen und gemischte
Thromben dar. — Die Epithelien der Leberzellen und Harnkanälchen be-
finden sich vielfach im Zustande der Verfettung und Nekrose.
Der zweite Fall von Carbolsäurevergiftung betrifft ein 6wöÖchentliches
Mädchen, bei dem die Mutter, da es an intertrigo ad nates litt, 3 proc.
Carbolwasserumschläge angewandt hatte. — Auch hier stellten sich
etwa 36 Stunden nach Application dieser Umschläge Ikterus, Cyanose,
grosse Körperunruhe, allgemeiner Colaps und schliesslich Hämoglobinurie
ein. Puls klein und jagend, Respiration stöhnend, Temperatur subnormal
(36,2° C.). Die Blutuntersuchung ergiebt bei diesem Kranken im Grossen
und Ganzen dieselben Veränderungen wie im ersten Falle, nur waren
sie viel intensiver und hatten in Folge dessen zu einem ausserordentlich
tiefen Kräfteverfall geführt. Unter diesen Umständen entschlossen wir
uns, nachdem Exceitantien sowie die Ernährung durch die Schlundsonde
ohne Erfolg geblieben waren, zur versuchsweisen Anwendung von Koch-
salzklysmen, denen geringe Mengen Cognac beigemischt waren, und diese
Medication war offenbar von bester Wirkung. Es hoben sich nun Puls
und Athmung, das Nahrungsbedürfniss besserte sich und die schon tage-
lang fast sistirende Harnseeretion kam wieder in Gang. In der Folgezeit
hob sich der Kräftezustand sehr bedeutend, der Ikterus verschwand, das
I. Medicinische Abtheilung. 25
Körpergewicht vermehrte sich und acht Tage später befand das Kind
sich ausser jeder Lebensgefahr.
Der Vortragende weist nun darauf hin, dass Ikterus und Hämo-
slobinurie, die in diesen beiden Fällen von Carbolsäurevergiftung auf-
traten, im Allgemeinen nur äusserst selten im Verlaufe der genannten
Intoxieation beobachtet worden sind und dass dies in der Art der durch Phenol
bedingten Blutschädigung seinen Grund hat; dasselbe schädigt bekanntlich
in erster Reihe die Leukocyten, ferner bewirkt es Veränderungen
der Erythrocyten, die zumeist in Schrumpfung, nicht aber in Aus-
laugung derselben bestehen und deshalb auch nieht zum Uebertritt von
Hämoglobin in das Plasma führen. Unter solchen Umständen kann es
aber auch nicht zur Entstehung von Hämoglobinurie und Ikterus kommen.
Die genannten Symptome entwickeln sich bei der Phenolvergiftung nur bei
Individuen, deren Erythrocyten, wie bei Säuglingen, Wöchnerinnen,
Anämischen besonders wenig resistent sind, indem es hier zu einer
in- und extensiveren Auslaugung des Blutes kommt. — Am Schlusse
seiner casuistischen Mittheilungen geht der Vortragende noch etwas
näher auf die Theorie der Carbolwirkung ein und betont, dass er auf
Grund seiner klinischen und experimentellen Erfahrungen der Ansicht
ist, dass die bei der acuten wie subacuten Form der genannten Intoxi-
cation auftretenden Krankheitserscheinungen grossen Theils durch die blut-
schädigenden Eigenschaften des Phenols bedingt seien.
Discussion:
Herr Neisser und Buchwald werfen die Frage nach der Theorie
der Carbolsäurevergiftung auf.
Herr Mikulicz betont die Gefahr der Hautresorption und regt die
Frage an, ob die Parenchym-Veränderungen alle seeundärer Natur sind.
Herr Riesenfeld betont die grosse individuelle Verschiedenheit bei
Säuglingen wie bei Erwachsenen.
Herr Müller fragt, ob die Cyanose und der Ikterus nur auf Circu-
lationsstörungen oder auf Hämoglobin-Veränderungen beruhen.
Herr Silbermann betont, dass auch bei den akuten Vergiftungen
bereits in vivo Blutveränderungen vorhanden sind, während andere
Gewebsstörungen fehlen. —
Die bei akutem Carbolismus auftretende Hirnlähmung leitet der
Vortragende ebenfalls von der Blutalteration der Cyanose und den Ikterus
von den Circulationsstörungen und den Hämoglobinveränderungen ab.
Herr Neisser fragt, ob die Circulationsstörung stets primär oder
ob nicht die Zellstörung als primär aufzufassen ist.
Herr Kaufmann führt seine Erfahrungen bei Sublimatvergiftung an.
Herr Silbermann vertritt nochmals seinen obigen Standpunkt.
36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
6. Sitzung vom 25. März 1892.
Vorsitzender: Herr Prof. Born. Schriftführer: Herr Dr. Gaupp.
Tagesordnung:
Herr Dr O; Brüeger:
Zur Pathologie und Therapie der Sinusthrombose bei Mittelohreiterungen.
Vortragender erörterte nach einer kurzen Besprechung der Aetiologie
und Symptomatologie an der Hand eines Falles, in welchem die Eröffnung
der sinus vorgenommen wurde, besonders die Frage der operativen Be-
handlung der Sinusphlebitis. Die Schwierigkeit, die Sinusthrombose
sicher zu erkennen, falle bei deren operativer Behandlung schwer in’s
Gewicht; die genaue Diagnose, besonders auch hinsichtlich des Sitzes
der Thrombose, sei eine unerlässliche Vorbedingung für die Vornahme
eines operativen Eingriffs. Jedenfalls sei aber dann die bisher übliche,
von Sehwartze besonders empfohlene Behandlungsmethode, welche
sich mit der Eröffnung des Antrum mastoideum begnügte, dahin zu er-
weitern, dass der sinus freigelegt und eröffnet werde. Nach dem Vor-
schlage Zaufal’s sei daran dann die Unterbindung des jugularis anzu-
schliessen.
Discussion:
Herr Hecke: Es kommt häufig vor, dass man bei operativen
Eingriffen am Trommelfell und an der Paukenhöhle, z. B. bei Paracentesen,
galvanokaustischen Aetzungen sehr bedeutende Blutungen bekommt, Ich
frage deshalb den Herrn Vortragenden, ob nicht hier ebenfalls eine
derartige Blutung bei der galvanokaustischen Paracentese des Trommel-
fells entstanden sein kann und ob bestimmt eine Verletzung des Bulbus
der Vena jugularis angenommen werden muss.
Ich habe bei einem jungen Mann von 17 Jahren im Anschluss an
eine galvanokaustische Zerstörung eines Polypen-Restes der Pauken-
schleimhaut hohes Fieber mit Schüttelfrost entstehen sehen; ich machte
die Aufmeisselung des Warzenfortsatzes; das Fieber liess zwar etwas
nach, es entwickelte sich aber unter stetem hochgradigen Ansteigen der
Temperatur ein Abscess des linken Sternoclavicular-Gelenks eine beider-
seitige seröse Schultergelenks-Entzündung und seröse Pleuritis. Der
Kranke wurde geheilt mit gutem functionellen Resultat. Was das Vor-
kommen von Streptococcus pyogenes anbelangt, so habe ich bei einem
Kranken mit spontan entstandener Otitis media purulenta, Schüttelfrösten
und Entzündung des Ellenbogengelenks sowohl in dem Eiter aus dem
aufgemeisselten processus mastoideus, als auch in dem Sekret aus dem
ineidirten Ellenbogengelenk Streptococcus pyogenes nachweisen können.
Thier-Impfungen wurden mit dem Eiter allerdings nicht vorgenommen,
aus denen man weitere Schlüsse hätte ziehen können.
Der betreffende Kranke wurde geheilt.
I. Medicinische Abtheilung. 937
7. Sitzung vom 8. April 1892.
Vorsitzender: Herr Dr. Buchwald. Schriftführer: Herr Dr. Asch jun.
Herr Dr. E. Fränkel spricht über:
„Aseptische Geburtshilfe oder geburtshilfliche Antiseptik
Sind wir zur inneren Anwendung von antiseptischen Mitteln vor,
während und nach der Geburt verpflichtet, ja sind wir überhaupt dazu
berechtigt? Genügt es, vielleicht mit einigen Modificationen und Ein-
schränkungen, diejenige Methode beizubehalten, die man als Antiseptik
in der Geburtshilfe zu bezeichnen gewöhnt ist, oder müssen wir be-
strebt sein, die in der Chirurgie herrschenden Grundsätze der Aseptik
auch auf die Geburtshilfe zu übertragen? Die Berechtigung dieser Frage
liegt in der seit Einführung der Antiseptik in die Geburtshilfe nur relativ
wenig, um Bruchtheile von Procenten, herabgeminderten Sterblichkeit
der Wöchnerinnen, wie dies die grossen Statistiken von Winckel, Böhr,
Ehlers, Hegar und Dohrn ergeben. Auch die Einführung der obli-
gatorischen Anzeigepflicht für Aerzte und Hebammen — die übrigens,
wie jeder in der Praxis Stehende weiss, meist recht lax und unter -
allerlei Rücksichtnahmen geübt wird — hat hier nur wenig Wandel ge-
schaffen. Das Eine allerdings ist durch strenge Durchführung der anti-
septischen Grundsätze erreicht worden, dass in den früher so verpönten
und gefürchteten Gebäranstalten und Kliniken die Mortalität und Mor-
bidität im Wochenbette auf ein Minimum gesunken ist. Aber da das
Gros der Entbindungen, etwa 94 Procent, der privaten Geburtshilfe an-
heimfällt, so kann eine, wenn auch noch so eclatante Besserung der
6 Procent in Anstalten niederkommenden Frauen nur wenig an dem Ge-
sammtresultate ändern. Ja selbst zur Entscheidung der Frage, ob zur
Verhütung des Wochenbettfiebers in jedem Falle ausser strengen sub-
jeetiver Desinfection eine vorbeugende äussere und vor Allem innere,
Vagina und Cervix reinisende Anwendung von Antiseptieis nöthig sei,
oder ob bei regelmässigen Geburten die Scheidenausspülungen unter
gleichzeitiger Einschränkung der inneren und grösstmöglicher Ver-
werthung der äusseren Untersuchung entbehrlich seien, oder ob man
sogar unter möglichstem Ausschluss der Antiseptica der reinigenden
Kraft des Wassers und der Seife allein vertrauen könne, werden die
klinischen Beobachtungen und Statistiken, die sich, je nach dem wissen-
schaftlichen Standpunkte ihres Verfassers, oft diametral widersprechen,
nicht führen. Thatsache ist, dass trotz aller Antiseptik schwere In-
fectionen in der Privatpraxis, sei es durch Schuld der Hebamme, des
Arztes, der Wöchnerin oder ihrer Umgebung, noch immer relativ häufig
vorkommen, und zwar meist grade in solchen Fällen, die sich durch
einen leichten und glücklichen Geburtsverlauf ausgezeichnet haben.
Gewiss ist es richtig, was Hofmeier (Deutsche med. Wochenschr. 1891,
38 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Nr. 49, Zur Prophylaxe der Wochenbetterkrankungen) sagt, dass Rein-
lichkeit und Desinfeetion in rechter Weise angewandt, auch bei
Kreissenden nicht schaden können; aber sehen wir nur genauer zu, wie
dies „in rechter Weise“ in der Privatpraxis oft verwirklicht wird; dann
wird uns der Widerspruch zwischen den vorzüglichen Resultaten der
Geburtshilfe in der Klinik und unter privaten Verhältnissen bei schein-
bar derselben Behandlung der Kreissenden nicht Wunder nehmen. Be-
rücksichtigen wir also, dass die trotz Einführung der Antiseptik in die
Geburtshilfe noch immer erschreckend hohe Wöchnerinnensterblichkeit
(ca. 0,8 pCt.) fast allein auf Rechnung von Infeetionen während und
nach der Entbindung zu setzen ist — denn die sog. unvermeidlichen
Todesfälle bei schweren Entbindungen, wie Eklampsie, Placenta praeria,
Extrauterinschwangerschaft, Uterusrupturen ete. betragen nach Böhr
höchstens 2 pCt. aller puerperalen Todesfälle —, erwägen wir ferner,
dass eine nicht kleine Anzahl von Wöchnerinnen der schädlichen Ein-
wirkung der Desinfieientien erliegen und dass aus diesem Grunde die in
der Klinik zulässigen wirksamen inneren Desinfeetionsmethoden (z. B.
vaginale und cervikale Sublimat- Ausspülungen und Ausreibungen) im
Privathause in den Händen der Hebamme entweder unstatthaft oder,
wenn gemildert (z. B. in Form 2procentiger prophylaktischer Carbol-
waschungen und Ausspülungen) angewandt, zu einer schädlichen Schein-
antiseptik führen, berücksichtigen wir endlich, dass, wenn wirklich die
pathogenen Scheidenkeime in einer gewissen ceonstanten Zahl von Fällen
und nicht — wie wir es annehmen — äussere wechselnde Ursachen
für das Wochenbettfieber verantwortlich zu machen wären, alsdann die
Statistiken nicht so enorme Zahlenunterschiede zeigen dürften, sondern
viel constantere Zahlen ergeben müssten, erwägen wir alles dies, so
bleibt für die Selbstinfeetion durch virulent gewordene Scheidenkeime
und die damit stehende und fallende prophylaktische innere Desinfeetion
fast nichts mehr übrig (Bumm, Zur Frage der inneren Desinfection
Kreissender. Centralbl. f. Gynaek. 1892, Nr. 9). Daran ändert es
nichts, wenn auch innerlich nicht untersuchte und nicht ausgespülte Fälle
fiebern oder wenn, wie neuerdings von Frommel (Zur Prophylaxe des
Wochenbettfiebers, Deutsche medieinische Wochenschrift 1892, Nr. 10)
bei strenger subjeetiver und objectiver, nur äusserer Desinfeetion und
innerer Untersuchung schwere Infectionsfälle beobachtet wurden. Damit
ist noch nicht der Beweis geliefert, dass es grade die versäumte Ab-
tödtung der virulent gewordenen Scheidenkeime war, welche das Fieber
verursachte; denn mit der Unterlassung des Ausspülens und der inneren
Untersuchung ist, wie Bumm hervorhebt, nur eine Quelle der äusseren
Infeetion beseitigt. Viele andere Gelegenheiten, die trotz sorgfältigster
Controle aller Betheiligten und aller begleitenden Umstände im einzelnen
Falle nicht immer ermittelbar sind, bestehen fort, z. B. Berührung der
I. Medicinische Abtheilung. 29
äusseren Genitalien während und nach der Geburt, ihre Verunreinigung
durch Faeces, verschiedene Infeetionsmöglichkeiten von aussen während
des Wochenbettes. Wenn es also vorwiegend äussere Ursachen sind,
auf welche die Entstehung des Wochenbettfiebers zurückzuführen ist, so
muss man diese in der Geburtshilfe wie in der Chirurgie durch Ein-
führung aseptischer Maassregeln zu bekämpfen suchen. Die Praxis ist
in der Erfüllung dieser Forderung der Theorie weit vorausgeeilt, so dass
das, was jetzt erst als Resultat der neuesten bakteriologischen For-
schungen unser wissenschaftlich begründetes Eigenthum geworden ist,
schon vor einem Vierteljahrhundert und früher, allerdings rein empirisch,
erfolgreich ausgeübt wurde. Beim Rückblick auf eine mehr als 25jährige
geburtshilfliche Thätigkeit ist es mir in lebhafter Erinnerung, wie mein
verstorbener Lehrer Spiegelberg, als er 1865 die Leitung der Breslauer
geburtshilflichen Klinik übernahm, durch eine Reihe von Maassnahmen
die fast durchweg den Forderungen der heutigen Aseptiker entsprechen,
den Augiasstall der alten (jetzt glücklich beseitigten) Breslauer Klinik
zu reinigen und Wandel in den daselbst fast jedes Semester wieder-
kehrenden Puerperalfieberepi- und endemien zu schaffen suchte. Er stand
nach einem längeren Aufenthalte in England noch unter dem Einflusse
der grossen Dubliner Schule und führte mit jugendlicher Energie in
seiner Klinik die Grundsätze der peinlichsten subjectiven und objeetiven
Sauberkeit, der möglichsten Einschränkung der inneren und der vorzugs-
weisen (im Falle von Endemien ausschliesslichen) Ausübung der äusseren
Untersuchung, der naturgemässen und schonenden Behandlung des ganzen
Geburtsactes und besonders der Nachgeburtsperiode, der Herabminderung
der Operationsfrequenz und der Sorge für andauernde Retraction des
Gebärorgans nach Vollendung der Geburt durch. Herr Professor Leopold,
der ja neuerdings diese Grundsätze erfolgreich verficht, wird sich aus
seiner Volontärarztzeit an der Breslauer Klinik zu erinnern wissen, wie
wir damals in jedem normalen und pathologischen Geburtsfalle bestrebt
waren, zunächst allein durch die sorgfältigste äussere Untersuchung die
Diagnose zu stellen, und wie das Touchiren nur möglichst selten und
zur Vervollständigung der Palpations-Diagnose ausgeübt wurde. Die
klinischen Journale von 1865—72, die sicher noch vorhanden sind, ent-
halten darüber genaue Aufzeichnungen. Der Erfolg dieser Maassregeln
war dann auch, wie die von mir als Assistent in der Prager Viertel-
Jahrsschrift und in der Deutschen Klinik (Berlin, Dr. Göschen, 1868 und
1870) veröffentlichten Jahresberichte der Breslauer geburtshilflichen
Klinik bewiesen, eine sehr erhebliche Herabminderung der Mortalität
und Morbidität und trotz des Fortbestandes der äusseren ungünstigen
Verhältnisse in dem alten, ungeeigneten Hause das gänzliche Verschwinden
grösserer Puerperalendemien, die vorher fast alljährlich zu einer Schliessung
der Anstalt gezwungen hatten. Es folgte dann, vom Beginn der 70er
30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Jahre an, die antiseptische Aera, die wir in ihrer Entwickelung und
auch in ihren Uebertreibungen — ich erinnere nur an das Gebären unter
Carbolspray, an die permanente Irrigation des puerperalen Uterus auch
nach normalem Geburtsverlauf u. s. w. — mehr oder weniger fast Alle
mitgemacht haben und endlich, ungefähr seit 1888, die naturgemässe
Reaction und der Uebergang zu der in der Chirurgie vorbereiteten
Richtung der Asepsis, wie sie für die Geburtshilfe neuerdings, besonders
von Leopold, Merman, Szabo und J. Veit vertreten wird. Der Letztere
geht sogar in consequenter Durchführung seiner Prineipien in einem
jüngst in der Berliner Gesellschaft f. Geburtsh. und Gynaek. (Sitzung
vom 11. März 1892, Centralbl. f. Gynaek. Nr. 16, pag. 317) gehaltenen
Vortrage so weit, dass er neben der Beschränkung der inneren Unter-
suchung nach ganz bestimmten Indicationen die Reinlichkeit obenan
stellt und eine strenge Desinfeetion nur da und nur in der Ausdehnung
verlangt, wie sie wirklich nothwendig ist. Eine solche ist für die Hand
des Geburtshelfers und der Hebammen ebenso wie für die äusseren Ge-
schlechtstheile nur nöthig vor jeder inneren Untersuchung, kurz vor dem
Austritt des Kindes und vor jeder Operation; eine Desinfeetion der
inneren Geschlechtstheile ist unter normalen Verhältnissen überhaupt
nicht nöthig. — Desinfieirt man nur das und nur da, was resp. wo
wirklich nöthig, benutzt man in möglichst grosser Ausdehnung die steri-
lisirende Kraft des Wassers, so kann man als besonders wichtig immer
Werth auf die Reinlichkeit der Anzüge der Hebammen, die der Hände
und die der Wäsche in der Umgebung der Kreissenden legen.
Man sieht aus dieser jüngsten Aeusserung des consequentesten Ver-
treters der Aseptik in der Geburtshilfe, dass die Anschauungen seit
25 Jahren einen Cirkel, aber — wie ich glaube — keinen fehlerhaften
durchlaufen haben: vor der empirischen Sauberkeit der vorantiseptischen
Zeit sind wir durch die Anti- zur Aseptik und in dieser wieder zur
zielbewussten strengsten Reinlichkeit im bakteriologischen Sinne vor-
seschritten.
Es stehen sich in der Geburtshilfe augenblicklich noch zwei Parteien
ziemlich schroff gegenüber, deren Sieg von der Lösung der entscheiden-
den Frage abhängt, ob die das Puerperalfieber erzeugenden Keime stets
während oder nach der Geburt von aussen in die Genitalien eingeführt
worden sind (Oontact- oder Ausseninfection, directe Infection), oder ob
solche Spaltpilze schon vorher in den Genitalien gehaust haben können.
(Selbstinfeetion, spontane oder indireete, Scheideninfeetion.) Die Mehr-
zahl der Autoren giebt allerdings die letztere Infectionsmöglichkeit
theoretisch zu, widerspricht aber den Schlussfolgerungen und Forderungen
für die Praxis, die aus den bisherigen bakteriologischen Untersuchungen
der Genitalseerete gezogen werden und im Wesentlichen auf eine prophy-
laktische, streng durchgeführte Desinfection des Genitaltraetus Kreissender
1. Medicinische Abtheilung. 31
von der Vulva bis zum inneren Muttermunde hinauslaufen. Der einzige
Weg zur Entscheidung dieser Streitfrage, ob das Scheidenseeret an sich
eine Infectionsgefahr für die Kreissenden bedingt und ob die auffallenden
bakteriologischen Befunde, besonders Steffeck’s und Winter’s, die in
40—50 pCt. der Fälle in demselben pathogene Keime fanden, eine Ver-
schärfung der inneren oder Scheidendesinfecetion verlangen, ist die Er-
weiterung unserer Kenntnisse von den im Vaginalseeret vor dem Ge-
burtsbeginn vorkommenden Spaltpilzen.
Einen grossen Fortschritt auf diesem Gebiete verdanken wir den
sorgfältig durchgeführten, jüngst in einer Monographie zusammengefassten
Untersuchungen Döderlein’s (Das Scheidenseeret und seine Bedeutung für
das Puerperalfieber, Leipzig 1892), der zunächst den Beweis lieferte,
dass die nach Kehrer, Winter und Steffeck so häufige Anwesenheit
pathogener Organismen im Genitalcanal nicht für gesunde Frauen mit
normalem Secret, sondern nur für solche mit pathologisch veränderter
Absonderung zutreffend sei. Döderlein stellte in dieser Arbeit zuerst
und endgiltig den Begriff des normalen Genitalsecretes fest.
Man sprach bisher wohl immer vom Genitalcanal des ‚gesunden‘
Weibes, aber was war darunter zu verstehen? Der bekannte Ausspruch
Bokelmann’s dass die gesunde normale Kreissende a priori als aseptisch
anzusehen sei, bedurfte einer präciseren Fassung und diese verlieh ihm
Döderlein, indem er als normales Scheidensecret bei Schwangeren jenes
bezeichnete, welches beı stark saurer Reaction die bacteriologisch von
ihm genau beschriebenen Scheidenbacillen und in einzelnen Fällen den
Soorpilz (Monilia candida Bonorden, Plaut) enthält, ausserdem aber keine
oder nur vereinzelte saprophytische Keime und insbesondere weder in
Cultur noch bei subeutaner reichlicher Infusion pathogene Keime nach-
weisen lässt. Im normalen Scheidensecret bestehen, wie Bumm mit Recht
betont, ähnliche Schutzvorrichtungen wie in der Mundhöhle, welche die
Ansiedlung septischer Keime erschweren und uns erklären, warum In-
feetionen daselbst so selten erfolgen. Es sind dies nach Döderlein’s Ver-
suchen die Scheidenbacillen bezw. ihre Stoffwechselproducte, zu welchen
als wirksamer Theil besonders die Säure zu rechnen ist, die ein Hinder-
nissmittel für die Entwicklung der Strepto- und Staphylococcen darstellt. Im
Gegensatz zum normalen Secret stellt das pathologische nach Döder-
lein einen mehr oder weniger dünnflüssigen, gelblichen bis gelbgrün-
lichen, nicht selten von kleinen Gasblasen massenhaft durchsetzten,
schaumigen oder mit zähem, gelben Schleim vermengten Eiter dar, der
meist schwach sauer, nicht selten neutral oder alkalisch reagirt und an
eigentlichen Bacterien und Coccen, darunter auch pathogenen, reich ist
Dieses krankhafte Seeret findet sich in erster Reihe bei Schwangeren
mit Erosionen der Portio, eitrigem Cervicalkatarrh, spitzen Condylonen,
Vaginitis granulosa, muss aber auch in solchen Fällen, welche keine
32 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
derartigen pathologisch-anatomischen Veränderungen erkennen lassen, als
abnorm bezeichnet werden, da sich die Beschaffenheit und das Wesen
des Seerets in nichts von dem bei ausgezeichneten Krankheitssymptomen
vorkommenden unterscheidet. Döderlein fand nun in dem stark ge-
mischten Untersuchungsmaterial der Leipziger Klinik unter 195 Schwan-
geren 108 — 55,5 pCt. mit normalem Secret und 87 — 44,6 pCt. mit
pathologischer Absonderung. Für die überwiegende Mehrzahl der Fälle,
für alle Schwangeren, die mit normalem Secret zur Geburt kommen, ist
somit bei Ausschluss einer von aussen bewirkten Infection ein normales
Wochenbett gesichert, sofern nicht Spätinfeetion im Wochenbett erfolgt.
Es ist also die prophylaktische innere Desinfeetion so lange überflüssig,
ja schädlich, als von aussen keine Krankheitserreger in die Geburtswege
eingeführt werden. Dies kann vermieden werden durch Unterlassen der
inneren Untersuchung oder durch strengste subjecetive und äussere Des-
infeetion der Kreissenden. Unter den 87 Fällen mit abnormem $Becret
konnte Döderlein in 3 Fällen neben anderen Keimen den Streptococeus
pyogenes aufzüchten, der nach übereinstimmenden Beobachtungen in der
überwiegend grossen Mehrzahl aller Fälle von puerperaler Wundinfeetion
gewöhnlich die Rolle des Infectionsträgers spielt. Berechnet man die
Häufigkeit des Vorkommens von Streptocoecen auf die Gesammtzahl
der von Döderlein untersuchten Schwangeren, so ergiebt sich ein Procent-
verhältniss von 4,1 pCt., während sich im pathologischen Scheidenseeret
9,2 pCt. Streptococcen ergeben. Der Nachweis der letzteren im Scheiden-
secret mittelst des Culturverfahrens allein genügt jedoch noch nicht, um
den Schluss zu rechtfertigen, dass die betreffenden Individuen in höherem
Maasse gefährdet wären, im Puerperium zu erkranken. Es muss noch
die Virulenz der aus der Scheide gezüchteten Streptococcen durch Thier-
versuche mit den Streptococcen-Reineulturen geprüft werden. Von den
sieben so geprüften Culturen verschiedenen Ursprungs erwiesen sich nur
fünf als pathogen, während in zwei Fällen den Streptococcen kein viru-
lenter Charakter zukam. Die Uebertragung derselben subeutan und ins
Ohr von Kaninchen verlief ohne jeden Erfolg, ebenso wie die directe
Einverleibung in die Peritorealhöhle mittelst Laparotomie. Für fünf
von den aus der Scheide gezüchteten Streptococeen, also nur bei etwas
mehr als 53 pCt. aller von Döderlein untersuchten Schwan-
geren war allerdings die Virulenz der aus der Scheide ge-
züchteten Streptococcen und somit die Möglichkeit nach-
gewiesen, durch sog. Selbstinfeetion, ohne äussere Infection
während und nach der Geburt am Kindbettfieber zu er-
kranken.
Rechnet man von diesem an und für sich schon sehr niedrigen
Procentsatz die Wirkung der natürlichen Schutzvorrichtungen ab, die
während der Geburt dem Eindringen der pathogenen Keime in die
I. Medicinische Abtheilung. 33
Wunden des Genitalcanals und der Aufsaugung ihrer Stoffwechsel-
producte entgegenwirken: Abhebung und Herausbeförderung der auf der
Schleimhautoberfläche haftenden Keime durch die reichliche serös-
schleimige Absonderung aus Cervix und Vagina während der Geburt,
Fortschwemmen der spaltpilzhaltigen Secretmassen durch das ab-
fliessende Fruchtwasser und Blut, mechanische Reinigung des ad maximum
erweiterten und durch die Dehnung glattwandigen Genitalrohrs durch den
mit Vernix überzogenen Fruchtkörper (Kaltenbach), so wird sich selbst
bei Vornahme innerer Untersuchungen bei gründlicher subjeetiver und
nur äusserer objectiver Desinfection, also ohne innere Ausspülungen, der
Mortalitäts- und Morbiditätssatz noch wesentlich niedriger stellen als
obige 3 pCt. In der That fanden Leopold und Goldberg (Deutsch. med.
Wochenschr, 1892, Nr. 13) dieselbe in der Dresdener Klinik im Jahre
1890 zu 1,18 pCt., im Jahre 1891 zu 1,61 pCt. (Gestorbene und Ge-
nesene) und Mermann (Centralbl. f. Gynaek. 1892, Nr. 11), der noch
weiter als Leopold geht und trotz innerer Untersuchung in keinem ein-
zigen Falle, auch bei operativen Eingriffen nicht, irgend eine vaginale
Desinfection vor, während oder nach der Geburt vornimmt, hat jetzt
eine fortlaufende Reihe von 700 Geburten ohne Infeetionstodesfall und
eine Morbidität von 6 pÜt., also die bis jetzt als besterreichbar gelten-
den Resultate durch eine ausschliesslich subjeetive Antisepsis erzielt.
So kommen wir denn, unter Anerkennung der Döderlein’schen An-
schauung, dass in der Geburtshilfe des Privathauses eine Berücksichtigung
des Scheidensecretes zur Bestimmung der antiseptischen Vorsichtsmaass-
regeln sowohl bei physiologischen wie bei pathologischen Geburten im
Allgemeinen nicht ausführbar sein wird, auch zur Uebereinstimmung mit
seiner Schlussfolgerung, dass für die physiologischen Geburten im Privat-
hause bei dem nur sehr vereinzelten Vorkommen von pathogenen, viru-
lenten Keimen im Scheidensecret dieses letztere als Infeetionsquelle ver-
nachlässigt werden kann, wenn nur die Vermittlung einer Infeetion aus-
geschlossen wird durch Unterlassen bezw. Einschränkung der inneren
Untersuchung. Trotzdem also in sehr vereinzelten Fällen die Keime des
eitrigen Vaginalsecrets sich als virulent und deshalb nicht unschädlich
erwiesen haben, wäre es doch nicht gerechtfertigt, deshalb für die
Prophylaxe des Puerperalfiebers bei physiologischen Geburten im Privat-
hause generelle Desinfectionsvorschriften der Scheide für nöthig zu er
klären. Man würde damit für die Privatpraxis, die mehr als 94 pCt.
aller Geburten umfasst und fast ausschlieslich in den Händen der Heb-
ammen ruht, diesen letzteren eine Waffe von grösserer Gefährlichkeit
als das zu bekämpfende Uebel in die Hand geben. Man kann sich mit
Döderlein, Leopold und J. Veit darin einverstanden erklären, dass das
Wichtigste, wenn auch für die Privatpraxis nur schwer, durch eine sorg-
fältigere Ausbildung der Aerzte und Hebammen durchführbare Abwehr-
3
x:
34 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
mittel gegen das Kindbettfieber neben der peinlichsten subjeetiven Anti-
sepsis, sowie Reinigung der Kreissenden und ihrer äusseren Genitalien
in der möglichsten Einschränkung der inneren Untersuchung mit ihren
Gefahren und dem thunlichsten Ersatz derselben durch die äussere be-
steht. Ob es möglich sein wird, hierin so weit zu gehen, wie J. Veit,
muss der späteren Erfahrung überlassen bleiben; vorläufig scheint der
eingeschlagene Weg der richtige zu sein.
Wollen wir aber ernstlich für die Zukunft die Verwirklichung der
Forderung der thunlichsten Beschränkung der inneren und grösstmöglichen
Verwerthung der äusseren Untersuchung, so giebt es nur ein Mittel: die
systematische Einübung dieser Methode in Lehranstalten für Aerzte und
Hebammen, selbstverständlich ohne deshalb die Erlernung der inneren
Untersuchung zu vernachlässigen. Es besteht bei den meisten klinischen
Lehranstalten ein Zwiespalt zwischen den intra muros geübten Des-
infectionsmethoden und den für die Privatpraxis empfohlenen Vorschriften.
Es muss auf Studirende und besonders auf Hebammen, deren Verständniss
für die Forderungen der Antiseptik nach der Art ihrer Vorbildung ja
kein grosses sein kann, gradezu verwirrend wirken, wenn ihnen, z. B.
in der Klinik prophylaktische vaginale Sublimatausspülungen und Aus-
reibungen in jedem regelmässigen Geburtsfalle als nothwendig gelehrt
werden, während ihnen dieselben im Privathause entweder verboten
(z. B. in Sachsen, Lehrbuch der Geburtshilfe für die Hebammen
Sachsens von Cred&e und Leopold, V. Auflage, Leipzig, Hirzel 1892)
oder wie in Preussen (Anweisung für die Hebammen zur Ver-
hütung des Kindbettfiebers vom 22. November 1882) wenigstens nicht
direct vorgeschrieben sind. Aus diesem Grunde möchte ich mich
auch mit der von Döderlein für die Gebäranstalten vorgeschlagenen
Trennung der zur Geburt kommenden Frauen in solche mit normalem
und solche mit pathologischem Secret, von denen die ersteren ohne
innere Desinfeetion für die Touchirübungen verwendet werden können,
die letzteren dagegen entweder vor dem Touchiren bewahrt oder durch
eine geeignete locale Behandlung der Scheide von den im pathologischen
Secret liegenden Gefahren geschützt werden müssen, für die Privat-
praxis vorläufig nicht einverstanden erklären; diese wohl in der
Klinik durchführbare subtile Unterscheidung wird im Privathause
in den Händen der Hebamme und zahlreicher Aerzte zu einer
Zwiespältigkeit in der Desinfectionsmethodik und zu schädlicher
Polypragmasie führen. Es bleibt dann auch immer noch die grosse
Anzahl derjenigen Personen übrig, die als Kreissende in die Anstalt
eintreten und bei denen (wie in der Privatpraxis) vorher das Scheiden-
secret nicht untersucht werden konnte; für diese liegt dann ebenso der
Schutz nur in der möglichsten Einschränkung der inneren Untersuchung
neben subjectiver Antisepsis und genauer Säuberung der äusseren Ge-
I. Mediecinische Abtheilung. 35
schlechtstheille und ihrer Umgebung. Selbstverständlich aber machen
sich im Privathause wie in der Gebäranstalt zielbewusste innere Des-
infeetionsmaassregeln nöthig, sobald zu diagnostischen oder therapeutischen
Zwecken eine eingehendere Berührung der inneren Genitalien vorzu-
nehmen ist, wodurch die in einer bestimmten, wenn auch nur sehr ge-
ringen Anzahl von Fällen vorhandenen pathogenen Keime in den Uterus
der Kreissenden verschleppt werden können; ebenso, wenn in einem
Falle Infeetion bereits stattgefunden hat oder wahrscheinlich ist. In
diesem Punkte möchte ich also nicht so weit wie Merman gehen, der
selbst vor operativen Eingriffen eine vaginale Desinfection nicht vor-
nimmt. Für das Wochenbett ist es ja von allen Seiten jetzt aner-
kannt, dess die inneren Genitalien in regelmässigen Fällen ein noli me
tangere bilden sollen und dass nur bei fieberhaften Processen oder ge-
fahrdrohenden Blutungen innere Eingriffe, speciell intrauterine und vagi-
nale Ausspülungen, unter denselben antiseptischen Vorsichtsmaassregeln
wie während der Geburt erlaubt sind.
Uebertragen wir diese theoretischen Erwägungen in’s Praktische, so
möchte ich in Anlehnung an die Vorschläge von Ahlfeld (Verhandl. der
deutschen Gesellsch. f. Gynaek., IV. Congress, pag. 31 u. f.) und J. Veit
(l. e.) folgende Maassregeln für die Durchführung der Aseptik im Privat-
hause wie in der Gebäranstalt für regelmässige Geburten empfehlen:
Bei Beginn der Geburt wird zunächst ein Einlauf in den Mastdarm und
alsdann in der Klinik, wie in wohleingerichteten Häusern ein Bad ge-
seben; in der Hütte des Armen muss man sich auch ohne das letztere
behelfen. In diesem Falle ist aber die von Ahlfeld geforderte Reini-
gung der Frau ausserhalb des Bettes, auf einem Stuhl sitzend, falls
das Geburtsstadium dies noch zulässt, um so mehr nöthig, als die Her-
stellung eines sauberen Bettes mit Unterlage nur so sich ermöglichen
lässt. Kann die Kreissende das Bett nicht mehr verlassen, so ist ihre
Säuberung in Quer- resp. Seitenlage vorzunehmen. Es müssen der Unter-
bauch, Schamberg, Schamlippen, Damm, After in weiter Umgebung und
die Oberschenkel, sowie auch die Hände mit Wasser, das Y, Stunde
gekocht hat, mittelst ebenso ausgekochter Mulltupfen und Seife zunächst
energisch abgerieben und abgeseift werden; alsdann wird mit gekochtem
Wasser nachgespült und nun erst eine Nachreinigung der äusseren Theile
mittelst eines in desinficirende Lösung getauchten, gleichfalls aus-
gekochten Handtuches vorgenommen. Wenn die Hebamme bezw. der
Arzt gleich bei ihrer Ankunft bei der Kreissenden in einem grossen
Topfe mehrere Liter Wasser, einige grössere, sowie zahlreiche kleinere,
za Tupfern und Tampons geeignete Stücke Verbandmull, sowie einige
Handtücher (die gleichzeitig zu Unterlagen dienen können) auskochen
lassen, so wird durch die Forderung, die sterilisirende Kraft des kochen-
den Wassers in erster Reihe zur Aseptik in der Geburtshilfe zu verwenden,
BE
36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
auch kein unnützer Zeitverlust herbeigeführt. Betreffs der Frage, ob es
möglich und rathsam ist, mit Wasser und Seife allein eine Asepsis der
äusseren Geschlechtstheile zu erzielen, möchte ich mich der diesbezüg-
lichen Empfehlung Veit’s selbst dann nicht anschliessen, wenn ich mit
seiner Forderung, bei regelmässigen Geburten nur unter ganz bestimmten
Indieationen innerlich zu untersuchen, völlig einverstanden wäre. Augen-
blicklich und wohl noch für eine Reihe von Jahren ist bei der unge-
nügenden Ausbildung der Aerzte und Hebammen in der Technik der
äusseren Untersuchung dieses Desiderat undurchführbar und es dürfte
bei äusserster Einschränkung der inneren Untersuchung wenigstens eine
solche beim Geburtsbeginn und eine fernere nach dem Blasensprunge zu
concediren sein.
Wenn also die innere Untersuchung auch bei physiologischen Ge-
burten nicht ganz zu beseitigen ist, so muss für eine vorangehende pein-
lich strenge Desinfeetion der äusseren Genitalien gesorgt werden und hier-
für scheint mir Wasser und Seife allein ohne nachfolgende Anwendung
von Antiseptieis nicht ausreichend zu sein, wie auch die Erfahrungen von
Leopold und Goldberg (Archiv f. Gynaek. Bd. XL. p. 467) dies für die
Desinfection der Hände festgestellt haben. Zu dieser rein äusseren Des-
infection halte ich es aber für zulässig, auch den Hebammen das an-
erkannt sicherste Desinfeetionsmittel, Sublimat, in die Hände zu geben.
In Form der Angerer’schen Pastillen ist dasselbe bequem transportabel,
gut dosirbar, leicht löslich und vor jeder Verwechslung geschützt, Vor-
züge, die man der Carbolsäure nicht nachsagen kann. Wenn es den
Hebammen nur streng verboten ist, innere Ausspülungen zu machen, so
ist das Sublimat als einheitliches Desinficiens für ihre Hände und die
äusseren Geschlechtstheile der Kreissenden allen anderen, auch dem
Creolin und Lysol, vorzuziehen; der allgemeinen Anwendung der letzteren
steht schon ihre Eigenschaft als Geheimmittel im Wege.
Dass durch äusseres Abwaschen der Schamlippen und des Dammes
dieselben brüchig und spröde werden, habe ich nicht bestätigt gefunden;
wohl aber fiel mir dies an der Schleimhaut der Scheide bei Sublimat-
ausspülungen und Ausreibungen derselben und beim Touchiren mit den
in wässrige Sublimatlösung getauchten Fingern auf. Die Möglichkeit
der Entstehung von Dammrissen, vor denen man ja besonders bei Erst-
gebärenden nie sicher ist, ist ein fernerer Grund zur strengen Des-
infeection der äusseren Genitalien, schliesst aber das prophylaktische
äussere Abreiben derselben mit den in ', proc. Sublimatlösung ge-
tauchten Mulltupfen und dieselbe Manipulation beim Durchschneiden des
Kopfes nicht aus, da nach dem oben Gesagten die rein äussere Anwen-
dung des Sublimats weder toxisch wirken, noch durch Brüchigmachen
der Gewebe zur Entstehung eines Dammrisses prädisponiren kann. Hin-
gegen möchte ich das von Ahlfeld empfohlene Auswaschen der bei Aus-
I. Medieinische Abtheilung. 37
einanderhalten der Schamlippen zugängig gemachten Theile des Genital-
schlauchs allein durch Mulltampons, Wasser und Seife besorgt wissen;
Sublimat soll eben nur auf epidermoidale Gebilde angewendet werden.
Nach Bekleidung der Frau mit frischer Wäsche wird sie jetzt zu Bett
gebracht.
Ebenso wichtig wie die Asepsis der äusseren Geschlechtstheile ist
die Herrichtung eines aseptischen Geburtslagers. Ich sagte schon,
dass ich dazu nicht die kleine Unbequemlichkeit oder Gene für die
Kreissenden scheue, dieselben aus dem Bett heraus zu nehmen, sie nach
Ahlfeld’s Vorschlag auf einem Stuhl sitzend zu säubern und während
dieser Zeit das Kreissbett entsprechend herzurichten. Jeder, der längere
Zeit Assistenzarzt einer geburtshilflichen Poliklinik war oder Land- oder
Armenpraxis treibt, weiss in welchem unglaublichen Zustande meist die
Betten sich befinden und wie leicht bei der Geburt oder im Wochenbett
Ausseninfeetion von hier vermittelt werden kann.
After, Damm, Vulva und Mons Veneris werden mit einer dicken
in sterilisirtes Wasser getauchten Mulleompresse bedeckt, die durch-
bluteten Unterlagen unter Gesäss und Öberschenkeln durch reine, in
Sublimatlösung getauchte und gut ausgewundene Handtücher oder zu-
sammengefaltete Bettlaken ersetzt. Man hilft sich am besten dadurch, dass
man ein oder mehrere ausgekochte und in Sublimatlösung (1 : 2000)
getauchte Handtücher unter das Hintertheil und die Oberschenkel der
Frau, der ganzen Breite des Bettes nach, legt und falls das Deckbett
sehr schmutzig und nicht durch ein reines zu ersetzen ist, auch die
äusseren Geschlechtstheile durch ein in dieselbe Lösung getauchtes,
zusammengefaltetes, noch triefendes Handtuch schützt, welches so vor-
gelegt wird, dass es den After, die Vulva und den Schamberg bis über
die obere Grenze des Haarwuchses hinauf vollkommen bedeckt.
Ueber die subjecetive Reinigung der Hände der Hebammen und des
Arztes brauche ich nach den Fürbringer’schen Untersuchungen nichts
mehr zu sagen. Nur kann zur Vereinfachung der Procedur die Alkohol-
waschung der Hände ohne Schaden weg bleiben. Fast wichtiger als
die Spirituswaschungen erscheint mir ein sorgfältiges Ab- und Ausreiben
der Nägelfalze und Nägel mit in Sublimatlösung getauchten Mulltupfern,
Der Vorzug des Sublimats vor allen andern Mitteln für die Desinfection
der Hände dürfte wohl kaum bestritten werden; es giebt nur wenige
Personen, deren Haut gegen häufige Sublimatwaschungen durch Ekzem
u. s. w. reagirt. Mindestens ebenso häufig findet man eine solche
Empfindlichkeit der Haut gegen Carbolsäure, die ausserdem, ebenso wie
Creolin und Lysol, durch den lange anhaftenden Geruch störend wirken.
Dass ich für die Hände ebenso wie für die äusseren Geschlechtstheile
der Kreissenden die Bürsten durch Mull- oder Wattetampons ersetzt
wissen will, wird Jeder billigen, der sich überzeugt hat, wie grade
38 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Culiur.
chirurgische Nagelbürsten wahre Brutstätten pathogener Keime sind und
der weiss, wie selten wegen der raschen Verderbniss durch wiederholtes
Auskochen dieselben von Hebammen dieser nothwendigen Procedur unter-
worfen werden. Der nunmehr vorgenommenen äusseren Untersuchung
folgt eine nochmalige strenge subjeetive Desinfektion zur inneren
Exploration. Dass die letztere unter Leitung des Auges vorgenommen
werden soll, indem der Finger bei blossgelegten Genitalien mit Ausein-
anderziehen der Schamlippen eingeführt wird, darüber sind jetzt nach
Ahlfeld’s Vorgang fast Alle einig, Olshausen, Dührssen und
J. Veit sprachen sich in der Discussion der Berl. geburtshf. Gesell-
schaft (Centralbl. f. Gyn. 1892 Nr, 21 pag. 406) übereinstimmend in
diesem Sinne aus, und es ist auch nicht abzusehen, warum man diese
Maassregel, deren Durchführung bei Katheterismus von Kreissenden und
Wöchnerinnen die früher so häufigen Blasenkatarrhe wesentlich beschränkt
hat, nicht schon längst auf das Touchiren übertragen hat. Auch nach
der inneren Untersuchung, die bei regelmässigem Geburtsverlauf —
wie oben erwähnt — nur beim Geburtsbeginn und nach dem Woasser-
abfluss vorzunehmen ist, findet keine innere Ausspülung statt, Nach
Abnabelung des Kindes werden die äusseren Genitalien mit gekochtem
Wasser und Mulltupfern gereinigt, dann nochmals gründlich ebenso nach
der Ausstossung der Nachgeburt, und alle etwa vorhandenen Einrisse sorg-
fältig durch die Naht mit Catgut vereinigt.
Stovftücher und Unterlagen werden in den ersten 3 Tagen des
Wochenbetts mal, von da an bei normalem Verlauf nur 2mal gewechselt;
jedesmal werden dabei die Genitalien ebenso wie die Unterbauch-
Schenkel und Aftergesend mit sterilisiriem Wasser, Mulltupfern und
Seife abgewaschen. Ich ziehe das Abwaschen der äusseren Genitalien
auch im Wochenbett dem Abspülen vor; die bekannten Gründe, die bei
der Geburt gegen die aseptische Zuverlässigkeit des Hebammenirrigators
sprechen, gelten auch im Puerperium gegen die Anwendung dieser In-
fectionsträger. Ob man zum Abwaschen resp. Abspülen irgend welche
desinfieirende Lösung verwenden will, ist persönliche Geschmackssache.
Für nöthig halte ich eine solche, wenn man — wie vorangegeben —
streng aseptisch verfahren ist, nicht; nicht selten habe ich auch von
durch Hebammen oder unvorsichtige Aerzte vorgenommenen Carbol-
abspülungen der äusseren Genitalien arge Verbrennungen der letzteren
und ihrer Umgebung entstehen sehen. Täglich mehrmaliges Reinigen der
Hände der Wöchnerin mittelst Wasser, Bürste, Seife und Nägelputzer
ist im Wochenbett ebenso nöthig, wie bei der Entbindung; so mancher
Fall von ‚Selbstinfeetion‘“ findet seine Erklärung in der Vernachlässigung
dieser Maassregel. Injectionen in die Vagina oder den Uterus werden
im physiologischen Wochenbett gar nicht, überhaupt nur bei ganz
speciellen Indicationen und nur vom Arzte gemacht, Zur Controle des
I. Medicinische Abtheilung. 39
aseptischen, fieberlosen Verlaufes des Wochenbettes ist in den ersten
10 Tagen Früh und Abends regelmässig die Temperatur zu messen.
Ausdrücklich möchte ich nochmals betonen, dass ich auch für die
Fälle mit nach Döderlein pathologischem Scheidensecret bei sonst
regelmässigem Geburtsverlauf keinerlei prophylaktische Ausspülung, weder
vor, während, noch nach der Geburt befürworte. Lässt man erst diese
Ausnahme zu, dann öffnet man bei der in der Praxis schwierigen und
oft fraglichen Differentialdiagnose zwischen normalem und pathologischem
Scheidensecret einer schädlichen Polypragmasie Thür und Thor. Den
Fehler, den man begeht, indem man die — wie oben gezeigt — ver-
schwindend selten im pathologischen Genitalseecret vorkommenden
virulenten, pathogenen Keime nicht vorbeugend zerstört, wird dadurch
ausgeglichen, dass man durch die Unterlassung der inneren Ausspülungen
und Ausreibungen in viel zahlreicheren Fällen keine Infeetionskeime
von aussen einführt. Schliesslich ist auch der für die Nothwendigkeit
der Vaginalausspülungen für die Prophylaxe der Augenblennorrhoen her-
vorgehobene Grund durch die Erfahrungen Mermann’s (Centralbl. f.
Gynaek. 1892, Nr. 11, pag 210) widerlegt worden, der unter 200 ohne
jede Ausspülung behandelten Geburten, nur 2 ganz leichte Blennorrhoeen
hatte, die nach 3- und 4tägiger Behandlung vollständig geheilt waren,
trotzdem in seiner Anstalt nur Auswaschungen der Augen nach der Ge-
burt des Kopfes mit ausgekochtem Wasser gemacht wurden. Unter den
vorhergegangenen, ebenso behandelten 400 Geburten hatte er sogar nur
1 leichte Blennorrhoe, und nur unter den ersten 200 Geburten, als das
Crede’sche Verfahren geübt wurde, kamen 5 Fälle von Conjunetivitis
vor. Also auch hier Asepsis an Stelle der Antisepsis!
Die letztere bleibt nur noch in Wirksamkeit, bei pathologischen
Geburten. Hier möchte ich, abweichend von Mermann und in
Uebereinstimmung mit Leopold und fast allen Klinikern des In- und
Auslands, besonders vor operativen Eingriffen die innere Desinfeetion
nicht missen. Zunächst ruht dieselbe ja hier in der Hand des Arztes,
dem wir das Verständniss für ihre Nothwendigkeit im einzelnen Falle,
sowie die Strenge und dabei doch möglichst schonende und unschädliche
Durchführung vertrauensvoll überlassen können. Ich glaube zwar nicht,
dass bei regelwidrigen, sich in die Länge ziehenden und schliesslich
operativ beendigten Geburten die pathogenen Keime im Scheidenseeret
leichter, als bei normalen Fällen virulent werden und in die Gewebe
eindringen können; wir wissen überhaupt noch nicht, unter welchen
Bedingungen facultativ pathogene Keime in den activ virulenten Zustand
übergeführt werden. Es ist also nicht, um der Selbstinfeetion vorzu-
beugen, wenn wir vor operativen, besonders intrauterinen Eingriffen, die
innere Desinfection empfehlen, sondern nur, weil mit der Verlängerung
der Geburtsdauer häufigere innere Untersuchungen und Ein-
40 Jahresbericht der Schles. Gesellsehaft für vaterl. Cultur.
griffe und damit fast unvermeidlich äussere Infection ver-
bunden sind, Diese letztere also sollmöglichst unschädlich gemacht werden,
und hierzu scheint mir das in der Würzburger Klinik (Hofmeier, zur
Prophylaxis der Wochenbetterkrankungen, Deutsch. med. Wochenschrift
1891, Nr. 49) jetzt geübte Verfahren am geeignetsten: Nach sorgfältiger
Reinigung und Desinfection der äusseren Genitalien wird Scheide und
Cervix unter sanftem Abreiben mit 1 oder 2 Fingern mit Sublimat
1:2000 desinfieirt und diese Desinfection nach jeder inneren Uhnter-
suchung 2—3stündlich wiederholt. Von Ausspülungen nach der Geburt
und im Wochenbett wird völlig abgesehen.
Noch ein dritter, von Bumm (Zur Frage der inneren Desinfeetion
Kreissender, Centralbl. f. Gynaek. 1892, Nr. 9, pag. 163) sehr überzeugend
dargelegter Grund scheint mir für die Nothwendigkeit der prophylaktischen
inneren Desinfection bei pathologischen Geburten zu sprechen: die Ge-
fahr, dass Fäulniss keime, die zweifellos im Scheidensecret vieler Schwangern
vorkommen, durch intrauterine Eingriffe in die Uterushöhle verschleppt
werden und zu einer Zersetzung der normaliter keimfreien Uteruslochien,
zu putrider Endometritis, Zerfall der Thromben an der Placentartselle und
zu schweren Formen der Allgemeininfection führen können. Bei normalen
Geburten gelangen diese Fäulnisskeime nicht in die Uterushöhle; sie
bleiben unschädlich in der Scheide und brauchen nicht durch innere
Ausspülungen vernichtet zu werden. Wohl aber können sie — und dies
bezeichnet Kaltenbach mit Recht als eine Form der Selbstinfection
— auch ohne vorausgegangene intrauterine Eingriffe bei protrahirten
Geburten Zersetzung des Fruchtwassers, bei abgestorbener Frucht und
bei Placentarretention Fäulniss im Uterus und Intoxicationsfieber be-
dingen. Auch hier sind innere Ausspülungen nöthig, um das Aufsteigen
der Fäulnisskeime von der Scheide aus in die Uterushöhle hintanzu-
halten. (Bumm, 1. ce.) Die Hauptsache ist und bleibt aber allerdings,
wie der eben citirte Autor treffend bemerkt, die möglichst schleunige
Entfernung der zersetzungsfähigen Massen, da — so lange solche sich
in der Uterushöhle befinden — sich trotz aller inneren Desinfeetion die
Fäulniss nicht aufhalten lässt. Dass uns für die Nothwendigkeit der
inneren Desinfection bei länger dauernden Geburten regelmässig fort-
gesetzte Temperaturmessungen der Kreissenden einen werthvollen Anhalt
geben, braucht wohl hier nicht besonders hervorgehoben zu werden.
Wie die normale Wöchnerin gleich der gesunden Kreissenden von
inneren Berührungen, sei es durch Untersuchung oder Desinfeetions-
bestrebungen möglichst befreit bleiben soll, so hat bei der erkrankten
Wöchnerin jeder inneren Untersuchung (die nur durch fieberhafte Pro-
cesse oder gefährliche Blutungen indieirt ist) und jedem Eingriff eine
strenge subjective Desinfection, alsdann eine solche der äusseren Geni-
talien und ihrer Umgebung und endlich der Scheide stattzufinden, der
I. Medicinische Abtheilung. 41
letzteren besonders sorgfältig vor Uterusausspülungen, um nicht pathogene
Keime mit Finger und Katheter in die vielleicht noch keimfreie Uterus-
höhle zu verschleppen. So sehr ich für Gebärende das Sublimat empfehle,
so dringend möchte ich vor seiner Anwendung, auch in schwachen
Lösungen, im Wochenbett warnen. Die Resorptionsfähigkeit ist eine so
erhöhte, dass selbst bei den niedrigsten, noch wirksamen Üoncen-
trationsgraden und bei sofortigem und vollständigen Wiederabfluss der
Spülflüssigkeit schwere Intoxication beobachtet worden ist. Ich ziehe
aus diesem Grunde dem Sublimat und der (wenn auch in geringerem
Grade lebensgefährlichen) Carbolsäure für das Wochenbett Creolin bezw.
Lysol vor. Aus demselben Grunde wende ich diese Antiseptica auch
zur inneren, prophylaktischen Ausspülung vor intrauterinen Placentar-
lösungen an.
Zur Discussion sprechen:
Herr Nesemann: „Herr College Fränkel hatte den von Boehr
und Ehlers gefundenen Procentsatz der Mortalität bei Wochenbettfieber
angegeben und sich ungefähr dahin geäussert, in Wirklichkeit werde der
Procentsatz sich noch höher belaufen, da nicht alle Todesfälle in Folge
von Wochenbettfieber zur Anzeige gelangten. Dazu möchte ich erwähnen,
dass Boehr und Ehlers bei Aufstellung ihrer Zahlen schon auf die
Unzulänglichkeit der Statistik Rücksicht genommen und daher die durch
dieselbe gegebenen Zahlen entsprechend erhöht haben.
Herr College Fränkel berührte dann die Mängel des Meldewesens
bei Puerperalfieber. In Betreff der Mangelhaftigkeiten der durch die
ärztlichen Meldungen gewonnenen Statistik muss ich demselben völlig
beistimmen; meine persönliche Ansicht geht auch dahin, dass die ärzt-
liche Anzeigepflicht bei Puerperalfieber als nicht wirksam vielleicht am
besten ganz fortfiele.,
Die mangelhaften Meldungen sind wohl auch darauf zurück zu führen,
dass der Begriff des Wochenbettfiebers kein fest umschriebener ist.
Die rheinische Aerztekammer hat in einer ihrer Sitzungen, wie mir
durch Collegen Grandhomme in Frankfurt a. M. auf meine Anfrage
— ich habe mich schon seit längerer Zeit für diesen Gegenstand
interessirt — mitgetheilt worden, dahin Stellung genommen, dass sie die
Fassung ‚„Wochenbett- resp. Kindbettfieber‘‘ für die Anzeigepflicht auf-
gehoben wissen will, da dieselbe leicht zu Missdeutungen Veranlassung
geben könne,
Dieser Ansicht möchte ich mich besonders mit Rücksicht auf die
Hebammen anschliessen, da man doch von diesen nicht verlangen kann,
darüber im gegebenen Falle zu urtheilen, ob Kindbettfieber vorliegt oder
nicht, wenn die Diagnose desselben selbst unter Aerzten zu Controversen
Veranlassung giebt,
49 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Es wäre von den Hebammen statt dessen vielleicht jeder Fall einer
fieberhaften Erkrankung im Wochenbette anzuzeigen.
Ferner betheiligen sich an der Discussion die Herren DDr. Stein-
schneider, Buchwald, M. Freund, Asch jun.
Zum Schluss bemerkt Herr Dr. Fränkel, dass es ihm bekannt
ist, dass Boehr und Ehlers mit Rücksicht auf die Mängel des Melde-
wesens nach vergleichenden Berechnungen statt 100 Todesfälle am
Wochenbette 113 in ihrer Statistik angenommen haben, glaubt aber,
dass auch diese Ziffer noch nicht die Wirklichkeit erreicht. Mortalität
und Morbidität der Wöchnerinnen würden sich viel leichter übersehen
lassen, wenn die Hebammen zur Führung von Tagebüchern verpflichtet
wären.
Fränkel pflichtet ferner Herrn Nesemann darin bei, dass bei den
zur Zeit noch bestehenden, sehr grossen Differenzen über den Begriff des
Wochenbettfiebers dieses Wort aus dem Gesetz über die Anzeigepflicht
eliminirt und statt dessen von der Hebamme, die zu täglich zweimaligen
Temperaturmessungen zu verpflichten sei, jeder Fall von fieberhafter
Erkrankung im Wochenbette sofort angezeigt werden müsse. Sache des
alsbald zuzuziehenden Arztes sei es dann, festzustellen, ob es sich um
eine fieberhafte, vom Genitalapparate ausgehende Wundkrankheit des
Wochenbettes, i. e. Puerperalfieber, handle. Fränkel steht in dieser
Hinsicht auf dem Standpunkte Ahlfeld’s, der jedes Fieber im Wochen-
bette in der Regel als ein puerperales ansieht, wenn es nicht gelingt,
bei vollständigem Mangel jeder Affection an den Genitalien eine Er-
krankung eines anderen Organs bestimmt nachzuweisen.
8. Sitzung vom 6. Mai 1892.
Vorsitzender: Herr Geheimrath Fritsch. Schriftführer: Herr Dr. Pfannenstiel.
Tagesordnung:
1) Herr Dr. Simm:
Ein Fall von Addison’scher Krankheit.
Meine Herren! Es ist nicht meine Absicht Ihre Aufmerksamkeit in
Anspruch zu nehmen für einen wissenschaftlichen Vortrag über morbus
Addisonii, ich beabsichtige vielmehr lediglich Ihnen einen hochgradig
ausgebildeten Fall dieser Krankheit vorzustellen, einmal, weil ich glaube,
dass bei der relativen Seltenheit derselben es vielen Collegen erwünscht
sein dürfte einen derartigen Kranken zu sehen, und dann, weil der
betreffende Fall einige interessante Momente bietet, die ich der Mittheilung
für werth erachte.
Ueber die Krankheit selbst will ich in aller Kürze erwähnen, dass,
seitdem Addison im Jahre 1855 dieselbe zuerst beschrieben, trotz viel-
facher nachheriger Publieationen die Symptomatologie, wie sie Addison
I. Medicinische Abtheilung. 43
gegeben, keine wesentliche Erweiterung oder Einschränkung erfahren
hat. Streitig ist im Laufe der Jahre nur die Frage geworden, ob der
Symptomencomplex des morbus Addisonii stets auf einer Erkrankung
der Nebennieren beruht, oder ob eine Erkrankung des Sympathicus resp.
derjenigen Ganglien, die in der Umgebung der Nebennieren liegen, oder
ob beides vereint die Ursache sei. Es sind nämlich in den letzten
Jahren wiederholt Fälle beobachtet worden, bei denen in vivo unzweifel-
haft morbus Addisonii vorhanden war, bei denen aber trotzdem bei der
Section die Nebennieren völlig gesund gefunden wurden. Man neigt
deshalb jetzt mehr zu der Ansicht, dass die Erkrankung der Neben-
nieren bei morbus Addisonii nebensächlich, die Erkrankung der Ganglien
des Sympathicus dagegen die Ursache für das Symptomenbild bei morbus
Addisonii sei. Diese Frage hier zu erörtern kann schon um deswillen
nicht meine Aufgabe sein, weil der Fall bei Lebzeiten in dieser Richtung
nicht zu verwerthen ist; ich werde jedoch dem Kranken meine Auf-
merksamkeit auch weiter schenken und denke post mortem nach event,
stattgehabter Section nach dieser Richtung hin weitere Mittheilungen
machen zu können.
Bevor ich jetzt den Kranken demonstrirend die Symptomatologie
bespreche, will ich kurz anamnestisch Folgendes erwähnen. Der Kranke
stammt aus einer hereditär schwer belasteten Familie; über seinen Vater
habe ich nur erfahren können, dass derselbe, als unser Patient sechs
Monate alt war, nach kurzer Krankheit gestorben ist. Seine Mutter ist
vor vielen Jahren im hiesigen Hospital an Lungentuberkulose, sein einziger
Bruder in der vorigen Woche in Berlin an Kehlkopfschwindsucht
gestorben. Er selbst hat als Kind von vier Jahren eine schwere Krank-
heit — vielleicht eine Meningitis nach den Symptomen — überstanden,
die Kinderkrankheiten leicht und normal gehabt, und ist bis zum Jahre
1882 sonst völlig gesund gewesen. In diesem Jahre wurde er, 18 Jahre
alt, zum Militär eingezogen und bekam aus Anlass der ersten Schiess-
übung Krämpfe mit Bewusstlosigkeit, derentwegen er 4—5 Wochen im
Lazareth liegen musste. Die übrige dreijährige Dienstzeit hat er als
Musiker ohne jegliche fernere Störung durchgemacht und ist bis zum
Jahre 1890 stets völlig gesund gewesen. Im Frühjahr dieses Jahres
bemerkte er selbst und seine Umgebung im Gesicht gelblich - braune,
stecknadelkopf- bis hirsekorngrosse Flecken, die allmählich zahlreicher
und grösser wurden und dem Kranken ein eigenthümliches Aeussere ver-
liehen. Im December 1890 consultirte er mich zum ersten Male wegen
einer Pharyngitis, schon damals fiel mir der eigenthümliche Teint auf,
und konnte ich bei genauerer Besichtigung morbus Addisonii diagnosti-
eiren. Es ist der Fall schon wegen seiner Dauer recht interessant; die
meisten Kranken gehen in spätestens 6—8 Monaten nach gestellter
Diagnose an Jnanition zu Grunde, und nur 3 oder 4 Fälle sind in der
44 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Litteratur erwähnt, bei denen eine Beobachtungsdauer von 2 Jahren
und darüber verzeichnet ist. Unser Kranker leidet seit 1890 sicher an
morbus Addisonii, und ist seit 14, Jahren bereits diagnostieirt.
Nunmehr werde ich die Symptomatologie besprechend Ihnen den
Kranken vorstellen. Das Hauptsymptom bei morbus Addisonii ist stets
eine eigenthümliche Verfärbung der Haut, ausgehend von den dem Licht
ausgesetzten, unbedeckten Körperstellen: Gesicht, Hals, Nacken und
Handrücken, und allmählich fortschreitend über den ganzen Körper; die
Haut bekommt ein schmutzig hell- bis dunkelbraunes Aussehen, wie Sie
es bei dem Patienten in hohem Grade entwickelt finden, besonders
markant ausgebildet im Gesicht, Händen und Rücken. Die Pigmentirung
der Haut ist besonders an den Körpertheilen sehr hochgradig, die schon
normaler Weise pigmentirt sind, d. h. an Brustwarzen, scrotum, penis, -
After und umliegende Haut, sowie in der Achselhöhle. Bei unserem
Patienten hier sind die Brustwarzen tief schwarz pigmentirt, auch ist der
Warzenhof fast noch einmal so gross als normal, besonders interessant
ist aber das Aussehen von scrotum und penis, die tiefschwarz pigmentirt
dem eines Negers gleichen; auch die Glutaealhaut ist tief dunkel.
Die Verfärbung ergreift nicht allein die äussere Haut, sondern geht
auch auf die sichtbaren Schleimhäute: Lippen, Zahnfleisch, Zungen- und
Wangenschleimhaut über. Sie sehen bei dem Patienten die Lippen voll-
ständig graublau verfärbt, am Zahnfleisch, Wangenschleimhaut und Zunge
zahlreiche graublaue grössere und kleinere Plaques. Erwähnen möchte
ich an dieser Stelle, dass sowohl die Verfärbung der Haut, als auch die
der Schleimhäute zur Zeit viel weniger intensiv ist als vor eirca 3 bis
4 Wochen. Es ist eine eigenthümliche Erscheinung bei dem Patienten,
die ich in der Litteratur nirgends erwähnt gefunden habe, dass die Ver-
färbung bei der Arbeit intensiver wird, bei Ruhe dagegen bedeutend
abnimmt. Der Kranke machte mich zuerst selbst darauf aufmerksam,
indem er glaubte, dass es beginnende Heilung sei, und erzählte mir, dass
er im vorigen Jahr bei Gelegenheit einer zwölftägigen militärischen
Uebung, von der er nicht befreit werden konnte, trotzdem er meist
revierkrank war, doch, in Folge der Anstrengung, im Gesicht wie ein
Mohr ausgesehen habe. Ich selbst war anfangs gegen diese Angabe
misstrauisch, fand aber bei genauer Beobachtung ein starkes Erblassen
der Verfärbung, besonders an den dunkler pigmentirten Stellen, sowie
auch besonders an den Schleimhäuten während der Ruhe eintreten. Eine
Erklärung für diese Erscheinung vermag ich nicht zu geben, man wird
wohl die stärkere Bluteireulation bei der Arbeit zur Erklärung heran-
ziehen müssen, immerhin bleibt es dunkel, wie das Pigment, das in den
tiefen Schichten des rete Malphigi eingebettet ist, während der Ruhe
verschwinden kann.
I. Medicinische Abtheilung. 45
Frei bleiben von der Verfärbung stets die Conjunetivae bulbi, sowie
die Fingernägel, wie dies auch in diesem Fall sehr schön sichtbar ist,
dagegen kann ich nicht bestätigen, dass die Handteller und Fusssohlen
frei bleiben; in meinem Falle sind dieselben, wie Sie sich überzeugen
können, gleich pigmentirt wie die übrige Haut. Dagegen ist es im vor-
liegenden Falle recht interessant zu beobachten, dass an der Innenseite
des rechten und linken Oberarmes, sowie des rechten und linken Ober-
schenkels stets eine vollständig correspondirende, symmetrische, ziemlich
grosse Hautstelle vollständig frei geblieben ist, die sich in einer scharfen
Linie abgrenzt von der pigmentirten Haut.
Von anderen Symptomen bei morbus Addisonii werden von allen
Autoren erwähnt: 1) allgemein nervöse Symptome, die sich äussern in
- Schlaflosigkeit, Kopfschwindel, Krämpfen ete., Symptomen, die bei diesem
Patienten bis jetzt gar nicht vorhanden sind. Dagegen ist eine allgemeine
Asthenie — Kraftlosigkeit, die gleichfalls in allen Fällen, besonders hoch-
gradig sub finem vitae beobachtet wird, auch bei diesem Patienten
ziemlich stark schon seit längerer Zeit vorhanden. Derselbe fühlt sich,
obgleich das Allgemeinbefinden scheinbar gut ist, ausser Stande auch
nur leichte Arbeit zu verrichten.
2) Erscheinungen von Seiten des Gastro-Intestinaltraetus, Uebelkeit,
Schmerzen in der Tiefe des Abdomens, sowie besonders Erbrechen und
heftige Diarrhöen belästigen die Kranken in hohem Grade, und be-
schleunigen meist das Ende. Bei der Section findet man Magen- und
Darmschleimhaut meist normal, und es ist daher sehr wahrscheinlich,
dass auch diese Symptome von einer Erkrankung des Sympathicus
bedingt sind... Auch dieser Kranke leidet häufig an Erbrechen, und
begiebt sich stets allein wegen dieses Symptomes in Behandlung, dagegen
sind Diarrhöen bisher nicht oder nur sehr mässig vorhanden gewesen,
Erwähnen möchte ich nur noch, dass der Urin, wie in allen Fällen
von morbus Addisonii, vollkommen normal ist, derselbe ist hellgelb,
1015 speeifisches Gewicht, und frei von Eiweiss und Zucker.
Die Prognose bei morbus Addisonii ist stets lethal, es ist in der
Litteratur bisher kein Fall von Heilung mitgetheilt, die Therapie kann
stets nur eine rein symptomatische sein, zugleich versuchend eine Kräftigung
des Körpers zu bezwecken. Gegen das Erbrechen gebe ich ein China-
Dekokt, das dem Patienten scheinbar sehr gut thut, ich glaube jedoch,
dass die Enthaltung von jeglicher Arbeit wichtiger und wirksamer ist
als Mediein.
Zum Schluss möchte ich noch erwähnen, dass in derartigen Fällen
differential-diagnostisch nur die Argyrie in Betracht kommen kann, Ab-
gesehen davon, dass bei letzterer Krankheit die Verfärbung der Haut
niemals so hochgradig wird wie im vorliegenden Fall, ist hauptsächlich
46 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
der Umstand entscheidend, dass der Patient niemals argentum nitricum
gebraucht hat, deshalb von einer Argyrie nicht die Rede sein kann.
An der Discussion betheiligten sich die Herren DDr. Buchwald;
Kleinwächter, Richter, Simm.
2) Herr Dr. Hecke spricht:
Ueber die operative Freilegung der Paukenhöhle nach Ablösung der
Ohrmuschel behufs Heilung von chronischen Eiterungen, Cholesteatom
und Caries.
Die operative Eröffnung des Warzenfortsatzes und des Antrum
mastoideum zur Beseitigung chronischer Eiterungen, sowie von Chole-
steatom und Caries der Paukenhöhle ist seit drei Decennien immer mehr
in Aufnahme gekommen; man hat dann besonders im letzten Decennium
häufig die Entfernung der erkrankten Gehörknöchelehen — Hammer und
Ambos — hinzugefügt, weil durch die Lage derselben im oberen Theil
der Paukenhöhle — dem Recessus epitympanicus oder Kuppelraum —
die Eiterung nach einfacher Aufmeisselung des Wearzenfortsatzes und
Eröffnung des Antrum mastoideum fortbestand und trotz lange Zeit
fortgesetzter Durchspülungen eine Heilung nicht erzielt werden konnte,
Die Eiterung wurde ausserdem noch häufig durch eine Caries der
äusseren knöchernen Wand des oberen Theils der Paukenhöhle des
Recessus epitympanicus unterhalten.
Vor ungefähr 2 Jahren hat Dr. Stake in Erfurt ein Verfahren
angegeben, durch das es gelingt, die Paukenhöhle in allen ihren Räumen
weithin freizulegen und alle kranken Partien zu entfernen. Die Weich-
theile hinter der Ansatzstelle der Ohrmuschel werden durch einen bogen-
förmigen Schnitt bis auf den Knochen durchtrennt; der Schnitt muss
nach vorn bis in die Schläfengegend reichen; das Periost wird nach
dem Gehörgang zu zurückgeschoben, oben wird die Wurzel des Joch-
bogens weit nach vorn entblösst. Der häutige. Theil des Gehörgangs
wird durch ein schmales Raspatorium von dem knöchernen Theil allseitig
abgelöst und nachdem er in der Tiefe nur festhängt, dort möglichst
nahe am Trommelfell durchtrennt, herausgehebelt und zusammen mit
der Ohrmuschel durch einen Wundhaken nach vorn gezogen. Man
übersieht nun den knöchernen Gehörgang, an dessen innerer Umrandung
meist noch kleine Reste des abgetrennten und herausgehebelten häutigen
Gehörgangs sitzen, sehr gut; desgleichen sind Trommelfell uud Gehör-
knöchelehen bei directem Licht sehr gut zu übersehen nach vorheriger
genauer Blutstillung. Es werden nun zuerst die Trommelfellreste und
der Hammer, wenn er sichtbar und nicht nach oben verschoben ist,
entfernt; dann wird unter dem Schutze einer gebogenen breiten Sonde
die äussere knöcherne Wand des Recessus epitympanicus fortgemeisselt
I. Medicinische Abtheilung. 47
und zwar so, dass nunmehr die obere knöcherne Gehörgangswand in
das die obere Wand des genannten Recessus bildende Tegmen tympani
übergeht und keine knöchernen Vorsprünge stehen bleiben; ebenso wird
nach hinten der Recessus bis zum Aditus ad antrum mastoideum durch
einige Meisselschläge unter Leitung der Sonde eröffnet. Letztere wird,
nachdem man jetzt schon den Amboss bequem und leicht entfernen
konnte, in den Aditus ad antrum eingeführt, dann wird von der hinteren
Gehörgangswand soviel weggeschlagen, dass das Antrum weit eröffnet
ist und eine genaue Untersuchung durch die Sonde möglich ist. Nun
wird die vom Antrum nach aussen gelegene Knochenmasse und der Rest
der hinteren Gehörgangswand fortgenommen und dadurch eine breite
Communication zwischen Gehörgang, Paukenhöhle und Antrum mastoi-
deum gewonnen. Ich selbst habe dies» letztangegebene Abmeisselung
der knöchernen hinteren Gehörgangswand nur an denjenigee Fällen aus-
geführt, wo die typische Aufmeisselung des processus und Antrum
mastoideum von aussen her durch eine Vorlagerung des Sinus transversus
behindert war; sonst habe ich stets die Aufmeisselung zuerst gemacht und
durch Fortnahme derhinteren Gehörgangswand nachher die breite Verbindung
zwischen Paukenhöhle, Antrum mastoideum und Gehörgang hergestellt.
Bei der Entfernung der hinteren Gehörgangswand muss man darauf
achten, dass in der Tiefe des Operationsfeldes noch eine schmale Leiste
zwischen Gehörgang und Antrum bestehen bleibt, da sonst der Facialis
leicht verletzt wird; nach aussen kann man soviel fortnehmen, dass. die
untere Gehörgangswand direct in die untere Wand des Antrum mastoideum
und des angelegten Meisselkanals übergeht.
Den Stapes bekommt man selten zu Gesicht, da er meist in der
verdickten Paukenschleimhaut tief eingebettet liegt. Ich habe ihn noch
nie bei der Ausführung dieser Operation gesehen und nur bei Gelegenheit
einer Exeision des cariösen Hammers vom Gehörgang aus in Verbindung
mit polypösen Wucherungen der Paukenhöhle bei deren Entfernung durch
Pincette und Schlinge extrahirt; wahrscheinlich war er schon gelockert
und in Granulationen eingebettet.
Nachdem man in der genannten Art die Höhle von allen Seiten
freigelegt hat, kann man alles Krankhafte in schonender Weise
mit Pincette oder Löffel entfernen — Cholesteatom-Massen, polypöse
Wucherungen, cariöse Stellen des Knochens; der letztere liegt dann
meist glatt zu Tage. Ich suche nachher einen gesunden Hautlappen in
die Tiefe zu verpflanzen und zwar am besten auf die aufgemeisselte
Knochenfläche des Antrum mastoideum. Dazu habe ich meist einen
zungenförmigen schmalen Lappen von der hinter dem bogenförmigen
Hautschnitt gelegenen Hautpartie verwendet, ihn möglichst mobilisirt
und dann in die muldenförmige Meisselfläche hineingelegt und durch
Tamponade befestigt.
48 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Ebenso bilde ich je nach der Verwendbarkeit des häutigen Gehör-
gangs einen Lappen aus dem letzteren und suche ihn durch Tamponade
an die Meisselfläche anzudrücken, eventuell durch Näthe zu befestigen.
Die Wundhöhle wird nicht ausgespült, sondern nach Austrocknung mit
Watte und Jodoform-Gaze mit Jodoform-Pulver bestäubt und nun aus-
giebig nach allen Seiten mit Gaze ausgestopft, wobei man besonders
darauf achten muss, dass der aus dem Gehörgang gebildete Lappen und
der hintere Hautlappen fest auf der Unterlage aufliegen. Genäht wird
nur oberhalb der Ohrmuschel, hinter derselben nicht. Der Verband kann
mehrere Tage liegen bleiben, und wird, ohne auszuspülen, erneuert.
In der nächsten Zeit bei beginnender Granulation der Knochenhöhle und
Weichtheile wird die Secretion reichlicher, der Verbandwechsel häufiger
erforderlich; das Ausspülen der Wundhöhle ist jetzt sorgfältig vor-
zunehmen. Man muss besonders darauf achten, dass die in der Tiefe
der Wundhöhle entstehenden Granulationen nicht zu stark wuchern und
muss sie ausgiebig ätzen; unter Spiegelbeleuchtung muss man stets
controliren, dass dieselben nicht den Recessus epitympanicus und Aditus
ad Antrum ausfüllen und verengern, oder sich über den Hautlappen
erheben; von letzterem aus muss die Epidermisirung der Knochenhöhle
glatt erfolgen, ohne dass Buchten in der Tiefe entstehen, hinter denen
sich die Eiterung verhalten könnte. Ebenso empfiehlt es sich, die Haut-
wunde in den ersten Wochen weit offen zu erhalten, da man 'von ihr
aus ..besser alle Theile der freigelegten Paukenhöhle übersehen und die
Ueberhäutung controliren kann, als vom Gehörgang aus.
Die Tamponade ist bei manchen Kranken sehr schmerzhaft und erst
zu ermöglichen nach vorheriger Einlage eines mit Cocainlösung getränkten
Wattepfropfes. Ich erziele nun durch die Ausführung der Operation
und die Behandlung nach Entfernung aller pathologischen Processe ein-
mal eine Ueberpflanzung gesunder Epidermis in die Paukerhöhle, von der
aus die Nebenräume sich weiter auskleiden und zweitens die Herstellung
einer dauernden Communication zwischen Gehörgang und Antrum mastoi-
deum. Letzteres ist deshalb sehr wichtig, weil man stets genau von aussen
controliren kann, ob in der Tiefe sich ein neuer Erkrankungsherd findet.
Ich habe bis jetzt 23 Kranke operirt, von denen der eine an
Meningitis gestorben ist. Das Tegmen tympani war in Folge der lang
dauernden Eiterung sehr brüchig und durch Caries vorher zerstört. Bei
einem anderen Kranken schritt die Caries nach vorn auf den Oberkiefer
fort und zerstörte das Schläfenbein derartig, dass von der Squama nur
ein halbmondförmiger oberer fingerbreiter Rand und der vorderste Theil
erhalten blieb; von Os petrosum ist nur der medialste Theil mit dem
Canalis caroticus und dem Porus acustieus internus verschont und erhalten
geblieben, der Tod erfolgte an Hirnabscess 7 Monate nach der Operation,
Von den anderen 21 Öperirten sind bis jetzt 6 geheilt, darunter
I. Medicinische Abtheilung. 49
drei Fälle von Cholesteatom, drei mit Caries. Gebessert ist ein Kranker
mit Cholesteatom; zeitweise tritt eine geringe Absonderung aus der
Paukenhöhle wieder ein,
In Behandlung stehen noch 12 Kranke, darunter 8mal Cholesteatom,
4mal Caries.
Der Behandlung entzogen haben sich zwei Kranke; der Grund war
in der Schmerzhaftigkeit bei der Tamponade der Wundhöhle zu suchen.
Die Heilungsdauer betrug in den günstigen Fällen 3 Monate, sonst
4 bis 5 Monate, bei einem sehr ausgedehnten Cholesteatom 7 Monate;
dasselbe war durch ausgedehnte Caries mit polypösen Wucherungen, die
sich immer auf’s Neue wieder bildeten, complieirt. Bei einer jetzt noch
in Behandlung stehenden Kranken mit sehr ausgedehnter Caries der
Paukenhöhle und Tuberculose der Lungen besteht eine umschriebene
Caries der madialen Wand der Paukenhöhle, die Nebenräume sind schon
‘lange mit Epithel ausgekleidet. Das Allgemeinbefinden hat sich gebessert,
die Kopfschmerzen haben nachgelassen, das Lungenspitzen-Infiltrat ist
nieht fortgeschritten, Pleuritiden nicht mehr aufgetreten.
Was das functionelle Resultat betrifft, so ist meist eine Hörver-
besserung erzielt worden, eine Verschlechterung trat nie ein. Die Vor-
theile sind also: 1) vollständige Freilegung aller sonst sehr versteckt
liegenden Nebenräume der Paukenhöhle, 2) Abkürzung der Heilungs-
dauer im Vergleich zur einfachen Aufmeisselung des Warzenfortsatzes
und die Möglichkeit, nach Anlegung einer dauernden hinteren Oeffnung
die Paukenhöhle stets controliren und überwachen zu können,
Die zur Vorstellung gelangenden Kranken sind:
1) 20jähriges Mädchen mit sehr ausgedehntem Cholesteatom der
Paukenhöhle und des Antrums; Eltern und Geschwister sind an Lungen-
Tubereulose gestorben. Im Eiter keine Tuberkelbaeillen. Heilung nach
3 Monaten.
2) 22jähriges Mädchen mit sehr ausgedehntem Cholesteatom und
Caries; protahirter Verlauf. Heilung nach 7 Monaten; sehr weite
Communication,
3) 18 jähriger, kräftiger, junger Mann. Vor 2'/, Jahren wurde wegen
Caries der Paukenhöhle die Aufmeisselung des processus mastoideus und
Antrum mastoideum gemacht; die Eiterung blieb trotz regelmässiger
Durchspülung antiseptischer Flüssigkeiten übelriechend, zeitweise heftige
Kopfschmerzen; vor 1'/), Jahren wurde der cariöse Hammer und Amboss
entfernt und da die Biterung noch nicht nachliess, im December 1891
die Fortnahme der hinteren und oberen Gehörgangswand ausgeführt.
Heilung nach 3'/, Monaten.
Eine Diseussion findet nicht statt.
2473 - 4
50 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
9. Sitzung vom 20. Mai 1892.
Vorsitzender: Herr Geh. Rath Mikulicz. Schriftführer: Herr Dr. Tietze.
Vor der Tagesordnung:
Herr Prof. H. Cohn: Vorstellung eines durch Verbrennung ent-
standenen Falles von Symblepharon, der durch Einpflanzung von Kaninchen-
bindehaut geheilt ist.
Diseussion:
Herr Dr. Buchwald: Ist der Defect wirklich durch Kaninchen-
bindehaut ausgefüllt oder ist das fragliche Epithel von den Grenzpartien
des menschlichen Epithels gebildet?
Prof. Cohn glaubt, es handle sich um das Anheilen der Kaninchen-
conjunctiva.
Dr. Löwenhardi bestätigt die Erfahrungen von Dr. Buchwald
Prof. Mikulicz stellt sich nach seinen Erfahrungen eher auf Seite
von Dr. Buchwald.
Herr Dr. Rieger: Fall von Milzruptur. (Exstirpation der Milz. —
Demonstration des Präparates.)
Tagesordnung:
Dr. Henle stellt
einen Fall von Tumor am Hals
vor, der als Lymphosarcom gedeutet werden muss; die Diagnose wird
durch mikroskopische Untersuchung einiger mit der Probepunctionsspritze
entnommenen Partikel bestätigt. Die Frau kam in die Klinik, nachdem
vorher die Diagnose auf Abscess gestellt und eine, natürlich erfolglose
Ineision gemacht war. Im Anschluss an diese war aber eine schnelle
Vergrösserung und zugleich Erweichung, also wohl eine wenig virulente
Infeetion des Tumors erfolgt.
Auffallend ist bei dem Krankheitsbild der Blutbefund: Hochgradige
Leukoeytose und besonders sehr starke Vermehrung der eosinophilen Zellen.
Da an eine Leukaemie nicht zu denken ist, wegen Fehlens jeder
anderen dafür sprechenden Erscheinung, muss es sich offenbar um eine
Leukocytose handeln. Vermuthlich steht dieselbe mit dem rapiden Zerfall
des Tumors und Resorption der dadurch gebildeten Producte in Ver-
bindung. Dafür spricht eine jetzt eintretende Abnahme der Leukocyten-
zahl, die mit dem Aufhören weiteren Zerfalls des Tumors Hand in
Hand zu gehen scheint.
Discussion:
Herr Troje: Versuch einer Erklärung des Blutbefundes.
Herr Neisser bezweifelt gegenüber Dr. Troje die Wichtigkeit des
Befundes der eosinophilen Zellen und bestreitet namentlich, dass daraus
eine Mitbetheiligung des Knochenmarkes geschlossen werden muss,
on
us
1. Medicinische Abtheilung.
Herr Silbermann fragt an, ob auf Peptonurie untersucht worden ist?
Herr Henle: Nein.
Dr. E. Martin:
1. Vorstellung eines Falles von Tumorbildung in einer überzähligen
Brustdrüse.
Bei der 32jährigen Frau, die nie schwanger gewesen ist, findet sich
unter der 1. schlaff herabhängenden Mamma eine wohl charakterisirte
überzählige Brustdrüse mit Warze, Warzenhof und deutlich fühlbarem
Drüsenkörper. Dieselbe liegt der Mittellinie etwas näher als die |.
Mamma. In gleicher Höhe mit der supernumerären Brustdrüse findet
sich medianwärts ein anscheinend nicht mit ihr in Zusammenhang stehen-
der etwa gänseeigrosser unter normaler Haut wohl verschieblicher Tumor
von derb elastischer Consistenz und glatter Oberfläche. Der Tumor ist
im Laufe der letzten 3 Jahre ganz allmählich entstanden, ohne besondere
Beschwerden zu machen.
Für ein Lipom ist die Consistenz des Tumors zu derb und die
Oberfläche zu wenig gelappt. Es erscheint wahrscheinlicher, dass
die Geschwulst in genetischem Zusammenhang mit der überzähligen
Mamma steht.
Nachtrag: Durch die in den nächsten Tagen vorgenommene Exstir-
pation des Tumors im Zusammenhang mit der überzähligen Mamma
wird diese Vermuthung bestätigt. Die gut ausschälbare Geschwulst steht
mit der Brustdrüse durch einen bindegewebigen Strang in Verbindung,
in dem sich zweifellos Milchgänge mikroskopisch nachweisen lassen,
Der Tumor selbst ist ein typisches Adenofibrom. Man darf also wohl
annehmen, dass die Geschwulst von einem aberrirenden Drüsentheil der
überzähligen Mamma ihren Ursprung genommen hat.
2. Demonstration eines wegen Tuberculose resecirten Coecums.
Das vorliegende Darmpräparat, welches vor wenigen Tagen durch
die Laparotomie bei einer 31jährigen Patientin der chirurgischen Klinik
von Herrn Geheimrath Mikuliecz gewonnen wurde, besteht aus dem
untersten, 8 cm langen Abschnitt des Ileum, dem Coecum, processus ver-
miformis und dem untersten Theil (12 cm) des Colon ascendens nebst
dem Mesenterium dieser Darmtheile. Die Blätter des Mesenterium um-
schliessen ein über gänseeigrosses Packet von theils erweichten, theils
noch consistenten Lymphdrüsen. Die grössten haben den Umfang einer
Wallnuss. Die Drüsen sind meist erweicht oder verkäst. Auf diesem
Conglomerat von Drüsen liegen vorne die Darmtheile eng auf und bieten
nach ihrer Eröffnung in der Längsrichtung von vorn einen sehr eigen-
thümlichen Anblick dar.
Die Bauhin’sche Klappe ist vollkommen durch Ulcerationen zerstört
und stark verengt, sodass man knapp mit dem kleinen Finger durch
A
592 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
dieselbe vom lleum aus in den Dickdarm vordringen kann. Die Ge-
schwüre besitzen theils unterminirte, theils derbe Ränder, einen grau-
röthlichen, mit schmutzigem Belag versehenen Geschwürsgrund, in dem
stellenweise kleinste grauweisse Pünktchen sichtbar sind. Bei der Pal-
pation fühlt sich die Darmwand an der Stelle der Ulcerationen derb an.
Die Geschwüre der Klappengegend setzen sich auf die angrenzenden
Diekdarmtheile fort, zunächst nach rechts (in situ gedacht) auf den Ueber-
gangstheil zwischen Coecum und Colon ascendens, ferner direct nach
unten auf das Coecum, wo sich ein sehr tiefes, etwa 10-Pfennigstück
grosses Uleus findet. Im Coecum weiter abwärts mehrere kleinere,
im Colon ascendens etwa 6 cm oberhalb der Klappe eine ähnliche
20-Pfennigstück grosse Ulceration. Im Coecum ist die Infiltration der
Darmwand besonders deutlich. Im Dünndarm sieht man zwei kleine
isolirte Geschwüre von der gleichen Beschaffenheit.
Das Aussehen der verkästen und vergrösserten Drüsen, sowie die
Eigenart der Ulcerationen lassen einen Zweifel an der tuberculösen
Natur der Affeetion nicht aufkommen,
Zur Ergänzung der Beschreibung des Präparates seien die wichtigsten
Daten aus der zugehörigen Krankengeschichte angeführt: Die Frau H.
aus Breslau ist hereditär in keiner Weise tuberculös belastet und war
bis vor 6 Jahren angeblich stets gesund. Erst seit dieser Zeit leidet
sie an Husten, der zeitweise durch ärztliche Behandlung beseitigt wurde,
aber schliesslich doch stets wiederkehrte. Seit etwa einem halben Jahr
stellten sich Verdauungsbeschwerden ein, abwechselnd Verstopfung
und Durchfälle. Meist bestehen die letzteren und sind oft mit
schneidenden Leibschmerzen verbunden, die vorzugsweise nach
unten und rechts vom Nabel localisirt sind, jedesmal nur einige Minuten
dauern und nach erfolgter Defäcation verschwinden. In den letzten Jahren
ist Patientin sehr abgemagert. Die Magenfunctionen waren stets be-
friedigend. Vor kurzer Zeit entdeckte Herr Dr. Kleinwächter einen
Tumor in der lIleocöcalgegend, von dem die Patientin selbst keine
Ahnung gehabt hatte, und sandte sie uns zu.
Bei der Aufnahme wurde constatirt, dass die linke Lungenspitze
der schlecht genährten Frau die Zeichen eines chronischen Katarrhs
bot. Weder in dem spärlichen schleimig-schaumigen Sputum, noch in
den breiigen Stühlen gelang es Tuberkelbaeillen nachzuweisen. Im Urin
kein Eiweiss, ziemlich reichlich Indican (Jaffe’sche Probe). Die oben
beschriebenen Schmerzanfälle wurden auch in der Klinik beobachtet;
nie war dabei besonders lebhafte Peristaltik, nie plätschernde oder
spritzende Geräusche zu constatiren. Bei der Palpation des nicht auf-
getriebenen Abdomens fühlte man über dem rechten Ligamentum Poupartii
unter intaeten verschieblichen Bauchdecken einen birnförmigen, über
gänseeigrossen Tumor. Derselbe ist bei der Betastung in mässigem
I. Medicinische Abtheilung. 53
Grade schmerzhaft. Er zeigt derbe Consistenz, eine glatte, grobhöckerige
Oberfläche und scheint aus mehreren rundlichen Knollen zusammen-
gesetzt zu sein.
Der Tumor ist sehr beweglich, er lässt sich nach oben bis fast zum
Leberrand, nach unten so weit in’s Becken verschieben, dass man bei
bimanueller Untersuchung per vaginam den untersten Pol vom vorderen
Scheidengewölbe fühlen kann, nach der Mittellinie zu sind nur geringere
Excursionen möglich. Ein Zusammenhang mit den Genitalien liess sich
nicht nachweisen.
Die Diagnose wurde mit Wahrscheinlichkeit auf Darmtuberculose
gestellt, die Möglichkeit eines Darmcarcinoms offen gelassen.
Bei der am 7. Mai 1892 von Herrn Geheimrath Mikulicz vor-
genommenen Laparotomie schien zuerst vieles für einen malignen Darm-
tumor zu sprechen, bald erwies sich aber die Wahrscheinlichkeits-Diag-
nose als richtig, Nach der Entfernung des Coecums mit den angrenzen-
den Theilen des Colon und Ileum und dem intermesenterialen Drüsen-
packet wurde das lIleum mit dem Colon ascendens durch die circuläre
doppelreihige Czerny-Lembert’sche Kopfnaht vereinigt, nachdem vor-
her das kleinere Ileumlumen durch eine kleine Längsineision dem grösseren
Colonlumen congruent gemacht war.
Es handelt sich also um einen Fall von Coecum-Tuberculose, auf-
retend unter dem Bilde einer Darmstenose mit Tumorbildung.
Die theilweise ausheilenden tuberculösen Geschwüre führen zu einer
stenosirenden Schwielenbildung. Erst in den letzten Jahren ist das
klinische Bild dieser Blinddarmaffeetion genauer festgestellt worden,
nachdem zunächst mehrfach derartige Darmtumoren als Carcinome an-
gesprochen und operativ entfernt worden waren. Seitdem sind eine
Reihe von Fällen richtig diagnostieirt und operirt worden, so von
Czerny, Billroth ete. Im Ganzen finden sich in der Litteratur 13 Fälle
von Resection des Coecums wegen Tuberceulose, König hat in aller-
jüngster Zeit als besonders charakteristisch für die tuberceulösen Darm-
stenosen den eigenthümlichen Ablauf der Kolikanfälle hingestellt. Nach
ihm tritt zum Schluss der Kolik nach vorhergehendem Plätschern im
Leibe ein Geräusch auf, wie es beim Entleeren einer Spritze entsteht.
Das Symptom fand sich bei unserem Falle nicht. Es handelte sich
offenbar um ein früheres Stadium der Affection, wo die Stenose noch
relativ unbedeutend war. Auffallend war die ausgedehnte Drüsenent-
wickelung im Mesenterium.
3) Herr Dr. Jacob (Cudowa) spricht über:
Die Beziehungen der arbeitenden Muskeln zum Herzen.
(Der Bericht wird sich darauf beschränken, die wesentlichsten
Thatsachen des Vortrags wiederzugeben.)
54 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Darnach ist die stürmische Herzthätigkeit, welche durch starke
Muskelarbeit hervorgerufen wird, eine notorische, altbekannte Thatsache.
Jedoch fehlt bis heute die Brücke, welche die Kluft zwischen Ursache
und Wirkung aufhebt.
Die Arbeit von Asp, welche sich mit Reizung des splanchnicus und
der Muskelnerven beschäftigt, berührt zwar einen Theil der einschlagenden
Fragen, sie ergiebt bald Verlangsamung, bald Beschleunigung der Puls-
frequenz neben gesteigertem Blutdruck durch Reizung sogenannter reiner
Muskelnerven, sie stellt die Vermuthung auf, dass Erregung sensibler
Muskelnerven eine Beschleunigung der Herzfrequenz bewirke; allein es
bleibt unentschieden, ob dies von Erhöhung des Blutdrucks oder von
Nervenreflex bewirkt wird; die Experimente beweisen also nichts, ihre
Ergebnisse sind rein zufällig und nicht in der Hand des Experimentators.
Vortragender reizte faradisch den plexus lumbalis in continuo am
chloralisirten und unvergifteten, aufgebundenen Kaninchen und ahmte so
den natürlichen Vorgang der Muskelarbeit nach. Das Thier empfand
dabei keinen Schmerz und sträubte sich nicht. Es gelang ihm stets, die
Pulsfrequenz zu beschleunigen. Der Blutdruck war dabei meist nicht
erhöht. Die Pulsgrösse, welche mit dem Gad’schen Pulswellenschreiber
sich recht gut ermitteln liess, war erheblich vergrössert und nur dann
kleiner, wenn die Reizung den Blutdruck erheblich erhöhte.
Um den Einwand zu beseitigen, dass Vermehrung der Athmung
oder willkürliche Muskelarbeit das Resultat beeinflusst haben könne,
wurde das Thier curaresirt. Unter dem Einfluss des Curare trat aber
eine erhebliche Steigerung des bisher normalen Blutdrucks ein und die
vermehrte Pulsfrequenz ging in verlangsamte über. Durchschneidung
des vagus ergab, dass das Curare denselben reizt.
Abgesehen von anderen Widerständen, welche wie der der Abkühlung
des Thiers, beseitigt werden mussten, gelang es durch Verdoppelung
der bisherigen Stromstärke sowohl bei Reizung in der Continuität als
auch am centralen Ende durchschnittener Muskelnerven und durch Ein-
schaltung einer grösseren Anzahl derselben den Vagusreiz zu überwinden
und das Experiment wie am unvergifteten Thiere herzustellen.
Es wurden, um die durch Curare gesetzte Erhöhung des Blutdrucks
auszuschliessen und als Ursache der vermehrten Pulsfrequenz zurück-
zuweisen, beide splanchniei durchschnitten und danach ein Kritik und
Aesthetik gleichbefriedigendes Pulscurvenbild erzeugt. Es ergab sich
somit durch Muskelarbeit wie durch centrale Reizung sensibler Muskel-
nerven eine Steigerung der Herzarbeit in Frequenz und Grösse des Puls-
volumens. Es war auch die Reizung sensibler Muskelnerven, welche
reflectorisch auf's Herz übertragen wird, als die Quelle des interessanten,
bedeutungsvollen Phänomens erwiesen,
I. Medieinische Abtheilung. 55
Um auch den etwaigen Antheil des Stoffwechsels der Muskeln an
unserem Phänomen zu ermitteln, wurden die peripherischen Enden durch-
schnittener Muskelnerven gereizt und somit die Muskeln in Contraction
versetzt. Es zeigte sich keine Spur einer Pulsbeschleunigung, eher eine
Verminderung, dagegen ein tiefes Absinken des vasomotorischen Blutdrucks
und dadurch bewirkte Erhöhung des Pulsdrucks; eine sehr ansprechende
Bestätigung der Lehre, welche den Blutstrom des arbeitenden Muskels sich
sehr verbreitern bezw. beschleunigen lässt, und die, wie bekannt, von
R. Heidenhain und Ludwig in die Physiologie eingeführt wurde,
10. Sitzung vom 28. October 1892.
Vorsitzender: Herr Professor Born. Schriftführer: Herr Dr. Gaupp.
Tagesordnung:
1) Herr Dr. Adler:
Ein Fall von traumatischer Halbseitenläsion im Halsmark.
Der 56jährige Zimmermann N. hat am 4. Juni c, a. durch einen
herabfallenden Balken wahrscheinlich eine Fractur des III. Halswirbels
erlitten.
Er zeigt auf der linken Körperhälfte eine spastische Lähmung des
Armes und Parese des Beines, auf der rechten (nach oben fast bis-
zur Schulterhöhe reichend) Verlust der Schmerz- und Temperatur
empfindung und geringe Herabsetzung des Tast-, Druck- und Widerstands-
gefühls. Am linken Arm tritt bei kalter Aussentemperatur eine erbeblich
stärkere Temperaturerniedrigung wie an den übrigen Körpertheilen ein;
der sogenannte Muskelsinn zeigt sich an den linksseitigen Extremitäten
nicht gestört. Seit 3 Wochen erfolgt bei stärkeren Körperbewegungen
und im Bett profuser Schweissausbruch auf der gesammten
rechten Körperhälfte,
Am rechten Arm und Bein bestehen sehr schmerzhafte Paraesthesieen,
während in den linksseitigen Extremitäten, der linken Rumpfhälfte und
im rechten Bein bei brüsken Bewegungen Streckkrämpfe auftreten.
Der vorliegende Symptomencomplex ist charakteristisch für eine
Halbseitenläsion im Halsmark; und zwar ist, wie aus der Vertheilung
und Ausdehnung der motorischen und sensiblen Störungen hervorgeht,
die linke Markhälfte zwischen IV. und V. Cervicalnervensegment betroffen.
Die Lähmung des linken Arms und die Herabsetzung der Sensibilität
auf der rechten Körperhälfte dürften spontan eine Rückbildung nicht
erfahren; der Erfolg eines eventuellen operativen Eingriffs lässt sich mit
Sicherheit nicht voraussagen.
Discussion:
Herr Geheimrath Heidenhain: Haben die Krämpfe der beiden
unteren Extremitäten gleichen Charakter?
56 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Herr Adler: Ja, beiderseits Streckkrämpfe.
Herr Heidenhain: Im Thierexperimente ist es oft beobachtet,
dass nach halbseitiger Durchschneidung des Rückenmarkes bei Reizung
desselben oberhalb der Läsionsstelle Streckkrämpfe auf der lädirten Seite
auftreten. Die Lähmungserscheinungen gehen nach einigen Monaten vor-
über, Die Erklärung für diese Erscheinungen liegen in dem Vorhanden-
sein der motorischen Fasern, die noch im Mark von einer Seite auf die
andere treten. Diese werden offenbar allmählich geübt. Wahrscheinlich
bestehen dieselben auch beim Menschen, und somit sei eine weitere
Besserung des Falles noch wahrscheinlich.
Herr Adler glaubt nicht, dass die Lähmung des Armes sich noch
verringern wird; die Bewegungsfähigkeit des Beines sei bereits viel
besser geworden.
Herr Malachowski fragt nach dem Vorhandensein vasomotorischer
Störungen und berichtet über einen analogen Fall.
Herr Adler: Die Herabsetzung der Hauttemperatur am linken Arm
dürfte vorzüglich durch vasomotorische Störungen bedingt sein, wenn
sie auch zum Theil Folge der Lähmung sein mag.
2) Prof. Dr. Hirt spricht
über eine von ihm an einer Dorfschule (Gross-Tinz bei Liegnitz)
beobachtete Epidemie von hysterischen Krämpfen.
Im Laufe von 4 Wochen waren von 38 kleinen, zwischen 9 und 12 Jahren
alten Mädchen 20 theils an hysterischem Zittern theils an Krämpfen
erkrankt, dergestalt, dass eine ganze Reihe während der Anfälle das
Bewusstsein verloren und aus der Schule entfernt werden mussten, Von
den 32 in demselben Klassenzimmer anwesenden Knaben erkrankte nicht
ein einziger. Ueber die Natur der Krankheit konnte von Anfang
an ein Zweifel nicht bestehen, keine andere Affection als eben Hysterie
war anzunehmen. Die Ursache blieb völlig dunkel, da 1) die Schul-
räumlichkeiten in Bezug auf hygienische Anforderungen nichts zu wünschen
übrig liessen und 2) alle erkrankten Kinder vorher durchweg gesund ge-
wesen waren und nicht aus hereditär belasteten Familien stammten. Dass
die Art des Unterrichtes belanglos war, konnte durch den Vortragenden
im Dorfe resp. in der Schule selbst festgestellt werden; auch war der
Schulschluss zunächst ohne wesentlichen Einfluss auf die Epidemie,
indem noch während der Ferien Anfälle vorkamen und auch ganz kleine,
noch nicht schulpflichtige Kinder daran erkrankten. Demgemäss ist
man gezwungen, in der ausserordentlichen Hitze des Monats Juni
ein prädisponirendes Moment für das Zustandekommen der Hysterie
zu erblicken, ohne damit natürlich irgendwie das Entstehen einer Epidemie
und der Art, wie die Ansteckung von Kind zu Kind vor sich ging, zu
erklären. Man kann dieselbe nur als eine Art Autosuggestion auf-
I. Medicinische Abtheilung. 57
fassen, eben so wie das Gähnen ansteckt — man sieht es von Ändern,
man überredet sich, man müsse es nachahmen und gähnt ebenfalls.
Warum gerade 20 Mädchen erkrankt sind, warum nicht mehr und
warum nicht alle, lässt sich nur mit Zuhilfenahme der sogenannten in-
dividuellen Prädisposition erklären. Auch das Fernbleiben sämmt-
licher Knaben ist, nachdem doch erwiesen ist, dass die Hysterie im
männlichen Geschlechte und besonders unter Knaben sehr häufig vor-
kommt, schwer zu verstehen; es scheint doch, dass unter gewissen Ver-
hältnissen das weibliche Geschlecht hierzu mehr als das männliche
prädisponirt ist.
Die Behandlung bestand in der Darreichung relativer grosser
Brommengen, welche sich in einzelnen Fällen hilfreich zeigten; zwei
schwere Fälle, in denen es zu ausgebildeten hystero-epileptischen Anfällen
mit völliger Amnesie kam, wurden vom Vortragenden durch Suggestion be-
handelt und in einer resp. zwei Sitzungen geheilt. Den im zweiten Stadium
(nach Forel) der Hypnose befindlichen Kindern wurden suggerirt, dass
niemals mehr ein Anfall wieder kommen könne und thatsächlich ist auch
keiner mehr eingetreten. — Nach Wiederaufnahme des Schulunterrichts
am 20. October ist keine Erkrankung mehr vorgekommen, die Mädchen
sind alle gesund. — Aehnliche wie die beschriebene Epidemie kennt
der Vortragende nur zwei; eine ist von Palmer in Bieberach in Württem-
berg, eine zweite von Kirchgässer in Mettlach beobachtet worden. Dort
waren aber die hygienischen Verhältnisse der Schulen sehr schlecht und
konnten ätiologisch verwerthet werden, was im vorliegenden Falle eben
nicht möglich ist. Die Beobachtung erscheint demnächst in extenso in
der Berliner klinischen Wochenschrift.
Discussion:
Herr Sanitätsrath Dr. Richter: Schon Boerhave hat eine Epidemie
beschrieben und durch eine Art von Suggestion (mit Glüheisen) geheilt.
Herr Dr. Silbermann bemerkt, dass er vor einigen Jahren einen
gleichen Symptomencomplex wie den soeben geschilderten, bei Ge-
schwistern beobachtet und hierbei als ursächliches Moment Onanie
festgestellt habe. — Auf Grund dieser Erfahrung richtet Herr Silber-
mann an den Herrn Vortragenden die Frage, ob bei den kranken Mädchen
der betreffenden Dorfschule eine Untersuchung der Genitalien statt-
gefunden und etwa eine auffällige Vergrösserung der Clitoris constatirt
worden sei?
Herr Hirt verneint dies; eine derartige Untersuchung habe nicht
stattgefunden.
Herr Dr. Pfannenstiel geht in Kürze auf die vom Redner gestreifte
Frage des aetiologischen Zusammenhangs zwischen Hysterie und Ver-
änderungen an den ÖOvarien ein. Er hält die von den Neurologen nach
58 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
dem Vorgange von Charcot zur Doctrin erhobene Anschauung, dass in
den Ovarien eine hysterogene Zone zu suchen sei, für absolut unbewiesen,
bezw. die angeführten Beweise für nicht stichhaltig.
Die Erfahrungen, welche, die Gynäkologen mit der Castration bei
Hysterie im Laufe der letzten 10 Jahre gemacht haben, sprechen sehr
zu Ungunsten dieser Operation. Die Erfolge sind ganz unzuverlässig
und, wo sie günstige sind, können sie auch als Suggestionswirkung ge-
deutet werden,
In Zusammenhang damit steht die Thatsache, dass man bei der
Castration hysterischer Frauen in der Regel keine pathologischen Ver-
änderungen an den Eierstöcken findet, oft selbst nicht einmal eine
Hyperämie dieser Organe. Pfannenstiel hat in allen Fällen von
Castration, in denen wegen Hysterie operirt wurde, an der Breslauer
Frauenklinik die Ovarien genauer untersucht und nur einmal pathologische
Zustände gefunden. Hier lag beginnende Geschwulstbildung vor (ober-
flächliches papilläres Adenom beiderseits). Der Erfolg in Bezug auf die
hysterischen Anfälle war in diesem Falle zunächst günstig. Später
kehrten dieselben in ungeschwächtem Maasse wieder und wurden durch
eine Scheinlaparotomie zum zweiten Male gehoben. Die Operation hatte
also hier nur durch „Suggestion“ gewirkt. Findet man demnach bei
Hysterie Erkrankungen der Ovarien, so brauchen diese nicht als Hysterie-
erzeugend aufgefasst zu werden. |
Und was den von den Neurologen als „Ovarialgie‘‘ gedeuteten
Schmerz in der Unterbauchgegend hysterischer Frauen und Mädchen an-
langt, welcher spontan oder bei Druck vom Hypogastrium aus auf die
vermeintliche Ovariengegend sich kundgiebt, so hat dieser nach Pfannen-
stiel’s Anschauung mit den Ovarien gar nichts zu thun. Bekanntlich
kann man durch einen derartigen Druck hysterische Anfälle zuweilen
coupiren, eine Thatsache, von der sich Pfannenstiel in zahlreichen
Fällen selbst überzeugt hat. Aber bei diesem Druck ist es ganz gleich-
gültig, welche Stelle der Unterbauchgegend gewählt wird, ob höher oben
oder tiefer unten. In der Regel trifft derselbe, in der Weise wie ihn
die Neurologen — und zwar ganz wirksam — ausüben, überhaupt gar
nicht in die Ovariengegend, sondern eine Stelle oberhalb der Linea
innominata seitlich von der Wirbelsäule, wo aber die Ovarien gar nicht
liegen. Pfannenstiel hält es überhaupt für sehr schwierig, durch
Druck auf die Unterbauchgegend die in der Tiefe des kleinen Beckens
gelegenen und nur durch die combinirte Untersuchung tastbaren Eierstöcke
zu treffen,
Er ist demnach der Meinung, dass in den Ovarien ein hysterogener
Herd wohl nicht zu suchen ist.
Herr Hirt erwidert hierauf, dass der Herr Vorredner doch wohl
nur eine persönliche Anschauung entwickelt habe; die Zahl der Gynä-
I. Medieinische Abtheilung. 59
kologen, welche den Zusammenhang zwischen Ovarien-Erkrankung und
dem Auftreten hysterischer Zustände anerkenne und demgemäss event.
operativ vorgehe, sei eine immer noch recht ansehnliche. Man bedürfe
der Autorität Charcot’s nicht, um dies zu bestätigen, es genüge viel-
mehr festzustellen, dass die Castration bei Hysterie erwiesenermaassen
manchmal — wenn auch freilich nicht immer — von Erfolg begleitet sei.
Herr Bielschowsky berichtet über eine kleine Epidemie von
Hysterie unter Knaben.
Herr Medieinalrath Richter: Werden die hystero - epileptischen
Anfälle bei Männern auch durch Druck auf die der Ovarialgegend ent-
sprechenden Gegend coupirt?
Herr Hirt: Nein, wohl aber durch Druck auf die Testikel.
11. Sitzung vom 11. November 1892,
Vorsitzender: Herr Geh. Rath Fritsch. Schriftführer: Herr Dr. Pfannenstiel
Vor der Tagesordnung macht der Geschäftsführer, Herr Prof. Dr.
Born die Mittheilung, dass behufs schnelleren Abdrucks der Verhand-
lungen der Section Unterhandlungen mit der „Deutschen medieinischen
Wochenschrift‘‘ angebahnt sind. Bis zum Abschlusse dieser Verhand-
lungen sollen die Vorträge der Section mit den Discussionsbemerkungen
möglichst unmittelbar nach den Sitzungen zum Abdrucke im Jahresbericht
der Schlesischen Gesellschaft gelangen.
Herr Heidenhain bemerkt ergänzend, dass den Vortragenden
50 Separatabdrücke gratis zur Verfügung gestellt werden.
Tagesordnung:
Herr Dr. Hürthle: |
Ueber die Erklärung des Cardiogramms mit Hilfe der Herztöne und
über eine Methode zur mechanischen Registrirung der Töne.
Nach einer kritischen Uebersicht über die Registrirung des Herz-
spitzenstosses mittelst des Lufttransmissionsverfahrens, sowie über die
sogenannte akustische Markirmethode der Herztöne bespricht der Vor-
tragende eine neue Methode zur Registrirung der Herztöne. Bei der-
selben wirken die Töne auf ein sehr empfindliches Mikrophon, welches
am Ende eines Stethoskops angebracht ist. Das Mikrophon wird von
einem elektrischen Strom durchflossen, in dessen Kreis die primäre
Rolle eines Inductionsapparates eingeschaltet ist; verbindet man mit der
secundären Rolle ein Telephon, so lassen sich die Herztöne telephonisch
auscultiren, Man kann die indueirten Ströme aber auch zur Erregung
eines Froschmuskels benützen, welcher seine Zuckung auf dem Kymo-
graphion markirt. Auf diese Weise lassen sich Cardiogramm und Herz-
töne gleichzeitig auf mechanischem Wege registriren und die exacte
60 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Registrirung der Töne ermöglicht es, dieselben zur Erklärung des Cardio-
sramms zu benutzen.!)
12. Sitzung vom 25. November 1892.
Vorsitzender: Herr Dr. Buchwald. Schriftführer: Herr Dr. Drewitz.
Tagesordnung:
1) Herr Geh. Rath Mikulicz: „Zur Behandlung der Verengerungen
des Kehlkopfes und der Luftröhre.‘“
2) Herr Prof. Kast: „Ueber Erkrankungen des Duodenums.“
Die Vorträge werden an einem anderen Orte veröffentlicht werden.
13. Sitzung vom 9. December 1892.
Vorsitzender: Herr Geh. Rath Mikulicz. Schriftführer Herr Dr. Tietze.
Vor der Tagesordnung:
Herr Dr, Martini: Demonstration eines Präparats von Tonsillar-
carcinom, welches durch Arrosion der Carotis Verblutung hervor-
gerufen hat.
Derselbe: Demonstration eines Falles von Verblutung durch Arrosion
der A. coronaria ventr. durch ein Ulcus pepticum,
Diseussion: Herr Mikuliez,
Herr Dr. Fränkel:
Demonstration eines Präparates von Ovarialcarcinom.
47 jährige Patientin, seit 9 Jahren nicht mehr entbunden. Seit
einiger Zeit Blutungen aus dem Uterus, hinter demselben ein Tumor zu
fühlen. Beide Brüste vergrössert, enthalten Colostrum. Diagnose: Ex-
trauteringravidität? Laparotomie am 9. 12. Bei Eröffnung der Bauch-
höhle stürzt eine äusserst reichliche Menge von blutiger Ascites heraus.
der Tumor in Douglas erweist sich als Careinom. Exstirpation.
Herr Primärarzt Dr. Riegner stellt
einen Fall von Resection beider Ober-Kiefer wegen Enchondroms
vor. Das Leiden begann bei der 43 Jahr alten Frau vor 3 Jahren mit
Verstopfung der Nase, dann gesellten sich linksseitige Infraorbites-
neuralgien hinzu, vor 2 Jahren trat eine Geschwulst unter der Oberlippe
und am Gaumen ein und im letzten Jahre trat das linke Auge aus
seiner Höhle und erblindete. Der knochenharte, als Enchondrom an-
gesprochene und durch die spätere mikroskopische Prüfung als solcher
bestätigte Tumor war von der Schädelbasis ausgegangen, hatte beide
Y) Der Vortrag ist ausführlich in der „Deutschen med. Wochenschrift“ 1893
veröffentlicht.
I. Medicinische Abtheilung. 61
Nasenhöhlen durchwachsen, war durch die Mitte des Alveolarfortsatzes
nach vorn, durch den ganzen harten Gaumen nach unten durchgebrochen,
reichte nach hinten bis zur hinteren Pharynxwand, seitlich in beide
Highmorshöhlen hinein, ohne jedoch deren vordere Wand hervorgewölbt
zu haben, und hatte das linke Auge durch einen in die Orbita ge-
sandten Fortsatz fast vollständig nach aussen luxirt. Der Augenspiegel
ergab atrophia nervi optiei. Es wurde von jedem Mundwinkel ein
bogenförmiger Schnitt nach dem Jochbein geführt, weiche und knöcherne
Nase von innen her losgetrennt und so ein grosser die letztere ent-
haltender Lappen gebildet, der nach oben über die Stirne geschlagen
wurde. Dadurch war ein bequemer Zugang geschaffen zur Resection
beider Oberkiefer und Entfernung des Tumors mit seinen verschiedenen
knotigen Auswüchsen und Fortsätzen. Die Schleimhaut des harten
Gaumens liess sich von einem hart am Alveolarrande geführten Schnitte
aus leicht und in ganzer Ausdehnung von der Tumoroberfläche ablösen,
und nach vollendeter Resection an die Wangen- und Oberlippen-Schleim-
haut annähen, so dass ein vollkommener Abschluss zwischen Mund- und
Nasenhöhle hergestellt werden konnte. Sowohl diese Schleimhautnath
wie die Näthe des mit der Nase wieder herunter geklappten Gesichts-
lappens heilten per primam. Patientin athmet frei durch die Nase und
kann gut schlingen. Das linke Auge liegt wieder in der Orbita. Da es
sich um ein reines Enchondrom handelt, ist die Recidiv - Prognose
günstiger zu stellen. Die Operation wurde ohne palliative Tracheotomie
und nicht bei hängendem Kopf ausgeführt. Nur im Beginn und zum
Schluss der Operation (Nathanlegung) wurde Patientin chloroformirt,
Sie gab an, nichts gefühlt zu haben.
Tagesordnung:
1) Herr Dr. Riegner: |
Ueber einen Fall von Exstirpation der traumatisch zerrissenen Milz.
Ausgedehnte Zerreissungen der Milz haben bisher immer zum Tode
durch Verblutung geführt. Wiederholt hat man deshalb die Frage er-
wogen, ob derselbe nicht durch sofortige Laparotomie und Exstirpation
der rupturirten Milz in geeigneten Fällen abzuwenden sei. Nussbaum
spricht sieh in seiner Monographie über die Verletzungen des Unter-
leibes darüber folgendermaassen aus: „‚Ist der Zustand so desperat, die
Blutung so vehement, dass wir durch eine Compression an die Möglich-
keit der Rettung nicht denken können, so fragt es sich, ob die äusseren
Verhältnisse und der Verstand der Umgebung nicht das Aeusserste zu
versuchen erlauben; ob wir nicht versuchen sollen, die gegenwärtig in
ihren Gefahren so sehr herabgesetzte Laparotomie zu machen, die Ge-
rinnsel herauszuwaschen, die Gefässe der Milz zu unterbinden und die
Milz wegzunehmen. Es wird sich selten treffen, dass ein Operateur mit
62 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
dem antiseptischen Apparat sofort zur Stelle ist, wenn eine solche Ruptur
mit Blutung das Leben rasch bedroht, aber die Frage muss doch ventilirt
werden, ob man unter den gegebenen Verhältnissen dem sicheren Sterben
zuschauen soll, oder rasch die Milzexstirpation machen darf? Wenn
eine gänzliche Aussichtslosigkeit vorhanden ist, den Kranken ohne Milz-
exstirpation zu retten, so glaube ich, darf an diesen letzten Versuch ge-
dacht werden.‘“ Diesen klassischen Worten ist, soweit ich aus der
Litteratur, auch des letzten Decenniums, ersehe, bisher noch keine
praktische Folge gegeben worden. Es dürfte daher schon vom rein
chirurgischen Standpunkte Sie interessiren, abgesehen von einigen phy-
siologischen Fragen, die sich daran knüpfen werden, wenn ich Ihnen
heute einen Knaben vorstelle, dem ich vor nahezu 7 Monaten die voll-
ständig quer durchrissene Milz durch Laparotomie entfernt habe.
Der 14jährige Arbeitsbursche Arthur Grottke stürzte am 17. Mai
Abends in Folge des Bruchs einer Strebe vom Baugerüst des dritten
Stockwerks auf das des ersten hinab und schlug dabei mit dem Unter-
leibe auf ein Brett auf. Er wurde sofort auf meine Abtheilung im Aller-
heiligenhospital transportirt und bot hier folgenden Status. Der für sein
Alter schwächliche Knabe sieht blass aus, stöhnt viel und klagt über
heftige Schmerzen im Unterleibe. Er erbrieht mehrmals bräunliche
wässrige Massen, in denen im Gegensatz zu der Angabe, dass bald nach
dem Sturz einmal blutiges Erbrechen dagewesen sein soll, jetzt keine
Blutspuren mehr gefunden werden. Der Puls ist klein und beschleunigt
(110 in der Minute), die Athmung erfolgt oberflächlich und stossweise.
Der Leib ist nicht aufgetrieben, auf Druck überall sehr empfindlich,
zeigt nirgends eine abnorme Dämpfung. An der linken Brustseite finden
sich mehrere Hautabschürfungen, über dem linken Knie einige Sugil-
lationen, sonstige Verletzungen sind weder am Rumpf noch an den Ex-
tremitäten zu constatiren. Am nächsten Morgen (18. 5.) hatte die Blässe
auffallend zugenommen. Es besteht häufiges Aufstossen. T. 36, 5. Der
Puls ist noch elender und frequenter geworden (120), die Athmung
vorwiegend costal. Auf der Höhe der kurzen Inspiration erfolgt sofort
eine active Exspiration mit Contraction der Bauchmuskeln. Zwischen
den einzelnen Respirationsphasen sind längere Pausen. Der Umfang des
Leibes hat deutlich zugenommen. Der Magen ist aufgetrieben und
zeichnet seine Contouren deutlich durch die Bauchdecken ab. Schon
die leiseste Palpation und Percussion des Leibes ist überall äusserst
schmerzhaft. Die Leberdämpfung reicht von der 4. Rippe bis Quer-
finger breit unter den Rippenbogen. Die ganze regio hypogastrica er-
giebt gedämpften Percussionston bis zu einer 3 Finger breit unter dem
Nabel liegenden Horizontalen. Auch in den seitlichen abhängigen
Partien ist deutliche Dämpfung nachzuweisen, namentlich auf der
linken Seite, wo dieselbe nach vorn bis zur Mitte zwischen vorderer
I. Medicinische Abtheilung. 63
Achsillarlinie und Mamillarlinie reicht und nach oben ohne Unter-
brechung in die Region der Milzdämpfung übergeht. Da Patient seit
der Aufnahme noch keinen Urin gelassen hat, wird derselbe mit dem
Katheter in der Quantität von 100 Gramm entleert. Er ist klar, von
saurer Reaction, ohne Blut- und Eiweissgehalt, sedimentirt bald nach
dem Erkalten sehr stark.
Die zunehmende Blässe, der stetig elender und frequenter werdende
Puls (schliesslich 140) im Verein mit der Dämpfung in den abhängigen
Partien des Leibes machten jetzt die Annahme einer intra-abdominellen
Blutung in Folge von Ruptur eines der grösseren Unterleibsorgane zur
Gewissheit und erforderten entschiedenes Eingreifen, wenn man dem
sicher drohenden Verblutungstode entgegentreten wollte. Es konnten
wesentlich nur in Frage kommen die Leber und die Milz. Locale Schmerz-
haftigkeit und subjective Empfindungen des Knaben gaben keinen An-
haltspunkt. Für Verletzung der Leber sprach nur deren vergrösserte
Dämpfung, für Ruptur der Milz als das Wahrscheinlichere die Haut-
abschürfungen an der linken Seite und die ausgedehntere, höher hinauf-
reichende Dämpfung in der linken Abdominalhälfte.
Unter aseptischen Cautelen wird der Bauch in der Mittellinie durch
grossen Schnitt eröffnet. Es stürzen sofort etwa anderthalb Liter dünn-
flüssigen, lackfarbenen Blutes hervor. Dadurch wird die Uebersicht
trotz raschen Auftupfens mit sterilen Compressen sehr erschwert, doch
scheint es, als ob das Blut mehr vom rechten Hypochondrium her unter
der Leber hervorsickert. Daher langer Querschnitt nach rechts unter
dem Rippenbogen. Hinter der Leber finden sich reichliche Blutgerinnsel
und dünnilüssiges Blut, eine Verletzung derselben ist indess nicht zu
constatiren. Jetzt werden die Därme aus der Bauchhöhle geholt, in
Compressen von warmer sterilisirter Kochsalzlösung gepackt und nach
rechts hinübergelagert. In der linken Bauchseite sieht man entsprechend
der oben erwähnten Dämpfung grosse Massen schwammiger Blutgerinnsel,
darunter einige als solche deutlich erkennbare Partikelchen der Milz.
Zur rascheren Freilegung und Exstirpation der letzteren wird nun auch
links oben ein Querschnitt gemacht. Die Milz zeigt sich in der Mitte
vollkommen quer durchtrennt. Die untere Hälfte liegt ohne Zusammen-
hang mit der oberen und mit den Gefässen frei in der Bauchhöhle und
wird ohne Weiteres entfernt. Die obere Hälfte hängt noch zum Theil
an dem Lig. phrenico-lienale und den nicht durchrissenen Hilusgefässen
und wird nach Unterbindung der letzteren herausgeholt. Weder aus
den Milzwunden noch aus den rupturirten Gefässen schien es im Moment
der Freilegung mehr zu bluten. Alle noch sichtbaren z. Th. gequetschten
Gefässlumine werden sorgfältig ligirt. Eine schnelle Durehmusterung
der anderen Bauchorgane ergiebt deren Intactheit. Auch das Peritoneum
parietale ist überall glatt und glänzend. Nach möglichst rascher Ent-
64 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
fernung der Blutgerinnsel und Reposition der Därme werden sämmtliche
Bauchschnitte durch einfache Nath vollkommen geschlossen und ein
comprimirender Verband angelegt. Inzwischen waren an beiden Armen
und Oberschenkeln je 300 Gr. 0,6proc. Kochsalzlösung subeutan infundirt
worden. Danach bessert sich der zuletzt kaum fühlbare Puls rasch,
bleibt aber klein und sehr beschleunigt. Die Beine werden eingewickelt
und hochgelagert. Bald nach der Operation kam der Patient zu sich
und klagte über heftige Schmerzen im Leibe. Oefter dargereichte kleine
Mengen Wein behielt er bei sich. Die Nacht wenig Schlaf, Am nächsten
Morgen (19. 5.) war die Zunge stark belegt aber feucht, der Leib noch
schmerzhaft, aber nicht aufgetrieben. Der Puls sehr klein und bis auf
160 Schläge beschleunigt, weshalb Digitalis verabreicht wurde. Danach
besserte sich der Puls erheblich und war am 20. 5. früh auf 120 Schläge
sesunken. Geringe Temperaturerhöhung. Alles Gereichte (Eierbrühe,
Fleischsaft, Wein) wird behalten. Subjectives Befinden leidlich. Am
21. 5. klagte Patient über heftige Schmerzen im linken Beine, Nach
Entfernung der Binden- und Watteeinwickelung zeigt sich der linke Fuss
und die untere Hälfte des Unterschenkels blauschwarz verfärbt, kalt
und unempfindlich, im Fussgelenk ein starker Erguss. In den nächsten
Tagen stieg die Temperatur (wohl in Folge der beginnenden Fuss-
gangrän) auf 39 bis 39,5. Der Puls war jedoch voll und kräftig, 112
in der Minute. Dabei besserte sich der Allgemeinzustand und das sub-
jeetive Befinden fortschreitend. Nur zeitweise wurde noch über Leib-
schmerzen geklagt. Die Nahrungsaufnahme war ausreichend, auch con-
sistentere Sachen wurden gut vertragen. Stuhlgang erfolgte spontan
ziemlich regelmässig. Bei einem schon am 23. 5. wegen Beschmutzung
mit Urin nothwendig gewordenen Verbandwechsel waren die Wunden
trocken und reactionslos gefunden worden. Nur ein Stichcanal secernirte
etwas, weshalb die betreffende Nath gelöst wurde.
Am 30. 5. (12 Tage nach der Operation) wurden sämmtliche Näthe
entfernt. Die Hautränder sind oberflächlich an einzelnen Stellen
nekrotisch geworden, sämmtliche Bauchschnitte in der Tiefe jedoch fest
geschlossen. Die Temperatur war schon vorher wieder zur Norm
zurückgekehrt, der Puls war zwar kräftig, blieb aber andauernd be-
schleunigt (112—116). Am linken Fuss und Unterschenkel war der
Befund ein wechselnder. Anfangs gingen Circulations- und Sensibilitäts-
störung wieder theilweise zurück, die Hautfarbe wurde an einzelnen
Partien ganz normal und es bestand die Hoffnung, dass die Gangrän
sich auf die Zehen beschränken würde. Es wurde deshalb und weil
man dem Knaben einen grösseren operativen Eingriff noch nicht zu-
muthen mochte, zunächst exspectativ verfahren. Schliesslich mumifieirte
aber doch der ganze Fuss, an der Wade stellte sich in Handtellergrösse
tiefgreifende feuchte Gangrän ein, auch an der Vorderfläche des Unter-
I. Medicinische Abtheilung. 65
schenkels wurden einzelne Hautpartien nekrotisch. Dabei hatte Patient
heftige Schmerzen im Bein, schlief schlecht und fing wieder an zu
fiebern. Daher wurde am 13. 6., nicht ganz 4 Wochen nach der ersten
Operation, der linke Oberschenkel nach Gritti amputirt ohne An-
wendung des Esmarch’schen Schlauches,
Im Amputationsschnitt fand sich an der Gefässscheide eine bohnen-
grosse, etwas hyperämische Lymphdrüse. Schon am 11. 6. hatte man
in beiden Leistenbeugen bohnengrosse Lymphdrüsen gefühlt, doch dem
Befunde namentlich links wegen der demarkirenden Entzündung am Bein
keinen grösseren Werth beigelegt.
Am 15. Juni wurden jedoch auch in beiden Achselhöhlen einige
bohnengrosse Drüsen constatirt. In den nächsten Wochen schwollen die
vorher nicht palpablen Cervicaldrüsen beiderseits zu erheblichen Packeten
an und wurde rechts auch eine haselnussgrosse Cubitaldrüse fühlbar.
Der Verlauf nach der Amputation war giatt, bald darnach ging die
Temperatur zur Norm zurück. Die Amputationswunde vernarbte per
primam und die Patellarsägefläche verheilte fest mit dem Femurknochen,
so dass ein sehr brauchbarer Stumpf resultirte. In der siebenten Woche
stand der Patient auf und ging zunächst mit Krücken umher, nachdem
sein Kräftezustand und Allgemeinbefinden sich jetzt rasch gehoben hatten.
Ende August konnte die künstliche Prothese angelegt werden. Gleich-
zeitig wurde zur Stütze der ausgedehnten Bauchnarben ein festes Unter-
leibscorsett applieirt. Der genaueren weiteren Beobachtung halber und
um ihn besser ernähren zu können, als seine häuslichen Verhältnisse es
gestatteten, wurde der Patient noch bis zum 17, October im Hospital be-
halten.
M. H.! Der Knabe ist, wie Sie sehen, jetzt in ganz gutem Er-
nährungszustande und hat eine leidlich gesunde Gesichtsfarbe, Er läuft
mit seinem Stelzfuss munter umher und hat keinerlei Beschwerden mehr.
Seine Functionen sind sämmtlich in Ordnung. Das grosse Narbenkreuz
am Unterleibe zeigt hier und da trotz Anlegung des Bauchgurts kleine
herniöse Ausstülpungen, die indess keine Störungen machen. Sie sind
wohl erklärlich durch die Schnelligkeit, mit welcher die Bauchwunden
genäht werden mussten. Zur Etagennath blieb keine Zeit. Die Leber ist
nicht vergrössert, der Leib ist schmerzlos, weich und gut durchzutasten.
Man kann dabei einzelne vergrösserte Mesenterialdrüsen deutlich fühlen
Sämmtliche äussere Lymphdrüsenplexus (cervicale, axillare, cubitale
und inguinale) sind etwa in der Ausbreitung und Grösse wie bei Lues.
geschwollen. Nur die Achseldrüsen sind jetzt weniger deutlich zu
fühlen, wie früher. Die Schilddrüse ist etwa pflaumengross zu palpiren
und daher wohl sicher etwas über die Norm vergrössert, da sie für ge-
wöhnlich überhaupt schwer durchzutasten ist. Doch ist ihre Unter-
)
66 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
suchung in der Anfangszeit der Beobachtung leider versäumt worden,
sie kann also schon früher denselben Umfang gehabt haben.
M. H.! Der Fall bietet vom chirurgischen und physiolo-
gischen Standpunkt aus manches Beachtenswerthe. Lassen Sie mich
das rein Chirurgische vorwegnehmen. Milzverletzungen sind keine
zu seltenen Ereignisse. Interessant sind die Vorfälle der Milz, welche
durch verhältnissmässig kleine, von den verschiedenartigsten Gewalt-
einwirkungen, meist freilich von Messerstichen hervorgebrachte Wunden
zu Stande kommen, wahrscheinlich wesentlich unter dem Einfluss der
Zwerchfellcontractionen. Ledderhose hat in seiner neuesten Zu-
sammenstellung (chirurgische Erkrankungen der Bauchdecken und der
Milz, 1890) deren 32 gezählt, wovon 28 durch partielle oder totale
Resection geheilt, 4 reponirt wurden mit nur einem günstigen Ausgange.
Ein grosser Theil dieser Beobachtungen fällt noch in die vorantiseptische
Zeit, beweist also ganz besonders die Zweckmässigkeit und Ungefähr-
lichkeit der Exstirpation im Gegensatz zur Reposition der prolabirten
Milz. Rupturen von (durch Leukämie, Malaria) erkrankten Milzen
scheinen besonders in Gegenden, wo pernieiöse Intermittens herrscht,
gar keine seltenen Ereignisse zu sein. Playfair allein hat beispiels-
weise in Ostindien in 21, Jahren mehr als 29 Fälle gesehen. Sie ent-
stehen schon durch leichte Traumen, selbst durch den Geburtsaect, manch-
mal spontan. Für uns kommen hier indess nur die Zerreissungen
gesunder Milzen in Betracht. Nussbaum-Mayer haben davon 23 zu-
sammengestellt, welche bis auf einen Fall alle tödtlich endeten. Ver-
anlassung geben meist mit grosser Heftigkeit und mehr isolirt auf die
Milzgegend einwirkende Gewalten, z. B. ein darüber gehendes Rad, in
meinem Falle Aufschlagen auf ein Brett nach Sturz aus 2 Stock Höhe.
Eine sichere Diagnose wird selten gleich im Anfang möglich sein,
wenn nicht äussere Verletzungen deutlich auf die Milzgegend hinweisen.
Bei unserem Patienten waren nur leichte Hautabschürfungen an der
linken Brustseite vorhanden. Auch der locale Schmerz wird, wie im
vorliegenden Falle, gewiss oft vermisst und durch über den ganzen Leib
verbreitete Empfindlichkeit verdeckt werden. Die Shokerscheinungen
sind allen schweren Bauchverletzungen gemeinsam. Zu Peritonitis
werden Milzverletzungen, da sie nur Austritt von Blut in die Bauch-
höhle veranlassen, wohl meist nicht führen, im Gegensatz zu den
Rupturen der Gallenwege, des Darms- und Harnapparats. Der Mangel
peritonitischer Symptome könnte daher die Differentialdiagnose von
letzteren unterstützen, aber die Erscheinungen, die unser Knabe bei-
spielsweise bot, Schmerzhaftigkeit des ganzen Leibes, Aufstossen und
Erbrechen, schneller kleiner Puls, schmerzhafte, unterdrückte costale
Respiration, Erguss in die Bauchhöhle konnten ebensogut als durch be-
ginnende diffuse Bauchfellentzündung veranlasst angesprochen werden,
I. Medieinische Abtheilung. 67
Nur Ansammlung von freiem Gas im Abdomen, Verschwinden der Leber-
dämpfung würden die Diagnose einer Darmruptur sichern, und der
Mangel dieses Symptoms liess mich im vorliegenden Falle auf das
Niehtvorhandensein einer solchen Complication hoffen. Das Fehlen von
Blut im Urin sprach gegen eine Verletzung der Niere oder Blase. Das
einzig diagnostisch wesentlich in Betracht Kommende wird immer sein
und war auch hier der Nachweis einer stetig zunehmenden intraabdo-
minellen Blutung, d. h. ständiges Kühler- und Blässerwerden der Haut
und zunehmende Frequenz und Kleinheit des Pulses, eventuell cerebrale
Zeichen acuter Anämie, bei gleichzeitiger Constatirung eines mehr und
mehr steigenden Ergusses in den abhängigen Partien der Bauchhöhle.
Bei meinem Patienten war noch besonders für die Diagnose zu ver-
werthen das Höhersteigen der Dämpfung in der linken Leibeshälfte und
das Hinaufreichen derselben bis zur Milzgegend.
Gegen ausgedehnte Milzzerreissungen wird jede andere Therapie
machtlos sein und den schliesslichen Tod durch Verblutung nicht hindern
können. Principiell muss daher heutzutage, wenn irgend möglich, die
Laparatomie und die Entfernung der Milz als einzig mögliches Heilmittel
angestrebt werden. Freilich wird dazu manchmal nicht einmal die Zeit
gelassen werden, denn einzelne Verletzte sind in wenigen Stunden, ja
Minuten gestorben. Es werden nicht alle Fälle so günstig liegen, wie
der meinige, wo offenbar in Folge einer Art Torsion und Quetschung
der Hilusgefässe durch die scharf und isolirt einwirkende Gewalt die
Hauptblutung erst 12 Stunden nach dem Unfall (nach Aufhören der
Shokwirkung) erfolgte und auch dann nur allmählich zunahm. Gewiss
wirkte ferner günstig der Umstand, dass die ganze untere Hälfte der
Milz auch von den zuführenden Gefässen vollkommen abgetrennt
und damit als Quelle der Blutung ausgeschaltet war. Ein unvoll-
kommener Durchriss hätte sicher eine schneller eintretende und an-
haltendere Hämorrhagie erzeugt. Gleichzeitige Verletzungen anderer
Bauchorgane (solche der Leber sind namentlich häufig mit Milzrissen
zusammengefunden worden), die ja durchaus nicht immer diagnostisch
auszuschliessen sind, werden den Erfolg des Eingriffs natürlich oft er-
heblich trüben, doch darf diese Erwägung von einer Operation nicht
abhalten, welche den einzig möglichen Rettungsweg bietet. Auch in
dieser Beziehung hatte ich oder vielmehr mein Patient Glück. Die Milz
war in der That das allein verletzte Organ in der Bauchhöhle.
Die Operation muss, wenn einmal beschlossen, möglichst schnell und
unter aseptischen Cautelen ausgeführt werden. Antiseptica, in die Bauch-
höhle gebracht, würden hier aus naheliegenden Gründen ganz besonders
schädlich sein.
Grosser Median- und oberer Querschnitt nach links sind absolut er-
forderlich, um rasch über die Situation in’s Klare zu kommen und die
68 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
verletzte Milz herauszuholen, auch die massigen Gerinnsel möglichst zu
entfernen. Es wird sich dazu vielleicht auch, wie ich es gethan habe,
ein Auspacken der Därme empfehlen, wobei diese selbst und ihr
Mesenterium auf etwaige Einrisse gleichzeitig am raschesten controllirt
werden können. Selbst ein Querschnitt nach rechts kann, wie in meinem
Falle, nothwendig werden, um die untere Fläche der Leber zu besichtigen
und die dort angesammelten Gerinnsel herauszuholen.
Die Milz-Exstirpation selbst ist unter solchen Verhältnissen der am
leichtesten auszuführende Act. Da Verwachsungen bei gesunden Milzen
selten vorhanden sein werden, handelt es sich einfach um Unterbindung
des Stiels und Ligirung etwa sonst noch vorhandener, allerdings mög-
lichst sorgfältig aufzusuchender Gefässlumina. In der Nachbehandlung
der ersten Tage werden Excitantia und namentlich, wie auch hier,
Füllung des leeren Kreislaufs durch subeutane oder intravenöse Koch-
salzinfusionen die Hauptrolle spielen.
Specielles chirurgisches Interesse bietet der vorliegende Fall auch
dadurch, dass der arme Knabe kaum 4 Wochen nach glücklich über-
standener Milzexstirpation in Folge von Gangrän an Fuss und Unter-
schenkel noch eine Oberschenkelamputation über sich ergehen lassen
musste und auch diesen Eingriff gut überwunden hat. Für die Ent-
stehung der Gangrän ist ein direetes Trauma als Ursache auszuschliessen.
In den ersten Tagen der Beobachtung war keine Verletzung der betreffen-
den Theile zu bemerken. Es kann sich vielmehr nur um spontanen
Brand und zwar durch Venenthrombose handeln. An dem amputirten
Gliede fand sich in der vena tibialis postica, etwas oberhalb der Ferse
beginnend, eine thrombotische Füllungsmasse, während die bis zum Lis-
francschen Gelenk präparirten Arterien sich als normal und im Lumen
offen erwiesen. Zum Zustandekommen des Circulationhindernisses haben
offenbar verschiedene Ursachen zusammengewirkt: die enorme Ischämie, die
durch die Umstände gebotene lange Hochlagerung und (allerdings über
Watteunterlage gemachte) Einwicklung, vielleicht auch die subcutane
Infusion am Oberschenkel mit der nachfolgenden Massage.
Jedenfalls verschaffte uns die Amputation die Gelegenheit zu einer
für die Milzfrage wichtigen Untersuchung, und dies führt mich schliess-
lich zu einigen physiologischen Bemerkungen, die ich noch an den
Fall anknüpfen möchte,
Bekanntlich ist jetzt sicher erwiesen, nicht nur durch zahlreiche Thier-
experimente, sondern auch durch eine ganze Reihe von längeren Be-
obachtungen an Menschen, welchen die nahezu oder ganz gesunde Milz
(Wandermilz, hypertrophische Milz) exstirpirt wurde, dass dieses Organ
nicht absolut zur Fortdauer des Lebens nothwendig ist. Ueber die
Function der Milz als Blutbereitungsstätte und das vieariirende Eintreten
anderer Organe nach Fortfall jener ist man hingegen noch weit entfernt
I. Medicinische Abtheilung. 69
eine Einigung erzielt zu haben. Eine besonders von Neumann und
Mosler gestützte Annahme geht, wie sie wissen, dahin, dass das
Knochenmark die Milz vertrete und erhöhte blutbildende Qualität ge-
winne. Es war daher gewiss interessant, dass uns Gelegenheit geboten
wurde, 4 Wochen nach Entfernung der Milz das Knochenmark des be-
treffenden Individuums in dem amputirten Gliede direet zu untersuchen,
Herr Geheimrath Ponfick hatte die Güte mir mitzutheilen, „dass die
makroskopische Betrachtung wie die vorläufige mikroskopische Prüfung
des Knochenmarks ausser leichter Hyperämie des ganz fettigen Marks
keine wesentlichen Unterschiede vom normalen ergeben haben, selbst
nicht an den kurzen Knochen der Fusswurzel“, —
Vor einigen Tagen ging mir dann auf meine Bitte noch folgender
Bericht zu.
„Eine neuerdings an den gehärteten und zum Theil entkalkten
Knochen vorgenommene Prüfung hat für das Mark selber die zurück-
haltende Deutung der ersten vorläufigen Befunde bestätigt. Dagegen
liess sich an den Balken des knöchernen Gerüstes der spongiosa nicht
verkennen, dass eine sehr lebhafte Wucherung seitens des Gewebes,
besonders seitens der Gefässe des Marks stattgefunden hatte; so stark,
dass vielfach Verschmälerung der Balken — in ungleichmässiger Weise
— und auch dadurch Lockerung derselben eingetreten war, dass die
Haversischen Canäle breiter geworden. Vor Allem an der Grenze des
Intermediärknorpels aber sieht man grosse Strecken weit das junge
Mark in dessen bis dahin gefässlose Grundsubstanz vordringen, die Knorpel-
höhlen eröffnen, in sie hineinwachsen u. s. w, Auch hier sind die sonst
so gradlinigen Grenzen sehr ungleichartig, wellig u. s. w., so dass der
frische und krankhafte, wenngleich reparatorische Charakter überzeugend
entgegentritt. Ich zweifle sonach nicht, dass diese Erscheinungen auf
lebhaftere Neubildungsvorgänge im Mark hinweisen, als sie unter ge-
wöhnlichen Umständen — selbst unter Berücksichtigung des jugendlichen
Alters — erwartet werden dürfen. Denn offenbar sind bereits bedeut-
same Usuren am Knochen selber dadurch hervorgerufen worden,“
Auffallende, der bei Leukämie ähnliche Veränderungen, wie sie
Neumann und Mosler bei entmilzten Thieren beschrieben haben, das
möchte ich doch noch besonders hervorheben, fanden sich also hier,
wenigstens 4 Wochen nach der Operation, nicht vor. Doch geht immer-
hin aus den letzten Untersuchungen hervor, dass das Knochenmark an
den Reparationsvorgängen nach Ausfall der Milz einen nachweisbaren An-
theil genommen hat. j
Die aufgestellten mikroskopischen Präparate werden Ihnen das sehr
schön demonstriren.
Eine zweite Hypothese nimmt an, dass die Schilddrüse vicariirend
für die exstirpirte Milz eintritt. Gestützt wird dieselbe einmal durch
70 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Thierexperimente, die Bardeleben schon im Jahre 1841 gemacht hat.
2 Hunde und 2 Kaninchen, denen er Milz und Schilddrüse exstirpirte,
starben. 3 Hunde, denen er nur die Milz entfernte, genasen. Directe
Schilddrüsenschwellungen bei der Milz beraubten Thieren sind allerdings
(z.B. auch von Zesas) nicht beobachtet worden. Ebensowenig ergaben die
darauf hin von Tauber angestellten Experimente Anhaltspunkte für
einen functionellen Zusammenhang zwischen Schilddrüse und Milz. Da-
gegen liegen 2 Beobachtungen am Menschen vor, welche dafür zu
sprechen scheinen. Erstens hat Cred& einen Fall beschrieben (Archiv
für klin. Chirurgie. Band 28), in welchem 4 Wochen nach Exstirpation
einer Milzeyste mit relativ noch reichlichem gesundem Milzgewebe eine
deutlich sichtbare, schmerzhafte, teigige Anschwellung der ganzen Schild-
drüse eintrat, die in Schwankungen fast 4 Monate bestand, um zu einer
Zeit zu verschwinden, wo auch die allgemeine Kräftigung so weit vor-
geschritten war, dass der Patient wieder seine Profession aufnehmen
konnte. Der Autor ist daher geneigt, der Schilddrüse neben dem Knochen-
mark eine hervorragende Rolle in der Vertretung der Milz zuzuweisen,
Dann hat Ceci (Wien, Kl. Wochenschrift 1889, II. 424) nach seiner
Milzexstirpation eine mit Fieber, Abmagerung und gleichzeitiger erheb-
licher Mandelvergrösserung einhergehende Schilddrüsenschwellung gesehen,
die sich nach und nach wieder zurückbildete.e Von andern Seiten
(Czerny, Billroth, Albert, Trendelenberg) wo man besonders
daraufhin beobachtete, ist indess jede Kropfbildung vermisst worden.
Bei meinem Patienten ist nun zwar auch, wie sie gesehen haben, eine
geringe Vergrösserung der glandula thyreoidea gegenwärtig vorhanden.
Leider ist aber früher verabsäumt worden, specieller darauf zu achten,
Indess wäre bei der häufigen Untersuchung der Halsdrüsen eine grössere
Anschwellung der Schilddrüse wohl nicht übersehen worden und jeden-
falls ist dieselbe nie schmerzhaft gewesen. Ich muss daher die Be-
theiligung der Schilddrüse bei der Stellvertretung der Milz für meinen
Fall dahin gestellt sein lassen, möchte ihr aber einen erheblichen An-
theil jedenfalls nicht zuerkennen. Dagegen bin ich wohl berechtigt,
dies für die Lymphdrüsen in Anspruch zu nehmen, deren ausgebreitete
und allgemeine Anschwellung ich Ihnen vorhin demonstrirt habe. Die-
selbe begann auch in meinem Fall etwa 4 Wochen nach der Milz-
exstirpation mit dem Inguinal plexus, breitete sich rasch über den ganzen
Körper aus und scheint erst jetzt nach 7 Monaten mit dem Abschwellen
der Achseldrüsen ihren Rückgang antreten zu wollen. Freilich haben
die Thierexperimente nicht durchweg die Annahme einer vicariirenden
Rolle der Lymphdrüsen zu stützen vermocht. Mosler (Deutsche med.
Wochenschrift, 1834, No. 22) und Ponfick (nach mündlicher Mittheilung)
beobachteten keine constante Hyperplasie der Lymphdrüsen. Zesas
(Langenbecks Archiv, Band 28, Heft 1) fand allein die Mesenterial- und
I, Medicinische Abtheilung. 71
Bronchialdrüsen stark geschwollen und hyperämisch. Nur Winogradoff
(nach Ledderhose chirurg, Krankheiten der Milz 1890) constatirte eine
Vergrösserung aller Lymphdrüsen, besonders am Hals und Mesenterium.
Dagegen hat Ozerny (Wiener med. Wochenschrift 1879) — was mir
für die menschliche Physiologie viel wichtiger erscheint — von der
2. Woche nach Exstirpation einer Wandermilz an zuerst die Inguinal- dann
die Cervicaldrüsen viele Wochen lang geschwollen und schmerzhaft ge-
funden. Erst nach 3 Monaten waren sie wieder zurückgegangen. —
Grade die Exstirpation einer gesunden Milz beim Menschen und noch
dazu bei einem jugendlichen im Wachsthum begriffenen, vermag wohl
zur Lösung der Frage über die Function der menschlichen Milz mehr
Aufschlüsse zu bringen, als Thierversuche, wenn der Operirte längere
Zeit beobachtet werden kann.
Wenn also die letzt erwähnten Befunde fast die, Dignität eines
physiologischen Experimentes am Menschen beanspruchen können, gilt
dies leider nieht von den Blutuntersuchungen, die gleich von Beginn an
mit freundlichster Unterstützung des Herrn Dr. Bender, Assistenten der
dermatologischen Klinik, von uns angestellt wurden, und von welchen
ich in der Krankengeschichte nichts erwähnt habe, um sie hier kurz im
Zusammenhange mitzutheilen. Der Werth derselben für die Beurtheilung
der Milz als blutbereitendes Organ wird nämlich erheblich geschmälert
— wenigstens für die erste Zeit der Beobachtung — durch den Ein-
fluss, welchen der kolossale Blutverlust als solcher auf die Zusammen-
setzung des Blutes ausüben musste.
Bei entmilzten Thieren hat man ziemlich übereinstimmend eine
Vermehrung der weissen Blutkörperchen beobachtet, mitunter gleich-
zeitige Verminderung der rothen. Zesas fand den Beginn der Blutver-
änderung in der 4. Woche nach der Splenectomie. Von der 8. Woche
ab ging dieselbe wieder zurück. Ueber die durch Milzexstirpation
herbeigeführte Veränderung in der Zusammensetzung des Blutes beim
Menschen existiren noch nicht genügend zahlreiche und ausreichende
Beobachtungen um ein sicheres Urtheil zu ermöglichen, zumal die
Angaben einander mitunter direet entgegenstehen, So haben Czerny
(s. 0.), Witzel-Trendelenburg (Deutsche Zeitschrift für Chirurgie.
24. Band, $. 332) u. A. gar keine Veränderung constatiren können.
Horoch - Albert (14. Congress der deutschen Chirurgen) fanden
gar eine Vermehrung der rothen, Abnahme der weissen Blutkörperchen.
Billroth-Hacker (13. Chirurgencongress) konnten 3 Wochen nach
der Operation nur eine geringe Vermehrung der weissen Blutkörperchen
wahrnehmen. Eine Anzahl von Autoren hat dagegen Vermehrung der
weissen Blutkörperchen mit gleichzeitiger Verminderung der rothen und
entsprechender Abnahme des Hämoglobingehaltes gefunden, welche Ver-
änderungen nach Verlauf von Wochen oder Monaten allmählich wieder
72 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
rückgängig wurden. Besonders genau und lange hat Cred& seinen
bereits oben erwähnten Fall in dieser Beziehung beobachtet. ‚Vom
8. Tage nach der Operation an liess sich eine deutliche Vermehrung der
weissen Iymphogenen Blutkörperchen und der kleinen rothen, z. Th.
kernhaltigen, aus dem rothen Knochenmark stammenden Mikrocyten nach-
weisen, neben dem Ausfall der lienogenen weissen Körperchen und
_ einer Abnahme der rothen Blutkörperchen. Nach zwei Monaten war
das Maximum der Blutentartung erreicht bei einem Verhältniss der
weissen zu den rothen Blutkörperchen wie 1:3—4.“ Dann allmähliche
Rückkehr zur Norm innerhalb 4'j, Monaten. Er schliesst aus diesen
Befunden, dass der Milz wesentlich die Rolle zufällt, die in den Lymph-
drüsen gebildeten weissen Blutkörperchen in rothe umzuwandeln. Nach
Entfernung der Milz müssten daher die rothen — weil nicht ausreichend
neugebildet —. abnehmen, die weissen dagegen so lange zunehmen, bis
ein anderes Organ sie in rothe umbildet. Dieses ist, wie wir oben
sahen, nach seiner Beobachtung die Schilddrüse (neben dem Knochen-
mark), während er den Lymphdrüsen jede vicariirende Thätigkeit ab-
spricht; diese brauchten nur normal weiter zu produciren.
Die Blutuntersuchungen bei meinem Patienten haben nun, ganz kurz
resumirt, im Wesentlichen Folgendes ergeben '.. Der Hämoglobingehalt,
mit dem Fleischl’schen Hämoglobinometer bestimmt, war am 1. Tage
nach der Operation in Folge des kolossalen Blutverlustes auf 20 pCt.
gesunken, betrug am 4. Tage 35 pCt., am 21. Tage 40 pCt. und stieg
dann allmählich bis 80 pCt. (bei der vor einigen Tagen vorgenommenen
Untersuchung). Die mit dem Thoma-Zeiss’schen Apparat angestellten
Zählungen ergaben gleich in den ersten Tagen 2500000 rothe und
25 000 weisse Blutkörperchen auf 1 cmm. Die rothen waren also gegen
die Norm (5 000 000) um die Hälfte vermindert, die weissen um das
3—5fache pro cmm (im gesunden Blut 5—10000) vermehrt. Das Ver-
hältniss der weissen zu den rothen ergab sich also wie 1:100 gegen-
über 1:400 im Normalzustande. Während nun die absolute Zahl der
rothen Blutkörperchen ziemlich rasch zunahm, so dass sie schon nach
8 Wochen fast die Norm erreicht hatte, hat sich die absolute Zahl
der weissen Blutkörperchen, wie noch eine vorgestern vorgenommene
Zählung ergab, auch bis jetzt noch nicht vermindert, sie betrug 25000
pro cmm. Das relative Verhältniss der weissen zu den rothen (25 000
zu 4700000) ist gegenwärtig noch 1:180. Auch die nach Ehrlichs
Angaben gemachte Färbung und Fixirung der Blutpräparate ergab gleich
in den ersten Tagen eine erhebliche acute Leukocytose. Es waren zu-
!) Genaueres über die bisherigen und noch weiter fortzuführenden Blutunter-
suchungen soll in einer ausführlichen Arbeit eines meiner Assistenten über den
Fall später veröffentlicht werden.
I. Medieinische Abtheilung. 73
nächst sämmtliche Formen der weissen Blutkörperchen ziemlich gleich-
mässig vermehrt. In weitaus grösster Anzahl fanden sich jedoch neutro-
phile, meist polynucleäre Zellen. Auch einzelne eosinophile waren vor-
handen, doch keinesfalls in auffallender zu irgend einem Schluss auf
vicariirendes Eintreten des Knochenmarks berechtigender Menge,
Nach Ablauf eines Monats hatte sich das Verhältniss der verschie-
denen Formen der farblosen zelligen Elemente des Blutes zu einander
dahin geändert, dass die (aus den Lymphdrüsen stammenden) Lympho-
cyten, einkörnige, kleine weisse Blutkörperchen, die meist gekörnelt
waren, bei weitem an Zahl überwogen. Noch jetzt besteht (entsprechend
der oben erwähnten direeten Zählung) eine bedeutende Vermehrung der
weissen Blutkörperchen, doch haben die Lymphocyten an Menge ab-
genommen, es sind wieder mehr polynucleäre Zellen vorhanden und
zwar neben den gekörnten Formen auffallender Weise auch viele mit
ganz homogenem Protoplasma.
Kernhaltige rothe Blutkörperchen, sowie Schattenbildungen, über-
haupt grobe Veränderungen an den rothen Blutkörperchen sind bei den
zahlreichen Untersuchungen niemals gefunden worden.
Sie sehen also, m. H., auch die Ergebnisse der Ihnen hier in groben
Umrissen gegebenen Blutuntersuchungen, von denen einige typische Prä-
parate aus den 3 Hauptstadien zur Ansicht aufgestellt sind, stimmen mit der
sonstigen klinischen Beobachtung recht gut überein. Etwa 4 Wochen
nach Entfernung der Milz treten gleichzeitig mit der allgemeinen Ver-
grösserung der Lymphdrüsen, die aus ihnen stammenden Lymphocyten
in auffallender Menge auf und beginnen erst jetzt mit der Abschwellung
eines Theiles der Lymphdrüsen an Zahl abzunehmen und den (normaler
Weise zu 75 pCt. vorhandenen) polynucleären Formen Platz zu machen.
Auch die Blutuntersuchung unterstützt daher die Annahme, dass in
meinem Fall wesentlich die Lymphdrüsen vicariirend für die Milz ein-
getreten sind. Das Fehlen einer auffallenden Vermehrung der eosino-
philen weissen Blutzellen spricht vielleicht auch gegen eine sehr erheb-
liche Betheiligung des Knochenmarks, ebenso wie ja auch die directe
mikroskopische Untersuchung des letzteren dafür keine wesentlichen
Anhaltspunkte ergeben hat, wenn sie allerdings auch auf lebhaftere
Neubildungsvorgänge im Marke hinweist,
Der Reparationsprocess ist noch nicht vollendet, wie die jetzt noch
bestehende Leukocytose und allgemeine Drüsenschwellung beweisen.
Der Fall ist also noch nicht abgeschlossen und bedarf noch weiterer
Beobachtung.
Trotzdem glaube ich nieht Unrecht gethan zu haben, wenn ich schon
heute Ihnen darüber berichtet habe.
74 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
2) Herr Dr. Robert Asch:
Ueber die operative Behandlung der Salpingo-Oophoritis.
M. H.! Die sich stetig weiter entwickelnde Technik der Bauch-
operationen hat in letzter Zeit den Gynäkologen ein Gebiet heilsamster
Eingriffe eröffnet, in dem neben der Operation der Extrauteringravidität
die Entfernung der vereiterten Adnexa im Mittelpunkt allseitigsten
Interesses steht. Es ist noch nicht gar zu lange her, dass die Frau,
deren centralwärts vom Uterus gelegenen Generations-Organe infectiös
erkrankt waren, als eine für unheilbar geltende Sieche angesehen wurde,
bei der das ärztliche Können sich mit den Triumphen bescheiden musste,
durch symptomatische Behandlung eine Besserung wenigstens für einige
Zeit zu erzielen und der „beständig kranken Frau‘ wie sie Schröder
genannt hat, das Leben möglichst erträglich zu gestalten. Es lag das
aber nicht sowohl an der mangelnden Operations-Technik, als vor Allem
an der seltener gestellten genauen Diagnose.
Ich kann mich heut mit der Aetiologie und Diagnose der besagten
Krankheit um so eher möglichst kurz abfinden, als Herr Dr. Fränkel
Ihnen diesen Theil des Gebietes zu anderer Zeit ausführlich zu erörtern
gedenkt. Aus demselben Grunde werde ich auch auf anatomische Be-
trachtungen nur soweit eingehen, als es die Schilderung des jeweiligen
Öperationsverfahrens erfordert, also auch jede Erörterung sich auf-
drängender histologischer und bacteriologischer Fragen vermeiden.
Nur das Eine will ich zur Diagnose hier erwähnen, dass sie zum
grössten Theil abhängig ist von der Uebung im bimanuellen Unter-
suchen und von der möglichst genauen Aufnahme der Anamnese. Wie
die Gynäkologie im Allgemeinen nach dieser Richtung hin ihr Fort-
schreiten merken lässt, so hat wohl auch jeder Gynäkologe an sich er-
fahren, wie die früher so häufige Para- und Perimetritis ihm immer
seltener zu werden schien und er dabei im umgekehrten Verhältniss
immer häufiger sich Adnexerkrankungen gegenüber sah, die sich deutlich
von dem verschwommenen Bilde der „Zellgewebsentzündung‘‘ oder
„beckeneiterung‘ abhoben.
Die Wichtigkeit dieser Differenzialdiagnose ist wohl heut kaum
noch zu leugnen oder zu verkleinern.
Es ist doch, ganz abgesehen von der wissenschaftlichen, theo-
retischen Seite, für die Therapie nicht ohne Belang, ob man es mit der
Anschwellung bezw. Einschmelzung des extraperitoneal gelegenen para-
metranen Bindegewebes zu thun hat, oder mit einer meist zur Functions-
unfähigkeit führenden Erkrankung intraperitoneal gelegener Organe.
Auch von wesentlichster Bedeutung muss ich es ansehen, ob im Douglas
ein vielleicht abgesaektes peritoneales Exsudat oder eine verlöthete mit
Eiter gefüllte Tube liegt.
I. Medicinische Abtheilung. 75
Wie wir die Kenntniss der Salpingo-Oophoritis mehr dem Operations-
tisch danken, als dem sonstigen Nährboden moderner wissenschaftlicher
Mediein, dem Obductionshause, so verdanken wir umgekehrt auch
wiederum die Möglichkeit operativer Hülfe der genau gestellten Diagnose.
Damit ist aber noch keineswegs gesagt, dass man bei sicher ge-
fundener Salpingo-Oophoritis nun auch sofort zur Vornahme einer
Operation gezwungen ist, etwa wie bei einer Ovarialcyste oder irgend einer
noch operativ entfernbaren malignen Neubildung. Es handelt sich hier
noch im Wesentlichen um die Erledigung mehrerer Gesichtspunkte.
Erstens: in wie weit trägt die bezügliche Erkrankung zu den Beschwerden
der Patientin bei? Zweitens: rechtfertigen die Beschwerden, die von
der Erkrankung der Adnexa ausgehen, einen operativen Eingriff über-
haupt, beziehungsweise eine zu den gefährlichen zählende Operation?
Was die erste Frage anlangt, so wird sich deren Beantwortung meist
erst nach einiger Zeit der Beobachtung geben lassen; immerhin ist ja
die Entzündung und Vereiterung der Tuben und Ovarien nur eine Theil-
erscheinung in dem Gesammtkrankheitsbilde; das aber steht schon von
vornherein fest, dass die erheblichen Schmerzen, die Unfähigkeit zu
Arbeiten oder auch nur den häusslichen Berufsgeschäften nachzugehen,
das eigentliche Krankenlager und Siechthum der Frau erst mit dem
Ergriffensein der Anhänge bezw. des Perimetriums anhebt.
Auch bei den scheinbar puerperalen Adnexerkrankungen handelt es
sich ja nur zu oft um gonorrhoische Infeetion, die, zu gleicher Zeit mit
der Conception oder nach eingetretener Schwangerschaft aecquirirt, im
unterhalb der Frucht sitzenden Abschnitt der Gebärmutter, als soge-
nannte Endocervieitis vorhanden war. Nach erfolgter Ausstossung der
Frucht am normalen oder vorzeitigen Ende der Schwangerschaft kommt
es dann zu einer Infection der freigewordenen Uterushöhle und in diesen
Fällen grade nicht selten zur Fortpflanzung der Schleimhautentzündung
auf Tuben und Ovarien bezw. aufs Peritoneum. Das sind die Fälle
von Wochenbettfieber, die wohl zumeist zu der Annahme einer Selbst-
infeetion geführt haben. Hier bedarf es zur Infeetion weder eines In-
straments noch des touchirenden Fingers. Häufig nimmt die Er-
krankung gerade hier eine Gestalt an, die eine Verwechslung mit Para-
metritis gestattet oder die Diagnose einer Parametritis wirklich recht-
fertigt. Es kommt zu ein- oder doppelseitigen fluctuirenden Abscess-
höhlen, die entweder eine Pyosalpinx darstellen, die sich in das auf-
gelockerte Gewebe im Ligamentum latum entwickelt hat, oder als eine
wirkliche Einschmelzung des parametranen Bindegewebes aufzufassen
sind. Fast ausnahmslos kommt es aber auch hierbei zur Fortpflanzung
des infeetiösen Virus auf die Serosafläche des Peritoneums sei es durch
das ostinm abdominale tubae oder durch die penetrirende Entzündung
vom Uteruscorpus aus oder durch die Wand der Tuben. Der End-
76 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
effect solcher Peri- und Parametritis sind Verwachsungen, und als Folge
davon Lageveränderungen des nachgiebigen Uterus. Den Eintritt einer
Retroflexion bedingen dabei verschiedene Einzelheiten während des Ver-
laufs der Abheilung; so die narbige Verkürzung der Ligamenta lata und
vor allem die Eindiekung und Resorption postuteringelegener, durch Adhä-
sionen abgesackter Exsudate, deren Endresultat eine Verlöthung des fundus
uteri mit dem Peritonealüberzug der hinteren Beckenwand ist. Auch die
durch das längere Wochenbett selbst verlängerte Rückenlage der Frau
kann ohne Adhäsionen zur Ausbildung einer Retroflexio, die dann als
leicht reponible resultirt, führen. Sind dabei die seitlichen Bänder des
Uterus narbig verkürzt, so sehen wir den reponirten Uterus, ohne dass
ihn Adhäsionen nach hinten ziehen, häufig, nachdem ein Pessar ihn
Monate lang in richtiger Lage erhalten hat, bald nach Entfernung des-
selben in seine fehlerhafte Lage zurücksinken. Die Beschwerden sind
hier nicht durch den manchmal recht gut abgelaufenen Process in den
Adnexen oder den Parametrien, sondern durch perimetritische Adhäsionen
oder die Lageveränderung des Uterus hervorgerufen.
Solche Frauen können oft durch palliative symptomatische Behand-
lung, resorptionsbefördernde Curen, Pessare u. s. w. ihrer Beschwerden
bis zum Vergessen der trotzdem fortbestehenden Krankheit enthoben
werden. Immerhin wird dies zumeist nur bei Frauen der Fall sein,
denen ihre sociale Lebensstellung grosse Schonung und die Anwendung
lange dauernder Behandlungsweisen gestattet.
Auch hin und wieder eintretende Recidive, neu aufflammende Peri-
metritiden gelegentlich der Menstruation oder irgend einer äusseren
Schädlichkeit können durch geeignete Maassnahmen im Beginn der Neu-
erkrankung oft zur schnellen Wiederkehr zu dem alten, leidlich erträg-
lichen Zustand zurückgeführt werden.
Anders bei Frauen der arbeitenden Klasse und bei den Formen
sonorrhoischer Erkrankung der Adnexe, dis sich ausserhalb des Wochen-
betts ausgebildet haben, Sei es nun, dass die Gonococcen, welche eine
längere Zeit im Cervix gesessen, ehe sie den Weg in die höher ge-
legenen Abschnitte des Genitaltracts offen gefunden hatten, an Virulenz
eingebüsst haben, sei es, dass die Involutionsveränderungen des Wochen-
betts einen günstigeren Verlauf der Infeetion hervorrufen; erfahrungs-
semäss führen gonorrhoische Processe im Wochenbett nicht zu so
schweren und eingreifenden Veränderungen, als ausserhalb des Puer-
perium durch die ascendirende Gonorrhoe an Tuben und Ovarien her-
vorgerufen werden. Ebenso wie es der Erfahrung entspricht, dass
Wochenbettfieber, die der Gonococceninvasion ihre Entstehung ver-
danken, prognostisch günstiger sind, als solche auf anderweitiger In-
fection beruhende, so kann man auch die Adnexerkrankung, vom Wochen-
I. Medicinische Abtheilung. 7
bett herrührend, auch wenn sie gonorrhoischer Natur ist, als leichter
reparabel auffassen, als die ausser-puerperal entstandene.
Natürlich erleidet dies auch mancherlei Ausnahmen durch die be-
gleitenden Umstände der Erkrankung. Ich komme später auf einen Fall
zurück, der Das erläutern kann.
Der Vorgang, wie er sich nun ohne complieirende Schwangerschaft
bei ascendirender Gonorrhoe abspielt, ist nun meist ein anderer. Der
Eiterungsprocess setzt sich von der Uterusschleimhaut auf die der Tube
einer oder beider Seiten fort, gelangt zum Fimbrien-Ende und ruft dort
eine locale, mehr oder weniger ausgedehnte Perimetritis, Perisalpingitis und
Peri-Oophoritis hervor; hin und wieder entsteht auch eine echte Oophoritis,
ein Ovarialabscess, vielleicht wenn das Platzen eines Graaf’schen Fol-
likels grade hiermit zusammenfällt.
Die verschiedenen Formen der Adnexvereiterung, die hierbei
beobachtet werden, sind schon aus der ursprünglichen Beweglichkeit der
Organe, die freilich von jetzt an meist dauernd lahmgelegt ist, erklär-
lich, sowie aus den Phasen ihrer physiologischen Function. Auch, ob
die Erkrankung schon Recidive gezeitigt hat, die immer neue bisher
unversehrte Felder des Peritoneum ergreifen und in das Bereich unent-
wirrbarer Verwachsungen ziehen, ist für die Beurtheilung der schweren
Schädigung, die dieser Complex von Abscessen und verwachsenen Organen
für die Trägerin ausmacht, nicht ohne Belang.
Auch bei grösster Schonung während des acuten Stadium, auch bei
sofortiger Pflege und der Anwendung passender Linderungsmittel, auch
ohne die Nothwendiskeit häuslicher oder beruflicher Thätigkeit sind
solche Frauen einem Siechthum verfallen, das, ganz abgesehen von den
stets quälenden Schmerzen und der steten Erinnerung an das Kranksein,
durch die dauernde Gefahr erneuter Peritonitis eine auch e&ingreifende
Operation in vielen Fällen rechtfertigt. Bei Frauen der arbeitenden
Klasse ist dies natürlich in erhöhtem Maasse der Fall.
Noch eine andere Betrachtung führt uns oft zur Rechtfertigung einer
Operation.
Die Gonorrhoe des Uterus ist oft ohne Entfernung der einmal er-
krankten Adnexe nicht zu heilen; sei es nun, dass von oben her immer
neues infectiöses Material in das behandelte und vielleicht im Heilen
begriffene Cavum Uteri aus den Tuben kommt und jede Bemühung, die
Schleimhaut gonococcenfrei zu machen, illusorisch werden lässt, sei es,
dass jeder Versuch einer Uterus-Behandlung durch erneutes Aufflackern
des perimetritischen Processes vorzeitig unterbrochen wird,
Ein Speecialgebiet für die Indication eines operativen Eingreifens
liefert die polizeilich beaufsichtigte Prostitution; die Puellae kommen
gonorrhoisch infieirt ins Hospital und dürfen nur „‚geheilt‘‘“ entlassen
werden; ist die Heilung, wie eben ausgeführt, unmöglich, so bleibt die
78 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Operation als ultima ratio unvermeidlich; ein weiteres Eingehen
auf .diese etwas heikle social-polizeiliche Frage dürfte hier zu weit
führen; sie wird wohl noch lange ihrer Erledigung harren.
Jedenfalls kann in diesen und den oben skizzirten Fällen sich eine
Operation auch ohne bedeutende Beschwerden von Seiten der Salpingo-
Oophoritis als nothwendig und zur Heilung des Gesammtprocesses un-
entbehrlich erweisen.
Im acuten Stadium, bei der ersten Ausbildung von perimetritischen
Abscessen oder Exsudaten ist eine Operation nicht häufig nothwendig,
wenigstens werden operative Eingriffe, wie sie von allgemeinen chirur-
gischen Gesichtspunkten aus manchmal vorgenommen werden müssen,
nicht mit der Operation, die zur Radicalheilung führen soll, zu ver-
gleichen sein. Es wird sich hier meist nur um Ineisionen in abge-
schlossene Abscesshöhlen handeln, wenn zu hohe oder zu andauernde
Temperatursteigerungen dazu zwingen, oder ein Durchbruch droht; findet
dieser voraussichtlich nach einer ungefährlichen Seite hin statt, so wird
man ihn durch Incision beschleunigen oder die spontane Oeffnung für
den Abfluss genügend vergrössern; droht er nach einem dadurch neu
gefährdeten Organe (Blase ete.), so wird man ihn zu vermeiden suchen,
durch Ablenkung des Eiters auf günstigere Bahnen. Im Allgemeinen
trägt dieses Vorgehen meist nur zur schnellen Erleichterung des Zu-
standes der Patientin, zur Abwendung grösserer Gefahren bei, selten
oder nie zur Heilung der Salpingo-Oophoritis. Es ist wichtig, das zu
trennen. Es handelt sich doch hier um Organerkrankungen, die durch
ihr fortdauerndes Bestehen Gefahren und Beschwerden zur Folge haben
und deren Heilung unsern vorläufigen Hülfsmitteln noch nicht zugänglich
ist; um also die von den erkrankten Organen ausgehenden Folgen zu
beseitigen, ‚ist es nothwendig, die Organe zu entfernen, was um so eher
zu rechtfertigen ist, als ihr Verlust weder eine Gefahr für das Leben
der Patientin, noch eine Beeinflussung ihrer sonstigen Lebensfunetionen
bedingt; die Fortnahme funetionsunfähig gewordener Körpertheile aber,
sofern sie auf die äussere Form und das Aussehen keinen Einfluss aus-
üben, ‚„Verstümmelung‘‘ zu nennen, dürfte wohl zum mindesten etwas
gesucht erscheinen.
Die ganze Debatte, die sich in letzter Zeit, hauptsächlich von fran-
zösischen Autoren angeregt, über Beckeneiterungen entsponnen hat, scheint
mir kaum Bezug auf die wohl umschriebene Form der hier zu besprechen-
den Krankheit der Uterusadnexe zu haben. Es handelt sich aber hier
nicht sowohl um verschiedene Erkrankungen, sondern hauptsächlich um
verschiedene Stadien derselben Erkrankung und die Frage müsste nicht ge-
stellt werden: kann man Adnexerkrankungen durch vaginale Ineision
heilen oder soll man laparatomiren, sondern höchstens: soll man da,
wo man nur durch eine Laparatomie vollständige Heilung erzielen kann,
I. Medicinische Abtheilung. 79
durch vorläufige Incision oder andere Eingriffe das Stadium, in dem
eine Radicalheilung mit Erfolg noch nicht angestrebt werden kann, ab-
zukürzen suchen bezw. der Patientin erleichtern? Eine Incision wäre
hier gleichzustellen etwa der Anlegung eines Anus präternaturalis bei
incarcerirter gangränoser Hernie im Gegensatze zur Radicaloperation,
nur dass in diesen Fällen die Operation einer Indicatio vitalis entspricht.
Im acuten Stadium einer Salpingo-Oophoritis aber ist der Eingriff in den
meisten Fällen vermeidbar. Sehen wir nach dem Hauptgrund der Be-
schwerden und Gefahren, die durch die besagte Erkrankung hervor-
gerufen werden, so sind es die Verwachsungen im Becken und mit den
darüberliegenden Darmschlingen und das stete Vorhandensein einer
Eiterung in der Tube, das zu neuen Ausbrüchen Anlass geben kann und
giebt. Dann ist es unsere Aufgabe, solange wir keine andern Mittel
haben der Eiterung Stillstand zu gebieten: die Verwachsungen zu lösen
und die eiternden Organe zu entfernen. Ist das in dem Stadium, in
dem wir die Patientin in Behandlung bekommen, noch nicht ausführbar,
so heisst es: abwarten.
Es giebt ja, wenn auch recht vereinzelte Fälle, in denen man mit
einer Hülfsoperation auskommt; diese grenzen aber an die Kategorie
der Fälle, in denen unter Umständen, wie oben geschildert, eine Öpe-
ration überhaupt überflüssig erscheint. Ein Beispiel mag dies erläutern,
Eine Dame, deren Lebensstellung ihr jede Schonung und Pflege ge-
stattet, deren sexuales Leben durch die geplante Trennung von ihrem
Gatten sein vorläufiges Ende erreicht zu haben scheint, bekommt im
Verlauf einer Gonorrhoe eine Tubeneiterung und zwar erkrankt nur die
linke Seite. Voraufgegangen war während ihres virginalen Lebens eine
Perityphlitis, die zur Verlötung mit der rechten Uteruskante geführt
hatte, die seit Jahren beschwerdelos bestand. Zufällig ist die Form der
Erkrankung eine reine Pyosalpinx. Man muss sich hier den Vorgang
so vorstellen, dass das abdominale Ende der Tube verklebt, ehe es zu
einer Oophoritis oder Perimetritis gekommen ist; das entzündliche Stadium
läuft in einigen Wochen ab, Urethra und Uteruscavum zeigen sich bei
wiederholten Untersuchungen klinisch und bacteriologisch geheilt, aber
die linke Tube stellt einen beweglichen Sack mit Eiter gefüllt dar, der
noch erhebliche Beschwerden verursacht; das bisherige Freibleiben der
rechten Adnexe lässt bei dem inzwischen abgelaufenen infeetiösen Process
hoffen, dass diese nicht mehr gefährdet seien und es gilt nur den Eiter
zu entfernen; ich incidirte ins linke Scheidengewölbe, bohrte mich bis
auf den mir entgegengedrückten Sack, ineidirte diesen, nähte ihn an,
spülte aus und drainirte. Es fand keine neue Eiterung in der Tube mehr
statt, der Process war eben abgelaufen und die Dame wurde nach drei
Wochen geheilt entlassen, ohne Beschwerde und wie ich glaube
80 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
auch ohne Gefahr für ihr ferneres Befinden; spätere Nachrichten be-
stätigten dies. |
Doch so günstig liegen die Fälle höchst selten: Ein bisher un-
operirter Fall, den ich seit langem recht genau zu beobachten in der
Lage bin, mag dies erläutern. Bei einer Frau mit doppelseitiger Adnex-
erkrankung war es zum Durchbruch der linken Pyosalpinx ins Scheiden-
gewölbe gekommen. Die Oeffnung wurde erweitert und die Eiterhöhle
drainirt. Lange nach der Heilung bot sich mir folgendes Bild dar. Neben
dem anteflectirten Uterus findet sich rechts ein cystischer auf Druck nur
wenig empfindlicher, beweglicher Tumor mit wulstiger Oberfläche; nach
innen und unten von dieser mit Flüssigkeit gefüllten Tube lag das schein-
bar gesunde Ovarium. Links dagegen liegen Ovarium und Tube in Ad-
häsionen dem Scheidengewölbe an und verursachen fortwährende Schmerzen.
Eine Gonorrhoe der zugänglichen Schleimhäute besteht nicht mehr; die
Schmerzhaftigkeit konnte durch faradische Behandlung in ziemlich kurzer
Zeit beseitigt werden, der Tumor rechts verkleinerte sich nach einer
Reihe von negativen Galvanisationen im Verlaufe von 4 Wochen etwas
und verlor seine Druckempfindlichkeit.
Das subjective Wohlbefinden der Patientin liess sie eine Operation ver-
weigern; eine nach einigen Monaten erneut auftretende Schmerzhaftigkeit
auf der linken, entleerten Seite wich wieder rasch einer faradischen Be-
handlung, aber nach einem Jahre entstand gelegentlich eines Sprunges
von einem Wagen eine neue Entzündung der rechten Seite mit deutlicher
Vergrösserung des Tumors, die ein wochenlanges ziemlich schweres
Krankenlager zur Folge hatte. Nach Ablauf desselben wurde die noch
restirende Schmerzhaftigkeit wiederum rasch durch eine galvanische
Behandlung beseitigt.
Der sichtbare symptomatische Erfolg dieser Behandlung verhindert die
Patientin auch heute noch in eine Operation zu willigen; sie verrichtet
übrigens recht schwere Arbeit und hat nur in letzter Zeit über zu
häufig eintretende und zu lang dauernde Menstruationen und zeitweilige
Schmerzen in der linken Seite zu klagen. Man sieht daraus, dass die
Beschwerden, denn auch die Menorrhagien sind darauf zurückzuführen,
durch die Entleerung keineswegs beseitigt sind, da sie von Adhäsionen
herrühren und die Gefahren fortbestehen, auch wenn der Eitersack frei
beweglich und lange Zeit hindurch unempfindlich ist.
Die Hauptplage der Patientinnen wird aber durch die den Darm
betreffenden Adhäsionen hervorgerufen. Verwachsungen mit dem an sich
gesunden Processus vermiformis oder mit andern Darmabschnitten lassen
jede Bewegung der Därme, ja des Körpers überhaupt schmerzhaft werden.
Schmerzanfälle zu bestimmten Tageszeiten trotz Ruhelage und sonst ab-
gelaufenem Process lassen mit ziemlicher Sicherheit auf Darmadhäsionen
schliessen.
I. Medicinische Abtheilung. 81
Ich verdanke der Liebenswürdigkeit von Herrn Sanitätsrath Riegner
unter vielen andern auch die Beobachtung und operative Erledigung eines
Falles, der diesen wesentlichen Punkt deutlich demonstrirt. Die Frau
hatte ein postpuerperales rechtsseitiges Exsudat, welches durch Ineision
in der Inguinalfalte entleert worden war, trotz der Abheilung desselben
aber dauernde, quälende Schmerzen in dieser Seite; beim Untersuchen
zeigte sich eine mässige Vergrösserung der rechten Adnexe und Ver-
diekung des Lig. latum, darüber ein fingerdicker höchst schmerzhafter
Strang, der nach oben zog. Bei der Laparatomie zeigte sich der über-
mässig lange processus vermiformis mit Tube und dem Lig. latum ver-
wachsen bis an die Basis der Vorderfläche des letzteren gezogen; eine
abgelaufene Salpingo-Oophoritis mit einem Haematom am Ovarium. Nach
Entfernung des aus seinen Adhäsionen gelösten Wurmfortsatzes durch
Herrn Sanitätsrath Riegner resecirte ich das Lig. latum mit Tube und
Övarium; die Patientin verliess schmerzfrei das Hospital. Ich fand die
rechte Seite auch bei späterer Untersuchung frei und unernpfindlich.!)
Es konnte kein Zweifel darüber bestehen, dass die in diesem Fall
besonders quälenden Schmerzen hauptsächlich durch die Residuen der
Entzündung, durch die Verwachsungen hervorgerufen waren.
Alle diese Betrachtungen drängen uns mit Nothwendigkeit zu dem
Schlusse, dass die operative Behandlung der Salpingo-Oophoritis, wenn
sie durch das Fehlschlagen aller andern Methoden, sowie durch die oben
gekennzeichneten Begleitumstände überhaupt bedingt ist, eine Heilung
des qualvollen und gefährlichen Zustandes nur erzielen kann, wenn sie
sich bestrebt, die nutzlosen und irreparabel erkrankten Organe voll-
ständig zu entfernen. — Während die undurchgängige Tube ihren
Funetionen nie wieder genügen kann, sei es, dass ihr Lumen aufgehört
hat zu existiren, sei es dass sie nach Verschluss des abdominalen Endes
zur Hydro- oder bei noch fortdauerndem Process zur Pyosalpinx ge-
worden ist, ruft grade die, auch bei schwerer Krankheit des Organs
nicht oder höchst selten erlöschende, fortdauernde Function des Ovarium
stets neue Beschwerden, neue Gefahren hervor. Dazu gewährt die Ent-
fernung dieser nach jeder Richtung zwecklos gewordenen Organe die
Möglichkeit, die Verwachsungen zu lösen, dem immer von neuem auf-
flackernden Process Einhalt zu thun, eventuell auch den durch die Ver-
zerrungen dislocirten Uterus in normaler oder annähernd normaler Lage
ı) Einige Wochen, nachdem ich Obiges geschrieben, bekam Patientin eine
acute linksseitige Salpingo-Oophoritis; bei der vorausgegangenen Operation waren
die Anhänge dieser Seite durchaus normal befunden worden: im Anschluss an die
Neuerkrankung traten erneut heftige Schmerzen und grosse Druckempfindlichkeit
auch in der Gegend des Coecum auf; bis jetzt ist es nicht gelungen, die neuen
Beschwerden der Patientin durch Palliativnıaassnahmen zu beseitigen; es dürfte
sich eine zweite Laparatomie als nothwendig erweisen.
fFFr, 6
89 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
zu fixiren und auch damit ein gut Theil der Folgeerscheinungen dieser
für die Frau so grausamen Erkrankung zu beseitigen. Auf die Be-
handlung des Uterus komme ich später noch zurück.
Was nun die Entfernung der Adnexe anbelangt, so giebt es wohl
kaum ein operatives Gebiet, das bei der Gemeinsamkeit seiner Grund-
züge sich so verschieden im Einzelnen je nach der Beschaffenheit des
Falles gestaltet. Zunächst ist, wie schon gesagt, das Stadium der Er-
krankung von Einfluss.
Im acuten Stadium ist meiner Meinung nach eine Radicalbehandlung
nicht am Platze. Der einzige Fall, in dem es mir nicht gelang, die
Adnexe zu entfernen, betraf eine wohl zu früh operirte Frau. Ihre Be-
schwerden waren erheblich, die Temperatur dauernd erhöht, die Ana-
mnese liess einen genauen Ueberblick darüber, ob es sich um ein
Recidiv oder eine seit längerer Zeit bestehende Salpingo - Oophoritis
handle, nicht zu und beiderseitig waren schmerzhafte Tumoren zu
fühlen; die Frau drängte zur Operation; der Versuch aber, die
Adnexe zu entfernen, scheiterte bei der Laparatomie daran, dass
man es mit einem Knäuel von Abscessen zu thun hatte, die sich
weder differenziren noch vollständig entfernen liessen; bei jedem
Tieferdringen floss neuer Eiter über das Operationsfeld.. Nun wurde nach
möglichster Eröffnung aller Abscesse von oben her das Scheidengewölbe
beiderseits durchstossen und mit Gaze, die oben über die Abscesse ge-
legt war, und zur Scheide herausgeleitet wurde, drainirt. Die Frau
verliess nach mehrwöchentlicher Convalescenz gebessert das Hospital.
Es ist die Frage, ob eine vaginale Incision genügt hätte; man hätte
kaum in gleicher Weise alle Abscesse eröffnen können, wie bei der
freien Uebersicht bei der Laparatomie; die Aussicht, radical zu heilen,
war eben durch das zu frühzeitige Operiren genommen, wenn auch die
Möglichkeit, dies zu erreichen, die Art des operativen Vorgehens recht-
fertigen konnte.
Abgesehen von diesem für die Entfernung ungeeignetsten Stadium
der Erkrankung eignet sich auch die Zeit eingetretener frischer Recidive
wenig zur Vornahme der Radicaloperation; am kesten operirt man in
den Zwischenstadien.
Hier sind es vor allem Zufälliskeiten im Verlauf der Erkrankung,
Varianten in der Gestalt!) und Lage dieser Organe, ja die physiologischen
Zeitabschnitte, in denen gerade das Virus seinen Weg vom Uterus aus
in dieses Thor des Bauchraums gefunden hat, die die Fälle so ver-
schieden gestalten, dass sich ein Typus der Operationstechnik nicht wohl
») Ich möchte hier vor allem auf die von Freund hervorgehobene Verschieden-
heit gerader und gewundener Tuben hinweisen.
I. Medicinische Abtheilung. 83
geben lässt. Fast bei jeder Operation sieht man sich neuen, wenn auch
nicht unerwarteten Verhältnissen gegenüber, die das individualisirende
Vorgehen hier zur zwingenden Nothwendigkeit machen. Fast ausnahms-
los aber sind die Schwierigkeiten nicht unüberwindbar, und je mehr
Fälle man zu operiren Gelegenheit hatte, desto öfter wird man sich ein-
gestehen, dass dieser oder jener früher für unvollendbar gehaltene Fall
bei einiger Erfahrung mehr auch glücklich zum Ende hätte geführt
werden können.
Ich muss sagen, dass eine Reihe von erst in neuerer Zeit ver-
öffentlichten Fällen von „Pyocele periuterina“, bei denen sich der
Operateur nach Eröffnung der Bauchhöhle mit Ineision und Drainage
begnügt hatte, nach ihrer ziemlich ausführlichen Beschreibung mir doch
den Eindruck machten, dass sie wenig verschieden von Fällen seien,
bei denen es mir mit einigem Bemühen gelungen war, die Geschwülste,
die ein Conglomerat von Eitersäcken, vereiterten Organen, Schwarten
und Narbengewebe darstellen, radical zu entfernen.
Die gemeinsame Schwierigkeit aller Adnexoperationen ist die Lage
des Operationsfeldes im Becken und die durch die Verzerrungen und
Verwachsungen, durch den Verlust der normalen Oberfläche und der
gewohnten Gestalt der Organe erschwerte Orientirungsmöglichkeit. Auch
die aufgehobene Bewegungsfähigkeit der Organe, die Unmöglichkeit
ihrer Verlagerung zwecks besserer und bequemerer Zugänglichkeit lässt
im Anfang manchmal an der Ausführbarkeit zweifeln.
Zunächst kann ich dringend die Trendelenburg’sche Beckenhoch-
lagerung empfehlen: nur so ist es möglich, in situ und unter Controle
des Auges zu operiren. Fallen auch die Därme nicht immer so aus
dem Becken zurück wie bei normalem Peritoneum, so kommen doch
serade durch den Zug der Därme aus dem Becken heraus Adhäsionen
trefflich zur Kenntniss. Bei allen diesen Operationen muss man sich
mehr oder weniger zunächst den Weg durch Lösung des am oberen Becken-
ring verwachsenen Netzes und einiger Darmschlingen bahnen. Trockne
sterilisirte Gazeservietten halten die gelösten und ins Abdomen zurück-
geschobenen Intestina am besten zurück. Man sieht in solchen Fällen
manchmal netzförmige Gewebe vom Omentum und den Därmen den
Fundus Uteri und über diesen weg die ganze Blase überziehen. Nächst-
dem ist der Fundus meist noch nach hinten mit der hinteren Beeckenwand,
dem Promontorium, verlöthet, ganz abgesehen von den Verwachsungen
der Tumoren mit dem Uterus und den anderen Organen,
Man löse nun zunächst nur die Verwachsungen, die an der Möglich-
keit, das specielle Operationsfeld zu übersehen und den zu entfernenden
Tumor zu umgreifen, hindern.
Das weitere Vorgehen hängt nun von der Verschiedenheit des
Tumors ab, die ihrerseits, wie wiederholt angedeutet, einer Reihe von
6*
834 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Begleitumständen bei der Ausbildung des Krankheitsbildes ihr Entstehen
verdankt.
Schon oben habe ich betont, dass es für die spätere Gestalt des
erkrankten Adnexsystems von grossem Einfluss ist, ob die Infeetion die
Tube im Stadium des Wochenbetts, sei es am normalen, sei es am
vorzeitigen Ende der Schwangerschaft, ergreift. Die Rückbildung der
ausgefalteten Lig. lata ist meist noch nicht so vorgeschritten, dass die
Tube wieder ihre frühere Unabhängigkeit von diesem Bandapparat er-
reicht hat. Der Tumor entwickelt sich dann meist zwischen
die Blätter des Ligaments. Dasselbe kann, wie es scheint, auch
ausserhalb des Puerperium bei Frauen, die oft oder kurz vor der Infec-
tion geboren oder abortirt haben, orköknneh‘
Diese Fälle schaffen Tumoren, die manchmal aus dem Lie
latum ausgeschält werden ee
Andererseits besteht auch oft, und das sind wohl die Fälle, die zur
früheren Annahme von der Mischinfection bei allen Salpingitiden Anlass
gegeben haben, neben der Entzündung und Vereiterung der Tube eine
Infiltration des parametranen Bindegewebes; diese Verdiekung
kann sich auch, wie ich das bei einzelnen Operationen zu sehen Ge-
legenheit hatte, bis ins Lig. rotundum erstrecken.
In diesen, wie in den vorher skizzirten Fällen, soweit ein Aus-
schälen unmöglich ist, empfiehlt es sich, das ganze Ligamentum latum
und eventuell das Lig. rotundum mit zu reseceiren. Je nachdem die Ent-
faltung des Ligaments bis zum Becken reicht, beginnt man dabei mit der
Loslösung an der centralen oder an der peripheren Seite des Ligaments,
Immer ist ein schrittweises Unterbinden und Durchtrennen nothwendig.
Die Blutung ist dabei gering, man behält das augenblickliche Operations-
feld in Sicht und wird sich so vor unangenehmen Ueberraschungen am
besten bewahren. Den Rest der Ligamenta lata bezw. den Beginn ge-
sunden Peritoneums vernäht man am besten mit fortlaufendem Catgut-
faden. Nur unterbinde man nicht zu grosse Partien und er-
strecke die fortlaufende Naht immer nur auf wenige Stiche.
Man erhält so eine reine Nahtlinie anstatt einer fetzigen, zu neuen
Adhäsionen führenden Fläche. Durch zu lange fortlaufende Nähte und
zu grosse Partien-Ligaturen werden Verziehungen hervorgerufen, die
bei der späteren Narbenverkürzung noch verstärkt werden; diese Methode
schützt am besten vor den von manchen Autoren beklagten späteren
Störungen und Beschwerden nach Salpingo-Oophorectomien.
Hat sich der Tumor mehr unter perimetritischen Entzündungen und
somit Verwachsungen ausgebildet, so muss man natürlich mit dem Aus-
schälen aus den Adhäsionen vorsichtig sein, aber auch nicht zu ängst-
lich davor zurückschrecken; es kommt eben darauf an, Was verwachsen
[. Medicinische Abtheilung. 85
ist. Die meist zu beobachtenden Verwachsungen der Hinterfläche der
Tube mit der Rückfläche des Corpus uteri kann man dreist durchtrennen
ohne Blutung und Verletzung von Organen fürchten zu müssen. Auch
die zurückgelassene Fläche ist nicht so gefährlich; Blutungen führen
noch nicht ohne Weiteres zu neuen Adhäsionen; zudem sind sie aus
den getrennten Adhäsionen zumeist gering und stehen auf vorüber-
gehende Tamponade. Auch bei den Darmadhäsionen kann man dreist
losschälen, muss aber jedes gewonnene Stück Weges nach der Trennung
genau besichtigen; die Serosa ist oft so verändert, das man eigentlich
auch hier nur innerhalb von schwartigen Auflagerungen trennt. Scheint
irgendwo der Darm gefährdet, so übernäht man die Stelle sofort mit
oberflächlichen Fäden (nach Lembert). Von den oft vorhandenen Ad-
häsionen mit der Blase gilt dasselbe, wie von denen mit dem Uterus;
sie lösen sich leicht und lassen wenig gefährdete Flächen zurück. Findet,
wie das hier öfter der Fall, hie und da doch eine stärkere Blutung an
einer Stelle statt, so unterbindet man nach vorherigem Fassen des
Gefässes dasselbe isolirt. Ein Umstechen ist hier weniger am Platze
weil jeder Stich aufs Neue blutet und Verzerrungen möglichst zu ver-
meiden sind. Ist der Tumor gelöst, so beginnt man mit dem oben ge-
schilderten Abbinden und Durchtrennen seiner natürlichen Uebergänge auf
die Nachbarschaft. Bei diesen intraperitoneal entwickelten Tumoren ist
zudem meist nur ein Abbinden an der uterinen Seite nöthig. Die Durch-
trennung des uterinen Endes der Tube führt man am besten mit dem
Paqu&lin aus, wenn noch irgend welcher Verdacht auf bestehende In-
fectionsgefahr vorhanden ist. DBrandschorfe sind im Peritonealraum
keineswegs, wie man das früher annahm, zu fürchten. Sonst übernäht
man auch diesen Stumpf nach Exeision des sich vorwölbenden Tuben-
endes mit Peritoneum.
Am Schwersten gelingt die Ausschälung des Tumors in der Tiefe,
sei-es des Douglasischen Raumes oder der seitlichen Partien des
Beckenbodens. Es ist dies, wie ich mich oft überzeugt habe, die Stelle,
an der das Fimbrienende der Tube verwachsen ist. Dabei kommt es
fast immer zum Austritt kleiner Mengen Eiter. Es hat dies manchen
Operateur zu der Annahme geführt, dass ihm die Pyosalpinx geplatzt
sei, und man findet das in vielen Operationsgeschichten als ständiges
Ereigniss wieder. Dies beruht wohl oft auf einem Irrthum. Nicht der
Tubensack ist eingerissen und Eiter ausgetreten, sondern man hat einen
Abscess geöffnet, den man als perisalpingitisch bezeichnen muss. An
dieser Stelle hat die erste Infecetion des Peritonealraums durch den aus
der Tube austretenden Eiter und damit die erste Verlöthung statt-
gefunden. Die Eröffnung dieses Abscesses, der meist wenig Eiter ent-
hält, ist kein vermeidbares Ereigniss, sondern eine zur Radicalentfernung
gehörige Nothwendigkeit. Die Verschiedenheit der Bedeutung dieses
86 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Eiteraustritts, die ihm von verschiedenen Autoren beigelegt wird, basirt
wohl auf diesem Irrthum, Platzt die Pyosalpinx, dann kann das die
Heilung stören, ja zu neuer schlimmer Sepsis Anlass geben; sind es nur
die restirenden Eitermengen, deren Gefahr das Peritoneum schon früher
durch Abkapselung überwunden hat, so findet man den Heilungsverlauf
kaum durch geringste Temperatursteigerungen gestört.
Dass das eben Gesagte keine willkürliche Annahme ist, davon kann
man sich oft durch nachherige Betrachtung des Präparates überzeugen.
Aber auch schon während des Operirens merkt man es daran, dass sich
der Tubensack beim Erscheinen dieses Eiters nicht verkleinert. Jeden-
falls gehört ein wirkliches Einreissen der Pyosalpinx zu den seltenen
Ereignissen. i
Diese Verwachsungsstelle des Abdominalendes der Tube mit dem
Peritoneum ist übrigens, wie ich mich durch den Vergleich häufiger ge-
nauer Touchirbefunde mit dem ÖOperationsbild in mehreren Fällen über-
zeugt habe, meist die schmerzhafteste Stelle der gesammten Organ-
erkrankung. Bei vorsichtigstem Touchiren löst die blosse Berührung
dieser Stelle oft einen heftigen, stechenden Schmerz aus, während die
bimanuelle Untersuchung des übrigen Tumors sogar bei gelindem Druck
und genauer Abtastung nur einen leicht erträglichen dumpfen Schmerz
verursacht.
Flottirte das Fimbrienende der Tube zur Zeit, als die Infeetion
bezw. die Eiterung es erreichte und überschritt, nicht frei im Peritoneum,
sondern lag dem Ovarium an, Verhältnisse, wie sie durch die Phasen
der ÖOvulation bedingt sind, so ist die Infection des Ovarium
wohl die unmittelbare Folge. Es entsteht eine innige Verwach-
sung der Tube mit dem Ovarium, letzteres abscedirt, die Tube wird
durch die fortschreitende Eiterproduction dilatirt und ihr Lumen bildet
mit den meist mehrkammerigen Abscesshöhlen des Ovarium jenes un-
entwirrbare Labyrinth von Höhlen, bei denen man nur schwer noch
unterscheiden kann, ob ihre Wandungen dem einen oder andern Organe
angehören. Diese Höhlen bergen manchmal verschiedenen Inhalt;
seröse, eitrige, blutige Flüssigkeit finden sich in ihnen.
In diesen Fällen fällt die Ablösung des Fimbrienendes weg und
damit die Eröffnung oben besprochenen Abscesses.
Mehrfach habe ich grade in diesen Fällen, wo eine stärker ent-
wickelte Peri-Oophoritis Platz gegriffen hat, Haematome angetroffen, die
in oder noch häufiger gegen Ende der Menstruation entstanden waren
und den zu entfernenden Tumor grösser erscheinen liessen, als er sich
nachher herausstellt — denn diese können bei der Operation leicht
platzen, da ihre Wandung, aus Adhäsionen oder Fibringerinnseln be’
stehend, nur dünn ist, ein Ereigniss, welches keinerlei Einfluss auf den
Verlauf der Operation oder der Convalescenz ausübt.
I. Medicinische Abtheilung. 87
In anderen Fällen, in denen die Erkrankung wohl langsamer in der
Tube vorgedrungen und mehr unter dem Bilde der interstitiellen Sal-
pingitis verlaufen ist, findet man das Knde der in ihrer ganzen Länge
verdickten und theilweise ihres Lumens verlustig gegangenen Tube
weder mit dem Parietalperitoneum noch mit dem Ovarium verwachsen
und ihre Absetzung ist demgemäss einfacher. Oft findet man in solchen
Fällen die Tube aber auch in ihrer ganzen Länge der Hinterwand des
Uterus angelagert mit dem Abdominalende im Douglas sitzend.
Ich fand dies in einem Falle linkerseits, in dem rechts die Er-
krankung zu einem Tuboovarialeystensystem geführt hatte. Von der so
dem Rücken des Uterus anliegenden Tube, die auf Daumenstärke aus-
gedehnt und verdickt war, lag wohl 3 Querfinger weit entfernt am
Beckenrande das normal aussehende Ovarium, das wegen der noth-
wendigen Entfernung des übrigen Tuboovarialsystems mit entfernt wurde.
Bei der nachherigen Untersuchung fand sich auch in diesem ein kaum
erbsengrosser Abscess.
Fälle nun, in denen die Tuben keine gemeinschaftlichen Tumoren
mit dem Ovarium gebildet haben, können bei Verschluss des Abdominal-
ostiums und Erhaltung der Höhle, wenn die Infection dort eine weitere
Eiterproduction hervorruft, zu echter reiner Pyosalpinx führen, Eiter-
säcke, deren Entfernung relativ leicht ist, bei denen man aber am
meisten auf die Behandlung des Stiels Rücksicht nehmen muss; wenn
auch der uterine Anfangstheil der Tube fast nie dilatirt ist, so findet
man doch hier im engen Lumen Eiter und muss folgerichtig den Stiel
als etwas die Reconvalescenz Gefährdendes behandeln; leicht können
sich von hier aus neue Peritonitiden entwickeln und diese Fälle sind
es wohl, die die Dauererfolge der Salpingo-Oophoreetomie in Misscredit
gebracht haben. Man brennt dann mit dem Paqu&lin tief hinein und
unterbindet nochmals oder übernäht.
Es führt das zu der weiteren Frage, ob es nicht gerathen sei, nach
doppelter Absetzung der Adnexe auch den für die Function unwesent-
lichen Uterus, der in diesen Fällen oft noch mit erkrankt, d. h. noch
nicht abgeheilt ist, mit zu entfernen.
So falsch mir das Vorgehen erscheinen will, wie es von einem Theil
der Pariser Schule in jüngster Zeit angerathen und von einigen wenigen
Gynäkologen Deutschlands auch befolgt worden ist, nämlich bei doppel-
seitiger Adnexvereiterung bezw. Beckeneiterung den Uterus vaginal zu
entfernen, um dem Eiter guten Abfluss zu verschaffen, die erkrankten
Organe aber zu belassen, so ideal scheint mir die Radicaloperation be-
sagter Krankheit, wenn man darunter auch die Entfernung des Uterus
bei Entfernung der Adnexe versteht. Nur wird die Operation dadurch
bedeutend vergrössert und gewinnt an Gefährlichkeit.
88 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Ich habe die gleichzeitige Exstirpation des Uterus in einem Falle
ausgeführt, in dem die Adnexoperation nicht besondere Schwierigkeiten
bot, der Uterus aber mit seiner ganzen Rückfläche an der hinteren
Beckenwand verwachsen war. Nach vorheriger Ablösung der Portio
vom Scheidenansatz und Umstechung der hierdurch freigewordenen para-
metranen Gefässe und Tamponade des Uterus, löste ich bei der Lapara-
tomie die Lig. lata mit den Tuben und Övarien beiderseits an der Um-
schlagstelle des Ligamentperitoneum auf den Beckenrand vom Lig. in-
fundibulo - pelvicum bis an den Uebergang auf den Uterus in oben-
beschriebener Form schrittweise ab und vereinigte den Rest der Peri-
tonealblätter durch fortlaufende Naht. Dann präparirte ich den Uterus mit
den anhängenden Tumoren unter andauerndem Zug aus dem Scheidenansatz
und übernähte auch diese Stelle nach Abtragung des Uterus mit fort-
laufender Naht, so dass das Peritoneum der Excavatio vesicouterina an
das des Douglasischen Raumes zu liegen kam. Die dünne cervix der
nullipara war dabei durchgerissen, so dass ich nachher den Stumpf noch
durch die Vagina entfernen musste. Die Patientin ging am dritten Tage
p- op., nachdem sie sich die erste Zeit wohl befunden hatte, im Collaps
zu Grunde und ich glaubte, dass sich eine Peritonitis, ausgehend von
der Scheidenwunde bei der Section finden werde.
Zunächst schien sich diese Vermuthung auch zu bestätigen; es fand
sich Eiter in der Beckenhöhle. Auffallend aber war es, dass die Naht-
linie rein und noch wie bei beendigter Operation aussah. Die noch
vorhandenen Beckenorgane wurden im Zusammenhang entfernt und ein
liebenswürdiges Schreiben von Herrn Geh. Rath Ponfik klärte mich
über die nach genauerer Untersuchung gefundene Ursache des unglück-
lichen Ausgangs auf. Eins von drei über dem Sphincter tertius sitzen-
den Rectalgeschwüren hatte die Wand des Rectum usurirt und durch
seine Perforation Anlass zu. der tödtlichen Peritonitis gegeben.
Es ist die Annahme nicht von der Hand zu weisen, dass diese
Ulcerationen im Rectum auf einer Infection per contiguitatem von der
Perimetritis her beruhten, sowie, dass der nach der Operation erfolgte
Durchbruch im Zusammenhang mit der letzteren die foudroyante tödt-
liche Peritonitis hervorgerufen hat; wäre der Durchbruch vor der Ent-
fernung des Uterus und der Adnexa erfolgt, der Rectalinhalt hätte an
dieser Stelle das Peritoneum vielleicht nicht frei, sondern durch Ad-
häsionen abgeschlossen, getroffen.
Diese hochsitzenden Ulcerationen konnten um so weniger vermuthet
werden, als Erscheinungen von Seiten des Mastdarms ihre genügende
Erklärung in einem direct über dem After sitzenden, mit grösster Wahr-
scheinlichkeit auf gonorrhoischer Infeetion beruhenden Uleus zurück-
geführt werden konnten. Die zwischenliegende Strecke zeigte sich
gesund.
I. Medicinische Abtheilung. 89
Abgesehen von diesem Todesfall, der im direeten Anschluss an die
Operation, wenn auch nicht unbedingt als Folge derselben eintrat, habe
ich noch einen unglücklichen Ausgang nach einer Salpingo-Oophorecto-
mirten zu beklagen. Die Operirte genas von der Operation, bekam
aber 3—4 Wochen später, nachdem sie schon seit 8 Tagen das Bett
verlassen hatte, erneute Erscheinungen von Peritonitis. Ein Abscess
durchbrach die Bauechwunde im unteren Winkel, es bildete sich eine
eitrige Peritonitis mit Darmfisteln und Pneumoperitoneum aus, als deren
Ursache sich ein Gazetampon, der bei der Operation vergessen worden
war, vorfand.
Dieses unglückliche Ereigniss war trotz des Zählens der Tampons
vor Schluss der Bauchwunde eingetreten, wahrscheinlich dadurch, dass
ein grösserer Tampon von einem der Betheiligten zerschnitten worden
war; ich wusste davon nichts und begnügte mich mit dem Ergebniss
der Zählung und dabei, dass ich bei der Besichtigung und Betastung des
Abdomens keinen Tampon mehr vorfand. Nach der Entfernung des
Tampons besserte sich der Zustand der Kranken zunächst, doch starb
sie nach langem Krankenlager 3 Monate nach der Operation unter zu-
nehmender Entkräftung. Von hohem Interesse ist es, dass sich in dem,
aus der Bauchwunde dringendem Eiter typische Gonococcen fanden.
Hier hat wohl der an sich sterile Tampon, weil vorher schon In-
fection bestanden hat, das Reeidiv gezeitigt und dessen verderblichen
Verlauf verschuldet.
Diese beiden Todesfälle, die ja eigentlich nicht als direete Folge
der Operation aufgefasst werden können, abgerechnet, sind die übrigen
zwanzig von mir Öperirten glatt genesen und von ihren quälenden
und gefahrvollen Leiden befreit geblieben.
Bedenkt man, dass diese Mortalität von 2 auf 22 eine Operation
betrifft, deren Technik noch mit jedem Fall wächst, die zu den schwersten
in der Bauchchirurgie gehört, so wird auch Das nicht zur Verwerfung
der Operation beitragen.
Dazu kommt, dass überhaupt nur diejenigen Kranken zur Operation
kamen, bei denen man auf anderweite Hülfe verzichten musste.
Ich möchte hier erwähnen, dass diese 22 Operirten auf 107 Frauen
zu rechnen sind, bei denen ein- oder doppelseitige Salpingo-Oophoritis
festgestellt war.
Nur auf einen Punkt im Anschluss an die postulirte Entfernung des
Uterus muss ich noch hinweisen.
Ich war bisher in vier Fällen genöthigt, nach früher vorausgegangener
Laparatomie den Uterus vaginal zu entfernen; drei davon betrafen
vorher Salpingo-Oophorectomirte.
90 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Es ist dies immerhin ein gewichtiger Grund mehr, die gleichzeitige
Entfernung des Uterus bei Exstirpation der Adnexe anzustreben. Doch
kann ich andererseits versichern, dass sich die vaginale Uterusexstir-
pation nach der bei der Laparatomie voraufgegangenen Resection der
Lig. lata so leicht gestaltet, dass man für die Verminderung der Gefahr
die Unannehmlichkeit, die Patientin zwei Operationen zu unterwerfen,
mit hinnehmen kann.
Einmal geschah die nachfolgende vaginale Uterusexstirpation wegen
fortdauernder Beschwerden auf Anrathen von Herrn Geh. Rath Fritsch,
der ebenso wie ich, annahm, dass die Klagen der Patientin durch
perimetritische Beschwerden hervorgerufen seien.
Ein anderes Mal verursachte eine Ligatur des Lig. lat. am Becken-
rande, um die sich ein haselnussgrosses plastisches Exsudat gebildet
hatte, erhebliche Beschwerden, vor allem unvermeidbares Hinken, wahr-
scheinlich dadurch, dass ein Druck auf die Cruralnerven ausgeübt wurde.
Ich zog den Knoten nach Exstirpation des Uterus in die Vaginalwunde,
entfernte die darin, wie vermuthet, gefundene Ligatur und die Beschwerden
sistirten; die Kranke ist völlig hergestellt.
Der dritte Fall betraf ein Dienstmädchen, das seit der Entfernung
der Adnexe an fortdauernden Uterusblutungen litt, die mit erheblichen
Schmerzen einhergingen. Da die üblichen Mittel versagten, das Mädchen
mehr und mehr herunterkam und dringend die volle Herstellung ihrer
Arbeitsfähigkeit verlangte, entschloss ich mich zur Entfernung des Uterus.
Einige Schwierigkeiten erwuchsen mir dabei dadurch, dass ich hier nach
der Salpingo-Oophorectomie den Fundus Uteri in den untern Bauch-
wundenwinkel fixirt hatte; die Verwachsung war so fest geworden,
dass ich unter Leitung der Finger mit langer Scheere den Strang durch-
trennen musste, um den Uterus umstülpen zu können. Die Blutung war
unwesentlich. Auch diese Patientin befindet sich vollkommen wohl.
Es bliebe also immer noch die Frage bestehen, ob man, um eine
Rückwärtslagerung der ihrer seitlichen Haltebänder beraubten Gebär-
mutter zu verhüten, den Fundus ventrofixiren soll, auf die Gefahr hin,
sich bei einer eventuell später nothwendig werdenden Exstirpation dieses
Organs unnöthige Schwierigkeiten zu bereiten.
Im Allgemeinen wird man sich nach dem Falle richten; konnte man bei
der Salpingotomie die Lig. rotunda erhalten, so wird man wohl von der
besonderen Fixation absehen können. Ohne die Function dieser Bänder
überschätzen zu wollen, glaube ich doch, dass sie, da jeder fernere
puerperale Einfluss fehlt, das Organ vor dem Hintenüberfallen schützen
werden; zudem habe ich, seitdem ich bei der Resection der Lig. lata
alle Massenligaturen vermeide und in der oben beschriebenen Weise
jede Verzerrung und Verkürzung zu umgehen suche, später häufig den
I. Medieinische Abtheilung. 91
Uterus in normaler Lage verharrend befunden. Grade nach Castrationen
und leichten Ovariotomien, bei denen man ja bei der Stielbildung durch
Massenligaturen weniger auf diesen Punkt geachtet hat, habe ich Retro-
flexionen als Folgeerscheinung beobachtet.
Wenn ich es also auch für das Ideal der Radicaloperation bei
doppelseitiger Salpingo-Oophoritis halte, Adnexa und Uterus zusammen zu
entfernen, so wird man doch bei der immerhin meist längere Zeit in
Anspruch nehmenden Salpingo-Oophoreetomie die gleichzeitige Entfernung
des Uterus vom Abdomen aus wegen der gesteigerten Gefahr und der
Verlängerung der Operationsdauer vorläufig noch vermeiden oder auf
leichte Fälle beschränken und in den meisten Fällen abwarten, ob
später die relativ ungefährliche Vaginalexstirpation sich als nöthig er-
weist. Im Uebrigen wird man sich auch hier nach den Begleitumständen
richten müssen und vor Allem die ehrliche Beantwortung der Frage an-
streben: wie mache ich die Kranke am schnellsten und sichersten gesund
und arbeitsfähig.
14, Sitzung vom 16. December 1392.
Vorsitzender: Herr Geh. Rath Ponfick. Schriftführer: Herr Dr. Martini.
Herr Prof. Neisser stellt einen jungen Mann vor, der einen syphi-
litischen Primäraffeet auf der Bindehaut des rechten Bulbus trägt; indo-
lente Schwellung der Lymphdrüsen über der rechten Parotis und
Exanthem.
Herr Dr. Jadassohn zeigt einen alten Mann, der einen Herpes
zoster im Bereiche der rechten brachialis int. trägt, dessen Aetiologie
interessant. Arsenbehandlung wurde als Ursache angesehen, die wegen
eines Ekzems eingeleitet war.
Herr Dr. Martini demonstrirt
1) Rachen, Oesophagus und Magen eines 20jähr. Mädchens, welches
conc. Schwefelsäure getrunken hatte und 36 Stunden darnach an eitriger
Peritonitis gestorben war. Starke Verätzung im Rachen und Magen
mit Perforation oben im Fundus, dagegen fast völliges Freibleiben des
Oesophagus.
2) Oesophagus und Magen eines 1'/,jähr. Kindes, welches Natron-
lauge, die in einer Tasse stehen geblieben war, getrunken hatte. Starke
Stenose oberhalb der Cardia, die kaum für dünne Sonde passirbar ist.
Magen frei.
3) Ein Situspräparat von Colloidkrebs des Magens, der eine enorme
Aussaat tuberkelähnlicher Knötchen auf dem Peritoneum gesetzt hatte.
Tagesordnung:
Herr Dr. Robert Asch: Fortsetzung seines unter voriger Sitzung
vollständig abgedruckten Vortrages.
92 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Discussion:
Herr Geh. Rath Fritsch betont, dass viele Tubenerkrankungen nicht
sonorrhoischer Natur wären (Aborte etc., unsaubere Tamponade) und
dass die Trippernatur heute viel zu häufig angenommen würde. Was
die Exstirpation der Tubensäcke etc. anlangt, steht Herr Fritsch eben-
falls auf dem Standpunkte des Vortragenden.
Herr Dr. Steinschneider glaubt, dass Gonococcen auch durch die
Tubenwand hindurchtreten könnten und nicht allein durch das Fimbrienende.
Herr Geh. Rath Fritsch ist der Meinung, dass die Infection der
Bauchhöhle fast stets durch das Fimbrienende geschehe.
Sitzungen der Section für öffentliche Gesundheitspflege
im Jahre 1892.
In der ersten Sitzung am 3. März sprach Herr Professor
Dr. H. Cohn
Veber die Augen der Musiker.
Nach der Ansicht von Stilling') scheint es keinem Autor bisher
aufgefallen zu sein, dass die Musiker so häufig kurzsichtig werden.
„Man betrachte sich nur, sagt er, aufmerksam irgend ein Theater- oder
Curorchester, und man wird sich leicht von der Richtigkeit überzeugen.
Ich habe mich selbst so viel mit Musik abgegeben, dass ich mir ein
maassgebendes Urtheil über die Natur dieser Beschäftigung erlauben
darf. Ich kenne auch die Musiker und habe immer viele persönliche
Bekannte unter ihnen gehabt, von denen ein grosser Theil kurzsichtig
ist, und zwar mit dem Charakter der erworbenen Arbeitsmyopie.‘
Bekanntlich hatte Stilling die Theorie aufgestellt, dass die Haupt-
schuld an der Entstehung der Kurzsichtigkeit die Thätigkeit des Roll-
muskels, des oberen schiefen Augenmuskels, trägt, welcher das Auge
nach unten drehen hilft,
Nach Stilling’s Ansicht hängt die Entstehung der Kurzsichtigkeit
wesentlich vom Verlaufe dieses Muskels, der nach seinen interessanten
anatomischen Untersuchungen mannigfach variirt, ab. Wenn die Augen-
höhle hoch, die Rolle hoch und dabei der Rollmuskel steil zum Aug-
apfel herabsteige, übe er einen geringeren Druck auf denselben aus, als
wenn die Augenhöhle niedrig und der Rollmuskel flach auf den
Augapfel gelangt. Die Myopie wäre also nach Stilling nur eine Folge
des Baues der Augenhöhle, d. h. eine Racenfrage.
Diese Theorie kam natürlich den Lehrern und Behörden sehr er-
wünscht. Da die Myopie nicht Folge der Naharbeit, sondern des Schädel-
baues sein sollte, wären ja alle unsere Bemühungen für Schulhygiene
und Augenhygiene überflüssig. Wer eine niedere Augenhöhle hat, wird
doch kurzsichtig, wer eine hohe hat, bleibt normal.
1) J. Stilling, Untersuchungen über die Entstehung der Kurzsichtigkeit.
Wiesbaden 1887, p. 166.
94 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Nun ist allerdings, wie ich in meinem Lehrbuch der Hygiene des
Auges (Wien 1892) pag. 289—295 nachgewiesen, die ganze geistreiche
Hypothese von Stilling neuerdings durch die Untersuchungen von
Schmidt-Rimpler, Seggel,Bär, Kirchner, Fiziaund Krotoschin
bereits völlig widerlegt.
Indessen ist es doch nützlich, auch die folgenden Untersuchungen
über die Augen der Musiker zu veröffentlichen, die die Vermuthungen
von Stilling nicht bestätigen.
Seiner Theorie zu Liebe findet Stilling die Ursache der Kurz-
sichtigkeit darin, dass die Anstrengung, die das Notenlesen erfordert,
besonders auf das „Nachuntensehen“ hinausläuft. Desshalb finde
man Myopie ganz unabhängig von dem gespielten Instrumente, „Der
Paukenschläger und der Contrabassist“, sagt Stilling, „wird ebenso
kurzsichtig, wie der Clavier- und Violinspieler“‘,
Stilling meint, dass die Ansprüche, die beim Notenlesen an das
Auge gemacht werden, sehr geringe seien; denn die Distanz ist
mindestens ”/, Meter, die Notenköpfe sind leicht zu entziffern; man kennt
die Noten bald auswendig wegen der Regelmässigkeit der Accordfolge;
trotzdem werde die Nothwendigkeit, den Blick fortwährend nach
unten zu richten, nicht aufgehoben.
Demgegenüber beobachte man bei Uhrmachern nicht Myopie, weil
sie die Augen länger auf dieselbe Stelle richten. ,‚‚Genauere statistische
Untersuchungen würden sicher darthun, dass ein Gewerbe, welches an-
haltende Naharbeit erfordert, umsomehr zu Myopie disponirt, je weniger
die Augendrehungen durch Kopfdrehungen ersetzt werden können, be-
sonders beim Sehen von oben nach unten‘.
Diese statistischen Untersuchungen fehlten nun freilich bisher bei
den Musikern.
Die allgemeine Bemerkung, dass man in dem Orchester viele Leute
mit Brillen sieht, hat meines Erachtens wenig Werth: man sieht ja
nicht, wie viele Musiker Convex- und wie viele Concavbrillen tragen,
Ferner weiss man nicht, wie viele Musiker schon auf der Schule
kurzsichtig waren, und ob wirklich gerade durch ihren Beruf die Myopie
entstanden oder vergrössert worden. Auch darf man nicht vergessen,
dass viele Musiker, namentlich die berühmteren, jahrelang theoretische
Studien machen, bei denen sie ihre Augen, auch ohne gerade ein Instru-
ment zu spielen, anstrengen. Ferner kann man oft genug beobachten,
und zwar gerade bei den bedeutenderen Künstlern, aber auch bei mittel-
mässigen Musikern, dass sie beim Spielen gar nicht heruntersehen, weder
auf die Noten, noch auf ihre Instrumente, sondern auswendig spielen
und dabei gerade aus oder sogar nach oben blicken. Auf eine im
Theater oder Concert von Weitem gestellte Diagnose lege
ich keinen Werth.
I. Medicinische Abtheilung. 95
Auch auf eine schriftliche Anfrage bei den Mitgliedern eines
Orchesters ist nichts zu geben; viele notiren, dass sie Concavgläser
tragen, während die Controle ergiebt, dass sie sich der Convexgläser
bedienen. ') |
Ich habe jetzt eine statistische Untersuchung der Augen der Musiker
begonnen, die sich auf alle in Breslau thätigen Berufsmusiker er-
strecken soll.
Die erste Vorprüfung der Capelle des Breslauer Orchester-
Vereins, welche aus 62 vorzüglichen, meist Jahrzehnte lang bereits
thätigen Musikern besteht, ergab freilich nur 25 Normalsehende und 37,
d. h.60 pCt. Abnorme.
Diese 37 abnorm sehenden Herren wurden einzeln von mir in
meiner Wohnung in aller Ruhe geprüft; keineswegs waren sie alle kurz-
sichtig, 3 waren übersichtig, 8 hatten Astigmatismus, 6 waren augen-
krank (hatten Staar, Hornhautflecke, Schielen, Sehschwäche) und nur
20 waren Myopen. Es wäre aber ganz unrichtig, in Folge dessen zu
sagen: „20 — 32 pCt. sind in Folge des Musiecirens kurzsichtig
geworden.‘ Denn bei der sorgsamen Nachforschung ergab sich, dass
bereits 9 von den 20 Myopen auf der Schule kurzsichtig waren und
an der Wandtafel nichts erkennen konnten. Einer von ihnen musste in
Plauen als Schulknabe auch viele Stunden täglich 700 Nadeln der Stick-
maschine einfädeln und erwarb dabei seine Myopie.
Der Zehnte war 3 Jahre als Schreiber bei einem Rechtsanwalte
in einem dunklen Zimmer angestellt und ging erst dann, kurzsichtig
bereits, zum Cellospiel über. Vier andere hatten bemerkt, dass sie bei
jahrelangem, allnächtlichen Notenschreiben die Myopie bekamen.
Also bleiben nur 6 Musiker, 4 Violin-, 1 Viola-, 1 Cellospieler,
die vielleicht beim Musiciren kurzsichtig wurden, d. h. nur 9,7 pCt.
Auch die Grade dieser Myopien waren geringe; sie betrugen 1,5
bis 2,75 m. Man sieht also, wie sorgsam derartige Befunde analysirt
werden müssen, damit man nicht einem Berufe die Ursache zuschiebt,
ohne dass sie von ihm herrührt.
Bei den Schriftsetzern?) und Lithographen’°) konnte ich schon
vor 24 Jahren feststellen, dass ihr Beruf zur Myopie führe. Von den
132 Schriftsetzern waren (nach Abzug der bereits kurzsichtig in die
Lehre getretenen) 35 pCt., von den 27 Lithographen 37 pCt. kurzsichtig
geworden,
!) Wie unklar diese Begriffe noch dem grösseren Publikum sind, sah ich öfters
daran, dass sogar „Convex“ und „Concret‘ verwechselt wurden.
”)H. Cohn. Die Augen der Breslauer Schriftsetzer. Berl. klin. Wochen-
schrift 1868, No. 50.
»)H. Cohn. Die Augen der Uhrmacher, Goldarbeiter, Lithographen und
Juweliere. Centralbl. f. Aug. April 1877.
96 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Das sind also augengefährliche Berufe; von den Musikern mit 9 pCt.
kann ich dies nicht sagen.
Jedenfalls ist es bis jetzt nicht erwiesen, dass gerade das Ab-
wärtssehen der Musiker Myopie erzeugt. Weitere mit Kritik
anzustellende Prüfungen sind zur Entscheidung der Frage nöthig.
Herr Dr. E. Stern beantragt: ‚Die Section wolle zu jeder Sitzung
namentlich einladen.‘‘ — Der Antrag wird angenommen.
Sodann erfolgte die Wahl der Secretäre für die Periode 1892/93.
Es wurden gewählt die Herren Flügge, Jacobi und H. Cohn.
‘ In der zweiten Sitzung am 2. September hielt zuerst der Vor-
sitzende, Herr Sanitätsratlı Dr. Jacobi die folgende Ansprache:
M. g. H.! Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gestatten Sie
mir, Sie an den schweren Verlust zu erinnern, den unsere Section seit
ihrer letzten Sitzung erlitten hat. Die Herren Geh. Med.-Rath Prof.
Dr. Biermer und prakt. Arzt Stadtverordneter Dr. Lion sind uns durch
den Tod entrissen worden. Herr Biermer war der Gründer dieser
Seetion und ist bis kurz vor seinem Ende in ihrem Vorstande verblieben.
Er hat durch seinen reichen Geist, seine grosse Erfahrung, seinen un-
gewöhnlich klaren Blick und durch sein kerniges, oft humorvolles Wort
unsere Versammlungen in hohem Grade belebt und gefördert. Herr
Lion war ebenfalls von Beginn an ein hochgeschätztes und thätiges
Mitglied unserer Gesellschaft. Schon in der zweiten Sitzung der Section
vom 5. März 1875 hielt er einen grossen und bedeutsamen Vortrag über
die Kanalisationsfrage in Breslau und bald darauf einen nicht minder
wichtigen über die Contagienhausfrage. Er war der rührigsten Kämpfer
einer auf dem Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege in Breslau.
Ich bitte Sie, zum Zeichen ehrenden Gedenkens sich von Ihren Plätzen
zu erheben.
Es folgten sodann drei Referate
Ueber die Cholera.
Der erste der Redner, Herr Geh. Rath Prof. Dr. Ponfick, weist
auf den gewaltigen Fortschritt hin, welchen die Methoden zur Verhütung
der Cholera in der jüngsten Zeit erfahren haben. Der Grund dieses
Umschwungs liegt in der Entdeckung des Kommabacillus durch Robert
Koch im Jahre 1885 und in der dadurch gewonnenen Möglichkeit so-
fortiger Feststellung des verderblichen Charakters jedes zweifelhaften
Erkrankungsfalles. Gestützt auf die zunehmende Einsicht in die Lebens-
bedingungen des Eindringlings verdanken wir ihm aber zugleich die
Kenntniss derjenigen Mittel, welche zu dessen Fernhaltung und wenn
nöthig, Zerstörung anzuwenden sind, Leider giebt es ja auch heute noch
I. Medicinische Abtbeilung. 97
kein absolutes Vernichtungsmittel für den Schmarotzer, wenn er erst
durch unseren Mund eingedrungen ist und sich im Körperinneren durch
fabelhafte Vermehrung millionenfach vervielfältigt hat. Denn gerade die
wirksamsten der zu empfehlenden Arzneistoffe sind derart, dass sie, in
hinreichenden Dosen angewendet, unseren Organismus selber würden
schädigen müssen. Im Hinblick darauf ist die Fernhaltung der Krankheit
die oberste Aufgabe der Öffentlichen Gewalten. Aber auch jeder Einzelne
unter uns hat wichtige Pflichten zu erfüllen: nämlich sowohl in der
sanzen Lebensweise alle Gesundheitsregeln jetzt doppelt gewissenhaft zu
beobachten, als im Bereich von Haus und Hof aufs sorgfältigste darüber
zu wachen, dass sich sämmtliche Wohn- wie Nebenräume in tadellosem
Zustande befinden. Unter allen dem Kommabaeillus innewohnenden
Eigenschaften ist die Neigung, durch Austrocknen seine Wachsthumsfähig-
keit schon innerhalb weniger Stunden einzubüssen, bei längerem Mangel
an Feuchtigkeit ganz abzusterben, unstreitig die weittragendste. Denn da
er weder bei uns heimisch ist noch frei entstehen kann, sondern uns
aus seiner fernen Heimath Ostindien erst schrittweise zugeführt werden
muss, ehe er hier Schaden zu stiften im Stande ist, so bedarf das Gift
immer erneuter Berührungen mit Menschen, um sich lebenskräftig zu
erhalten. Die weiten Land- und Meeresstrecken, welche uns von Indien
trennen, sind eben allzu ausgedehnt, um das Gift, sobald es nach Aussen
gelangt, nicht auf irgend eine Weise der Vertrocknung auszusetzen.
Nicht also durch Luftströmungen oder andere unbelebte Medien, wie bei
so vielen anderen ansteckenden Krankheiten vollzieht sich hier die Aus-
breitung; sondern ganz überwiegend durch zugereiste Menschen, inner-
halb deren Körper sich das Gift ungemessen zu vermehren vermag,
während es ausserhalb desselben seine zerstörende Kraft nur für eine
beschränkte Zeit zu bewahren im Stande ist,
Im Bewusstsein dessen legen alle von den Behörden ergriffenen
Maassregeln mit Recht das Hauptgewicht auf Isolirung aller, sei es be-
fallenen, sei es verdächtigen Personen und auf die Zerstörung des Giftes
an den von ihnen unmittelbar benutzten Räumen und Gegenständen durch
eines der zahlreichen, zu diesem Zwecke verfügbaren Desinfeetionsmittel.
In zweiter Linie hat die uns umgebende Temperatur einen erheblichen,
wenngleich minder maassgebenden Einfluss auf den Fortbestand des An-
steckungsstoffes. Zwar vernichtet sogar Einfrieren die Lebensfähigkeit
des Baeillus nicht durchaus im Einklang mit der mehrfach gemachten
Erfahrung, dass herrschende Epidemien ungeachtet 20 ° Kälte (wie 1830
in Moskau) fortbestanden. Allein die Wachsthumsfähigkeit des Pilzes
bleibt doch bis zu Temperaturen von etwa 16° Wärme ungemein ge-
hemmt. Auf der anderen Seite hört der Bacillus, der bei 30—40° C.,
also gerade bei Blutwärme am üppigsten gedeiht, bei mehr als 50° C.
ganz zu wachsen auf, um bei noch höheren Steigerungen abzusterben,
es ;
>
98 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Ebensowohl durch Erhitzen in siedendem Wasser als auch im Dampf-
Desinfeetionsapparat sind wir also im Stande, alle Keime aufs vollständigste
abzutödten.
Was nun die Empfänglichkeit der einzelnen Individuen gegenüber
dem Ansteckungsstoffe anlangt, falls er trotz aller jener Vorsichtsmaass-
regeln unserem Körper ungeschwächt einverleibt wird, so kommt dabei,
abgesehen von einer gewissen persönlichen Anlage, hauptsächlich das
Wechselverhältniss in Betracht, welches sich zwischen dem Bacillus und
der chemischen Reaction der ihn in unserem Innern aufnehmenden Medien
geltend macht. Da er nämlich durch Säuren in seiner Weiterentwiekelung
beeinträchtigt, durch stärkere Concentrationen wohl selbst abgetödtet
wird, so ist es einleuchtend, dass alle Zustände unserer Verdauungs-
organe, welche, wie der Magen-Katarrh, mit einer Abnahme des normalen
Gehalts des Magensaftes an freier Salzsäure verbunden sind, die Heftig-
keit der Erkrankung steigern müssen. Denn in solchen Fällen wird der
Eindringling sofort im Magen beginnen können, eine schrankenlose Ver-
mehrung zu entfalten. Aus einem ähnlichen, nur gewissermaassen um-
gekehrten Grunde steigert eine zufällig bereits vorhandene Schwäche
des Dünndarms, wie sie mit Durchfall ausnahmslos verbunden ist, aber
auch bei anderen länger bestehenden Darmleiden nicht fehlt, die Gefahr
der Ansteckung. Denn die Ausschwitzungen, welche bei solchen Patienten
in die Liehtung des Darmes ergossen werden, bilden den denkbar
trefflicnsten Nährboden für die Schmarotzer und zeitigen somit in un-
glaublich kurzer Frist endlose Generationen neuer Mikroorganismen. Mit
Rücksicht hierauf ist es in Zeiten drohender Cholera ein dringendes
Gebot, die Verdauungsorgane aufs sorgsamste zu schonen, indem man
mässig und geregelt lebt und nur leicht verdauliche Speisen zu sich
nimmt. Nicht minder verständlich wird aber die Mahnung sein, dass in
solcher Zeit jede, auch die leichteste „Verstimmung‘‘ des Magens oder
Darmes ernste Aufmerksamkeit und sofortige ärztliche Behandlung
verdient.
Hierauf sprach Herr Privatdocent Dr. Bitter:
Die Verbreitung der Cholera findet bekanntlich dadurch statt, dass
durch mit Cholera behaftete Personen oder mit bacillenhaltigen Dejectionen
beschmutzte Wäschestücke oder sonstige Gegenstände das Infeetions-
material von Ort zu Ort getragen wird. Aber nicht an jedem Orte, an
welchen ein Cholerakranker gelangt, kommt es zum Ausbruche einer
Epidemie. Bei den mannigfachen Zügen der Cholera über Europa sind
viele Städte bis jetzt ganz verschont geblieben, andere nur in geringem
Umfange befallen, während in der nächsten Nachbarschaft oft die Cholera
in bedeutendem Maasse wüthete. Die Beobachtung derartiger örtlicher
Differenzen in der Verbreitung der Cholera sowie auch anderer epidemisch
auftretender Infectionskrankheiten hat zur Aufstellung des Begriffes der
I. Medicinische Abtheilung. 99
örtlichen Disposition geführt. Es sollten gewisse locale Verhältnisse den
einen Ort geeignet zur Ausbreitung der Seuche machen, an andern sollten
entgegengesetzte Verhältnisse die Ausbreitung verhindern. Von Petten-
kofer ist als hauptsächlich in dieser Richtung wirksames Moment der
Boden bezeichnet worden. Auf felsigen und lehmigen Grund gebaute
Städte sollten immun sein, dagegen die auf porösem Boden angelegten
Städte eine besondere Empfänglichkeit zeigen. Die Anhänger dieser
Theorie, die sogenannten Localisten, stellen sich das Zustandekommen
einer Infeetion bei epidemischen Krankheiten so vor, dass die von Kranken
abgeschiedenen Infectionserreger nicht im Stande sind, direet einen Ge-
sunden zu infieiren, sondern dass sie zu dem Zwecke erst einen Reifungs-
process im Boden durchmachen müssen. Dieser Reifungsprocess finde in
den tieferen Bodenschichten und besonders in Bodenschichten statt, welche
stark mit organischen Substanzen imprägnirt seien. Dem Hineingelangen
von Cholerabacterien in die Tiefe sowohl als auch der Imprägnirung mit
organischer Substanz biete aber der poröse Boden weit günstigere Chancen
als der feste, speciell der Felsboden. Abgesehen nun davon, dass nicht
alle bisher an Choleraepidemien immun gebliebenen Städte auf undurch-
lässigem Boden liegen, dass ferner eine ganze Reihe von auf Felsboden
gebauten Städten, speciell in Indien, von ausgedehnten und wiederholten
Choleraepidemien heimgesucht wurden, lässt sich auch aus den uns
bekannten Lebenseigenschaften des Koch’schen Cholerabaeillus die Un-
haltbarkeit der Bodentheorie beweisen. Wenn thatsächlich Cholera-
Dejectionen in den Boden gelangen, so können sich die Bacillen hier
nicht vermehren. Dazu fehlt es ihnen an dem nöthigen Nährmaterial
und oft auch an der nöthigen Temperatur, Und selbst wenn Nährmaterial
vorhanden wäre, so würde doch die Coneurrenz der überall vorhandenen
und wuchernden Fäulnissbacterien die Vermehrung unmöglich machen.
Diese Concurrenz der Fäulnissbaeterien wirkt sogar schon einer längeren
Conservirung der Cholerabaeillen im Boden hindernd entgegen. Aber
selbst angenommen, die Erreger der Cholera könnten im Boden wachsen
oder sich längere Zeit conserviren (also den Pettenkofer’schen Reifungs-
process durchmachen), so bleibt noch zu erklären, wie sie vom Boden
aus wieder eine Infection bewirken sollen.
Da es als festgestellt betrachtet werden kann, dass die Infeetion
nur durch den Mund erfolgt, so müssten die Bacillen aus dem Boden
zum Munde gelangen. Die in dieser Beziehung zu Gebote stehenden
Transportwege sind aber sehr beschränkt. Direete Berührung wird wohl
nur in seltenen Fällen in Frage kommen. Für eine ausgedehnte Infeetion
zahlreicher Menschen, wie sie bei einer Epidemie vorkommt, müsste
man, wie es die Localisten zum Theil thun, annehmen, aass die Bacillen
dureh Luftströmungen aus dem Boden heraus und mit der Athmungsluft
in den Menschen gelangten.
7*
100 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Aber gerade auf diesem Wege ist ein Transport der Cholerakeime
so gut wie unmöglich. Den Uebergang in die Luft verhütet die enorme
Empfindlichkeit des Cholerabaeillus gegen das Austrocknen. Um in die
Luft zu gelangen, müsste der Baecillus absolut trocken sein, denn nur
trockenes, staubförmiges Material kann durch Luftströmungen fortgeführt
werden; das ist durch zahlreiche Experimente als sicher festgestellt zu
betrachten. Der trockene Cholerabaeillus aber ist nicht mehr lebens-
fähig. Man kann nach dem eben Ausgeführten mit Sicherheit sagen,
dass die Bodentheorie im Sinne der Localisten zur Erklärung der örtlichen
Disposition völlig unhaltbar ist. Die örtlichen Differenzen erklären sich
vielmehr einestheils aus Verschiedenheiten, welche in den Städten in
Bezug auf allgemeine Reinlichkeit, auf Lebensgewohnheiten, auf Bezug
von Trinkwasser, Nahrungsmitteln ete. bestehen, theils auch aus Zufällig-
keiten, welche in mannigfacher Weise wirksam sein können. Hinsichtlich
der Lebensgewohnheiten bieten die in Indien lebenden Engländer ein
typisches Beipiel.e. Während beim Wüthen der Epidemien in Bombay
und Caleutta die Eingeborenen zahlreich der Seuche zum Opfer fallen,
weil sie unreinlich sind und in der Wahl ihres Trinkwassers und ihrer
Nahrungsmittel nicht genügend sorgsam sein können, bleiben die überaus
reinlichen Engländer, welche alle ihre Nahrungsmittel nur gekocht ge-
niessen und auf gutes Trinkwasser halten, meist von der Seuche ver-
schont. Es liessen sich leicht noch mehrere derartige Beispiele anführen.
Es soll zum Schluss noch mit einigen Worten eines Mediums ge-
dacht werden, welches auf die epidemische Ausbreitung der Cholera
von grossem Einfluss sein kann, des Trinkwassers. Dass dieses eine
bedeutende Rolle bei der epidemischen Ausbreitung der Seuche spielt,
ist nicht zu bezweifeln und durch zahlreiche Beispiele (z. B. Caleutta)
als sicher erwiesen zu betrachten. Zwar vermögen sich die Cholera-
bacillen im allgemeinen im Wasser nicht zu vermehren, aber sie können
sich längere Zeit darin lebensfähig erhalten. Es muss aber auch darauf
hingewiesen werden, dass die Gefahr, welche das Wasser bietet, viel-
fach überschätzt wird. Die Gefahr ist einzig und allein gegeben durch
die Möglichkeit, dass Cholerabacillen in die Brunnen oder in das Leitungs-
wasser gelangen. Das kann aber nur geschehen bei mangelhaften
Brunnenanlagen oder bei schlechten Flusswasserleitungen (Entnahme des
Wassers aus von den Anwohnern verunreinigten Flüssen, eventuell noch
ohne Filtration). Gut angelegte und absolut dicht bedeckte Brunnen
bieten keine Gefahr, denn die Vorstellung, dass die Bacillen durch den
gewachsenen Boden ins Grundwasser gelangen, muss auf Grund unserer
Versuche über die Filtrationskraft des Bodens als unhaltbar aufgegeben
werden. Bei Flusswasserleitungen, auch solchen mit guter Filtration,
ist die Gefahr nie ganz ausgeschlossen, da in den Fluss immer einmal
Cholerabacillen gelangen können, und auch die besten Sandfilter diese
I, Medieinische Abtheilung. 101
nicht immer sicher zurückhalten. Man wird daher gut thun, das Wasser
aus Flusswasserleitungen in Epidemiezeiten vor dem Gebrauch zu kochen.
Als dritter Referent sprach Herr San.-Rath Dr. Jacobi:
Die jetzt herrschende Pandemie der Cholera ist der sechste Zug
der Seuche aus ihrer indischen Heimath nach Europa. Während die
vierte und fünfte den Seeweg über Aegypten nahm und in die Häfen
des Mittelmeeres einfiel, ist die Cholera dieses Mal wieder die alte
Strasse über Persien und das Caspische Meer nach Süd-Russland gekommen,
Sie war 1886 zum letzten Male in Europa, 1874 zum letzten Male in
Deutschland, mit Ausnahme einer kleinen Epidemie mit 14 Todesfällen
in den Dörfern Gonsenheim und Finten bei Mainz und eines zugereisten
Kranken in Breslau, beides im Jahre 1886. Im Frühjahr 1892 entbrannte
im nördlichen Indien eine ausserordentlich heftige Epidemie, der in
Britisch-Indien mindestens 20000 Personen erlegen sind. Ueber Kaschmir
verbreitete sich die Seuche dann durch Afghanistan nach Persien, durch-
brach die russische Grenzsperre, gelangte an die Ostküste des Caspischen
Meeres und schon im Juni zu Schiffe nach dem verkehrsreichen Baku.
Von hier kam sie mit der transkaukasischen Eisenbahn nach Tiflis und
an das Schwarze Meer und auf dem Seewege zur Wolga, die sie auf-
wärts über Astrachan, Ssaratow, Ssamara, Kasan bis Nishnij-Nowgorod
verfolgte. Vom Schwarzen Meere aus drang sie in das Gebiet des Don
ein, wo sie besonders heftig hauste, und in das Gebiet des Dniepr. Im
August kamen schon in Moskau einige Erkrankungsfälle vor, doch mehr
entfaltete sich die Seuche in der Umgebung dieser Stadt. Bald hörte
man auch von Fällen in St. Petersburg, Kronstadt und Mitte des Monats
in der finnischen Hafenstadt Wiborg. Inzwischen hatte sich auch im
Westen Europas, in der Umgebung von Paris, seit dem Mai eine auf-
fällige Zahl choleraähnlicher Erkrankungen gezeigt. Bis zum 20. Juli
berichtete man von 587 Erkrankungen mit 323 Todesfällen. Allmählich
musste zugestanden werden, dass es sich hier vielfach um wirkliche
Cholera handelte. Le Havre hatte am 18. August 12 Erkrankungen, am
28. August 60 Erkrankungen mit 24 Todesfällen. Auch in Antwerpen
und Amsterdam zeigte sich der böse Gast.
Trotzdem waren wir bis Mitte August verhältnissmässig wenig
beunruhigt. War doch auch in den Jahren 1884, 1885 und 1886 Deutsch-
land fast vollständig freigeblieben, während grosse Epidemien in Italien,
Spanien und Frankreich wütheten. Da wurden wir furchtbar überrascht,
als in Hamburg mit rapidem Anwachsen eine grosse Epidemie aufloderte.
Die Zahlen werden verschieden angegeben; nach einem Berichte stieg
die Zahl der Erkrankungen am Tage bis auf 806 am 27. August, nach
einem anderen nur bis auf 515 am 26. August, die Zahl der Todesfälle
am Tage bis auf 261 am 26. August. Zum Vergleiche führe ich an,
dass in Breslau mit seinen 169000 Einwohnern die grosse Cholera-
102 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Epidemie des Jahres 1866 im ganzen August 3792 Erkrankungen brachte,
und am schlimmsten Tage, dem 11. August, 229 neue Erkrankungen und
172 Todesfälle gemeldet wurden. Hamburg mit seinen Vororten hat
bekanntlich mehr als eine halbe Million Einwohner. Man nimmt an,
dass in Hamburg am 16. August bereits Cholerafälle vorgekommen sind;
die amtliche Feststellung erfolgte am 19. August, am gleichen Tage auch
in Altona. Von Hamburg und Altona sind Funken über ganz Nord-
deutschland geflogen, glücklicherweise ohne bis jetzt gezündet zu haben.
Diese Hamburgische Epidemie hat nun nicht bloss in Hamburg, sondern
weit darüber hinaus eine grosse Panik veranlasst. Man hatte dergleichen
in einer deutschen Stadt nicht mehr für möglich gehalten. Wir wollen
auf die Sanitätsverwaltung Hamburgs keinen Stein werfen, vielmehr ab-
warten, was wissenschaftliche Nachforschungen ergeben werden. Aber
die Ueberzeugung muss vorläufig unerschüttert bleiben, dass eine so be-
deutende Cholera- Epidemie nicht mehr möglich ist, wo eine moderne
hygienische Cultur besteht, d. h. gesundheitsgemässe Einrichtungen und
saubere Lebensgewohnheiten. Mit Recht sagt Pettenkofer und sagen die
Engländer, die beste Prophylaxe gegen die Cholera ist, einen Ort für
Cholera immun zu machen. Hat doch Altona, eine Stadt von 143000 Ein-
wohnern, trotz seiner Nähe und Lage unterhalb Hamburg, bis jetzt
höchstens 27 Erkrankungen am Tage gehabt. Wir dürfen daher hoffen,
dass auch unsere Stadt, selbst wenn die Seuche hier Fuss fassen
sollte, keine bedeutende Epidemie erleiden wird. Breslau hat sich ge-
sundheitlich seit 1866/67 ausserordentlich entwickelt. Ich weise hier
auf die Kanalisation, die in den 60er Jahren begann, das Wasserhebe-
werk, das 1871 eröffnet wurde, und ferner auf die bedeutende Besserung
der Wohnungsverhältnisse hin. Die Cholera-Epidemie von 1873 hat hier
nur 58 Erkrankungen veranlasst. Die ungewöhnliche Hitze der letzten
Wochen hat allerdings die Zahl der Todesfälle in Folge von acutem
Magendarmkatarrh und Brechdurchfall, wie das gewöhnlich ist, gesteigert,
aber nur ein Erwachsener ist in Folge von Brechdurchfall gestorben.
Sorgfältigste Untersuchungen stellten fest, dass in keinem dieser Fälle
bisher Cholerabacillen vorhanden waren.
Indessen wäre dieser Optimismus Leichtsinn, wenn er die Vornahme
energischer Schutzmaassregeln hemmte. Es sind solche bei uns bereits
in weitgehender Weise theils ausgeführt, theils vorbereitet. Ich will
hierauf nicht eingehen, sondern nur in zwei Punkten übertriebene Vor-
stellungen auf ein richtigeres Maass zurückzuführen versuchen. Es be-
trifft dies die Zahl der nothwendigen Krankenbetten in den Cholera-
Hospitälern und die Zahl der Transportmittel für Cholerakranke. Eine
gewisse Schätzung des Bedürfnisses ist hier wohl möglich. Nehmen wir
an, wir haben eine so grosse Epidemie zu erwarten, wie die von 1866,
was ja höchst unwahrscheinlich ist, so würde, da Breslau damals halb
I. Medieinische Abtheilung. 103
so gross war wie heute, die Zahl der Kranken jetzt ungefähr doppelt
so gross sein wie damals. Wir hatten 1866 drei Cholera-Hospitäler,
und zwar zwei Miethshäuser und eine Holzbaracke, zusammen mit
230 Betten. Es wird in den Berichten nirgends angedeutet, dass diese
Zahl nicht genügt habe, es ist auch bei der langen Dauer der Epidemie
zweifellos, dass im Falle des Bedarfs noch mehr Betten beschafft worden
wären. Demgemäss würden wir heute mit 460 Betten selbst für eine
grosse Epidemie genügend ausgerüstet sein. Es darf ja nicht übersehen
werden, dass von den Erkrankten nur ein Theil, 1866 etwas mehr als
der dritte Theil, in das Krankenhaus kommt. Selbst Berlin hat zunächst
nur 300 Betten bereit gestellt und für den Nothfall 800 in Aussicht
genommen. Ferner erkrankten 1866 am bösesten Tage 229 Personen,
das wären jetzt 458, und würde hiervon selbst die Hälfte in das Hospital
gefahren, so sind dazu höchstens 22 Krankenwagen nothwendig, da jeder
Wagen am Tage zehn Abholungen besorgen kann. Berlin hat sich
zunächst nur 12 und für den Nothfall 48 Krankenwagen gesichert.
Hieran knüpfte sich folgende Discussion:
Herr Polizei-Präsident Dr. Bienko:
Wenn ich mir nach den drei wissenschaftlichen Vorträgen der
Herren Vorredner erlaube, vor dieser hochansehnlichen Versammlung das
Wort zu ergreifen, so hat dies in einem besonderen Umstande seine
Veranlassung. Es ist während der letzten Tage von verschiedenen Seiten
eine gewisse Beunruhigung in die Bevölkerung hineingetragen worden
dadurch, dass die Maassnahmen der Behörden gegenüber der drohenden
Choleragefahr als äusserst mangelhaft und unzureichend dargestellt worden
sind. Es liegt uns fern, derartige Angriffe hier polemisch zu kritisiren;
es würde dies auch hier nicht der geeignete Ort sein. Es richtet sich
ein solches Vorgehen, das mit einem werkthätigen Interesse für das
öffentliche Wohl nichts gemein hat, selbst und wird von dem einsichts-
vollen Theile der Bevölkerung bald durchschaut und auf seinen wahren
Werth zurückgeführt werden. Immerhin bleibt leider die bedauerliche
_ Thatsache bestehen, dass die abfälligen Urtheile über die hiesigen behörd-
lichen Maassnahmen, die sogar telegraphisch den auswärtigen Blättern
übermittelt worden sind, merkliche Beunruhigungen des Publikums her.
beigeführt haben, und es dürfte daher erwünscht sein, wenn ich in einer
so zahlreichen Versammlung wie die heutige über die von den zu-
ständigen Behörden getroffenen Maassnahmen kurz Bericht erstatte. Die
sanitätspolizeiliche Thätigkeit muss sich vorwiegend nach drei Richtungen
bewegen: 1. Der Einschleppung der Seuche von auswärts
muss vorgebeugt werden. Unsere Wasser- und Wohnungsverhält-
nisse sind nicht ungünstig. Es ist mithin nicht wahrscheinlich, dass die
Cholera hier spontan ausbrechen sollte, ohne von aussen eingeschleppt
104 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
zu sein. Um letzteres zu verhüten, sind seit geraumer Zeit auf den
Bahnhöfen die allereinschneidendsten Control- und Absperrungsmaass-
regeln getroffen worden. Für Aerzte und Desinfectoren ist auf den drei
bier in Betracht kommenden Bahnhöfen gesorgt. Alle von Hamburg
kommenden Personen, deren Zahl übrigens erheblich grösser ist, als man
glaubt — es handelt sich mitunter um mehrere hundert Personen —
werden sorgfältig ärztlich untersucht, desinfieirt und bis zur Weiterfahrt
vollständig isolirt. Die Endstationen werden telegraphisch von dem
Eintreffen der Weiterreisenden benachrichtigt. Hier in Breslau sind von
den aus Hamburg direct Angelangten bisher nur wenige — etwa 16
bis 18 — verblieben. Diese sind natürlich als die gefährlichsten Elemente
zu betrachten. Ihre Personalien sowie ihr Verbleib werden aufs Ge-
naueste festgestellt, die ärztliche Untersuchung und Desinfection bezüglich
ihrer wird mit besonderer Sorgfalt vorgenommen. Die Revier-Com-
missariate werden sofort angewiesen, das Eintreffen zu constatiren und
die Eingetroffenen dauernd unter der strengsten Controle zu halten. Um
die Verhandlungen mit den Betreffenden auf den Bahnhöfen möglichst zu
beschleunigen, habe ich neuerdings die hierzu geeigneten Formulare
drucken lassen. Bisher ist irgend ein Krankheitsfall bei einem der Ham-
burger Ankömmlinge nicht vorgekommen. 2. Eine besondere Für-
sorge muss der Reinhaltung und Desinficeirung der Grund-
stücke zugewendet werden. Es ist dies in einer so grossen Stadt
wie Breslau einer der schwierigsten Punkte, Aber es ist schon vor
vielen Wochen demselben die vollste Aufmerksamkeit zugewendet worden.
Ich habe den strieten Befehl gegeben, dass die Polizeicommissarien und
Revierschutzleute sich in allererster Linie der Controle der Salubrität
der Grundstücke widmen, und dass alle anderen nicht dringenden Dienst-
geschäfte bis auf weiteres ruhen sollen. Sehr bald nach meiner vor
zehn Tagen erfolgten Rückkehr habe ich zu diesem Zweck eine beson-
dere Colonne unter einem Polizei-Commissarius eingerichtet, die die
Pflicht hat, diejenigen Grundstücke, welche als Stätten der Unsauberkeit
und des Schmutzes bekannt sind, unablässig zu revidiren und unverzüglich
eventuell zwangsweise alles vorzunehmen, was zur Herstellung der Salu-
brität nöthig ist. Das Ergebniss der angedeuteten polizeilichen Thätig-
keit ist, wie ich durch zahlreiche persönliche Revisionen festgestellt
habe, durchaus günstig und erfolgreich gewesen. Immerhin wird diesem
überaus wichtigen Punkte noch. eine erweiterte Fürsorge zugewendet
werden müssen. Ich habe daher unmittelbar nach der kürzlich erfolgten
Rückkehr des Herrn Oberbürgermeisters das Nöthige in die Wege ge-
leitet, dass zehn sogenannte Special-Sanitätseommissionen nach Maassgabe
der Bestimmungen des $ 4 der Cabinetsordre vom Jahre 1835 alsbald
in Funetion treten. Eine, wie ich höre, schon in den nächsten Tagen
zusammentretende ausserordentliche Stadtverordneten - Sitzung wird die
I. Medicinische Abtheilung. 105
erforderlichen Wahlen vornehmen. Die Commissionen werden bestehen
aus je einem Polizei-Commissarius, einem Arzte, einem Apotheker und
drei bis vier von der städtischen Vertretung gewählten bürgerlichen
Mitgliedern, 3. Endlich ist von hervorragender Wichtigkeit
die Bereitstellung der erforderlichen Krankentransport-
mittel und Krankenanstalten. Ueber diese Punkte hat die am
15. August zusammengetretene Sanitäts - Commission die nöthigen Be-
schlüsse gefasst. Mit einem gewissen Wohlbehagen ist in den Blättern
eine Kritik daran geübt worden, dass Breslau zur Zeit nur drei Kranken-
wagen besitze. Dies Factum ist eben so richtig, als es unbestreitbar
ist, dass eine so kleine Zahl von Wagen für den Fall des Ausbruchs
einer Epidemie unzureichend sein würde. Es ist indess, abgesehen da-
von, dass die städtische Behörde eine Vermehrung der Wagen in Angriff
genommen hat, durch Vereinbarung mit der Militairbehörde vorgesorgt
worden, dass für den Fall eines unerwartet und plötzlich hervortretenden
Nothstandes eine beliebig grosse Zahl von Militair-Sanitätswagen aus-
hilfsweise zur Verwendung gelangen kann. Im übrigen dürfte es wohl
als unzweifelhaft bezeichnet werden können, dass in einer Stadt wie
Breslau jeden Augenblick so viele für den Transport von Kranken ge-
eignete Wagen beschafft werden können, als erforderlich erscheint. Von
der Stadtgemeinde zu verlangen, dass sie schon jetzt, wo die Wahr-
scheinlichkeit einer ganz aussergewöhnlich grossen Epidemie durchaus
nach keiner Richtung hin vorliegt, einen enormen Wagenpark aufstellt,
wird ernstlich wohl Niemandem in den Sinn kommen, der mit praktischer
Verwaltung auch nur oberflächlich vertraut ist. Die Wagenfrage darf
also zu keinerlei Besorgniss Veranlassung geben. Dass gestern bei der
Abholung eines Kranken der Wagen ohne Bett und ohne Krankenwärter
vorfuhr, ist gewiss ein höchst bedauerliches Versehen des betreffenden
Kutschers, möchte wohl aber kaum dazu angethan sein, zu einem
sensationellen Ereigniss aufgebauscht zu werden, wie es in einzelnen
Blättern leider geschehen ist. Die früher durch örtliche Verhältnisse
herbeigeführte Einrichtung, dass Wagen und Bespannung nicht auf dem-
selben Grundstücke vereinigt waren, war ja keine zweckmässige; es ist
dieselbe daher von mir auch sofort an dem ersten Tage nach meiner
Rückkehr beseitigt worden. Was die Bereitstellung der Krankenhäuser
bezw. Betten anlangt, so waren bereits am 25. v. M., wie ich persönlich
feststellte, im Wenzel Hancke’schen Krankenhause 62 Betten zur Auf-
nahme Choleraverdächtiger fix und fertig, desgleichen im Allerheiligen-
Hospital 50, zusammen also 112 Betten. In spätestens 24 Stunden
können im Wenzel Hancke’schen Krankenhause weitere 100 Betten bereit
stehen. Zwei Pavillons für Cholerakranke auf demselben Grundstücke
sind im Bau begriffen. Die unverzügliche Herstellung von zwei Holz-
baracken zu je 50 Betten auf einem städtischen Grundstück auf der
106 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Göppertstrasse ist bereits beschlossen worden. Ich wüsste deshalb nicht,
was im Augenblicke noch weiter geschehen könnte. Möchten diese Aus-
führungen dazu beitragen, die Befürchtungen, welche durch tendenziöse
Mittheilungen in der Presse hervorgerufen worden sind, als grundlos
darzustellen.
Der Schriftführer des Breslauer Aerztevereins, Herr Dr. Heinrich
Sachs, erwiderte hierauf Folgendes:
Wir alle haben Ursache, dem Herrn Polizei-Präsidenten in hohem
Grade dankbar zu sein für seine Mittheilungen. Ich hätte es nur für
wünschenswerth gehalten, dass von alledem uns nicht erst heute Kenntniss
gegeben worden wäre, sondern schon vor einer ganzen Reihe von Tagen.
Der Herr Präsident ist von den Mittheilungen der Presse ausgegangen.
Diese schlossen sich an einen Bericht an, den ich beauftragt war, über
die Sitzung des Aerztevereins den Zeitungen zu senden. Bei jener Ver-
sammlung hat es sich herausgestellt, dass nicht allein das grosse
Publikum beunruhigt war, sondern dass eine hochgradige Beunruhigung
unter den Breslauer Aerzten stattgefunden hatte, die sich durch einen
elementaren Ausdruck des Unwillens kennzeichnete, so dass ich den
Bericht noch habe bedeutend mässigen müssen, um überflüssige Be-
unruhigung fernzuhalten. Diese kam daher, dass wir von alledem nichts
erfahren hatten, was gethan worden war. Wenn vor dem Ausbruche
der Hamburger Epidemie den Behörden wären Vorwürfe gemacht worden,
so hätte vielleicht eine gewisse Enttäuschung platzgegriffen. Bei uns
liegen die Verhältnisse besser als dort. Aber wir erfuhren nichts und
konnten uns daher allen möglichen Muthmaassungen hingeben, dass hier
nicht Alles in Ordnung sei. Dazu kamen aber auch viele Beobachtungen,
die in der Versammlung vorgetragen wurden. Ich kenne zwei Personen,
die von Hamburg im Anfange dieser Woche hierher kamen, die ohne
jede Revison den Bahnhof verliessen, allerdings zweiter Klasse gefahren
waren. Vielleicht kann uns der Herr Polizei-Präsident heute Auskunft
geben, ob jetzt in allen Klassen revidirt wird. Ich gebe zu, dass in
letzter Zeit wesentliche Vorkehrungen getroffen wurden. Im Namen
der Breslauer Aerzte möchte ich bitten, dem Publikum von Allem,
was geschieht (nicht blos vom ersten sicheren Cholerafalle), möglichst
frühzeitig Kunde zu geben. Das ist das sicherste Mittel gegen die
.
Beunruhigung.
Herr Polizei-Präsident Dr. Bienko entgegnet:
Auf die eben an mich gerichtete Frage bemerke ich, dass die Unter-
suchung der aus Hamburg kommenden Reisenden auf alle Wagenklassen
ausgedehnt wird. Selbstverständlich aber beschränkt sie sich auf die-
jenigen Personen, von welchen die Polizei weiss, dass sie aus Hamburg
kommen, und es ist unausbleiblich, dass manche Reisende dadurch, dass
I. Medicinische Abtheilung. 107
sie Umwege einschlagen, sich der Controle entziehen. Bezüglich der
übrigen Ausführungen des Herrn Vorredners bemerke ich, dass zahlreiche
Mittheilungen über die Anordnungen der Behörden durch die Tages-
blätter gebracht worden sind. Wünschte der Verein Breslauer Aerzte
ganz specielle Informationen, so konnte er dieselben, da die beamteten
Aerzte Mitglieder des Vereins sind, durch diese aufs Leichteste erlangen.
Ex offiecio diesem oder anderen Vereinen über die behördlichen Maass-
nahmen orientirende Berichte zu erstatten, habe ich keine Veranlassung,
abgesehen davon, dass es mir an der hierzu nöthigen Zeit fehlen würde,
Im Uebrigen bin ich von früh bis spät bereit, Jedermann, der ein be-
rechtigtes Interesse dazu hat, Auskunft zu ertheilen, wie ich mich auch
bereit erklärt habe, jeden Vorschlag der am 29. v. M. gebildeten Aerzte-
Commission aufs Eingehendste zu prüfen und wichtigen Sitzungen der-
selben entweder selbst beizuwohnen oder meinen Decernenten zu ihnen
zu entsenden. Ich kann schliesslich aber nicht umhin, darauf hinzu-
weisen, dass trotz der angeblich so eminent dringenden Gefahr und der
angeblich so ausserordentlich mangelhaften Maassnahmen der Behörden
weder der Aerzteverein in seiner Sitzung vom 29, v. M., noch die ad
hoc gebildete Aerzte-Commission bisher irgend einen positiven Vorschlag
formulirt und mir unterbreitet hat. Die Deputation des Aerztevereins,
die mich gestern mit ihrem Besuche beehrte, hat meine directe Frage,
ob sie mir irgend welche Maassnahmen vorzuschlagen habe, mit einem
einfachen ‚‚Nein‘‘ beantwortet,
Hierauf ergriff wieder Herr Dr. Heinrich Sachs das Wort zu
folgenden Ausführungen:
Ich danke für die Bereitwilligkeit des Herrn Präsidenten. Es wäre
aber eigentlich richtig gewesen, in der Presse von selbst dem Publikum
alle Maassnahmen bekannt zu machen, ohne dazu getrieben zu sein. Da
wir trotz allen Wartens nichts erfahren haben, und da die Verhältnisse
in Hamburg uns warnten, so sind wir im Aerzteverein vorigen Montag
zusammengetreten und haben die Fragen besprochen. Dienstag wurde die
Cholera-Commission gewählt, Mittwoch hat sie getagt und vielerlei be-
rathen. Zunächst hat sie den Behörden ihre Permanenz angezeigt und
gefragt, ob diese geneigt seien, mit uns zu arbeiten. Positive Vorschläge
werden wir bald einreichen.
Herr Oberbürgermeister Bender entgegnete hierauf etwa Folgendes:
Die Organe der städtischen Behörden für diesen Fall sind wesent-
lich aus ärztlichen Sachverständigen zusammengesetzt. Die Hospital-
Commission besteht fast nur aus Aerzten und Docenten, Allerdings sind
einige verreist. Wir sind ja in den Ferien. Die Hospital-Commission
hat schon vor 5 Wochen die Beschlüsse gefasst, die der Herr Polizei-
Präsident als Punkt 3 angeführt hat, betreffend die Fürsorge für die
108 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Kranken und deren Abholung. Dies vor Allem sind die Aufgaben, wo
der Geldbeutel der Stadt in Frage kommt. Ich kann versichern, dass
durch finanzielle Bedenken, und — bei dem Nebeneinander von Magistrat
und Polizei — durch Reibereien oder Competenz-Bedenken keine Störung
eintreten wird. Die städtische Commission ist so gross, dass das, was
dort von fast 30 Herren beschlossen worden, gewiss Allgemeingut der
Oeffentlichkeit geworden ist. Ich habe mich daher gefragt, wie es
möglich war, in einer Aerzteversammlung uns zum Vorwurf zu machen,
dass wir nicht genug Transportmittel hätten. Selbst wenn wir nicht die
Wagen vom Militair hätten, so liesse sich in zwei Tagen doch eine
grosse Zahl von Wagen hier beschaffen. Es ist wenig ermuthigend für
uns, und namentlich für die unteren Organe, auf deren aufopfernden
Eifer wir jetzt besonders rechnen müssen, wenn wir fortwährend an-
gegriffen werden. Die Angriffe sind inhaltslos.. Wenn in einem Falle
von vielen der Kutscher des Transportwäagens ohne Bett vorfuhr, so be-
ruht das auf dem mangelhaften Functioniren im Anfange und auf einer
gewissen Erregung des Mannes. Die alte Vertheilung von Pferd und
Wagen in verschiedene Locale ist mit einem Federstriche zu ändern
und ist geändert. Wenn die Beschlüsse der grossen Sanitäts-Commission
vom 15. August nicht bekannt geworden sind, so liegt das eben daran,
dass wir Ferien-haben. Wenn aber der Breslauer Aerzteverein zusammen-
tritt und Kritik übt — und das Recht zur Kritik bestreite ich ihm
durchaus nicht — so darf er sich nicht dahinter verstecken, dass er
nicht weiss, was geschehen ist, In dem Berichte stand aber ganz all-
gemein: „Für hygienische Zwecke ist kein Geld in Breslau vorhanden.‘
Wenn aber neuerdings über hohe Ausgaben in der städtischen Ver-
waltung geklagt wird, so liegt der Grund eben in den riesigen Aus-
gaben auf hygienischem Gebiete; ich erinnere an die Irrenanstalt, die
Kanalisation, die Schulbauten etc. Selbstverständlich werden diese
Wünsche befriedigt, und zwar so gern als möglich. Was die Hospital-
Direetion gewünscht hat, ist immer erfüllt worden, und diese Sanitäts-
behörde besteht ja überwiegend aus Aerzten. Wir thun Alles,
was hygienisch verlangt wird; an Bagatellen sollte man daher heute
nicht kritisch anknüpfen. Das beunruhigt nur die Bevölkerung und
schwächt die Leistungsfähigkeit der ausführenden Organe. Die Be-
schlüsse, die wir fassen, jedesmal in den Zeitungen bekannt zu geben,
geht nicht an; die gestrigen Beschlüsse werden erscheinen. Wohl
nur die Ueberraschung und ein gewisser krankhafter Trieb zur
Thätigkeit hat die Ursache zu den vielen Klagen gegeben. Ich
nehme gern jeden Rath an. Was wir in den letzten Tagen
beschlossen haben, deckt sich mit dem, was wir vor 6 Wochen
vorbereiteten, 300 Cholerakranke könnten wir nöthigenfalls in drei
Stunden aufnehmen. Die einmal bestehenden amtlichen Organe sind
I. Medicinische Abtheilung. 109
für gewöhnlich eine bessere Stütze, als die ad hoc einberufenen Com-
missionen.
Nunmehr ergriff der Vorsitzende des Breslauer Aerztevereins, Herr
Dr. Theodor Körner, das Wort zu folgenden Ausführungen:
Ich hatte nicht geglaubt, dass es aus Anlass der heutigen Sitzung
zu einer solchen Debatte kommen würde, Nachdem aber der Herr
Oberbürgermeister uns Aerzten den Vorwurf gemacht hat, wir hätten
durch das Referat, welches über die Sitzung des Breslauer Aerztevereins
vom 29. v. M. allen Zeitungen gleichlautend zugegangen ist, Be-
unruhigung in die Bevölkerung getragen, und nachdem er dieses Referat
in gleiche Linie gestellt hat mit den unbegründetsten Gerüchten, die von
irgend einem Localreporter in manchen Zeitungen heutzutage abgelagert
werden, sehe ich mich doch, um diesen Vorwurf zurückzuweisen, zu
einem kurzen historischen Rückblick gezwungen. Als im Juli die
Cholera in Russland immer mehr um sich griff, hat das preussische
Ministerium in anerkennenswerthester Weise eine Belehrung verfasst
über das Wesen und die Verbreitung der Cholera und daran anknüpfend
„Rathschläge an praktische Aerzte wegen Mitwirkung an sanitären
Maassnahmen gegen die Verbreitung der Cholera.“ Und so viel war
dem Königlichen Ministerium an dieser Mitwirkung gelegen, dass es die
Öberpräsidenten beauftragte, diese Rathschläge durch die Aerztekammern
an sämmtliche Aerzte gelangen zu lassen. So hat der hier anwesende
Herr Oberpräsident durch Vermittelung des Vorsitzenden der schlesischen
Aerztekammer in vier Tagen, Dank ihrer vorzüglichen Organisation,
sämmtliche schlesischen Aerzte in den Besitz dieser Mittheilungen ge-
bracht. Als nun Anfang August die Cholera unserer Grenze immer
näher rückte, legte ich dem Vorstande des Breslauer Aerztevereins die
Frage vor, ob wir nicht öffentlich Stellung nehmen sollten. Und soweit
waren die Herren im Vorstande entfernt von der Lust, Beunruhigung in
die Bevölkerung zu tragen, dass diese Anfrage abgelehnt wurde, weil
wir glaubten, es sei von den betreffenden Behörden ja Alles geordnet
und wir würden s. Z. schon von Allem in Kenntniss gesetzt werden.
Davon, dass man am 15. August die auf einer Verordnung vom Jahre
1335 beruhende Sanitäts-Commission unter dem Vorsitz des Herrn Polizei-
Präsidenten einberufen würde, ist wohl Niemandem ausser den Be-
theiligten etwas bekannt geworden, so wenig wie von den gefassten
Beschlüssen. Da kam im letzten Drittel des August die Hamburger
Katastrophe. Das änderte mit einem Schlage die Sachlage. Hatten wir
Aerzte bis dahin alle die unzähligen vom Publikum an uns gerichteten
Anfragen in beruhigendem Sinne beantwortet, dass bei der Sorgfalt
unserer deutschen Behörden jeder etwa eingeschleppte Fall voraussicht-
lieh sogleich ermittelt, unschädlich gemacht und dadurch der Weiter-
110 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
verbreitung vorgebeugt werden würde, so mussten wir uns jetzt sagen,
nachdem in der zweitgrössten Stadt Deutschlands durch das leichtfertigste
Vertuschungs- und Vernachlässigungssystem die Krankheit verheimlicht
worden (denn, meine Herren, niemals steigt in wenigen Tagen die
Cholera von einigen eingeschleppten Fällen zu solcher Höhe, sondern
wochenlang muss sie schon dort bestanden haben), wir mussten uns jetzt
sagen, dass wir in kürzester Zeit die Krankheit auch in unseren Mauern
sehen könnten. Da hat der Herr Polizei-Präsident ganz Recht gehabt,
wenn er vorhin sagte, bei den heutigen Verkehrsverhältnissen ist eine
einigermaassen sichere Absperrung nicht mehr möglich. Jetzt also berief
ich am vorigen Montag eine Versammlung der Breslauer Aerzte, welcher
gegen 200 beiwohnten. In dieser Versammlung wandten wir uns an die
Herren Collegen, welche als beamtete Aerzte oder Mitglieder der
Sanitäts-Commission in der Lage waren, uns über die Maassnahmen der
Behörden aufzuklären, auf deren Mittheilung seitens der Behörden wir
bisher vergeblich gehofft hatten. Und da, meine Herren, wurde der so-
genannte Beunruhigungsbacillus in unsere Gemüther getragen, als wir
hörten, dass zwei Desinfectionswagen und sieben Desinfecetoren für die
Stadt Breslau vorräthig seien, dass natürlich Alles das im Bedarfsfalle
vermehrt werden würde. Ich weiss nicht, ob der Herr Oberbürgermeister
schon als erwachsener Mann eine schwere Choleraepidemie durchgemacht
hat, ich glaube es kaum, sonst würde er wissen, wie gross der Unter-
schied ist zwischen der Furcht einer Bevölkerung vor einer Epidemie
und der Angst während derselben. Eine sich fürchtende Bevölkerung
nimmt sich in Acht, befolgt die vorgeschriebenen Maassregeln, kurzum,
ist in jeder Beziehung besser daran, als eine leichtfertige. Wenn aber
die Angst da ist, da ist das ganz anders. Ich muss nochmals kurz auf
die breitgetretene Wagenfrage zurückkommen. Der Herr Oberbürger-
meister meint, wir werden in der Noth jeden Augenblick so viel Wagen
haben als wir brauchen. Ja, sollen wir Droschken nehmen? Sie Alle,
meine Herren, haben ja wohl den sehr ruhig und klar geschriebenen
Brief eines Wiener Arztes aus Hamburg welesen, den heute früh die
Schlesische Zeitung brachte, Da sehen Sie, wie in dem reichen Hamburg,
welches vor einigen Tagen eine halbe Million Mark für die Unter-
drückung der Seuche bewilligt hat, die Krauken in offenen Landauern,
welche das Publikum auf der Strasse anhält, nach den Hospitälern be-
fördert werden. Die Behörden sind scheinbar so empfindlich über ein-
zelne Punkte, welche in der damaligen Sitzung berührt wurden, aber,
meine Herren, bis heutigen Tages weiss noch kein Mensch, von wem
z. B. die Verordnung ausgegangen ist, die Häuser an der Strassenfront
mit Carbolkalk zu bestreuen. Niemand hat uns sagen können, wer das
angeordnet hat, und wenn wir da hervorheben, dass man das doch nicht
als geeignete Desinfectionsanordnung betrachten könne, wenn einfach
[. Medicinische Abtheilung. 111
die unteren Polizeiorgane den Haushältern befohlen, Carbolkalk dahin
zu streuen, so ist das, Herr Oberbürgermeister, doch gewiss nicht darum
gethan, wie Sie sagen, „den unteren Organen die Berufsfreudigkeit gerade
zu einer Zeit zu nehmen, wo sie derselben so dringend bedürfen‘,
sondern es ist eine berechtigte Kritik, andernfalls müsste man eben nur
schweigen. Und wenn der Oberbürgermeister gesprochen hat von den
vielen Betten, die für alle Fälle zur Verfügung gestellt werden könnten,
ja, meine Herren, da habe ich zweierlei zu sagen: Einmal ist die Be-
rechnung, die Herr Sanitätsrath Jacobi in seinem Vortrag aufgestellt
hat, wobei er die damaligen Verhältnisszahlen einfach mit 2 multiplicirte,
absolut unhaltbar, denn, wenn 1866 kaum ein Drittel der Erkrankten in
die Hospitäler kam, so lag das daran, dass diese Hospitäler einfach leer-
stehende neugebaute Wohnhäuser waren, sehr mangelhaft eingerichtet
und auch so nicht mehr Platz bietend. Ausserdem sind unsere vor-
hapdenen Hospitäler nicht etwa theilweise als Cholera-Hospitäler zu ver-
werthen, weil sonst erfahrungsgemäss in einem solchen von Cholera- und
anderen Kranken belegten Hospital völlig doppelte Verwaltung ein-
gerichtet werden müsste. Ich glaube, um zu schliessen, es liegen zwei
Eventualitäten vor: Entweder, wie wir Alle auch jetzt noch hoffen, wird
es zwar nicht gelingen, die Cholera völlig fern von uns zu halten, aber
durch die energisch getroffenen Maassregeln gegen die ersten Fälle wird
es gelingen, eine ausgedehnte Epidemie zu verhüten, dann haben Sie
Recht, Herr Oberbürgermeister, dann sind alle zu weitgehenden Ein-
richtungen unnöthig gewesen, oder es gelingt uns das nicht, und dann
fürchte ich, könnten wir zu spät bereuen, nicht genug gethan zu haben.
Herr Oberbürgermeister Bender erwiderte auf diese Ausführungen
etwa Folgendes:
In einer Zeit wie der jetzigen muss der ärztliche Stand sich mög-
lichst lediglich auf den Boden der Thatsachen stellen. Wenn aber dort
unter Hinweis auf alle möglichen Einzelklagen und gleichzeitig mit völlig
grundlosen Beschwerden der Zeitungen gesagt wird, wir haben für
hygienische Zwecke in der Stadtverwaltung kein Geld, so ist das ein
sehr empfindlicher und nicht durch die Thatsachen begründeter Angriff.
Sachliche Kritik werde ich stets gern annehmen, Jetzt im Augenblick
alle die Maassregeln voll ins Werk zu setzen, die im Falle einer hoch-
gradigen Epidemie nothwendig sein würden, erscheint mir nicht nöthig,
Man kann Manches, was man im Augenblicke schaffen kann, auch dem
Augenblick überlassen, wo es wirklich nothwendig sein wird.
Hierauf ergriff noch Herr Dr. Kayser das Wort. Derselbe ver-
misste in den gehörten Mittheilungen das Datum, von dem an die Des-
infeetoren, Wagen u. s. w. in genügender Zahl beschafft seien. Am
Montage habe man nur von einem Arzte auf dem Bahnhofe, zwei Wagen
112 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
und sieben Desinfeetoren gewusst. Man habe also nur bona fide ge-
handelt, und die Behörden möchten also nicht empfindlich sein.
In der zweiten Sitzung am 9. September gab Herr Prof.
Dr. Flügge
Eine Kritik der bisherigen prophylaktischen Maassnahmen gegen die
Cholera.
Redner betont von vornherein, dass er durchaus mit den vom Kaiser-
lichen Gesundheitsamte und vom preussischen Cultusministerium
empfohlenen Maassnahmen einverstanden sei; offenbar sind diese Behörden
von unseren ausgezeichnetsten Sachverständigen berathen. Viele Behörden
und städtische Verwaltungen sind aber von jenen officiell empfohlenen
Maassnahmen abgewichen oder sind weit über dieselben hinausgegangen.
Derartige locale prophylaktische Bestrebungen besonderer Art hat Redner
auf der Reise, von der er soeben zurückgekehrt ist, mehrfach beobachten
können, und diese sollen vorzugsweise im folgenden einer fachmännischen
Kritik unterworfen werden. Die prophylaktischen Maassnahmen gegen
Cholera erstrecken sich:
1. auf die Hinderung der Einschleppung des Krankheitskeims. Von
Grenzsperren und Landquarantänen ist man eigentlich zurückgekommen.
Sie helfen nur dann gründlich, wenn sie rigoros gehandhabt, d. h. wenn
auf die Flüchtlinge geschossen wird; und das ist heutzutage unzulässig.
Verfuhr man weniger streng, so stand gewöhnlich der Nutzen nicht im
Verhältniss zu dem Aufwande au Mühe und Kosten. Dennoch kommt
man angesichts eines so isolirten und intensiven Seuchenherdes, wie wir
ihn jetzt in Hamburg haben, auf den Gedanken, ob nicht doch Absperr-
maassregeln an seinen Grenzen von Nutzen sein könnten. Selbstver-
ständlich ist auch da nicht an rigorose Absperrung zu denken. Aber
recht wohl könnte das Flüchten aus der durchseuchten Stadt nach
Möglichkeit erschwert werden, und damit wäre für das umliegende Reich
schon viel gewonnen. Es ist ja in der That in keiner Weise zu recht-
fertigen, dass die reichen Leute in solcher Epidemiezeit davonlaufen,
ihre ärmeren Mitbürger die ganze Calamität allein durchmachen lassen
und dabei die gefährlichen Keime über das ganze bisher seuchenfreie
Land verstreuen. Kräftige beschränkende Maassregeln in dieser Richtung
dürften bei der Vorbereitung des angekündigten Seuchengesetzes wohl
in Erwägung zu ziehen sein. Sind die kranken und die gesunden Flücht-
linge aus dem Seuchenherd heraus, so muss man überall im Reiche An-
stalten treffen, um sich der Einschleppung zu erwehren. Vom Gesundheits-
amt ist in sehr zweckmässiger Weise angerathen, dass die Reisenden
vom Zugpersonal unauffällig beobachtet werden. Verdächtige werden
den auf zahlreichen Stationen anwesenden Aerzten vorgeführt und, falls
diese sich veranlasst sehen, den Verdacht aufrecht zu erhalten, in ein
I. Medicinische Abtheilung. 113
Isolirspital gebracht und dort ärztlich beobachtet. Kleidung und Gepäck
der Verdächtigen wird vorschriftsmässig desinfieirt, d. h. ein geschulter
Desinfeetor scheidet die Gegenstände aus, die nicht in heissen Dampf
kommen dürfen, desinfieirt diese mit Sublimat oder Carbol, entfernt die
Reste des Desinfieiens möglichst, und bringt dann die übrigen Sachen
in den Desinfeetionsofen. Ein Desinfeetor hat mit dem Gepäck eines
Einzelnen in solcher Weise ein bis zwei Stunden und mehr zu thun;
dafür tritt aber auch keine nennenswerthe Beschädigung der ÖObjecte
ein und die Abtödtung aller anhaftenden Keime ist sicher. Ergiebt die
Beobachtung des Verdächtigen innerhalb 24 Stunden keinerlei charakte-
ristische Krankheitssymptome, so erhält derselbe seine desinfieirten
Sachen zurück und wird einstweilen aus dem Spital entlassen, aber sein
Gesundheitszustand wird noch vier Tage unauffällig eontrolirt. Treten
Cholerasymptome auf, so erfolgt die Ueberführung auf die Kranken-
abtheilung, und das benutzte Bett und dessen Umgebung werden sorg-
fältig desinfieirt. Manche Städte sehen Jeden als verdächtig an, der aus
dem durchseuchten Gebiet zureist, und wenden das eben beschriebene
Verfahren auf jeden Choleraflüchtling an. An Orten, die lebhaften Ver-
kehr mit dem durchseuchten Gebiet unterhalten, erfordert das zu kost-
spielige Einrichtungen. Gewöhnlich begnügt man sich daher damit, dass
alle gesunden Reisenden, die aus einem Seuchenort kommen, polizeilich
notirt und fünf Tage lang täglich wenigstens einmal durch einen Arzt
oder Physikus auf ihren Gesundheitszustand untersucht werden. Selbst-
verständlich gelingt es der Polizeibehörde nicht, alle solehe Flüchtlinge
kennen zu lernen; wer seine Reise in geschickter Weise unterbricht,
kann sich der Controle entziehen. Die genannten Maassregeln sind durch-
aus rationell, und ihre Leistungen stehen im Verhältniss zu den Mühen
und Kosten, die sie mit sich bringen, Nun sind aber vieler Orten ganz
andere, gar nicht zu vertheidigende Maassnahmen eingeführt; vielfach
wird die Desinfection eines Theils der Reisenden oder gar aller Reisenden
und ihres ganzen Gepäcks in primitiver, oberflächlicher und völlig un-
zureichender Weise vorgenommen. Die Desinfection der Reisenden
geschieht dann entweder so, dass dieselben Chlordämpfen oder Carbol-
dämpfen eine Zeit lang ausgesetzt werden; oder sie werden mit Carbol-
lösung oder Sublimatlösung besprengt und bespritzt. Die infieirten Stellen
sitzen ja aber im wesentlichen nicht auf der äusseren Oberfläche der
Kleider, sondern auf deren innerer Seite und am Körper, und selbst die
äussere Seite der Kleider wird bei dieser Art der Desinfeetion erwiesener-
maassen durchaus ungenügend desinficirt. An einzelnen Orten werden
weiche Bürsten in Sublimatlösung eingetaucht und die Kleider mit letzterer
förmlich durchtränkt. Das ist immer noch ungenügend und setzt dabei
die so Behandelten zweifellos der Gefahr einer Vergiftung durch Sublimat
aus. Diese oberflächliche Menschendesinfection ist schon so oft lächerlich
A; 8
114 Jahresbericht der Schles. Geseilschaft für vaterl. Cultur.
gemacht; eine drastische Illustration dazu liefert das bekannte Erlebniss
Koch’s im Jahre 1885. Koch hatte damals Jie Cholera in Toulon
studirt und brachte Cholera-Reineulturen mit, die er in der inneren Rock-
tasche trug. An der schweizer Grenze wurde er desinfieirt, und zwar,
da man ihn erkannte und wusste, dass er mit Cholerakranken zu thun
gehabt hatte, mit ganz besonderer Sorgfalt. Trotzdem zeigten sich die
Kommabaeillen der Reinculturen in allen Lebenseigenschaften völlig
unversehrt. Das Gepäck wird auf einigen österreichischen Stationen
ohne weiteres in strömenden Dampf gebracht und dann total ruinirt;
man könnte es eben so gut gleich verbrennen. An anderen Stationen
werden die Koffer geöffnet und der Inhalt stark mit Sublimat imprägnirt;
daraus entsteht zweifellos Vergiftungsgefahr, während die Desinfeetion
unzureichend bleibt. An vielen Stationen durchsucht ein Arzt die ge-
öffneten Koffer, wobei er, ohne sich dazwischen zu desinfieiren, von
einem in den anderen langt; aus einigen Koffern holt er dann ein
schmutziges Hemd oder dergleichen hervor, behauptet, das sei verdächtig
und legt es einstweilen bei Seite. Die „verdächtigen‘“ Sachen werden
dann verbrannt. Das alles ist unwürdige Comödie. Derartiges war
früher zulässig, wo man gar nicht wusste, was geschehen soll und was
unsere Mittel leisten. Jetzt wissen wir aber bestimmt, dass diese Art
der Menschen- und Gepäckdesinfeetion nicht das leistet, was wir erwarten
müssen, und dann ist dieselbe in keiner Weise zu rechtfertigen. Die
betreffenden Behörden haben ja zweifellos nach dem Rath von angeblich
sachverständigen Aerzten gehandelt; aber diese Aerzte stehen dann nicht
auf dem Niveau hygienischer Ausbildung, wie wir es von solchen Be-
rathern erwarten müssen. Halte man sich nur genau an die vom
Gesundheitsamt empfohlenen Maassregeln. Diese sind consequent und
zweckentsprechend. Auch diese Maassregeln bringen ja für die Reisenden
und insbesondere für die Choleraflüchtlinge viel Unannehmlichkeiten mit
sich. Aber es schadet gar nicht, wenn eben das Flüchten aus Cholera-
orten mit Unannehmlichkeiten verbunden ist. Nur lassen sich diese viel
leichter ertragen, wenn man wenigstens weiss, dass es sich um rationelle,
die Gesunden wirklich schützende Maassregeln handelt, als wenn man
unter unwirksamen Scheinmaassregeln leiden muss.
2. Trotz aller Sperren und Controle werden hier und da Cholera-
kranke durchschlüpfen oder Flüchtlinge an bis dahin seuchefreien Orten
erkranken. Dann muss vor allem schleunigste Meldung der Erkrankung
erfolgen. Dafür ist überall gute Vorsorge getroffen. Ferner muss baldigst
constatirt werden, ob ein Fall von asiatischer Cholera vorliegt, oder ob
es sich nur um einheimischen Brechdurchfall handelt. Für die Ent-
scheidung dieser Frage ist die bacteriologische Untersuchung der Dejectionen
von grösster Wichtigkeit. Medieinalbeamte und hygienische Institute
führen dieselbe so schleunig als möglich aus, und werden dadurch nicht
I. Medieinische Abtheilung. 115
unerheblich in Anspruch genommen. $o wurden z. B. dem hiesigen
hygienischen Institut innerhalb der letzten drei Wochen 23 verdächtige
Dejeetionen eingesandt. Weiter muss dann möglichst bald Isolirung des
Erkrankten erfolgen, am besten durch Ueberführung in ein Isolirspital,
insbesondere wenn es sich um die ersten Krankheitsfälle am Orte handelt.
Es ist aber dabei wohl zu berücksichtigen, dass wir es nicht nur mit dem
Schutz der Gesunden, sondern zunächst mit der Behandlung des Kranken
zu thun haben, mit dem nicht von vornherein wie mit einem willenlosen,
todten Object umgesprungen werden soll. Womöglich soll er durch
Zureden und gütliche Vorstellungen veranlasst werden, in seine Ueber-
führung nach dem Spital zu willigen; und das wird er um so leichter
thun, je besser die Spitaleinrichtung und die Spitalpflege ist. In dieser
Beziehung ist es daher von grosser Wichtigkeit, dass für die Isolir-
spitäler reichlicher Raum, reichlichstes ärztliches und Pflegepersonal
vorgesehen wird. Der Kranke muss die Ueberzeugung haben, dass er
im Spital bessere Pflege und bessere Heilbedingungen findet als zu Hause.
Werden primitive Anlagen mit ungenügendem Personal eingerichtet, dann
entsteht eine grosse Gefahr: eine Panik vor der Ueberführung ins Lazareth.
Die Menschen fürchten, dort vernachlässigt zu werden und unter Sterbenden
und Leichen einem trostlosen Ende entgegen zu gehen; und die Folge
davon ist, dass sie möglichst die Erkrankungen verheimlichen resp, dass
dieselben erst in den spätesten Stadien event. durch die Umwohnenden
zur Meldung gelangen. Dann ist aber immer schon uncontrolirbare,
massenhafte Ausstreuung von Keimen erfolgt, und das ist es, was gerade
vorzugsweise vermieden werden muss. Es muss also im Publikum das
Vertrauen zu einer guten Hospitalbehandlung auch bei Cholerafällen er-
halten bleiben. Hierorts ist ja dafür, wie mir scheint, vorläufig genügend
gesorgt. Im Nothfall können Schulen und Turnhallen mit herangezogen
werden, die sich recht wohl in ein Choleraspital verwandeln lassen,
Iu der Richtung ist jeder Nothstand zu vermeiden, wenn nur der Anfang
der Epidemie beachtet und einer Massenverbreitung durch die Wasser-
leitung vorgebeugt wird. Nur wenn diese beiden Momente vernach-
lässigt werden, kann es zu solcher Calamität kommen wie jetzt in
Hamburg. Wohnt der Kranke so, dass er im Hause abgesperrt werden
kann, so belässt man ihn event. im Hause. Diese Möglichkeit ist auch
nach den Veröffentlichungen des Gesundheitsamtes keineswegs aus-
geschlossen. Nur müssen wir dann verlangen, dass die Absperrung und
die Desinfeetion während der Krankheit richtig durchgeführt wird, und
dafür ist es nöthig, dass ein geschulter Desinfeetor entweder fortdauernd
die Pflege übernimmt, oder die Angehörigen instruirt und von Zeit zu
Zeit controlirt. Glücklicherweise sind die Eigenthümlichkeiten des
Choleracontagiums der Art, dass die Prophylaxis leichter gelingt als bei
anderen ansteckenden Krankheiten; viel leichter als bei Pocken, Fleck-
g*+
116 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
typhus, Scharlach, weil das Contagium nicht flüchtig ist; leichter aber
auch als z. B. bei Typhus, weil das Choleracontagium das Austrocknen
nieht verträgt und nur im feuchten Zustand resp. in sichtbaren dickeren
Schiehten lebendig bleibt. Im wesentlichen haben die Pfleger nur dafür
zu sorgen, dass die Dejectionen sogleich desinfieirt werden und dass die
beschmutzte Wäsche in Desinfeetionslösung gelegt wird; die Pfleger müssen
ferner Kittel tragen und diese und ihre Hände mit Desinficientien ab-
waschen, wenn sie mit dem Kranken in Berührung waren; und insbesondere
dürfen sie die Hände nicht an den Mund resp. an Nahrungsmittel bringen
ohne gründliche Desinfection. Das alles ist gewiss nicht schwierig, und
wir sehen daher — was manchem so sehr auffällt — dass Aerzte und
Pfleger meist ganz von Ansteckung verschont bleiben. Viele glauben
daraus schliessen zu dürfen, dass die Cholera überhaupt nicht anstecke.
Das ist aber ganz falsch. Denn wir sehen, dass, wenn jene Vorsichts-
maassregeln unterlassen werden, ungeschulte Pfleger, Angehörige u. s. w.
sehr leicht angesteckt werden. Jene Maassregeln sind aber auch von
den Angehörigen leicht zu lernen. Freilich müssen die einzelnen Hand-
sriffe gezeigt, und die Ausführung muss controlirt werden. Dazu sind
eben die Desinfectoren geeignet, die auch aus anderen Gründen in grösserer
Zahl vorhanden sein müssen. Im Ganzen werden übrigens die Fälle,
wo der Kranke in der Wohnung verbleiben kann, sehr selten sein, be-
sonders hier, wo wir lauter Miethskasernen haben. In anderen Gegenden,
wo vorwiegend kleine Häuser, selbst für Arbeiter gebaut werden, lässt
sich eher davon reden.
3. Mit der Ueberführung des Kranken ist noch nicht alles geschehen,
was erforderlich ist. Zunächst müssen noch die Räume, welche der
Kranke bewohnt hatte, desinfieirt werden. Das sollte nie dem Publikum
überlassen bleiben; hier kann nur eine planvolle, sachgemässe Desinfection
durch geschulte Desinfectoren helfen. Zu dem Zwecke haben wir eine
grössere Zahl von Desinfections-Colonnen und Desinfectionsöfen. Sollte
das bei weiterer Ausdehnung der Epidemie nicht ausreichen, so müssen
wir freiwillige Desinfeetoren aufrufen. Studenten, die Mitglieder des
Rothen Kreuz-Verbandes, Feuerwehrleute würden eventuell in Aussicht
zu nehmen sein. Die Ausbildung speciell für die Desinfeetion bei Cholera
kann in wenigen Tagen geschehen. Weiter muss erwogen werden, dass
bei den Anfängen der Krankheit richtige desinfecetorische Behandlung
der Abgänge noch nicht eintritt. Die in dieser Zeit vom Kranken ab-
geschiedenen Keime müssen möglichst durch gute Einrichtungen zur Ent-
fernung der Abfallstoffe mechanisch beseitigt und der Berührung mit
Menschen entzogen werden. Unterirdische Kanäle mit rascher Fort-
schwemmung sind das beste. Aber die Leitungen müssen dicht, die
Ausgüsse in Ordnung und hinreichend an Zahl sein. Senkgruben müssen
gut gedichiet und namentlich gut gedeckt sein; am gefährlichsten sind
I. Medicinische Abtheilung. E17
alle offenen Rinnsale und stagnirende Abwasseransammlungen in Hof und
Strasse. Es ist gut, wenn alle diese Einrichtungen durch besondere
Commissionen revidirt werden. Vielfach habe ich allerdings beobachtet,
dass diese Commissionen nichts besonderes leisten, weil sie von un-
richtigen Gesichtspunkten ausgehen. Sie berücksichtigen zu sehr die
üblen Gerüche; nur diesen gehen sie nach und beseitigen dann altehr-
würdige Dreckhaufen und lassen Senkgruben räumen, denen das seit
vielen Jahren nicht passirt war, Der Gestank aber hat mit der Cholera
an sich gar nichts zu thun, und der alte Dreckhaufen- oder der alte
Senkgrubeninhalt ist nicht etwa eine Brutstätte für die Cholerabacillen,
sondern dieselben gehen darin nur schneller zu Grunde, Jene Ansamm-
lungen sind nur dann für uns von Bedeutung, wenn sie durch die auf
dem betreffenden Grundstücke geübten Methoden der Abfallentfernung
entstanden sind. Vermuthlich wird dann mit Choleradejectionen dort
ebenso verfahren werden, und auch diese werden also eben so offen und
den Menschen und Thieren zugänglich daliegen wie jener Dreck. Darin
liegt dann die Gefahr, der wir dadurch begegnen müssen, dass wir gute
unterirdische Abwege für die Abfallstoffe schaffen. Sind die aber an-
gelest, dann ist im Grunde ein alter Dreckhaufen ganz gleichgiltig. Es
ist nothwendig, das richtig auseinander zu halten, weil sonst oft das
Wichtige über dem Nebensächlichen versäumt wird; z. B, eine alte, gut
gedeckte, niemand störende Grube wird geleert, während nebenbei offene
Rinnsale, die zufällig nicht stinken, bestehen bleiben. Ferner wird bei
diesen Revisionen vielfach alles mögliche mit Desinfectionsmitteln begossen
und bestreut. Warum, ist eigentlich unverständlich. Es ist ja noch kein
Cholerakeim da, und die Desinfeetionsmittel sollen doch da nicht auf
der Lauer liegen, bis er kommt. Im richtigen Moment würde es dann
doch an ausreichender Wirkung fehlen. Oder will man die harmlosen
Fäulnisserreger abtödten? Das wäre schade ums Geld. Oder will man
die Gerüche beseitigen? Das hat zwar nichts mit der Cholera zu thun,
aber ist ja an sich sehr lobenswerth und aus anderen hygienischen
Motiven entschieden zu empfehlen. Dann aber nehme man doch
Desodorantien, die wirklich die Gerüche binden oder zerstören, und nicht
das noch schlimmer riechende Carbol. Im Ganzen wird jetzt offenbar
eine starke Vergeudung mit Desinfeetionsmitteln getrieben. Auch in den
Zeitungen wird das Publikum immer wieder zu planlosem Giessen und
Streuen von Desinfectionsmitteln aufgefordert. Fast könnte man auf die
Idee kommen, dass die Fabrikanten dahinterstecken. Jedenfalls ist diese
Vergeudung von Desinfeetionsmitteln nieht unbedenklich; sie werden
immer rarer und theurer für die Zeit, wo wir ihrer wirklich bedürfen.
Das richtigste ist jedenfalls, wenn die Desinfection so wenig als möglich
vom Publikum und so viel als möglich durch die geschulten Desinfeetoren
118 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
ausgeführt wird, die an der richtigen Stelle mit den richtigen Mengen
von Desinfeetionsmitteln vorgehen.
4. Manche Keime entziehen sich immerhin sowohl der Desinfeetion
wie der mechanischen Beseitigung. Wie können wir uns gegen diese
schützen? — Wir müssen zu hindern suchen, dass sie auf irgend einem
Wege in den Mund von gesunden Personen gelangen; denn das ist ja
der einzige Infeetionsmodus. Ein solcher Transport kann sich theils durch
direete Berührungen der Dejeetionen vollziehen. Pfleger, Wäscherinnen,
Aerzte, Desinfeetoren sind diesen Berührungen ausgesetzt, können sich
aber, wie erwähnt, bei richtiger Schulung leicht schützen. Oft geschieht
aber der Transport auf Umwegen und führt die Keime heimlich zum
Menschen; so besonders durch Vermittelung des Trinkwassers. Um
Brunnen bilden sich oft oberflächliche Rinnsale, durch welehe Abwässer
in den Brunnen gelangen. In Cholerazeiten können so Spülwässer von
Cholerawäsche, von den Gefässen, die der Kranke benutzt hatte u. s, w.
in den Brunnen gerathen; die Erreger bleiben im Wasser lange Zeit
lebendig und können von da aus zahlreiche Menschen gefährden. Revision
der Brunnen, wo sich noch solche finden, ist daher in Cholerazeiten sehr
anzurathen. Nicht etwa bedarf es der chemischen Untersuchung des
Wassers, die über die Infectionsgefahr wenig auszusagen vermag; sondern
es muss hauptsächlich die Anlage und die Umgebung des Brunnens mit
sachverständigem Blick gemustert werden. Liegt der Brunnen hoch, fern
von Gruben, ist sorgfältig gedeckt, oder handelt es sich um einen tief
reichenden eisernen Röhrenbrunnen, so ist das Wasser unverdächtig,
selbst wenn es viel Chlor und Salpetersäure enthält. Gedeckte Grund-
und Quellwasserleitungen bieten gar keine Infectionsgefahr, und die mit
solchen Anlagen versehenen Städte haben in Cholerazeiten dadurch einen
vorzüglichen Schutz gegen eine stärkere epidemische Ausbreitung der
Krankheit. Flusswasserleitungen werden dagegen leicht inficirt durch hinein-
gelangende Abwässer, durch Schiffer ete., und nur centrale Sandfiltration
kann dann einen gewissen Schutz gewähren. Dieser Schutz besteht aber
nur bei sorgfältigstem und vorsichtigem Betriebe der Filter und es ist
fortgesetzt aufzupassen und der Betrieb zu controliren, wenn solche Massen-
infeetionen wie vor drei Jahren bei der Typhusepidemie in Liegnitz oder
jetzt in Hamburg vermieden werden sollen.
Daneben können die Keime auch durch Nahrungsmittel (Milch, Grün-
kram, Fleisch etc.) Verbreitung finden, besonders wenn in der Familie
des Händlers Erkrankungen vorkommen. Bei jeder Meldung ist daher
darauf zu achten, ob der Fall ein solches Geschäft betrifft; ist es so,
dann hat sofort ein Medieinalbeamter zu revidiren, ob ausreichende Ab-
sperrmaassregeln getroffen werden können oder ob gar der Verkauf zu
sistiren ist. Das fasst auch das Gesundheitsamt in’s Auge. Aber gleich-
zeitig wird dort die Nothwendigkeit einer Entschädigung betont; und
I. Medicinische Abtheilung. 119
das ist wünschenswerth, um Verheimlichungen vorzubeugen. Vielfach
werden Leichen als eine besondere Gefahr angesehen. Das ist unrichtig,
Eingesargte oder in Tücher, die mit Carbol oder Sublimat getränkt sind,
eingehüllte Leichen verstreuen keine Keime mehr; und später gehen die
Keime bald zu Grunde. Aber der Ort, wo die Krankheit abgelaufen,
ist gefährlich und darf daher nicht vom Leichengefolge betreten werden;
und die Wohnung muss sobald als möglich desinfieirt werden, deshalb
soll die Leiche baldigst, aber ohne Ueberstürzung, nach der Leichenhalle
gebracht werden. Von da kann das Begräbniss selbstverständlich in
einfachster, aber durchaus in sonst üblicher Weise erfolgen. Für Ein-
führung der Feuerbestattung sprechen nebenbei gesagt hygienische Motive
durchaus nicht.
5. Kommt noch die Disposition des Einzelnen in Betracht, die durch
Regelung der Lebensweise etc. bekämpft werden kann. In dieser
Richtung hat das Gesundheitsamt sehr praktische Anleitungen gegeben,
denen nichts hinzuzufügen ist. Im Ganzen braucht uns die Cholera nicht
mehr als so schreckliches Gespenst zu erscheinen, wenn wir nur uns
nach allen Seiten hin gut vorbereiten und dabei im Publikum das Ver-
trauen zu erhalten wissen, dass die Behörden und Aerzte für eine humane
Behandlung der Erkrankten und für einen kräftigen Schutz der Gesunden
Sorge tragen werden. Hinweise auf frühere Epidemien brauchen uns
nicht zu schrecken. Durch die Entdeckung des Krankheitserregers, durch
die Erkenntniss seiner Lebenseigenschaften und durch die epidemiologischen
Erfahrungen, die sich mit jener Erkenntniss decken, sind wir der Cholera
gegenüber in einer völlig veränderten Situation. Früher lebten wir unter
der Herrschaft jener eigenthümlichen Anschauungen, wonach die Cholera
nicht ansteckend sein und nie durch Wasser übertragen werden sollte,
wonach Sperrmaassregeln und Desinfection überflüssig sein und nur
geheimnissvolle Bodeneinflüsse die Ausbreitung der Cholera beherrschen
sollten. Jetzt wissen wir dagegen mit Bestimmtheit, dass wir es mit
einer contagiösen Krankheit zu thun haben, wir wissen, wo wir die
Infeetionsquellen und die Transportwege für die Keime zu suchen haben,
und kennen die Mittel, um jene zu vernichten und diese abzuschneiden,
Alle Maassnahmen werden jetzt einmüthig nach diesem selben Plane in
ganz Deutschland und auch in den angrenzenden Ländern durchgeführt,
und deshalb ist wohl zu hoffen, dass die Epidemie nicht annähernd
mehr die allgemeine Ausbreitung erfahren wird wie früher. Nur auf-
passen, vorsorgen und die Anfänge der Epidemie beachten müssen wir;
und dass dazu in unserer Stadt seitens unserer Behörden alles Erforder-
liche geschieht, dazu dürfen wir volles Vertrauen haben.
An den Vortrag schloss sich folgende Discussion an:
Herr Prof. Dr. Hirt hält nach den Ausführungen des Vortragenden
die Desinfeetion der Reisenden auf den Bahnhöfen nicht nur für über-
120 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
flüssig, sondern sogar direct für schädlich, weil sie in dem Desinfieirten
und im Publikum den Gedanken erwecke, dass derjenige, welcher auf
dem Bahnhofe desinfieirt worden, nun auch wirklich keinen Ansteckungs-
stoff mehr übertragen könne. Das sei durchaus irrthümlich. Die Des-
infeetion eines bekleideten Menschen nütze gar nichts, das Besprengen
nnd Begiessen mit Sublimatlösung gewähre wenig oder gar keinen Schutz,
und man könne für sicher halten, dass derjenige, welcher mit keim-
und lebensfähigen Bacillen in das Desinfectionslocal gekommen sei, das-
selbe mit eben denselben keim- und lebensfähigen Bacillen wieder ver-
lasse. Nach der Ansicht des Redners genügt es nicht, Leute, die aus
verseuchten Orten kommen, zu desinficiren und sie dann zu entlassen,
event. in Wohnungen, die notirt wurden, um sie zu überwachen, sondern
man müsste sie überhaupt verhindern, die ihnen etwa anhaftenden An-
steckungsstoffe weiter zu tragen. Und dies sei einzig und allein mög-
lich, wenn man sie in eigens dazu bestimmte Räume brächte und hier
zwei bis drei Tage unter ärztlicher Beobachtung hielte, dergestallt, dass
jeder Verkehr mit der Aussenwelt abgesperrt würde. Nur eine solche
(Quarantäne, die eine so grosse Commune wie Breslau für Leute, die
authentisch aus durchseuchten Orten zugereist kämen, leicht errichten
könnte, gewähre einigermaassen Schutz gegen die Einschleppung. Voll-
ständig könne dieser Schutz auch dadurch nicht erreicht werden, weil
noch hundert andere Wege für Uebertragung von Cholerakeimen (durch
Packete, Waaren etc.) offen blieben. |
Hierauf führte Herr Prof. Dr. Rosenbach folgendes aus: Der eben
gehörte Vortrag war nach mehreren Richtungen hin sehr lehrreich, denn
er zeigt, wohin wir steuern, wenn sich die heut geltenden wissenschaft-
lichen Theorien noch weiter in Thaten umsetzen sollten; er zeigt ferner
klar die Widersprüche zwischen Theorie und Praxis. Auf die Schwierig-
keiten, die sich bei Aufstellung und Ausführung der theoretischen For-
derungen ergeben, vermag nichts ein besseres Licht zu werfen, als der
Vorschlag des Herrn Vortragenden, zwischen den Gesunden und Ver-
dächtigen, die aus einem Seuchenherde kommen, in der sanitätspolizei-
lichen Behandlung einen Unterschied zu machen und, wenn ich recht ver-
standen habe, von der gewöhnlichen Desinfeetion Gesunder ganz Abstand
zu nehmen. Einen Punkt des Vortrages begrüsse ich allerdings mit Dank,
nämlich die Aufforderung, der drohenden Gefahr ruhig entgegenzusehen,
obwohl ich der Ansicht, dass uns diese Beruhigung auf Grund der Ent-
deekung des Kommabaeillus und der dadurch ermöglichten Maassnahmen
erwachse, nicht zu theilen im Stande bin. Ich glaube vor allem, dass
die Forderungen, welche die heutige Hygiene bei den sogenannten an-
steckenden Krankheiten stellt, die Tugend der Nächstenliebe und Huma-
nität in einer mehr als schroffen Weise vernachlässigen und Eingriffe in
die persönliche Freiheit verlangen und ausführen, wie sie schlimmer nicht
I. Medicinische Abtheilung. 121
gedacht werden können. Auch wenn man überzeugt ist, dass der Einzelne
der Gesammtheit Opfer zu bringen habe, so muss man es auf’s Tiefste
bedauern, wenn man die im angeblichen Interesse der noch nicht ver-
seuchten Orte getroffenen Schutz- und Abwehrmaassregeln betrachtet.
Man verweigert allen Flüchtlingen, sogar gesunden Personen, die Gast-
freundschaft, man zwingt Leute, kranke und gesunde, ihre Wohnungen
zu verlassen und sich Proceduren auszusetzen, die selbst für den An-
hänger der Desinfeetion übertrieben und vor allem nutzlos erscheinen
müssen. Man hat die Furcht vor Ansteckung eben auf Grund der so-
genannten Bacillentheorie so übertrieben, dass sich bereits überall die
Folgen dieser Furcht in unliebsamer Weite bemerklich machen. Doch
ich will über diesen Punkt nicht weiter sprechen. Jeder versetze sich
nur selbst in Situationen, wie sie von den Zeitungen so drastisch ge-
schildert werden, und er wird vielleicht vor der Härte der Forderungen
der modernen Gesundheitswissenschaft zurückschrecken. Welches sind
denn die Consequenzen der heutigen Theorien? Da der Bacillus in
Feuchtigkeit gedeiht, so kann er überall haften, und jeder aus einem aAer-
dächtigen Orte Kommende, er mag gesund oder krank sein, ist darum
verdächtig, Träger der Ansteckung zu sein, denn er kann ja an sich,
auf sich oder in sich die Erreger der Krankheit tragen. Daraus folgt
eigentlich, dass auch der Gesunde so lange gereinigt und desinfieirt
werden muss, bis jede Furcht vor Uebertragung geschwunden ist. Doch
weiss eigentlich Niemand zu sagen, wie lange diese Ansteckungsmöglich.
keit dauern kann. Da z. B. in einem aus Berlin berichteten, tödtlich
verlaufenen Falle, der den Zusammeuhang der Erkrankung mit einer In-
fection in Hamburg beweisen soll, nach meiner Rechnung die Symptome
der Erkrankung mindestens sechs Tage ganz verborgen geblieben
sind, so müsste eine strenge Quarantäne von mindestens sieben Tagen
für alle aus einem verdächtigen Orte kommenden Personen angeordnet
werden, denn auch der Gesunde kann ja, wie erwähnt, in sich oder auf
sich bereits den Keim tragen. Diese Consequenzen mag aber auch der
Herr Vortragende nicht ziehen und er macht deshalb einen strengen
Unterschied zwischen Verdächtigen und Gesunden; bei diesen hält er die
bis jetzt angewendete oberflächliche Desinfecetion, wenn ich recht ver-
standen habe, für ganz unnütz, während er die Verdächtigen einer Iso-
lirung und energischen Desinfecetion des Körpers, nicht blos der Kleider,
unterziehen will. Das ist der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis;
denn sind die Bacterien die Ursache, dann muss die Quarantäne eben bei
Gesunden und Kranken mit aller Strenge gehandhabt werden, wie dies
meines Wissens nur im Orient und in den überseeischen Häfen geschieht.
Wenn also die bisher gehandhabten, von dem Herrn Vortragenden in
ihrer Unzulänglichkeit so drastisch geschilderten, desinfeetorischen Maass-
nahmen bezüglich der Kleidung und des Gepäcks nichts helfen, wenn ein
122 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
anscheinend Gesunder in sich und auf seinem Körper die Bacillen ver-
schleppen kann, so ist es unzweifelhaft, dass trotz aller Maassregeln, und
da zudem doch genug Personen der Desinfeetion überhaupt entgehen,
Krankeitserreger eigentlich in grossen Massen bereits verschleppt sein
müssten. Da Hamburg ein Seucheherd ist, da Bacillen so leicht au-
zunehmen und zu übertragen sind, so wäre es doch höchst wunderbar,
wenn nur die wenigen wirklich Erkrankten Träger des Contagiums ge-
wesen wären. Da wir aber bis jetzt glücklicherweise bei uns weder von
Endemien noch von Epidemien etwas gehört haben, so liegt vielleicht
der Schluss nahe, dass entweder die Bacillen nur von Kranken verschleppt
werden, oder dass überhaupt die Bacillen nicht die einzige oder wesent-
liche Ursache der Erkrankung sein können. Jedenfalls ist die Ansicht,
dass sie ausschliesslich die Ursache einer Epidemie seien, bisher nicht
gestützt worden. Wenn wir uns rühmen, durch unsere Maassnahmen,
eben weil wir jeden einzelnen Fall unterdrücken konnten, auch die
Weiterverbreitung zur Epidemie verhindert zu haben, so machen wir
uns einer vielleicht verzeihlichen, aber doch immerhin falschen Schluss-
folgerung schuldig. Nicht weil wir ein paar Menschen isolirt und einen
Bruchtheil aller in Betracht kommenden desinfieirt haben, sind wir von
der Cholera verschont geblieben, sondern weil bei uns die wesentlichen
Bedingungen für die Erkrankung und überhaupt für die Epidemie nicht
vorhanden sind. Die sogenannten „Funken“ konnten eben nicht Feuer
erregen, weil der empfängliche Boden fehlte, weil unsere Existenz-
bedingungen eben noch keine Veranlassung zur Erkrankung bieten und
hoffentlich nicht bieten werden. Wenn in einem Dorfe, das nur Stroh-
dächer besitzt, ein Brand ausbricht, der auf den ursprünglichen Herd
beschränkt bleibt, weil die Dächer von einem kurz vorher eingetretenen
Regen noch durchnässt sind, so wird Niemand das Verdienst in Anspruch
nehmen können, die verschonten Dächer dadurch gerettet zu haben, dass
er alle Funken auslöschte, die umherflogen; denn jedermann weiss, dass
nasse Dächer überhaupt nicht in Brand gerathen können.
So liegen die Thatsachen bei der diesjährigen Cholera-Epidemie.
Italien, das sonst stets Epidemien zeigte, ist verschont geblieben, ohne
dass man von besonderen Maassregeln gehört hätte, obwohl Frankreich
wahrscheinlich schon den ganzen Sommer hindurch verseucht war. Wir
sind verschont geblieben nicht wegen unserer Maassregeln, sondern weil
die Bedingungen für die Entstehung der Erkrankung nicht erfüllt sind
und hoffentlich nicht erfüllt werden. Ob man an die Wirkung der
Bacillen glaubt oder nicht, die Thatsachen beweisen, dass selbst bei
Annahme dieser Möglichkeit noch eine ganze Reihe von Vorbedingungen
erfüllt sein müssen, ehe der gefürchtete Baeillus sein unheilvolles Werk
thun kann. Ich kann mich hier nicht auf eine weitere Darlegung der
Gründe einlassen, die mich dazu geführt haben, den Bacterien bei der
I. Medicinische Abtheilung. 123
Entstehung von Krankheiten nur eine ganz untergeordnete Bedeutung,
wie vielen anderen Schädlichkeiten, zuzuschreiben, ich habe die aus-
führliche Begründung an anderem Orte gegeben. Hier möchte ich auf
die Gefahr hin, als unwissenschaftlich bezeichnet zu werden, nur meiner
Ueberzeugung Ausdruck geben, dass die Entstehungsbedingungen der
Cholera zwar noch nicht aufgeklärt sind, dass man aber mit grosser
Sicherheit aussprechen darf, dass kein specifischer Krankheitserreger die
Ursache dieser Geissel der Menschheit ist, sondern dass ein Mikrobium
im günstigsten Falle als Begleiterscheinung bei einer Reihe der schwersten
Fälle von Erkrankungen auftritt, Es ist ferner meine Ueberzeugung,
dass eine direete Ansteckung von Mensch zu Mensch, namentlich an
nicht verseuchten Orten, überhaupt nicht vorkommt, und dass die Gefahr
der Ansteckung an verseuchten Orten nur dadurch gegeben ist, dass eben
jeder an einem solchen Orte mehr oder weniger den Einwirkungen unter-
worfen ist, welche die Ursache der Erkrankung sind. Die Gefahr haftet
am Orte und an den Lebensbedingungen im Allgemeinen, nicht an einem
speeifischen Contagium, das eben nur eine secundäre Rolle wie viele
andere Schädlichkeiten spielen kann. So wenig also wie man Gefahr
läuft, sich an einem Cholera-Kranken anzustecken, so wenig hat man
das Recht, nach den bisherigen (einwurfsfreien) Untersuchungen eine be-
stimmte Schädlichkeit, z, B. das Wasser als die alleinige Ursache der
Erkrankung anzuschuldigen. Das Bestreben, stets im Wasser die Schäd-
lichkeit zu finden, entspricht weniger dem Zwange der Thatsachen, als
dem Wunsche, doch etwas Greifbares als den Erreger alles Uebels hin-
zustellen. Es ist aber nicht unbedenklich, dort ein sicheres Wissen an-
zunehmen, wo wir gerade recht viel Grund haben, unvoreingenommen
nach Wahrheit zu suchen. Dass das Wasser Schädlichkeiten bergen
kann, ist zweifellos, aber sie sind für den gesunden Menschen ganz un-
bedeutend. Namentlich ist es ungerechtfertigt, steis Bacterien als die
Träger der Schädlichkeit anzusehen, da zweifellos chemisch wirkende
und durch die Methoden der Chemie nachweisbare Stoffe bei der Schädi-
gung, die der Mensch durch den Wassergenuss allenfalls erfahren kann,
eine sehr bedeutsame Rolle spielen. Man ist meines Erachtens mit Un-
recht jetzt dazu übergegangen, nur auf Grund bacteriologischer Unter-
suchungen Wasser als schädlich oder unschädlich zu erklären, weil man
im Suchen nach greifbaren, d. h. leicht nachweisbaren Verunreinigungen
den grossen Einfluss übersieht, den die stete Summirung kleinster Schäd-
lichkeiten für unsere Lebensverhältniese mit sich führt. Jedenfalls muss
man auch hier vor einseitiger Schätzung der Forderungen und Leistungen
der Bacteriologie gegenüber den Resultaten chemischer Prüfung gewarnt
werden. Ich verhehle mir nicht, dass die hier in Kürze vorgetragenen
Ansichten in dieser Versammlung nicht getheilt werden, da sie mit den
Dogmen einer modernen Richtung, die für sich absolute Zuverlässigkeit
134 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
in Anspruch nimmt, nicht in Uebereinstimmung stehen. Das kann mich
aber nicht verhindern, meiner Ueberzeugung Ausdruck zu geben, dass
1) die moderne Bacterienfurcht zu einer Vernachlässigung der Gesetze
der Humanität und Menschenliebe führt, dass sie 2) die Furcht vor An-
steckung in höchst unerfreulicher und bedrohlicher Weise nährt, dass sie
3) in ihren äussersten Consequenzen zu schweren Belästigungen des Ein-
zelnen und der Gesammtheit führt und dass 4) alle Opfer, die gefordert
und gebracht werden, nicht im Verhältniss zu der Richtigkeit und Beweis-
kraft der Anschauungen stehen, aufGrund deren sie verlangt werden. Gerade
der bisherige Verlauf der Epidemie in Europa liefert für den, der vor-
urtheilsfrei sehen will, Beweise genug dafür, dass die Entdeckung des
Kommabaeillus weder den Gang noch die Art der Erkrankung einiger-
maassen sicher erklärt und dass sie desshalb mit Unrecht zur alleinigen
Grundlage von einschneidenden Maassnahmen gemacht wird. Man kann
ein warmer Freund der Hygiene sein, die die Besserung der Lebens-
verhältnisse des Menschen anstrebt, und sich doch in der Lage sehen,
gegen die Richtung der Hygiene, die als Bacteriologie nur einen Kampf
gegen Bacterien unternimmt, Stellung zu nehmen.
Herr Professor Dr. Flügge: Die Auschauungen des Herrn Vor-
redners haben mich allerdings etwas in Erstaunen gesetzt. Sie waren
vor einigen Jahren nicht ganz selten, aber im Laufe des letzten Jahr-
zehnts sind ziemlich Alle, auch die der Monchener Schule Angehörigen,
bekehrt worden. Das ist geschehen zum Theil durch die Entdeckung
des Bacillus, aber wesentlich dadurch, dass eine Reihe von Epidemien
sorgsam beobachtet wurde. Man suchte das Verhalten des Baecillus mit
der Epidemie in Einklang zu setzen und dadurch ist die Uebereinstim-
mung fast Aller entstanden. Die epidemiologischen Untersuchungen sind
ja von Koch in Indien selbst gemacht, über die österreichische Epidemie
sind sie von Gruber angestellt und auf dem Hygienischen Congress zu
Wien sind ausführliche Verhandlungen hierüber geführt worden. Ich
möchte Herrn Professor Rosenbach fragen, ob ihm alle diese Arbeiten
und Verhandlungen genau bekannt sind. Sollte dies nicht sein, so würde
ich verstehen, wenn der Vorredner auf dem alten Standpunkt steht.
Hat er sie aber gelesen, so muss ich verzichten, mit ihm in Harmonie
zu kommen.
Herr Professor Dr. Rosenbach: Ich sagte ja voraus, dass man
mir diese Vorwürfe machen würde. Ich habe die Sachen gelesen und
zwar ganz unbefangen gelesen. Ich halte die Hervorhebung, dass die
Bacterien allein die Ursachen seien, die alles Böse hervorrufen, für un-
richtig. Man wird später allgemein dieser Ansicht werden. Ich spreche
hier von anderen als Cholera-Epidemien und ich sage, die Lehre von der
Ansteckung ist noch ein grosses X und Fragezeichen. Wir sehen hier
I. Medicinische Abtheilung. 125
in Breslau Scharlach, Masern, Diphtherie plötzlich erlöschen, und plötz-
lich steigt wieder die Curve und wir haben die schönste Epidemie trotz
aller Anmeldungen und Desinfectionsmaassregeln. Das grosse X ist ge-
blieben wie früher. Hier ist nicht der Ort, wissenschaftlich darüber zu
disputiren, aber privatim und schriftlich bin ich dazu bereit.
Herr Dr. Buchwald fragt, ob man etwas gegen die Sendungen
aus Hamburg thun könne. Bezüglich der Packete werde keine Controle
ausgeübt. Er möchte fragen, ob im Reichs-Gesundheitsamt Bedenken
hierüber geltend gemacht worden sind. Früher seien die aus Indien
kommenden Briefe und Packete desinficirt worden. Packete aus Ham-
burg würden jetzt kaum mehr abgeholt.
Herr Professor Dr. Flügge erwidert, dass die Sache wohl in Er-
wägung gezogen worden sei. Man hätte gewünscht, dass Lebensmittel
und schmutzige Wäsche einer Controle hätten unterworfen werden sollen.
Aber dazu hätte man sämmtliche Packete öffnen und desinfieiren müssen.
Der grösste Theil von Sendungen, die desinfieirt würden, würde ganz
unbrauchbar werden. Es sei dies nicht möglich und die ganze Hygiene
habe nur mit Möglichkeiten zu rechnen. Vollständige Sperrmaassregeln
aber liessen sich nicht durchführen. Diese weiter auf Packetsendungen
auszudehnen, halte er für unausführbar.
Herr Sanitätsrath Dr. Jacobi stimmt Herrn Professor Flügge darin
bei, dass Maassregeln zu vermeiden seien, welche hochgradig belästigen,
ohne sicheren Schutz zu gewähren. Deshalb müsse er auch Herrn Pro-
fessor Hirt widersprechen. Quarantänen, wie sie dieser verlange, seien
zur Zeit unmöglich und auch im Prineip zu verwerfen. Wollte man
alle Zureisenden thatsächlich fünf Tage in eine Quarantäneanstalt ein-
sperren, so würde sich eine noch viel grössere Zahl der Controle zu
entziehen wissen. Das sei nicht zu verhindern. Bei uns werde jeder
der Krankheit Verdächtige auf dem Bahnhofe sofort isolirt und mit dem
Krankenwagen in’s Hospital geschickt. Alle anderen aus Choleraorten
Kommenden, die gesund eintreffen, würden durch mindestens fünf Tage
polizeilich und ärztlich in ihren Wohnungen beobachtet. Die Desinfection
der Letzteren auf den Bahnhöfen sei allerdings eine schwierige Frage.
Befriedigen würde sie nur, wenn man Bäder und Desinfeetionsapparate
zur Stelle hätte, obwohl auch damit volle Sicherheit nicht gegeben wäre.
Dass aber die jetzt geübte Desinfeetion nicht zu sehr belästige, sei an-
geordnet. Mit Recht verlange Herr Prof. Flügge beim polizeilichen
Schliessen eines Verkaufslocals wegen ansteckender Krankheit die Ent-
schädigung des Besitzers. Aber diese Entschädigungsfrage bedürfe vor-
erst der Regelung durch das Gesetz.
Herr Professor Dr. Hirt bleibt auch nach den Ausführungen des
Herrn Sanitätsraths Dr. Jacobi durchweg auf seiner Anschauung von
126 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
der Nothwendigkeit und der Möglichkeit der Isolirung der aus durch-
seuchten Gegenden zugereisten Passagiere stehen. Er betont noch nach-
träglich, dass die von ihm vorgeschlagene Maassregel sich nicht etwa
blos gegen schon Erkrankte oder auch nur Choleraverdächtige, sondern
auf alle Passagiere aus durchseuchten Städten unterschiedslos richten
müsse. Es handle sich hierbei um absolute Verhinderung des Verkehrs
mit der Aussenwelt, bis man die Ueberzeugung gewonnen habe, dass
eine Infection des Beobachteten nicht stattgehabt habe. Liesse sich diese
Maassregel an dem Bestimmungsorte des Reisenden aus irgend einem
Grunde nicht ausführen, dann müsste am Orte der Abreise die ärztliche
Ueberwachung während einer bestimmten Zeit stattfinden. Die Rück-
sicht auf die persönliche Freiheit könne in so gefahrvoller Zeit keine
Rolle spielen.
Hierauf führte Herr Oberbürgermeister Bender Folgendes aus: Die
Desinfeetion der Reisenden auf den Bahnhöfen beruht auf landespolizei-
licher Anordnung. Die örtlichen Gemeindebehörden haben darauf keinen
Einfluss. Wenn nun von Herrn Professor Hirt auf die Mangelhaftigkeit
des dabei geübten Verfahrens vom wissenschaftlichen Standpunkte hin-
gewiesen ist, so glaube ich vom Standpunkt des Verwaltungsbeamten hier
hervorheben zu sollen, dass die Praxis gerade auf dem Gebiete der
Desinfection von der Wissenschaft einigermaassen im Stiche gelassen
war. Wir besassen bisher keine feststehenden, wissenschaftlich an-
erkannten Vorschriften über die in den verschiedenen Fällen vorzu-
nehmende Art der Desinfecetion. Die Verwaltung war also vielfach ge-
nöthigt, im einzelnen Falle den Rath der ihr zur Verfügung stehenden
Aerzte in Anspruch zu nehmen. Wenn deren Ansichten dann auch nicht
gerade so weit auseinandergingen, wie heute die der Herren Professoren
Flügge und Rosenbach, so begegnete man doch vielfach Meinungs-
verschiedenheiten über das, was nothwendig und nützlich wäre, und man
gelangte dann allerdings wohl zu Maassregeln, die, von der einen Seite
empfohlen, die Kritik oder gar den Spott der andern Seite heraus-
forderten. Es ist daher vom Standpunkte der Verwaltung mit Freuden
zu begrüssen, dass in den soeben erlassenen Vorschriften des Reichs-
Gesundheitsamtes eine festere Grundlage für die praktische Stellung-
nahme diesen Fragen gegenüber gegeben ist. Dass diese Vorschriften
von der Praxis werden beachtet werden, ist selbstverständlich. Dennoch
werden wir kaum erwarten dürfen, dass die von Professor Hirt vor-
geschlagenen einschneidenden Quarantäne-Maassregeln überall zur Durch-
führung gelangen. Eine Quarantäne — denn das wäre das geforderte
Verfahren — mag ja in grossen Städten und Bahnstationen, wie Berlin
und Breslau, durchführbar sein. Wie aber auf kleinen Bahnhöfen?
Wenn ein Hamburger z. B. in Mochbern oder Lissa aussteigt? Soll
man auch dort Quarantänehäuser zur Isolirhaft und Desinfections-
I. Medicinische Abtheilung. 127
anstalten etc. bauen? Oder soll man alle Verdächtigen zunächst nach
den mit solchen Anstalten versehenen grossen Städten weisen? Das
wäre für uns eine grosse Gefahr. Wenn die Quarantäne nothwendig ist,
um die weiteren Kreise zu schützen, dann scheint mir doch der zu An-
fang von Herrn Professor Flügge gemachte Vorschlag der einzig
richtige und vor allem der einzig durchführbare zu sein: die Quarantäne
an das Thor derjenigen Stadt zu legen, welche von der Seuche befallen
ist. Nur da lässt sich eine Absperrung auch mit einiger Sicherheit her-
‚stellen, und da wird auch die immerhin anzuerkennende Härte der Maass-
regel leichter ertragen werden. Ich bin übrigens dem Herrn Vortragenden
namentlich dafür dankbar, dass er vom streng wissenschaftlichen Stand-
punkte aus das Unnöthige, ja Nachtheilige vieler bisher für nothwendig
erachteter Maasregeln, Eingriffe, Ausgaben etc. betont hat. Nichts kann
sicherlich beruhigender wirken und nichts förderlicher für eine wirksame
Bekämpfung der Gefahr durch die Verwaltung sein. Ich maasse mir im
Uebrigen zwar kein theoretisches Urtheil über das Wesen der Seuche
an. Gegenüber Herrn Professor Rosenbach möchte ich aber doch
betonen, dass die Bacillen-Theorie gerade für uns Laien etwas ungemein
Beruhigendes hat. Gegenüber unbekannten Gefahren mag man Unruhe
und Grauen empfinden. Wenn wir aber überzeugt sind, die Ursache der
Krankheit zu kennen, so sind wir ruhiger und vertrauen den Mitteln,
welche geeignet sind, jene Ursachen einzuschränken oder zu beseitigen.
Zum Schluss nahm Herr Bankier Alb. Holz das Wort, um durch
einen statistischen Vergleich der hiesigen mit den Hamburger Verhält-
nissen darzuthun, dass insbesondere unsere Wohnungs- und Strassen-
polizeilichen Einrichtungen grösstentheils bessere sanitäre und hygienische
Zustände in unserer Stadt gewährleisten, wodurch für den Fall einer
Cholera-Epidemie ein bedeutsames Moment zur Beruhigung bezüglich
ihrer Ausbreitung in Breslau gegeben erscheine.
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schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur.
70. II.
Jahresbericht. Naturwissenschaftliche
1892. Abtheilung.
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Sitzungen der naturwissenschaftlichen Section im Jahre 1892.
Sitzung am 10. Februar 1892.
Ueber die Bewegung des Erdoceans während der geologischen
Perioden.
Von
dem Kaiserlich Russischen Wirklichen Staatsrath Professor
Dr. von Trautschold.
Gleich beim Eingange der Besprechung dieses Gegenstandes erklärte
sich der Vortragende gegen die Annahme, dass die Erde ein in glühen-
dem Flusse befindlicher Himmelskörper sei, nur mit einer verhältniss-
mässig dünnen Kruste bedeckt. Wenn dem so wäre, würde die Ab-
plattung bei der Umdrehungsgeschwindigkeit der Erde an den Polen
weit grösser sein, als sie ist. Auch machte der Redner geltend, dass
keine Verbindung zwischen dem vermeintlichen flüssigen Erdkern und
der Erdrinde vorhanden sei und dass die Verflüssigung der Lawen
und eruptiven Massen innerhalb der vorzugsweise aus Silikaten be-
stehenden Erdrinde vor sich gehe, denn die eruptiven Massen bestehen
auch aus Silikaten, wie die Erdrinde. Würden bei den Eruptionen
flüssige Massen des Erdinnern auf die Oberfläche der Erde gebracht
werden, so müssten sie ein höheres specifisches Gewicht haben als
2,5 (das der Silikate), da das specifische Gewicht der Erde 5,5 sei.
Der Vortragende ging dann auf seine persönlichen Studien im europäi-
schen Russland über, und wies nach, dass sich die See allmählich von
den überall dort horizontal gelagerten Sedimenten zurückzog, so dass
gegen die Mitte der permischen Periode fast ganz Russland Festland
wurde und es blieb bis zur Mitte der Juraperiode. Darauf wurde ein
grosser Theil von Russland, namentlich der östliche und centrale Theil
wieder unter Wasser gesetzt, das aber zu Ende der Juraperiode im
Norden sich wieder zurückzog, in der Südhälfte Russlands aber von dem
Kreidemeer abgelöst wurde. Dieses Kreidemeer hinterliess in Central-
russland nur dünne Absätze, dann wich es von hier allmählich nach
FE, 1/
I Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Süden und Südost zurück und machte dem tertiären Meere Platz, das
den weiteren Rückgang nach Süden fortsetzte, wie auch das Quartär,
bis der Continent die Form annahm, die er jetzt noch hat. Die An-
hänger der säcularen Hebungen und Senkungen suchen diesen wieder-
holten Rückzug und das dazwischen wieder erneute Ueberfluthen durch
Hebung und Senkung der Erdrinde zu erklären. T. spricht sich da-
gegen aus, weist auf die zahlreichen in allen Erdtheilen auftretenden
unter sich und mit dem Meeresspiegel parallelen Strandlinien hin und stellt
namentlich den Vergleich zwischen dem nordamerikanischen Continent
und Russland in den Vordergrund, durch den er den Beweis liefert, dass
nur das beweglichere Element, das Wasser, die Ursache der grossartigen
Entblössung des Meeresbodens und der wiederholten Ueberfluthung sein
kann. In Nordamerika nämlich folgen sich wie in Russland auf aus-
gedehnten Räumen die horizontal gelagerten Sedimente vom Silur bis
zum mittleren Perm ununterbrochen aufeinander. Dann tritt wie in Russ-
land eine Lücke in den Meeresabsätzen ein. Landbildungen halten an
bis zur Mitte der Juraperiode, zu welcher Zeit eine theilweise Ueber-
fluthung des Continents durch das Jurameer stattfindet; auf das Meer
mit der jurassischen Fauna folgt das Kreidemeer und zu Ende der
Kreideperiode erfolgt ein Rückzug des Kreide- und tertiären Meeres,
der bis auf den heutigen Tag andauert. Dieselben Verhältnisse wie in
Russland vollzogen sich danach in Nordamerika und zieht man die
Gleichzeitigkeit dieser Vorgänge in Betracht und die Entfernung der
beiden Continente von einander, so kann es nicht zweifelhaft bleiben,
dass hier nicht die Hebungen und Senkungen der Erdrinde wirksam
waren, sondern das Vor- und Rückschreiten des Oceans. Die Meinung,
dass die Erde sich bewege, oscillire, und dass das Meer feststehe, dass
das Niveau des Oceans sich nicht ändere, ist irrig. Schon die locale
Attraction hoher Gebirgs- oder Eismassen bewirkt eine Hebung des
nahen Meeres, wie denn nach Faye eine Eismasse von 1000 Meter Höhe
ein Anwachsen des Wassers um 24 Meter nach sich zieht.
Ueber die theoretischen Vorstellungen der Chemiker des
13. Jahrhunderts.
Von
Gymnasial-Oberlehrer Dr. Jul. Schiff.
Das 13. Jahrhundert ist für das christliche Abendland als die
Blüthezeit der gewöhnlich mit dem Namen Alchemie bezeichneten chemi-
schen Richtung zu betrachten. Nicht als ob nach dem Ablauf desselben
ein Nachlassen in den Bestrebungen, Gold und Silber künstlich darzu-
stellen, eingetreten wäre. Dieselben verbreiten sich vielmehr von da
an immer weiter; und erst seit dem Auftreten von Paracelsus, d. h. im
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 3
Anfang des 16. Jahrhunderts, beginnt sich eine andere Auffassung des
Zweckes chemischer Untersuchungen bei einigen besonders vorgeschrittenen
Geistern zu zeigen. Aber wenn wir von den Arabern absehen, so be-
gegnen uns die ausgezeichnetsten Chemiker des Mittelalters — Männer,
welche der Nachwelt ausser ihren vielfach phantastischen Ideen auch
eine grosse Menge neuer Thatsachen und Forschungsmethoden überliefert
haben — im 13. Jahrhundert. Unter ihnen ragen nach dem einstim-
migen Urtheile der Zeitgenossen wie der späteren Alchemisten am
meisten hervor der Deutsche Albertus Magnus (+ 1280), der Engländer
Roger Baco (F um 1290), der aus Südfrankreich oder Nordspanien
stammende Arnoldus Villanovanus (F um 1312) und der Spanier
Raymundus Lullus (+ um 1315). Die sehr zahlreichen, allerdings theil-
weise untergeschobenen Schriften dieser Männer haben auf Jahrhunderte
hinaus einen maassgeblichen Einfluss ausgeübt, allerdings nicht immer in
förderndem Sinne. In das Verständniss dieser „Philosophen‘‘ — wie
sie sich selbst gewöhnlich bezeichnen — einzudringen, ist bekanntlich
sehr schwierig. Zu der beabsichtigten Dunkelheit, welche den ‚‚Igno-
ranten‘“ abschrecken soll, tritt der stete Gebrauch von Allegorieen
und Citaten, sowie von frommen Bitten und Betheuerungen, störend
hinzu. Sehr oft wissen wir ferner nicht, was ihre Namen bedeuten
sollen; unter einunddemselben Worte wie ,„sal“, „spiritus“, „nitrum‘‘
u. s. w. werden sehr verschiedenartige Stoffe begriffen, und umgekehrt
gebraucht oft derselbe Verfasser für einunddieselbe Substanz mehrerlei
Namen.
Im folgenden sollen die theoretischen Anschauungen der genannten
grossen Alchemisten — welche weit einfacher und daher auch klarer
als ihre langen Vorschriften zu praktischen Arbeiten sind — kurz ge-
schildert werden. Dieselben beziehen sich ausschliesslich auf das Haupt-
problem jenes Zeitalters, nämlich die ‚„‚Transmutation‘ oder Verwandelung
der gemeinen in die edelen Metalle. Zu Grunde gelegt sind einige Ab-
handlungen, welche als echt betrachtet werden dürfen und welche kürz-
lich von Alb. Poisson in französischer Uebersetzung neu herausgegeben
und hierdurch in dankenswerther Weise leicht zugänglich gemacht worden
sind (Cing Traites d’Alchimie des plus grands Philosophes, Traduits du
Latin en Francais par Alb. Poisson, Paris 1890).
Albertus Magnus lehrt in der Schrift „Compositum de compo-
sitis, alle Metalle seien Verbindungen zweier Principien, des Mercurs
und des Sulfurs, wobei man aber das Quecksilber und den Schwefel der
Philosophen nicht mit den entsprechenden unreinen irdischen Stoffen
verwechseln dürfe. An einer Stelle nennt er sogar noch als dritten,
allerdings unwichtigen Bestandtheil, das Arsenik, welches im wesent-
lichen dieselbe Natur wie der Schwefel habe, nur sei es weniger
feucht und schwerer sublimirbar. Dass die einzelnen Metalle trotz der-
1*
4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
selben Grundstoffe untereinander verschieden seien, rühre — wie er
mehrfach sagt — von der sehr ungleichen Digestion und Erhitzung her,
welche bei ihrer Entstehung im Erdinneren stattgefunden habe. Doch
ist dies nicht die alleinige Ursache. .,‚Die Metalle‘, so äussert er ein
anderes Mal, ‚weichen von einander ab gemäss der Reinheit oder Un-
reinheit der materia prima, d. h. des Schwefels und des Mercurs, und
auch gemäss dem Grade des Feuers, welches sie erzeugt hat‘. — Gold
wird als das vollkommenste Metall bezeichnet; am nächsten stehe ihm
Silber, welches sich von ihm nur durch Farbe und Gewicht unterscheide.
In einem der in dieser Abhandlung vorkommenden Recepte wird auch
das verschiedene Verhalten beider Edelmetalle gegen Salpetersäure be-
sprochen; jedoch wird diesem Umstande keine theoretische Wichtigkeit
beigelegt, entsprechend dem Zeitgeiste, welcher stets den Thatsachen
seringere Bedeutung beilegte als vorgefassten und überlieferten Mei-
nungen. Dass sich alle Metalle in Gold überführen lassen — welchem
sie ja auch, wenigstens qualitativ, in der Zusammensetzung gleichen —
wird als selbstverständlich betrachtet. Das hierzu dienende Präparat
ist der Stein der Weisen, dessen Darstellung gewöhnlich das „Magiste-
rium‘ genannt wird. Mittels desselben wird den Metallen ihr Speecifisches
entrissen und werden sie so behandelt, wie die Natur selbst bei der
Erzeugung von Gold und Silber verfahre. Ueberhaupt wird dem Jünger
der Kunst nächst der zum Gelingen unbedingt nothwendigen frommen
Gesinnung wiederholt gepredigt, die Natur zur Lehrmeisterin zu nehmen.
Als Ausgangspunkt für die praktische Arbeit wird Quecksilber vorge-
schlagen. Im Allgemeinen sind bei dem grossen Werke vier Stufen zu
unterscheiden: nämlich Zerlegen, Waschen, Redueiren und Fixiren. Das
Zerlegen und Waschen soll aus den angewandten Stoffen die reinen
Elemente Mercur und Sulfur erzeugen; durch die beiden anderen Pro-
cesse sollen diese verbunden und festgemacht werden. Schliesslich er-
halte man als Ergebniss der nach diesem Schema auszuführenden —
im Einzelnen beschriebenen, aber nicht immer verständlichen — Arbeiten
anfänglich das weisse und schliesslich das rothe Klixir. Ersteres habe
die Fähigkeit, 100 Theile Quecksilber in Silber, letzteres eine gleiche
Menge Quecksilber und Silber in Gold zu verwandeln. Ferner sei es
möglich, diese Präparate in noch vollkommenere „Medieinen“ über-
zuführen, derart, dass man sogar beliebig grosse Mengen der unvoll-
kommenen Metalle transmutiren könne. |
Roger Baco’s Schrift „Speculum Alchemiae“ ist rein theoretisch ;
aber gerade weil sie von dunkelen Recepten gänzlich frei ist, treten die
allgemeinen Vorstellungen der Zeit in ihr recht klar hervor. Ueber-
haupt entspricht sie nach Inhalt wie Darstellung durchaus der durch die
geschichtliche Kritik gestützten Ueberlieferung, gemäss welcher der Ver-
fasser als einer der ersten unter den mittelalterlichen Forschern be-
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 5
trachtet wird. Er beginnt mit einer Definition der Alchemie, sie sei
„die Wissenschaft, welche eine gewisse Mediein zu bereiten lehre, die,
auf die unvollkommenen Metalle geworfen, ihnen im Augenblicke der
Projection die Vollkommenheit gebe“. Was die Zusammensetzung der
Metalle betrifft, so weicht Baco nur insofern von Albertus Magnus
ab, als er das Arsenik niemals erwähnt. Gold gilt ihm allein als
wahres Metall. Die Natur sei stets auf dessen Erzeugung ausgegangen,
allerdings habe sie nicht immer ihren Zweck erreicht. Aus Unreinheiten
der Urstoffe, nämlich des philosophischen Mercurs und Schwefels, er-
kläre sich die Entstehung der gemeinen Metalle, welche nach abnehmender
Vollkommenheit folgende Reihe bilden: Silber, Zinn, Blei, Kupfer, Eisen.
Quecksilber scheint ihm nicht als ein Metall, sondern als die niedrige,
natürlich vorkommende Form des Mercurs der Weisen zu gelten. Zur
Ausführung der Transmutation hält auch Baco den Stein oder das Elixir
für nothwendig. Dieses dürfe gleichfalls nichts als Quecksilber und
Schwefel enthalten. „Zwei Prineipien‘ — so heisst es — „setzen alle
Metalle zusammen, und nichts kann sich mit den Metallen vereinigen
oder sie umformen, wenn es nicht selbst aus diesen Prineipien zu-
sammengesetzt ist. Daher zwingt uns die vernünftige Ueberlegung, zur
Materie unseres Steines Mercur und $ulfur zu nehmen“. Es sei jedoch
nicht empfehlenswerth, das Präparat unmittelbar aus seinen Bestand-
theilen mischen zu wollen, da wir das nothwendige Verhältniss derselben
gar nicht kennen; vielmehr möge man von den Metallen, in denen die
beiden Grundstoffe schon ‚„‚eoagulirt‘‘ seien, ausgehen. Eine bestimmtere
Angabe für den Beginn des grossen Werkes fehlt; nur werden organi-
sche Stoffe, sowie Gold und Silber aus theoretischen Gründen verworfen,
— Aehnlich wie Albertus Magnus betont auch Baco vielfach, man
müsse die Natur beobachten und ihr selbst bei der Wahl der Hitzegrade
und der Gefässe zu folgen suchen. Die Natur nämlich erzeuge im Erd-
inneren durch langes Kochen aus gröberen Elementen Mercur und aus
fetten Erdtheilen Sulfur und mische aus beiden, wiederum vermittelst
anhaltenden Kochens, die verschiedenen Metalle. Deshalb wird auch
für die Laboratoriumsarbeit tage- und wochenlanges Erhitzen anempfohlen-
Auch wenn man das Elixir erhalten habe, müsse man es drei Tage
hindurch mit dem zu transmutirenden Metall erwärmen,
Viel stärker als bei Albertus Magnus und Baeco tritt der mysti-
sche Zug der Alchemie in der Abhandlung ‚Semita semitae‘“ von
Arnoldus Villanovanus und in des Raymundus Lullus ‚Olavi-
cula“ hervor. Insbesondere ist die Schrift des Letztgenannten — welchen
H. Kopp in seiner Geschichte der Chemie mit Recht einen der excen-
trischsten Menschen seiner Zeit und gleichzeitig den Götzen aller Alche-
misten nennt — reich an geheimnissvollen Bildern, Redensarten und
Citaten. — Arnoldus betrachtet, seinen Vorgängern im wesentlichen
6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
folgend, den philosophischen Mercur als den Grundstoff oder Samen,
welcher je nach dem Grade seiner „Sulfuration“ die verschiedenen Me-
talle erzeuge. Die zur Veredelung nothwendige Medicin bezeichnet er
theilweise als Stein, theilweise als eine eigenartige und heilige Flüssigkeit.
Um die in dieser verborgenen, ganz unbegrenzten Fähigkeiten klarer
zu machen, erinnert er mehrfach an die schrankenlose Vermehrungs-
fähigkeit pflanzlicher Keime. Ueberhaupt vergleicht er die Vorgänge
des grossen Werkes bis in’s Einzelne mit der Entstehung organischer
Wesen; er spricht von der Vermischung des Männlichen und Weiblichen,
von der Geburt des Elixirs, von seiner Ernährung, bis man es zum
Zustande der Vollkommenheit geführt habe. — Ebenso dunkel und noch
reicher an Allegorieen sind die Lehren und Vorschriften des Raymun-
dus Lullus. Von der Zusammensetzung der Metalle hat er im übrigen
die gleiche Ansicht; doch hält er ausserdem bei deren natürlicher wie
künstlicher Erzeugung eine Einwirkung der Gestirne für sehr wesent-
lich. „Die Sonne‘ — sagt er — „ist der Vater aller Metalle, und der
Mond, obgleich er sein Licht von der Sonne empfängt, ihre Mutter. Von
diesen beiden Planeten hängt das ganze Magisterium ab.“ Sehr ein-
gehend spricht Lullus ferner von der Darstellung und den Eigenschaften
des reinen Mercurs und Schwefels; auch versichert er, alle beschriebenen
Arbeiten selbst ausgeführt zu haben.
Schliesslich sei darauf hingewiesen, dass die geschilderte Lehre
dieser vier Alchemisten, derzufolge die künstliche Darstellung von Gold
und Silber als ausführbar angesehen werden musste, schon von den
Arabern begründet worden ist. Bereits Geber, welcher im 8. Jahr-
hundert in Spanien lebte — der „magister magistrorum“, wie ihn Baco,
„paganus ille philosophus“, wie ihn Lullus nennt — nahm die gleiche
Constitution der Metalle an, um durch diese Hypothese die Möglichkeit
der Transmutation zu erklären. Auch der Gedanke des Steins der
Weisen findet sich bereits bei diesem und den übrigen arabischen
Alchemisten.
Sitzung am 16. März 1892.
Ueber Genoman und Turon bei Cudowa in Schlesien.
Von
Dr. phil. Richard Michael.
Der Vortragende sprach unter Vorlegung einer von ihm im Maass-
stabe 1:25000 aufgenommenen geologischen Karte und einer Anzahl
von Gesteinsstücken und Versteinerungen über Cenoman und Turon bei
Cudowa in Schlesien; er hatte im vorigen Sommer die Ablagerungen der
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 7
Kreideformation im nordwestlichen Theile der Grafschaft Glatz in der
Gegend der Orte Lewin und Cudowa und Hronow in Böhmen untersucht.
Die Ablagerungen der Kreideformation in der Grafschaft Glatz sind
ein Theil der zusammenhängenden gleichen Ablagerungen in Böhmen
und Sachsen, in denen ausschliesslich die obere Stufe des eretaceischen
Schichtensystems, ‚die obere Kreide‘ entwickelt ist; seit den Aufnahmen
zur geognostischen Karte des niederschlesischen Gebirges von Beyrich,
Rose, Roth und Runge sind sie nicht mehr Gegenstand der Bearbeitung
gewesen. Bislang wurden sämmtliche Schichten der Glatzer Kreide mit
Ausnahme einiger weniger im Neissethal anstehender zur Cenomanen
Stufe der oberen Kreide gestellt. Auf Grund neuer Aufschlüsse und
einiger glücklicher Funde von Petrefacten, die aus dieser Gegend bis-
lang in der Litteratur überhaupt noch nicht bekannt waren, konnte der
Vortragende sowohl den paläontologischen Beweis für das cenomane
Alter eines Theiles der Glatzer Kreide erbringen, als auch zeigen, dass
in ihr auch die mittlere Stufe der oberen Kreide, das Turon, vertreten ist.
Der Vortragende unterscheidet in der Kreidescholle von Cudowa
folgende Glieder:
1) die entkalkten Pläner von Cudowa,
2) die Pläner,
3) den Plänersandstein,
4) den glaukonitischen spongitenreichen Gudtersandsteih,
5) den groben kalkigen Sandstein von Cudowa und die groben kal-
kigen Sandsteine von Gross-Georgsdorf bei Cudowa und Klein-
Georgsdorf bei Lewin.
Bemerkenswerth ist namentlich der Umstand, dass eine bislang nicht
gekannte kalkige Facies den tiefsten Horizont einnimmt, zumal im übrigen
Nieder- und Oberschlesien die Schichten der Kreideformation mit rein
sandigen Gebilden oder Conglomeraten mit kieseligem Bindemittel be-
ginnen. Das weitaus verbreitetste und mächtigste Glied sind die in
ihren petrographischen Eigenschaften ungemein wechselnden thonigen Kalk-
steine, die Pläner, Die entkalkten Pläner und die Pläner, dem Alter
nach nicht verschieden, entsprechen den cenomanen plänerartigen Ge-
steinen der älteren Karte; sie gehören aber, wie das Vorkommen von
Inoceramus labiatus, Inoceramus Brongniarti, Rhynchonella plicatilis,
Pecten Dujardini, Peeten pulchellus und Micraster ceortestudinarium be-
weist, zum Turon. Von den 15 Arten von Versteinerungen im Turon
finden sich nur 2 unter den 45 cenomanen wieder; ausserdem sind Turon
und Cenoman auch durch eine in den hangenden Schichten des jüngsten
cenomanen Gliedes, des Plänersandsteines auftretende Glaukonitbank scharf
geschieden. Im Plänersandstein fanden sich 25 Arten, am häufigsten
Exogyra columba, Ostrea carinata, Pecten asper, Pecten laminosus,
Janira longicauda und Lima pseudocardium; er enthält bereits Formen,
8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
die anderwärts auch in jüngeren als cenomanen Ablagerungen vor-
kommen; namentlich ist er aber interessant durch das Vorkommen eines
Belemniten, des Aetinocamax plenus, auf dessen Auftreten hin im nord-
westlichen Deutschland eine besondere, dem Turon als unterstes Glied
zugerechnete Zone aufgestellt werde. Von untergeordneter Bedeutung
ist der durch grobes Korn, Glaukonitgehalt und das massenhafte Vor-
handensein von eylindrischen Wülsten, die bald als Reste von Schwäm-
men, bald als algenähnliche Körper gedeutet wurden, ausgezeichnete
glaukonitische spongitenreiche Quadersandstein. Er entspricht dem unteren
Quadersandstein der älteren Karte und führt Peeten asper, Ostrea cari-
nata und Exogyra columba. Nordöstlich von Cudowa, wo die Schichten-
folge am vollständigsten ist, folgt unter ihm der grobe kalkige Sand-
stein von Cudowa, ausgezeichnet durch Rhynchonella eompressa, Pecten,
Fragmente und Haifischzähne, die zu den Gattungen Pyknodus, Corax
und Oxyrhina gehören. Während man in allen erwähnten Gliedern,
namentlich den Turonen, Petrefacten nur selten findet, unterscheidet sich
der nur in geringer Ausdehnung und Mächtigkeit entwickelte grobe
kalkige Sandstein von Gross-Georgsdorf bei Cudowa durch das Vor-
kommen zahlreicher Petrefacten; es wurden bisher 30 Arten nachgewiesen,
unter ihnen besonders in massenhafter Individuenzahl die typisch-ceno-
manen Formen: Cidaris vesiculosa, Caprotina semistriata, Exogyra
columba, Ostrea carinata, Pecten acuminatus, Pecten asper, Janira longi-
cauda, Serpula gordialis, Terebratula phaseolina, Rhynchonella compressa
u. a. m.
Die Versteinerungen sind in allen Schichten schlecht erhalten.
Ueber die quartäre Säugethierfauna von Venezuela und über
nordamerikanische Mastodonten.
Von
Privatdocent Dr. Gürich.
Posttertiäre Ablagerungen mit Resten grosser Säugethiere sind von
Venezuela nur durch wenige Literaturangaben bekannt; der Botaniker
Karsten und der Geograph Sievers, beide deutsche Reisende, und der
bekannte Naturforscher Ernst, ein Schlesier von Geburt, Professor der
Naturwissenschaften an der Universität in Caracas, haben solche Funde
publieirt, aus denen ersichtlich ist, dass die Fauna dieser Ablagerungen
übereinstimmt mit jener eigenthümlichen südamerikanischen Thiergesell-
schaft, wie sie von Burmeister aus den Pampaslehmen der La Plata-
Staaten, von dem Dänen Lund aus den brasilianischen Höhlen und von
Braneco aus den Hochthälern der Cordilleren von Ecuador beschrieben
worden ist,
ll. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 9
Der Vortragende hatte Gelegenheit, zwei der hauptsächlich bekannten
Fundstellen in Venezuela zu besuchen und Einiges daselbst zu sammeln,
In San Juan de los Morros bei Villa de Cura, wurden bei den Bauten
zur Fassung einer heissen, Schwefelwasserstoff exhalirenden Quelle zahl-
reiche Reste jener grossen Säuger gefunden, welche in das Museum von
Caracas gebracht wurden. Die Thiere waren hier augenscheinlich in den
Sumpf gerathen, welcher die schon zur älteren Diluvialzeit vorhandene
Quelle umgab.
Die andere Fundstelle ist eine Los Lombreros genannte Oertlichkeit
bei dem Gehöfte La Burrera unterhalb des Cordillerendorfes Barbacoas
bei Tocuyo bei ca. 1400 m Meereshöhe.
In dem dortigen hochgelegenen, tief in die Felsen der untern Kreide-
formation einschneidenden Andenthale kann man Reste mehrerer alter
Terrassen erkennen; in den lehmigen, hin und wieder geröllreichen Ab-
lagerungen derselben haben sich zahlreiche Knochen gefunden, welche
aber bei der Festigkeit des Lehmes nur sehr schwierig unverletzt zu
gewinnen sind.
Die Reste von Barbacoas sind nicht so gut erhalten, als die aus
dem feinerem Schlamm der Schwefelquellen von San Juan de los Morros.
Der Vortragende konnte folgende Reste vorlegen:
Von den grossen, dem Rhinoceros an Massigkeit gleichenden nächsten
Verwandten der Faulthiere, Megatherium, zwei Backzähne des Unter-
kiefers, den zweiten und den vierten, sowie mehrere charakteristische
Fragmente der plumpen Extremitäten.
Von den zu derselben Thiergruppe der Zahnarmen gehörigen
Glyptodonten zahlreiche Knochenplatten des eigenthümlichen starken
Panzers, welcher diese Thiere beschützte und sie wie riesige Schild-
kröten erscheinen liess,
Von San Juan stammt ein gut erhaltenes Fersenbein eines Mastodon,
jenes dem Elephanten verwandten Rüsselthieres, sowie ein vorletzter
unterer Backzahn. Aus Südamerika kennt man nur zwei Arten von
Mastodon, beide aus den quartären Ablagerungen und beide in ihrer
Zahnbildung der deutschen mittelmiocänen Art Mastodon angustidens
sehr ähnlich. Aus Nordamerika kennt man nur vereinzelte Mastodon-
vorkommnisse aus dem Verwandtschaftskreise dieser Art, Der Vor-
tragende legt die hintere Hälfte eines letzten Unterkieferzahns vor, der
aus den miocänen Ablagerungen der Phosphatbaggereien an der Küste
von Süd-Carolina stammt.
Das Vorkommen von Formen jener eigenthümlichen südamerika-
nischen Edentatenfauna in Nordamerika und andererseits dasjenige von
Mastodonten in Südamerika gestattet einen Schluss auf die zeitweilige
Verbindung dieser beiden Landeomplexe, die höchst wahrscheinlich zur
10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
miocänen Zeit und zwar über die Antillen, nicht über Centralamerika
stattgefunden hat, aber nur von geringerer Dauer war; zur quartären
Zeit war diese Verbindung wieder unterbrochen.
Mineralogische Mittheilungen.
Von
Geh, Bergrath a. D. Dr. Runge.
Der Vortragende legte Exemplare eines schönen, weissen, sehr gross-
blätterigen Kalkspaths aus der Gegend von Hagen in Westfalen vor,
welcher dort vor einigen Jahren in grösseren Mengen gewonnen, zu
feinem weissem Mehl gemahlen und angeblich bei der Zuckerfabrikation,
sowie bei der Fabrikation von Stearinkerzen verwendet wurde. Dieser
Kalkspath, welcher ein grosses Nest im Kohlenkalk bildet, zeigt deutlich
die 3 Blätterdurchgänge des Grundrhomboäders; ausserdem aber Ab-
lösungen nach den Flächen des ersten stumpferen Rhombo&ders, welche
indess keinem Blätterdurchgange entsprechen, sondern durch eine Zwillings-
bildung bedingt zu sein scheinen.
Ferner legte derselbe sehr schöne Spaltungsgestalten der Zinkblende
von Selbeck unweit Mülheim an der Ruhr vor. Dieselben lassen alle
6 Blätterdurchgänge der Zinkblende sehr deutlich erkennen, so dass die
Formen des Granatdodecaeders, des Rhomboeders und des Quadrat-
okta&ders zur Erscheinung gelangen.
Hieran knüpfte der Vortragende einige allgemeine Bemerkungen
über Blätterdurchgänge in ihrer Beziehung zur Krystallform des be-
treffenden Minerals und wies endlich auf die grosse Bedeutung der so-
genannten äusseren Kennzeichen der Mineralien neben der chemischen
Zusammensetzung für das mineralogische Studium und besonders die
Untersuchungen im Terrain hin.
Anknüpfend bemerkte Professor Dr. Hintze in Bezug auf die oben
erwähnten Absonderungsflächen nach dem stumpferen Rhomboeder des
Kalkspaths, dass nach den im Jahre 1879 veröffentlichten Untersuchungen
von Baumhauer jenen Absonderungsflächen der Charakter sogenannter
Gleitflächen zukommt und dass durch Druck eine Zwillingsbildung nach
diesen Gleitflächen hervorgebracht werden kann, so dass also solche
Zwillingsbildung nicht als die Ursache, sondern als die Folge jener eigen-
thümlichen Structurverhältnisse anzusehen ist.
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 1
Sitzung am 18. Mai 1892.
Ueber die nordische Eiszeit.
Von
Geh. Bergrath Althans.
Der Vortragende sprach über die muthmaasslichen Grenzen der ersten
und zweiten Bedeckung durch nordisches Gletschereis und deren Unter-
scheidungsmerkmale innerhalb der viel weiter südwärts reichenden, meist
sehr mächtigen Ablagerungen von in der Regel nordischen Blöcken, Ge-
schieben, Kies und Sand, welche von Gletscherströmen oder von driften-
den Eisbergen bis über 400 Meter Meereshöhe an die Gehänge der
Sudetenkette in Schlesien hinaufreichen. Die ältere Eisbedeckung hat
sich weiter südlich erstreckt als die jüngere. Bei beiden war das nörd-
liche Europa und Nordamerika tief unter dem Meeresspiegel versenkt.
Dazwischen liegt eine Periode der völligen Trockenlegung der nördlichen
Continente in einem Steppenklima. Die End- und Randmoränen der
älteren Eiszeit sind in Schlesien wie anderwärts verwaschen und ver-
wischt, und treten daher wenig an der Oberfläche erkennbar hervor.
Für die zweite Eiszeit sind sie in den letzten Jahren von der Mecklen-
burgischen Grenze bis zur Oder bei Freienwalde und von dort bis Danzig
nachgewiesen. Weiter südlich reichen sie nach Ansicht des Vortragenden
bis in die Gegenden von Obernigk, Trebnitz und Bernstadt, doch bleibt
hier sowohl westwärts nach der Mark als ostwärts nach Polen und über-
haupt bezüglich der Lage der Grenzschuttwälle das Wesentliche noch
zu erforschen. Für die erste Eiszeit liegen sichere Nachweise darüber
vor, dass die Eisgrenze bis nahe an Zittau und an das benachbarte Fried-
land und an Friedeberg, Hirschberg, Rabishau an die hohe Golge ge-
reicht und den Zobten und Rummelsberg überströmt hat. In Ober-
schlesien ist die durch den Blocklehm der Grundmoränen bezeichnete
Grenze bestimmt durch den Lauf der Rudka aufwärts bis zum Sohrauer
Wasser nördlich von Czernitz und Rybnik und südlich von Sohrau nach-
gewiesen. Südlich von dieser Grenze findet sich nur eine nach Süden
verschwächte Auflagerung von Kies, Sand und Löss mit vereinzelten
Blöcken, unter welchen die ursprünglichen, d. i. voreiszeitlichen Thal-
auswaschungen der Tertiärschichten in ihren vielfach verzweigten
Schluchten noch ganz deutlich auf den Messtischblättern der Landes-
aufnahme und den oberbergamtlichen Specialkarten hervortreten. Auch
in den Vereinigten Staaten von Nordamerika ist ein solches, dort aber
rings von Moränen umschlossenes, eisfrei gebliebenes Gebiet nachgewiesen,
worin die uralten Thäler der Silurperiode noch unversehrt erhalten ge-
blieben sind.
12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Ueber die Form der Zellenmündung von Monograptus priodon
und
über Silur und Devon des poinischen Mittelgebirges.
Von
Privatdocent Dr. Gürich.
Der Vortragende besprach die Form der Zellenmündung von
Monograptus priodon. Nach Barrande und «den übrigen älteren
Autoren stellt die Zelle von Mon. priodon ein nach oben und aussen
gerichtetes, sich stark verjüngendes Rohr dar, dessen äusseres Ende
nach unten zurückgekrümmt ist; die Mündung bildet dann eine kleine
kreisrunde Abstutzung des Schnabels, ist also nach unten gerichtet.
Nach Jäkel wäre die Zelle eine schräg aufwärts gerichtete Röhre, deren
der Axe des Stammes ungefähr parallele äussere Mündung von einem
deckelartigen Fortsatze der oberen Zellwandung überdeckt wäre, Der
Vortragende hatte gutes Material aus Diluvialgeschieben und aus dem
Silur von Böhmen zur Verfügung und gelangte durch successives An-
schleifen, durch Anätzen und durch Präpariren der Stücke mit der Nadel
zu dem Resultate, dass die alte Darstellung in der That falsch ist, dass
aber auch die Jäkel’sche Auffassung kein richtiges Bild von dem Sach-
verhalte giebt. Ein „deckelartiger Fortsatz“, muss man annehmen, stände
nur an seiner Basis mit der Zellenwand im Zusammenhang, hätte aber
ausser einem freien Aussenrande auch noch freie Seitenränder. Das ist
aber nicht der Fall; die Zelle von Monogr. priodon stellt vielmehr eine
subeylindrische Röhre dar, deren äusseres Ende stark zurückgekrümmt
ist, aber anders als Barrande es auffasst; die Krümmung ist enger,
fast ausschliesslich von der oberen Zellenwandung gebildet, während die
untere nur wenig daran betheiligt ist. Eine starke Verjüngung der Zelle,
wie Barrande sie annimmt, findet nicht statt. Die Zellmündung ist
ungefähr senkrecht zur Richtung der Graptolithenaxe gestellt, quer
elliptisch, fast so breit wie der Graptolithenstock dick ist und in un-
verletztem Zustande ganzrandig, meist aber durch Runzelung lappig.
Jäkel’s Forderung, die beiden Gruppen von Monograptus-Arten,
diejenigen mit nach oben gerichteter Mündung — man kann sie als
Monograpti ereeti bezeichnen — und diejenigen mit zurückgekrümmter
Mündung — die man Mon. reversi nennen kann — generisch zu trennen,
ist wohl berechtigt, nur ist nach den obigen Ausführungen der von Jäkel
für die Monogr. reversi gewählte Gattungsname Pomatograptus nicht als
geeignet anzusehen.
Sodann berichtete derselbe über die von ihm bisher im polnischen
Mittelgebirge unterschiedenen Horizonte des $ilur und des
Unterdevon, über die Verbreitung und die Fossilführung derselben. Der
einzige bekannte untersilurische Horizont „Bukowka-Sandstein‘‘ stimmt
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 13
weniger nach der Gesteinsbeschaffenheit als nach seinen organischen Ein-
schlüssen mit gewissen Schichten des baltischen Unter-Silur überein
(Glaukonit- und Vaginaten-Kalk). Im Ober-Silur finden zwei Horizonte
— ein Graptolithenschiefer mit Climacograptus scalaris und ein Bey-
richiengestein in sandiger Facies — ihre Aequivalente in den süd-
skandinavischen Silurablagerungen; ein dritter Horizont dagegen — Car-
diolaschiefer — führt zahlreiche, für die gleichalterigen böhmischen Ab-
lagerungen bezeichnende Ostracoden.
Im Unterdevon stimmen die Sandsteine der Gora Wisniowka und
G. Miejska völlig mit dem Spiriferensandsteine der oberen Coblenzstufe
am Harze und am Rheine überein. Ein von diesem dem Alter nach
wenig verschiedener Horizont zeigt eine gewisse facielle Aehnlichkeit mit
den an Placodermenresten reichen Schichten des Old Red am Ladoga-See.
Ueber neue Beiträge zur paläontologischen Kenntniss des
oberschlesischen Muschelkalkes.
Von
Realschul-Öberlehrer Dr. Kunisch.
Der Vortragende lieferte neue Beiträge zur paläontologischen Kennt-
niss des oberschlesischen Muschelkalkes, wobei er hervorhob, dass sich
um letztere in der jüngsten Zeit an Ort und Stelle Herr Betriebsinspeetor
Kubatzek-Gogolin und Herr Rathsherr Kluezny-Krappitz ganz be-
sonders verdient gemacht haben. — Der Vortragende legte eine Kalk-
steinplatte von etwa 60 em Länge und 20 cm Breite vor, welche auf
der Oberseite einen grossen Theil des Rumpf- und Gliedmaassenskelettes
eines Sauriers (Nothosaurus spec.) aufweist und sich an die durch die
Literatur bis jetzt bekannter gewordenen 10 Saurierplatten des Muschel-
kalkes (Vergl. Zeitschr. d. deutsch. geolog. Gesellsch., Jahrgang 1888,
Seite 672) würdig anschliesst. — Alsdann zeigte er vier Unterkiefer von
Saurichthys Ag., jener eigenthümlichen, bisher zu den Fischen gezählten
Thiergattung, von welcher man ausser den langgestreckten, vogelschnabel-
ähnlichen, mit konischen Zähnen besetzten Unterkiefern so gut wie gar
nichts kennt. Durch sehr vorsichtige Bearbeitung dieser Versteinerungen
mit Hammer, Meissel und Präparirnadel ist es dem Vortragenden ge-
lungen, die in Gesteinsmasse eingebetteten organischen Reste derartig
freizulegen, dass die Besichtigung des Unterkiefers von allen Seiten er-
möglicht wurde. Das kleinste vollständige Exemplar besitzt eine Länge
von 12,5 cm, während das grösste, aber nur fragmentarisch erhaltene
Exemplar 17 em lang ist und im unverletzten Zustande sicherlich we-
nigstens 20 cm in der Länge gemessen haben muss. — Die Versteinerungen
werden nach ihrer endgültigen Bearbeitung in den Besitz des Mineralo-
gischen Museums der hiesigen königl. Universität übergehen,
14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Ueber die Haltbarkeit von Kaliumpermanganatlösungen.
Von
Professor Poleck.
Der Vortragende theilte die Resultate mit, welche der Assistent am
pharm. Institut H. Dr. Grützner bezüglich seiner Untersuchung der
Haltbarkeit von Kaliumpermanganat-Lösungen verschiedener Concentration
erhalten hatte. Wässrige Lösungen von 1 Gr. und 3 Gr. im Liter wurden
in nach Art der Spritzflaschen eingerichteten Flaschen vor atmosphärischem
Staub geschützt, theils im zerstreuten Tageslicht, theils im Dunklen auf-
bewahrt. Die dem zerstreuten Tageslicht ausgesetzte Lösung von
1 zu 1000 hatte sich 1 Jahr lang unverändert gehalten, nach 1'/, Jahren
nur 2,61 °/, ihres Gehaltes eingebüsst, während die im Dunkeln aufbe-
wahrte Lösung in dieser Zeit fast unverändert geblieben war, nur 0,94°/,
ihres Gehaltes eingebüsst hatte. Noch günstiger war das Resultat bei
der Lösung 3 zu 1000, welche auch im zerstreuten Tageslicht nach
1!/, Jahren an ihrem Gehalt nichts verloren hatte. Ebenso liegen frühere
Erfahrungen vor, dass selbst °/ „, procentige Lösungen bei dieser geeig-
neten Aufbewahrung mehrere Monate lang unverändert in ihrem Gehalt
geblieben sind. Es besitzen daher vor atmosphärischem Staub und
direetem Sonnenlicht geschützte Kaliumpermanganat-Lösungen eine grosse
Haltbarkeit, ihre Titerstellung mit Ammon-Ferrosulfat ist ebenso einfach,
wie rasch ausführbar. Die Unkenntniss dieser Verhältnisse kann wohl
der einzige Grund gewesen sein, die Anwendung des Kaliumpermanganats
von der Gehaltsbestimmung der Ferropräparate der 3. Auflage des deut-
schen Arzneibuchs auszuschliessen und in mehreren Fällen, so bei Ferrum
pulveratum und reductum durch ungeeignete gradezu falsche Methoden zu
ersetzen und anderseits die nothwendige Gehaltsbestimmung analoger
Präparate zu unterlassen.
Sitzung vom 6. Juli 1892.
Ueber das Hyosein.
Von
Geh. Rath Professor Dr. Ladenburg.
Der Vortragende erinnert zunächst daran, dass er dieses Alkaloid
vor 12 Jahren in den Rückständen der Hyoseyamindarstellung gefunden
und für dasselbe nach Analyse einer Reihe von Salzen die Formel
C,.H,;NO, aufgestellt habe, welche auch die Untersuchung der Spaltungs-
producte, als welche sich Tropasäure C,H,,O, und Pseudotropin
C,H,,NO ergeben hatten, bestätigt wurde. Das Hyosein wird seit jener
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 15
Zeit fabrikmässig dargestellt, da es eine nicht unwichtige therapeutische
Verwendung gefunden hat.
Neuerdings ist nun in der Scopoliawurzel ein Alkaloid aufgefunden
worden, welches sehr grosse Aehnlichkeit mit dem Hyosein zeigt, dessen
Analysen aber auf die Formel C,.H,,NO, führen. Da nun aber dieses
Scopolamin sich auch im Hyoscyamus findet, so ist die Vermuthung aus-
gesprochen worden, dass das Scopolamin mit dem Hyosein identisch sei.
Der Vortragende hat nun eine Reihe neuer analytischer Bestimmungen
ausgeführt und aus diesen, sowie aus einigen krystallographischen Messungen,
für welche er Herrn Dr. Milch zu besonderem Dank verpflichtet ist, geht
hervor, dass diese Ansicht unrichtig ist. Dagegen hat es sich gezeigt,
dass die Handelswaare „Hyosein‘“ Scopolamin enthält, was übrigens der
therapeutischen Verwendung keinen Eintrag thut, da beide Alkaloide
fast dieselbe Wirkung haben.
Schliesslich schlägt der Vortragende vor, für solehe Körper, welche
bei nahezu gleichen Eigenschaften eine verschiedene Zusammen-
setzung besitzen, die Bezeichnung isidiom (von loog und (ölwu«x) anzunehmen,
Ueber die Einwirkung des Wasserstoffsuperoxyds auf Piperidin.
Von
Dr. R. Wolffenstein.
Der Vortragende sprach über die Einwirkung des Wasserstoff-
| i „der Grundsubstanz vieler Alkaloide.
superoxydsaufPiperidin: i | 2
2
Bei gemässigter Einwirkung entsteht dabei durch Sprengung des Piperidin-
CH,
Em 5
| ‚eine bei 39° schmelzende,
H,C CHO
N
NH,
starke Reductionswirkungen ausübende Substanz, von intensivem Geruch.
Sie bildet ein bei 145° schmelzendes salzsaures Salz, von ungemeinem
Krystallisationsvermögen, das, wie Herr Professor Hintze die Güte hatte
zu untersuchen, im monoklinen System krystallisirt. Erhitzt man diesen
Aldehyd mit Aetzkali, so tritt unter Wasserabspaltung wieder Ring-
CH,
H,0/ \NCH
ringes der Amidovaleraldehyd
schliessung ein und es bildet sich das Tetrahydropyridin:
16 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
das, wie aus seinem ganzen Verhalten hervorgeht, die vorstehende Con-
stitution besitzen muss. Es ist eine piperidin- und zugleich spermaartig
riechende Flüssigkeit, die sich als starke Base charakterisirt und
Neigung zur Polymerisation zeigt. Oxydirt man das Piperidin in an-
haltenderer Weise mit Wasserstoffsuperoxyd, so erhält man nur Glutärsäure
CH,
H,C/ \CH,
u Er
ist es also bei der blossen Aufsprengung des Piperidinringes nicht
geblieben, sondern es hat noch eine Oxydation der endständigen Glieder
stattgefunden.
Als drittes Reactionsproduet konnte, wenn auch in geringerer Aus-
CH,
vet NcH,
HC COH
2 N
N
und sich dadurch vorzugsweise von dem schon bekannten «-Piperidon
CH,
N.cH,
| 5 unterscheidet. Jenes stellt daher die Lactimform, dieses
‚ oder Derivate derselben. Zur Bildung dieser Säure
beute, ein Piperidon erhalten werden, das bei 129° schmilzt
die Lactamform vor.
Ueber ein neues Vorkommen von Lias und oberen Jura auf
der Insel Rotti bei Timor in Ostindien und über einen Fund
von diluvialen Knochen aus der Thongrube von Münsterberg.
Von
Privatdoceut Dr. Gürich.
Der Vortragende berichtete über ein neues Vorkommen von
Lias und oberen Jura auf der Insel Rotti bei Timor in Ost-
indien. Dasselbe ist von grösserem Interesse, weil vom malayischen
Archipel bisher jurassische Ablagerungen noch nicht bekannt waren und
demgemäss die geltenden Anschauungen von der Vertheilung von Land
und Meer zur Jurazeit dadurch nicht unwesentlich modifieirt werden.
Der deutsche Arzt, Dr. Schneider in Soerabaya auf Java, dem man
schon manche werthvolle wissenschaftliche Beobachtung verdankt, hatte
Herrn Geheimrath Roemer eine Reihe von Gesteinsproben und einige
Versteinerungen von der Insel Rotti bei Timor zugeschickt. Die Sendung
kam erst nach dem Tode Ferd. Roemers hier an; der Nachfolger des-
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 17
selben, Herr Prof- Dr. Hintze, gestattete dem Vortragenden die Unter-
suchung der interessanten Sendung. Die Versteinerungen sind aus-
schliesslich Ammoniten und Belemniten; die Erhaltung der Bruchstücke
ist eine mangelhafte, trotz dessen konnte mit Sicherheit folgendes fest-
gestellt werden. Von Ammoniten liegen vor: Arieticeras cf, spiratissi-
mum Quenstedt, Ar. geometricum Oppel, Psilonoticeras ef. plicatum Qu.,
ausserdem in weniger deutlichen Fragmenten: Lytoceras sp, und Coe-
loceras sp. Von diesen Arten weisen die ersten drei mit Sicherheit auf
den unteren Lias. Die nächsten bekannten Liasfundpunkte mit einer
ähnlichen Arietiten-Fauna liegen auf Neuseeland, auf Japan und am
Kaukasus. Nach dem augenblicklichen Standpunkte unserer Kenntnisse
ist es nun schwierig, sich ein Bild von der Verbindung des Lias-Meeres
zwischen dem Kaukasus und dem ostindischen Archipel zu entwerfen.
Die Belemniten von Rotti sehen äusserlich wie der mitteljurassische
Bel. canalieulatus aus, eine genauere Untersuchung zeigt aber, dass sie
zu der Gruppe der Bel. absoluti gehören. Der nächste Verwandte, viel-
leicht sogar identisch, ist Bel. Gerardi Oppel aus den Spiti-Schiefern am
Himalaya. Letztere gehören nach dem russischen Geologen Nikitin
dem weissen Jura oder Malm an. Demnach muss ausser unterem Lias
auch noch oberer Jura auf Rotti anstehen. Schneider giebt an, die Ver-
steinerungen in einem blauen 'Ihon gefunden zu haben. Das Zusammen-
vorkommen aller dieser verschiedenen Versteinerungen von verschiedener
Erhaltung in derselben Schicht ist aber höchst verdächtig. Hierfür wird
der Schlüssel geliefert durch eine im Maiheft dieses Jahres von Peter-
manns Mittheilungen publiierten Arbeit des Utrechter Geologen Wich-
mann, welcher Rotti ebenfalls besucht hatte. Auch er fand ähnliche
Versteinerungen, giebt dieselben aber als Auswürflinge eines Schlamm-
vulkans an; auf diese Weise lässt sich das Zusammenvorkommen von
Versteinerungen verschiedenen Alters in demselben Gesteine — dem
blauen Thon Schneiders — sehr wohl erklären. Durch dieses Vor-
kommen von Jura auf Rotti wird der jurassische sino-australische Con-
tinent, dessen Existenz Neumayr bei Gelegenheit seiner Studien über
die geographische Verbreitung der Juraformation angenommen hatte, von
Westen aus nicht unerheblich eingeschnürt.
Derselbe Vortragende berichtete über einen neuen Fund von
diluvialen Knochen aus der Thongrube von Münsterberg.
Dieselben gelangten durch die Vermittelung der Leitung des Museums
für Schlesische Alterthümer in das Mineralogische Museum. Die Knochen-
reste rühren von dem diluvialen Nashorn und dem diluvialen Pferde her.
Von Equus fossilis Rütimeyer liegen vor: eine linke tibia, ein rechter
radius, ein beschädigter Metatarsalknochen und 4 Zähne nämlich vom
Öberkiefer: rechter Prämolar 1, linker Molar I, vom Unterkiefer: rechter
Prämolar 1 und linker Prämolar 3. Die Knochen sind verhältnissmässig
18 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
schlank und etwas kleiner als bei dem lebenden Pferde von Mittelgrösse ;
die Kaufläche der Zähne ist, wie gewöhnlich, länger und schmaler als
bei dem lebenden Pferde. Diluviale Pferdereste werden in Schlesien oft
gefunden, jedoch muss man bei deren Bestimmung sehr vorsichtig sein,
da Funde recht jugendlichen Alters denselben mitunter sehr ähnlich sein
können. Nur die Lagerstätte ist hierbei ausschlaggebend.
Von Rhinoceros tichorhinus liegen von demselben Fundort vor: ein
distales, stark beschädigtes Ende einer tibia und die rechten vorderen
Mittelfussknochen III und IV. Letztere gehören demselben Individuum
an und es ist demnach wahrscheinlich, dass die übrigen Theile der Ex-
tremität sich ebenfalls in der Nähe befunden haben werden.
Da solche Funde von diluvialen Resten grosser Säuger von hohem
Interesse sind, wäre es sehr wünschenswerth, wenn allenthalben in
unserer Provinz auf solche Vorkommnisse geachtet, die Lagerstätie
untersucht, die Knochen sorgfältig gesammelt und dann zur wissenschaft-
lichen Verwerthung nach dem Breslauer Mineralogischen Museum ge-
bracht würden.
Sitzung am 12. October 1892.
Ueber den Drehstrom.
Von
Geh. Rath Professor Dr. 0. E. Meyer.
In dieser Sitzung, welche im physikalischen Institut der Universität
stattfand, erläuterte Prof. Dr. ©. E. Meyer das Wesen der Verkettung
elektrischer Wechselströme, welchen von Drobrowolski den Namen Dreh-
strom gegeben hat. Er schioss sich dahei an einen Vortrag an, der
von F. Braun in Tübingen gehalten worden und auch im Druck er-
schienen ist. In einigen einleitenden Worten über dynamoelektrische
Maschinen für Gleichstrom und für Wechselstrom erinnerte er an den
Begriff des magnetischen Feldes, welches für Gleichstrom eine sich stets
gleich bleibende Stärke der erregenden Kraft zeigt, während bei Wechsel-
strom-Maschinen die Kraft nach Stärke und Richtung in regelmässiger
Periode wechselt. Bei dem Drehstrom wird dieser Wechsel so zu Stande
gebracht, dass das constante Magnetfeld sich mit unveränderlicher Ge-
schwindigkeit im Raume herumdreht. Um dieses Verhalten zur An-
schauung zu bringen, wurden die von W. Weiler beschriebenen Ver-
suche mit den Ferraris’schen Doppelspulen und dem Tesla’schen Ringe
ausgeführt, wozu eine kleine Accumulatorenbatterie den Strom lieferte.
Ferner wurde eine Gramme’sche Maschine, an welcher die Strom-
ableitung in der von F. Braun beschriebenen Weise abgeändert war,
als Drehstrom-Erreger zu denselben und ähnlichen Versuchen benützt,
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 19
Endlich wurden die Einrichtungen beschrieben, durch welche 1891 die
Uebertragung elektrischer Kraft von Lauffen bis Frankfurt a. M. mittelst
Drehstroms gelang.
Sitzung am 26. October 1892.
Ueber die Beziehungen der Basalte in den Vorbergen des
Isergebirges zur Eiszeit.
Von
Geh. Bergrath Althans.
Der Vortragende, Geheimer Bergrath Althans, sprach über das
Auftreten von Basalten in den Vorbergen des Isergebirges zwischen
Greiffenberg, Friedeberg, Marklissa und Langenöls, als Merkmalen der
nordischen, hier bis an das Isergebirge heranreichenden Eisbedeckung
und der Richtungen der diese bildenden Gletscherströme. Auf einer
nach Messtischblättern colorirten Höhenschichtenkarte wurde das be-
merkenswerthe Relief dieser Gegend vorgeführt und eine Darstellung der
Basaltdurchbrüche und der vom Redner aufgefundenen, von diesen Basalt-
köpfen durch die Gletscherströme weithin über Berg und Thal ver-
schleppten Basaltblöcke und deren nach Süden verstreute Verschleppungs-
wege gegeben.
Der Vortragende erwähnte, dass gleichzeitig mit dieser ersten, am
weitesten vorgedrungenen nordischen continentalen Eisbedeckung nach
Professor Berendt auch das Riesen- und Isergebirge völlig vergletschert
gewesen, dass also die nordischen und die sudetischen Eisströme zwischen
Hirschberg und Friedeberg zusammengeflossen seien.
Die an Naturschönheiten reiche Schlucht des Queisflusses zwischen
Greiffenberg und Marklissa, in über 400 m hohe Bergzüge wild einge-
rissen, verdankt den Gletscherwassern dieser Zeit ihre Entstehung und
die Wildheit des Wasserlaufs wie der Bergklippen.
Das nördlich von der Queisschlucht gelegene Hochland ist, aus-
gehend von den Basaltbergen bei Wingendorf und beim Bahnhof Langen-
öls, mit zahllosen Basalt-Findlingen überstreut, aber auch die, herrliche
Aussicht nach dem nahen Gebirge bietenden Basaltberge Rietstein und
Greiffenstein waren — wie südlich davon verschleppte Basaltstücke
nachweisen — von der Nordlandeisdecke überfluthet.
Die an Basalt-Findlingen vorkommenden, durch mitgewanderte härtere
Quarzite eingekratzten zahlreichen Schrammen mit ihren sehr verschieden
tief verwitterten Narben beweisen eine überaus lange, auf Jahrtausende
zu schätzende Wanderung in der Grundmoräne und lassen damit auf
eine über hunderttausend Jahre zu schätzende Periode der ersten Eiszeit
schliessen,
9*
90 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Mittheilung der Resultate einiger wissenschaftlicher Arbeiten
des pharmaceutischen Instituts der Universität.
Von
Geh. Rath Professor Dr. Poleck.
Die erste Mittheilung betraf das Jalapin, den wirksamen Bestand-
theil der sogenannten Jalapenstengel, der Wurzel der Ipomoea Oriza-
bensis Led. Dieser Körper ist, wie das in der officinellen Jaiape
enthaltene Convulvulin, ein Glycosid, und zwar das Anhydrid der zwei-
basischen Jalapinsäure. Es zerfällt beim Erhitzen mit Säuren oder Basen
in Zucker und die einbasische Jalapinolsäure, die, wie das Jalapin selbst,
bei der Oxydation mit Kaliumpermanganat in Iso- und Oxisobuttersäure
übergeführt wird. |
Die zweite Mittheilung betraf die Zusammensetzung des ätherischen
Oels des Knoblauchs, welche durch Dr. Semmler ermittelt worden war.
Das Oel, von schwach bräunlich gelber Farbe und furchtbar widrigen
und lange haftenden Geruch ist nur in geringer Menge in den Zwiebeln
von Allium sativum L. enthalten. . Die Fabrik von Schimmel u. Co. in
Leipzig erhielt aus 900 kg Zwiebeln nur 800 gr — 0,09 pCt. Ausbeute.
Das Oel ist schwerer wie Wasser, optisch inactiv und enthält weder ein
Terpen, noch einen sauerstoffhaltigen Bestandtheil. Es besteht in der
Hauptmenge aus zwei Disulfiden, ca. 6%, C,H,S—SC,H, und ca. 60,
C,H,S—SC,H,, den Rest bilden höhere Sulfide derselben Radicale,
welche sämmtlich durch Zinkstaub zu Monosulfiden reducirt werden. Es
enthält daher das Oel kein Schwefelallyl.
Das später von Dr. Semmler untersuchte Zwiebelöl von Allium
Cepa L. war von dunkelbrauner Farbe, schwerer wie Wasser, optisch
activ und von intensiver Riechkraft, denn 5000 kg Zwiebeln hatten bei
der Destillation nur 233 gr —= 0,005 %, geliefert. Dieses Oel enthält
als Hauptbestandtheil das Disulfid C,H, S—SC,H,, wie es scheint den-
selben Körper, der als der flüchtigere Bestandtheil im Knoblauchöl vor-
kommt. Die Analogie dieser Oele mit dem ätherischen Oel der Asa
foetida, des Teufelsdrecks, das nach Dr. Semmlers Untersuchung
Disulfide anderer Radicale von ähnlichem Geruch wie jener des Knob-
lauchs enthält, erklärt den in manchen Gegenden noch herrschenden Ge-
brauch, die Asa foetida anstatt des-Knoblauchs als Gewürz zu benutzen.
Derselbe Vortragende theilte ferner mit, dass die von der Fabrik
ätherischer Oele von Schimmel u. Co. in Leipzig unter der umsichtigen
Leitung ihres Besitzers Herrn Fritzsche vor ca. 6 Jahren in Angriff ge-
nommene Gewinnung von Rosenöl aus deutschen Rosen immer grössere
Dimensionen annehme und vorzüglich gedeihe. Die in dem 3 km von
Leipzig entfernten Gross-Miltitz angelegten, mehr als 50 Hektare um-
fassenden Anpflanzungen einer Varietät der Centifolien haben sich im
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 91
Sommer dieses Jahres üppig entwickelt und einen Ertrag von vorzüg-
licher Beschaffenheit geliefert. Eine Fabrikanlage inmitten der Rosen-
gärten, die auf die Verarbeitung von einer Million kg Rosen eingerichtet
ist, gestattet die Destillation an Ort und Stelle ohne weiteren Transport
der Blätter, wobei ein Oel von weit feinerem, duftigeren Geruch und
geringerem Gehalt an dem geruchlosen Stearopten erhalten wurde. Da-
bei stellte sich die interessante Thatsache heraus, dass das auf diese
Weise gewonnene Oel keinen Aethylalkohol enthielt, während in den
vorhergehenden Jahren der Transport der Rosen nach Leipzig genügt
hatte, nicht unbeträchtliche Mengen dieses Alkohols durch einen noch
näher zu studirenden Gährungsvorgang in den Rosenblättern zu erzeugen.
Dadurch erhält die zuerst von Dr. Eckart in dem Laboratorium des
Vortragenden gemachte Beobachtung von der Anwesenheit dieses Alkohols
im Rosenöl ihre volle Bestätigung.
Ueber eine neue krystallisirte Eisen-Wolfram-Legirung.
Von
Geh. Rath Professor Dr, Poleck.
Vor einiger Zeit erhielt das pharmaceutische Institut zu Breslau
aus der Biermann schen Metallindustrie in Hannover ein grösseres
Stück einer Eisen- Wolfram-Legirung mit einem Gehalt von 80 pCt.
Wolfram. Der Director der Fabrik, Herr Rehboch, hatte die Güte
mitzutheilen, dass die betreffende Legirung auf elektrolytischem Wege
aus dem besten böhmischen Wolframstufenerz (Wolframit) erhalten
worden sei, dass man aber die Fabrikation dieser an Wolfram so reichen
Verbindung aufgegeben habe, weil die Herstellungskosten auf diesem
Wege sich für eine Verwerthung derselben in der Industrie zu hoch
stellten. Ueber das Verfahren der Herstellnng äusserte sich Herr Reh-
boch nicht eingehender.
Das betreffende, ca. 600 g schwere Stück war von ausgezeichnet
krystallinischem Gefüge, mit einzelnen Drusenräumen durchsetzt, in denen
sich zwar sehr kleine, aber doch gut ausgebildete Krystalle erkennen
liessen. Die Krystalle sowohl, wie die krystallinische Grundmasse, be-
sassen eine silbergraue Farbe!, einen grossen Glanz, grosse Härte und
ein hohes specifisches Gewicht. Es gelang, eine wenn auch nur kleine
Menge der Krystalle zu isoliren, sie krystallographisch zu bestimmen
und zu analysiren.
Herr Prof. Hintze hatte die Güte, die krystallographische Be-
stimmung zu übernehmen und die Messungen im mineralogischen Institut
der Universität durch Herrn Privatdocenten Dr. Milch ausführen zu
lassen, wofür ich beiden Herren hier meinen verbindlichsten Dank aus-
spreche,
99 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
„Die Krystalle der Eisen-Wolfram-Verbindung stellen flache trigo-
nale Prismen mit Basis dar. Durch die Messungen wurde der Prismen-
winkel genau zu 60° und die Neigung von Prisma zur Basis zu 90°
gefunden. Da keine anderen Flächen beobachtet werden konnten, muss
es unentschieden bleiben, ob die jedenfalls im hexagonalem System
krystallisirende Substanz in die trapezo&@drisch-tetarto@drische Abtheilung
gehört, oder ob das trigonale Prisma durch Zusammenwirken der rhom-
boedrischen Hemiedrie mit Hemimorphie nach der Hauptaxe hervor-
gebracht wird. Zuweilen erscheinen zwei Krystalle symmetrisch nach
einer Fläche des trigonalen Prismas verwachsen. Eine Spaltbarkeit
wurde nicht beobachtet.
Bemerkenswerth ist die Härte der Krystalle, welche den Topas mit
grosser Leichtigkeit ritzen und ungefähr dieselbe Härte, wie der Korund
besitzen.‘
Die chemische Untersuchung der Krystalle, die von dem Assistenten
am pharmaceutischen Institut Herrn Dr. Grützner ausgeführt wurde,
wies Eisen und Wolfram nach, während die Hauptmasse der Legirung
nicht unbeträchtliche Mengen Kohlenstoff chemisch gebunden enthielt.
Die Legirungen des Wolframs sind bisher nur wenig untersucht
worden. In dem Lehrbuch der Chemie von Berzelius findet sich eine
Notiz, wo es heisst: mit anderen Metallen lässt sich das Wolfram zusammen-
schmelzen und einige seiner Legirungen behalten einen gewissen Grad
von Geschmeidigkeit, wie jene mit Blei und Kupfer. — Im Jahre 1853
nahm Muchet in England ein Patent auf die Anwendung des Wolframs
bei der Stahlfabrikation, durch welches dem bis dahin als werthlos be-
trachteten Metall, dessen Erze auf die Halden geschüttet und kaum als
Wegepflasterungsmaterial benutzt wurden, in kurzer Zeit ein nicht un-
bedeutender Werth beigelegt wurde. — Bernoulli hat dann Legirungen
mit Eisen, Kupfer, Blei, Antimon, Wismuth, Kobalt, Nickel, Silber und
Gold darzustellen versucht.
Sein Hauptaugenmerk richtete er jedoch auf die technisch wichtigste
Legirung von Wolfram mit Eisen. Nach seinen Versuchen lässt sich
Eisen in jedem Verhältniss mit Wolfram legiren, bis man unter Zusatz
von 80 pCt. Wolfram eine bei heftigster Weissglühhitze umschmelzbare
Masse erhält. Bernoulli erhielt auf diese Weise beim Glühen von
kohlenstoffhaltigem Eisen mit 80 pCt. Wolframsäure keinen Regulus,
sondern nur eine unregelmässige, sich an die Wände anlegende, blasige
Masse, die im muschligen Bruch eine schöne silberartige weisse Farbe
zeigte und so hart war, dass sie Glas und Quarz mit Leichtigkeit ritzte.
— In neuester Zeit hat „Biermann’s Metall-Industrie‘“‘ in Hannover die
Herstellung dieser Legirungen in den verschiedensten Procentsätzen in
die Hand genommen, wie sie auch eine Menge anderer interessanter
Legirungen wie Ferro-Chrom, Ferro-Molybdän u. A, in den Handel bringt.
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 23
Zur vorläufigen Auswahl der Methode, welche sich am besten zur
quantitativen Bestimmung des Wolframs neben dem Eisen eignen würde,
wurde ein Theil der Grundmasse der Legirung höchst fein gepulvert,
gebeutelt und mit Königswasser längere Zeit erwärmt. Mit Zunahme
des Lösungsprocesses wuchs auch die Menge der ausgeschiedenen
Wolframsäure, sie legte sich jedoch so fest an die Gefässwandungen an,
dass eine quantitative Bestimmung unmöglich wurde. Ausserdem zeigten
sich in der mit gelbgrünlicher Farbe ausgeschiedenen Wolframsäure
schwarze Pünktchen unaufgeschlossener Substanz, welche, durch die sie
einhüllende Wolframsäure geschützt, selbst durch längeres Kochen mit
Königswasser nicht in Lösung zu bringen waren.
Dagegen führte das Aufschliessen mit Natrium-Kaliumcarbonat zu
befriedigenden Resultaten. Das staubfeine Pulver wurde mit annähernd
der zehnfachen Menge des Carbonats innig gemischt und geschmolzen,
Durch Behandeln der Schmelze löste sich das Alkali-Wolframat auf, das
Eisen blieb auf dem Filter zurück. Nach seinem Auflösen in Salzsäure
blieb ein Rückstand, der neben Kohlenstoff immer noch kleine Mengen
unaufgeschlossener Substanz enthielt, erst durch wiederholtes Schmelzen
mit dem Carbonat konnte vollständige Aufschliessung erzielt werden.
Diese Aufschliessung der Legirung wird aber wesentlich erleichtert, wenn
vorher ihr feinstes Pulver im Platintiegel geglüht wird, sie bläht sich
auf, oxydirt sich und durch diesen Process wird diese ungemein harte
und speeifisch schwere Substanz so aufgelockert, dass sie dann durch
einmaliges Schmelzen mit Natriumkaliumcarbonat vollständig aufge-
schlossen wird. In der wässerigen Lösung der Schmelze wurde, nach
dem Neutralisiren mit Salpetersäure durch Mercuronitrat das Wolfram
als flockiges, gelblich-weisses Mercurowolframat gefällt. Nach 24stün-
digem Stehen wurde der Niederschlag abfiltrirt, mit verdünnter Mercuro-
nitratlösung ausgewaschen, getrocknet und nach dem Glühen als Wolfram-
säure gewogen. Das beim Auslaugen der Schmelze auf dem Filter ge-
bliebene Eisenoxyd wurde unter Zusatz von einigen Körbchen Kalium-
chlorat in Salzsäure gelöst und als Eisenoxyd bestimmt.
Analyse der isolirten Krystalle: Gef. Proc.: Fe 13.07, W, 86.40.
Durch Division der vorstehenden Procentzahlen durch die ent-
sprechenden Atomgewichte erhält man als einfachstes Verhältniss
0.2335 Fe und 0.4695 Wo,
das ziemlich genau einem Atomgewicht Eisen und zwei Atomgewichten
Wolfram entspricht.
Die Zusammensetzung der Krystalle wird daher durch die Formel
Fe Wo, ausgedrückt, sie enthalten nur Spuren von Kohlenstoff.
Die unbedeutende Menge des Untersuchungsmaterials gestattete leider
nur diese eine Analyse.
24 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Die Analyse der krystallinischen Hauptmasse der Legirung, die
jedoch keine ausgebildeten Krystalle zeigte, führte zu nachstehenden
Resultaten.
Gef. Prof.: W, 783.73, Fe 15.94 C. 5.03, Summa 99,70.
Der Kohlenstoff wurde durch Verbrennen im Sauerstoffstrom bestimmt.
Berechnet man das einfachste Verhältniss der Atomgewichte des
Wolframs, Eisens und des Kohlenstoffs, so erhält man die Zahlen
0.4288 Wo : 0.2846 Fe: 0.4191 C.
Diese entsprechen ziemlich genau dem Verhältniss 3: 2:3 und da-
mit einer chemischen Verbindung Wo, Fe, C, von krystallinischer Be-
schaffenheit und fast gleicher Härte wie die isolirten Krystalle Das
specifische Gewicht der Hauptmasse betrug in zwei Versuchen 12.92
und 13.04.
Es liegen daher hier zwei noch nicht bekannte Legirungen des
Wolframs mit dem Eisen in einfachen Atomverhältnissen vor, die eine
krystallisirt, Fe Wo,, dem Schwefelkies Fe 5, entsprechend, die andere
krystallinisch, Fe, Wo, C,, mit chemisch gebundenem Kohlenstoff, und
ferner die interessante Thatsache, dass aus dieser letzteren Verbindung,
der krystallinischen Grundmasse, die an Wolfram reichere und kohlen-
stofffreie Verbindung herauskrystallisirt ist.
Ueber Verrucano.
Von
Privatdocent Dr. Milch.
Der Vortragende zeigte zunächst auf Grund der älteren Literatur
dass der ursprünglich den Monti Pisani entnommene Localname ‚‚Verru-
cano‘“ von A. Escher von der Linth und Studer auf alpine Gesteine
übertragen und im Laufe der weiteren Entwickelung der geologischen
Forschungen von ihnen und anderen für sehr verschiedene Gesteine und
Gesteinscomplexe angewandt wurde, so dass gegenwärtig „Verrucano‘
in verschiedenen Gebieten und sogar in einem und demselben Gebiet
bei verschiedenen Forschern durchaus verschiedene Gesteine bezeichnet.
Auf sein Arbeitsgebiet, den Verrucano der Cantone Glarus und Grau-
bünden übergehend, zeigte er, wie nach den Untersuchungen A. Eschers
und A. Heims in diesen Gebieten durch die Runzelung der Erdrinde und
die dadurch bewirkte Entstehung liegender Falten eine Ueberlagerung
der jüngeren Schichten durch die älteren, hier spec. Verrucano genannten
Gesteine sich herausgebildet habe und wie sich diese Verhältnisse durch
Vor- und Rückfaltung über ein Senkungsfeld noch verwickelter gestaltet
haben. Er besprach sodann die von ihm untersuchten Eruptivgesteine
aus dem Verrucano dieses, gewöhnlich als ‚Glarner Doppelfalte‘‘ be-
zeichneten Gebietes, Die schon lange anstehend bekannten Melaphyre
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 35
der Glarner Freiberge (Kärpfgruppe) erwiesen sich zum grössten Theil]
als Olivinweiselbergite, doch treten auch Navite und Olivintholeiite hier
auf. Besonderes Interesse boten die durch den Gebirgsdruck in Folge
des Faltungsvorganges an den Melaphyren hervorgebrachten Verände-
rungen: die Eruptivgesteine werden schiefrig, verändern ihre ursprüng-
liche mineralogische Zusammensetzung und werden Sedimentgesteinen,
die von den gleichen Kräften verändert sind, überaus ähnlich. That-
sächlich gelang es, auch Gesteine, die bisher für Sedimente galten, als
veränderte Melaphyre zu erkennen.
Anstehende Quarzporphyre waren bisher in der Glarner Doppelfalte
nicht bekannt; dem Vortragenden gelang es jedoch, sie in verändertem
Zustande anstehend in weiter Verbreitung nachzuweisen. Auch sie sind
durch den Gebirgsdruck schiefrig geworden und ähneln den durch die
gleichen Ursachen veränderten Sedimenten in hohem Grade; doch sind
sie bis zu einem bestimmten Grade der Umwandlung durch mikro-
skopische Untersuchung zu unterscheiden. Der Nachweis von anstehenden
Quarzporphyren ist wichtig, weil er die bisher räthselhaft gebliebene
Herkunft der zahllosen Quarzporphyrgerölle im Verrucanoconglomerat
erklärt.
Im Uebrigen liess sich nachweisen, dass die Eruptivgesteine an den
Stellen der Falten am stärksten verändert sind, wo Druck und Zug be-
sonders stark auf die Gesteine einwirkten; die stärkst veränderten Ge-
bilde liegen stets in den Mittelschenkeln der liegenden Falten.
Sitzung am 23. November 1892.
Ueber ein Vorkommen von Gyps-Krystallen in der Nähe der
Stadt Posen.
Von
Gymnasial-Oberlehrer Dr. Schiff.
Der Vortragende legt eine Anzahl von Gypskrystallen vor, welche
zu Morasko, 10 km nördlich von Posen, gefunden wurden. Dieselben
entstammen — wie aus den dankenswerthen Mittheilungen des Herrn
Rittergutsbesitzers von Treskow auf Morasko hervorgeht — einem
umfangreichen Thonlager, welches an derartigen Einschlüssen ziemlich
reich ist. Auch von dem Material dieses Lagers wurden eine Anzahl
Proben gezeigt; dasselbe ist ein recht reiner Thon von grauer, röth-
licher oder gelbbrauner Farbe und, wie aus seinem Verhalten beim
Uebergiessen mit Salzsäure hervorgeht, von nur sehr geringem Kalk-
gehalt. — Die vorgelegten Gypskrystalle waren fast wasserhell, rings-
herum ausgebildet und theils einzeln, theils zu Gruppen vereinigt. Die
36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
einzelnen Individuen, sowie die grösseren aus den Gruppen zeigen die
bekannte zehnflächige Combination der verticalen Säule mit dem Klino-
pinakoid und der negativen Hemipyramide. Die kleineren Krystalle der
Gruppen sind hingegen meist Zwillinge und lassen am freien Ende die
ausspringende vierflächige Zuspitzung hervortreten. Sämmtliche grösseren
Krystalle erscheinen durch die bedeutende Ausdehnung des Klinopinakoids
tafelartig. Die Kanten sind wenig scharf, besonders gilt dies für die
oberen und unteren Endflächen. Ferner sind die Prismenflächen meist
längsgestreift und zeigen, wie in noch höherem Grade die Abstumpfungen
der scharfen Säulenkanten, vielerlei Störungen, besonders Vertiefungen,
die sich nach innen zuspitzen. Bekanntlich finden sich derartige Gyps-
vorkommnisse ziemlich häufig in Thonlagern eingeschlossen und dürfen
wohl als primäre Bildungen derselben angesehen werden.
Ueber ein neues fossiles Lebermoos.
Von
Dr. von Raciborski.
Auf Grund der Descendenztheorie sind wir geneigt, die Moose als
eine ältere Gruppe als die der Farne aufzufassen. Leider vermochte
die Palaeontologie keine Beweise für diese Meinung beizubringen. Fossile
Muscineen gehören zu den allerseltensten Erscheinungen. Am häufigsten
sind sie noch in baltischen Suceiniten zu finden; da begegnen wir aber
sehr hoch differeneirten Formen, welche mit den jetzt lebenden höchst
verwandt sind, so dass wir doch annehmen dürfen, die Moose haben
auch den älteren Formationen nicht gefehlt.
In der That hat B. Renault ein Laubmoos in dem französischen
Carbon von Commentry: Museites polytrichaceus gefunden.
Was die Lebermoose anbelangt, so wurden bis vor Kurzem die
zwei fossilen Marchantiaarten, welche Marquis G. Saporta in tertiären
(palaeocaenen) Süsswasserkalken von S6zanne abgebildet hat, als älteste
betrachtet. Doch gelang es mir vor vier Jahren in den viel älteren,
jurassischen, feuerfesten Thonen der Krakauer Umgebung ein fossiles
Lebermoos aufzufinden; jetzt habe ich ein noch älteres im hiesigen
mineralogischen Museum angetroffen.
Die Pflanze stammt aus Ellguth bei Woischnik in Oberschlesien.
In den dortigen Süsswasserkalken, welche dem Mittelkeuper angehören,
hat F. Roemer zwei Farne, Clathropteris platyphylla und Neu-
ropteris remota gefunden und abgebildet, eine dritte Pflanze, die sich
auf einem Stücke mit Clathropteris zusammen befindet, hat er nicht
mehr erwähnt, doch als Thaumatopteris Münsteri ß. longissima
etiquettirt.
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 97
Die Pflanze hat mit Thaumatopteris nichts Gemeinsames. Dorsi-
ventral gebaute, thallusähnliche Stämmchen, welche reich dichotom ver-
zweigt sind, bis 5 mm breit, linear, an der Oberfläche in der Mitte mit
einer schmalen Rinne, ohne Spur von Seitennerven versehen sind, kann
ich nur mit manchen Lebermoosen aus den Familien der Marchantiaceen,
Metzgerieen oder Diplomitrieen vergleichen. Höchst ähnlich ist z. B. die
vom Schimper abgebildete Marchantia linearis Lindley aus Nepal.
Ich nenne diese oberschlesische Pflanze, welche die älteste jetzt
bekannte Lebermoosart darstellt, zu Ehren ihres hoch verdienten unver-
gesslichen Sammlers Palaeohepatica Roemeri.
Am Schlusse erlaube ich mir, dem Herrn Prof. Dr. Hintze, welcher
die phyto palaeontologische Sammlung des hiesigen Museums mit grosser
Liberalität mir zu benutzen erlaubt hat, an dieser Stelle meinen Dank
auszusprechen,
Ueber neuere Publicationen zur Geologie Schlesiens.
Von
Privatdocent Dr. Gürich.
Von den Festschriften zum deutschen Bergmannstage, der am
5. September v. J. in Breslau tagte, wurden als geologisch wichtig
folgende vorgelegt:
R. Althans, Die Erzformation des Muschelkalks in Ober-
schlesien. Im Text und auf den beigefügten Karten finden die neueren
überaus wichtigen bergbaulichen Aufschlüsse eingehende Berücksichtigung.
Von besonderem Interesse sind die Resultate der Arbeit für die Palaeo-
physiographie des Gebietes, indem bei Besprechung der Entstehung der
Erzlager die karstähnlichen geologischen Erscheinungen im oberschle-
sischen Muschelkalkgebirge nachdrücklich hervorgehoben werden; durch
dieselben finden die nachträglichen Umlagerungen der Erzmassen und
die definitive Gestaltung der Lagerstätten eine ausreichende Erklärung.
In Ergänzung hierzu wird in dem von |
Fr. Bernhardi herrührenden Texte: Zur Karte der Beuthener
Erzmulde mit Entschiedenheit die ursprünglich flötzartige Natur der
Lagerstätte betont und zugleich ein interessanter Erklärungsversuch für
die Entstehung der Lagerstätte gemacht, indem Bernhardi dieselbe
weniger auf ein constantes Herbeiströmen von Metallsalzlösungen etwa
aus Mineralquellen, als auf das constante Herbeiströmen des Fällungs-
mittels zurückführt; als ein solches werden die aus dem unterlagernden
Steinkohlengebirge kommenden gasförmigen Kohlenwasserstoffe und
Schwefelwasserstoff aufgefasst.
Ueber ein niederschlesisches Gebiet handelt eine Arbeit von
38 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
B. Althans, Ueber Riegelbildungen im Waldenburger
Steinkohlengebirge. Diese Riegel sind eigenthümliche, mit Trümmer-
gesteinen angefüllte, zum Theil schlotartige, zum Theil furchenartige
Lücken in den Steinkohlenflötzen, von denen namentlich die ersteren
theilweise bedeutende Tiefen erreichen. Die Entstehung durch fliessen-
des Wasser am Schlusse der Carbonzeit wird als die wahrscheinlichste
Erklärung angenommen.
Von grösster Wichtigkeit für die Geologie Schlesiens ist das Er-
scheinen des ersten Blattes der geologischen Landesaufnahme in Schlesien:
Geologische Specialkarte der Umgebung von Salzbrunn
(1:25000) mit einem Bande Text von E. Dathe, ebenfalls als Fest-
schrift dem Bergmannstage gewidmet. Besonders erwähnenswerth sind
die Auffindung eines devonischen Horstes, die Durchführung einer
speciellen Gliederung des Culm und die ausführliche Darstellung der
Lagerungsverhältnisse desselben. Aus derselben ergiebt sich mit Evidenz
die ungleichförmige Ueberlagerung des Culm durch das productive
Steinkohlengebirge. Von Interesse ist, dass in einigen Culmconglomeraten
Gerölle von Gesteinen, einem Variolit und einem rothen Granit, von
denen Proben der Section vorgelegt wurden, vorkommen, die anstehend
aus jenen Gebieten, ja aus dem ganzen schlesischen Gebirge bisher nicht
bekannt sind. Besonders eingehend sind auch die Verwerfungen und
Störungen in dem Gebiete mit Rücksicht auf die Quellen von Salzbrunn
behandelt.
Ausführlicher wendet sich dann der Referent gegen eine Arbeit von
G. Berendt:
Gletschererscheinungen im Riesengebirge. (Jahrbuch der
Königl. Pr. Geolog. Landesanstalt 1891.) Berendt nimmt die Existenz
eines grossen diluvialen Gletschers an, der von der Tafelfichte bis in
das Thal von Schreiberhau und Warmbrunn gereicht haben soll. Maass-
gebend für diese Auffassung war die Auffindung von „Gletschertöpfen“
auf dem Adlersteine am Vitriolwerk in Schreiberhau; leicht konnte
Berendt aus der Litteratur die grosse Verbreitung dieser früher als
archäologische Objecte betrachteten sog. Opfersteine nachweisen, die er
sämmtlich als Gletschertöpfe erklärt. Auffällig ist jedoch nach Meinung
des Referenten, dass sich all diese Vorkommnisse im Granitgebiete be-
finden, und dass einige von der Höhe des Kammes (Reifträger) weit
oberhalb des Berendt’schen Gletschers bekannt sind; dadurch wird die
ganze Annahme verdächtig. In den Thälern kommen unzweifelhafte
Strudellöcher vor, die zu ihrer Erklärung keiner Gletscher bedürfen.
An freistehenden Klippen und den Felsen des Kammes können sie nur
durch eine eigenthümliche, in der Structur des Granits begründete Form
der Verwitterung und der Erosion durch die Atmosphärilien erklärt
werden. Besonders macht auch das Vorkommen von armsesselartigen
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 39
Aushöhlungen an den Kanten grosser Felsblöcke diese Erklärung plau-
sibler. Behrendt sucht auch nach anderen Beweisen für seinen Gletscher:
Blockanhäufungen , die grossen ‚Steine‘, die allenthalben im Granit
unseres hiesengebirges bekannt sind, sind lediglich Verwitterungs-
erscheinungen dieses Gesteins. Die Annahme von der Verbreitung der .
Grundmoräne dieses Gletschers, welche sich Berendt auf Grund von
Schottky’s Arbeit: das Diluvium des Hirschberger Thales, bildet, ist auf
eine ungenaue oder irrige Deutung der Ausführung Schottiky’s zurück-
zuführen. Blockwälle im Zackenthale, die Berendt ebenfalls anführt,
sind in einem Wildbache auch ohne Gletscher möglich, Auch müsste
der grösste Theil des fraglichen Gletschers einen Abfluss durch das
Iserthal gefunden haben; für das Zackenthal bliebe also nur ein kleiner
östlicher Rest der Gletschermasse.
J. Partsch endlich, ein Autor, dessen genaueste Kenntniss des
fraglichen Gebietes und dessen maassgebendes Urtheil über den Gegen-
stand unbestreitbar sind, hat, wie aus seinem Werke: die Gletscher
der Vorzeit, zu entnehmen ist, Gletscherspuren im Zackenthale nicht
nachzuweisen vermocht.
Wenn nun auch zugegeben werden muss, dass ein diluvialer
Schreiberhauer Gletscher klimatologisch möglich war, so ist doch daran
festzuhalten, dass ein solcher physiographisch unwahrscheinlich und
geologisch nicht genügend begründet ist.
Ueber einen Quarzkantner aus dem Katzengebirge.
Von
Geh. Bergrath Althans,
Der Vortragende sprach über einen seltsam geformten dicken Kiesel-
stein aus der von diluvialem Decksand überlagerten südwestlichen Ab-
dachung des Katzengebirges, welcher auf dem Wege von Riemberg nach
dem Stadtforst zu dem dort bekannten, jetzt „‚Römerstein“ benannten
grossen erratischen Block von Herrn Dr. Asmus gefunden worden ist.
Dieser 16 cm lange Stein ist zu einer vielkantigen, etwas gewölbten
Pyramide geworden, aus welcher vier Kanten schärfer hervortreten. Be-
kanntlich wird angenommen, dass derartige Kantner durch den vom
Winde angeblasenen Sand geschliffen und scharfkantig geworden sind.
Hier wird durch die ursprünglich löcherige Beschaffenheit des Steins
diese Annahme augenscheinlich erwiesen. Von jedem Loche des Steins
ziehen sich tiefer ausgeschliffene Hohlflächen — offenbar der Richtung
des Sandstrahls folgend — nach der Spitze der Pyramide. Der in der
jeweilig herrschenden Windrichtung geblasene Sandstrahl fand seine
besten Angriffspunkte an den Löchern der Windseite, während hierbei
die unter dem Winde liegende Seite des Steins geschützt lag. Jeder
örtlich vorwiegenden Windrichtung entspricht eine Pyramidenfläche,
30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Einen trefflich passenden Beitrag zu dem Gegenstande des Vortrags
brachte Herr Dr. Kunisch in einem niedlichen, nur wallnussgrossen
Dreikantner aus diluvialen Kiesablagerungen von Steinkirche bei Strehlen
einem eisenhaltigen Kiesel, welcher die als typisch geltende Wind-
schleifung zu einer fast regelmässigen dreiseitigen Pyramide zeigt. —
In einigen Bemerkungen zu dem Vortrage des Herrn Dr. Gürich ver-
trat Geh. Bergrath Althans gegenüber Zweifeln des Vortragenden an
der Richtigkeit der in der Berendt’schen Arbeit entwickelten Ansichten
über die Riesengebirgs-Gletscher-Spuren die Anschauungen Berendts.
Sitzung am 7. December 1892.
Ueber die für die Weltausstellung zu Chicago von dem hiesigen
Königlichen Oberbergamte gelieferten Beiträge.
Von
Geh. Bergrath Althans.
Der Vortragende erläuterte einige für die Weltausstellung zu Chicago
von dem hiesigen Königlichen Oberbergamte gelieferte Beiträge. — Die
oberbergamtliche, im Verlage von Simon Schropp (Neumann) in Berlin
herausgegebene Karte des oberschlesischen Bergwerks-Areals ist dazu
benutzt, in verschiedenen Farben die bergbaulichen Aufschlüsse in den
einzelnen Flötzzügen des oberschlesischen Beckens übersichtlich -aufzu-
tragen. — Ein 8 Meter langer Gebirgsdurchschnitt zeigt von Norden
nach Süden die Ablagerung der Zink-, Blei- und Eisenerze des Muschel-
kalks über den mächtigen Sattelflötzen in der Beuthener Mulde, das
Heraustreten dieser Flötzgruppe im Industriebezirke zwischen Beuthen
und Antonienhütte und deren tiefe Einsenkung nach Süden unter den
bei Nikolai bekannten jüngeren Flötzzug,. — An einer von ihm ent-
worfenen Schautafel entwickelte der Vortragende die Vorzüge einer von
ihm herrührenden Methode, statistische Reihen kleinster und grösster
Zahlenwerthe in Quadratflächen derart übersichtlich zusammenzustellen,
dass die spiralförmig geordneten Einzelquadrate sich fortlaufend summiren
und so die Gesammtsumme ihrer Zahlenwerthe in einem Endquadrate
ergeben. In dieser Weise vereinigt die Tafel in einem Gesammtbilde
die historische Entwickelung der Steinkohlenproduetion Schlesiens seit
dem Jahre 1770 von damals 10000 Tonnen (zu 1000 kg) bis zu
21 Millionen Tonnen im Jahre 1891, also zu einer Gesammtausbeutung
von 395 Millionen Tonnen in 122 Jahren, mit der Steinkohlenproduction
aller Welttheile in den betheiligten Hauptländern — 473 Millionen
Tonnen — und mit der Braunkohlenproduction der Staaten Europas
— 37 Millionen Tonnen. — Ihre Fähigkeit zu vielseitiger Gliederung
nach verschiedenen Eintheilungszwecken in übersichtlicher Darstellung
empfiehlt die auf dem bekannten Lehrsatze des Pythagoras beruhende
Methode zu mancherlei Gegenständen der Statistik.
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 31
Ueber das Isoconiin und den asymmetrischen Stickstoff.
Von
Geh. Rath Professor Ladenburg.
Den Ausgangspunkt der folgenden Untersuchungen bildet eine Beob-
achtung, die ich vor etwa acht Jahren machte. Schon als die ersten,
sehr kurz gehaltenen Mittheilungen über das Conyrin erschienen, ver-
suchte ich, da ich mich damals schon mit der Synthese des Coniins
beschäftigte, diese Verbindung darzustellen. Die erhaltene Base reinigte
ich durch das Platinsalz, indem ich dasselbe durch Waschen mit Aether-
alkohol, in welchem das Coniindoppelsalz leicht löslich ist, von diesem
trennte. Ich erhielt so ein sehr gut krystallisirendes Platindoppelsalz,
dessen Analysen aber auffallenderweise nicht auf Propylpyridinplatin,
sondern auf Propylpiperidinplatin stimmten. Ich hatte damals diese Be-
obachtungen nicht weiter verfolgt, sondern mich begnügt, mir die be-
treffenden Präparate aufzubewahren und einige Notizen in meine Tage-
bücher zu bemerken.
An diese Versuche, die mir längst aus dem Gedächtniss ent-
schwunden waren, wurde ich kürzlich wieder erinnert, als ich die in
meinem Laboratorium gefundenen Thatsachen über die Piperidincarbon-
säuren mit denen anderer Forscher verglich. Ich kam so nämlich auf
die Möglichkeit von Stereo-Isomerie in dieser Reihe, und da trat plötz-
lich jene Beobachtung wieder in mein Bewusstsein, und der Wunsch,
jene Isomerie etwas näher zu untersuchen, ward angeregt.
Mit Hilfe der noch vorhandenen Notizen und Präparate ward es
nicht schwer, die früheren Beobachtungen zu bestätigen und durch neue,
weit eingehendere zu ergänzen.
Ich fand bald eine Methode, die neue Base, die ich früher schon
Isoconiin genannt hatte, welchen Namen ich vorläufig beibehalten will,
in genügender Ausbeute, 25 pCt. vom angewandten Coniin, zu erhalten,
Man braucht nur das Chlorhydrat der Schirlingbase mit '/), des Gewichts
an Zinkstaub unter Zusatz von wenigen Tropfen Wasser zu destilliren.
Die Trennung der im Destillate befindlichen drei Basen, des Coniins,
Isoconiins und Conyrins, bietet keine besonderen Schwierigkeiten. Doch
bemerke ich, dass die Darstellung der Nitrosamine keine vollständige
Trennung von Conyrin ermöglicht, sondern dass diese erst durch Ab-
dampfen in neutraler Lösung bewirkt wird, Die Trennung von Coniin
und Isoconiin beruht auf dem ganz verschiedenen Verhalten der ent-
sprechenden Platinsalze gegen Aetheralkohol (2 Vol. Aether auf 1 Vol.
Alkohol), indem sich Coniinplatin spielend löst und Isoconiinplatin ganz
unlöslich ist.
Das Isoconiin ist eine farblose flüssige Base, die mit dem Coniin
die grösste Aehnlichkeit zeigt. Der Siedepunkt derselben liegt unter
32 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
750mm5 Druck bei 164°5, während unter genau denselben Bedingungen
Coniin bei 165° siedet (die corrig. Siedepunkte sind 167%2 und 167°7).
Die Zusammensetzung C,H,,N der neuen Base wurde durch die
folgenden Analysen bestätigt:
Base: C,H,,N
Gefunden Berechnet
16) 75.94 15,59
H 13.53 13.38
Chlorhydrat: C,H,„NHCI
Gefunden Berechnet
C 58.75 58.75
H 11437 11.01
Cl 21.67 21.66
Platindoppelsalz: (C,H, .NHCI),PtC1,
Gefunden Berechnet
C 29.03 28.96
H SRER) 5.43
Pt 29.29 2933
Das specifische Gewicht des Isoconiins wurde bei 0° zu 0.8595, bei
20° zu 0.8425 gefunden, während ich früher für Coniin 0.8626 und
0.845 angegeben habe. Der Geruch ist dem des Coniins sehr ähnlich,
doch finde ich ihn ammoniakalischer. Der Schmelzpunkt des. Chlor-
hydrats liegt bei 216—217°, der des activen Coniins ist früher zu 217
bis 218° bestimmt worden. Der Hauptunterschied im Verhalten beider
Basen liegt in den Platindoppelsalzen, von denen, wie erwähnt, das des
Isoconiins in Aetheralkohol unlöslich ist. Dasselbe lässt sich leicht in
schönen durchsichtigen, gut ausgebildeten Krystallen gewinnen, die Herr
Dr. Milch krystallographisch bestimmte. Danach gehört es dem rhom-
bischen System an.') Der Schmelzpunkt des Salzes liegt bei 168°.
In dem Verhalten gegen Goldchlorid, Jodkadmiumkalium, Pikrin-
säure und Sublimatlösungen zeigt das Isoconiin keinerlei Unterschiede
von Coniin.
Die bemerkenswertheste Eigenschaft der neuen Base liegt in dem
Verhalten gegen polarisirtes Licht. Sie besitzt nämlich ein bedeutendes
Drehungsvermögen nach rechts, das aber doch wesentlich geringer ist,
als das des Coniins. Es beträgt 8°19, während das des letzteren früher
zu 13079 bestimmt wurde. (Der Versuch wurde mit der Base selbst im
Deeimeterrohr angestellt. Der beobachtete Drehungswinkel betrug 6°9
als Mittel aus drei Beobachtungen.)
Diese Thatsache hat mich sehr überrascht, und ich habe zunächst
geglaubt, sie durch eine Beimengung von inactivem Coniin erklären zu
sollen. Denn wenn auch das Platiusalz des Isoconiins durch Waschen
!) Die Messungen werden a. e. a. OÖ. publieirt.
li. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 353
mit Aetheralkohol, bis dieser ganz farblos ahläuft, vom Doppelsalz des
'inactiven und linksdrehenden Coniins, die darin leicht löslich sind, ge-
trennt werden kann, so war doch die Möglichkeit nicht von der Hand
zu weisen, dass bei der Abscheidung der Base aus dem Doppelsalz
inactives Coniin gebildet werden könne. Um diese Frage zu erledigen,
wurde das Isoconiin wieder in Chlorhydrat verwandelt, dies zur
Trockne gebracht und eine bestimmte Menge davon in Platindoppelsalz
übergeführt und eingedampft. Dieses wurde nun mit Aetheralkohol von
Neuem gewaschen, wobei eine kleine Menge in Lösung ging, die in
Chlorhydrat umgewandelt und gewogen wurde. Danach waren 15 pCt.
Coniin entstanden. Bei einem zweiten Versuch derselben Art wurde
das aus der Base gewonnene trockene Chlorhydrat längere Zeit auf dem
Wasserbad erwärmt und dann 1—2 Stunden mit Wasser gekocht, ehe
es in Platinsalz verwandelt wurde. Beim Auswaschen mit Aetheralkohol
gingen hier 26 pCt. in Lösung. Danach darf man also annehmen, dass
dem Isoconiin höchstens 20 pCt, Coniin beigemengt sind. (Eigentlich
nur 10 pCt., denn bei der Rückverwandlung der Base in Platinsalz wird
wohl ebensoviel Coniin entstehen, wie bei der Herstellung der Base aus
dem Salz.) Wäre nun dieses Coniin inactiv, so würde der Rest, wenn
er noch das Drehungsvermögen des Coniins besässe, ein solches von
etwa 11°, also ein wesentlich höheres als das des Isoconiins zeigen
müssen.
Ich habe aber noch durch besondere Versuche erwiesen, dass das
als Nebenproduct auftretende Coniin fast genau das Drehungsvermögen
der ursprünglichen Base zeigt.!)
Es kann also keine kede davon sein, die Veränderungen des
Drehungsvermögens, bei der Verwandlung des Coniins in Isoconiin Ver-
unreinigungen zuzuschreiben. Im Gegentheil scheint mir die Thatsache
erwiesen, dass das Isoconiin wesentlich anders auf polarisirtes Licht
wirkt als Coniin,
War auch hierdurch die Art der Isomerie der beiden vielgenannten
Körper als Raumisomerie wahrscheinlich gemacht, so fiel mir doch die
Aufgabe zu, nachzuweiseu, dass zwischen den beiden Verbindungen keine
Structurverschiedenheiten bestehen, namentlich dass nicht etwa die Ver-
wandlung der Propylgruppe in das Isopropyl als Ursache der Ver-
chiedenheit angenommen werden könne. Diesen Nachweis konnte man,
führen durch Darstellung des bisher unbekannten R-«- Isopropylpiperidin
!) Auch habe ich mich durch den Versuch überzeugt, dass bekannte Gemenge
von Coniin und Isoconiin eine Drehung zeigen, die fast genau der Summe der
Drehungen der Gemengtheile entspricht, was mit früheren ähnlichen Beobachtungen
übereinstimmt. (Vergl. Landolt, Das optische Drehungsvermögen organischer
Substanzen.
IER2 /3
34 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Allein selbst wenn hier die Verschiedenheit mit dem Isoconiin erwiesen
wäre, was ich mir für spätere Versuche vorbehalte, so hätte der Ein-
wand, dass dieses mit B-R-Isopropylpiperidin identisch sei, schwerlich
widerlegt werden können, da vorläufig zu dessen Gewinnung keine
Methode bekannt ist.
Ich habe daher einen anderen Weg eingeschlagen, um die Frage
ob Structurisomerie vorliegt oder nicht, zu entscheiden. Ich versuchte,
das &-Pipecolin, welche sich früher aus dem «-Picolin durch Reduction
gewonnen hatte, durch Destillation mit Zinkstaub einer ähnlichen Um-
wandlung za unterwerfen wie das Coniin, da die Anzahl der möglichen
structurisomeren Verbindungen hier weit geringer ist und durch bekannte
Körper repräsentirt wird. Der Versuch wurde wie beim Coniin ausge-
führt und das Product wie dort gereinigt. Das erhaltene Chlorhydrat
schmolz bei 208—210°, während ich für reinstes Pipecolinchlorhydrat
207—208° fand. (Früher war der Schmelzpunkt zu niedrig angegeben
worden.) Das Platindoppelsalz krystallisirt in ebensolchen durchsichtigen
Tafeln wie das des Pipecolin’s. Der Schmelzpunkt wurde bei 201—203°
sefunden, während der des unveränderten Pipecolinplatins bei 199—-200°
liegt! Auch die Löslichkeit beider Salze war nahezu dieselbe. In
Aetheralkohol waren beide unlöslich, in 100 Th. Wasser lösten sich
26 bez. 27 Th. der Salze bei 20%. Danach schien das Ausgangsmaterial
durch die Reaction unverändert geblieben, und es entstand die Frage,
ob nicht, angesichts dieser Thatsache, das Isoeoniin doch als eine Iso-
propylverbindung anzusprechen sei. Eine nähere Ueberlegung führte
aber dazu, den eben beschriebenen Versuch als für die Frage nicht be-
weisend zu erklären. Es konnte doch immer erst das R-«- Pipecolin als
mit dem Coniin analog betrachtet werden, während zu dem Versuch ge-
wöhnliches inactives «-Pipecolin benutzt worden war. So unwahrschein-
lich es auch zunächst erschien, dass die Reaction mit Zinkstaub sich in
ihrem Verlauf durch die Anwendung physikalisch oder optisch isomerer
Körper ändere, — es liegen hierüber übrigens fast keine Beobachtungen
vor —, war die Frage einmal aufgeworfen, so musste der Versuch ent-
scheiden.
Ich habe deshalb die Zinkstaubreaetion 1. mit inactivem Coniin,
2. mit rechtsdrehendem Pipecolin wiederholt.
1. Zu diesem Versuch diente synthetisches inactives Coniin, welches
aus &-Picolin nach der von mir früher angegebenen Methode hergestellt
worden war.') Die Reaction wurde genau unter denselben Bedingungen
ausgeführt, wie die oben beschriebene mit R-Coniin. Das vom Conyrin
möglichst vollständig getrennte, aus dem Nitrosamin regenerirte Chlor-
hydrat wurde in Platindoppelsalz verwandelt, dieses möglichst voll-
') Ann. Chem. 947, 1.
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 35
ständig eingedampft und nun mit Aetheralkohol behandelt, Es löste
sich ziemlich rasch Alles, bis auf eine kleine Menge eines gelben Pulvers,
das sich auch in Wasser unlöslich zeigte und bei näherer Untersuchung
als Platinsalmiak erwies. Es war also keine Spur von Isoconiin
entstanden, während nach den angewandten Mengen und der beim
Coniin beobachteten Durchschnittsausbeute 38 Platinsalz hätten ent-
stehen sollen,
2. Das «-R-Pipecolin wurde nach der von mir früher angegebenen
Methode gewonnen.') Dabei zeigte es sich, dass es sehr leicht ist,
rechtsdrehendes Pipecolin zu gewinnen, dass es aber verhältnissmässig
schwierig, zeitraubend und mit grossen Verlusten verknüpft ist, wenn
es sich um die Darstellung von chemisch reinem R-Pipecolin handelt.
Ich glaube dies jetzt einigermaassen erreicht zu haben, indem ich das
zuerst abgeschiedene Bitartrat umkrystallisirte und die daraus gewonnene
Base abermals in weinsaures Salz verwandelte u. s. w. Schliesslich
ward ein Drehungswinkel von 29°.29 im Decimeterrohr beobachtet,
woraus sich das Drehungsvermögen zu 34 °.62, also wesentlich höher
als früher angegeben, berechnet.
Das Chlorhydrat dieses R-Pipecolins ward nun auch mit !/, seines
Gewichtes am Zinkstaub destillirt und das Produet in durchaus gleicher
Weise wie beim R-Coniin und inactiven Pipecolin weiter behandelt.
Die Trennung der vorhandenen Piperidinbasen von den Pyridinbasen
geschah wieder durch Darstellung des Nitrosamins, welches aus der
sauren Lösung durch Aether ausgeschüttelt wurde, wonach die ätherische
Lösung wieder mit verdünnter Salzsäure geschüttelt wurdee, um kleine
Mengen von in den Aether übergegangenen Picolin zu entfernen. Das
Nitrosamin wurde dann wieder in Chlorhydrat verwandelt und dieses
wiederholt abgedampft und in Platinsalz übergeführt. Dies wurde durch
mehrfaches Umkrystallisiren zu reinigen versucht.
Das schliesslich erhaltene Platinsalz, dessen Einheitlichkeit aller-
dings nicht sicher steht, wurde in trüben Prismen oder in Warzen er-
halten, die selbst an feuchter Luft zu verwittern scheinen und zu einer
glanzlosen Masse nach und nach zerfallen. Der Schmelz- und Zersetzungs-
punkt liegt bei 203°. Die Zusammensetzung wurde durch eine Platin-
bestimmung controlirt:
Gefunden Berechnet für (C,H,, NACI, PtCl,
Pto Bu 32.03
Das R-Pipecolinplatin dagegen bildet bei langsamer Verdunstung durch-
sichtige, schön ausgebildete Prismen oder weiche seideglänzende Nadeln,
die selbst bei längeren Liegen an der Luft ihren starken Glanz beibe-
halten und bei 193% schmelzen. Auch die Löslichkeit beider Salze
t) Ann. Chem. 247,1.
36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
wurde etwas verschieden gefunden. Es lösen nämlich 100 Th. Wasser
bei 190%: 14.6 Th. R-«-Pipecolin, während unter denselben Bedingungen
17.2 Th. des veränderten Salzes gelöst werden.
Jedenfalls sprechen diese Beobachtungen dafür, dass nicht mehr
der ursprüngliche Körper vorliegt. Dies habe ich auch noch in anderer
Weise zu bestätigen gesucht.
Das Product der Zinkstaubreaction wurde, nachdem es von dem
gebildeten Kohlenwasserstoff und Picolin sorgfältig getrennt war, in Base
verwandelt und diese nach peinlichem Trocknen und Destillation auf
ihre optische Activität untersucht. Der Drehungswinkel fand sich im
Decimeterrohr zu 2603, also 3° niedriger als der von reinem R-Pipecolin.
Trotzdem hat die Base genau die Zusammensetzung des Pipecolin, wie
folgende Analyse zeigt:
Gefunden Berechnet iür C,H,,N
CH 02.65 12.72
H 13.20 13.13
Die Annahme, dass die Verminderung des Drehungsvermögens durch
die Anwesenheit von inactivem Pipecolin bedingt ist, erscheint nach dem
Versuchen beim Coniin sehr unwahrscheinlich.
Dadurch glaube ich den Nachweis wirklich erbracht zu haben, dass
auch hier eine dem Isoconiin entsprechende Isoverbindung entsteht.
Damit aber fällt die Hypothese, dass das Isoconiin eine Isopropyl-
verbindung sein könne. Ich glaube sogar behaupten zu dürfen, dass die
hier beschriebenen Umwandlungen nicht durch Structurverschiedenheit
erklärt werden können. Bei einer solchen Auffassung bliebe es voll-
ständig unverständlich, warum nur die optisch activen Körper derartige
Isoverbindungen zu bilden im Stande sind, und auch die Erklärung der
Veränderungen des Drehungsvermögens würden dieser Ansicht sehr
grosse Schwierigkeiten bereiten.
Fig. 1. Ich glaube daher diese Isomerie als Stereo-
„H Isomerie auffassen zu müssen. Betrachtet
C man aber die Formel des Coniins (Fig. 1),
\N so findet man darin nur einen, den mit » be-
H\ \ ‚H zeichneten, asymmetrischen Kohlenstoff. Nach
Ne \e/ der herrschenden Theorie sind also ausser
H | Ny der racemischen Verbindung nur 2 Isomere
CH, möglich. Es muss daher die Theorie er-
IL weitert werden,
ern Pi Die folgenden Vorstellungen gebe ich in
Form einer Hypothese, die mir aber wahr-
NH scheinlich erscheint, weil sie den beobachteten
Thatsachen in genügender Weise Rechnung trägt, doch bedarf sie noch
weiterer Bestätigung.
iS i
vv
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 37
Es soll nämlich die Annahme gemacht werden, dass in dem Piperidin
und ähnlichen ringförmigen Gebilden, die Valenzen des Stickstoffs nicht
in einer Ebene liegen, so dass schon bei den Monosubstitutionsproducten
des Piperidins durch die Lage der 3., nicht dem Ring angehörenden
Valenz des Stickstoffs, Asymmetrie und optische Activität hervorgerufen
bez. verändert werden können.
Am einfachsten gestalten sich die Verhältnisse, wenn man annimmt,
dass die den Ring bildenden Atome und die dazu nöthigen Valenzen in
einer Ebene liegen, welche ich die Ebene des Rings nennen will. Es
werden dann die H-Atome der CH,-Gruppen auf zwei verschiedenen Seiten
der Ringebene zu liegen kommen, welche eben dadurch verschieden
sind, dass einer der zwei &-Kohlenstoffatome ein Alkyl enthält.‘) Es
wird nun die dem Ring nicht angehörende Valenz des Stickstofis, die
ich der Kürze wegen die räumliche Valenz desselben nennen will, ent-
weder auf derselben Seite mit dem Alkyl oder auf der entgegengesetzten
Seite zu liegen kommen, d. h. man wird auch hier, wenn man sich der
von Baeyer eingeführten Nomenclatur bedient von Cis- und von Trans-
verbindungen sprechen können.
Diese Gedanken lassen sich an Modellen sehr anschaunlich zeigen.
Man kann sie aber auch durch schematische Zeichnungen leicht ver-
ständlich machen.
Bei den hier gewählten Zeichnungen ist angenommen, der Ring sei
an einer Stelle aufgeschnitten und auf die Ebene des Papiers aufgerollt.
Fig. 1, Eitet Eibyie Ein Hi, 0f ai ACER:
ea an or
H H H H H
Fo, 2, H H H H H
FE REI EREN 9 INES OT,
HAREDIK ED Eraser
Es ist ferner die durchaus willkürliche Annahme gemacht, es gehörten
die schon länger bekannten Rechts- und Linksverbindungen der Cisreihe
an. Dann stellt Fig. 1 das Rechtspipecolin und Fig. 2 das Linkspipe-
colin dar, die nnr der Einfachheit wegen statt der Propylverbindungen
gezeichnet sind, Die optische Activität der beiden Körper werde durch
die Summe der Wirkungen erklärt, welche der asymmetrische Kohlen-
stoff ©» und der asymmetrische Stickstoff hervorgerufen.
Die von mir entdeckten und hier beschriebenen Isoverbindungen
entstehen nun meiner Ansicht nach dadurch, dass die Cisstellung in eine
Transstellung übergeht, so dass Fig. 3 und Fig. 4 die Anschauung für
!) Der Einfachheit wegen will ich vorläufig nur von «-substituirten Piperidinen
sprechen, für welche allein die Theorie geprüft ist. Ich bemerke jedoch, dass
meiner Ansicht nach bei den ß-Verbindungen ähnliche Verhältnisse sich finden
werden, worüber demnächst berichtet werden soll. Auf die y-Verbindungen komme
ich weiter unten.
38 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Fig. 3. H H H H CH;
erh N rc
RE? 5 BOETE 5 ARnanGe 5 MAT EB
Fig. 4. su MH HB» mV u H
Ellen EINE re dan
Br m CH,
Rechts- und Links-Isopipecolin verdeutlichen sollen. Das geringere
Drehungsvermögen dieser Verbindungen erklärt sich dadurch, dass jetzt
die Wirkungen der asymmetrischen Atome entgegengesetzt sind und
daher das beobachtete Drehungsvermögen als Differenz derselben er-
scheint.
Soweit besteht also vollständige Uebereinstimmung zwischen Theorie
und Experiment. Etwas anders gestaltet sich die Sache, wenn wir jetzt
auf die Versuche mit den racemischen Verbindungen eingehen. Das
inactive Pipecolin muss als eine Verbindung von R- und L-Pipecolin
(Fig. 2 und 3) angesehen werden. Bei der Destillation mit Zinkstaub
wird daraus wahrscheinlich die racemische Isoverbindung entstehen, die
als eine Aneinanderlagerung der Spiegelbilder Fig. 3 und 4 aufgefasst
werden muss, aber bis jetzt noch hypothetisch ist. Diese neuen racemischen
Verbindungen werden den zur Reaction benutzten viel näher stehen
müssen, als der Rechtskörper dem darnus gebildeten Rechts-Isokörper,
schon weil beide optisch inaetiv sind. Sie werden aber untereinander
nicht identisch sein können und so finden wohl die kleinen Differenzen
in den Eigenschaften, wie sie oben bei dem Versuch mit dem racemischen
Pipecolin geschildert sind, und andere, die hier noch nicht erwähnt
wurden bei dem Versuch mit inactivem Coniin, ihre Erklärung. In
einem Punkt aber müssen sich die beiden racemischen Verbindungen
sehr wesentlich unterscheiden, wenn sich diese Anschauungen bestätigen
sollten: die inactive Isoverbindung muss auch spaltbar sein, sie darf
aber nicht in die bekannten R- und Z-Verbindungen, sondern soll in die
erst nach dieser Theorie möglichen und nur zum Theil hier beschriebenen
R-Iso- und L-Isokörper zerfallen. Hier muss also das Experiment erst
die Folgerung der Theorie bestätigen.
Auch ist dies nicht die einzige Aufgabe, die dem Experimentator
noch zu lösen bleibt. Es ergeben sich aus den vorgetragenden An-
schauungen eine ganze Reihe von näher und entfernter liegenden Folge-
rungen, die dem Versueh zugänglich sind. Von diesen will ich nur
einige hier anzuführen mir erlauben.
Die Ausdehnung der Versuche auf die ß-Reihe des Piperidins und
die Hydrochinoline ist selbstverständlich., Debei sind in der letzteren
Reihe einige Versuche auszuführen, welche von entscheidender Wichtig-
keit werden können,
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 39
Die y-Derivate des Piperidins, die nach der van’t Hoff-Le Bel’schen
Theorie keine Raumisomerie gestatteten, müssen in eine Isoform ver-
wandelt werden können. Die ringförmigen Gebilde mit zwei Stickstoff-
atomen, wie z. B. das von mir und Abel entdeckte Piperazin, das
bereits eine Rolle als Arzneimittel spielt, ferner die Dipiperidyle und
viele ähnliche Körper müssen in zwei isomeren Formen auftreten können,
und — last not least — Ammoniakderivate, die nicht geschlossene Ketten
bilden, könnten sich auch durch die Asymmetrie des Stickstoffis, in
optisch active Modificationen spaltbar erweisen.
Diese letztere Folgerung ist nicht als eine nothwendige, wohl aber
als eine mögliche Consequenz der hier vorgetragenen Hypothese zu be-
trachten,!) Und hier begegne ich mich mit den Vorstellungen Le Bel’s
der, schon voriges Jahr einer solehen Möglichkeit Rechnung tragend,”)
sie experimentell — aber ohne Erfolg — zu bestätigen suchte. Auch
ich habe bisher nach dieser Richtung nur negative Versuche aufzuweisen.
Doch habe ich neue Versuche in Angriff genommen, über die ich viel-
leicht später etwas berichten kann.
Hier soll noch ein Punkt zur Sprache gebracht werden, der einer
näheren Aufklärung bedarf. Es giebt Verbindungen, die keinen asym-
metrischen Kohlenstoff, wohl aber einen asymmetrischen Stickstoff, der
einem Ring angehört, besitzen. Diese müssten, entsprechend obigen
Vorstellungen, als racemische Körper aufgefasst werden und sich als
spaltbar erweisen. Die bisher, namentlich beim Tetrahydrochinolin an-
gestellten Versuche, sind aber ganz erfolglos geblieben, obgleich die-
selben bei sehr verschiedenen Temperaturen ausgeführt wurden.
Hier sei ferner ausdrücklich betont, dass schon etwa vor drei
Jahren Hantzsch und Werner’) die Idee eines asymmetrischen Stick-
stoffs ganz allgemein ausgesprochen haben, namentlich um durch dieselbe
die Isomerie bei den Oximen erklären zu können. Später hat aber
Werner diese Auffassung dabin verändert,‘) dass optische Isomerie
bei Ammoniakderivaten nicht möglich sei, weil derartige Moleeüle nur
dann stabil sein könnten, wenn die drei am Stickstoff gebundenen
1) Man kann sich vorstellen, dass die Bindungen durch die Stickstoffvalenzen
so labil sind, dass im Allgemeinen eine asymmetrische Form eines Molecüls nicht
in Erscheinung tritt. Anders ist es bei den Piperidinen, Hydrochinolinen und
ähnlichen Ammoniakderivaten, wo zwei Valenzen des Stickstoffs durch die Ring-
bildung gewissermaassen festgelegt sind.
2) Comptes rendus, 112, 11; vergl. auch Krafft, Ber. chem. Ges. 1890, 2780.
3) Ber. chem. Ges. 23, 11 u. s. w.; vergl. ferner: Willgerodt, Journal für
prakt. Chemie 37,449; Burch und Marsh. Journ. chem. Soc. 1889, 656; Bischoff,
Ber. chem. Ges. 1890, 1967 u. s. w.
“) Vierteljahrsschrift der Züricher naturforsch. Gesellschaft. Bd. 36.
40 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Sadicale mit diesem selbst in einer Ebene liegen, und dem hat sich
Hantzsch angeschlossen.!)
Andererseits hat Le Bel in der schon oben eitirten Abhandlung
experimentell die Spaltung asymmetrischer Ammoniakderivate (das heisst
solcher, die drei verschiedene an N gebundene Radicale enthalten), aber
mit negativem Erfolg versucht. Dagegen ist ihm die Spaltung eines
Salmiakderivats, des Methylaethylpropylisobutylammoniumchlorids in zwei
optische Isomere gelungen.
Es darf daher schliesslich darauf hingewiesen werden, dass als neue
Resultate dieser Untersuchung das Folgende erscheint:
1. Chemische Reactionen können durch optische Isomerie wesent-
lich beeinflusst werden.
2. Bei gewisssen Ammoniakderivaten ist die Asymmetrie des Molecüls
und die optische Activität durch die Asymmetrie des Stickstoffsmit bedingt.
Allgemeine Uebersicht der meteorologischen Beobachtungen auf
der Königl. Universitäts-Sternwarte zu Breslau im Jahre 1892.
Mitgetheilt von Dr. J. G. Galle.?)
Höhe des Barometers über Normal-Null des Meeresspiegels — 147,03 m.
I. Barometerstand, li. Temperatur.
1892. redueirt auf 0° Celsius, der Luft in Graden nach
in Millimetern. Celsius.
8 ®
& = B © En S
= = a = a
en o| | Srdice me ninmze En, Sie Bi
8 : S Be E Ö =
= BB 122 E00 = E ae E
mm mm mm a {0}
Januae!!. 2hr49%.|760,3 6 | 731,2 | 745,07 | 30 90 | 22 1— 180, 2,29
Februar ...| 25 | 56,4 17 | 280 | 43,70 | 22 9,9 17 — 9,5 0,65
Marzre.n u 19° 1. 65,1 11 | 30,0 | 49,37.|. 28 94 4 |— 11,1 1,13
PpEile..n.. 9. 22 | 56,3 13 | 348 | 47,46 6 21,6 9 I— 2,8 7,94.
ar len 2 |565| 5| s66| asse| a9 | 3242| 7 11 1352
Junker 28.)"55,5 | "23 10209 479547 29 30,1 14 8,1 168
a 29 | 5555| 12 | 3992| 75 2 | 7! | 77 1832
August....| 16 | 53,4 2. 4,2. 48.13 19 36,7 6 8,1): 21,33
September.| 18 | 55,7 4 | 41,6 | 50,14 116. in 28.0 1.19 6,61 16,92
October ... | 27 896.1 22 |ı 33,2 | 45,64 2 2321 27|— 15 8,61
November ..| 26 | 64,4 2 | 41,1| 54,87 1 ren 27 i— 11,9 1,67
December .| 17 57,9 6 | 30,8 | 46,79 19 8,4 25 |— 15,5) — 1,90
u März Febr. Aug. Jan
Jahı 19. 765,1 17. 728,0 | 749,97 19. 36,7 99, B 150 8,63
Y) Zeitschr. phys. Chemie X., 2.
?) Zusammengestellt wie in den vorhergehenden Jahresberichten seit 1888 von
Herrn G. Rechenberg.
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 41
IH. Feuchtigkeit der Luft. | IV. Wolken-
1832. a. absolute, | b. relative, bildung und
in Millimetern. | in Procenten, Niederschläge.
3 ERBE
3 3 218 © zZ o5
12) n | © oO 12) N >
= = uns 5 s|3S|.-8 |2|3 BI |dgaz
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Januar ...I: 30 N 100) B3W15L 813103 811204 11.57.36
Februar ..| 21 6,0 115. 18| 2,0 | 3,78 3 1000..977184.77.21,.2 9 18 | 27,49
Mayz 2.0. 38 7,8| 3. #|1,5| 3,61 öfter | 98] 30 |31]70,6| & | 14 13 | 29,90
Apmili..0. 99 81) 11 |1,4| 476 30 | 98 11 111615) 4 | 18} 8 | 37,88
Mai, iu. &4. 29541,9 14793, 1.2,2.16,50 1,:1+»92 1728: 118192,8| 3:11161.1%& | 62,05
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N 3 3015 56 981279292657,2] 2 18 11 | 27,23
August . 162, 13,2 5 !48| 9,48 3:1>91| »30-117152,271 10: | 19, 2: |2:17.36
September] 14 | 13,2 39.249775: | 30.98 .x122/69,7]7 3° |r16)- 20 | 48:00
October . 719518 923 183) 66717. 22198 2348177,05 3191819 | 56.17
November 3 92) 27 11,4) 4,60 8| 99 1 5583,44 3 9| 18 | 29,62
December 19 6.5 2205 65) 25 11,2| 3,46 | 30 | 98| 1 |56183,61 3,46 || 30 | 98 1 56183,6| — | 11) 20 | 55,58
Jahr Ni 14,0) 0. 10,9| 6,15 | GR 1100 Tannen 37 175 154 |516,12
Febr.
Ps! Reg: |
V. Herrschende Winde.
Januar, Die westlichen Winde (West und Südwest) kamen in diesem
Monat nahe gleich oft wie die östlichen (Ost und Südost) vor, die
übrigen Richtungen theils gar nicht, theils nur vereinzelt.
Februar. Die vorherrschenden Windesrichtungen waren Südost und hier-
nächst West, erstere in der zweiten, letztere in der ersten Hälfte
des Monats.
März. Der Wind wehte am häufigsten aus Nordost, hiernächst folgten
die Richtungen Südost, Nordwest, Süd.
April. Vorherrschende Windesrichtungen waren West und Nordwest,
Ost und Südost kamen indess ebenfalls häufiger vor,
Mai. Von den Windesrichtungen war keine sehr bestimmt vorherrschend,
am häufigsten wurde zwar West verzeichnet, jedoch über Nord-
ost, Nordwest, Südwest, Südost nicht sehr überwiegend.
Juni. Die nordwestlichen Windesrichtungen (Nordwest, West, Nord)
waren vor den übrigen sehr überwiegend. |
Juli. Vorherrschende Windesrichtungen waren Nordwest und West,
doch kamen auch die angrenzenden Richtungen Nord und Südwest,
und die Ostrichtung öfter vor.
August. Der Wind wehte am häufigsten aus West, hiernächst aus
Süd, Nordwest und Südost und meist mit geringer Stärke.
42 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
September. Die Windstärke war während des ganzen Monats gering,
bei 18 Beobachtungen wurde Windstille verzeichnet, am häufigsten
kamen die Richtungen Südost, Südwest, West und Nord vor.
October. Von den Windesrichtungen waren die südlichen und die
diesen nahe liegenden während des ganzen Monats vorherrschend.
November. Südost- und Ostwinde waren die vorherrschenden, seltener
West, Südwest und Süd,
December. Von den Windesrichtungen waren West und Nordwest
vorherrschend, Süd und Südost seltener.
VI. Witterungs-Charakter.
Januar. Der Luftdruck war vorwiegend niedrig und nur an 8 Tagen
über dem normalen Werthe, die Temperatur dagegen war etwas
höher als im Mittel. Eine Periode stärkerer Kälte fand nur vom
14. bis 22. statt. Niederschläge, besonders Schnee, waren häufig
und der Betrag derselben überstieg das Doppelte des Normal-
werthes. Die Schneedecke, welche vom 10. ab sich bildete, war
indess nicht eben hoch und stieg nur für einige Tage etwas über
10 cm, auch löste sich dieselbe in Folge einiger warmen mit
Regen verbundenen Tage am Schlusse des Monats ganz auf.
Februar. Der Luftdruck war in diesem Monat ein ungewöhnlich nie-
driger und überstieg nur an 7 Tagen den Mittelwerth. Dagegen
war die Temperatur vorwiegend hoch und nur vom 14. bis 19.
fand etwas strengere Kälte statt. In der Zeit vom 20. bis 27.
folgte eine Reihe fast ganz heiterer Tage mit milder Temperatur
und ohne alle Niederschläge, wobei die nur vom 8. bis 20. an-
dauernde wenig hohe Schneedecke dann ganz verschwand.
März. Der Luftdruck war vorwiegend hoch, bewegte sich jedoch in
starken Schwankungen, von einem Minimum am 11. zu einem sehr
hohen Maximum am 18. emporsteigend, und mit einer erneuten
Schwankung in der zweiten Hälfte des Monats. Die Temperatur
sank in der ersten Woche tief unter den Mittelwerth und auch
später war das Wetter vorwiegend winterlich und kalt, Erst
gegen Ende des Monats, vom 26. bis 28., traten vorübergehend
drei warme Tage ein. Die Niederschläge bestanden vorwiegend
aus Schnee, so dass sich vom 8. bis 16. noch eine ansehnliche
Schneedecke bildete. An dem wärmsten Tage, dem 28., wurde
des Abends in Nordwest Wetterleuchten beobachtet und es wurde
in den folgenden Tagen aus dieser Richtung das Vorkommen von
Gewittern gemeldet,
April. Fast die ganze erste Hälfte des Monats zeichnete sich durch
meist ganz klares Wetter ohne alle Niederschläge aus, in der
zweiten Hälfte waren dagegen nur wenige Tage ganz ohne Regen,
sodass die normale Regenhöhe des April noch etwas überschritten
Mai.
Juni,
ml ı:
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 43
wurde, auch die Wärme in dieser zweiten Hälfte unter den Mittel-
werth sank. Im Durchschnitt waren sowohl Wärme als Luftdruck
normal, die Feuchtigkeit der Luft dagegen gering,
Der Luftdruck bewegte sich in mässigen Schwankungen. Stärker
waren die Schwankungen der Wärme, die in den ersten 23 Tagen
sich nur selten über den Mittelwerth erhob und zum Theil tief
unter demselben stand, die dann aber in den letzten 8 Tagen den-
selben so sehr überschritt, dass das Gesammt-Mittel noch über
den Durchschnittswerth des Monats sich stellte. Der Betrag des
Regens war etwas über dem normalen Werthe und vertheilte sich
fast ausschliesslich auf die ersten drei Wochen. Die dann folgen-
senden ungewöhnlich warmen und trockenen Tage waren zum
Theil ganz wolkenlos und zwar vom 27, bis 29. ganz ununter-
brochen, wie dies hier ungemein selten zu verzeichnen ist.
Der ganze Monat war vorwiegend warın; nur kurze Perioden,
wie vom 5. bis 7. (die Pfingstage) und vom 14. bis 16. waren
verhältnissmässig kalt. Der Luftdruck bewegte sich nur in ge-
ringen Schwankungen. Regentage waren zahlreich, auch Gewitter,
von denen jedoch die Mehrzahl in einiger Entfernung vorüberzog.
Die Menge des Regens überstieg etwas den Durchschnittswerth.
Die Bewölkung war sehr veränderlich und kein einziger Tag
konnte als ganz heiter bezeichnet werden.
Der Luftdruck zeigte nur mässige Schwankungen, ebenso die
Temperatur, Die Feuchtigkeit der Luft war eine ungewöhnlich
geringe und entsprechend auch die Regenmenge, die nur ein
Drittheil des Durchschnittswerthes erreichte. Hiervon fiel die
Hälfte an einem Tage, dem 15., während die sonstigen Regen
geringfügig waren. Der gesammte Witterungs-Charakter desMonats
konnte als schön, warm und trocken bezeichnet werden, obwohl
ein ganz wolkenloser Himmel nur an wenigen Tagen vorkam.
August. Der Luftdruck war in diesem Monate nur geringen Schwan-
kungen unterworfen. Dagegen war die Wärme während der
grösseren Hälfte des Monats eine so ungewöhnlich hohe, wie
solche in gleich langer Dauer seit 1791, wo die Beobachtungen
auf der hiesigen Sternwarte beginnen, während des ganzen Jahr-
hunderts sonst nicht vorgekommen ist. Zwar wird das Maximum
der Wärme von + 36,7 am 19. August von der höchsten Juli-
temperatur der Jahre 1841, 1842 und 1870 noch um ein Weniges
übertroffen, indess waren dieses nur einzelne besonders heisse
Tage und umfassten keine so lange Periode nahe gleich hoher
Wärme, wie sie vom 13. August ab in diesem Jahre bei meist
unbewölktem Himmel 3 Wochen hindurch bis zum 3. September
stattgefunden hat. Ebenso abnorm war die grosse Trockenheit
44 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
der Luft, im Duichschnitt um den ganz ungewöhnlichen Betrag
von 17 pCt. von dem normalen Stande abweichend. Entsprechend
gering waren die Niederschläge, die fast nur ', des Normal-
werthes betrugen und die fast ausschliesslich von einem am
1. August gefallenen Gewitterregen herrührten, so dass im ganzen
übrigen Monate eine anhaltende Dürre herrschte, noch verstärkt
durch einen in seltenem Maasse wolkenlosen Himmel, so dass nur
2 ganz trübe Tage zu verzeichnen waren.
September. Die ungewöhnlich lang andauernde grosse Hitze des dies-
jährigen August setzte sich noch bis einschliesslich den 3. Sep-
tember fort, von wo ab eine plötzliche Erniedrigung der Tem-
peratur unter den Normalwerth bis zum 9. stattfand. Vom 10.
ab hob sich dieselbe von neuem und überschritt bis zum Ende
des Monats (mit Ausnahme des 18. und 19.) in ähnlichem Maasse
die entsprechenden Normalwerthe wie im August. Die Mittel-
Temperatur des ganzen Monats war um mehr als 3 Gr. höher als
im vieljährigen Durchschnitt. Die relative Feuchtigkeit der Luft
war um 3 pCt. geringer als im Durchschnitt, doch erreichte das
(Juantum der Niederschläge sehr genau den normalen Werth.
Der Luftdruck bewegte sich in geringen Schwankungen, die sich
nur wenig von dem Mittel entfernten.
October. Der Luftdruck erhob sich bei dem vorherrschenden Südwinde
nur an 6 Tagen etwas über den normalen Werth, so dass das
Monatsmittel ein niedriges war. Die Wärme war im Mittel nor-
mal, anfangs höher, dann aber vom 18. bis 28. tiefer als die
Normalwerthe, zuletzt folgten noch 5 wärmere Tage. Der Betrag
der Niederschläge überstieg den Normalwerth um die Hälfte.
November. Der Luftdruck war im Gegensatz zu dem vorigen Monate
fast ununterbrochen hoch und nur an den 3 ersten und dem letzten
Tage unter dem Normalwerthe, die Temperatur dagegen war
niedrig, über dem Mittel nur an den ersten 9 Tagen. Das Wetter
war vorherrschend trocken, trübe und neblig, die Niederschläge
betrugen wenig über die Hälfte des Normalwerthes.
December. Der Luftdruck war niedrig, besonders in der ersten Hälfte
des Monats, in der zweiten wechselnd. Auch die Temperatur
war meist niedrig, jedoch ohne besonders starke Kältegrade, und
in den Tagen vom 12. bis 22. war dieselbe über dem Mittel.
Niederschläge, besonders Schnee, waren häufig. Die Höhe der
Schneedecke hob sich von 6 em am 5. bis zu 21 cm am 8., ver-
schwand jedoch bereits wieder am 18. Erst am 30. und 31. fiel
von Neuem etwas Schnee. Der Gesammtbetrag der Niederschläge
war fast das Doppelte des Durchschnittswerthes. Das Wetter war sehr
anhaltend trübe und kein einziger ganz heiterer Tag zu verzeichnen,
Sitzungen der botanischen Section im Jahre 1892.
In der ersten Sitzung vom 14. Januar sprach Professor
Dr. Stenzel
über die Artberechtigung von Asplenium germanicum Weis.
Er wurde zu einer erneuten Behandlung der Frage, ob Asplenium
germanicum eine eigene Art oder ein Bastard und zwar von A, Tricho-
manes und A. septentrionale sei, durch mehrere neuerdings gemachte Be-
obachtungen über das Zusammen-Vorkommen dieser drei Arten angeregt.
Um Wölfelsgrund, wo unsere gewöhnlichen Farne, oft in grosser
Ueppigkeit, vorkommen, fand er anfangs weder in Felsritzen noch
zwischen Felsgeröll das an solchen Stellen der Hügel- und niederen
Bergregion sonst häufige A. septentrionale. Nur an der unteren Grenze
des Berglandes gegen die Glatzer Ebene fand er es später an einer
Steinmauer nahe unterhalb der Kapelle Maria im Schnee am Fahrwege
nach Wölfelsgrund in grosser Menge und im folgenden Jahre sparsamer
an Felsen, welche nahe an den Weg rechts herantreten, der sich von
der Urnitzmühle nach Maria im Schnee anfangs in einer Schlucht
hinaufzieht. Hier wuchs es an mehreren Stellen mit A. Trichomanes
vermischt und zwischen ihnen ein Paar Stöcke von A. germanicum.
Der eine war mit A, Trichomanes so verfilzt, dass er sich ohne Ver-
letzung nicht wohl hätte von ihm trennen lassen; er wurde neben den
von derselben Stelle entnommenen begleitenden Arten der Section
vorgelegt. i
Von Landeek aus besuchte er später den grauen Stein, von
welchem A. germanicum schon angegeben war, und fand es hier auf dem
Basaltkamme, welcher als eine steil abfallende Mauer den Gneis durch-
brochen hat und den Rücken des Berges bildet, wie er erwartet hatte,
zwischen noch zahlreicheren Pflanzen von A. Trichomanes und A. septen-
trionale. An keiner dieser Stellen wuchs A. Rula-muraria.
Milde sagt nun freilich, zu A. Trichomanes stehe A. germanicum in
gar keiner Beziehung (Höhere Sporenpflanzen Deutschlands, $. 34); und
in der That sind beide schon auf den ersten Blick so verschieden, und
noch mehr A. Trichomanes von A. septentrionale, dass eine Kreuzung der
beiden letzteren ganz ausgeschlossen erscheint. Wenn man aber ein
46 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Blatt von A. germanicum zwischen je eines von den beiden anderen
Arten legt, so findet man doch, dass es fast in allen Stücken zwischen
diesen die Mitte hält. Diese Vergleichung wurde an neben einander
genau nach der Natur gezeichneten, aber auf '/, m Länge vergrösserten
einzelnen Blättern der drei Arten erläutert. Wir heben nur die Punkte
hervor, in denen A. Trichomanes und A. septentrionale am meisten von
einander abweichen. |
Die Spreuschuppen, welche bei A. Trichomanes das, wie bei den
anderen Arten, kurze, dünne, kriechende Stämmcehen zwischen den Blatt-
stielen und Wurzeln besetzen, haben dadurch, dass die mittleren Zell-
reihen stark verdiekte Wände mit engem Lumen haben, einen deutlichen
Scheinnerv; bei A. septentrionale fehlt dieser und bei A. germanieum sind
nur die Randzellen dünnwandiger als die übrigen,
Bei A. Trichomanes ist der Blattstiel ganz kurz, glänzend dunkel-
braun wie die Blattspindel bis nahe unter der grünen Spitze, beide
sind auf der oberen Seite mit einer Längsrinne versehen und seitlich
geflügelt; bei A. germanicum ist der Blattstiel etwa 1'/, mal, bei A. septen-
trionale 2—3 mal so lang als die Spreite, bei dem ersten in der unteren
Hälfte, bei dem letzteren nur ganz am Grunde braun, sonst bei beiden
grün und wie die Spindel zwar mit einer Längsrinne, aber ungeflügelt.
Die Blattspreite ist bei A. Trichomanes einfach gefiedert, jeder-
seits mit 15—30, aus breit keilförmigem, ganzrandigen Grunde rund-
lichen, kerbzähnigen Fiedern. A. septentrionale hat meist nur eine End-
und eine Seitenfieder, zu denen öfter noch eine oder zwei hinzutreten;
sie sind spitz-keilförmig, fast linealisch, vorn und unter der Spitze mit
einigen oft ziemlich langen Zähnen. A. germanicum hält zwar in der
Zahl der Fiedern einigermaassen die Mitte, indem jederseits 2—5 da
sind; ebenso in der Form, welche spitz-keilförmig aber vorn noch ziem-
lich breit ist, mit einigen kleinen Zähnen. Aber die beiden untersten
Fiedern sind oft, bei der Form montanum, länger gestielt, und tragen
noch 1—-2 Seitenfiedern, die nächsten noch einen mehr zahnartigen Ab-
schnitt an ihrem inneren Rande. Das Blatt ist also mehr zusammen-
geseszt, als das der beiden anderen Arten, und dies ist wohl der einzige
Punkt, welcher sich nicht ohne Schwierigkeit aus der Vermischung der
letzteren erklären lässt. Indess sind die Blattzähne bei A. septentrionale
lang und spitz, und von ganz anderer Art, als die Kerbzähne von
A. Trichomanes. Die unterhalb der Spitze stehenden nähern sich schon
selbstständigen Blattabschnitten und zuweilen stehen sie solchen ganz
nahe, indem sie nicht weit über dem Grunde der Fieder sich von dieser
trennen und sich ihr an Grösse wenigstens annähern. Sehen wir nun,
dass, je mehr Seitenfiedern sich ausbilden, die untersten um so mehr
die Neigung haben, sich zu theilen, so rührt die stärkere Zerteilung des
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 47
Blattes bei A. germanicum vielleicht daher, dass es durch die Einwirkung
von A. Trichomanes mehr Seitenfiedern bildet.
Die Verschiedenheiten in der Zahl, Vertheilung und Gestalt der
Fruchthäufchen lassen sich auf die verschiedene Grösse und Gestalt
der Fiederblättehen und den dadurch bedingten Verlauf der Nerven
zurückführen,
Eine nachträgliche Untersuchung der Sporen hat ergeben, dass
diese an der stattlichen Pflanze von Wölfelsgrund noch nicht reif, an
denen vom grauen Stein bei Landeck aber nicht regelmässig ausgebildet
waren, wie das auch Luerssen (Farnpflanzen in Rabenhorst’s Krypto-
gamenflora III $. 245) als Regel angiebt. Sie waren unregelmässig
eckig und runzelig, manche länglich und gebogen, oft mit dunkelbraunem
Inhalt und allem Anscheine nach nicht keimfähig, während die gleich-
zeitig daselbst gesammelten Pflanzen von A. Trichomanes und A. septen-
trionale regelmässige länglich runde, hellere Sporen mit netzförmigen
Leisten hatten, die am Rande knotenförmig vorsprangen.
Die Möglichkeit, dass unsere Pflanze aus einer Kreuzung dieser
beiden Arten hervorgegangen sei, ist deshalb kaum von der Hand zu
weisen. Ihr Vorkommen giebt dieser Annahme sogar einige Wahr-
scheinlichkeit. Es wäre daher sehr zu wünschen, dass Alle, welche sie
künftig finden, auch an schon bekannten Standorten, zusähen, in Be-
gleitung welcher anderen ihr verwandten Arten sie sich an dem Stand-
orte befindet, was bisher oft nicht mit angegeben worden ist. Ferner
würde eine noch vollständigere anatomische Untersuchung, als sie schon,
namentlich durch Luerssen (a. a. OÖ. S. 240 ff. und bei den verwandten
Arten) angebahnt worden ist, vielleicht noch manche für oder
wider sprechende Thatsachen ergeben, wenn Wurzel, Stämmchen, Blatt-
stiel und Blattspindel, Oberhaut aller Theile des Blattes, Fruchthäufchen
bis auf die Sporen immer im Vergleich mit den beiden vermuthlichen
Stammarten berücksichtigt würde.
Einen Beweis könnte freilich nur die Erziehung von Pflanzen des
Asplenium germanicum aus einer gemischten Aussaat von Sporen des
A. Trichomanes und A. septentrionale von Standorten, an denen A, ger-
manicum fehlt, liefern.
Dr. Rosen berichtet, dass schon vor Jahren in Strassburg Versuche
angestellt worden seien, die Bastardnatur des A. germanicum experimentell
zu erweisen, dass jedoch diese Versuche das erwartete Resultat nicht
ergeben hätten und daher auch nicht bekannt gemacht worden seien.
Nachschrift. Im Sommer 1892 hat Prof. Stenzel unter den
zahlreichen Stöcken von A. septentrionale an der Steinmauer unterhalb
der Kapelle zu Maria im Schnee, auch an solchen Stellen, wo sie neben
A. Trichomanes wuchsen, kein A. germanicum gefunden. Die (vermuth-
liche) Kreuzung kommt also auch in der Natur nicht überall zu Stande,
48 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
wo das wohl geschehen könnte. Dies hat auch nichts Auffallendes, da
wir die besonderen Bedingungen, unter welchen sie stattfindet, noch
nicht kennen. Dagegen spricht doch entschieden für den Ursprung des
A. germanicum aus einer solchen Kreuzung, dass es der Vortragende an
den sehr zahlreichen, weit auseinander liegenden Stellen, wo A. Tricho-
manes um Wölfelsgrund allein wächst, nirgends gefunden hat, an der
ersten Stelle aber, wo er es in diesem Sommer mit A. septentrionale
antraf, mehrere, z. T. sehr kräftige Stöcke desselben wuchsen. Es war
dies an einem Felsen am rechten Ufer der Wölfel oberhalb der Urnitz-
mühle, aber immer noch eine ganze Strecke von dem früher erwähnten
Felsen am Aufstiege nach Maria im Schnee entfernt.
Hierauf sprach Cand. phil. Paul Schottländer
über histologische Untersuchungen über Sexualzellen bei Kryptogamen.
Anschliessend an die Untersuchungen von Professor L. Auerbach,
der bei den Wirbelthieren einen auffallenden Gegensatz in der Färbung
der Kerne der männlichen und weiblichen Sexualzellen, resp. der Köpfe
der Spermatozoen einerseits und der Keimbläschen andererseits, con-
statirle, dergestalt, dass bei vollkommen gleicher Behandlung beider mit
rothen und blauen Farbstoffen, die gleichzeitig oder nacheinander ein-
wirkten, die männlichen Kerne sich blau, die weiblichen roth färbten,
untersuchte Vortragender im hiesigen pflanzenphysiologischen Institut in
dieser Beziehung die männlichen und weiblichen Sexualzellen einiger
Kryptogamen und erhielt folgende Resultate:
1. Aneura pinguis. In den Spermatozoenmutterzellen findet man
central gelagert den bei der angewandten Färbemethode gleichmässig
blaugefärbten Kern, welcher feine rothe Pünktchen zeigt, das Zellplasma
ist schwach roth. Später rückt der Kern an den einen Pol der Zelle,
die Hauptmasse des Plasmas an den andern; nunmehr treten im Innern
des Kernes hellere Räume auf, herrührend von einer sich entwickelnden
Formveränderung, welche dahin führt, dass das Plasma vom Kern wurst-
förmig umwallt wird. Das reife Spermatozoon — die Zwischenstadien
wurden noch nicht beobachtet — besteht aus rother Grundsubstanz mit
blauen, anfangs zu Spiralen aufgezogenen Ringen, von welchen später
mitunter mehrere verschmelzen. Am vorderen Ende des Spermatozoon
sind zwei schwach rothgefärbte Geisseln, am hinteren ein gleichfalls
schwach rothgefärbter Rest von Zellplasma, der Blase entsprechend, die
das Spermatozoon mit sich herumführt, bevor es in das Archegon ein-
dringt. Archegonien von Aneura konnten nicht untersucht werden.
2. Gymnogramme chrysophylla. In den jungen Antheridien ist
das verdichtete Plasma des Archespors intensiv roth gefärbt, die Kerne
zeigen meist zwei grosse rothe Nucleolen und eine fein vertheilte blaue
Substanz. Sie entsprechen in diesem Stadium ganz den Kernen der
Ii. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 49
Wandzellen,. Später verschwinden die Nucleolen und die Spermatozoon-
zellen zeigen einen uhrfederartig zusammengerollten, rein blauen Kern,
umgeben von einer dünnen, rothgefärbten Plasmahülle. Desgleichen sieht
man innerhalb der Windungen des Kernes roth gefärbtes Plasma. Die
ausschlüpfenden Spermatozoen stellen ein Spiralband dar, dessen Kanten
dicker sind, als die Mitte, so dass sein Querschnitt nicht elliptisch,
sondern hantelförmig ist. Dieses intensivblaue Spiralband beschreibt
2'), Windungen. Am vorderen Ende sitzen die rothgefärbten Geisseln,
am hinteren eine rothe feine Membran aus Protoplasma. Die Blase,
welche vor dem Eindringen ins Archegon abgeworfen wird, ist gleich-
falls roth gefärbt. Die Archegonien stossen, wie bekannt, beim Oeffnen
die zu Schleim degenerirten Kanalzellen aus. Dieser Schleim färbt sich
intensiv blau. Die Eizelle ist sehr substanzarm und erscheint von feinen
rothen Körnchen durchsetzt; rothe Nucleolen liessen sich in einzelnen
Fällen constatiren, doch ist auch das Vorhandensein von blau gefärbten
Inhaltskörpern nicht zu bestreiten. Eingehendere Untersuchungen
enthält die Inaugural-Dissertation des Vortragenden: Beiträge zur Kennt-
niss des Zellkerns und der Sexualzellen bei Kryptogamen. Breslau 1892;
und in Cohn: Beiträge zur Biologie der Pflanzen. Bd. VI. Heft 2,
S. 266 bis 304.
Professor Dr. Leopold Auerbach berichtete kurz
über den Gang und die Resultate seiner auf die Ermittelung tinctioneller
Differenzen in den Zellkernen höherer Thiere gerichteten Untersuchungen.
Der Thatbestand ist folgender: Es lässt sich eine grosse Anzahl
von Combinationen rother und blauer Kernfarbstoffe aufstellen, welche
alle das gemeinsame haben, dass sie im Kern gewisse Bestandtheile
blau, andere roth färben, weshalb dieselben als kyanophil und erythrophil
bezeichnet werden. Bei gewöhnlichen Kernen hat Vortragender das
gleichzeitige Vorkommen beider Substanzen nachgewiesen, während bei
Anwendung irgend eines der betreffenden Farbgemische auf die Sexual-
zellen der Wirbelthiere die Kerne der Samenzellen blau, die der Ei-
zellen roth gefärbt werden. Danach erscheinen die Kerne der vege-
tativen Zellen als zwitterig, indem sie sowohl erythrophile als auch
kyanophile Substanz führen, die Kerne der Sexualzellen dagegen ein-
geschlechtig, theils männlich (blau), theils weiblich (roth).
Zwei Fragen schliessen sich nun naturgemäss an, nämlich einmal,
ob die erwähnten Resultate, welche an den Sexualzellen von 10 Wirbel-
thierarten aus verschiedenen Abtheilungen gewonnen wurden, allgemeine
Giltigkeit haben, und zweitens, ob die beiderlei Sexualstoffe mit den in
vegetativen Kernen zu beobachtenden erythrophilen und kyanophilen
Substanzen thatsächlich identisch sind. Während Redner selbst zur Zeit
mit der Lösung der letzteren Frage beschäftigt ist, giebt das von Herrn
7693 %
50 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Schottländer mitgetheilte Resultat eine erwünschte Bestätigung der
ersteren aus einem ganz anderen Gebiete des organischen Reiches.
Auf einen Einwurf des Dr. Rosen, dass man bei Pflanzen analoge
Färbungen der Kerne und ihrer Bestandtheile erzielen könne, wie die
besprochenen, dass man aber die Vertheilung von Roth und Blau will-
kürlich umkehren könne, entgegnet Professor Auerbach, es beweise
dies doch nur, dass die Bezeichnungen ‚„erythrophil“ und ‚„kyanophil“,
welche er selbst nur in Bezug auf eine bestimmte Methode angewandt
habe, keinen Anspruch auf absolute Giltigkeit besitzen; die Hauptsache,
die tinetionelle Differenz bleibe. Uebrigens habe er neuerdings eine
Färbemethode gefunden, bei welcher ein nachträgliches Auswaschen mit
den dabei möglichen Störungen wegfalle. Zu den Gliedern der blauen
Farbstoffreihe gehören, wie er nachgewiesen, neben sogenannten basischen
auch saure (z. B. Acetinblau) und zu denen der rothen Reihe neben
sauren auch basische Farbstoffe (z. B. Rosanilinsalze).
Prof. Auerbach und Herr Schottländer demonstrirten die von
ihnen besprochenen Verhältnisse an mikroskopischen Präparaten.
In der zweiten Sitzung am 28. Januar sprach Geh. Bergrath
Dr. Runge
über ein neues Vorkommen der Stigmaria ficoides auf der Steinkohlen-
grube Piesberg bei Osnabrück.
Daselbst findet sich über dem 68 em mächtigen Steinkohlenflötze
Zweibänke eine 65 em mächtige Lage wilden, sandfreien Schieferthons,
welche mit zahlreichen, mehrfach diehotomirenden Zweigen von Stigmaria
fieoides erfüllt ist. Die Neigung der Gebirgsschichten gegen den Horizont
beträgt 19 Grad und die Stigmariazweige breiten sich bis mehrere Meter
weit parallel der Schichtung aus. Diese Stigmariazweige haben sich
wiederholt bis zu einem centralen Vereinigungs- oder Ausgangspunkte
verfolgen lassen, von welchen aufrechte Stämme von 1—1'), m Durch-
messer sich erheben, die über jenem sandfreien Schieferthon lagernden
Schichten von sandigem Schieferthon und Sandstein rechtwinklig durch-
schneiden, und sich bis zu 2 m Höhe, d. h. bis an eine Conglomerat-
schicht verfolgen lassen, in welcher sie nicht mehr zu erkennen sind.
Dieses Vorkommen ist seit Anfang der 70er Jahre bekannt und es sind
10 derartige Stämme bis jetzt beobachtet worden. Zwei sehr schöne
solche Stämme sind im Zusammenhange mit ihren Stigmaria-Verästelungen
am unteren Ende mit vieler Mühe wohlerhalten zu Tage gefördert, und
der eine im städtischen Museum in Osnabrück, der andere im Museum
der Königl. Bergakademie zu Berlin sehr instructiv aufgestellt, so dass
sie der Beobachtung und wissenschaftlichen näheren Untersuchung jeder-
zeit zugänglich sind,
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 51
Dieses Vorkommen ist wichtig für die Beantwortung der immer
noch in mehrfacher Beziehung sehr zweifelhaften Stigmarienfrage. Das-
selbe weist unwiderleglich nunmehr zum ersten Male auch in Deutsch-
land nach, dass die sich stets parallel der Schichtung, d. h. also
ursprünglich in horizontaler Richtung ausbreitende Stigmarien-Pflanze
stellenweise aufrecht stehende verticale Stämme hervorgetrieben hat.
Bereits in den 40er Jahren dieses Jahrhunderts ertönte von England
her das Signal, dass die Stigmaria nur die Wurzeln der bekannten
Sigillarien seien. Göppert konnte sich lange nicht mit dieser Ansicht
befreunden, und zwar besonders deshalb nicht, weil nach seinen, noch
heute maassgebenden Untersuchungen die Stigmarien und Sigillarien in
Niederschlesien und in Oberschlesien eine doch recht verschiedene
Entwickelung zeigten. Während in Niederschlesien die Stigmaria so
ausserordentlich stark hervortritt, dass einzelne Flötze des liegenden
Flötzzuges, welcher sich von Salzbrunn über Altwasser nach Charlotten-
brunn verfolgen lässt, fast nur aus Stigmaria zu bestehen scheinen, in
dem man aus jeder Schichtungsfläche der vorwiegend schiefrigen Kohle
bei einiger Aufmerksamkeit die charakteristischen runden Narben der
Stigmaria in regelmässiger Quincunx-Stellung erkennen kann, kommt die
Stigmaria in Oberschlesien allerdings auch häufig vor; aber sie tritt
daselbst doch im Vergleich mit Niederschlesien ganz auffallend gegen
andere Steinkohlenpflanzen, besonders die Sigillarien, zurück: dergestalt,
dass in Oberschlesien, besonders in der Gegend von Mokrau, Nicolai
und Örzesche, ganze Steinkohlenflötze von mehreren Metern Mächtigkeit
ausschliesslich aus Millionen flach zusammengedrückter, eng über-
einander liegenden Sigillarien - Stämme bestehen. Auch Leopold
v. Bach sagte in seiner drastischen Weise: „Die Wurzeln der ober-
schlesischen Bäume können doch unmöglich in Niederschlesien gefunden
werden.‘ Später glaubte Göppert allerdings am unteren Ende einiger
oberschlesischer Sigillarien-Stämme einige Stigmaria-Narben zu erkennen
und so den Uebergang der Sigillarien- Skulptur in Stigmaria bestätigen
zu können. Seit Anfang der 60er Jahre bis zu seinem Tode hat er
auch auf diesem Standpunkt gestanden, dass die Stigmaria nur die
Wurzeln der Sigillaria seien. |
Der Vortragende hat diese ihm von Göppert gezeigten angeblichen
Stigmaria-Narben indess nicht als solche anerkennen können; und heute
noch ist diese so interessante Frage sehr zweifelhaft. Auch an den
breiten Stämmen des Osnabrücker und Berliner Museums hat der Vor-
tragende zwar die horizontalen, vom unteren Stammwerk auslaufenden
dichotomierenden Organe als echte Stigmaria ficoides erkannt; an dem
aufrechten Theil der Stämme hat derselbe aber, obwohl an einigen
Stellen noch Kohlenrinde erhalten ist, trotz aufmerksamster Prüfung
nicht die Skulptur von Sigillaria oder Lepidodendron oder einer anderen
AF
59 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
ihm bekannten Steinkohlenpflanze erkennen können; überhaupt hat der-
selbe, so viele Tausende von Stigmaria, Sigillaria und Lepidodendron
ihm begegnet sind, noch niemals Gelegenheit gehabt, eine unzweifelhafte
Stigmaria in Verbindung mit einer unzweifelhaften Sigillaria oder einem
Lepidodendron oder einer anderen ihm bekannten Steinkohlenpflanze zu
beobachten.
Der Vortragende legte einige Zeichnungen und Belegstücke vor,
welche auf die interessante Frage Bezug hatten, und machte schliesslich
auf einen von ihm in Begleitung Göppert’s in den 40er Jahren ge-
sammelten, höchst interessanten, wohlerhaltenen Centralstock einer
Stigmaria aufmerksam, welcher, in Schatzlar gefunden, sich heute noch
im mineralogischen Cabinet der hiesigen Universität befindet, und dem
Osnabrücker Vorkommen völlig entspricht; nur dass sich auf der oberen
Seite des kreuzförmigen Stückes, an Stelle des aufrecht stehenden
Stammes, eine kreisrunde Bruchfläche befindet. Vergl. das Buch des
Vortragenden: Das Ruhr-Steinkohlenbecken, bearbeitet von Dr. Wil-
helm Runge, Geh. Ober-Bergrath; mit einem Atlas von 12 Tafeln,
Berlin 1892,
Im Anschluss an diesen Vortrag berichtete Prof. Dr. Stenzel
über die Untersuchungen von Grand-Eury in Bezug auf Stigmaria und
Sigillaria.
Realschullehrer G. Limpricht legte als neue deutsche Moose aus
dem Bodensee vor: Fissidens grandifrons, Bryum pseudotriguetrum, Hypnum
Gerwigü.
In der dritten Sitzung vom 1l. Februar legte Prof. Prantl
eine kürzlich erschienene Abhandlung von Murbeck vor, welche das
in der vorletzten Sitzung durch Prof. Stenzel besprochene Asplenium
germanicum zum Gegenstande hat, und zeigte an der Hand der dort
mitgetheilten, von Stud. pharm. Appel nachuntersuchten und erweiterten
anatomischen Befunde, dass der Annahme nichts im Wege steht, ge-
nannter Farn sei kein Kreuzungsproduct, sondern eine selbstständige Art
aus der Gruppe des A. septentrionale.
Derselbe legte einen von Wichura in Japan gesammelten Farn-
bastard, Microlepis strigosa > marginalis, vor.
Dr. Rosen sprach
über die chromatischen Eigenschaften der Nucleolen und der Sexualzellkerne
bei den Liliaceen.
In ruhenden Kernen von Scilla sibirica lassen sich zweierlei Kern-
körperehen unterscheiden, von welchen die einen bei Doppelfärbungen
vorwiegend rothe, die anderen blaue Farbstoffe aufnehmen, und welche
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 53
daher als „erythrophil“ und „kyanophil‘“ im Sinne Auerbach’s zu be-
zeichnen sind. Für die erythrophilen wird der Name Eunuceleolen, für
die kyanophilen Pseudonucleolen vorgeschlagen. Kyanophile Nucleolen
wurden bei anderen Liliaceen nicht beobachtet, dafür ist aber hier das
chromatische Gerüstwerk (wie wohl stets) kyanophil. Bei der Kern-
theilung erweisen sich die chromatischen Elemente, d. h. der Kern-
faden und seine Segmente als kyanophil, die Nucleolen, Spindel- und
Verbindungsfäden, sowie die Zellplatte als erythrophil.
In den Pollenkörnern von Hyacinthus orientalis erwiesen sich die
beiden Kerne als chromatisch verschieden; die kleineren generativen
Kerne, welehe als männliches Element die Befruchtung der Eizelle be-
wirken, sind kyanophil, wie die Köpfe der Spermatozoen bei den Wirbel-
thieren; der vegetative Kern des Pollenkorns ist dagegen erythrophil.
Hierin gleicht er ganz dem Eikern, sowie übrigens sämmtlichen Kernen
des Embryosackes. Demnach wäre, für die untersuchten Fälle wenigstens,
Kyanophilie das Charakteristikum der männlichen, Erythrophilie das der
weiblichen Sexualkerne,. Es besteht in dieser, sowie in mehreren
anderen, hier nicht näher zu besprechenden Verhältnissen eine über-
raschende Uebereinstimmung mit den Befunden Auerbach’s an den
Sexualzellen der Wirbelthiere. Bezüglich der erythrophilen Eigenschaften
des Eikerns konnte festgestellt werden, dass dieselben sich schon lange
vor der Bildung des eigentlichen Eikernes an dem Kern der sogenannten
Embryosackmutterzelle deutlich erkennen lassen, bei Tulipa beispiels-
weise schon Anfangs Februar an im Freien wachsenden Exemplaren;
während der generative Kern des Pollenkorns erst kurz vor der Reife
desselben kyanophil wird. Allerdings findet auch dies schon einige
Zeit vor dem Aufblühen statt, da der Pollen der Liliaceen sehr früh-
zeitig zu reifen pflegt. Eine ausführliche Darstellung der Beobachtungen
des Vortragenden ist in Cohn’s Beiträgen zur Biologie der Pflanzen,
Band V pag. 443, erschienen.
Professor Auerbach erkennt die erfreuliche prineipielle Ueber-
einstimmung des nun auch an den Sexualzellen der phanerogamen Pflanzen
Ermittelten mit seinen eigenen Befunden an Thieren an. Er bestreitet,
dass die kyanophilen Innentheilchen einfach als Nuclein anzusprechen
seien, da auch in den erythrophilen ein Gehalt von Nuclein vorkomme.
Die Chemie habe bereits mehrere Abarten des Nuclein erkannt, und es
mögen diese auf die verschieden färbbaren Körperchen vertheilt sein.
Letztere differentiell zu bezeichnen, sei wohl rathsam, hingegen zu be-
zweifeln, ob sich gerade der Ausdruck Pseudonucleolen empfehle.
Schliesslich spricht Professor Auerbach noch die Vermuthung aus,
dass in der Entwickelung der Phanerogamen die Aussonderung der
männlichen Keimsubstanz schon bei derjenigen Zelltheilung beginne,
welche die Anlage des Embryosackes liefert, Zu dieser Meinung sei
54 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
er durch die vorliegenden Präparate und Zeichnungen des Herrn
Dr. Rosen veranlasst, in welchen sich die innersten, den Embryosack
umgebenden Zellen des Nucellus mit besonders reichlicher kyanophiler
Kernsubstanz ausgestattet zeigen.
In der vierten Sitzung vom 25. Februar berichtete Gym-
nasiallehrer Dr. Schube über die von Apotheker E. Fiek und ihm
zusammengestellten
Ergebnisse der schlesischen Florendurchforschung im Jahre 1890.
Dieselben sind inzwischen im Jahresberichte der Schles. Gesellschaft
für 1891, Botan, Section S. 37”—129 (Separat-Abdruck $. 19—61) erschienen.
Der Vortragende legte eine Anzahl interessanter Pflanzen von neuen
schlesischen Standorten vor, welche von H. Callier, Lehrer Schröder
in Ochelhermsdorf und Anderen eingesandt worden waren,
Sodann berichtete der Vortragende
über die Ergebnisse der Durchforschung der schlesischen Phanerogamen-
flora im Jahre 1891,
zusammengestellt von E. Fiek, mit Nachträgen von Th. Schube,
welche ebenfalls im Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für 1891,
Botan. Section $. 155—180 (Separat-Abdruck $. 87—112), zum Abdruck
gebracht worden sind, — insbesondere auch über seine eigenen Funde, die
Ergebnisse seiner Ferienreise von 1891, welche von Brieg aus nach
Oberschlesien und den Beskiden, sodann in das Riesengebirge geführt
und eine stattliche Anzahl neuer Fundorte für interessante und seltenere
schlesische Pflanzen ergeben hatte.
Ferner legte derselbe vor eine Abhandlung unseres correspondirenden
Mitgliedes, Lehrer Julius Gerhardt in Liegnitz,
über Poa Figerti (nemoralis >< compressa) nov. hybr.
Vor Jahren schon fiel mir unter den Varietäten der Poa nemoralis L.
eine der Varietät firmula Gaud. ähnliche Form auf, welche ich in
meiner 1885 erschienenen Flora von Liegnitz wegen ihrer zusammen-
gedrückten Stengel als var. subcompressa m. einführte.e Auch Rudolph
v. Uechtritz-Breslau neigte sich dieser Ansicht zu und nahm sie als
Subvarietät von firmula. — Nachdem ich durch eine längere Reihe von
Jahren meine Beobachtungen eingestellt, bot sich mir im Vorjahre durch
einen vierwöchentlichen Aufenthalt in Lähn, dem landschaftlich so
reizend gelegenen Boberstädtehen, Gelegenheit, der Pflanze wieder näher
zu treten. Reichliches Material boten namentlich die mit Rasen belegten
alten Ringmauern des katholischen Kirchhofs, sowie dem Bober zu-
gewendete, steile Abhänge eines Schiefergesteins oberhalb des dortigen
Schiesshauses. Das früher von mir auf den Dorfmauern von Hermanns-
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 55
dorf, Kreis Jauer, gesammelte Material erwies sich als mit dem in Lähn
gefundenen vollständig identisch. — An beiden Fundorten wachsen
gleichzeitig Poa nemoralis L. und Poa compressa L., und zwar in den
vulgären Formen, doch in verschwindend geringer Menge gegenüber
der von mir als hybrida angesprochenen, massenhaft auftretenden Form.
Da erfahrungsgemäss Hybride dort, wo sie ungestört sich vermehren
können, dies nicht selten auf Kosten ihrer Stammeltern thun, ja die-
selben oft gänzlich verdrängen (Carex-, Hieracium-, Alopecurus-Bastarde
u. a.), so lag mir der Gedanke an die Möglichkeit nahe, dass auch im
vorliegenden Falle die Natur ein Gleiches gethan, und ich kam dann
nach eingehender Untersuchung zu der Ueberzeugung, dass die in Frage
stehende Form recht wohl als Kreuzung zwischen den vorgenannten
Arten, der Poa nemoralis L. und Poa compressa L. anzusehen sei, um
so mehr, als sie auch den schwankenden Charakter der Hybriden zeigt,
also bald mehr der einen, bald mehr der anderen Stammart zuneigt.
Indem ich dieselbe Poa Figerti nenne, ehre ich damit den Entdecker
zahlreicher Hybriden, meinen scharfsichtigen einstigen Schüler, jetzigen
Freund, Fach- und Berufsgenossen, Herrn Gymnasial-Vorschullehrer Figert
von hier.
Der besseren Uebersicht wegen lasse ich nun die Resultate meiner
Untersuchungen in tabellarischer Form folgen.
Poacompressa L.|Poa nemoralis L.| Poa Figerti m.
1. Allgemei-} Wuchs locker rasen-|Wuchs nicht oderkaum| Wuchs locker bis
nes. förmig mit längeren] rasenformig, dann| mässig dicht rasen-
Ausläufern. Pflanze| mit sehr kurzen Aus-| förmig, mit kurzen
graugrün. läufern. Pflanzegras-| Ausläufern. Pflanze
grün. etwas dunkler grün
als die vorher-
gehende.
2. Stengel. |AmGrunde inlängerem|Am Grunde sehr kurz| Am Grunde kurz bogig
a. Richtung:| Bogen aufsteigend,| bogig aufsteigend,| aufsteigend, dann
dann aufrecht. dann bald aufrecht.| bald aufrecht.
b. Theilung:| Astlos. Oft am Grunde des] Astlos.
Stengels mit einem
oder einigen auf-
rechten Aesten.
c. Form: |Bis an die Inflorescenz|Bis an die Inflorescenz | Bis zum obersten Inter-
zweischneidig zu-| rund. nodium _ zweischnei-
sammengedrückt. dig, von da bis zur
Inflorescenz rundlich
zusammengedrückt.
d. Höhe: |Bis 40 cm. Bis 80 cm. Meist 50 und bis 60 cm.
e. Dicke: |ImVerhältnisszurHöhe|ImVerhältniss zur Höhe | ImVerhältniss zur Höhe
dick. dünn. etwas dicker als die
| vorhergehende Art.
56
3. Blätter.
a. Scheide:
gestreift; alle Schei-
denkahl,etwaslocker
anliegend; oberste
Scheide immer län-
ger als ihre Fahne.
Mitte und neben dem
Seitenrande deutlich
tiefer gestreift; alle
Scheiden eng anlieg.,
sporadisch mit winzig.
Zähnchen; oberste
Scheide so lang oder
kürzer alsihreFahne.
b. Fahne des|Das darüber liegende|Das nächst höhere In-
vorletzten
Blattes:
c. Blatt-
häutchen:
4. Inflores-
cenz.
a. Allgemei-
nes.
Internodium
überragend.
wenig
vortretend, meist wie
abgestutzt.
einseitig entwickelt,
nach dem Verblühen
wenig oder nicht zu-
sammengezogen.
ternodium bedeutend
überragend.
Kurz, selten etwasmehr| Wie bei compressus.
Rispe gedrungen, oft|Rispe locker, allseitig
entwickelt, sparrig,
oft schlaff überhän-
gend,nach derBlüthe
zusammengezogen.
b. Unterster | Ein- bis fünfästig, doch |Ein- bis fünfästig, meist
Quirl:
meist weniger ästig,
gewöhnlich ein Ast
doppelt so lang als
der nächstlängste
desselben Quirls;
nicht grösser, oft im
Umfange kleiner als
der darüber stehende
Quirl.
fünfästig; längster
Ast etwa 1'/,mal so
lang als der nächst-
längste desselben
Quirls; umfänglich
meist grösser als der
folgende Quirl.
c. Aehrchen:|Drei- bis zehnblüthig.|Drei- bis fünfblüthig.
d. Blüthen-
Deckblätter:
der weisshäutigen,
stumpfen Spitze ent-
weder nur gelb oder
dahinter noch violett
angelaufen; Mittel-
und Randnerv höch-
stens im Basaldrittel
dicht u. kurz seiden-
artig behaart; die
Haare anLängewenig
verschieden.
Grün, nicht selten vor] Von derselben Farbe
und Zeichnung wie
compressa ; Spitze we-
niger stumpf; Mittel-
u. Randnerven meist
erst von der Mitte
ab nach der Basis
hin dicht und seiden-
artig behaart, die
unteren Haare oft
bedeutend länger,
Zotten bildend.
e. Aehrchen-|[,anzettlich, meist von|Form und Färbung wie
Hüllblätter:
der Spitze bis zur
Basis am Seitenrande
hin blau angehaucht, |
oft bis nahe zur
Spitze des nächsten
Blüthchens reichend.
bei compressa, etwa
das Spitzendrittel der
dahinter
Blüthe freilassend.
Das
Wie bei
Rispe locker,
stehenden|
Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Fast gleichmässig tief;Nahe der kielförmigen}Wie bei nemoralis ge-
streift u. anliegend,
kahl ; oberste Scheide
meist länger als ihre
Fahne.
nächst höhere
Internodium wenig
überragend.
den beiden
Vorhergehenden.
selten
etwas schlaff, allsei-
tig entwickelt, spar-
rig, nach der Blüthe
wenig oder nicht zu-
sammengezogen.
Ein- bis fünfästig, zum
öftersten vierästig;
längster Ast etwa
1!/,mal so lang als
der nächst‘ längste
desselben Quirls, um-
fänglich meist grös-
ser als der folgende
Quirl.
Drei- bis sechsblüthig.
Färbung, Zeichnung u.
Behaarung wie bei
nemoralis ‚Deckblatt-
spitze stumpflich.
Form und Färbung wie
bei Vorsteh., nur
etwa !/, der Länge
des dahinter stehen-
den Blüthchens frei-
lassend.
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 57
f. Beweh- |Oberer Theil der Ris-|Bewehrung wie beilBewehrung wie bei
rung: penaxe alle Aeste!l compressa, doch sind| compressa, auch was
und alle Mittelnerven| die feinen Spitzen] die Bildung der Zähn-
der Deck- und Hüll-| der Zähne, nament-)| chen anlangt.
blätter in ihrer Axi-| lich an den Aesten
calhälfte mit sehr] der Quirle, fast im-
kurzen, schief zur|j mer deutlich länger
Spitze gerichteten,} als der Basaltheil.
abstehenden Zähn-
chen, deren feine
Spitze kaum halb so
lang ist, als die ver-
breiterte Basalhälfte.
Die Samenentwickelung der hybriden Form bedarf noch weiterer
Beobachtung; es gelang mir noch nicht, ausgebildete Samen aufzufinden.
Ueber die Verbreitung der Pflanze lässt sich Weiteres noch nicht
angeben, doch ist zu vermuthen, dass ihr Vorkommen bei der Häufigkeit
der Stammeltern öfters nachgewiesen werden wird.
Ober-Stabsarzt Professor Dr. Schröter gab
über seine Bearbeitung der ihm zugegangenen südamerikanischen Pilze
eine vorläufige Mittheilung. |
Bis vor wenigen Jahrzehnten war die Pilzvegetation Südamerikas
wenig bekannt, ausser der Bearbeitung der Pilze in Gay’s Flora von
Chile durch Montagne und einer Aufzählung der bis dahin bekannten
Pilze von Brazil durch Berkeley und Cooke bestanden nur spärliche,
zerstreute Mittheilungen über einzelne Pilze aus diesem Gebiete.
Dieser Thatbestand erfuhr eine wesentliche Aenderung, als neuer-
dings europäische geschulte Botaniker in Südamerika selbst die Er-
forschung der dortigen Pilze übernahmen, Namentlich geschah dies in
umfassender Weise durch Spegazzini, einen Schüler Saecardo’s,
welcher die von ihm und Anderen in Argentinien, Patagonien, Feuerland,
Paraguay, Süd-Brasilien, Uruguay gesammelten Pilze bestimmte und in
der sorgfältigen Saccardo’schen Weise beschrieb. BReichhaltiges
Material lieferten auch die Sammlungen von E. Ule in $Süd-Brazil,
welches theilweise von G. Winter bestimmt und z. Th. von diesem
und neuerdings von OÖ. Pazschke ausgegeben wurden. Weitere viel-
versprechende Mittheilungen stehen noch in Aussicht, seitdem v. Lager-
heim als Professor der Botanik in Quito wirkt und der Erforschung
der dortigen Pilze seine besondere Aufmerksamkeit widmet, und
A. Moeller es unternommen hat, die Pilze der Urwälder von Süd-
Brazil nach der gründlichen Methode seines Lehrers O. Brefeld zu
erforschen.
58 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Vortragender wurde auf die Untersuchung südamerikanischer Pilze
zunächst dadurch geführt, dass er die bedeutende Sammlung argenti-
nischer Pflanzen von Professor Hieronymus in Bezug auf die zufällig
mit eingesammelten parasitischen Pilze durchsehen konnte. Dieses Her-
barium-Botanisiren ergab eine unerwartet reichliche Ausbeute an inter-
essanten Formen, und diese erhielten einen weiteren Zuwachs durch Mit-
theilung einer Anzahl von Professor Hieronymus selbst eingesammelter
Pilze. Derselbe überliess auch in freundlichster Weise dem Vortragenden
einige Decaden der von Spegazzini ausgegebenen und eine Sammlung
der von Balansa in Paraguay bezw. Süd-Brazil gefundenen Pilze. Ganz
bedeutend wurde diese Sammlung dadurch vermehrt, dass nach dem
Tode G. Winter’s Vortragender an dessen Stelle als Bearbeiter der
von E. Ule in Brazil gesammelten Pilze trat. Die Bearbeitung dieses
gesammten Materials ist jetzt bis zu einem gewissen Abschluss gediehen
und die Mittheilung der Ergebnisse wird nun abschnittsweise erfolgen.
Die jetzige Mittheilung umfasst die Myxomyceten, Phycomyceten und
Ustilagineen.
Von Myxomyceten sollte man nach dem feuchten und warmen Klima,
dem Reichthum an vegetabilischen Verwesungsstoffen in den Urwäldern
Südamerikas von dort eine grosse Fülle erwarten. Vielleicht liegt nur
in der Schwierigkeit der Erhaltung dieser sehr gebrechlichen Organismen
der Grund, dass verhältnissmässig nur wenig darüber bekannt ist. Die
Sammlung des Vortragenden enthält 16 Arten, sämmtlich aus Brazil.
Grösstentheils sind es Formen, welche auch in Mittel-Europa häufig vor-
kommen, als neu werden in Anspruch genommen: 1. Arcyria tenuis (der
A. pomiformis Roth sehr nahe stehend); 2. Lamproderma inconspicuum,
eine sehr kleine Form aus dieser Gattung; 3. Didymium intermedium,
eine Mittelform zwischen D. macrospermum Rostr., von diesem durch den
Mangel des Säulchens, und D. commutabile Berk. et Br., von diesem be-
sonders durch die Grösse und Beschaffenheit der Sporen verschieden.
Diese Organismen werden eingehend an Ort und Stelle studirt
werden müssen. Das Gleiche gilt auch für die unscheinbaren und zum
Theil schwer conservirbaren Phycomyceten, über welche gerade aus Be-
obachtungen in den Tropen noch wichtige Aufschlüsse zu erwarten sind.
Die Sammlung des Vortragenden enthält aus dieser Abtheilung zwei auch
in Mittel- Europa häufige Synechytrien (S. Taraxaci De By. et Wor.,
S. Stellariae Fuck.),; 8 Cystopus-Arten, von denen 5 bekannte europäische
Arten sind (CO. candidus Pers., ©. Portulacae DC., C. Bliti Biv., C. Are-
nariae Wallr., ©. Tragopogonis Pers.), an denen die neuen Nährpflanzen
von Interesse sind, eine bisher nur in Amerika gefunden ist (C. Ipomaeae
Schwein.), zwei als neu anzusehen sein dürften; 4. CO. Nyctaginearum;
5. 0. Brasiliensis, auf Soliva anthemidifolia, von C. Tragopogonis durch die
feine engmaschige Zeichnung der Oosporen verschieden; 2 Peronospora-
II. Naturwissenschaftliche: Abtheilung. 59
Arten (P. nivea Ung. und P. Alsinearum Casp.). Hier sind auch noch
2 Protomyces - Arten anzuschliessen, der bekannte Prot. macrosporus (auf
Bowlesia tenera), und eine neue Art. 6. Prot. giganteus, von Prot. macro-
sporus Thüm., habituell besonders durch die mächtigen Schwielen, welche
er an der Nährpflanze (Hypochaeris sp.) hervorruft, verschieden.
Verhältnissmässig reich ist die Abtheilung der Ustilagineen vertreten,
aus welcher 35 Arten vorgelegt werden. 12 derselben kommen auch
in Europa häufig vor, zum Theil finden sie sich aber hier auf anderen
Nährpflanzen, z. B. Ustilago utrieulosa und Sphacelotheca Hydropiperis auf
Polygonum acre, Entyloma Linariae auf Veronica peregrina. Nnr aus Süd-
Amerika bekannt (grösstentheils erst von Spegazzini beschrieben) sind
11 Arten, eine (Urocystis Hypoxydis Thaxter) auf Hypox. procumbens ist
erst vor kurzer Zeit aus Nord- Amerika bekannt geworden. Als neu
dürften 12 Arten anzusehen sein: 7. Ustilago culmiperda, auf Andropogon
macrurus; 8. U. Macruri, auf derselben Pflanze; 9. U. axicola, auf Fim-
bristylis; 10. U. Hieronymi, auf Boutelona ciliata (Argentinien); 11. U.
verrucosa, auf Paspalum distichum; 12. U. ? nitens, in den Früchten einer
Scleria, durch sehr grosse, glänzend braune Sporen ausgezeichnet, viel-
leicht in die Gattung Tilletia gehörend, was aber nur nach Kenntniss der
Keimung festzustellen ist; 13. Tolyposporium minus, in den Früchten einer
Graminee; 14. Urocystis Ulei, in den Blattstielen und Ausläufern von
Oxalis violacea; 15. U. Hieronymi, auf Solanum sp. aus Argentinien, sehr
eigenthümliche, einer kleinen Gurke ähnliche Auftreibungen veranlassend;
16. Doassansia aquatica, in Blättern und Stengeln von Callitricha sp.;
17. Schizonella Paspali, auf Paspalum sp.; 18. T'hecaphora Montevidensis,
in den Früchten von Spermacoce radicans von Montevideo.
Als sehr merkwürdiges Schaustück wurde ein von E. Ule in einem
Urwalde bei Blumenau gesammelter gewaltiger Hexenbesen auf Cissus
vorgelegt, welcher durch Schizonella Cissi (DC.) veranlasst wird. Die
Sprossen sind in einer solchen Weise umgeformt, dass es nicht möglich
sein würde, aus ihr die Nährpflanze zu erkennen, auch sind Blattstellung
und alle Theile des Blattes, besonders die Blattstiele, in denen der Pilz
seine Sporen bildet, in solcher Weise verändert, dass es sehr schwer
wird, dieselben richtig zu deuten.
Als zweifelhafte Uredinee muss Ustilagiopsis compactiuscula Speg., in
den Früchten eines Grases vorkommend, angesehen werden, der Pilz
scheint vielmehr eine Sphacelia-Form zu sein, ähnlich wie die von Clavi-
ceps purpurea. Auch ein eigenthümlicher, in den Blättern einer Arau-
caria von E. Ule in Brazil entdeckter Pilz, 18. Dleiella paradoxa n. sp.,
welcher am Grunde der Nadeln als braune Staubmasse hervortritt, die
aus grossen, kugeligen, glänzend braunen Sporen besteht, dürfte kaum
als Uredinee zu betrachten sein, doch ist über dessen Stellung nur nach
60 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Untersuchung jüngeren Materials, welches in Aussicht gestellt ist, Ge-
wissheit zu erlangen.
Durch Bestimmung der Nährpflanzen, welche gerade für die Perono-
sporeen, Ustilagineen und Uredineen von besonderer Wichtigkeit ist, wurde
Vortragender von den erfahrenen Kennern der südamerikanischen Flora,
Professor Hieronymus und Dr. Metz, in dankenswerthester Weise
unterstützt.
Prof. Ferdinand Oohn legte vor:
Das Herbar von Georg Rudolph, Herzog in Schlesien zu Liegnitz und
Brieg, aus dem Jahre 1612.
Das Herbar wird in der Ritterakademie zu Liegnitz aufbewahrt und
ist dem Vortragenden auf seine Bitte durch den Bibliothekar der Aka-
demie, Professor Dr. Pfudel, zu näherer Untersuchung freundlichst zu-
gesandt worden. Das Herbar bildet einen starken Folianten in weissem
Ledereinband, der mit eingepressten Ornamenten verziert ist; die Initialen
des Besitzers (G. R. H. J. 8. Z. L. U. B. 1612) sind auf dem Vorder-
deckel eingeprägt, auf dem Rücken ist dasselbe als Kräuterbuch be-
zeichnet. Die Blätter, starkes Schreibpapier, zeigen das Wasserzeichen
des Fürstenthums Liegnitz; nur das erste Drittel ist benutzt, die übrigen
leer; sie sind stark wurmstichig. Die Pflanzen sind sehr sorgfältig ein-
gelegt, namentlich die Blumenblätter faltenlos ausgebreitet; sie sind
offenbar unter starkem Druck und Anwendung von Wärme ganz dünn
gepresst, die grüne Farbe der Blätter und theilweise auch die der
Blumen ist meist erhalten; sie sind auf der Unterseite mit Leim auf das
Papier festgeklebt, so dass sie fast wie gemalt aussehen; es ist dies die
Methode, die bei allen alten Herbarien angewendet wurde. Dabei wurden
allzu dichte Aeste weggeschnitten, andere, der Schönheit wegen, oft
ganz willkürlich angeklebt; Wurzeln fehlen, doch ist bei vielen Pflanzen
der Erdboden oder bei Bäumen der Stamm durch Malerei angedeutet.
Auf jedem Blatt findet sich in der Regel nur eine, doch mitunter auch
2—3 Pflanzen; auf zwei Blättern sind künstliche Bilder (ein Hirsch und
ein Baum) aus Moosen und Flechten zusammengesetzt. Namen fehlen,
bei einigen Pflanzen sind jedoch kleine Zettel mit der lateinischen Be-
zeichnung aus dem 17. Jahrhundert beigelegt. Im Jahre 1880 hat
Major Elbrandt mit Unterstützung des Lehrers Gerhardt in Liegnitz
die jetzt üblichen Namen zugefügt. Unter den Pflanzen ist wohl keine,
die nicht zur Zeit in Deutschland, sei es wildwachsend oder in Gärten
gezogen, vorkam; einige (Lorbeer, Feige, Limone) sind vermuthlich in
Gewächshäusern gezogen; ein Seetang (Fucus vesiculosus) mag von der Nord-
oder Ostseeküste stammen; auf dem nämlichen Blatt ist auch Marchantia
polymorpha aufgeklebt. Die Pflanzen sind keineswegs nach der Reihen-
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 61
folge ihrer Blüthezeit geordnet; indess ist auch keine systematische An-
ordnung erkennbar; jedoch stehen die Bäume beisammen (Pinus silvestris,
Thuja occidentalis, Juniperus virginiana, Taxus, Fagus, Castanea, Populus
alba, Cydonia, Acer platanoides, Pirus Aucuparia, Pirus Malus, Morus alba;
Quercus pedunculata folgt ein Paar Blätter später; ebenso stehen Echium,
Anchusa, Borrago hinter einander, desgleichen Euphorbia platyphyllos, Cy-
parissias und Esula, ebenso Melilotus albus, offieinalis, Medicago falcata,
Lotus uliginosus und Trifolium procumbens, arvense und hybridum; dann
folgen aber auf einem Blatt Fieberklee, Sauerklee und Bergklee (Meny-
anthes, Oxalis Acetosella und Trifolium montanum); weiter Convolvulus
arvensis und Polygonum Convolvulus, Oyclamen europaeum und Asarum.
Von Kryptogamen sind zu erwähnen von Pilzen: Lycoperdon; von
Flechten: Usnea barbata florida, U. hirta, Peltigera polydactyla, Ramalına
furfuracea. Parmelia physodes, Physcia parietina, Cladonia rangiferina, Clad.
degenerans, Clad. fimbriata, Clad. coccifera, Sticta pulmonaria; von Leber-
moosen: Frullania dilatata, Marchantia polymorpha, Jungermannia spec.;
von Laubmoosen: Ulota crispa, Hypnum splendens, Ceratodon purpureus,
Dicranum undulatum; von Farnen: Botrychium Zunaria, Asplenium Ruta
muraria, A. Trichomanes, Aspidium Filixc mas., Polystichum Fils femina,
Pieris aquilina.
Herzog Georg Rudolph, der ehemalige Besitzer, vielleicht auch An-
fertiger des Herbars, gehörte zu den letzten Gliedern des uralten, 1675
erloschenen Geschlechtes der Piasten, die sich im Gegensatz zu ihren
rohen, zuchtlosen Vorfahren durch Begabung und insbesondere durch
humanistische Bildung auszeichneten. Er war 1595 zu Ohlau geboren
als Sohn des Herzogs Joachim Friedrich von Brieg, der gleich seinem
Vater Georg II. sein Land zu hoher Blüthe gebracht hatte, während
Liegnitz durch die Verschwendung seiner Fürsten (Friedrich III. und
Heinrich XI.) dem Ruin verfallen war. Als die Liegnitzer Piasten 1586
ausstarben, fiel ihr Land an Joachim Friedrich von Brieg, der 1592
auch Wohlau durch Erbschaft erhielt. Nach dem frühen Tode Joachim
Friedrichs (F 1602) wurde sein Sohn Georg Rudolph erst von der
Mutter (+ 1605), dann aber bei seinem Onkel und Vormund, dem Herzog
Karl II. von Münsterberg-Oels zugleich mit dessen Söhnen auf dem Oelser
Schlosse unter Leitung des Hofmeisters Dr. Georg Passelt erzogen. Mit
einem von Karl’s Söhnen bezog Georg Rudolph 1611 die Universität zu
Frankfurt a. O. In der von Ernst Friedländer herausgegebenen Matrikel
der Universität Frankfurt (Bd. I 1887—91) finden wir als die ersten im
Sommersemester 1611 unter dem Rectorat des am 23. April d. J. ge-
wählten Rectors David Origanus (Prof. math., aus Glatz gebürtig) Im-
matriculirten eingezeichnet:
Georg Rudolph dux Bregensis et Lignieiensis ete. ete.; Caro-
lus Fridericus dux Münsterbergensis et Olavensis, comes Gla-
62 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
censis, dominus Sternbergae etc. etc. — dederunt XX thaleros;
Magister Johannes Muccius Vratislaviensis, Lignieiensis et
Bregensis dueis informator, dedit I Reichsthaler.
Dieser Hofmeister Johannes Muceius aus Breslau, hatte in Leipzig Natur-
wissenschaften und Mediein studirt; 1606 hatte er an der dortigen philo-
sophischen Facultät ‚de Pica seu Malacia“ disputirt und sich dadurch
die Würde eines magister philosophiae erworben. Am 12. Juli 1607
vertheidigte er eine „Brevis et perspicua scientiae physicae delineatio
in 7 disputationibus“, wobei er sich als ,„artis medicae studiosus‘‘ be-
zeichnet. Anscheinend ist unser Herbar unter Anregung dieses natur-
wissenschaftlich gebildeten Hofmeisters von oder für den jungen, damals
17jährigen Herzog während seiner Frankfurter Studienzeit angelegt
worden, während deren dieser sich auch mit dem Kurprinzen von Branden-
burg, Georg Wilhelm, der im Wintersemester 1611 Rector der Uni-
versität wurde, befreundete. Schon Ostern 1612 verliess Georg Rudolph
die Universität Frankfurt, um nach Liegnitz zurückzukehren; am 8. Mai
1612 wurde die Erbtheilung zwischen den beiden Söhnen Joachim
Friedrichs vollzogen; der ältere Bruder, Johann Christian, der Gemahl
der Dorothea Sibylla von Brandenburg (+ 1615) erhielt Brieg, an dessen
Piastenschloss wir noch heut die Standbilder des Fürstenpaares be-
wundern. Georg Rudolph dagegen übernahm die Regierung des Herzog-
thums Liegnitz, in das er am 3. Juni 1613 feierlich einzog; doch schon
einen Monat später, am 2. Juli 1613, trat er eine grosse Reise durch
Deutschland, Italien, Frankreich und die Niederlande an, von der er erst
das Jahr darauf (1614) wieder nach Liegnitz zurückkehrte. Auf dieser
Reise war er auch von Johann Muck begleitet, der bei ihm in hoher
Gunst blieb und zum Herzoglich Liegnitzischen Hofrath ernannt, später
auch als Muck von Muckendorf geadelt wurde. Ueber diese Reise besitzen
wir einen speciellen Bericht in dem lateinischen Epithalamium, das dem
„Joannes Muceius Illustr. aulaeLignieiensis Consil.‘‘ bei seiner Verheirathung
mit Christina Mylius, der Tochter eines Liegnitzer Arztes, am 12. April
1615 von Nicolaus Ludovicus gewidmet wurde; da es nicht ohne Interesse
ist, welche Städte am Anfang des 17. Jahrhunderts als besonders besuchens-
werth angesehen wurden, so lasse ich das Verzeichniss hier folgen: Die
Reise ging von Liegnitz nach Görlitz (Besuch des heiligen Grabes),
Dresden, Freiberg, Leipzig, Coburg, Bamberg (wo Glyeyrrhiza angebaut
wird), Forchheim, Nürnberg, Augsburg, München, Innsbruck mit der
Martinswand, über den Brenner nach Trient, Venedig, Padua mit den
Euganeischen Thermen, Vicenza, Verona, Mantua, Cremona, Piacenza,
Lucea, Genua, Pisa, wo der hortus medieus besucht wird, Livorno, Siena
Rom, Florenz, Prato, über den Apennin nach Bologna, Modena, Parma,
Mailand, Pavia, durch Graubündten (Splügen?) nach Zürich, Basel, Strass-
burg, Naney, Paris, Ostende, Sluys, Brüssel, Antwerpen, Löwen, Leyden,
1I. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 63
Rotterdam, Enkhuizen, Amsterdam, Jülich, Cleve, Emden, Münster,
Bremen, Cöln, Mainz, Frankfurt a. M., Worms, Speier, Heidelberg, Stutt-
gart, Ulm, Ingolstadt, Regensburg, Erfurt, Dessau — wo Georg Rudolph
seine Braut Sophie Elisabeth, die Tochter des Herzogs Johann Georg
von Anhalt, kennen lernte, die er am 4. November 1614 heimführte —
und schliesslich über Berlin nach Liegnitz zurück. Herzog Georg Rudolph
war auf seiner „laboriosa, periculosaque peregrinatio“ mit Gelehrten
und Künstlern in Verbindung getreten; sofort nach der Heimkehr 1614
liess er von einem italienischen Baumeister den grossartigen Entwurf für
den Umbau des alten Piastenschlosses anfertigen, von dem jedoch nur
ein Theil, und insbesondere das stattliche Portal erhalten ist. Der
80 jährige Krieg, welcher den grössten Theil seiner Regierungszeit aus-
füllte, brachte auch seine Schrecken über Liegnitz, in dessen Nähe
mehrere Gefechte stattfanden; im August 1632 und im October 1634
kamen die Schweden, im Juli 1633 die Kaiserlichen nach Liegnitz,
wobei auch der von dem Herzog kunstvoll angelegte Schlossgarten, der
vermuthlich auch botanisches Interesse bot, vollständig verwüstet wurde;
seit 1635 war der Herzog nach dem festen Breslau gezogen, wo er bis
zum Schluss des Krieges verblieb.
Herzog Georg Rudolph war „einer der trefflichsten Fürsten aller
Zeiten; unbeugsame Gerechtigkeit, aufrichtige Frömmigkeit, unerschütter-
liche Festigkeit auch unter den schwierigsten Verhältnissen zeichneten
ihn aus“ (Krebs in Allg. Deutsche Biographie VIII, 1878, 8. 193);
1621—28 und 1641—53 bekleidete er die Würde des Oberlandeshaupt-
manns von Schlesien; seiner politischen Weisheit hatte es das Liegnitzer
Land zu danken, dass es aus den Schrecken des fürchterlichen Krieges
verhältnissmässig heil hervorging. Aber Georg Rudolph war auch, wie
der Chronist Lucae (Schlesiens euriose Merkwürdigkeiten 1689) berichtet,
„ein gelehrter Herr, der über die maassen gern mit gelehrten Leuten,
jedoch mehr mit Theologis und Medieis als anderen, conversirte, und solches
daher, weil er in re herbaria et Botanicis gute Wissenschaft
und in Religionssachen Zweifelhaftigkeit hatte.‘ Diese Notiz bezeugt,
dass der Herzog auch über die Studentenzeit, aus der das Herbarium
stammt, für die Pflanzenkunde lebhaftes Interesse bewahrt hatte. Dies
beweist auch die grosse und kostbare Bibliothek, welehe derselbe durch
Ankäufe während seiner Reise (besonders in Frankfurt a. M.) begründet
hatte, und die, ausser der Theologie, ganz besonders reich an guten
und seltenen Ausgaben medieinischer und botanischer Werke ist; der
erste Katalog der „Libri philosophiei“ von 1617 enthält 1986 Stück in
über 3000 Bänden; im Ganzen umfasste die Bibliothek am Anfang des
30jährigen Krieges über 5000 Bände; sie wurde auch bis zum Tode
des Herzogs, wenn auch in der Kriegszeit mit bescheidenen Mitteln,
vermehrt, allerdings auch vielfach beraubt, so dass einige der werth-
64 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
vollsten, in den alten Katalogen aufgeführten Bücher (z. B. Brunfels
1528) nicht mehr vorhanden sind. Als der Herzog am 14. Januar 1653
zu Breslau kinderlos starb, hatte er in seinem schon 1649 aufgesetzten
Testament bestimmt, dass sein ganzes Vermögen, ca. 100 000 Thaler, in
einer Stiftung „zur Erhaltung der christlich evangelischen Kirche und
Schule‘ der Hof- und Stiftskirche zu St. Johannes in Liegnitz zufallen
solle, in welcher er auch seine letzte Ruhestätte fand. Auch die
Bibliotkek hatte er im Stift St. Johannis aufstellen lassen, eine Summe
zur Vermehrung derselben vermacht, und bestimmt, dass dieselbe öffent-
lich zugänglich gemacht werden solle. Indess wurden in der öster-
reichischen Zeit nach dem Aussterben des letzten Piasten 1675 Kirche
und Stift St. Johannis den Jesuiten überwiesen; erst 1708 nach dem
Altranstädter Frieden durch Vermittelung des Königs Karl XII. von
Schweden wurde die Stiftung Georg Rudolphs zur Begründung der
Ritterakademie verwendet, deren grossartiges Gebäude auf dem Grund-
stück des Leubuser Hauses, der herzoglichen Wohnung während des
Schlossbaues, errichtet wurde; hier ist jetzt auch die „Bibliotheca
Rudolfina‘“ aufgestellt, deren Bände, in weisses Leder gleichmässig
gebunden, einen stattlichen Anblick gewähren. Auch unser Herbarium
ist seit 1612 in die Bibliotheca Rudolfina aufgenommen, gleichzeitig
mit einer Sammlung von mehr als 20 fünfstimmigen Liedern, welche der
junge Herzog 1612 angelegt, und von denen er 5 selbst componirt hat.
Vergleiche über die Rudolfina die Mittheilungen des Bibliothekars Pro-
fessor Dr. Pfudel in den Programmen der Ritterakademie 1876—78,
woselbst der reichhaltige musikalische Theil monographisch bearbeitet
ist. Für die allgemeine Bildung des Herzogs spricht, dass er auch Mit-
glied des Palmenordens war; sein Symbol war eine Christrose im
Schnee, mit der Devise: Quod in corde gero, semper in ore gero; später
wählte er den Wahlspruch: $i Deus pro nobis, quis contra nos?
Das Herbarium des Herzogs Georg Rudolph ist nicht nur wegen
der sympathischen Persönlichkeit seines ehemaligen Besitzers interessant,
sondern auch eines der ältesten, die sich erhalten haben, da die Kunst,
Pflanzen für Herbarien zu präpariren, bekanntlich erst um die Mitte des
16. Jahrhunderts (in Ferrara durch den Engländer Falconer) erfunden
worden ist (vgl. Ernst Meyer, Geschichte der Botanik IV $. 226 und
Camus & Penzig Illustrazione del Ducale Erbario Estense XVI sec.).
Unser Herbar ist so eingerichtet, wie das des Caesalpinus, welches
derselbe 1563 für den Bischof Alfonso di Tornabuoni anfertigte und das
gegenwärtig in dem Botanischen Museum von Florenz aufbewahrt wird,
nachdem es von Parlatore in 2 grosse Maroquinfoliobände neu gebunden
worden ist; vgl. über dieses: Caruel Illustratio in Hortum siccum Üaes-
alpini 1858; sie giebt nicht blos eine Aufzählung und Bestimmung der
im Herbar enthaltenen Pflanzen, sondern auch den hochinteressanten
if. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 65
Brief vom 15. Sept. 1563, den Caesalpinus nach der Sitte der Zeit
anstatt einer Vorrede dem Herbar voranschickte und worin er die
Prineipien seines Pflanzensystems auseinandersetzte. Bekanntlich waren
noch gegen Ende des 17. Jahrhunderts die Herbarien so selten, dass
sie als werthvolle Geschenke an Prinzen und hohe Herren überreicht
wurden, wie dies namentlich von denen des Paolo Boccone bekannt ist.
In der fünften Sitzung vom 10. März legte Prof. Stenzel
einige Bildungsabweichungen
von Pflanzen vor: Paris mit 3-, 5- und 6-zähligen Blättern und Blüthen,
Ajuga reptans mit 3-zähligen Quirlen, Linaria vulgaris und Chrysanthemum
leucanihemum mit verbänderten Blüthenaxen, verzweigte Kätzchen von
Populus nigra, verzweigte Aehren von Plantago lanceolata, einen ver-
zweigten Kolben von Richardia aethiopica u. s. w. Vortragender schloss
eine eingehende Beschreibung abnormer zweizähliger Blüthen von ein-
heimischen Orchideen (Goodyera repens, Orchis latifolia) an und besprach
endlich einige Bildungsabweichungen, welche bei den Blüthen von Epi-
lobium angustifolium aufgefunden wurden,
Prof, Ferdinand Cohn legte
zwei Stammabschnitte des westindischen Spitzenbaums
(Lagelta lintearia Lam., Daphne Zagelta Sw.)
vor, welche Herr Hirschberg aus Colon (Central-Amerika) mitgebracht
und durch Vermittelung des Dr. E. Sandberg dem Botanischen Museum
als Geschenk überwiesen hat. Der Bast zeigt sehr regelmässig abwech-
selnde concentrische Schichten von Weichbast und Hartbast; durch die
Bastmarkstrahlen sind die bandförmigen Hartbastbündel zugleich in regel-
mässige radiale Reihen geordnet. Da die benachbarten Bastbündel ab-
wechselnd sich verbinden und auseinander weichen, so bilden die ein-
zelnen Schichten des Hartbasts feine Netze mit ziemlich regelmässigen
Maschen, welche einem tüllähnlichen Gewebe gleichen und, durch Ma-
ceration gesondert, den Holzstamm wie mit einer zierlichen Spitzen-
manchette umgeben. Eine ebenfalls von Herrn Hirschberg geschenkte
kleine Fahne ist durch den Spitzenschleier des Lagettabasts gebildet und
mit aufgeklebten tropischen Farnen verziert.
Cand. phil. Priemer berichtete
über seine unter Leitung von Professor Prantl ausgeführten Unter-
suchungen über die Anatomie der Ulmaceen,
wobei insbesondere die Epidermis, die Haar- und Schleimzellen, Kiesel-
zellen und Cystolithen der Blätter berücksichtigt wurden, und deutete
an, wie sich diese Befunde für die Systematik der Ulmaceen verwenden
lassen,
/63» e5
66 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Privatdocent Dr. Mez sprach
über die geographische Anordnung der Lorbeergewächse des tropischen
Amerika,
auf einer früher von demselben veröffentlichten Monographie fussend.
Vortragender glaubte gerade bei einer Verwendung dieser Pflanzengruppe
für die Abgrenzung der Florengebiete günstige Resultate zu erzielen,
weil die Lorbeere im besprochenen Erdtheil eine grosse Menge von Arten
(529) aufweisen und in hervorragender Weise an der Bildung des tropi-
schen Urwaldes betheiligt sind, dabei aber in Folge nur sehr kurz an-
haltender Keimkraft auch nur sehr geringe Wanderungsfähiskeit besitzen.
Je geringer die Ausbreitungskraft einer Pflanzengruppe, um so grösser
ist ihr Werth, gewisse Gebiete, in welchen sie vorkommen, zu charak-
terisiren. — Nach Besprechung der wenigen Beziehungen, welche ameri-
kanische Lorbeerformen zu den Floren anderer Erdtheile besitzen (hervor-
gehoben wurde, dass die Lauraceen Madagascars die nächste Verwandt-
schaft mit denjenigen Westindiens aufweisen), präcisirte Vortragender
die aus seinen Untersuchungen sich ergebenden Florengebiete (Mexico,
karibisches Küstengebiet, Westindien, Trinidad, Guyana, das Niederungs-
gebiet des Amazonenstromes [Hylaca], das Gebiet der Andenkette, Bra-
silien und Chile), wobei er auf die Fixierung der Grenzen dieser Gebiete
und auf die Darstellung der inneren Verwandtschaft ihrer Gewächse
seine Aufmerksamkeit wendete.
Mexico kommt eine Lorbeerflora zu, welche in ihrer Zusammen-
setzung nicht an diejenige der südlich angrenzenden warmen Wälder von
Centralamerika erinnert, sondern an die der südamerikanischen Cordillere
und der Grasebenen des südlichen Brasilien. Die mexicanische Gebirgs-
flora zieht sich auf den centralamerikanischen Ketten nachweisbar etwa
bis zum Vulkan Chiriqui in Nicaragua nach Süden. Zur karibischen
Küstenflora gehören die Ebenenwälder von Centralamerika, Columbien
und Venezuela; sie findet ihre Grenze beim Cap von Paria. Verwandt-
schaftliche Beziehungen dieser Küstenflora bestehen vor Allem mit der
Pflanzenwelt der Antillen, dann mit derjenigen von Guyana, Für die
Inseln von Westindien konnte eine Besiedelung von drei Seiten her wahr-
scheinlich gemacht werden: Jamaica erhielt von Centralamerika, Cuba
und die übrigen grossen Antillen von Mexico aus Bestandtheile ihrer
Flora, während die kleinen Antillen von Guyana aus mit Lauraceen be-
völkert wurden. Die Hauptmenge der Arten mexicanischen Ursprungs
vermochte sich nicht über Portorico hinaus zu verbreiten, anderseits ist
die genannte Insel der Endpunkt vieler von Guyana auf die Inseln ge-
wanderter Formen und verknüpft so die grossen und kleinen Antillen,
ähnlich wie Trinidad zwischen der Flora der Antillen und derjenigen
Guyanas vermittelt. Das Mündungsgebiet des Orinoco gehört der guyanen-
sischen Flora an, welche auf der Halbinsel Paria die karibische Küstenflora
il. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 67
trifft, im Süden durch die guyanensischen Grenzgebirge von der Flora
des Amazonenstromes gesondert wird, und deren Grenze nur im süd-
lichen Venezuela (in Folge der Unerforschlichkeit des Landes) nicht
scharf zu ziehen ist. Verwandtschaftlich schliesst sich die Flora Guyanas
an die des nördlichen Brasilien an. Als „Hylaea‘“ wird das ungeheure
Waldgebiet des Amazonenlaufes bezeichnet und pflanzengeographisch vom
übrigen (südlichen) Brasilien abgesondert. Die Flora dieser Hylaea er-
streckt sich auch nach Venezuela und hat den Oberlauf des Orinoco
besetzt, schneidet längs der Quellflüsse des Amazonenstromes in vielen
Winkeln in das Andengebiet ein, trifft schliesslich in Bolivien etwa an der
Einmündung des Madre de Dios in den Beni mit der südbrasilischen
Flora zusammen und grenzt von da ab ganz an die südbrasilische
Flora; auch bei der Bestimmuug dieser Grenzlinie lässt die Unerforsch-
lichkeit des Landes den Pflanzengeographen im Stich. Die andinen
Lorbeeren bewohnen die warmen Cordillerenthäler von der Grenze der
Wüste Atacana ab bis zu den niedrigen Ausläufern des Gebirges in
Panamä; sie dringen bis zur Silla von Caräcas in Venezuela und bis zur
Sierra de Santa Martha in Columbien, also bis an’s karibische Meer vor.
Chile besitzt eine sehr eigenthümliche Flora, welche neben Abkömmlingen
von Andenformen auch an neuseeländische Typen erinnernde Arten
enthält. Zum brasilischen Gebiet zieht Vortragender die ganzen La
Plata-Staaten. Die Flora der südbrasilischen Randgebirge hat durch-
aus anderen Charakter als diejenige der centralen Grasebenen. Redner
betont diesen Unterschied, zugleich. aber auch die Untrennbarkeit der
Theile des südbrasilischen Gebietes.
Prof. Cohn legte vor eine vom Lehrer Bruno Schröder in
Ochelhermsdorf bei Grünberg eingesendete:
Vorläufige Mittheilung neuer schlesischer Algenfunde. ')
Seit einigen Jahren bemüht, das Vorkommen schlesischer Algen an
neuen Standorten festzustellen und auch neue Bürger dieser Pflanzen-
klasse für die heimathliche Provinz nachzuweisen, gestatte ich mir, einen
Theil der Ergebnisse meiner algologischen Excursionen der Oeffentlich-
keit zu übergeben. Dieselben erstrecken sich grösstentheils auf die
niederschlesische Ebene und die Bergregion bis ungefähr 1000 m. Das
meiste Material stammt aus Wüstewaltersdorf, Kreis Waldenburg, und
aus Ochelhermsdorf, Kreis Grünberg. Speciell wandte sich mein Inter-
esse der formenreichen Gruppe der Desmidiaceen zu, von ihnen sei in-
dessen jetzt nur erwähnt, was ich an Reinansammlungen und etwa unter
') In diesem Bericht sind auch die Mittheilungen des seit Ostern 1892 nach
Breslau berufenen Herrn Schröder in der Sitzung vom 2. Februar 1893 mit
aufgenommen worden.
5*
68 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
diesen vermischt vorkommenden Species gefunden habe. Das übrige,
sowie die Diatomaceen, behalte ich mir für spätere Arbeiten vor. Einige
zwanzig Species wurden der Hauck und Richter’schen Phycotheea
universalis (Leipzig) überwiesen und sind daselbst theilweise schon aus-
gegeben worden. Drei Species gelangen in den Algae aquae duleis
exsiccatae von Wittrock und Nordstedt (Stockholm—Lund) zur
Ausgabe. Ich füge im nachfolgenden Verzeichnisse bei den schon er-
schienenen Algen Titel und Nummer, dagegen bei den noch nicht aus-
gegebenen nur den Titel des Exsiccatenwerkes bei.
Hinsichtlich des in Folgendem innegehaltenen Systems stützte ich
mich, die Bearbeitung der schlesischen Algenflora von Kirchner!) be-
rücksichtigend, bei den Schizophyceen auf die diesbezüglichen Arbeiten
von Gomont?), Bornet et Flahault°), bei den Gamophyceen auf die
von Wille?) und die von Artari.’)
Neu für die Algenflora Schlesiens sind:
1. Chroococcus turgidus Näg. var. dimidiatus (Kütz.) Breb. 2. Gloeocapsa
fusco-lutea Kirchn. 3. Coccochloris firma Breb. 4. Gloeothece decipiens ABr.
5. Plectonema roseolum Gomont. 6. Scytonema Hoffmanni Ag. 7. Stau-
rastrum pseudofurcigerum BReinsch. 8.. Micrasterias truncata Breb b. Scutum
(Focke) Richter. 9. Cosmarium anceps Lund. 10. Cosmarium tetraophthalmum
(Kütz) Breb. 11. Closterium pronum Breb. 12. Closterium Ralfsii Breb b.
hybridum Rabh. 13. Gonatozygon Brebissonii DeBy. 14. Gloeocytis fenes-
tralis (Kütz) ABr. 15. Chlorococcum olivaceum Rabh. 16. Oedogonium
Borisianum Wittr.
Schliesslich halte ich es für meine Pflicht, Herrn Geh. Commerzien-
rath Dr. Websky in Wüstewaltersdorf für das mir gütigst geschenkte
vorzügliche Mikroskop, sowie den Herren Geh. Rath Professor Dr. Fer-
dinand Cohn-Breslau, Professor Dr. Hieronymus -Berlin, Paul
Richter-Leipzig und Dr. Migula-Karlsruhe i. B. für freundlichen
Rath und Unterstützung an dieser Stelle meinen herzlichsten Dank zu
sagen.
!) Cohn, Kryptogamenflora von Schlesien, Band II, Algen, bearbeitet von Dr.
Oskar Kirchner: Breslau. 1878.
2) Gomont, Monographie des Oscillariees. — Annales des sciences naturelles.
Botanique 7. Serie, Tome 15, pag. 263. 1892.
®) Bornet et Flahault, Revision des Nostocacees heterocystees contenues dans
les principaux herbiers de France. — Annales des sciences naturelles. Botanique
7. Serie, Tome 3, 4, 5, 7. 1886-88.
*) Engler und Prantl, Die natürlichen Pflanzenfamilien, Theil I, II. Abtheilung:
Conjugatae, Chlorophyceae et Characeae von N. Wille. 1890—91.
°) Artari, Untersuchungen über Entwickelung und Systematik einiger Proto-
coccoideen. — Extrait du Bulletin de la Societe Imper. des Naturalistes de Moscou,
No. 2. 1892.
10.
Tr.
12,
ll. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 69
Schizophyceae.
A. Bacteriaceae.
Beggiatoa Trevis.
‚ B. alba Trevis. Ochelhermsdorf: In Feldgräben östlich vom Damm-
vorwerk unter andern Algen.
B. Phycochromophyceae.
a. Coccogeneae.
Chroococcus Näg.
Ch. turgidus Näg. var. dimidiatus (Kütz.) Breb. in Rabenh. Algen
Nr. 2033. Ochelhermsdorf: Wittgenauer Berge in torfigen Tümpeln
auf der Grätzbergwiese. (Phye. univ. No. 482.)
Gloeocapsa (Kütz) Näg.
G. fusco-Iutea Kirchn. (G. ambigua, a. fusco-lutew Näg.) Grünberg:
An feuchten Glasscheiben des Eichler’schen Warmhauses.
G. Magma (Breb.) Kütz. b. opaca (Näg.) Kirchn. Grünberg: An
feuchten Glasscheiben des Eichler’schen Warmhauses. (Phye. univ.)
Clathrocystis Henfr.
©. aeruginosa Henfr. Am Nordende des grossen Sees bei Schlawa,
Kreis Freystadt. (Leg. Hellwig.)
Coccochloris Kütz.
C. firma (Breb.) Richter brief. Breslau: Im Aquarium des pflanzen-
physiologischen Institutes, wolkige, hellockerfarbene Massen bildend.
(Phye. univ.)
Gloeothece Näg.
G. decipiens ABr. Wüstewaltersdorf: An feuchten Kalkwänden des
Websky’schen Warmhauses. (Phye. univ.)
G. confluens Näg. Grünberg: An einer hölzernen Wasserrinne beim
Braunkohlenbergwerk ‚‚Treutlerschacht“. (Phye. univ.)
b. Hormogoneae.
I. Homocysteae.
Schizothrix Kütz.
Sch. caleicola Gomont (Hypheothris calc. Rabh.). Grünberg: An Kalk-
wänden des Pohle’schen Warmhauses.
Oscillaria Ag.
O.tenuis Ag. Lättnitz, Kreis Grünberg: Im kleinen Teiche der Mittelmühle.
O. limosa Ag. Ochelhermsdorf: Auf dem thonigen Grunde eines
Schöpfbrunnens.
II. Heterocysteae.
Nostoceae.
Cylindrospermum Kütz.
C. majus (Kütz) Born et Flah. Ochelhermsdorf: Wiesentümpel an
der Schweinitzer Chaussee beim Dominium Ober-Ochelhermsdorf.
(Wittrock et Nordst. Alg. exsice.)
70
13.
14,
16.
17,
18;
19,
20.
21.
22.
23.
24.
25.
Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Anabaena Bory.
A. oscillarioides Bory (Sphaerozyga Ralfsii Thwait). Ochelhermsdorf:
Wittgenauer Berge, in Gräben auf der Grätzbergwiese. Phye. univ.
(No. 481b.)
A. intricata Kütz. Ochelhermsdorf: Feldgräben östlich vom Damm-
vorwerk. (Phye. univ.)
Nostoc. Vauch.
N. commune Vauch. Wittgenau, Kreis Grünberg: Naumburger Chaussee
nach längerem Regen im Schatten.
N. carneum Ag. Ochelhermsdorf: Wittgenauer Berge im Tümpel
bei den Jakobsbergen. (Phyc. univ.)
(Wurde vorher schon von Richter aus Wallwitz, Kreis Frey-
stadt, in der Phykothek unter Nr. 90 herausgegeben.)
Scytonemaceae,
Plectonema Thuret.
P. roseolum Gomont (Hypheothrix roseola Richter.) Wüstewaltersdorf:
An feuchten Glasscheiben des Websky’schen Warmhauses spärlich
unter Gloeocylis fenestralis (Kütz.) ABr.
Scytonema Ag.
S. Hoffmanmi Ag. (in Wittr. et Nordst. Alg. exsice. No. 674).
Breslau: Botanischer Garten im Vietoria-regia-Hause auf verschiede-
nen Pflanzen, Blumentöpfen und auf der Erde. (Phye. univ.)
Gamophyceae.
A. Conjugatae.
Desmidiaceae.
Olosterium Nitsch.
C. rostratum Ehrb. Ochelhermsdorf: An mehreren Orten, nicht selten
in Zygose. (Phye. univ. No. 441.)
C. Ralfsiüi Breb. b. hybridum Rabenh. Ochelhermsdorf: Wassertümpel
an der Schweinitzer Chaussee beim Dominium Ober-Ochelhermsdorf,
(Phye. univ. No. 393.)
©. striolatum Ehrb. Grünberg: In einem Graben am Bahndamme im
Rohrbusche.
C. acerosum Ehrb. Lättnitz, Kreis Grünberg: Im kleinen Teiche der
Mittelmühle in Zygose. — Ochelhermsdorf: Chausseegraben beim
Dominium Ober-Ochelhermsdorf in Zygose. (Von beiden Standorten
in Phye. univ.)
C. Lunula Ehrb. Euldörfel, Kreis Neurode: In einem Wassertümpel
am Abhange der Hohen Eule.
©. Ehrenbergii Menegh. Ochelhermsdorf: In einem hölzernen Wasser-
troge auf dem Dominium Mittel-Ochelhermsdorf. (Phye. univ.N0.396.)
C. momliferum Ehrb. Ochelhermsdorf: Chausseegraben bei der
Peiskermühle. (Phyc. univ.)
26.
an.
28.
29
30,
31.
32.
33.
34.
35.
36.
ar.
8.
39.
40,
41.
42.
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 71
C. Leibleini Kütz. Ochelhermsdorf: Im Lehmloch „Kieps“ bei der
Herrenmühle. (Phye. univ. No. 441.)
©. gracile Breb. Öchelhermsdorf: Im Lehmloch ‚Kieps“ bei der
Herrenmühle. (Phye. univ. No. 441.)
C. pronum Breb. Ochelhermsdorf: Im Lehmloch ,‚Kieps‘“ bei der
Herrenmühle. (Phyce. univ. No. 441.)
Pleurotaenium (Näg.) Lund.
P. nodulosum (Breb.) DeBy. Ochelhermsdorf: Im Lehmloch ‚Kieps“
bei der Herrenmühle. (Phye. univ. No. 441.)
Cosmarium (Corda) Lund.
©. tetraophthalmum (Kütz.) Breb. Ochelhermsdorf: In moorigen
Tümpeln auf der Grätzbergwiese. (Phye. univ. No. 498b.)
©. notabile Breb. Ochelhermsdorf: In einem Ühausseegraben beim
Dominium Ober-Ochelhermsdorf. (Phye. univ.)
C. anceps Lundell. Grünberg: An Kalkwänden des Pohle’schen
Warmhauses.
C. quadratum Ralfs. Ochelhermsdorf: Im Lehmloch ‚„Kieps‘ bei der
Herrenmühle. (Phye. univ. No. 441,)
Staurastrum (Meyen) Lund.
S. pseudofurcigerum Reinsch. Ochelhermsdorf: In Torftümpeln auf
der Grätzbergwiese.
S. punctulatum Breb. Ochelhermsdorf: In Gräben auf der Grätzberg-
wiese,
Euastrum (Ehrb.) Ralfs.
E. ansatum Ralfs. Ochelhermsdorf: Im Lehmloch ,Kieps‘ bei der
Herrenmühle. (Phye. univ. No. 441.)
E. oblongum Ralfs. Ochelhermsdorf: Im Lehmloch „Kieps‘“ bei der
Herrenmühle. (Phye. univ. No. 441.)
Tetmemorus Ralfs.
T. granulatus Ralfs. Grünberg: In einem Graben am Bahndamme
im Rohrbusche,
Micrasterias Ag.
M. papillifera Breb. Ochelhermsdorf: Torfgräben auf der Grätzberg-
wiese.
M. rotata Ralfs. Heinersdorf, Kreis Grünberg: Lehmtümpel an der
Kiessler’schen Ziegelei. (Phye. univ.) — Ochelhermsdorf: Im Lehm-
loch ‚Kieps‘ bei der Herrenmühle. (Phyc. univ. No. 441.)
M. truncata Breb. b. Scutum (Focke) Richter. (Euastrum Seutum Focke
Physiol. Studien.) Ochelhermsdorf: Sumpfwiesengraben an den
Jakobsbergen. (Phyc. univ. No. 540.)
M. Crux Melitensis Ralfs. Ochelhermsdorf: Im Lehmloch .„Kieps“
bei der Herrenmühle.
72
45.
44,
45.
46.
47.
48,
49,
50.
51.
52.
53.
94.
99.
56.
a7.
58.
Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Gonatozygon DeBy.
G. Brebissonii DeBy. Ochelhermsdorf: Im Lehmloch ,‚‚Kieps“ bei
der Herrenmühle. (Phyc. univ. No. 441.)
Didymoprium Kütz.
D. Grevillii Kütz. Hoyerswerda: Gräben beim Jagdhaus Koblenz.
(Leg. Höhn.)
Gymnozyga Ehrb.
G. Brebissoniüi (Kütz.) Nordst. Hoyerswerda: Wolschina Teich. (Leg. Höhn.)
Hyalotheca Kütz.
H. dissiliens (Smith) Breb. Verbreitet um Grünberg, Ochelhermsdorf
und Heinersdorf.
B. Chlorophyceae.
I. Protococcoideae.
Gloeocystiaceae.
Gloeocystis Näg.
G. fenestralis (Kütz.) ABr. An feuchten Glasscheiben der Gewächs-
häuser in Grünberg, Hoyerswerda und Wüstewaltersdorf.
Chlorococcum Fries.
Ch. Gigas Grun. Breslau: In einem Culturgefässe im pflanzen-
physiologischen Institute. (Phye, univ.)
Ch. olivaceum Rabh. Dominium Berghof bei Mettkau, Kreis Schweid-
nitz: Im Karschteiche sehr reichlich. (Phye. univ.)
Pleurococcaceae.,
Schizochlamys ABr.
Sch. gelatinosa ABr. Ochelhermsdorf: Sumpfwiesengraben bei den
Jakobsbergen.
Pleurococcus Menegh.
P. miniatus Näg. Grünberg, Bunzlau und Hoyerswerda: An Kalk-
wänden der Gewächshäuser. (Von Grünberg Phyc. univ.)
Eremosphaera Deby.
E.viridis DeBy. Wüstewaltersdorf: Tümpel hinter der Hielscher Wiese.
Scenedesmus Meyen.
S. obtusus Meyen. Ochelhermsdorf: Gräben auf der Grätzbergwiese,
S. dimorphus Kütz. Schweinitz, Kreis Grünberg: Ziegelgraben am
Wege nach Droseheydau.
S. caudatus Corda. Wüstewaltersdorf: Hinter der Schirgenschenke.
Tetrasporaceae.
Tetraspora Link.
T. lubrica Ag. Grünberg: In einem Graben bei Steinbach’s Vorwerk.
T. bullosa Ag. Ochelhermsdorf: In Gräben am Wege nach Hart-
mannsdorf.
T. eylindrica Ag. Ochelhermsdorf: In einem langsam fliessenden
Graben auf Droseheydau zu. (Alg. ewsicc.)
59.
60.
61.
62.
63.
64.
65.
66.
67.
68.
69.
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. mu
Chlamydomonadaceae.
Sphaerella Wittr,
Sph. pluvialis (Flotow) Wallr. Wüstewaltersdorf: In der muldenartigen
Vertiefung eines Gneisblockes bei der Brettschneide in Dorfbach.
(Phye. univ.)
Volvocaceae.
Pandorina Bory.
P. Morum Bory. Pürben, Kreis Freystadt: In einem lehmigen Wald-
tümpel.
Hydrodiciyaceae,
Pediastrum Meyen.
P. Ehrenbergü ABr. Ochelhermsdorf: Torfgräben aufder Grätzbergwiese.
P. persutum Kütz. a. genwinum Kirchn. Schweinitz, Kreis Grünberg:
Im Ziegeleigraben am Wege nach Droseheydau. — e. asperum ABr.
Wüstewaltersdorf: Hinter der Schirgenschenke,
P. Boryanum Meuegh. Schweinitz, Kreis Grünberg: Im Ziegelei-
graben auf Droseheydau zu. — Wüstewaltersdorf: Hinter der
Schirgenschänke.
Coelastrum Näg.
©. cubicum Näg. Ochelhermsdorf: Vereinzelt unter andern Algen
auf der Grätzbergwiese in Torfgräben.
Sorastrum Külz.
S. spinulosum Kütz. Ochelhermsdorf: Vereinzelt unter anderen Algen
auf der Grätzbergwiese in Torftümpeln.
II, Confervoideae.
Chaetophoraceae.
Draparnaldıa Bory.
D. plumosa (Vauch.) Ag. Ochelhermsdorf: Auf halbfauligen Blättern
in Gräben auf Droseheydau zu,
D. glomerata (Vauch.) Ag. a. genuina Kirchn. Hoyerswerda: Obere
Wasserrinne der Mühle bei Dubring. (Leg. Höhn.) — Bunzlau:
Abfluss des Queckbrunnens. — Wüstewaltersdorf: Hinter der Schirgen-
schenke. b. remota Rabh. Hoyerswerda: Funk’s Wiesengraben
am Mönchs-Teich-Damme. (Leg. Höhn.) c. acuta Ag. Ochelherms-
dorf: In einer Bucht des Peiskermühlbaches,. d. gracillima Ag.
Wüstewaltersdorf: Zwischen Mühlbach und Heinrichau.
Chaetonema Nowakowski.
Ch. irregulare Nowakowski. Hoyerswerda: In den Schleimlagern von
Batrachospermum moniliforme, in einem Graben an Wasserpflanzen.
(Leg. Höhn.)
Aphanochaete (Berth.) Hausg.
A. repens Berth. Ochelhermsdorf: In Gräben östlich vom Damm-
vorwerk auf sterilen Conferven-Fäden.
70.
dr
13:
74,
75.
76.
10:
78.
19.
Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Oedogoniaceae.
Oedogonium Link.
Oe. Borisianum Wittr. Ochelhermsdorf: In einem Lehmtümpel an
der Grünberger Chaussee auf Eleocharis und anderen Pflanzen,
fruchtifieirend am 10. Juli 91. (Algae exsicc.)
Coleochaetaceae.
Ooleochaete Breb.
©. orbicularis Pringsh. Günthersdorf, Kreis Grünberg: Auf der Unter-
seite der Blätter von Nuphar luteum.
C. Cladophoraceae.
Oladophora Kütz.
Ö. glomerta Kütz. b. mucosa Kütz. Ochelhermsdorf: An betropften
Steinen beim Wasserrade der Ende-Mühle. (Phyc. univ. No. 378.)
— Mit Uebergängen zur forma rivularis Rabh. an Steinen im schnell-
fliessenden Wasser des Dorfbaches daselbst.
III. Siphonaceae.
Vaucheriaceae.
Vaucheria DC.
V. geminata DC. Grünberg: Graben in Wronsky’s Garten.
V. sessilis DC. Ochelhermsdorf: Feldgräben südlich des Dorfes.
Characeae.
Nitelleae.
Nitella Ag.
Monarthrodactylae ABr.
Nitella flexilis Ag. Ochelhermsdorf: Grenzteich an der Schweinitzer
Chaussee.
Diarthrodactylae ABbr.
N. gracilts (Smith) Ag. Ochelhermsdorf: Grenzteich an der Schweinitzer
Chaussee. — Grünberg: Lehmloch bei Holzmann’s Ziegelei.
Chareae.
Chara Vaill.
Diplostephanae ABr.
Ch. foetida ABr. Schweinitz, Kreis Grünberg: Im Oelteiche und in
einer sandigen Lache daneben. — Ochelhermsdorf: Wittgenauer
Sandhügel in einem Feldtümpel auf der Grätzbergwiese. Forma
subhispida ABr. „Beim Dörfchen Teich bei Liebenzig, Kreis Frey-
stadt. Forma longibracteata. Kontopp, Kreis Grünberg: In Torf-
löchern. Forma humilis. Ochelhermsdorf: In Torflachen auf der
Grätzbergwiese.
Ch. hispida L. et T. Beim Dörfchen Teich bei Liebenzig, Kreis
Freistadt: In Torflöchern.
Oh. fragilis Desv. forma pulchella. Beim Dörfchen Teich bei Liebenzig,
Kreis Freystadt. — Schweinitz, Kreis Grünberg: Im Teiche der
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 75
Samuels - Mühle zwischen Utricularia wuchernd. Forma longifoha.
Schweinitz, Kreis Grünberg: Gräben beim Fischteiche an der Naum-
burger Chaussee. Forma longibracteata elongata. Zwischen Charlotten-
brunn und Tannhausen, Kreis Waldenburg: In einem Wiesentümpel.
D. Florideae.,
Batrachospermaceae.
Batrachospermum Roth.
80. B. vagum Ag. Hoyerswerda: Sumpfiger Zuflussgraben eines kleinen
Teiches bei der Schwarz-Kollmer-Mehlmühle. — Ebendaselbst: An
einer hölzernen Brunneneinfassung bei den Klosterteichen. (Leg.
Höhn.)
(Soweit mir bekannt, kommt Batrachospermum nur auf Holz,
Steinen oder sonstigen untergetauchten Gegenständen wachsend vor.
Nach brieflicher Mittheilung des Sammlers fanden sich die Exem-
plare des erstgenannten Standortes von Hoyerswerda ‚im trüben
Sumpfwasser freischwimmend in Klumpen‘“ und zwar am 10. Sep-
tember 1892, was wahrscheinlich dahin zu deuten ist, dass das
Substrat den Sommer über verwest ist.)
81. B. moniliforme Roth. a. iypicum Kirchn. Wüstewaltersdorf: Zwischen
Heinrichau und Toschendorf. — Im Toschendorfer Dorfbache an
Steinen (grosse dunkelgrüne Form). — Hoyerswerda: In einem
Graben an Wasserpflanzen. (Leg. Höhn.) (Kleinere dunkelgrüne
Form mit Chaetonema irregulare Nowak.) c. confusum (Hass.) Kirchn.
Um Wüstewaltersdorf, besonders in den Bergbächen der Hohen Eule
und Umgebung sehr häufig in grossen Exemplaren,
Lemaneaceae.
Lemanea Bory.
82. L. sudetica Kütz. Hirschberg: Auf Steinen im Zackenfall.
In der sechsten Sitzung vom 27. October machte Prof.
Ferdinand Cohn folgende Mittheilung:
Als im Juni 1832 die botanische Section ihre Wanderversammlung
in Charlottenbrunn abhielt, richtete Göppert an dieselbe ein Schreiben-
worin er die Errichtung eines Denkmals für den am 20. December 1868
verstorbenen Apotheker Dr. Karl Beinert in Anregung brachtes
Göppert bezeichnete in diesem Briefe Charlottenbrunn „fast als die
Wiege seiner palaeontologischen Forschungen, bei denen ihm Beinert,
der sich auf unvergleichliche Weise für alles Wissenschaftliche auf das
lebhafteste anregendste und thatkräftigste interessirte“, zur Seite ge-
standen. Und wie um die Erforschung der fossilen Pflanzenwelt des
Waldenburger Kohlenreviers, so hat sich Beinert auch um die Kennt-
niss der gegenwärtigen Vegetation unserer Provinz und ganz besonders
der Charlottenburger Gegend verdient gemacht; er hat zuerst für Schle-
76 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
sien Cypripedium Calceolus, Epipogium aphyllum, Woodsia itvensis entdeckt,
und auch zur Kenntniss der schlesischen Pilze werthvolle Beiträge ge-
liefert. Wegen seiner Schrift über den berühmten Meteoriten von Braunau
(Böhmen) wurde Beinert 1849 honoris causa von der philosophischen
Facultät der Universität Breslau zum Doctor ernannt. Göppert’s An-
trag auf Errichtung eines Beinert-Denkmals im Karlshain von Charlotten-
brunn, „in dessen Anlagen Theorie und Praxis der Naturwissenschaften
auf glücklichste Weise verbunden sind“, fand in der Wanderversammlung
wärmsten Anklang, und veranlasste die Wahl einer Commission, ohne
dass jedoch der Plan zur Ausführung gelangte. Herr Orts- und Bade-
vorsteher Loose in Charlottenbrunn, der mit grösster Liebe die Er-
haltung und Verschönerung der Beinert’schen Schöpfungen sich zur
Aufgabe stellt, hat nunmehr die Errichtung eines Denkmals für den um
die naturwissenschaftliche Erforschung Schlesiens wohlverdienten Mann
in die Hand genommen. Dasselbe soll im Karlshain aufgestellt, mit dem
Bildniss Beinert’s geschmückt, mit einem Gitter und gärtnerischen An-
lagen umgeben werden. Die Einweihung des Denkmals soll im nächsten
Sommer unter Betheiligung der Botanischen Section erfolgen.
Die Kosten des Denkmals sind durch die Bemühungen des Charlotten-
burger Gebirgsvereins zum grössten Theil bestritten worden. Der Rest
ist durch Beiträge des Breslauer Apothekervereins und mehrerer Collegen
und Freunde Beinert’s gedeckt worden. Am 15. Januar 1893 wurde
in Charlottenbrunn der 100 jährige Geburtstag Beinert’s (geb, 15. Januar
1793 in Woitzdorf bei Bernstadt) von Seiten des Gebirgsvereins durch
ein Festmahl pietätvoll gefeiert.
Dr. Rosen berichtet über einige auf seine Veranlassung von Ober-
gärtner Schütze angestellte
Versuche mit Topfpflanzen.
Bei der Cultur in Blumentöpfen bilden viele Pflanzen einen dichten
Filz von langen, durch einander geschlungenen Wurzeln. Dieser
Wurzelfilz presst sich dann der Innenwand des Topfes fest an und
seine Theile kommen infolgedessen nicht in ausgiebiger Weise mit
dem Boden in Berührung. Daher tragen sie auch zur Ernährung der
Pflanzen nur wenig bei. Neuerdings hat Julius Sachs ein Mittel
angegeben, wie man den besprochenen Wurzelfilz der Topfpflanzen
besser ernähren kann. Es werden danach die Blumehtöpfe innen
mit einer aus Gyps, Kalisalpeter, Kalk- und Magnesia-Phosphaten, Eisen-
vitriol und Thomasmehl zusammengesetzten Masse bestrichen, welche
an der Sonne getrocknet, steinhart wird. Wenn sich dann die Wurzeln
dem Belag anpressen, so lösen sie denselben ganz allmählich auf, wobei
sie die für das Gedeihen der Pflanze nöthigen Düngersalze in geeigneter
Form zugeführt erhalten. Die von Obergärtner Schütze angestellten
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. Tr:
Versuche mit Farnen, Begonien u. a. hatten den Zweck, zu ermitteln,
ob die Sachs’sche Methode auch für die gärtnerische Praxis von Werth
sei. Dies ist in der That der Fall. Pflanzen, welche in präparirten
Töpfen etwa drei Monate gezogen waren, zeigten sich sehr stark ent-
wiekelt und reich belaubt; ihr Wurzelsystem war dabei verhältniss-
mässig klein, so dass trotz der üppigen Entwickelung der oberirdischen
Theile ein Umsetzen in grössere Töpfe nicht nöthig wurde. Es ist daher
zu erwarten, das die Praxis aus dem Sachs’schen Verfahren grossen Ge-
winn zieht; die Kosten der Nährmasse sind gering, die Arbeit unbedeutend
und dafür erhält man üppige Culturen in kleinen Töpfen, wobei die
Arbeit des Umtopfens, sowie das Düngen mit Kuhdünger ete. ganz fort-
fällt. Sowohl von Obergärtner Schütze als auch im hiesigen botani-
schen Garten sollen die Versuche im grösseren Maassstabe nunmehr fort-
gesetzt werden.
Hierauf hielt Prof. Ferdinand Cohn einen durch zahlreiche De-
monstrationen erläuterten Vortrag:
Ueber Entstehung von Kalk- und Kieselgestein durch Vermittelung von Algen.
Gleichwie die meisten auf Kalkgestein wachsenden Krustenflechten,
so corrodiren auch in süssem und Meerwasser eine Anzahl Algen auf
Kalkgeschieben und Muschelschalen deren Oberfläche und ätzen in dieselbe
tiefe Furchen oder bohren verzweigte Gänge. Im Gegensatz hierzu be-
wirken andere Algen, meist von fädig-gallertartiger Textur und der Klasse
der Schizophyceen (Phycochromaceae, Cyanophyceae) gehörig, krystallinische
Ausfällungen von kohlensaurem Kalk im Innern ihrer Gallertfilze; in lebendem
Zustande dunkelblaugrüne, olivenbraune oder röthliche Polster bildend,
erscheinen sie trocken und abgestorben als weisse anorganische Kalkmassen.
Vortragender hat zuerst 1863 gezeigt, dass der Travertin, das Ge-
stein, aus welchem die Monumentalbauten des antiken wie des modernen
Rom errichtet sind, und das sich als Kalksinter in vorhistorischen Wasser-
fällen des Flusses Anio abgesetzt hat, sich noch heute im Bett des Anio
bei Tivoli bildet; die im Wasser liegenden Wurzeln, Blätter, Brombeer-
stengel u. dgl. überziehen sich mit einer dieken Kalkkruste, die nach
dem Ausfaulen der Pflanzentheile hohle Röhren bildet, gleich denen, aus
denen gewisse Varietäten des Travertin bestehen: ihre frische Oberfläche
ist aber blaugrün und besteht aus Algen von der Gruppe der Schizophyceae;
es ist klar, dass der ganze Kalksinter sich ursprünglich innerhalb lebender
Algenüberzüge abgesetzt hat. Ebenso beobachtete Vortragender 1863,
dass die Wände des vom Cardinal Ipolito d’Este angelegten Kanals,
welcher die warmen Wässer des Lago di Tartaro bei Tivoli ableitet,
mit rothen oder grünen Kalkkrusten bedeckt sind, deren Entstehung der
des Travertin entspricht. (Leonhard Jahrbuch für Mineralogie 1863).
78 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Schon im Jahre 1862 hatte Vortragender beobachtet, dass in den
Thermen von Karlsbad mächtige Kalksinterablagerungen, gleich denen,
aus denen die ganze Sprudeldecke besteht, innerhalb der lebendigen
Decke blaugrüner Schizophyceae abgeschieden werden. (Ueber die Algen des
Karlsbader Sprudels mit Rücksicht auf die Bildung des Sprudelsinters. Abh.
der Schles. Ges. Abth, für Naturwiss. und Mediein Heft II S. 37. 1862).
Seitdem hat sich überall, wo in Thermen, besonders in vulkanischen
Gebieten, sich Kalksintermassen bilden, die Anwesenheit häutiger oder
gallertartiger Algenüberzüge nachweisen lassen, die fast ausschliesslich
aus Arten jener Algenklasse bestehen und die Ausscheidung des kohlen-
sauren Kalkes zwischen den Fäden oder im Innern der Gallertpolster
vermitteln. So haben z. B. unter den heissen Quellen des Yellowstone-
Park, Colorado, N.-Amerika, die Mammuth Springs (78° C.), gewaltige
Marmorterrassen bis zu 250 Fuss Dieke und über 2 Quadratmiles Fläche
abgesetzt; nach den Forschungen von Walter Harvey Weed (Forma-
tion of Travertine and siliceous sinter by the vegetation of hot springs.
Unitad States Geolog. Survey. 9. annual report. 1887/88. Washington
1891), haben diese Kalksinter sich unter der Einwirkung von Schizo-
phyceen abgelagert. Vortragender hat 1888 die Thermen von Bormio
an der Südseite des Stilfser Joch besucht, von denen u. a. die Plinius-
quelle mit einer Temperatur von 37° C. aus einer kolossalen Kalk-
wand hervorsprudelt, und längs der Felsen, wo Frauenhaar (Adiantum
Capillus Veneris) in ungewohnter Nachbarschaft neben Edelweiss und
anderen Alpenpflanzen wächst, in die Adda hinabrieselt.e. Sie hat
mächtige Sintermassen abgesetzt, deren Oberfläche mit Algenpolstern
bedeckt ist; diese sind frisch röthlichbraun oder blaugrün, gallert-
artig lederartig; getrocknet stellen sie schmutzig-weisse Kalkmassen dar.
Die mikroskopische Untersuchung der Algen, für welche Dr. Levier
in Bormio im Mai d. J. neues Material gütigst lieferte, zeigte, dass es
die nämlichen Arten von Schizophyceen sind, welche Brügger eben-
daselbst schon 1862 beobachtete; diese haben sieh also nachweislich
schon 30 Jahre an Ort und Stelle erhalten, vermuthlich aber verrichten
sie schon seit Jahrtausenden ihre Arbeit: aus dem 'Thermalwasser,
welches hauptsächlich Gyps und relativ nur wenig Caleiumcarbonat ent-
hält, das letztere in krystallinischen Massen abzuscheiden. Auch die
anderen warmen Quellen von Bormio setzen Kalksinter ab: am mächtig-
sten die Ostgothen- und Nibelungenquelle. Ueber die Thätigkeit der
Algen bei der Kalksinterbildung äussert sich der Vortragende dahin, dass
die seither aufgestellten Theorien, als beruhe dieselbe auf der Assimi-
lation der Kohlensäure im Lichte, oder auf der Ausscheidung kohlen-
sauren Alkalis, nicht ausreichend erscheinen, dass es sich hier offenbar um
ein Speicherungsvermögen gewisser Algenspecies in ihren Gallertscheiden
handelt, wie es auch den kalkabscheidenden Thieren (Mollusken, Echino-
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 79
dermen, Polypen, Foraminiferen u. a.) zukommt. In Schlesien hat Vor-
tragender eine Quelle, welche Kalktuff in grossen Massen absetzt, Moose
und selbst Fichtenzapfen, Holzsplitter u. dgl. inerustirt, 13570 am Blato.
berge oberhalb Deutsch-Tscherbeney bei Cudowa aufgefunden.
Während man bisher nur in den Diatomeenlagern massenhafte Aus-
scheidungen organisirter Kieselerde durch mikroskopische Pflanzen kannte,
hat Weed (l. ec.) nachgewiesen, dass die kolossalen Ablagerungen von
Kieselsinter in den Geisern des Yellowstone-Park ebenfalls durch Ver-
mittelung von Schizophyceen geschehen, welche in der Kieselgallert
vegetiren und selbst noch in der Temperatur von 85°C. sich entwickeln.
In der siebenten Sitzung vom 10. November legte Ober-
stabsarzt a. D. Prof. Schroeter
einen in der Nähe von Grünberg (bei Friedrichshof, Kr. Krossen)
gewachsenen Pilz, Polyporus frondosus,
vor, welcher frisch das Gewicht von 4800 gr und einen Umfang von
120 cm besessen hatte. Der Pilz trägt auf einem dicken Strunk gegen
1000 kleine, spatel- oder fächerförmige Hüte und ist von zäh-fleischiger
Consistenz. Sein deutscher Name ist „Eichhase‘“, doch werden mit diesem
Namen auch noch einige andere, zum Theil nahe verwandte Pilze be-
legt, welche alle als Speiseschwämme geschätzt werden. Die Bezeich-
nung „‚Eichhase“ weist, wie viele andere Pilzunamen, auf die Beziehungen
hin, welche das Volk zwischen den Schwämmen und den Thieren con-
struirt. Die immer rege Phantasie des Volkes findet allerlei Aehnlich-
keit zwischen Thieren und Pilzen, bald in der Farbe, bald in der Form;
oder sie schreibt, häufig gewiss mit Unrecht, den Thieren eine bestimmte
Vorliebe für gewisse Pilze zu. Daher entstanden Volksnamen wie Täub-
ling, Rehpilz, Hirschpilz, Ochsenzunge (oder Leberpilz), Schaf- und Kuh-
pilz. So auch beim „Eichhasen“, welcher meist in der Nähe von Eichen
vorkommt. Die Bezeichnung „Pilz“ selbst, welche im Volk auch heute
noch nicht allgemein angewendet wird, scheint nicht sehr alt zu sein.
In schlesischen Schriften wird sie zuerst wohl von Caspar Schwenck-
feld gebraucht, in dessen Werk ,Stirpium et fossilium Silesiae Cata-
logus“ (1601) eine ganze Anzahl von Pilzen, oder wie Schwenckfeld
sagt: „Böltze“, besprochen wird. Bezüglich der Ableitung des Wortes
könnte man an Bolz, Bolzen denken, da ja die Gestalt vieler Pilze an
einen Bolzen erinnert. Doch ist es jedenfalls richtiger „Böltze‘“ und
„Pilz“ vom lateinischen ‚„Boletus‘ herzuleiten. Die Römer verstanden
unter Boletus gerade die zu Speisezwecken geschätzten Hutpilze, welche
man jetzt meist Agaricus nennt; letzterer Name bezeichnet bei den
Römern die Holzschwämme. — Der Vortragende erörterte hierauf die
Frage, woher solche stattliche Pilze, wie der vorgelegte Eichhase, welcher
— jedenfalls in sehr kurzer Zeit — auf einem Kartoffelacker gewachsen
30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
war, die zu ihrem Aufbau nöthigen Substanzen nehmen mögen. Man
hat früher geglaubt, dass die Eichhasen ein auf Wurzeln und Stümpfen
der Eichen wachsendes reich entfaltetes Mycel besässen, von welchem
sie entsprängen. Dies scheint nicht richtig zu sein, wenn es auch mög-
lich ist, dass an dem Grünberger Standort unterirdisch Eichenwurzeln
oder -Stämme lagern. Wahrscheinlicher ist es, dass die Eichhasen von
einem unter der Erde verborgenen Knollen, einem sogenannten Selerotium,
gebildet werden. Derartiges ist schon seit längerer Zeit für andere
Pilze bekannt, z. B. für die Typhula-Arten, welche an ihrem schimmel-
ähnlichen, zwischen faulenden Blättern lebenden Mycel senfkorngrosse
Knöllchen bilden, aus welchen, nach einer Ruheperiode, die zierlichen
Fruchtträger hervorwachsen. Ungleich grössere Selerotien kennt man
aus den Tropen. Schon Rumphius beschrieb aus dem maälayischen
Gebiet eine heilkräftige, äusserlich der Trüffel ähnliche Knolle, welche
er als Tuber regium bezeichnete und aus welcher nach warmen Gewitter-
regen ein Hutpilz hervorwächst, dessen wissenschaftlicher Name heute
Lentinus Tuber regium ist. Ganz ähnlich gebaut sind die gleichfalls
grossen Sclerotien von Pachyma Cocos und Mylitta australis, docb werden
sie weit übertroffen durch die riesigen Sclerotien von Lentinus Woermann? ,
Cohn und Schroeter, von welchem einige Exemplare aus Kamerun nach
Hamburg gekommen sind. Dieselben wurden im pflanzenphysiologischen
Institut zu Breslau in Cultur genommen, und es erwuchs auf ihnen ein
Hutpilz, Lentinus; die Exemplare befinden sich im hiesigen Botanischen
Museum. Neuerdings ist nun von einer belgischen Botanikerin, Frau
Bommer, der Zusammenhang einer anderen Eichhasenart Polyporus
umbellatus mit einem grossen Selerotium nachgewiesen worden, und auch
Vortragender fand in der Nähe von Landeck einen anderen verwandten
Pilz Polyporus pseudo-osseus n. sp. dem P. osseus Kalchbr. ähnlich, aber
durch weisse, schwach zottige Oberfläche, grosse eckige Poren und kugelige,
punktirte Sporen verschieden, mit einem Sclerotium, welches die Form
eines dicken, knolligen Rhizoms besass, von rothbrauner Farbe war und
aus gleichmässigen diekwandigen Hyphen gebildet wurde. So scheint
auch der vorgelegte Eichhase auf einem Sclerotium erwachsen zu sein,
wofür der Standort fern vom Wald spricht; dasselbe konnte allerdings
auf dem inzwischen umgepflügten Acker nicht mehr gefunden werden.
Der Vortragende zeigte endlich Exemplare eines in einem hiesigen
Keller unter völligem Lichtabschluss üppig gewachsenen Hutpilzes,
Tricholoma conglobatum, vor, welche, wie das bei entsprechenden Bedin-
sungen einzutreten pflegt, allerlei Bildungsabweichungen zeigen.
Sodann legte Wirkl. Staats-Rath von Trautschold Exec. eine
Sammlung getrockneter Pflanzen
vor, welche er im verflossenen August bei Abbazia gesammelt hatte, und
gab dazu folgende Erläuterungen:
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 81
Abbazia liegt auf der liburnischen Riviera von Istrien zwischen den
kleinen Städten Volosca und Lovrana am Fusse des Monte maggiore
(1396 Meter), der höchsten Erhebung des Karstgebirges, nicht weit von
Fiume, am Quarnero-Busen des Adriatischen Meeres. Der Boden ist
Kalkfelsen und eine rothe Erde, die sich im Laufe der Zeit in den Ver-
tiefungen des Kalkgebirges gebildet und angesammelt hat. Das Klima
ist trocken, die Lage von Abbazia sehr geschützt, so dass sich dort eine
südliche, dem Klima entsprechende Vegetation entwickeln konnte. Die
unterste Stufe vom Meeresufer ansteigend bilden Lorbeerhaine bis zu
einer Höhe von beiläufig 300 Fuss. Dieser Lorbeer ist ein bedeutender
Ausfuhrartikel; die Bäume sind meist nicht höher als 15—20 Fuss, und
das Unterholz wird von stachlichen Sträuchern gebildet, wie Paliurus,
Zizyphus, Ruscus aculeatus und Asparagus scaber, um welche sich rankende
Gewächse wie Clematis Vitalba und Smilax aspera winden. Niedrige Ge-
wächse vegetiren am Strande ; Eryngium, stachlige Disteln und steifblättrige
Labiaten sind Begleiter jener Vegetation an offenen Stellen. Ueber dem
Streifen des Lorbeerwaldes folgt strauchartiger Pflanzenwuchs, Weach-
holder, Paliurus u. a. und nur stellenweise finden sich einzelne Bäume,
wie z. B. Castanea vesca und auch Baumgruppen von Eichen, letztere
finden sich fast bis zur Höhe von 3000 Fuss, d,. h. fast bis zur Höhe
des Schutzhauses. Wo nur irgend der wasserarme Boden zur Cultur
geeignet ist, findet sich Weinbau, der ungefähr bis zur Höhe von 2500
Fuss getrieben wird, von sonstigen Culturpflanzen sind Feigen, Nussbäume,
auch Sonnenblumen zu erwähnen. Am Monte Maggiore erscheint jen-
seits des. Schutzhauses, also in einer Höhe von mehr als 3000 Fuss, die
Buche in Form von dichter Waldung da wo der Boden günstig ist, die
Cultur hört auf, es folgt wieder niedriges Gehölz verschiedener Sträucher
und Weideland, endlich kahler Felsen. Der wasserleere Boden, die ge-
ringe Feuchtigkeit der Luft bedingen den Charakter der Landschaft und
das Bild der Vegetation, die sehr verschieden ist von der der Alpen und
der Niederungen nördlicherer feuchter Gegenden. Das hindert nicht, dass
diese sehr charakteristische Vegetation begleitet wird von cosmopolitischen
Pflanzen wie Cichorium Intybus, Echium vulgare, Euphorbia Cyparissias, Origanum
vulgare, Betoniva offic., Sedum acre, Carlina acaulis ete. Im Park von Abbazia
waren während meiner Anwesenheit Yucca aloefolia und Mimosa Julibrissin in
Blüthe, ebenso Myrten; dass einige Palmen und andere exotische Gewächse
nicht fehlten, versteht sich, auch war eine stattliche Anzahl grosser Coniferen
vorhanden, wie Sequoia und Thuja gigantea und die Ceder vom Libanon.
Hierauf legte derselbe
Pfianzen von Tarvis
vor, die er im Sommer dieses Jahres gesammelt hatte,
Tarvis liegt in Kärnthen am Gailitzbache auf der Wasserscheide
des Schwarzen und Adriatischen Meeres in einer Höhe von fast 800 Meter,
Ko 16
-
82 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
von bewaldeten Höhen umgeben. (Tannenwald, in welchem Cyclamen
europaeum wie gesäet.) Obgleich das Klima dasselbe ist wie in den
westlichen Alpen, und auch hier der Boden, wie stellenweise dort,
Kalkfelsen, so zeigen die Floren doch wesentliche Verschiedenheiten,
und Kärnthen hat sogar Pflanzen, die nicht über die Grenzen der Pro-
vinz hinausgehen, wie Wulfenia carinthiaca, von der sogar im Bädeker
zu lesen, und Thlaspi cepaeaefolium. Gegenüber den Westalpen scheinen
bei Tarvis die Sileneae zu überwiegen, auch Rubiaceae. Ferner herrschen
gewisse Labiaten vor, die den Westalpen fehlen. Von Papilionaceen
sind zu erwähnen Cylisus nigricans, hirsutus und sagitlalis, von Geraniaceen
Ger. phaeum, von Cruciferen Dentaria und Biscutella.. Eine Zierde der
Alpenwiesen ist Linum viscosum, Gladiolus palustris kommt vereinzelt vor.
Thesium intermedium ist sehr häufig und stellenweise auch Aster salicinus.
Campanulaceae sind so häufig wie in den Westalpen, doch ver-
misste ich hier Phyteuma spicatum, auch Saxifragen traf ich gar nicht.
Orchideen sind ebenso verbreitet wie in den Westalpen, und verschiedene
Sedum - Arten nebst Asplenium rula muraria und Asplenium Triehomanes
überziehen alte Gartenmauern. Gentianen scheinen auch weniger Ver-
breitung zu haben, als in den Westalpen. Die einzige Art, die mir in
den Weg gekommen, ist G. germanica.
Ferner zeigte Herr von Trautschold einen im Meer bei Abbazzia
gefundenen Stein vor, welcher mit einem dichten Rasen der zierlichen
Alge Acetabularia mediterranea bedeckt war: sie trägt auf langem Stiel
einen schirmartigen Hut fast von der Grösse eines Pfennigs, und ist, da
ihre Membran sehr stark verkalkt ist, trocken rein weiss und äusserst
brüchig. Das Exemplar wurde den Sammlungen des botanischen Gartens
überwiesen.
In der achten Sitzung vom 24. November sprach Professor
Dr. Tramtl‘').
Ueber das System der Monocotyledonen, insbesondere die Gruppe
der Farinosae.
Die systematische Anordnung der Angiospermen kann, da die palaeonto-
logischen Befunde zu dürftig sind, blos auf hypothetischem Grunde auf-
gebaut werden. Wenn hierdurch auch eine gewisse Unsicherheit ent-
steht, so ist doch der Versuch, eine möglichst gute und natürliche An-
ordnung der Familien und Gruppen zu schaffen, nicht als überflüssig,
sondern vielmehr als verdienstvoll zu betrachten. Dass in dieser Rich-
tung stets noch Verbesserungen gemacht werden können, zeigt das neue
!) Prof. Prantl hatte eine ausführliche Bearbeitung obigen Vortrages, des
letzten, mit dem er die Section erfreute, in Aussicht gestellt, ist aber durch seinen
unerwartet frühen Tod am 24. Febr. 1893 daran verhindert worden.
il. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 83
Engler’sche Monocotylen-System, das von seinem Autor zunächst in
seinem „Syllabus‘‘ niedergelegt und neuerdings in der Abhandlung: „Die
systematische Anordnung der monocotyledonen Angiospermen‘“ Berlin 1892
ausführlich begründet wurde. Das Engler’sche System unterscheidet
sich vortheilhaft von früheren (z. B. dem Eichler’schen) dadurch, dass
es nicht auf ein oder wenige Merkmale, sondern auf möglichst viele
aufgebaut ist. Während Eichler noch versucht hatte, alle Monoeotylen-
blüthen auf den pentacyklisch-trimeren Typus zurückzuführen, theilt
Engler die Monocotylen folgendermaassen ein:
1. Blüthentheile mit vorherrschender Unbeständigkeit in der Zahl:
Pandanales, Helobiae, Glumifloren, Principes, Synanthae, Spathiflorae;
2. Blüthen vollständig (oder reducirt) pentacyklisch: Farinosae, Lilü-
florae, Scitamineae, Microspermae.
Von besonderem Interesse ist die Gruppe der Farinosae, welche der
Reihe 1. zunächst gestellt und wegen ihres stärkehaltigen Endosperms
von den Lilüfloren abgetrennt werden. Dieses Merkmal ist insofern nicht
vollständig durchgreifend, als das Endosperm bei den Juncaceen unter
den Lilüfloren gleichfalls stärkehaltig ist. Der Vortragende ist der An-
sicht, dass in dieser Gruppe der Farinosae noch mindestens zwei ver-
schiedene Verwandtschaftskreise enthalten sind, von welchen der eine
den Lilüfloren nahe steht, der andere jedoch unverkennbare Beziehungen
zu den Gräsern zeigt. Der Vortragende ist geneigt, die Monocotylen in
folgende 4 Reihen einzutheilen:
1. Glumifloren mit gemeinsamer Charakterisirung ° durch häutiges
Perigon und fadenförmige Narben. Diese Reihe würde nun umfassen:
a. die Restionales, welche Engler zu den Farinosae zählt, mit den
Familien Restiaceen, Centrolepideen und Erisocaulaceen; diese sind durch
gerade Samenknospe ohne Funiculus charakterisirt. Ihnen schliessen sich
zunächst an die Gramineen, b. die Cyperaceen bilden eine Gruppe zusammen
mit den Juncaceen, welche diese Verwandtschaft ebenso im Diagramm
und dem häutigen Perigon, wie in dem Typus ihres mechanischen Systems
und in der Entwickelungsgeschichte ihrer Spaltöffnungen zeigen. Von den
Lilufloren weichen sie noch besonders durch die fädigen Narben und das
mehlige Endosperm ab. Endlich gehören zu den Glumifloren noch ce. die
Pandanales.
2. Die Spathifloren in der alten Fassung.
3. Die Corollifloren in folgenden Umfang: Farinosae (nämlich die
Commelinaceen, Bromeliaceen, Pontederiaceen und einige kleinere Familien),
Liliaceen, Iridaceen, Amaryllidaceen, Scitamineen, Orchideen.
4) Die Helobiae in der alten Fassung.
Professor Cohn macht geltend, ob nicht unter den Helobiae zwei
Gruppen zu unterscheiden seien, deren eine Formen umfasse, welche man
als redueirte und an das Wasserleben angepasste Lilüfloren ansehen müsse,
6*
34 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Professor Prantl will gegen eine Zweitheilung der Helobiae nichts
einwenden.
Professor Ferdinand Cohn legte
eine Anzahl Photographien aus dem Botanischen Garten von St. Louis,
Missouri (Nord-Amerika)
vor, eingesendet von dem Assistenten des Gartens, Herrn Chr. Bay;
ferner zeigte derselbe
Zweige der Buche mit rothen, gezähnten Blättern,
im Juni d. J. bei den Schüsselbauden an der Kesselkoppe gesammelt,
und hebt den anziehenden Vegetations - Charakter der Südseite des
Riesengebirges hervor, welche schönen Buchen- und Tannenwald zeigt,
während die Nordseite fast nur mit einförmigem Fichtenwald bedeckt
ist. Auch die Höhengrenzen der alpinen Arten scheinen im Süden des
Riesenkamms von denen des Nordens vielfach abzuweichen, wie z. B.
das tiefe Hinabsteigen der Anemone narecissiflora unterhalb der Hofbauden
und bei den Schüsselbauden andeutet.
Professor Prantl berichtet, dass er Buchen mit rothen Blättern
auch im Taunus beobachtet habe, dass bei Aussaat von der Blutbuche
etwa 50 pCt. der jungen Pflanzen roth, die übrigen grün gewesen sind,
sowie dass junge Buchen mit gezähnten Blättern aus dem Spessart in den
Garten verpflanzt, späterhin normale Blätter gebildet haben.
In der neunten Sitzung vom 8. December legte Herr Gym-
nasial-Oberlehrer Dr. Theodor Schube vor:
_ Ergebnisse der Durchforschung der schlesischen Phanerogamenflora
im Jahre 1892,
zusammengestellt von E. Fiek und Th. Schube.
A. Für das Gebiet neue Arten und Formen.
Drosera intermedia X rotundifolia Camus (J. de Bot., V,
1891, p. 198). Rothenburg: Schleife (Callier); Haynau: Samitz (Alt.)
Unter zahlreichen Stücken der D, intermedia Hayne, die H. Alt
bei Samitz gesammelt, befanden sich einige Pflanzen, die neben Blättern
mit verkehrt-eiförmigen solche mit fast kreisförmiger Spreite und reich-
lich doppelt so lange Blüthenstiele besitzen, im übrigen aber die Merk-
male jener Art zeigen. Camus, dem H. Callier diese wie auch die von
ihm bei Schleife gesammelten, ebenso gebildeten Stücke zur Ansicht
schickte, fand dieselben mit den von ihm als obigen Bastard gedeuteten
Stücken übereinstimmend. Auch ich schliesse mich dieser Auffassungan ($.).
Alchimilla fissa X glabra, Unter der in der kleinen Schnee-
grube sehr zahlreich vorkommenden robusten A, glabra Neygenfind (1821)
(= A. vulgaris L. y glabra W. Gr. [1827]) und der viel zierlicheren und
Il. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 85
kleineren A. fissa Schmi. findet sich eine Mittelform, welche ich nicht
als Uebergangsform, sondern als Kreuzung zwischen beiden Arten be-
trachten muss.
Diese Pflanze gleicht habituell einer A. fissa, besitzt auch gewöhn-
lich nur die halbe Grösse einer A. glabra, ebenso weisen die schlanken,
die Laubblattregion allerdings nur wenig überragenden Stengel, sowie
die stark eingeschnitten -gezähnten Stengelhochblätter und Deckblätter,
deren Zertheilung zuweilen fast diejenige der entsprechenden Organe
von A. fissa erreicht, auf den Zusammenhang mit dieser hin. Die Blätter
dagegen sehen mehr denen von A. glabra ähnlich, sind aber runder im
Umriss und besitzen auch rundere Lappen, ihre Zahnung ist nicht so
tief und schmal, wie bei A. fissa, aber feiner, enger und spitzer, als bei
glabra, zumal an den untersten Blättern der Laubrosette. Diese weisen
indessen auch bei A. glabra deutlich kleinere und schmälere Zähne auf,
sind aber in der Regel schon zur Blüthezeit dieser Pflanze vertrocknet.
Während ferner die Grund- und Stengelblätter bei A. fissa gewöhnlich
bis zur Mitte gespalten und die Lappen am Grunde ganzrandig sind, bei
A. glabra aber die Theilung der ringsum, d. h. von Bucht zu Bucht ge-
zähnten Lappen bis zu höchstens einem Drittel der Blattlänge geht,
beträgt die Länge der Lappen bei der Zwischenform oft mehr als den
dritten Theil derjenigen des Blattes und ihre Theilungsstelle ist stets
durch einen kurzen aber deutlichen ganzrandigen Spalt gekennzeichnet.
Die Blüthen der Hybriden nehmen gleichfalls eine Mittelstellung ein, was
die Grösse und Gestalt der Kelchblätter betrifft, denn diese sind relativ
nicht so lang als bei fissa, aber länger als die ziemlich breiten und
stumpferen der 4, glabra. Jedoch nähert sie sich der Letzteren, weil
ihre Kelchzipfel nicht wie bei A. fissa sternförmig ausgebreitet sind,
sondern mehr aufrecht stehen. Unter den Früchten waren viele nicht
zur Entwickelung gelangt.
Ueber diese dem Monographen der Gattung, Herrn R. Buser in
Genf, vorgelegten Pflanze äussert sich der Genannte dahin, dass Gra-
bowski wie auch Tausch sie bereits in den Sudeten gesammelt hätten,
und dass er selbst damit völlig identische Exemplare von Lappland (leg.
Wichura und Anderson), sowie von Island (Herb. Boissier) gesehen habe.
Als Wichura die Pflanze in Lappland sammelte, habe er sie schon als
gewissermaassen zwischen A. fissa und vulgaris inmitten stehend erklärt.
Was den Namen beträfe, so stehe noch die Entscheidung aus, ob sie
mit A. vulgaris var. elegans Laestadius identisch sei oder nicht, von
einer neuen Benennung müsse also vorläufig abgesehen werden,
—+ Potentilla chrysantha Trev. Schmiedeberg: Grasplätze im
Parke von Buchwald!!
Petasites albus X Kablikianus Celk. Die Vermuthung, dass
auch auf der schlesischen Seite des Riesengebirges der kritische Petasites
86 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Kablikianus Tsch. aufgefunden werden würde, wenn er erst richtig er-
kannt wäre, hat sich bestätigt. Merkwürdigerweise ist es gerade die
vielbesuchte kleine Schneegrube, in welcher ich im August 1892 das
Vorkommen der genannten Art und ihres Bastardes mit P. albus fest-
stellen konnte. Gar nicht auf Petasites achtend, kam ich beiden auf die
Spur, als mir plötzlich Blätter einer Pestwurz auffielen, die durchaus nicht
mit denen von P. albus abereinstimmten, Bemerkenswerth war mir zu-
nächst die weissgesprenkelte Blattoberseite, eine Erscheinung, die bei
näherem Zusehen von einem graulich - weissen Filze herrührte, der sich
auf der sonst kahlen Fläche an zahlreichen Punkten gleichsam zusammen-
gezogen hatte oder vom Regen zusammengeschwemmt war und nun
meistens lappig abstand. Es hatte sich hier also der sonst leicht ab-
wischbare Filz des P. Kablikianus lange Zeit erhalten, während er bei
diesem selbst zu dieser Jahreszeit längst verschwunden, das Blatt viel-
mehr dann ganz kahl ist. Die Blattunterseite zeigte sich von einem
schmutzig-weissen Filz gleichmässig überzogen, jedoch dünner als bei
den gleichaltrigen Blättern von P. albus. In der Form des Blattes war,
wie in dessen Bekleidung, seine Mittelstellung zwischen P. albus und
Kablikianus noch deutlicher erkennbar. Ist die Gestalt im Ganzen auch
dem Blatte des letzteren ähnlicher, so sind doch seine beiden unteren
Lappen nicht so eckig und wagerecht abstehend, der Ausschnitt am
Grunde daher auch nicht so auseinander spreizend, sondern enger, mehr
wie bei P. albus. Die Zähne der Blätter sind nicht so spitz wie bei
P. albus, aber es sind wie bei diesem zwischen den grösseren Zähnen
öfter feinere weichstachelartige Zähnchen eingeschaltet. Der Blattstiel
durchweg weissfilzig, während er bei P. Kablikianus kahl ist. Eine
nähere Beschreibung ist in der Abhandlung von Celakovsky über P. Ka-
blikianus T'ssch. (Oestr. Bot. Zeitschr. 1890, $. 295) enthalten.
Matricaria Chamomilla X inodora. „Diese Hybride steht der
M. Chamomilla näher, doch ist ihr Geruch auch im lebenden Zustande
sehr schwach. Die oft tiefgespaltenen Zipfel der doppelt-fiedertheiligen
Blätter sind zuweilen rinnig. Kopfstiele mässig lang. Blüthenboden
hoch gewölbt oder kurz-kegelförmig, nicht so verlängert wie bei M.
Chamomilla, hohl, aber in geringerem Maasse als bei dieser. Blüthen-
köpfe grösser, ihre Strahlblüthen meist abstehend, nicht wie bei M.
Chamomilla zurückgeschlagen. Früchte wenig entwickelt. Die Pflanze
bildete grosse kräftige Stöcke, deren Stämmchen von unten an aus-
einandergehen.
Liegnitz: Seedorfer Felder vereinzelt unter den Stammarten.‘“
(Figert in lit.)!
— Symphytum cordatum W. K. Hirschberg: Parks von Buch-
wald und Lomnitz!! — Diese östliche Art soll zwar schon vor 3 bis 4
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 87
Jahrzehnten einmal in Schlesien beobachtet worden sein, sichere Nach-
richten darüber sind mir aber nicht bekannt geworden.
Rumex agqualticus X obtusifolius (R. Schmidtii Hsskn.).
Goldberg: im Katzbachbett bei Hermsdorf (Figert)! Unsere Pflanze
entspricht am besten der zweiten von Haussknecht (in Mittheilungen des
Bot. Vereins für Gesammtthüringen 1884 $. 66, 67) beschriebenen Form
dieses von ihm zuerst festgestellten Bastards. Die Fruchtklappen sind
indessen stärker gezähnelt, man kann sagen „gezähnt“, weshalb die
Mitwirkung von R. agrestis nicht ausgeschlossen erscheint; die Schwielen
zeigen sich im Ganzen ziemlich entwickelt. Jedenfalls steht auch die
Hermsdorfer Form dem R. aqualicus näher.
Polygonum lapathifolium X Hydropiper Beckh. Liegnitz:
Barschdorf (Figert). Die Pflanze, die zwischen den muthmaasslichen
Eltern wuchs, stellt mit ihren schwarzgefleckten Blättern, dem ziemlich
schwach drüsig punktirten Perigon, der hellgrünen, nur selten etwas
röthlichen Färbung der Blüthen und den ziemlich lockeren Aehren ein
deutliches Mittel zwischen jenen dar ($.).
Carpinus Betulus L. var. quercifolia Aschs. Ueber diese
Formabweichung der Blätter unserer Hainbuche schreibt Herr Mittel-
schullehrer Schöpke in Schweidnitz: ,,In diesem Jahre fand ich die von
Professor Ascherson mit Var. quercifolia bezeichnete Form auf der hie-
sigen Promenade in einem etwa 4 m hohen Strauche vor, der an seinen
unteren Aesten noch theilweise normale Blätter trägt. Ein Aufpfropfen
hat hier nicht stattgefunden, da sich am unteren Theile des Stämmchens
keinerlei Wulstringe zeigen. Die Buche steht wenige Schritte seitwärts
von einem Promenadenwege und war, so weit mir erinnerlich ist, früher
normal beblättert. Da wurden vor etwa 5 bis 6 Jahren an ihrem Stand-
orte Veränderungen geschaffen, indem man zwei schmale Fusswege an-
legte, die rechts und links hart an dem Strauche vorbeiführen und sich
unmittelbar hinter ihm vereinigen, Er konnte sich daher nur noch nach
der vierten, dem Hauptwege zugewandten Seite ausbreiten, weshalb auch
hier die unteren Aeste die meisten normalen Blätter besitzen. Da auch
nach der Vereinigungsstelle der beiden Fusssteige hin etwas Spielraum
für die Buche vorhanden ist, so zeigen sich auf dieser Seite gleichfalls
einzelne normale Blätter, doch im Verhältniss zur entgegengesetzten
Seite nur wenige. Die rechts und links befindlichen Fusswege sowie
das dahinter liegende Gebüsch engen die Buche immer mehr ein, daher
tragen die Aeste der Seiten und alle oberen Triebe nur anomale Blätter.
Zudem sind mehrere kleine Aestehen vorhanden, welche am Grunde
normale Blätter haben, deren Spitzen jedoch in die Eichenblättrigkeit
übergehen. Es ergiebt sich hieraus, dass es sich hier um keine beson-
dere Varietät handelt; der betreffende Strauch ist vielmehr ein erneuter
Beweis dafür, dass — wie bereits Dr. Buchenau in Bremen beobachtet
88 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
hat — nur Störungen in der Zufuhr der Nährstoffe, Verhinderung des
genügenden Eindringens von Niederschlägen und Abhaltung von Licht
und Luft die Eichenblättrigkeit von Carpinus bedingen.‘ —- Professor
P. Magnus kann — entgegen Buchenau — die Eichenform des Blattes
von Carpinus nicht als Folge einer ungenügenden Ernährung oder Vege-
tation des Baumes ansehen, da er diese Form am Ufer der Saale bei
Bad Kissingen aufgefunden hat, vielmehr glaubt er es sicher hier mit
einer constitutionellen Varietät zu thun zu haben, die — wie das auch
bei anderen geringeren Variationen, z. B. Panachirungen, rother Färbung
des Laubes u. s. w. bekannt ist — leicht auf vegetativem Wege mehr
oder minder vollkommen zurückschlägt (Verh, des Bot, Ver, der Prov.
Brandenburg 1891 $. XXXV).
Carex vesicaria X filiformis. Im Jahre 1848 entdeckte Ger-
hardt unweit Liegnitz (in der Tschocke bei Kunitz) eine Carexform, die
von Wimmer in der Flora von Schlesien (III. Bearbeitung 1857 $. 71)
unter dem Namen C. evoluta Harim. aufgeführt wurde, und von der er
sagte, „diese Art stelle der Tracht nach wie auch in den Merkmalen
ein vollkommenes Mittelding zwischen C. riparia und filiformis dar, in
deren Gesellschaft sie wachse‘‘, er halte sie daher für einen aus beiden
Arten entstandenen Bastard. Uechtritz hatte die Pflanze am Standort
beobachtet, war aber der Meinung, es kämen in der Tschocke zwei
Kreuzungen der (, filiformis vor, von denen die häufigere der Combination
C. filfformis >< spadicea, die andere, wesentlich seltenere, aber der
©. filiformis > riparia entspräche. Als der scharfsichtige Figert 1890 im
Bienowitzer Bruche bei Liegnitz zwischen zahlreicher C, riparia und
©. filiformis Mittelformen in grosser Anzahl auffand, bemerkte er bald
eine wesentliche Verschiedenheit zwischen diesen und den Pflanzen aus
der Tschocke. Er unterzog daher letztere einer erneuten sorgfältigen
Prüfung und erkannte in ihnen — entgegen der bisherigen Annahme —
die obengenannte, für Schlesien noch nicht bekannte Hybride, über die
er eingehend in der Deutsch. Botan. Monatsschrift (1892 8. 148—152)
berichtet hat.
Es scheint nach den Mittheilungen Figert’s a. a. O. und anderen
nicht, als ob in der Tschocke neben C. filiformis X vesicaria noch
andere Blendlinge der C. fAliformis vorkämen. In diesem höchst wahr-
scheinlichen Falle müsste die Angabe des Auftretens von C. acuti-
formis (spadicea) X filiformis in meiner Flora von Schlesien ge-
strichen werden, während die dort erwähnte C. filiformis X riparia von
Kath.-Hammer, Kreis Trebnitz (leg. Uechtritz), nochmals auf ihre richtige
Deutung zu prüfen wäre,
Molinia coerulea (L.) Mnch. var. subspicata Figert. „Pflanze
dieht-rasig, dunkler grün. Blätter ziemlich breit, am Rande und ober-
seits rauh, die unteren mit langen weissen Zottenhaaren zerstreut be-
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 89
setzt. Rispe einer mehr oder weniger unterbrochenen Aehre ähnlich.
Rispenäste verkürzt, steif aufrecht und angedrückt, wenige Aehrchen
tragend. Letztere violett-blau, nie grün.
Liegnitz: auf Waldblössen bei Hummel unter dem Typus‘ (Figert
in litt.) !
Auch im Hochgebirge kommen Formen mit ährenartig zusammen-
gezogenen Rispen vor (Weisse Wiese, Korkonosch), die jedoch niedrig
sind und nie so stark verkürzte Rispenäste besitzen,
Lycopodium clavatum L. var, tristachyum Nutt. (als Art).
Grünberg: Hohenborauer Forst (Hellwig)! — Diese von der gewöhnlichen
sich durch fast wagerecht abstehende Blätter der Aeste auszeichnende
Form sieht dem L. annotinum in der Tracht durchaus ähnlich, lässt
sich von ihm jedoch leicht durch die lange Haarspitze an den vorn ge-
wöhnlich ganzrandigen Blättern unterscheiden. Die vorliegenden Exem-
plare zeichnen sich durch die Weichheit und Zartheit ihrer Blätter aus.
Hierbei will ich erwähnen, dass die Angabe zahlreicher Floristen,
als seien die Blätter von L. clavatum L. stets ganzrandig, irrig oder
doch nur theilweise richtig ist. Die Blätter der Aeste und Zweige sind
es ja fast immer, oder es besitzen nur die untersten eine feine Zähne-
lung, dagegen habe ich an allen von mir untersuchten Exemplaren zahl-
reicher Standorte stets, und oft sehr deutlich gezähnelte Stengelblätter
festgestellt. Auch kommen Formen vor, deren Stengelblätter zierlich
mit feinen und ziemlich dichten dornigen Zähnchen versehen sind, wie
mir deren Hellwig besonders ausgeprägte mehrfach aus der Gegend von
Grünberg als f. serrulata zugeschickt hat, — (Als Gegenstück hierzu
verdient wohl auch eine f. integrifolia von L. annotinum L. Er-
wähnung, die zum Theil ganz ungezähnte Blätter besitzt, im übrigen
aber in der Richtung der Blätter ganz mit der Grundform übereinstimmt,
also nicht etwa mit dem L. reclinatum Mchx. vereinigt werden kann,
Ich beobachtete sie z. B. am ehemaligen „grossen See‘ auf der Heu-
scheuer ($9.).
B. Neue Fundorte.
Thalictrum minus Z. Oppeln: Sackerau ($.). Tarnowitz: Naklo
(Wossidlo, $.).
Pulsatilla vernalis (L.) Mill. Ullersdorf a. Queis, am Rande
eines Feldweges (Lehrer Hähnel t. Barber). Rosenberg: Friedrichswille
und bei Försterei Albrechtshof ($.).
P. pratensis L. Brieg: Neudorfer Sandberge (Nitschke, S8.).
Namslau: Gramschütz (Ziesche, S$.).
Anemoneranunculoides L. f. subintegra Wiesb. Görlitz: auf
der Landskrone nicht selten (Barber)!
90 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Ranunculus paucistamineus Tsch. Ohlau: Rohrwald bei Klein-
Oels (Kruber)!; Kontop: Wildeborse (8.); Breslau: Protseh, Süsswinkel
(S.); Strehlen: Plohmühle, hier die f. Drouetii Schltz. ($.)
R. divaricatus Schrk. Breslau: Schwoitsch (Uechtritz 1886, $.),
R. Lingua L. v. strigosus Kab. Grünberg: Droscheydau (Schrö-
der, 19:).
R. auricomus L. v. fallax W. Gr. Canth: Lorzendorf, Kammen
dorf (8.).
R. cassubicus L. Strehlen: Siebenhufen (Kruber)! Brieg: Abra-
hamsgarten (Nitschke, $.).
R. sceleratus L. im Vorgebirge sehr selten, z. B. Hirschberg: in
Grunau!!, Straupitz!!, aber unbeständig; ebenso in der Ober-Lausitz
selten: ausser um Görlitz noch beim Stift Radmeritz (Barber).
R. nemorosus DC. Rybnik: Belk (Ziesche, $.).
Aquilegia vulgaris L, Marklissa: Schwerta ($.); Mittelwalde
häufig, z. B. Ebersdorf, Urnitz, Herzogswaldau, Schönfeld, Rosenthal,
Ober-Langenau, nicht selten weiss und rosa blühend ($.).
Actaea spicata L. Brieg: zw. Baruthe und Smortawe ($.).
Nymphaea candida Prsl. Rybnik: Sägemühlteich bei Belk
(Ziesch&, $.).
Nuphar luteum L. f. tenellum Rchb. Brieg: Neu-Leubusch ($.).
+ Fumaria capreolata L. Proskau: Turnplatz (Richter, $.).
Nasturtium amphibium X silvestre Wimm. Breslau: Gross-
Nädlitz (Uechtritz 1886, $.).
Isopyrum thalictroides L. Canth: Jürtsch, Gilgenau ($.).
Barbarea stricta Andrzj. Riesengebirge: [im Bette der kleinen
Aupa von der Mohornmühle bei 760 m, abwärts bis zum Einfluss in die
grosse Aupa (Schöpke)].
Arabis arenosa (L.) Scop. Hoyerswerda: Bahnhof, Felder bei
Dörgenhausen (Barber); Strehlen: Mückendorf (Kruber)!; Tarnowitz:
Vietorkretscham, Beuthener Chaussee (Wossidlo, $.).
Cardamine Opicii Presl. f. glabra Uechtr. im Riesengebirge
unterhalb der Daftebauden!!
C. impatiens L. Reichenbach: Weigelsdorfer Kreuz bei Neu-
Bielau; Silberberg: Festungswerke, Colonie Brandmühle (Schöpke)!,
Köpprich, Schmiedehau, Volpersdorfer Plänel u. s. w. (S.); Münsterberg:
Bischofswald (Kruber) !
Dentaria enneaphyllos L. Jauer: Jägendorf (F. W. Scholz, S.).
+ Erysimum repandum L. Liegnitz: Gänsebruch (Figert, $8.).
+ Diplotaxis muralis (L.) DC. Liegnritz: Gänsebruch auf
Schutt (Figert)!
Lepidium Draba L. Strehlen: Prieborner Marmorbruch (Kruber) !
Tarnowitz (Fabian, $.).
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 91
Viola uliginosa Schrad. Niesky: am Verbindungsgraben zwischen
dem Petershainer Teiche und dem Schwarzen Luch (Kootz t. Barber).
V. arenaria X Riviniana (Zasch) Uechtr. Unter dem 1889
von Callier bei Frauenwaldau unweit Militsch gesammelten und mir
seiner Zeit mitgetheilten Veilchenmaterial konnte ich auch diesen Bastard
feststellen. In der Tracht und der Grösse der Pflanze, sowie in der
Grösse ihrer Blüthen und Blätter und in der ziemlich lebhaft grünen
Färbung des weichen Laubes wird die Zusammengehörigkeit mit Viola
Riviniana Rchb. auf den ersten Blick erkannt, wofür auch die längeren,
tiefer eingeschnittenen Nebenblätter sprechen. Die Bekleidung jedoch,
welche auf den Stengeln und Blattstielen besonders dicht, auf der Blatt-
unterseite aber schwächer ist, als auf der Oberseite, deuten klar auf
eine Kreuzung mit V. arenaria DC. Somit stimmt diese Hybride mit
der von Uechtritz (Jahresbericht 1885, $. 218 u. 219) als erste Form
beschriebenen aus dem Brauchitscher Forst bei Lüben überein. Ganz
gleiche Exemplare, von Cand, R. Schultz gesammelt, sah ich aus dem
Goldaper Forst in Ostpreussen.
V. mirabilis L. Breslau: Skarsine ($.).
Gypsophila fastigiata L. Tarmowitz: Georgenberger Chaussee
(Wossidlo, $.).
Tunica prolifera (L.) Scop. Lüben: ÖOssig (Figert, $.).
Dianthus arenaria X Carthusianorum (D. Lucae Aschs.).
Grünberg: Weite Mühle (Hellwig)! Zweiter Standort.
D. superbus L. Schlawa: Rädchen (Ziesch6e, $.); Lüben: Gross-
Krichen (Figert, $.).
Cucubalus baccifer L. Breslau: Schebitz (Frl. Kallenbach, $.);
Machnitz (8.); Ober-Glogau: Widrowitz (Richter, S.).
Silene gallica L. Rybnik: Czerwionkau, Czuchow (Ziesche, $.).
Stenzelberg bei Wüstewaltersdorf (Schröder, $.).
+ 8. Armeria L. Löwenberg: Stamnitzdorf ($.); Jauer: Semmel-
witz (Figert, $.).
S. chlorantha L. Lüben: Ossig (Figert, $.).
+ 8. dichotoma Ehrh. Trebnitz: Raschen (Bodmann, $.), Brockot-
schine ($.).
S. Otiles (L.) Sm. Brieg: Neu-Cöln (Nitschke, $.).
S. nutans L. var. glabra (Schk.). Wartha: Gipfel des Kapellen-
berges (Schöpke).
Melandrium album X rubrum (M. dubium Hampe). Goldberg:
bei Hermsdorf (Figert)!; Birkicht im Riesengebirge!!
M. rubrum Gcke. fl. roseo. Canth: mehrfach, z. B. Fürstenau,
Gilgenau (8.).
Stellaria nemorum L. Breslau: Weistritzwälder, von Schosnitz
aufwärts, häufig ($.).
92% Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Cerastium arvense L. in einer ganz kahlen Form (war. glabres-
cens Neilr. ?) bei Schweidnitz: Waldränder bei Esdorf (Schöpke).
Radiola linoides Gmel. im Vorgebirge noch bei Hirschberg: auf
einem Feldwege gegen Boberröhrsdorf (M. Fiek)!
Lavatera thuringiaca L. Strehlen: Marmorbruch bei Prieborn
(Kruber).
— Malva crispa L. Glogau: Driebitz (Ziesche, $.).
M. neglecta X rotundifolia Rischl. Jauer: Hermannsdorf
(Figert, S.).
+ Hibiscus Trionum L. Oels: beim Schlosse (Bodmann, $.).
Hypericum montanum L. Strehlen: Siebenhufen (Kruber). Brieg:
Leabusch, bei den Kaisereichen und vor Pechhütte ($.). |
H. hirsutum L. Carolath (Hellwig)!; Charlottenbrunn: am Sophien-
auer Tunnel!!; Münsterberg: Bischofswald (Kruber); Wartha: Königs-
hainer Spitzberg, Wälder um Gierichswalde und Heinrichswalde (Schöpke);
Neissewälder bei Koppitz (Kruber). Breslau: Masselwitz (Apoth. Eicke
1828, 8.); Ohlau: Fasanerie ($.), von der Lindener Fähre bis Smortawe
nicht selten ($S.).
H. elodes L. Hoyerswerda: an den Kühnichter Teichen und zwar
am Diskals-, Tiefen Podroschnik-, Mönnichs- und Funk’s Wiesenteiche
(Barber), ferner am Breiten Podroschnik-, Alten- und Burger Teiche,
sowie am Abfluss des letzteren östlich von Seidenwinkel (Höhne
t. Barber).
H. quadrangulum X perforatum Hoskn. Glogau: Wühleisen
(Figert, $.).
Acer campestre L. Bauernwald bei Wansen (Kruber).
A. Pseudoplatanus L. Brieg: Baruthe ($.).
Geranium sanguineum L. Grünberg: Looser Berge (Kleiber)!;
Strehlen: Bauernwald bei Töppendorf (Wegehaupt).
G. phaeum L. Münsterberg: Moschwitzer Buchenwald, Park von
Heinrichau (Kruber); Silberberg: Grasgärten von Schönwalde (Schöpke);
Mittelwalde: Ebersdorf, Urnitz, Herzogswalde, Schönfeld, Rosenthal,
Ober-Langenau ($.), Wölfelsgrund am Buckelwasser (Stenzel, $.).
G. silvaticum L. Mittelwalde: Rosenthal ($8.).
G. molle L. albiflorum. Grünberg: Saabor, Hammer (Kleiber);
Ober-Glogau: Twardawa, am Bahnhof (Richter, $.). Neu für Ober-
schlesien, vielleicht auch hier nur verschleppt.
—+ Impatiens glanduligera Royle. Wiegandsthal ($.), Lieben-
thal: Krummöls (8$.).
+ Ulex europaeus L. Rosenberg: zwischen der Annakapelle
und Friedrichswille ($.).
Genista germanica L. f. inermis Koch. Brieg: im Leubuscher
und Rogelwitzer Walde mehrfach ($.).
1I. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 93
Cytisus nigricans L. Brieg: zw. Leubusch und Rogelwitz mit
dem folgenden (S.).
C. capitatus Jacg. Camenz (Schöpke); Wegränder bei Münster-
berg; Grottkau: Giersdorf (Kruber). Jägerndorf: Burgberg (Ziesche&, $.).
C©. ratisbonensis Schff. Bernstadt: Mühlatschütz (8.); Brieg:
Schönau (Nitschke, 8.); Ohlau: Minken ($.).
Ononis spinosa L. Schlawa: Hammer (Hellwig)!
O. hireina Jqu. albiflora. Liegnitz: zwischen Klemmerwitz und
Tentschel (Figert, S.). — Rybnik: Kniezenitz (Ziesche, $.).
Anthyllis Vulneraria L. Bunzlau: vor Neu-Jenkwitz (8.); Mittel-
walde: Lauterbach, Schönfeld, Rosenthal ($.); Breslau: Carlowitz (Ziesche,
S.); Silberberg: mehrfach, auch auf dem Donjon ($.); Constadt: Reiners-
dorf (S.).
Trifolium rubens L. Schweidnitz: um Leutmannsdorf verbreitet;
so am Denkmalberge, an der Paarhöhe, am Todten Jungen (Schöpke).
Bunzlau: Grünsteinhügel (Alt, S.).
T. spadiceum L. Mittelwalde: Beethenbusch, Herzogswalde,
gegen die Kalkbrüche ($.).
T. alpestre L. in den Haidegegenden der Ober-Lausitz ungemein
selten. Hoyerswerda: Dubringer Berg (Barber).
Teiragonolobus siliguwosus (L.) Rth. Wansen: Lorzendorf (Bartsch
t. Kruber).
Lotus corniculatus L. f. hirsutus Rch. Brieg: Neudorf
(Nitschke, $.).
Astragalus arenarius L. Grünberg: zwischen Schweinitz und
Lättwitz (Schröder, $.); Bernstadt: Mühlatschütz (8.).
— Ornithopus sativus Brot. Ober-Langenbielau, verw. (F. W.
Scholz, $.).
Onobrychis viciaefolia Scop. Canth: DBorganie, nicht ange-
pflanzt (S.).
Vieia silvatica L. Hultschin: Weinberg (Ziesche, $.).
V. cassubica L. Bernstadt: Ziegelhof; Ohlau: Minken; Brieg:
Baruthe, Leubusch, Rogelwitz (S.).
Lathyrus tuberosus L. Breslau: Probotschine ($8.); Zobten:
Altenburg (Ziesch£, $.).
L. montanus Bernh. Hoyerswerda: Dubringer Berg (Barber).
„Prunus spinosa L. mit silbergrauen Blättern, Liegnitz: Linden-
busch; Leubus: Rathau.‘“ (Figert in litt., $8.).
—+ P. Cerasus L. Grünberg: Neue Maugscht, scheinbar völlig
wild (Hellwig)!
Geum montanum L. mit zweiblüthigen Stengeln, am Ziegenrücken
im Riesengebirge unterhalb der Rennerbaude (Barber).
Aruncus silvester Kost. Reinerz: Rückers ($.).
94 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
mn nn mn
Rubus nitidus W. uw. N. Niesky häufig; an den Kodersdorfer
Teichen bei Görlitz (Barber).
R. sulcatus Vest. Ruhland: am Wege von Niemz nach Biehlen
(Barber).
R. thyrsoideus Wimm. bei Hoyerswerda: sehr häufig am Du-
bringer Berge (Barber). Die Subspec. candicans (Weihe) bei Görlitz:
Spitalwald bei Paulsdorf (W. Schultze).
R. silesiacus Weihe. Görlitz: Kiefernwald am Wege von Reichen-
bach nach Paulsdorf (W. Schultze).
R. Schleicheri W. u. N. Hoyerswerda: Holschinateich, Haide zw.
Geierswalde und Schwarz-Kollin (Barber); Görlitz: Paulsdorfer Spitz-
berg (W. Schultze).
R. caesius L. Eine abweichende, stets unfruchtbare Form beob-
achtete Figert bei Liegnitz: Nikolstadt, Langenwaldau, Arnsdorf, sowie
am Wolfsberg bei Goldberg ($.).
R. caesius X Idaeus Mey. Jauer: Hermannsdorf (Figert, $.).
Comarum palustre L. Brieg: vor Leubusch ($.).
Potentilla supina L. Löwenberg: Stamnitzdorf (S.); Liegnitz:
Hünern, Koischwitz (Figert, 8.); Zobten: Queitsch (Ziesche, $.); Ober-
Glogau: Weingasse (Richter, $.).
P. norvegica L. Bunzlau: Kaiserswaldau (Figert, $.).
P. recta L. Tarnowitz: Naklo (Wossidlo, $.).
P. canescens Bess. Grottkau: Giersdorf (Kruber).
P. Wiemanniana Gth. u. Schml. Grünberg: Nittritz (Hellwig)!;
Naumburg a. Qu.: gegen Siegersdorf (8.); Leubus: Rathau, Prankau
(Figert, S.). Eine abweichende Form sandte Schwarz von Trachenberg:
Laubwald bei Kendzie (!). Blättchen auffallend breiter als am Typus,
mehr verkehrt-eiförmig-länglich, mit wesentlich kürzeren, breiteren, kurz
zugespitzten Zähnen, unterseits auch weniger dicht stern- und kurz
haarig, daher mehr matt- als graugrün erscheinend. Gewiss nur Schatten-
form und nicht identisch mit der P. Güntheri $ virescens Cel. (P. Lind-
ackeri T'sch.).
P. reptans L. var. ramosa Uechtr. Kontopp: an der Chaussee
nach Liebenzig (Hellwig)! Durch eine starke, jedoch die der var. pu-
bescens Fiek nicht erreichende, Bekleidung ausgezeichnet.
P. argentea X silesiaca Call. Schlawa (Hellwig)!
P. procumbens Sibth. Hirschberg: zwischen den beiden Falken-
bergen (M. Fiek)!
P. procumbens X silvestris (P. suberecta Zimm.) Liegnitz:
zw. Spittelndorf und Petersdorf 1889 (Figert)!; Trachenberg: Kiefern-
wälder um Korsenz fast überall (Schwarz, als P. silwestris var. fallax
Marss.)!; Breslau: Obernigk im Walde nördlich der Sitten!!; Militsch:
Buchenwald bei Schlottau 1889 (Callier)! — Ich halte auch die von
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 95
C, Scholz bei Bojanowo gesammelte und von Callier herausgegebene
P. fallax Marss. für nichts anderes als den bezeichneten Bastard, we-
nigstens was die Exemplare betrifft, die ich davon gesehen habe, wie
ich auch glaube, dass die Marsson’sche Varietät fallax überhaupt nicht
zu P. silvestris gehört, sondern deren Kreuzung mit P. procumbens dar-
stellt. Die von Appel und Callier gegebene erweiterte Diagnose von
P. fallax Marss. (in Deutsch. Bot. Monatsschrift X, S. 164) kann mich
nur in dieser Ansicht bestärken. Wenn die Blätter ‚mehr oder weniger
gestielt‘‘ sind, so kann die Pflanze nicht zu P. silvestris gehören, —
Indem ich mich der hier ausgesprochenen Ansicht auschliesse, muss ich
auch die von Alt bei Greulich und Rothlach gesammelten Stücke (vgl.
Bericht für 1891) als hierher gehörig erklären ($.).
P. alba L. Strehlen: Bauernwald bei Töppendorf (Wegehaupt)!
Proskau: Wilhelmsburger Wald (Richter, $.).. Wartha: zwischen Bries-
nitz und Niklasdorf (S.).
Agrimonia odorata Mill. Hammer bei Schlawa (Hellwig) !
Rosa tomentosa Sm. genuina. Hoyerswerda: Dubringer Berg
(Barber).
R. rubiginosa L. var. pimpinelloides G. F. W. Mey. zwischen
Tsehiefer und Carolath in einer kahlen und einer auf den Nerven be-
haarten Form (Hellwig)! — Der Typus bei Hoyerswerda: längs des
Hammerteichgrabens in der Nähe des Weissen Sees (Barber).
R. sepium Thuill. var. inodora (Fr.). Görlitz: Spitalwald bei
Paulsdorf selten (W. Schultze).
R. alpina L. Mittelwalde; Herzogswalde, nahe der Bahn ($.).
Epilobium virgatum X palustre Kr. Jauer: Hessberge
(Figert, S.).
E. trigonum Schrk. im Riesengebirge nahe bei der Neuen Schle-
sischen Baude (Barber).
E. parviflorum X roseum (E. persicinum Rchb.). Grünberg:
Neue Maugscht am Lunzenbach (Hellwig)!
E. montanum X roseum. Neurode: Euldörfel (Schröder, $.).
E. montanum X palustre Lsch. Schönau: Polnisch - Hundorf
(Figert, $.).
E. montanum X virgatum Kr. Liegnitz: Siegendorf (Figert, $.).
E. montanum X trigonum (E. pallidum Tsch, = E. Freynii
Celk. Prodr.) in der grossen Kesselgrube!! — Auch in verblühten
Exemplaren, an denen das Getrennt- oder Verwachsensein der Narben
nicht beobachtet werden kann, lässt sich dieser Bastard an den durch-
weg gestielten Blättern erkennen. Denn während bei E. trigonum die
oberen Blätter mit breitem Grunde sitzen, ist der Grund bei den ent-
sprechend hoch angehefteten Blättern der Kreuzung abgerundet und
schnell in den etwa 2 mm langen Blattstiel verschmälert, Die Blatt-
96 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
spuren laufen am Stengel herab, doch öfter nicht das ganze Interfolium,
fehlen auch nicht selten dem unteren Theile. Die Bekleidung ist jeden-
falls stärker als an E. trigonum, aber unterwärts meist nur spärlich.
E. alsinifolium X palustre (E. Haynaldianum Hssk.) Riesen-
grund an einer quelligen Stelle unweit der Bergschmiede!! — Die Mitte
August gesammelten Exemplare dieser Kreuzung zeigen bereits die unter-
irdischen, in Moos eingesenkten Triebe, mit 3—4 Paaren von Nieder-
blättern, welche rundlich, fleischig und gelblich die ausgezeichneten
Merkmale des E. alsinefolium darstellen. Stengel gross, kräftig, saftig,
wenigstens oberwärts mit 4 deutlichen Leisten versehen, unterhalb der
Mitte diese nur durch dünne Haarstreifen angedeutet. Bekleidung mit
kurzen, weichen, gekräuselten Haaren, besonders unterwärts. Blätter in
Form und Farbe ganz wie bei E. alsinefolium, aber am Rande und auf
den Nerven (eben so wie die Kelche und Fruchtknoten) behaart, Zahnung
etwas feiner und seichter als bei E. alsinefolium. Blüthen bemerkbar
kleiner als an diesem.
Während dieser Bastard hiernach dem E. alsinefolium viel näher
steht als dem E. palustre, fand ich auf der Mädelwiese eine Form, die
dem E. palustre wieder sehr nahe kommt: Läufer fein, fadenförmig,
entfernt beblättert, mit linealen, mehr grünen Niederblättern besetzt;
Stengel zuweilen sehr kräftig, etwas weniger dicht bekleidet als bei
E. palustre, erhabene Leisten nicht bemerkbar, oder höchstens auf kurze
Strecken angedeutet, dagegen gewöhnlich deutliche Haarleisten; Blätter
lineal-lanzettlich, obere und die der Zweige lineal und dann meist ganz-
randig, ihre Umrollung am Rande vorhanden oder angedeutet. Kein
Exemplar mit vollständig ganzrandigen Blättern, allerdings diese oft sehr
seicht und undeutlich geschweift, mit ganz entfernten Zähnchen. Tracht
und Bekleidung der Pflanze, Grösse und Färbung der Blätter und Blüthen-
srösse wie bei E. palustre.
Die Pflanze zeigt sich somit ganz übereinstimmend mit E. palusire
var. scaturiginum (Wimm.) Fiek Flora v. Schles., wie sie als solche von
Uechtritz auch anerkannt wurde, Hat aber Haussknecht mit seiner
Meinung Recht, dass E. palustre stets ganzrandige Blätter besitzt, dann
muss allerdings diese Varietät in Wegfall kommen und unsere Form als
ein E. palustre > (alsinefoium > palustre) anerkannt werden.
Circaea Lutetiana L. KEulengebirge: am Doctorweg, bei etwa
550 m ($.).
C. intermedia Ehrh. Bunzlau: gr. Zeche (Alt, 8.); Grünberg:
Ochelhermsdorf (Schröder, $.).
C. alpina Z. Tarnowitz: Truschützer Thiergarten (Wossidlo, $.).
Montia rivularis Gmel. Hoyerswerda: Quellgraben westlich der
Station Hohenbocka (Barber).
Illecebrum verticillatum L. Bunzlau: Kaiserswaldau (Figert, $.).
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 97
Scleranthus annuus X perennis Lsch. Lüben: Ossig; Glogau:
Wühleisen (Figert, $.).
+ Sedum spurium MB. Zobten: Queitsch (Ziesche, $.).
Ribes Grossularia L. Greiffenberg: Greiffenstein (S.).
Chrysosplenium oppositifolium L. Niesky: am botanischen
Hügel bei Diehsa (Kootz); Lähn: am Hageberge bei Süssenbach (M. Fiek);
beim Hainfalle im Riesengebirge (Schöpke). Greiffenberg: zwischen der
Finke- und Goldentraummühle (8.).
Eryngium planum L. Tarnowitz: Bleierzwäsche (Wossidlo, $.).
Helosciadium inundatum (L.) Koch Hoyerswerda: Zufluss des
Tiefen Podroschnik, Abfluss des Mönnichsteiches (Barber).
Aethusa Oynapium L. v. cynapioides (MB,) in fast 2 m hohen
Exemplaren. Wartha: Försterei Wiltsch (8.).
Seseli coloratum Ehrh. Tarnowitz: Ptakowitz (Wossidlo, $.).
Imperatoria Ostruthium L. Neurode: Euldörfel (Schröder, $.).
— Archangelica officinalis Hffm. Probsthain am Bachufer
(M. Fiek).
Anthriscus nitida (Whinb.) Gceke. Nordlehne des Ziegenrückens
im Riesengebirge (Barber); Silberberg: im Mannsgrunde und bei der
Colonie Brandmühle (Schöpke); Bauernwald bei Wansen häufig (Kruber)
Caucalisdaucoides L. Tarnowitz: Lubschauer Grojetz (Fabian, $.).
Chaerophyllum bulbosum L. Görlitz: Nieda am Ufer der Wittig
(Barber).
Ch. hirsutum L. in der Ebene noch bei Lauterbach unweit Görlitz
(Barber); Schweidnitz: Gebüsche bei Esdorf (Schöpke); Münsterberg:
Bischofswald (Kruber)!; Bunzlau: Böser Bruch (Alt, $.).
Pleurospermum austriacum (L.) Hffm. Schweidnitz: Berg-
lehnen bei Ober-Leutmannsdorf (Schöpke).
Viscum album L. Die Angabe Schmidts (Bericht 1888), dass die
Mistel auf Eichen bei Frohnau vorkomme, beruht sicher auf einem Irrthum.
Auf drei verschiedenen Frühjahrs-Excursionen nach der mir von Schm.
bezeichneten Stelle (‚linkes Oderufer in der Nähe der Neissemündung,
vom Dampfschiff aus beobachtet“) habe ich nichts davon entdecken
können ($.).
SambucusracemosaL. Breslau: Skarsine (S.); Proskau: Jaschko-
witz (Richter, $.); Konstadt: Simmenauer Wald ($.).
Lonicera Xylosteum L. Silberberg: Mannsgrund, Forsthütte am
Friedrichswege; Wartha: Heinrichswalde (Schöpke),; von der Försterei
Wiltsch über Dorf Wiltsch bis Herzogswaldau ziemlich häufig, auch im
Raschgrund bei Silberberg ($.).
Asperula odorata L. Brieg: zw. Baruthe und Smortawe ($.).
Galium Cruciata (L.) Scop. Mittelwalde: Schönfeld, Rosenthal,
Ober-Langenau ($.).
98 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur
G.vernum Scop. Ohlau: Rohrwald bei Kl.-Oels (Kruber); Wartha:
Giersdorfer Schlossberg (Schöpke); Brieg: Garbendorfer Oderdamm
(Nitschke, $8.), zw. Baruthe und Smortawe, häufig im Leubusch-Rogel-
witzer Walde ($.).
G. silvesire Poll. Proskau: Wilhelmsburger Wald (Richter, $.).
Valeriana polygama Bess. Namslau: an d. Weide (Ziesch&, $.).
erster Standort in M.-S. — Pitschen: Stadtforst (S.); Landsberg: Jastrzigo-
witz (S.); Tarnowitz: Zawadzki (Wossidlo, $.).
Knautia arvensis (L.) Coult., weissblühend, Liegnitz: Arnsdorf
(Figert, S.); desgl. Mittelwalde mehrfach ($.).
Scabiosa Columbaria L. Grünberg: Hinterhorst bei Pirnig
(Hellwig)!
Petasites albus Gärtn. in der Ebene bei Münsterberg: Mosch-
witzer Buchenwald (Kruber)!; Tarnowitz: Segethwald (Fabian, $.).
P. Kablikianus Tsch. im Riesengebirge in der kleinen Schnee-
srube!!, [ferner ziemlich häufig am Ufer und im Bette der kleinen Aupa
oberhalb der Kreuzschänke!!, sowie im Thale der grossen Aupa von
hier abwärts bis Dunkelthal!!]. — Diese bisher nur im Riesengebirge
gefundene Art kommt, nach Prof. Sagorski’s Mittheilung, auch in der
Tatra nicht selten vor, wurde aber bisher verkannt; die von Prof. Reh-
mann daselbst im Suchy Potok gesammelte, von mir gesehene Pflanze
stimmt mit der Form aus dem Riesengebirge, soweit sich das nach einem
Blatt beurtheilen lässt, durchaus überein. Simonkai führt sie auch aus
Siebenbürgen an.
Inula salicina L. ist im nördlichen Theile des Gebiets selten;
bisher nur bei Carolath: Oderufer beim Badeplatz (Hellwig)! — f. sub-
hirta C. A. Mey. Ob.-Glogau: Erlen (Richter, $.).
I. vulgaris Lmk. (A. Conyza DC.). Wartha: Giersdorf (Schöpke).
Löwenberg: Walter’s Kalkwerk bei Giessmannsdorf (8.).
+ Ambrosia artemisiaefolia L. Breslau: zw. Lamsfeld und
Brocke (Bodmann u. 8.).
-—+ Rudbeckia laciniata L. Schweidnitz: an der Peile in Schweng-
feld (Schöpke); Koppitzer Park (Kruber).
Bidens tripartitus L. f. integer ©. Koch Königshütte (Nitschke,
S.); Waldenburg: Dittmannsdorf (Felsmann, $.).
Anthemis tinetoria L. Waldenburg: Lehmwasser (Felsmann, $.);
Juliusburg: Kurzwitz (8.).
A. ruthenica MB. Glogau: zw. Fröbel und Schönau (Figert, $.).
—+ Matricaria discoidea DC. Reichenbach: in Faulbrück
(Schöpke). Breslau: Brücke der R.-O.-U.-E.-Bahn ($.).
+ Chrysanthemum Parthenium (L.) Bernh. Wartha: auf
Waldschlägen vom Kapellenberge bis zum Königshainer Spitzberge sehr
häufig (Schöpke).
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 99
Senecio paluster (L.) DC. Lüben: Kaltwasser (Figert, $.).
S. crispatus DC. Reichthal: Charlottenthal; Carlsruhe: Jaginne;
Konstadt: Waldau ($.).
S. Fuchsii Gmel. Schweidnitz: Gebüsche bei Esdorf und Schweng-
feld (Schöpke); Strehlen: $Siebenhufen; Münsterberg: Bischofswald
(Kruber), Tarnowitz: Wilkowitz (Wossidlo, $.).. Rybnik: Ober-Wileza
(Ziesche, S8.).
S. aquaticus Auds. Hoyerswerda: auch im Gebiet der Kleinen
Spree bei Lohsa, Ratzen, Weiss-Kollm, Tiegling ete. (Barber).
Carlina acaulis L. Liegnitz: Burgberg bei Koischwitz (Figert, $.).
Cirsium acaule (L.) All. Namslau: Karlshof, zw. Lorzendorf
und Skorischau (Ziesch£, $.).
C. heterophyllum (L.) All. Waldenburg: Reimswaldau, Kynau
(Felsmann, $.).
C. rivulare (Jqu.) Lk. Ohlau: Minken, beim ehemaligen Lesnig-
Teich ($.).
C. canum (L.) Much. Liegnitz: Vorderheide (Figert, $.).
©. canum X oleraceum Wimm. ‘ Zobten: Prschiedrowitz (S.);
Altenburg (Ziesch£&, $.); Juliusburg: Kurzwitz (S.); Waldenburg: Reussen-
dorf (Felsmann, $.).
C. oleraceum X palustire Schiede. Landeshut: Wüsteröhrsdorf
(Alt, 8.); Löwenberg: zw. Görrisseiffen und Welkersdorf (8.).
Carduus crispus L. Wartha: Försterei Wiltsch; Brieg: zw.
Smortawe u. d. Lindener Fähre ($.).
Centaurea phrygia L. fl. swec. Schweidnitz: häufig auf den
Bergen bei Heinrichau (Schöpke). — Der in meiner Flora für 0. pseudo-
phrygia C. A. Mey. angegebene Standort ,„Südabhang des Kämpfen-
berges‘‘ ist zu streichen, denn es ist nach W. Schultze derselbe Punkt,
den Barber im Bericht von 1890 als ‚‚Stiftswald nördlich der Kanone“
und als Fundort von ©. phrygia L. fl. succ. bezeichnet. Nur die
letztere Pflanze wächst daselbst.
Lappaminor X offieinalis. Liegnitz: in Oyas nicht selten (Figert)!
Arnoseris minima(L.) Lk.Hirschberg: Felder bei Langenau (M. Fiek).
Thrincia hirta Rih. Hoyerswerda: in der Umgebung der Haide-
teiche gemein und auch sonst nicht selten (Barber).
Tragopogon orientalis L. Münsterberg: Berghäuser, Wiesen am
Moschwitzer Buchenwalde (Kruber); Mittelwalde: Ebersdorf (8.).
Hypochoeris glabra L. im Vorgebirge noch bei Hirschberg:
Felder bei Langenau (M. Fiek), am Fusse des Kreuzberges bei Erd-
mannsdorf (ders.)!; auch am Költschenberge bei Schweidnitz (Kruber).
Prenanthes purpuwrea L. Görlitz: an der Nordgrenze ihrer Ver-
breitung noch bei Görlitz: Paulsdorfer Spitzberg (W. Schultze)! Strehlen:
Siebenhufen (Kruber).
7*
100 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Achyrophorus uniflorus (Vill.) Bl. w. Fingerh. var. crepidi-
folius Wimm. im Riesengebirge oberhalb der Neuen Schlesischen Baude
(Barber), Rand des Aupagrundes!!
Crepis praemorsa (L.) Tsch. Gmnadenfeld: Wiesen bei Cziens-
kowitz häufig mit Phyteuma orticulare (Wetschky). Tarnowitz: Lubschauer
Grojetz (Fabian, $.).
C. suwccisifolia (All.) Tsch. Reichenbach: Friedrichsgrund bei
Leutmannsdorf, Tannenberg bei Langenbielau; Silberberg: Colonie Brand-
mühle (Schöpke); Strehlen: Mückendorf; um Münsterberg häufig, z. B.
Bürgerwiesen, Bischofswald (Kruber); Mittelwalde: zwischen Urnitz und
Neudorf, mehrfach um Lauterbach, Rosenthal, Herzogswaldau (S.).
Hieracium iseranum Uechtr. Riesengebirge: Leierbauden (Barber)
(auch auf der böhmischen Seite des Isergebirges bei Neuwiese, Johannes-
berg, Rudolfsthal [ders.]).
H. praealtum Vill. Görlitz: Chaussee nach Schlauroth (Barber).
H. murovum (L.) Fr. var. microcephalum Uechtr. Schweidnitz:
Hohlweg bei Esdorf (Schöpke).
H. caesium Fr. var. alpestre Zindeb. Riesengebirge: auf Kies
der Aupa am Grunde des Aupakessels (Prof. Sagorski)!
Jasione montana L., weissbiühend. Liegnitz: Exerzierplatz
(Figert, S.).
Phyteuma orbiculare L. Tarnowitz: Stolarzowitz (Wossidlo, $.).
Campanula barbata L. Hahelschwerdt: Urnitzberg, etwa 750 m
(Stenzel, $.).
Adenophora liliifolia (L.) Bess. Karl-Max Fasanerie bei Seze-
pankowitz, Kreis Ratibor, nicht häufig (Wetschky).
Erica Tetralix L. Hoyerswerda: am Rande des Halschinsteiches
östlich von Geierswalde. Hier eine auffällige Form in Menge, bei
welcher alle Blattquirle des. diesjährigen Zweiges einseitige Blüthen-
wirtel tragen, so dass das Ganze mit dem normalen Endköpfchen einen
ährenförmigen Blüthenstand bildet (Barber).
Calluna vulgaris Salisb. in einer zierlichen Form mit eiförmig-
länglichen, nur etwa 1 mm langen Blättern bei Grünberg: Aumühlenberg
(Hellwig;)!
Vaccinium uliginosum L. mit birnförmigen Früchten, Nikolai:
Zgoin (8.).
V. Oxycoccos L. fructibus piriformibus. Niesky: im Polsbruch
(Kootz).
Arctostaphylos uva ursi (L.) Sprg. Rosenberg: Zwischen der
Annakapelle und Friedrichswille mehrfach ($.); Tarnowitz: Ostroberg
(Wossidlo, $.).
Andromeda poliifolia L. Lüben: Krebsberger Revier bei Hinter-
eck (Figert, $8.).
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 101
Ledum palusire L. Ohlau: Minkener Forst ($.).
Pirola media Sw. Pfaffenberg bei Krummhübel!!
Vincetorieum officinale Mnch. auf der rechten Oderseite in
Niederschlesien selten. Alexanderwitz, Kreis Wohlau: an einem Graben
(Schwarz)!
Ligusirum vulgare L. Breslau: Feldgehölze zwischen Zweibrodt
und Blankenau, zahlreich und sicher ursprünglich ($8.).
Convolvulus arvensis L. f. auriculatus Desr., sehr gut ausge-
prägt, Löwenberg: Walter’s Kalkwerk bei Giessmannsdorf (8.).
Asperugo procumbens L. Breslau: an der Brücke der R.-O.-U.-
Eisenbahn ($.).
Lappula Myosotis Mnch. 'Tarnowitz: Lassowitz (Wossidlo, $.).
Cynoglossum officinale L. Ohlau: von Grüntanne ($.).
Cerinthe minor L. Strehlen: Prieborn (Kruber)! — Breslau:
zwischen Niederhof und Blankenau, am Bache und an der Chaussee (S.);
Oppeln: Winower Berge (Exner, $.).
Nonnea pulla (L.) DC. Oppeln: am Wege nach Kempa ($.); ein
weit nach W. vorgeschobener Standort.
Echium vulgare L., weissblühend. Goldberg: Hermsdorf (Figert,
S.); Brieg: Limburg ($.).
Anchusa officinalis L., weissblühend. Ohlau: Minken ($.).
Myosotis sparsiflora Mik. Breslau: Zweibrodt, Blankenau ($.).
Solanum Dulcamara L. f. assimile Triv. Ob.-Glogau: Widro-
witz (Richter, 8.).
Verbascum phlomoides L. Grünberg: Neue Maugscht (Hellwig)!
Scrophularia alata Gilib. Grünberg: Kolzig (Hellwig)!; Strehlen:
Prieborner Marmorbruch (Kruber); Bunzlau: Ndr.-Thomaswaldau (Alt, S.).
— Linaria Cymbalaria (Th. Mill.) Marklissa: Schwerta (S.);
Breslau: an der Sandbrücke (Ziesch£, $.).
Linaria vulgaris Mill., mit spornlosen u. a. Pelorien. Breslau:
Schweinern; Bunzlau: Neu-Jäschwitz; bei Löwenberg mehrfach (8.).
Gratiola officinalis L. Hoyerswerda: sehr verbreitet, z. B. an
den Teeichen bei Kühnicht, Bergen, Geierswalde etc. (Barber).
Limosella aquwatica L. Tarnowitz: Naklo (Wossidlo, $.).
Digitalis ambigua Murr., fl. purpurascente, Jauer: Siebenhuben
(F. W. Scholz, 8.); mit radförmiger Pelorie im Teufelsgärtchen (8.).
Veronica scutellata L. var. pilosa Vahl (V. Parmularia
Poit. u. Turp.) Hoyerswerda: Wolschina-Teich nördlich von Bergen
(Barber), dagegen ist der im Bericht von 1891 angegebene Fundort „beim
Seidewinkler Amtsteiche‘‘ durch dessen Urbarmachung vernichtet.
V. aquatica Bernh. Grünberg: Rohrbusch im Torfstich (Hellwig)!;
Trachenberg: auf feuchten Wegen in Klein-Bargen (Schwarz)!
102 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
V. Teucrium L. Jauer: Klonitz (F. W. Scholz, $.).
Melampyrum cristatum L. Breslau: bei der Schwarzwasser-
mündung ($.)
Pedicularis silvatica L., weissblühend. Liegnitz: Briese (Figert,
S.); Ohlau: Minken ($.).
P. sudetica Willd., abwärts im Weisswassergrunde (Barber; schon
Purkyn& t. Uechtritz, 8.).
Mentha agwuatica L. (capitata) forma nana, nur 10—25 cm
hoch, bei Neuhof unweit Liegnitz in Menge und neben dem Typus oft
ganz grosse Flächen bedeckend (Figert)!
+ M. piperit« L. Liegnitz: Berndorf auf dem Dorfanger mehrfach
(Figert)! Scheinähren unterwärts wenig unterbrochen.
Origanum vulgare L. Jauer: Bremberg (F. W. Scholz, 8.);
Hultschin: Weinberg (Ziesch£, $.).
Salvia pratensis L. Canth: nahe der Weistritz vor Kammendorf
(S.); — var. dumetorum (Andrz.), weissblühend. Proskau: am Turnplatz
(Richter, $.); Breslau: Probotschine (8.).
Melittis Melissophyllum L. Brieg: zwischen Rogelwitz und Leu-
busch ($.).
Ajuga genevensis X reptans. Lüben: Neurode auf Schonungen;
Liegnitz: Stadthaide auf Waldblössen unter den Eltern grosse Gruppen
bildend (Figert)! Der A. reptans L. näher stehend, doch zeigen die
Ausläufer das Bestreben, sich aufzurichten, auch blühen sie öfter.
Teucrium Scordium L. Brieg: Baruthe ($.).
Utricularia neglecta Lehm. Hoyerswerda: Salischteiche bei
Bergen, Dubringer Torfbruch (Barber).
U. intermedia Hayne Hoyerswerda: Wolschinateich bei Bergen,
Klosterteiche, Dubringer Torfbruch (Barber).
U. minor L. Hoyerswerda: Dubringer Torfbruch; Görlitz: Koders-
dorfer Teiche (Barber).
Litorella juncea Bergius Hoyerswerda: an und in den Küh-
nichter, Bergener, Geierswalder, Peiknitzer und Niemtscher Teichen in
ungeheurer Menge. Wo der Teichschlamm trocken liegt, variirt die
Pflanze mit halbstielrunden weichen und behaarten Blättern, so am Amts-
teich, am Alten Teich bei Bergen u. A. (Barber).
Plantago arenaria W. u. K. Lüben: Koslitz (Figert).
Trientalis europaea L. Freistadt: zwischen Pürben und Drosch-
eydau (Schröder, $.); Ohlau: Minken; Brieg: bei der „Königsfichte“,
Baruthe ($.).
Anagallis arvensis L. f. bicolor Fiek. Hirschberg: Berthelsdorf
(Alt, 8.).
Chenopodium opulifolium Schrd. Liegnitz: Maserwitz (Figert, $.).
ll. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 103
Rumex cerispus X obtusifolius (R. pratensis M. K.) Liegnitz:
am Mühlgraben (Figert).
R. alpinus L. Im Riesengebirge auf Wiesen bei der Spaltebaude!!
R. maritimus X obtusifolius. Am Annawerder bei Liegnitz be-
obachtete Figert 1887 und im Vorjahre neben der gewöhnlichen Form
dieses Ba stardes auch Exemplare, die durch die Blattfärbung, die grössere
Lockerung der unteren Scheintrauben, die helle Färbung der Schwielen
und die längeren Perigonzähne deutlich die Entstehung durch R, mari-
timus L. v. paluster (Sm.) (= R. limosus Thuill.) erkennen lassen.
Wollte man letzteren als selbstständige Art auffassen, so wäre unsere
Form als neue Hybride R. limosus X obtusifolius zu bezeichnen.
R. obtusifolius L.v. agrestis Fr. Liegnitz: Nikolstadt (Figert, S.).
R. maritimus X conglomeratus Öel. Haynau: Gr. Tschirbsdorf
(Figert, $.).
Polygonum lapathifolium X mite Fig. Liegnitz: Ndr.-Royn
(Figert, S.).
P.persicaria X minus Aschs. Liegnitz: Kunitzer See (Figert, $.).
Daphne Mezereum L. Strehlen: Wälder um Olbendorf (Kruber).
— Jauer: Rosenberge; Brieg: Baruthe ($.)!
Thesium intermedium Schrad. Strehlen: Prieborner Marmor-
bruch (Kruber)! |
Th. alpinum L. Silberberg: bei dem Feldthor und der kleinen
Strohhaube (8.).
Emphorbia palustris L. Breslau: Rothsürben (Ziesch6, $.).
E. duleis Jacqg. Münsterberg: Moschwitzer Buchenwald, Bischofs-
wald (Kruber).
Ulmus montana With. Hirschberg: Ober-Boberröhrsdorf!!, Peters-
dorf auf der Bergseite, hohe starke Bäume!! Alle neuere Beobachtungen
bestätigen, dass im Vorgebirge nur diese Art, in den niedrigen Partien
auch U. pedunculata Foug. vorkommt, U. campesiris L. dagegen ausschliess-
lich auf die Ebene beschränkt ist.
Betula obscura Kotula Liegnitz: Stadthaide, ganz mit der Kotula-
schen Form übereinstimmend (Figert).
Alnus glutinosa X incana Kr. Lüben: Krummlinde (Figert, $.).
NSalix peutandra L. f. polyandra Bray. Liegnitz: Arnsdorf
(Figert, $.).
8. Caprea L. Grosse Schneegrube!!, bei 1305 m wohl höchster
Standort.
8. aurita X viminalis Wimm. Freistadt: zw. Droscheydau und
Schweinitz (Schröder, $.).
8. cinerea X repens Wimm. Bunzlau: Kaiserswaldau (Figert, $.).
S. cinerea X viminalis Wimm. Grünberg: Neue Maugscht
(Hellwig)!
104 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
S. aurita X repens Wimm. Bunzlau: Kaiserswaldau; Liegnitzer
Stadtforst (Figert, $.).
Populus alba X tremula Wimm. Liegnitz: a. d. Katzbach vor
Tivoli (Figert).
— Elodea canadensis Casp. um Ruhland und Hoyerswerda ge-
mein; Rietschen (Barber); Oppeln: Winower Berge ($.).
Stratiotes aloides L. Ohlau: Grüntanne; Brieg: um Leubusch
vielfach (S.).
Alisma natans L. Hoyerswerda: Kleiner-, Weinbergs- und Alten-
Teich bei Niemtsch (Barber).
Potamogeton fluitans Rth. Freistadt: Teich bei Olseyn (Kotula)!
Neu für Oesterr.-Schlesien und dritter Standort im Gebiet.
P. compressus L. Brieg: Schiessstände (Nitschke, $.).
P. polygonifolius Pourr. Görlitzer Haide: Strassengraben des
Birkbrückweges bei Rothwasser (Rakete t. Barber); Grünberg: Ochel-
hermsdorf, Grenzteich an der Schweinitzer Grenze (Schröder)! Durch
letzteren Fund rückt das Verbreitungsgebiet dieser leider nicht blühend
gefundenen, aber auch von Prof. Ascherson anerkannten, Art bedeutend
nach Osten und schliesst sich dort dem entsprechenden Vorkommen von
Pilularia und Thrincia an.
P. obtusifolius L. Hoyerswerda: Tümpel des Dubringer Torfbruchs
an der Mittelmühle (Barber).
P. pectinatus L. Grünberg: Oderwald in einem Graben (Hellwig)!;
Rybnik: Belk (Ziesch6, $.).
Calla palustris L. Ohlau: Minkener Forst ($.).
Orchis incarnata L. Münsterberg: Wiesen im Bischofswalde
(Kruber).
Gymnadenia conopea (L.) Reh. v. densiflora (Dietr.) Mittel-
walde: Lauterbach (8.).
Platanthera viridis (L.) Lindl. Niesky: Wiesen und Raine süd-
lich von Jänkendorf, an der alten Görlitzer Strasse nach Wilhelminen-
thal, Wiesen bei Oedernitz; Görlitz: Cunnersdorfer Kalkbrüche (Kootz);
Liegnitz: Bienowitz (Figert, $.).
Cephalanthera Xiphophyllum (L. fil.) Rchb. fil. Niesky:
Monumenthügel bei Ullersdorf, zwischen Rengersdorf und dem ver-
fallenen Wolf’schen Kalkofen (Barber); Lähn: Menzelberg östlich Wiesen-
thal (M. Fiek); Münsterberg: Bischofswald, Moschwitzer Buchenwald
(Kruber).
Gladiolus imbricatus L. Neumarkt: Sagritzer Hutung (Figert, $.);
Tarnowitz: Stolarzowitzer Waldwiesen (Wossidlo, $.).
Galanthus nivalis L. Brieg: um Lichten und Frohnau massen-
haft (8.).
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 105
Lilium bulbiferum L. Wüstewaltersdorf: Kaschbach und Wilhelms-
thal (Schröder, 8.).
Ornithogalum umbellatum L. Görlitz: Felder bei Rengersdorf
und Neuhof (Barber); Strehlen: Krippitzer Park (Kruber).
—+ O0. Boucheanum (Rth.) Aschs. Oppeln: in der Odervorstadt
mit O. nutans L. und auffälligen Uebergangsformen ($.).
OÖ. tennifolium Gnos. Schweidnitz: Jacobsdorf (Schöpke).
Gagea arvensis (L.) Schult. Görlitz: Felder zwischen Biesnitz
und der Görlitzer Ziegelei (Barber).
Anthericum ramosum L. var. fallax Zabel Trachenberg: Kiefern-
wald bei Kendzie (Schwarz)! Liegnitz: Vorderheide (W., Figert, $.);
Brieg: vor Pechhütte (S).
Allium ursinum L. Canth, Jürtsch, Gilgenau, Fürstenau, Mohnau ($.).
A. Scorodoprasum L. Mittelwalde: Schönfeld ($.); neu für die
Grafschaft.
Polygonatum officinale All. Ohlau: zw. Grüntanne und Garsuche
zerstreut, desgl. zw. Minken und Peisterwitz; Brieg: im Leubuscher und
Rogelwitzer Walde vielfach, auch bei Baruthe und Smortawe ($.).
P. verticillatum (L.) All. Rybnik: Ober-Wileza (Ziesche, $.).
Veratrum Lobelıanum Bhdi. Tarnowitz: Bresnitzbach, Pohlom hfg..,
seltener im Reptener und dem Segethwald (Wossidlo, 8.); Rybnik:
Ober-Wileza (Ziesche, $.).
Colchicum autumnale L. f. vernalis (Hffm.) Strehlen: Striege
(Kruber)!, mit grünem Perigon sehr häufig auf den Ruppersdorfer
Dominialwiesen (Ders.)!
Juncus effusus X glaucus (J. diffusus Schn. u. Frickh.) Lüben:
Kaltwasser (Figert)!
J. fuscoater Schreb. Lüben: Gross-Krichen häufig (Figert).
J. capitatus Weigel um Hoyerswerda verbreitet, z. B. Geiers-
walde, Schwarz-Kollm ete, (Barber); Niesky: Coseler Forsthaus (Kootz);
Görlitz: Felder an den Kodersdorfer Teichen (Barber).
J. filiformis L. Bunzlau: Hammerbruch (Alt, 8.); Kaiserswaldau
(Figert, $.).
J. Tenageia Ehrh. Hoyerswerda: Amtsteich, Alter Teich bei Ber-
sen, Grosser Teich bei Niemtsch (Barber).
Rhynchospora alba (8.) Vahl. Liegnitz: Hummel (Figert, S.).
Eriophorum vaginatum L. Haynau: zw. Vorhaus und Kotzenau
(Figert, S.); Ohlau: zw. Garsuche und Minken ($.).
Scirpus multicaulis (Sm.) Koch. Hoyerswerda: an den Rändern
der Kühnichter, Bergener und Geierswalder Teiche häufig (Barber).
S. ovatus Rth. Hoyerswerda: in grösster Menge im trocken liegen-
den grossen und kleinen Teich bei Niemtsch; Kubitzteich bei Wittichenau
(Barber).
106 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
S. pauciflorus Ligthf. um Hoyerswerda verbreitet (Barber).
S. maritimus L. Hoyerswerda: Grosser Teich bei Niemtsch
(Barber).
Carex dioeca L. Gogolin (Kunisch, S.).
©. leporina L. var. argyroglochin (Hornem.) auf der Hohen
Eule (Schröder)!; Ratibor: Schillersdorfer Wald!! Lüben: Klaptau
(Figert, 8.); Breslau: Strachate ($.). ;
©. panniculata X paradoxa (C. solstitialis Figert) Lüben:
Kaltwasser im Torfstich (Fig.)! Steht der C. paradoxa näher.
C. paradosxa X teretiuscula (C. limnogena Appel) Liegnitz:
am kleinen Grundsee bei Arnsdorf (Figert)!
C. paradoxa Wild. Gr.-Strehlitz: Ndr.-Ellguter Berg (Kunisch, $.).
C. caespitosa L. Lüben: Kaltwasser im Torfstich mehrfach, dort
auch eine Form mit ausschliesslich 5 Aehrchen (Figert)! Im nordwest-
lichen Gebietstheile sehr selten.
C. Goodenoughii Gay var. turfosa (Fr.) Trachenberg: moorige
Wiesen bei Gross-Bargen (Schwarz)!
C. polyrrhiza Wallr. Strehlen: Thongruben bei Töppendorf(Kruber).
C. flava X Oederi (C. Alsatica Zahn) Lüben: Klaptau (Figert)!
C. riparia L. var. humilis Uechtr. Strehlen: Wiesen bei Ruppers-
dorf (Kruber)! Dieser Form nahe stehende Exemplare sah ich von
Trachenberg: Gr.-Bargen in Waldgräben (Schwarz)! — Liegnitz: Bieno-
witz (Figert, 8... — Var. gracilescens Htim. Breslau: Wirrwitz ($.).
0. filiformis L. bei Hoyerswerda verbreitet (Barber); Haynau:
Vorhaus; Bunzlau: Hochwald (Figert, $.); Ujest: Koszielawa ($.).
C. rostrata X vesicaria Blytt. Liegnitz: Hummel am Hinter-
teiche zahlreich (Figert)!
©. caespitosa X Goodenoughi Appel. Wie mir von ver-
schiedenen Herren, die H. Appel mit Belegstücken dieser Pflanze be-
dacht hat, mitgetheilt wird, ist die Standortsangabe umzuändern in
„Obere Silsterwitzer Wiesen“. Dem Herb. siles. ist von H. Appel kein
brauchbares Belegstück zurückgeliefert worden. ($.)
C. Davalliana Sm. Lüben: Gr.-Krichen (Figert, S.).
C. arenaria L. Freistadt: Droscheydau (Schröder, $.).
©. strieta L. v. gracilis Wimm. Ujest: Koszielawa ($.).
Phaloris arundinacea L. f. picta (L.) Wigandsthal; Mittel-
walde: Schönfeld ($.).
— Anthoxanthum Puelii Lec. et Lam. Liegnitz: zw. Rüstern
und Sechshuben (Figert, $.).
A. odoratum L. f. villosum Ld. Schönau: Herrmannswaldau
(Figert, 8.).
Arrhenatherum elatius (L.) M. K. f. biaristatum Pim. Ober-
Glogau: Göglicher Berge (Richter, $.).
ll. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 107
Trisetum flavescens (L.) P. B. Ober-Glogau: Mochau (Richter,
S.); Tarnowitz: Eisenbahndamm (Wossidlo, $.).
Melica uniflora Retz. Strehlen: Siebenhufen (Kruber)! Breslau:
Machnitz; Brieg: Baruthe (S.).
Dactylis glomerata L. var. lobata Drej. (= var, nemorosa
Klett. w. Richt.) Wohlau: sumpfige Gebüsche bei Gross-Strenz (Schwarz)!
Poa Chaixi Vill. var. remota Fr. Silberberg: Colonie Brand-
mühle (Schöpke).
_ P. laxa Hke. Elbgrund (Hellmann, $.).
Festuca rubra L. var. subcaespitosa Sond. Grünberg: Schloss-
berg bei Bobernig (Hellwig)!
F. Pseudomyurus Soy. W. Haynau: Reisicht (Alt, $.).
F. giganteaL.var.triflora@Godr. Hirschberg: Petersdorf, Bergseite!!
F. heterophylla Lmk. Schönau: Hermannswaldau (Figert)!
Bromus mollis L. v. liostachys aut. Ober-Glogau: Göglicher
Berge (Richter, S$.).
Br. commutatus Schrd. Liegnitz: Rüstern (Figert, $.). Ober-
Glogau: Twardawa, hier durch Aussaat (Richter, $.).
Br. tectorum L. f. glabratus Sond. Pitschenberg bei Ingrams-
dorf (Uechtritz 1886, 8.).
— Elymus arenarius Z. Tarnowitz: gegen Georgenberg (W os-
sidlo, $.).
Pilularia globulifera L. bei Hoyerswerda verbeitet: Tümpel
zwischen dem Diskalteich und Tiefen Podroschnik, Salischteiche bei
Bergen und an feuchten Waldgräben zwischen diesen und dem Wolschina-
teiche, sowie in diesem selbst (Barber).
Lycopodium Selago L. Marklissa: bei d. Goldentraummühle ($.);
Tarnowitz: Neudecker Forst (Wossidlo, $.).
L. complanateum L. a) anceps Wallr. am Ufer des Schlawa’er
Sees bei Josefshof (Hellwig)!; Hainfall im Riesengebirge (Schöpke);
b) Chamaecyparissus ABr. Grünberg: Landskron bei Carolath
(Hellwig, 8.); Tarnowitz: Gr.-Zygliner Wald (Wossidlo, $.).
Equisetum arvense var. serotinum G. F. W. Mey. Lüben:
Jauschwitz (Figert).
E. hiemale L. Landsberg: Jastrzigowitz ($.).
Osmunda regalis L. Hoyerswerda: im Kiefernwalde am Tiefen
Podroschnieck (Höhn t. Barber).
Botrychium Lunaria (L.) Sw. Haynau: Reisicht, Dammhäuser
(Alt, 8.).
Ophioglossum vulgatum L. Niesky: am westlichen Rande des
Steindammteiches bei der Jänkendorfer Schäferei (Kootz); Namslau:
Lorzendorf, geg. Proschau (Ziesch£, 8.).
108 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Phegopteris Dryopteris (L.) Fee. Brieg: bei der Königsfichte,
zw. Baruthe und Smortawe ($8.).
Ph.polypodioides Fee. Ohlau: zw. Garsuche und Minken; Brieg;:
zwischen den Kaisereichen und der Königsfichte, mehrfach um Baruthe,
z. B. gegen Smortawe und Rogelwitz ($.).
Aspidium montanum (Vogler) Aschs. Görlitz: Spitalwald bei
Paulsdorf (W., Schultze)!
A. Filix mas (L.) Sw. var. incisum Moore. Görlitz: Kämpfen-
berg bei Reichenbach (W., Schultze)! Dort auch var. deorsolobatum
Moore (Ders.).
A. cristatum (L.) Sw. Forsthaus Haynau (Alt, $.).
Asplenium germanicum Weis. Ober-Schmiedeberg, nahe dem
Pass ($.)
Blechnum Spicant (L.) With. Rybnik: Belk (Ziesche, $.).
Im Anschluss hieran theilte Lehrer H. Korn einen Standort für
Taxus baccata im schlesisch-mährischen Gesenke (Hutberg bei Saubsdorf,
Freiwaldau) und Prof. Stenzel das Vorkommen von Anemone ranuncu-
loides im Scheitniger Park, und von Campanula barbata am Urnitzberg
bei Wölfelsgrund (Grafschaft Glatz) in der Höhe von 750 m.
Bericht über die Thätigkeit der Section für Obst- und
Gartenbau.
Von
Städt. Garten-Inspector H. Richter,
zweiter Secretair der Section.
Den Vorstand der Section bildete im Jahre 1892 Herr Professor
Dr. Prantl als erster und Städt. Garten-Inspeetor H. Richter als
zweiter Secretair,
Der Verwaltungsvorstand bestand aus den Herren Ober-Stabsarzt
1. Klasse Prof. Dr. Schröter, Verlagsbuchhändler M. Müller, Handels-
gärtner Dammann. Nach des Letzteren, Anfang des Jahres erfolgten
Tode wurde Herr Öbergärtner Schütze als drittes Mitglied des Ver-
waltungsvorstandes gewählt.
Die Hauptihätigkeit der Section bildeten die Vorbereitungen für die,
in Gemeinschaft mit den hiesigen gärtnerischen Vereinen, geplante
Allgemeine Obst- und Gartenbau-Ausstellung. Die berathenden Sitzungen
fanden den Winter über regelmässig unter Leitung des 1. Secretairs
der Section als ersten, und des Herrn Obergärtner Schütze als zweiten
Vorsitzenden des geschäftsführenden Comites statt, als Secretair des
Comites wirkte Privatdocent Herr Dr. Rosen. Zum Garantiefonds be-
williste die Section 2000 Mark. Die Arbeiten auf der Füllertinsel
waren nahezu fertiggestellt und alles zur Eröffnung vorbereitet, als der
drohenden Choleragefahr wegen die für den September 1892 festgestellte
XIII. Generalversammlung der deutschen Pomologen und Obstzüchter in
Breslau untersagt wurde. Es wurde hierauf beschlossen, die Aus-
stellung auf das Jahr 1895 zu vertagen und in eine Frühjahrs- Aus-
stellung, in welcher vorzugsweise die Gärtnerei vertreten sein würde,
und eine Herbst - Ausstellung, welche besonders die Erzeugnisse des
Obstbaues vorführen würde, zu theilen. Die Zeichnung für den Garantie-
fonds wurde von der Section aufrecht gehalten.
In der Einrichtung des Versuchsgartens der Section wurden auch in
diesem Jahre keine Veränderungen getroffen, da die städtischen Be-
hörden noch keine Entscheidung über die weitere Bewilligung des
Platzes geben konnten, Der Magistrat der Stadt Breslau ersuchte die
110 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Section um Mittheilung einer Sammlung von Obstsorten für die Schul-
gärten; diesem Gesuche konnte gern entsprochen werden.
Auch in diesem Jahre wurden an die Mitglieder unentgeltlich
Sämereien vertheilt, wofür seitens der Section 150 Mark ausgesetzt
waren.
Der Lesezirkel wurde in bisheriger Weise weitergeführt. Da Herr
Kanzleirath Blottner durch Krankheit genöthigt war, die Leitung auf-
zugeben, übernahm Herr Apotheker Mortimer Scholz dieselbe.
Die Section hielt im Jahre 1892 9 Sitzungen ab, worüber Folgendes
zu berichten ist:
In der ersten Sitzung am 1. Februar hielt Herr Obergärtner
Schütze einen Vortrag über Anlage von Wintergärten unter Vorlage
einer Skizze.
Herr Handelsgärtnereibesitzer Franke legte reichblühende Exem-
plare von Orchideen: Oncidium maculatum, Zygopetalum intermedium,
Odontoglossum crisp. Andersonianum, Laelia anceps, Lykaste Skinneri,
Rodriguezia crispa, Cocogyne eristata u. a. vor.
In der zweiten Sitzung am 6. März wurde durch Herm Ver-
lagsbuchhändler M. Müller der Kassenbericht vorgelegt und es wurde
ihm nach Prüfung desselben Entlastung und der Dank der Section aus-
gesprochen.
Hierauf hielt Herr Ober-Stabsarzt 1. Kl., Professor Dr. Schröter
den nachfolgenden Vortrag
über eine Reise des Herrn E. Frank nach den Azoren und der Küste
von Marokko.
Von Hamburg sind wiederholt Schiffsunternehmungen nach der
marokkanischen Küste abgesandt worden, welche den Zweck haben,
Handelsverbindungen mit den Küstenstädten zu unterhalten bezw. den
Handel mit Marokko zu erweitern. Gewöhnlich wird dabei nach Be-
dürfniss auch einer oder der andere Hafenplatz auf den benachbarten
Inseln berührt. Im Frühjahr 1891 schloss sich Herr E. Frank einer
solehen Unternehmung an, welche unter der Leitung des Herrn Dr.
Jannasch stand. Am 23. Mai 1891 kam er in Hamburg an und löste
ein Billet nach Mogador (für Hin- und Rückfahrt 125 Mark). Das Schiff
verliess am 29, Mai Hamburg, legte am 2. Juni in Swansea an und
blieb hier bis zum 7. Juni, um dann die Weiterreise nach Lissabon an-
zutreten, welches am 13. Juni erreicht wurde. Diese 17tägige Fahrt,
namentlich auch der Aufenthalt auf Swansea, boten Herrn Frank eine
Fülle von wechselnden Reiseerlebnissen und neuen Eindrücken.
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 111
Es ist aber nicht meine Absicht, eine ausführliche Beschreibung
dieser interessanten Reise zu geben, sondern ich möchte vielmehr an
diesem Orte nur einige Eindrücke wiedergeben, welche der Reisende
am eigentlichen Ziele seiner Reise, unter dem Einblick in eine neue,
üppige, südliche Vegetation erhielt. Ich beschränke mich daher darauf,
mit Uebergehung der mehr persönlichen Erlebnisse, nur eine kurze
Uebersicht der interessanten Reise mitzutheilen, indem ich aus den
unter der Herrschaft der frischen Eindrücke niedergeschriebenen Tage-
buchblättern, unter möglichst wörtlicher Wiedergabe des Inhalts, das-
jenige, was sich auf botanische und landschaftliche Verhältnisse bezieht,
heraushebe.
Die Einfahrt in den Hafen von Lissabon ist malerisch sehr inter-
essant. Schön ist namentlich der Anblick vom Cap Laroka auf Cintra
mit seinem Schlosse, den Burgresten aus der Maurenzeit, und auf die
mächtige Brandung am Strande. Wiewohl die Landung erst um 6 Uhr
Abends erfolgt war, gingen Herr Frank und Herr Dr. Jannasch sofort
ans Land und besichtigten auf einem langen Rundgange die Stadt. Es
besteht in Lissabon ein deutscher Club, dessen Räume auch noch am
selben Abend aufgesucht wurden. Es fand sich sofort Anschluss an die
Landsleute, und bei einem Glase guten deutschen Bieres wurde für den
nächsten Tag, einen Sonntag, ein Ausflug nach Cintra verabredet.
Schon am Morgen des 14. Juni machte sich Herr F., mit einigen
Freunden der anderen Gesellschaft voraneilend, zur Fahrt nach Cintra
auf. Der in maurischem Stile gebaute Bahnhof liegt in Mitte der Stadt
und die Bahn führt durch einen langen Tunnel, den in schneller Fahrt
zu durchfliegen man 6—7 Minuten braucht, aus der Stadt heraus. Dann
sing es durch Wein- und Orangengärten, an einer Wasserleitung aus der
Maurenzeit hin, deren mächtige Bögen sich über weite Thäler spannen,
durch Hecken von Feigen, Piniengebüsch, Eucalyptuswäldchen, bis nach
eingtündiger Fahrt Cintra erreicht war. Es wurde zunächst mit Wagen
nach Monaco, der Besitzung eines reichen Engländers, gefahren, welche
sich durch einen prachtvollen Park mit einer Fülle von tropischen Ge-
wächsen, unter den besonders schöne Baumfarne auffielen, auszeichnet.
Von da ging es zurück nach Cintra und es wurde nach dem Frühstück
das märchenhaft schön gelegene Schloss und die auf einer etwas ent-
fernteren Bergspitze gelegene alte Maurenfeste besichtigt. Mittag und
Nachmittag vergingen im heiteren Verein mit der Gesellschaft der in-
zwischen eingetroffenen Landsleute.
Herr F. blieb die Nacht in Cintra. Die Eindrücke, welche er an
diesem ersten unter südlichem Himmel verlebten Tage erfahren, äusserten
sich bei ihm in der Nacht durch eine nicht zu bewältigende Aufregung,
welche es ihm unmöglich machte, im Bett zu bleiben. Er meinte Fuss-
boden und Wände um sich schwanken zu fühlen, musste aufstehen und
112 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
ruhelos im Zimmer umhergehen. Am nächsten Morgen waren aber
diese Erscheinungen vollständig verschwunden, und Herr F. brach in
Begleitung eines Führers auf, um in den Bergen zu botanisiren. Der
Spaziergang wurde so weit ausgedehnt, wie die drückende Hitze ge-
stattete, und dabei wurde fleissig botanisirt, wozu die dem Deutschen
völlig fremdartige Flora einlud. Leider gingen die eingesammelten
Pflanzen, welche Herr Fr. bei seiner Abreise von Lissabon auf dem
Deutschen Club zurückgelassen hatte, verloren.
Am 16. Juni wurde das Museo d’agrieultura e florestal besucht.
In Verbindung mit diesem befindet sich eine chemische Station, welche
unter der Leitung von zwei Deutschen (einer derselben Dr. Mastbaum
aus Kreuzburg in Schlesien) steht. Die Thätigkeit der letzteren wurde
zur Zeit durch Boden-Analysen in Anspruch genommen, welche von der
Regierung angeordnet waren, um geeignete Böden für die Einführung
amerikanischer Reben festzusteilen. Die Phylloxera hatte nämlich in
den letzten Jahren auch in Portugal so bedeutende Ausbreitung ge-
wonnen, dass ernstlich an ihre Bekämpfung gedacht werden musste,
Nachmittags machte die Gesellschaft des Schiffes auf 5 Eseln einen
herrlichen Ritt auf dem linken Tajo-Ufer.
Am 17. Juni besichtigte Herr F. noch den in der That sehr sehens-
werthen botanischen Garten und begab sich sodann an Bord.
Am 18. Juni erfolgte dann die Abfahrt.
Die Fahrt richtete sich nach den Azoren. Am 22. kam San Miguel,
späterhin Terceira, unmittelbar darauf Pico in Sicht, und am Morgen
des 23. Juni wurde auf der Rhede von Horta auf Fayol angelegt.
Früh am Morgen wurde schon an Land gegangen und ein Spazier-
sang am Strande unternommen. Die Küste fällt hier fast durchweg
steil zum Meere ab und die Brandung tobt donnernd an dem Felsen an.
Nachmittags wurde Horta besucht, eine kleine, freundliche Stadt von
2—4000 Einwohnern. Von da ging es in eine Schlucht, welche sich
unmittelbar an die Stadt anschliesst. Herr Fr. bezeichnet diese als den
schönsten Fleck der Erde, den er bisher in seinem Leben gesehen,
Hohe, steile Felswände von etwa 100 m Höhe begrenzen dieselbe zu
beiden Seiten; am oberen Theile stürzt ein Wasserfall über das vielfach
zerklüftete Gestein und das Wasser desselben strömt krystallklar dem
Meere zu. Die Felsen sind von der üppigsten Vegetation bekleidet, auf
der Höhe Bananen, Kastanien, Myrthen, Rhododendron u. s. w., zu
Füssen eine reiche Deeke moosartiger Gewächse und fremdartiger bunter
Blumen, die dem deutschen Fremdling den Eindruck hervorriefen, als
ob sich hier alle Pflanzenschätze, welche er früher in der düsteren
Schwüle der Gewächshäuser kennen gelernt, unter dem Lichte der süd-
lichen Sonne ausbreiteten; und dabei prangte Alles in der Frische,
welche ihr ein erquickender Regen verliehen hatte, und der Blick
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 113
schweifte hinaus auf die bewegte Meeresfläche und darüber hinaus zu
dem nahen Pico, der sich zu einer Höhe von über 2000 m erhebt.
Am 24. Juni wurde zunächst dem deutschen Consul in Horta, Herrn
Dubney, ein Besuch abgestattet. Derselbe ist ein älterer Herr, dessen
Familie schon seit dem Anfang des Jahrhunderts hier angesessen ist.
Er beabsichtigt aber mit seiner Familie nach Amerika überzusiedeln,
weil die wirthschaftlichen Verhältnisse auf den Azoren sehr im Rück-
gange begriffen sind, seit die Inseln von dem Schiffsverkehr wenig mehr
berührt werden. Er führte seine Gäste in seinen prächtigen Garten,
auf dessen Pflege viel Sorgfalt verwendet war. Auch hier war Herrn
Fr. das Meiste fremd. Von bekannten Gewächsen machten auf ihn be-
sonderen Eindruck grosse Gebüsche von über mannshohen Camellien,
eine Araucaria, deren Stamm von zwei Mann nicht zu umspannen war,
prachtvolle Sträucher von Oleander und Hibiscus, Begonien, Catalpen,
Korkeichen, Orangen verschiedener Art, eine Canna von doppelter
Manneshöhe mit meterlangen hängenden Blüthentrauben, Musa, verschie-
dene Palmen; von heimathlichen Bäumen bemerkte er Ulmen und Ro-
binien. Auch einige Pilze wurden bemerkt, an den Palmen Graphiola
Phoenicis, an einem Baumstamm ein Polyporuss und am Boden eine
Russula. Leider war der Besuch ein zu flüchtiger, um alle die Pflanzen-
schätze würdigen zu können,
Inzwischen stand der Wagen bereit, welcher die Gesellschaft von
der Ostseite der Insel nach der Westseite bringen sollte, ein Gefährt,
mit einem Pferd und zwei Mauleseln bespannt. Die Insel Fayol ist ein
grosser erloschener Krater, dessen höchste Spitze Caldeira sich bis
3351 engl. Fuss erhebt. Von dieser Spitze aus erstreckt sich eine
Kette grösserer und kleinerer Krater bis nach der Westspitze, unter
denen die höchste Erhebung der Cabiza do Norte (1145 engl. Fuss) ist.
Am Fusse des letzteren liegt der kleine Ort Capellas, das Ziel der Fahrt.
Der Weg führt in der Nähe der Küste über Lavaströme, zwischen denen
kleine Wasseradern rinnen. Bis zum Cap Castello branco ist das Land
überall bebaut, in kleine Ackerstücke vertheilt; kleine, aus Lavabruch-
stücken gebaute, meist nur zweifenstrige Häuschen liegen dazwischen,
Die Ackerstücke sind nach der Strasse zu durch Mauern begrenzt, unter
sich durch Hecken von Arundo Donax geschieden. Von angebauten Feld-
früchten bemerkte Herr Fr. sehr schöne Gerste, Mais, Lupine, Bohnen,
ein Gemenge von Hafer, Lupine und Lathyrus mit grossen, rothen Blüthen,
weiter den Berg hinauf Serradella und Roggen. Der in Capellas ge-
trunkene Wein, der nicht besonders gut war, soll in der Nähe des
Meeres gezogen werden, doch konnte Herr Fr. keine grösseren Wein-
pflanzungen bemerken; der in Horta getrunkene Wein soll von der Nach-
barinsel Pico stammen.
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114 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Von anderweitiger Vegetation fielen die vielen Feigen, Aprikosen,
Bananen, Eucalypten, Lorbeer, Rhododendron u. s. w. auf. Von deutschen
Bäumen spärliche Schwarzpappeln und eine grosse Silberpappel; Farn-
kräuter waren häufig, darunter eines, welches eine Osmunda zu sein
schien.
Vor Cap Castello branco wird das Land unfruchtbar. Gleich einem
erstarrten Meere breitet sich hier die zerklüftete Lava aus, auf der nur
hin und wieder ein kleiner Strauch von Erica und eine hellgraue Flechte
erscheinen. Bald belebt sich jedoch die Vegetation wieder. Einen
geradezu herrlichen Eindruck macht es, dass auf beiden Seiten des
Weges lange Strecken hindurch an der Strasse in dichten Reihen Hor-
tensien und Pelargonien, über mannshohe Sträucher, angepflanzt sind,
erstere dieht mit den prächtigsten blauen Blüthen bedeckt. Als der
Kutscher gewahrte, dass die Gesellschaft Freude an den Blumen hatte,
pflückte er mächtige Sträusse und besteckte damit den ganzen Wagen.
In Capellas wurde sehr kärgliche Bewirthung gefunden und nach
kurzer Rast der Aufstieg nach dem Cabeza do Norte angetreten. Der
Weg führte durch dürftig bearbeitete Felder, welche sich terrassenförmig
den Berg hinanziehen. Der obere Theil des Berges ist bis in die Krater-
öffnung hinein bewachsen mit dichten, bis an die Achseln reichenden
Gesträuchen von Erica, Buxus und Juniperus Oxycedrus, dazwischen eine
reiche Fülle von anderen Blüthenpflanzen. Unter diesen fielen besonders
auf eine Erythraea und eine andere kleine Gentianee mit einzelnstehenden
grösseren, weissen Blüthen, Androsaemum, eine strauchartige Vacciniee
mit armdickem Stamm und hängenden Blüthentrauben, Compositen, eine
Pulicaria, Sonchus, mehrere Carex- und Briza-Arten, Anthoxanthum u. s. w.
Der Aufstieg bis zum Krater hatte 1'/, Stunden gedauert. Ein herrlicher
Blick von dem scharfen, steil abfallenden Kraterrande lohnte die An-
strengung. Den grössten Theil des Horizontes nimmt der atlantische
Ocean ein, nach Osten ziehen sich eine Reihe Krater von verschiedener
Grösse hin, in welche man von oben hineinsieht; besonders interessant
erschien einer derselben, aus rothem Gestein, so dass er aussah, als ob
er von einer glühenden Masse gebildet würde. Kahle Lavaströme ziehen
sich von allen Seiten zum Meere hinab.
Am 25. Juni machte Dr. Bannasch einen Ausflug in das Innere
der Insel, um den Caldeira zu besichtigen, der 3351 engl. Fuss hoch ist
und einen 5 engl. Meilen breiten Krater mit einem kleinen See in seinem
Innern hat; der Ausflug nahm einen Tag in Anspruch. Dr. Bannasch
brachte vom Kratersee einen Busch Hymenophyllum mit. Herr F. blieb zurück
und botanisirte in der Umgegend von Horta. Ausser vielen fremden
Sachen bemerkte er von alten Bekannten an diesem und folgenden Tage:
Hypericum procumbens, Sagina procumbens, Linaria Cymbalaria, Prunella
vulgaris, Mentha silvestris, Erodium cicutarium, Solanum nigrum, Polygonum
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 115
Fagopyrum, Rumex Acetosa, Festuca gigantea, Lolium perenne, Arrhenathe-
rum elatius, Holcus mollis, Agrostis vulgaris, Taraxacum offieinale, Erigeron
canadensis, Urtica dioica, Borago officinalis, Setaria, Verbena officinalıs,
Chelidonium majus, Anagallis arvensis, Plantago lanceolata, maritima und
media. Von Bäumen Quercus Robur, Ulmus effusa, Ailanthus glandulosa,
Platanus, Acer pseudoplatanus.
Der folgende Tag war einer traurigen Aufgabe gewidmet, der Beer-
digung des ersten Steuermannes des Schiffes, der sich aus Liebesgram
erschossen hatte. Der Kirchhof ist höchst romantisch gelegen. Eine
augenfällige Eigenthümlichkeit desselben besteht darin, dass der ganze Platz
im Voraus in kleine Felder, in einzelne Begräbnissstellen getheilt ist,
die durch sorgfältig gehaltene, kniehohe Buchsbaumhecken begrenzt sind.
An einer Seite des Kirchhofes ist durch eine Steinmauer eine Abtheilung
für Protestanten abgegrenzt, wo auch der Verstorbene sein Grab fand.
Zum Abend folgten die Deutschen einer Einladung des Consuls, an
dessen Tafel Herr Fr. zum ersten Male die sweet Potatoes (Bataten)
kennen aber nicht sonderlich schätzen lernte.
Am 28. Juni ging die Reise wieder weiter, zunächst nach Tanger,
welches am 3. Juli Mittags erreicht wurde.
Der Aufenthalt daselbst war jedoch nur sehr kurz, eben nur um
an Land zu gehen, einen flüchtigen Eindruck des dortigen orientalischen
Lebens zu gewinnen und den Garten des deutschen Gesandten Grafen
Taddenbach zu besuchen.
Am Morgen des 5. Juli ging das Schiff auf der Rhede von Saffı
vor Anker, dampfte aber nach Erledigung der Post bald weiter und
erreichte Abends 7 Uhr desselben Tages Mogador. Am nächsten Morgen
ging Herr Fr. an Land und blieb 2 Tage in Mogador. Der Ort ist ganz
ausgezeichnet dazu geeignet, die sich selbst überlassene orientalische
Wirthschaft in ihrer reinen Ursprünglichkeit kennen zu lernen. In Ge-
sellschaft eines braunen Führers, der sich höchst anstellig zeigte, machte
Herr Fr. einen grossen Spazierritt auf Esel längs des Strandes am Grabe
des Sidi Mogdul vorüber nach einem verfallenen Fort portugisischen
Ursprungs, sodann um die Stadt herum bis an den Rand der nahen
Wüste. Der Strand bot eine Anzahl Strandpflanzen. Das Gebiet land-
einwärts macht einen eigenartigen Eindruck grösster Verlassenheit. Es
war durch die jetzt schon eingetretene höchste Dürre fast alle Vegeta-
tion abgestorben, nur einige Proben von Wüstenpflanzen konnten mit-
genommen werden,
Am 8. Juli ging es wieder bei Saffı vorüber, ohne dort anzuhalten,
und am 9. Juli wurde bei Caza blanca (Dar el Beida: Weisses Haus)
angelegt. Herr F. ging sogleich an Land und machte in Begleitung eines
einheimischen Führers einen Spaziergang vor die Stadt. Opuntien, Agaven,
Feigen, Dattelpalmen boten das übliche Bild orientalischer Cultur, fast
S*+
116 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
alles Grün, aber besonders das Laub der Weinstöcke war von Heu-
schrecken aufgezehrt, die noch zu Millionen vorhanden waren und deren
Koth den Boden bedeckte.
Ein kurzer Aufenthalt in Mazagan am 10. Juli ging mit Besuchen
bei einigen Bekannten des Dr. Jannasch (Engländer) hin. Am 11. wurde
vor Robat einige Stunden vor Anker gelegen, aber nicht an’s Land ge-
sangen. Ein zweiter Aufenthalt in Caza blanca am 12. Juli währte auch
nur einige Stunden.
Am 13. Juli ging es vor Larasch (Al Arraisch) vor Anker, und es
wurde hier für einige Stunden an Land gegangen. Die Stadt ist sehr
romantisch gelegen. Die Häuser steigen terrassenförmig auf steilen
Felsen auf. Bäume und Sträucher ragen allerwärts zwischen ihnen auf,
auch grössere Gärten umgeben sie. Herr Fr. bezeichnet diesen Ort als
den geeignetsten Ausgangspunkt für eine naturwissenschaftliche Forschungs-
reise in’s Innere Marokko’s. Auch die Hafenverhältnisse waren die
günstigsten von all’ den Plätzen, welche das Schiff an der afrikanischen
Küste berührt hatte,
Am 14. Juli wurde Tanger noch ein kurzer Besuch abgestattet, es
wurde die Citadelle besucht, auf dem Markte wurden Früchte eingekauft,
dann ging die Reise nach Lissabon weiter, das am 15. Juli erreicht
wurde. Am 17. Juli Nachmittags wurde die Rückreise angetreten und
am 24. Juli Hamburg erreicht.
Die ganze Reise hatte demnach fast 2 Monate (57 Tage) gedauert,
von denen 25 Tage auf die Seereise nach und von Lissabon (einschliess-
lich des Stägigen Aufenthalts auf Swansea auf der Hinreise), 6 auf den
Aufenthalt in Lissabon, 10 auf Reise nach den Azoren und Aufenthalt
auf Fayol, 16 auf die Fahrten an der marokkanischen Küste fielen.
Herr Fr. verfolgte bei seiner Reise hauptsächlich landwirthschaft-
liche Zwecke. Das lebhafte Interesse für Naturkunde drängte ihn aber,
auch Thieren und Pflanzen seine besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden,
und was sich ihm gelegentlich darbot, einzusammeln. Eine grössere
Anzahl in Portugal gesammelter Pflanzen ging, wie schon erwähnt, ver-
loren. Eine kleine Sammlung von Pflanzen aus der Umgegend von
von Horta, Mogador und Casa blanca, die durch den Transport sehr
gelitten hatte, habe ich, so gut es sich machen liess, zusammengestellt
und lege sie der Gesellschaft vor.
Auch einige Pilze hatte Herr F. gesammelt, die ich in dem folgen-
den Verzeichniss mittheile.
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 117
Verzeichniss einiger Pilze aus der Umgebung von Horta auf
Fayol (Azoren) und von der marokkanischen Küste, ge-
sammelt von Herrn E. Frank. Juni und Juli 1891.
l. Oystopus candidus (Persoon). Auf mehreren Cruciferen.
Horta. |
2. Graphiola Phoenicis (Mougeot). Auf Phoenix dactylifera.
Horta. Mogador. Tanger.
3. Uromyces Junci (Desmazieres). Uredo. Auf Juncus. Horta.
4. Uromyces Rumicis (Schumacher). Auf Rumex maritimus.
Horta,
5. Pucecinia Rubigo vera (De Candolle). Uredo und Teleuto-
sporen. Auf Lolium perenne. Horta. Auf einem grösseren Grase
(Hordeum?). Tanger, Garten des deutschen Gesandten,
6. Puceinia sp. (P. Tanaceti De Candolle?). Teleutosporen in
festen, flachen, weitverbreiteten, pechschwarzen Rasen. Sporen ellip-
soidisch-, ei- oder keulenförmig, 35—46 (meist 38—42) ı lang, 22—25
breit, unten abgerundet oder in dem Stiel verschmälert, in der Mitte
wenig oder gar nicht eingeschnürt, am Scheitel abgerundet oder wenig
verschmälert; Membran kastanienbraun, glatt, am Scheitel kappenförmig
verdiekt und dunkler. Stiel fest bis 30 x lang. — An den Stengeln
einer grösseren krautartigen Pflanze. Mogador. — Die Sporen sind etwas
kürzer als die von P. Tanaceti, Eine genaue Bestimmung des Pilzes
ist natürlich nicht möglich, zumal auch die Nährpflanze gänzlich unkenntlich
ist. Es ist immerhin nicht unmöglich, dass hier eine neue Art vorliegt.
7. Puececinia (Hemipuccinia) Frankeniae Link. 1816. — Uredo-
sporen in denselben Lagern wie die Teleutosporen, zimmtbraun, leicht
abfallend, kurz, ellipsoidisch oder fast kuglig, 24—26 p lang, 20—24 1
breit; Membran glatt oder sehr fein eingedrückt punktirt, rostfarben
oder hellbraun, meist mit drei Keimporen. Teleutosporen schwarz-
braune, fette Polster bildend, ellipsoidisch, ei- oder keulenförmig,
30—44 u lang (gewöhnlich 33—36), 20—-22 u breit; Membran kastanien-
braun, am Scheitel kappenförmig verdiekt; Stiel bis 50 { lang, fest.
Auf Frankenia pulverulenta. Horta. — P. Frankeniae wurde zu-
erst von H. Link (ÖObservationes in Ordines plantarum naturales. Dissert.
secunda. Magazin der Gesellschaft naturf. Freunde VII. Berlin 1816 $. 30)
unterschieden, später aber (Caroli a Liunt. Species Plantarum. Editio quarte.
T. VI. Berol. 1825 $. 80) mit seiner P, Lychnidearum vereinigt.
Fr. Rudolphi fand dieselbe Puceinia auf Exemplaren von Frankenia,
die in Nord-Italien (Verona) und Süd-Frankreich gesammelt waren und
beschrieb sie (Plantarum vel novam vel mirus cognitorum descriptiones.
Linnaea IV, Berlin 1829 8. 115) als Puceinia pulvinulata. Die
Uredosporen wurden von Montagne 1846 (in Webb, Barker et Berthelot,
Hist, natur. des Isles canares) als Uredo Frankeniae aufgeführt.
118 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Die von Dr. Schweinfurth bei Fajum in Aegypten gesammelten
Exemplare des Pilzes, welche in v. Thümen Mycoth. univers. 1934 aus-
gegeben sind, enthalten neben den Uredo- auch reichliche Teleutosporen.
Ebenso fanden sich beide Sporenformen gemischt an Exemplaren, die
von Hildebrandt 1872 auf Kleeäckern bei Suez gesammelt waren.
8. Puwceinia Malvacearum Montagne. Auf Malva. Horta.
9. Phragmidium Rubi (Persoon). Uredo. Auf Rubus sp. Horta.
10. Phragmidium subcorticium (Schrank). Uredo- und Teleuto-
sporen. Auf Rosa centifolia. Tanger. Garten des deutschen Gesandten.
11. Melampsora Helioscopiae (Persoon). Uredo- und Teleuto-
sporen. Auf Euphorbia Peplus. Horta.
12. Melampsora Hypericorum (De Candolle). Auf Androsae-
mum. Cabiza do Norte auf Fayol.
13. Melampsora Galii Link. Auf Galium sp. Horta.
14, Coleosporium Sonchi (Persoon). Auf Sonchus sp. Horta.
15. Ochroporus Lonicerae (Weinmann). Das Exemplar ist fast
kreisförmig, mit schmalem Ansatz, 6 cm breit, oben vertieft, grubig höckrig,
schmutzig dunkelbraun, undeutlich gezont, kurzfilzig; Rand gewulstet,
filzig, kastanienbraun. Hutsubstanz gelbbraun, weich, korkig-filzig, 1, am
Ansatz 2 em diek. Röhren mehrschichtig, 2—4 cm lang. Poren sehr
fein, länglichrund, zimmetbraun, schwach grauschimmernd. Dar al Beida.
16. Phospora herbarum (Persoon). Auf alten Kräuterstengeln.
17. Phyllachora Cynodontis (Niessl). Auf Cynodon Dactylon.
18. Auerswaldia Chamaeropis (Cooke),. Auf Chamaerops.
Tanger. Garten des deutschen Gesandten.
19. Phoma anceps (Saccardo). Auf alten Stengeln von Medicago sp.
20. Dartuca filum (Bivona). Uredosp. von Uromyces Junci (3)
21. Pestalozzia funerea (Desmazieres). Auf alten Blättern von
Camellia japanica. Horta.
In der 3. Sitzung am 11. April hielt Herr Landes-Bauinspector
Sutter zu Schweidnitz den folgenden Vortrag:
Vorschläge zur zweckmässigen Bepflanzung unserer Strassen in Schlesien,
unter Benutzung der rheinischen Anleitung vom Jahre 1890.
Meine hochgeehrten Herren! Wie Ihnen ja wohl bekannt ist, bin
ich seit dem 1. October vorigen Jahres auf Wunsch meiner Familie bei
der damals gebotenen Gelegenheit und nach Beschluss meiner vor-
gesetzten Dienstbehörde, des Provinzial-Ausschusses von Schlesien nach
einer 14 jährigen Thätigkeit als Landes-Bauinspeetor der Landes -Bau-
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 119
inspection Breslau und des grössten Theiles der aufgelösten Landes-
“ Bauinspection Glogau, also schon seit '/, Jahre bin ich zur Verwaltung
einer gleichen Stellung nach der schönen, parkumkränzten ehemaligen
Festungs-Stadt Schweidnitz versetzt und habe ich dort in den zugehörigen,
meist sehr fruchtbaren 12 Kreisen auch ein sehr dankbares Feld für
meine Thätiskeit in der Obstbaumpflege gefunden. Namentlich hebe ich
hervor, dass es mir vergönnt ist, auf den dortigen 74 km Provinzial-
Chausseen des Kreises Schweidnitz bei den vorhandenen schönen Obst-
baumpflanzungen die nothwendige Pflege wieder persönlich zu leiten, was
ich im Bezirk Breslau nach Uebernahme der Provinzial-Chausseen durch
die Kreise nur noch auf einer Chaussee im Kreise Militsch thun konnte.
Ich bin meiner vorgesetzten Dienstbehörde darum sehr dankbar,
dass sie mir diesen schönen für den Obstbau sehr wichtigen Bezirk an-
vertraut hat.
Ich habe daher das verflossene Winterhalbjahr schon sehr energisch
dazu benutzt, die dortigen Baumpflanzungen von der Wurzel bis zur
Krone durch Düngung, Reinigung und Baumschnitt so zu behandeln, dass
ich auf reichliche Obsterträge rechnen darf, zumal der Blüthen - Ansatz
ein sehr guter ist.
Meine Herren verzeihen mir wohl diese Abschweifung von meinem
auf die heutige Tages - Ordnung gesetzten Thema — aber ich glaubte
Ihnen eine Aufklärung darüber schuldig zu sein, dass und wie ich als
jetziger Bewohner von Schweidnitz heut hierher zur Sections-Sitzung komme.
Die so freundliche Aufforderung unseres Sections - Vorstandes des
Herrn Professor Prantl und Herrn Garten - Inspector Richter und die
Liebe zur Sache ist mir eine Veranlassung geweseu, trotz meiner viel-
seitigen, amtlichen Beschäftigung in meinem Schweidnitzer Bezirk mich
wieder einmal auch aus der Ferne bei Ihnen einzufinden, um mit Ihnen
an der Verschönerung unserer Heimaths-Provinz und an der Nutzbar-
machung des Landes durch Beförderung des Obstbaues und der Baum-
pflanzung überhaupt mit bauen zu helfen,
Nehmen Sie meine hochgeehrten Herren mit der kleinen Arbeit
vorlieb, die ich Ihnen nur bieten kann und lassen Sie sich meine Worte einen
Sporn sein, vielleicht durch die Section auf weitere Kreise einzuwirken,
Nachdem ich in früheren Vorträgen die Pflanzung und Erziehung
von Obstbäumen nur an Chausseen, ferner die Obst- und Gemüse-Ver-
werthung durch Abtrocknung und zuletzt die Anlage von Obst-Muster-
gärten in der Section zu beleuchten gesucht habe, wollte ich mir die
Ehre geben, Sie heut auf das Gebiet
der Verschönerung der Landschaft
hinzuführen, indem ich Sie einlade, mit mir die
zweckmässige Bepflanzung unserer Strassen in Schlesien
zu besprechen.
120 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Veranlassung hierzu gab mir die auch im Buchhandel erschienene
kleine Schrift der 3 Landes-Bauinspectoren der Rheinprovinz, Dan. Becker
und Zöller und des Landwirthschafts-Lehrers Arnold von Bittburg vom
Jahre 1890 mit dem Titel: „Anleitung zur Pflanzung und Pflege
von Strassenbäumen.“
Die klimatischen, industriellen und die Boden - Verhältnisse in der
Provinz Schlesien sind auch, ähnlich wie in der Rheinprovinz, so sehr
verschieden, dass dieselben Veranlassung geben, die Frage der Bepflanzung
einer neugebauten Strasse recht ernstlich zu prüfen und die Gründe zu
erwägen,
ob es zweckmässiger sei, Obstbäume oder nur Wald-
bäume zu pflanzen? |
Allerdings habe ich in Punkt 1 und 2 meines Vortrages vom
7. Februar 1883 schon den Zweck der Pflanzung von Bäumen an
Chausseen dahin erläutert, dass der Chauseebau zunächst einen Schutz
und eine Annehmlichkeit für die Passanten abgeben soll.
Die Baumpflanzungen sollen aber auch in zweiter Linie der
Strasse zur Zierde gereichen und drittens soll dielandschaftliche
Schönheit der betreffenden Gegend durch eine Baumallee mit schönen
Kronen gehoben werden.
Bisher haben wir Obst-Producenten allerdings stets zur Er-
zielung eines grösseren Nutzens von der Baumpflanzung der Anpflanzung
von Obstbäumen den Vorzug gegeben.
Bei ungeeignetem, mageren und sterilen Boden, oder dort, wo der
Obstbaum nur schlecht gedeiht oder zu niedrige Erträge abwirft, dürfte
der Waldbaum wegen der landschaftlichen Schönheit zur Strassen -Be-
pflanzung geeigneter sein.
Der Strassen-Bautechniker wird daher gut thun, diese drei Gesichts-
punkte durch Rücksprache mit Sachverständigen vor der Veranschlagung
genau zu besprechen — um vorher festzustellen, welche Gesichtspunkte
den örtlichen und den Boden-Verhältnissen zur Bepflanzung am meisten
entsprechen.
Wegen der in den Ortslagen und namentlich in der Nähe grösserer
Städte leicht vorkommenden Beraubungen der Obstbaumanlagen und
wegen der hier häufiger stattfindenden Beschädigung der Bäume durch
den Verkehr wird es sich empfehlen, auch hier anstatt der Obstbäume
mehr Waldbäume zu pflanzen.
Ich erlaube mir daher vorzuschlagen, dass die Section in dieser
Beziehung durch geeignete Vorschläge bei der Provinzial-, und den
Kreis- und städtischen Verwaltungen auf Durchführung einheitlicher Ge-
sichtspunkte einzuwirken sucht — und nur zweckmässige und
ästhetisch sehöne Baumpflanzungen an den öffentlichen Strassen und
Plätzen in der Nähe grösserer Orte und Städte herbeizuführen behilflich
ll. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 194
ist, Diese Aufgabe dürfte durch Erziehung und Bereitstellung geeigneter
edlerer und schönerer Baumgattungen in unseren Sectionzgarten und durch
Empfehlung derselben an die Communen und durch Unterdrückung
mancher unschönen und daher für die fortschreitende Cultur unpassenden
Baumarten und Pflanzungen und verstümmelter Bäume gelöst werden
können,
Und nun lassen Sie mich zur Besprechung der für die Rhein-
provinz erlassenen Anleitung zur Strassen - Bepflanzung
übergehen.
Vorschläge zurzweckmässigen Bepflanzung unserer Strassen
in Schlesien unter Benutzung der rheinischen Anleitung vom
Jahre 1890.
In dem Vorworte dieses Werkes steht der entscheidende Grund,
ob an den öffentlichen Strassen Obstbäume oder Waldbäume
gepflanzt werden sollen erst in den letzten beiden Sätzen und zwar
lautet derselbe dort wörtlich wie folgt:
„In Gegenden, deren Bevölkerung Lust und Liebe zur Obst-
baumzucht noch nicht gewonnen hat, in welchen aber im Uebrigen
die Verhältnisse für den Obstbaum günstig sind, wird die Er-
ziehung desselben an der Strasse zwar grössere Schwierigkeiten
machen, es dürfte aber grade Aufgabe der Provinzial-Verwaltung
sein, hier Cultur-Trägerin in dieser Richtung zu werden. In
solchen Fällen wird die Einführung des Obstbaumes allmählich
und mit Vorsicht geschehen müssen, um durch sichere Erfolge,
welche durch kleine vorhergehende Versuche gewährleistet sind,
die Bevölkerung für die Obstbaumzucht zu gewinnen.“
Wenn überhaupt zugegeben wird, dass die Anpflanzung des Obst-
baumes an Strassen gleichbedeutend ist mit der Einführung einer besseren
Cultur des Landes, so ist damit mein an anderer Stelle schon ausgesprochener
Grundsatz auch gerechtfertigt: dass man überall da, wo ein Obstbaum
noch ein gedeihliches Wachsthum und einen wenn auch nur mässigen
Ertrag verspricht, unbedingt der Anpflanzung des Obstbaumes den Vor-
zug einräumen muss,
Denn der Nutzen der Obstbaumpflanzung besteht nicht blos in den
höheren Gelderträgen, sondern in der Verschönerung der Gegend, der
Erziehung der Landbevölkerung zur sorgfältigen Behandlung ihrer eigenen
Bäume und in dem guten Einfluss des Obstgenusses auf die Gesundheit
des Menschen.
Ebenso wie in der Rheinprovinz sind auch in der Provinz Schlesien
sowohl die Boden-Verhältnisse, wie die klimatischen so sehr verschieden,
dass auch in Schlesien die Erträge aus den Obst-Anpflanzungen sehr
von einander abweichende sein werden.
123 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
mm m
.
Aber nicht immer haben die Besitzer von gutem Boden auch gute
Erträge ihrer Obstpflanzungen, sondern vielfach suchen gerade die Be-
wohner einzelner Kreise, welche schlechten Boden haben, die geringen
Erträge des Ackerbaues durch intensivere Gartenwirthschaft und sorg-
fältigere Ausführung und Pflege der Obstbaum-Pflanzungen und durch
Anpflanzung nur des besten ertragreichsten Obstes zu verbessern — wie
dies z. B., in den Kreisen Grünberg-Freistadt und in neuester Zeit auch
in Guhrau geschieht. In den Kreisen mit besseren Lehmboden befinden
sich schon alte sehr ertragreiche Obstanlagen, wie z. B. im Kreise
Schweidnitz, Nimptsch, Münsterberg, Grottkau, Strehlen und Trebnitz,
Allerdings gehen die Bestrebungen zur Hebung des Obstbaues in
vielen Kreisen von Schlesien meistens nur von einzelnen Personen aus,
welche dieser Cultur besonderes Interesse entgegenbringen.
Die in neuerer Zeit entstandenen Gartenbau-Vereine, vor Allem
unsere Section für Obst- und Gartenbau und der Provinzial-Verband
Schlesischer Gartenbau-Vereine tragen sehr viel zur Förderung des Obst-
und Gartenbaues bei. Auch hat sich die Anstellung eines Wanderlehr-
Gärtners in Liegnitz durch den Herrn Minister der Landwirthschaft sehr
bewährt, Es ist daher wünschenswerth, dass wenigstens für jeden Re-
gierungs - Bezirk ein solcher Mann angestellt würde, welcher in jedem
Kreise alljährlich populäre Vorträge hält über die Baumpflanzung und
Baumpflege, das Veredeln und Verschneiden der Bäume etc. mit prak-
tischen Ausführungen unter Zuziehung von Vertretern des Kreises, der
Kreisstadt und der grösseren Besitzer von Obstanlagen und einiger sach-
kundiger Lehrer. Zu den Vorträgen ist am geeignetsten das Winter-
halbjahr.
Erfahrungsmässig gedeiht selten eine Obstbaumpflanzung ohne Pflege
und ist es sehr natürlich, dass dieselben dann nicht genügend rentiren.
Wenigstens alle 5 Jahre müsste in jedem Kreise eine Obst- (und Gemüse-)
Ausstellung stattfinden, auf welcher durch Prämien das Interesse für
diese Cultur immer weiter geweckt wird. Wie ich schon in meiner
für Schulen in Placatform herausgegebenen „kurzen Anleitung zur
erfolgreichen Pflanzung und Pflege von Obstbäumen‘ ge-
sagt habe, ist zu einem gedeihlichen Fortkommen von Obstbäumen im
Allgemeinen ein trockener, humusreicher, dabei warmer, mässig feuchter
und tiefgründiger Boden nothwendig. Wenn diese Bodenbeschaffenheit
fehlt, so muss sie durch Ausheben von sehr grossen und tiefen Löchern
von 1 bis 2 m Weite im Quadrat bis 80 cm und 1 em Tiefe und Aus-
füllung derselben mit lehmhaltigem, gutem, humusreichem Boden ersetzt
werden, weil nur dadurch das Wachsthum, die Lebensdauer und Ertrags-
fähigkeit der Obstbaumpflanzungen gewährleistet werden kann.
Die Laubholzbäume sind überall da zu pflanzen, wo die Obst-
bäume nicht gedeihen, noch genügend Früchte tragen oder beschädigt
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 123
werden würden und der Zweck der Pflanzung hauptsächlich in dem zu
erzielenden Schatten besteht. Dies findet meistens statt auf öffentlichen
Strassen und Plätzen innerhalb der Ortslagen und in den Wäldern oder
bei steinigem, unfruchtbarem, kaltem Boden im Gebirge und in Industrie-
Gegenden, wo wegen der durch Rauch und sonstige Einflüsse ver-
dorbenen Luft ein Gedeihen und Früchtetragen des Obstbaumes un-
möglich ist.
Die rheinische Anleitung selbst ist in folgenden Haupt-
theilen beschrieben:
I. Der Zweck der Strassenbäume in 2 Paragraphen. Der-
selbe deckt sich mit den in meinem Vortrage vom 7. Februar 1883
angegebenen Gründen zur Verkehrssicherheit.
II. Die Wahl der Baumgattung ist in 4 Paragraphen erörtert
und der allerdings sehr entscheidende Grund vorangestellt, dass die
Wahl der Baumgattung stets von dem voraussichtlichen Gedeihen
derselben abhängen muss — und ich füge hinzu, dass auch der Zweck
entscheidend sein muss, doch weise ich nochmals auf meine im Eingange
hervorgehobene Bevorzugung des Obstbaumes hin:
A. Wenn der zu bepflanzende Boden auch nicht immer die
nöthige Beschaffenheit hat, so müssen die Baumlöcher mit humus-
reichem Lehmboden ausgefüllt werden.
B. In einer schlechten Lage im Gebirge, oder in einem vielen Frösten
ausgesetzten Thale und auf einem sehr beschatteten Terrain, so-
wie wo viel Nebelbildungen vorhanden sind, werden Obstbäume
schlechter gedeihen und sind dort besser Waldbäume zu pflanzen,
C. Bei rauhem Klima ist die Anpflanzung von Obstbäumen auch
nur mit Vorsicht zu bewirken und empfiehlt es sich hierbei nach
dem Gedeihen der Obstsorten auf dem Nachbarlande einer Strasse
zu richten.
Auf hochgelegenen Strassen mit trockenem lehmhaltigem Boden
empfiehlt es sich, Kirschen und mit Vorsicht auch Birnen zu pflanzen.
In tiefen Lagen mit fettem thonigem Lehmboden ist der Apfel und
die Pflaume zu empfehlen.
Laut $ 4 ist die Wahl der Baumgattung von ihrer Zweck-
mässigkeit. abhängig gemacht.
Dazu bemerke ich, dass wegen ihres guten Wurzel-Vermögens
folgende Bäume den Vorzug verdienen:
Süsskirsche, Birnen, Nussbäume, Linden, Ahorn, Akazien und
Pappeln.
In den Ortschaften oder Vorstädten empfiehlt es sich, nur Schatten-
bäume zu pflanzen, was auch in meinem Vortrage empfohlen ist.
Die Verwerthung des Obstes zu Conserven, zu Most- oder in Kraut-
fabriken fehlt in Schlesien noch fast gänzlich, weil durchaus
124 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
noch keine Ueberproduction vorhanden ist und der Rohgenuss kaum
gedeckt wird. Durch intensiveren Obstanbau und dessen Verwerthung
in transportfähigen Conserven und als zweckmässig zubereitetes Fabrikat
würden dem Lande grosse Summen Geldes erhalten werden.
Aus diesem Grunde gebührt auch dem Öbstanbau unter allen
Umständen der Vorzug vor dem Pflanzen von Waldbäumen.
Die in der Anleitung empfohlene Vorsicht bei der Wahl zu
blätterreicher schattiger Bäume kann durch eine weitläufigere Pflanzung
der einzelnen Bäume begegnet werden — dann wird immer noch eine
gehörige Abtrocknung der Strasse möglich sein.
Es ist richtig, dass auf schmalen Strassen nicht Bäume mit grossen
breiten Kronen und von den Obstbäumen auch mehr die hochstrebenden
Sorten zu bevorzugen sind.
Dass die Waldbäume mit ihrer Krone und Wurzelentwickelung
den anliegenden Ländereien nicht beträchtlichen Schaden zufügen dürfen,
ist wohl auch richtig.
Zu $5. Bezüglich der Lebensbedingungen der einzelnen
Baumgattungen wird Folgendes empfohlen:
A. Obstbäume.
a. Dass der Apfel mit den besten nahrhaftesten Boden verlangt,
aber auch selbst noch mit lettigem Boden vorlieb nimmt, kann
auch ich bestätigen. |
Auf meine den Gartenbau-Vereinen Schlesiens gemachten Vor-
schläge hin, sind von diesen Vereinen zur Anpflanzung an Strassen
nur 10 Apfelsorten als am zweckmässigsten zu pflanzen empfohlen
und zwar heissen dieselben, z, Th. abweichend von den für die
Rheinprovinz empfohlenen, wie folgt:
1. Winter-Gold-Parmäne, 6. Weisser Winter-Taffet-Apfel,
2. Grosse Kasseler Reinette, 7. Baumann’s Reinette,
3. Grosser rheinischer Bohnapfel, 8. Fraa’s Sommer-Calvill,
4. Parkers Pepping, 9. Landsberger Reinette,
d. Purpurrother Cusinot, 10. Boiken-Apfel.
b. Die Birne gedeiht noch auf leichterem Boden als der Apfel.
Mostobst wird in Schlesien an Strassen wohl kaum gebaut.
Für Schlesien sind, wie oben gesagt, nur folgende 10 Birnen-
sorten zur Strassenbepflanzung empfohlen:
1. Rothe Bergambotte, 6. Punktirter Sommerdorn,
2. Liege’s Winter-Butterbirne, 7. Salzburger Birne,
3. Gute Graue, 8. Gute Louise von Avranches,
4. Prinzessin Marianne, 9. Wildling von Motte,
9. Leipziger Rettigbirne, 10. Colomas-Herbst-Butterbirne.
c. Der Zwetschen- oder Pflaumenbaum ist auch in Schlesien
schon vielfach mit Vortheil an den Strassen angepflanzt und
II. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 125
wegen seiner kurzen Lebensdauer auch in der Rheinprovinz wie
in Schlesien z. Th. zur Zwischenpflanzung empfohlen.
Die zu geringe Pflege dieser Bäume, namentlich das zu ge-
ringe Aus- und Zurückschneiden der jungen Pflaumenbäume ist
Schuld an dem zu geringen Wachsthum des Stammes, zu kleiner
und zu dichter Kronen, sowie an der geringeren Ertragsfähigkeit.
d. Der Kirschbaum ist durch die Beobachtungen in der Rhein-
provinz fast für jeden Boden empfohlen. Das kann man in
Schlesien nicht so ohne Weiteres thun, sondern es gedeiht hier
dieser Baum meist nur in leichterem Lehm- und Sandboden —
keinesfalls aber auf lettigem, zu nassem Boden, ebensowenig an
See’n, Flussufern, Teichen und in engen Thälern, wo durch die
häufigere Nebelbildung das Wachsthum der Bäume und die Frucht-
bildung beeinträchtigt wird.
e. Der Wallnussbaum ist in Schlesien nur mit Vortheil in ge-
schützten Lagen bei lockerem, trockenem Boden bisher gebaut,
doch ist die empfohlene Entfernung von 15 m wegen der ge-
ringeren Entwickelung an den Strassen zu gross und sind 12 m
entsprechend.
Auch in Schlesien ist hier eine Zwischenpflanzung von
Pflaumen ausgeführt und empfehlenswerth.
f. Die edle Kastanie ist in Schlesien wohl nur selten an Strassen
angepflanzt, weil sie nicht rentabel genug ist.
B. Waldbäume.,
In der Rheinischen Anleitung sind zur Pflanzung an Strassen
empfohlen:
a. Als Zierbäume
in der Nähe von Ortschaften wegen Schattenerzielung die Lindenarten,
die Rosskastanien und die Platanen.
b. Als Nutzholzbäume
die Ahornarten, Eichenarten, Buche, Akazie, Gleditschie, drei Arten
Hickory, Birke, Eberesche, Mehlbeerbäume, Schwarzerle und selbst
Nadelhölzer in den Wäldern.
c. Als Wildbäume
mit weitgehenden Wurzeln und starken Kronen da, wo kein werthvolles
Nachbarland liegt: die gemeine Esche, die Ulme und 4 Pappel-Arten.
Eine solche Vielseitigkeit in der Benutzung von Zierbäumen und
anderen Schattenbäumen zur Chaussee-Bepflanzung hat in Schlesien noch
nicht stattgefunden, sondern sind bei der Wahl der Wildbäume in den
meisten Fällen nur die grössere Billigkeit der Bäume bei der Beschaffung
maassgebend gewesen und haben sich die Strassen-Verwaltungen mit den
7 Arten: Eschen, Ahorn, Ulmen, Linden, Kastanien und z. Th. Eichen
und Ebereschen zu helfen gesucht.
126 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Es muss jedoch zugegeben werden, dass es sich wohl empfiehlt, in
der Nähe grösserer Städte auch edlere Schattenbäume zu pflanzen wegen
des ästhetischen Eindruckes. Nur ist auch hier die Beschädigung
solcher Bäume eine grössere und müssen mehr Schutzvorrichtungen um
dieselben getroffen werden.
Il. Ausführung der Pflanzung.
$ 6. Die Pflanzzeit ist wie am Rhein, so auch in Schlesien im
Herbst, als die zweckmässigste, ausprobirt worden. Nur da, wo Hoch-
wasser-Ueberschwemmungen zu befürchten sind, ist die Frühjahrs-Pflan-
zung zuzugestehen.
$ 7. Das Entfernen der Blätter von den Bäumen muss vor dem
Ausheben der Bäume in der Baumschule erfolgen, um einer Verdunstung
des Saftes vorzubeugen, und ist es richtig, dass Bäume, welche aus
Baumschulen mit Blättern geliefert werden, zurückzuweisen sind, weil
sie nicht fortwachsen würden.
$ 8 bis 16. Die in der Rheinischen Anleitung gegebenen Vor-
schriften über die Eigenschaft und die Behandlung der zu
pflanzenden Bäume entsprechen meistens den durch den Herrn Landes-
Baurath von Schlesien für die Chaussee-Aufseher gegebenen Anweisungen.
Iv. Pflegen der, Bäume.
In den $$ 17 bis 24 sind die hierbei vorzunehmenden Arbeiten be-
schrieben, welche im Allgemeinen den unsrigen entsprechen, nur ist in
Schlesien für die Obstbäume an Strassen der Kelchschnitt mehr durch-
geführt, weil er zweckmässiger für den Fruchtansatz und für die Ab-
erntung ist — und weil die meisten Obstarten sich nicht als Pyramiden
erziehen lassen. Der Kalk- und Dünger-Anstrich der Obstbäume im
Herbste wird auch am Rhein mit grosser Sorgfalt behandelt.
V. Baumschnitt.
In den $$ 25 bis 33 ist der Schnitt als Pyramiden-Baum sowohl
für Obst- wie für Waldbäume empfohlen, doch kann ich dem nicht zu-
stimmen, und muss den Pyramidenschnitt nur für Waldbäume gutheissen
aus den oben angegebenen Gründen. Ausnahmsweise können Birn- und
Nussbäume, welche schon luftige Pyramiden von selbst bauen, in solcher
Form gezogen werden.
Nur in den ersten 3 bis 5 Jahren ist ein Schnitt zur Kronenbildung
und zur Stärke des Stammes erforderlich. Es gehört ein besonderes
Verständniss und Geschicklichkeit dazu, den Baumschnitt richtig und so
zu machen, dass man es dem Baume nicht ansieht, wo der überflüssige
Ast oder Zweig weggekommen ist. Unverständige Gärtner und Arbeiter
können hierbei ungeheueren Schaden anrichten, so dass die ganze Krone
verdorben wird. Dann ist es besser, die Bäume ausser im Frühjahr bei
der ersten Pflanzung, später lieber garnicht zurückzuschneiden.
II. . Naturwissenschaftliche Abtheilung. 127
Ueber den Baumschnitt an Strassenbäumen spricht sich der Herr
Bau-Inspeetor Parisius von Hannover in seiner Schrift von 1871 in
folgender Weise aus:
„Bekanntlich muss das Obst an den Strassen sämmtlich gepflückt
werden und zwar im Interesse der Bäume wie der Käufer, indem weder
die Bäume durch Schütteln und Schlagen beschädigt werden sollen, noch
auf das Obst, das durch das Fallen auf die harte Steinbahn verletzt wird,
nutzbar ist. Wenn daher auch die Bäume in Rücksicht auf den Ver-
kehr eine gewisse Höhe haben müssen, so dürfen dieselben doch nicht
zu hoch sein, und müssen immer mit einer gewissen Bequemlichkeit
bestiegen werden können. Das Obst an einem zu hohen Baume will
Niemand gern kaufen, und sässen auch etliche Wispel darauf. Diesen
Vortheil bieten die kelchartigen Kronen. Was soll überhaupt bei Obst-
bäumen der hohe Stamm? Bei Waldbäumen soll allerdings der Stamm
den Ertrag bringen, bei Obstbäumen aber nur die Krone.“
Auch bei den Strassenpflanzungen in Schlesien hat sich für den
Obstbaum die Erziehung der kelchartigen Krone als die zweckmässigste
bewährt. Für Waldbäume dagegen und für Birnen und Nussbäume mag
immerhin die Bildung von Pyramiden zuzulassen sein.
In der Rheinischen Anleitung wird eine sehr grosse Sorgfalt für die
nothwendigen Arbeiten bei der Baumpflege und in der Vertilgung der
Feinde der Bäume und ihrer Früchte vorgeschrieben. Diese Vorschriften
sind auch für Schlesien sehr nachahmungswerth, Bei uns in Schlesien
werden nur in seltenen Fällen so viel Mühe und Kosten auf die Baum-
pflanzung und Pflege verwendet, man ist bisher mehr summarisch und
mit den einfachsten Mitteln bei der Baumpflege vorgegangen. Eine
grössere Sorgfalt bei Entfernung des Ungeziefers und zweckmässigere
Anstalten bei der Pflanzung und Pflege der Bäume werden mit Sicher-
heit reichlichere Obsterträge herbeiführen helfen.
Zum Schluss gestatten mir die hochgeehrten Herren daher noch die
Mittheilung der Obst-Erträge aus 16 Kreisen der Provinz Schlesien, da-
mit sie daraus den Stand des Obstbaues ersehen können,
Ich habe mir von den Kreisverwaltungen die Erlaubniss erbeten,
diese Resultate veröffentlichen zu dürfen und hoffe ich, dass durch die
hohen Erträge einzelner Kreise die Verwaltungen anderer Kreise viel-
leicht auch zur Hebung der Obsteultur mehr ermuntert werden.
Danach sind in 16 Kreisen der Provinz Schlesien im Jahre 1891
Obst-Erträge eingekommen in Summa 62984,50 Mark, mithin für einen
Kreis im Durchschnitt nahezu 4000 Mark. Die höchsten Erträge haben
jedoch nur die 7 Kreise gehabt:
r. Braten 11 540 Mark, 5. Schweidnitz ... 4392 Mark,
ZN Sttehled IRA IBTEUUL 6 Pinrebaum vn... 830 1 F=
3. Nimptseh..... 8678 = 72 Irebiuia u) . BIST FIR.
Ohlau. 2.2. 7 400
128 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Zusammenstellung
der in den Jahren 1890 und 1891 auf den Provinzial- und Kreis-Chausseen
in nachstehenden Kreisen aufgekommenen Einnahmen von der Kirschen-
und Hartobst-Nutzung in der Landes-Bauinspection Schweidnitz.
Für Kirschen-Obst
Für Hartobst
= K r:e:31.8 im Jahre im Jahre
© 1890 1891 1890 1891
=
= M ı M M | NM
1 |Schweidnitz
a. Provinzial-Chausseen.| 2 409,00) 2 026,00] 2 582,00) -2 270,00
b. Kreis-Chausseen . - = — 96,00
2 |Reichenbach
a. Provinzial-Chausseen.| 3818,00) 1336,00] 213,00 624,00
b. Kreis-Chausseen ... .| 873,00) 1 035,00 30,10 11,00
3 |Frankenstein
a. Provinzial-Chausseen.] 1 009,00/ 1 180,001 821,00 536,00
b. Kreis-Chausseen . . .| 2 328,00) 2 059,00 90,00 46,00
4 |Nimptsch
a. Provinzial-Chausseen.| 1 180,00!) 1 193,00] 1 271,00) 3396,00
b. Kreis-Chausseen „.. .1 2132,00) 3 306,00] 1 092,00 233,00
5 (Jauer
a. Provinzial-Chausseen.| 5839,00) 1 600,001 8360,00 —
b. Kreis-Chausseen . . .! 230,00 370001] 130,00 75,00
6 |Liegnitz
a. Provinzial-Chausseen.| 587,00 747,00) 300,00 350,00
b. Kreis-Chausseen .. . am = - Fe
7? \Lüben
a. Provinzial-Chausseen. — 21,50] — 447,00
b. Kreis-Chausseen . . . — — —— —
8 |Striegau
a. und b. Provinzial-
und Kreis-Chausseen zu-
SAMMEN. „ nu. se in a ge 2 316,00) 3 033,00| 476,00 897,00
Summa [14 471,0017 906,50] 7865,10] 9 991,00
Also pro 1890: 22 336,10 Mk. und pro 1891: 27 897,50 Mk.
Schweidnitz, den 1. März 1892.
Sutter, Landes-Bauinspector,
*) Diese 1600 Mk. in Colonne 2 wurden von einem Generalpächter zusammen
für Kirschen und Kernobst pro 1891 gezahlt.
*#) Die Obstnutzung ist noch nicht ertragsfähig.
ll. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 129
Zusammenstellung
der
im Jahre 1891 auf den Provinzial-Chausseen der Kreise Breslau, Oels,
Trebnitz, Neumarkt, Militsch, Ohlau und Strehlen aufgekommenen wirk-
lichen Einnahmen von der Kirschen- und Hartobst-Nutzung in der Landes-
Bauinspection Breslau.
Für das
z Kirschen- >
ie Kırı si s Obst Hartobst Bemerkungen.
7 MM
1 |Stadtkreis Breslau
Provinzial-Chausseen . — 179,00| sehr hoch.
2 |Landkreis Breslau
a. Provinzial-Chausseen| 4 300,00) 7 139,00
b. Kreis-Chausseen .. — 101,00
3 [Oels
a. Provinzial-Chausseen|]| 142,001 253,00
Mittel-Ernte.
b. Kreis-Chausseen . .| 354,00) 478,00 | Fa Er
4 I Trebnitz
a. Provinzial-Chausseen] 1 314,00 1 130,00])um die Hälfte niedriger
b. Kreis-Chausseen . .| 1219,00) 212,00|\geg. die früheren Jahre
5 |Neumarkt
Provinzial-Chausseen .| 468,00) 399,00] gute Mittel-Ernte.
6 | Militsch
Provinzial-Chausseen . 693,00 71:00
7 |Ohlau
Provinzial- und Kreis-
Chausseen ....... 9 890,00) 1550,00
8 IStrehlen
Provinzial- und Kreis-
Chausseen. ı...-..... 3 140,00 95,00
Summal23 480,00, 11 607,00
Daher in Summa: 35087 Mark.
Breslau, den 11. August 1891.
Sutter,
Landes-Bauinspecior.
Hieran knüpfte sich ein längerer Meinungsaustausch, welcher be-
sonders die geeignetste Zeit für Verpflegung betraf.
Herr Schlossgärtner Bank in Heidewilxen sandte einen Bericht
über den Erfolg des Anbaues der im Frübjahr 1891 von der Section
zur Prüfung ihres Werthes ausgegebenen Sämereien.
e% - ’9
130 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Herr Baumschulbesitzer v. Drabizius überwies der Section den
Betrag von 50 Mark von dem Ueberschuss des im Herbst 1891
veranstalteten Obstmarktes, wofür ihm der Dank der Section aus-
gesprochen wurde.
Herr Handelsgärtnereibesitzer Franke legte wieder einige blühende
Orchideen vor: Cypripedium Borelli, Catlleya Harrisonii, Cymbidium ebur-
neum u. &.
In der 4. Sitzung am 9. Mai sprach Herr Kunst- und Handels-
särtner Nagel über Rosen-Treiberei, welche er durch Vorzeigung einiger
Topfrosen erläuterte, die er erst im vergangenen Jahre im Topfe ver-
edelt hatte, und welche zur Zeit mit Blüthen reichlich besetzt waren.
Hieran schloss sieh wieder eine Vorführung frischer Blüthen. Herr
Schütze legte prächtige Blüthenbüsche von Akebia pinnata, Herr Franke
eine schöne Sammlung von Orchideen, von Cattleya Mossili, Schroederi,
Gongora alba, Bifrenaria Harrisoni, sowie eine grosse Zusammenstellung
von Primula Auricula und Pr. veris vor.
In der 5. Sitzung am 25. Juli wurde die Stiftung von 3 Ehren-
preisen für die Gartenbau- und Obstausstellung beschlossen. Herr
Franke legte schöne Exemplare von Campanula pyramidalis alba vor.
In der 6. Sitzung am 5. September stellte der 2. Secretair
diesjährige Rosenstecklinge in kleinen Töpfen vor, die bereits fest-
gewurzelt waren und diesjährige Knollenbegonien in kräftigen Exemplaren.
In der 7. Sitzung am 10, October hielt Herr Prof. Dr. Prantl
einen Vortrag über seine Reiseerinnerungen aus Ligurien, die er gelegentlich
seiner Theilnahme an dem Congress der Botaniker in Genua zur Zeit
der Columbusfeier daselbst gesammelt hatte. Eingehend schilderte er die
üppige Vegetation der Gärten, welche die ursprüngliche Pflanzendecke
fast ganz verdrängt hat, eine grosse Anzahl von Photographien er-
läuterten den Vortrag. Die ursprüngliche Flora derligurischen Küste wurde
durch ein schönes Herbar vorgeführt, welches Herr Prof. Dr. Penzig
in Genua als Geschenk für die Botaniker des ÜCongresses zusammen-
gestellt hatte.
Am Schluss der Sitzung zeigte noch der 2. Secretair abgeschnittene,
2 m hohe Triebe von Gymnothrix latifolia, kräftige Stengel von Cyperus
papyrus und verschiedene buntblättrige Canna-Arten vor, worunter be-
sonders die Sorte Senator Millard zu erwähnen war.
In der 8. Sitzung am 14. November hielt Herr Privatdocent
Dr. Rosen einen Vortrag über den Wurzelfilz der Pflanzen, den er
durch Zeichnungen und Topfpflanzen erläuterte.
il. Naturwissenschaftliche Abtheilung. 131
Herr Schütze berichtete über die Chrysanthemum - Ausstellung
in Liegnitz. Er bezeichnet die Ausstellung als eine wohlgelungene.
Der grosse Saal des Schiesshauses war dem Publikum als Erfrischungs-
raum überlassen und mit reichen Wandausschmückungen versehen. An
ihn schloss sich links unmittelbar die eigentliche Ausstellungshalle, ein
fast 1000 qm weiter Raum, der von geöltem Baumwollenstoff gedeckt
war, welcher helles Lieht durchlässt. An diese Halle schloss sich die
Längshalle für Bindereien und abgeschnittene Blumen, am Ende ab-
geschlossen durch ein Halbrund, in welchem zwischen decorativen Blatt-
pflanzen, Musa und Farne, die Kaiserbüste hervortrat. Das Ganze bildete
einen farbenprächtigen Blüthenteppich, der Abends durch Gasflammen
taghell erleuchtet wurde. Wenn auch die Sammlungen der verschieden-
artigsten Chrysanthemum-Sorten nicht blos der Hauptsache, sondern auch
der Fülle nach den Kern der Ausstellung bildeten, so war doch durch
Unterbrechung mit anderweitigen Decorationspflanzen in vorzüglicher
Güte und Schönheit für Mannichfaltigkeit gesorgt, wobei die herzog-
liche Gärtnerei in Sagan (hervorzuheben besonders einige blühende Stan-
hopea), die Schlossgärtnerei von Brechelshof (prachtvolle Cyklamen), die
Stadtgärtnerei in Liegnitz (Musaceen), Lorenz in Bunzlau (Cycadeen),
Sattler und Bethge (Knollenbegonien und Coleusformen), Ziegert und
Wirth in Dresden (harte Palmen, darunter eine bunte Latania) u. A,
hervorragend betheiligt waren. Die besten Chrysanthemum hatte Götze
und Hampars in Hamburg gestellt, welche den 1. Preis, eine grosse
silberne Staatsmedaille erhielten, Reid und Bornemann hatten eine
Sammlung abgeschnittener Chrysanthemumblüthen der hervorragendsten
und neueusten Sorten eingesandt, wofür ihnen eine kleine silberne
Staatsmedaille zufiel. Ausser vielen anderen mit Preisen gekrönten
Chrysanthemum-Sortiments sind auch die,. welche die Stadtgärtnerei
Liegnitz gestellt hatte, zu erwähnen. Der Königliche Gartenbau-
Director Haupt-Brieg hatte stattliche Exemplare von Cattleya autumnalis
geliefert, welchen als Preis eine kleine silberne Staatsmedaille zuerkannt
wurde. Kutsche in Liegnitz erhielt eine kleine silberne Staatsmedaille
für Binderei und auch sonst war die Binderei u. a. durch Handelsgärtner
Schmidt gut vertreten. Das Originelle der Ausstellung lag nicht zum
kleinsten "Theile auch in der geschickten Benutzung des Raumes, der
unmittelbaren Verbindung des Ausstellungsraumes mit dem Erfriehungs-
raum, wodurch dem Publikum ein längeres Verweilen und wiederholtes
Besichtigen der Ausstellungsgegenstände erleichtert wurde, der Ueber-
dachung des Gartens, dessen Bäume natürlich erhalten waren und mit
ihren Stämmen das Dach zu stützen schienen, sowie in der Vorführung
einer humoristischen japanischen Restauration, in welcher durch japanische
Bedienung das schäumende Nationalgetränk Yum-Yum verabreicht wurde
und an dessen Abschluss sich der Ausblick auf den Kaiserlich japanischen
132 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Chrysanthemum - Garten bot, dessen Vordergrund natürliche Chrysan-
themumstöcke bildeten, die durch geschickte Zusammenfügung eine per-
spectivische Wirkung hervorbrachten und sich dem vom Maler Tischer
hergestellten Hintergrunde dioramenhaft anschlossen.
In der 9. Sitzung am 12. December hielt Herr Professor
Dr. Stoll aus Proskau einen Vortrag über Obstweine und Bereitung
derselben. Zu derselben hatte der Vortragende nicht allein die ver-
schiedensteu Obstweine als Kostproben den Anwesenden zur Verfügung
gestellt, sondern auch verschiedene Apparate zur Herstellung und
Klärung des Weines, sowie mikroskopische Präparate der Weinhefe,
aufgestellt.
schlesische Gesellschait für vaterländische Gultur.
2% 20
70. III.
Jahresbericht. Historisch - staatswissenschaftliche
1892. Abtheilung.
ERT NEERTEERETN Ufe 5 ee ee
Sitzungen der Section für Staats- und Rechtswissenschaft
im Jahre 1892,
Die erste Sitzung am 28. Januar eröffnete der Vorsitzende
Professor Dr. Elster mit dem Hinweis auf den grossen Verlust, den die
Section durch den Tod des Commerzienraths Rosenbaum, eines ihrer
Gründer und eifrigsten Mitglieder, erlitten habe.
Bei der darauf folgenden Neuwahl des Vorstandes wurde derselbe
für die nächste zweijährige Periode durch Acclamation wiedergewählt
und an Stelle des Senatspräsidenten Rocholl Staatsanwalt Dr. jur. Keil
hinzugewählt, so dass der Vorstand jetzt aus den Herren Professor
Dr. Elster, Ober-Regierungsrath a. D. Schmidt, Geh. Commerzienrath
Schöller und Staatsanwalt Dr. Keil besteht.
Nachdem dann der Vorsitzende einige Vorschläge bezüglich der
Neueinrichtung in der Art der Vorträge der Versammlung unterbreitet
hatte, die dahin gingen, dass mehr als bisher kleinere Mittheilungen
mit daran sich knüpfenden Besprechungen auf die Tagesordnung gelangen
sollten, ergriff Staatsanwalt Dr. Keil das Wort zu dem angekündigten
Vortrag
Veber Schwierigkeiten bei dem Inkrafttreten der Landgemeinde-
Ordnung.
Der Vortragende präeisirte seinen Standpunkt dahin, dass er nicht
über Schwierigkeiten technischer Art, welche sich bei der Einführung
der neuen Landgemeinde - Ordnung ergeben würden, sprechen wolle,
sondern über solche, die im Gesetze selbst lägen, und begründete hier-
auf zunächst die Nothwendigkeit einer Neuordnung des Landgemeinde-
wesens. Die Absicht der Regierung, derselben als Gesetz einen absoluten
Charakter zu geben, wurde durch den Widerspruch im Abgeordneten-
hause unmöglich; um nun aber doch eine Neugestaltung zu erreichen,
LE. 1
9 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
hat man dem Gesetz statt des absoluten Charakters einen subsidiären
aufgedrückt. Der Wunsch, die bestehenden Rechte und Gebräuche
möglichst zu schonen, führte dazu, publieistischen Rechten, welche früher
durch Gemeindebeschluss beseitigt werden konnten, die Unabänderlich-
keit zuzugestehen. Schon deshalb bringt die neue Landgemeinde-Ordnung
keine durchgreifende Reform. Des weiteren ist die Steuerreform nicht
durchgeführt worden. Man hat den Gemeinden die Möglichkeit gegeben,
die alten Systeme und Maassstäbe, die vielfach höchst complieirter und
dabei auch ungerechter Natur sind, um berechtigte Eigenthümlichkeiten
nicht zu beseitigen, beizubehalten und so vorläufig einen Dualismus im
Steuersystem bestehen lassen. Man ist schliesslich von der consequenten
Einführung des Gedankens abgekommen, die kleinen leistungsunfähigen
Einzelgemeinden durch Zusammenfügen zu grösseren Verbänden zu lebens-
fähigen Organismen zu gestalten, und hat im Gegensatz zum Westen,
wo die Sammtgemeinden seit der französischen Herrschaft in Wirksam-
keit sind, im Osten nur Zweckverbände geschaffen, zu denen Communen
für bestimmte Zwecke, z. B. Wegebau, Deichbau, Schullasten u. a. zu-
sammentreten. Da es nun leicht vorkommt, dass eine Gemeinde für
diesen Zweck mit dieser Gemeinde, für jenen Zweck mit jener Gemeinde
identische Interessen hat, so schwächt dieses Auseinanderzerren das
communale Gefühl. Ein weiterer Mangel, der diese Zweckverbände
nicht recht lebensfähig machen wird, liegt darin, dass ihnen nicht ohne
weiteres die Rechte einer juristischen Person gegeben sind; der Kreis-
ausschuss hat zudem im wesentlichen ihre Organisation in der Hand.
Besonders erschwert durch ein umständliches Verfahren ist die Ein-
gemeindung. Hieraus ist ersichtlich, dass eine Reorganisation im
grossen Stil, wie sie Stein und Hardenberg geplant haben, zur
Unmöglichkeit geworden ist; die Regierung hatte mit einem Schlage
lebensunfähige Gemeinden und Gutsbezirke in grossem Stile unter-
drücken wollen, um Luft für lebensfähigere Neubildungen zu schaffen,
der heftige Widerstand der Rechten im Abgeordnetenhause aber führte
zu einem Compromiss, welcher die ursprüngliche Vorlage wesentlich
verändert. Im Uebrigen ist der Gutsbezirk, dessen Beseitigung von
radicaler Seite gewünscht ward, keineswegs für die Zukunft aus-
sichtslos. Er ist stets die gegebene Form für die Commune, sobald
Arbeiter, Tagelöhner u. s. w. von einem Unternehmer wirthschaftlich
abhängig sind.
Im Anschluss an den Vortrag äusserte sich Ober-Regierungsrath a. D.
Schmidt auf Grund seiner langjährigen Erfahrungen als Landrath in
Uebereinstimmung mit den Ausführungen des Vortragenden. Weiterhin
wurde vor allem auf das Gesetz über den Unterstützungswohnsitz als
einen Krebsschaden für ländliche Verhältnisse hingewiesen,
III. Historisch - staatswissenschaftliche Abtheilung. 3
Den zweiten Vortrag
Ueber die Neuordnung der Gewerbe-Inspection in Preussen
eröffnete der Vortragende, Professor Dr. Elster, mit einem kurzen ge-
schichtlichen Rückblick. Die Gewerbe-Inspection wurde im Gesetz vom
Jahre 1853 im $ 11 vorgesehen, demzufolge bei Beschäftigung von
jugendlichen Arbeitern da, wo ein Bedürfniss sich herausstelle, in
Fabriken Fabrik-Inspectoren angestellt werden könnten. In den drei
Regierungsbezirken Aachen, Arnsberg und Düsseldorf wurde auch der
Versuch damit gemacht, allein die Sache schlief allmählich wieder ein.
Als 1869 gelegentlich der Berathung der Gewerbe-Ordnung die Frage
von Neuem angeregt wurde, fiel auch diesmal der Antrag. In dem
Anfang der 70er Jahre wurden in einzelnen Gegenden Fabrik-Inspectoren
eingeführt, z. B. 1872 in Sachsen und in einigen preussischen Pro-
vinzen, aber erst das Arbeiterschutzgesetz von 1878 machte das
Inspectorat für das Reich obligatorisch unter Ueberweisung der Aus-
führung an die Einzelstaaten. Das Gesetz von 1891, welches neue,
wesentlich schärfere Bestimmungen z. B. über die Kinder- und Frauen-
arbeit in den Fabriken u. s. w. enthält, hat auch die Thätigkeit der
Inspeetoren sehr vermehrt und eine Neuregelung der Gewerbe-Inspection,
denn zu einer solchen beginnt sie sich zu entwickeln, erforderlich gemacht.
So hat man vor allem in Preussen eine Neuordnung in Angriff genommen.
Dieselbe wird in etwa drei Jahren abgeschlossen sein. Nach der
preussischen Denkschrift sollen 26 Gewerberäthe als fachkundige Bei-
räthe den Regierungs-Präsidenten zugetheilt werden, unter ihnen stehen
97 Inspectoren und 40 Assistenten, so dass die Zahl der Gewerbe-
Inspectoren insgesammt von 27 (Ende 1891) auf 163 anwachsen wird.
Kein Land der Welt kann sich eines gleichen rühmen. England z. B.
hat 66, Frankreich 90, Oesterreich 24 Inspicienten. Ein weiterer Vorzug
ist ferner auch die grössere Centralisation, welche jetzt geschaffen
worden ist, so dass die Arbeit der Inspectoren unter Anleitung der
Gewerberäthe zweifellos eine intensivere und fruchtbarere werden dürfte,
Sind auch einzelne Bestimmungen der Verbesserung noch fähig, so die
aus finanziellen Rücksichten erlassene Vorschrift, dass mit diesem Amt
auch die Kesselrevision verbunden sein soll, die Neuregelung in ihrer
Gesammtheit ist mit Freude zu begrüssen,
In der zweiten Sitzung am 10. März sprach Geh. Archivrath
Professor Dr. Grünhagen
Ueber die Steuerverhältnisse Schlesiens vor hundert Jahren.
Der Vortragende führte etwa Folgendes aus: Bald nach der Er-
oberung Schlesiens dachte König Friedrich daran, sich von den Schlesiern
Steuern zahlen zu lassen. Als nun aber die Höhe festgestellt werden
sollte, und das preussische Feldkriegscommissariat die schlesischen Stände
1*
4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
nach längeren Verhandlungen schliesslich direct fragte, was sie zu zahlen
schuldig seien, erfolgte prompt die Antwort: nach Ausweis der Privi-
legien gar nichts. Darauf erklärte Friedrich den Ständen, ihrer nicht
weiter zu bedürfen, und ging nun daran, in Schlesien ein neues Steuer-
system auf moderner Grundlage einzurichten mit Berücksichtigung einiger
schon vorhandenen Ansätze.
Der Vortragende gab nun zunächst einen Rückblick über die Steuer-
verhältnisse Schlesiens zu österreichischer Zeit. Nach den alten Wla-
dislaw’schen Privilegien brauchten die Stände ihrem obersten Landes-
herrn nur solche Steuern zu zahlen, die mit ihrer Einwilligung erhoben
wurden. Diese Privilegien bestätigten auch die Habsburger bei ihrer
Besitznahme Schlesiens. König Ferdinand I. war durch seinen Geld-
mangel und durch die Türkennoth gezwungen, die Stände 1527 um eine
Geldhülfe anzugehen. Wegen der Türkengefahr ging man bereitwillig
darauf ein, eine Selbsteinschätzung wurde im ganzen Lande vorgenommen,
ein Jeder gab sein Vermögen liegend und baar selbst an, und als Ge-
sarmmtsumme für Schlesien, „als Indietion“, ergab sich der Betrag von
11 Millionen Thalern. Davon wurden nun gewisse Procente erhoben,
und Ferdinand gab den Ständen einen Revers, dass dies ihren Privilegien
unschädlich sein sollte. Allein der König sah sich in der nächsten Zeit
wiederholt gezwungen, von seinen Ständen eine solche ausserordentliche
direete Steuer zu erbitten, da seine sonstigen Einnahmen nicht genügenden
Ertrag abwarfen, und bald geschah es in immer kürzeren Zwischen-
räumen, von 1570 an jährlich, Bis zum Ende der österreichischen
Herrschaft hat nun der im Jahre 1527 aufgestellte Kataster allen fol-
senden Einschätzungen zur Grundlage gedient. Da jedoch 1527 auch
das mobile Kapital des Einzelnen in Berechnung mit eingezogen worden
war und auch sonst die im Laufe der Zeit eingetretenen Verschiebungen
im Wohlstand nicht weiter berücksichtigt wurden, indem die einmal
angegebene Indietion auf dem Stand wie auf dem Einzelnen fest haften
blieb, so dass viele Grundstücke Nonentia, d. h. zahlungsunfähig wurden,
so musste dadurch naturgemäss die Indietion immer mehr zurückgehen;
1570 z. B. betrug sie nur noch 8, 1649 nur 7'),, 1671 nur noch
6 Millionen Thaler. Die nicht einzutreibenden ,„‚Nonentia“ schwollen
immer mehr an, und diejenigen, die noch zahlen konnten, mussten einen
immer höheren Procentsatz entrichten. Erst im Anfang des 18. Jahr-
hunderts glaubte man auf dem Wege der indirecten Besteuerung, wie
sie Kaiser Ferdinand I. schon geplant hatte, die Staatseinkünfte mehren,
wie auch gleichzeitig den Druck der Besteuerung mindern zu können.
Mit der Einrichtung der Aceise erreichte man jedoch den gewünschten
Zweck nicht, da ein ausgedehntes Schmuggelwesen und die Nothwendig-
keit, das Beamtenpersonal erheblich zu verstärken, die Mehreinnahmen
wieder aufzehrten. Man dachte daher bald daran, zum alten System
III. Historisch-staatswissenschaftliche Abtheilung. 5
zurückzugehen, aber ein neuer Kataster war dazu unbedingt nothwendig.
Für diesen wurde die Ertragsfähigkeit der Güter zu Grunde gelegt. Die
preussischen Waffen unterbrachen die Arbeit. Nach Heimschiekung der
schlesischen Stände richtete nun König Friedrich das Steuersystem in
Schlesien auf märkischem Fusse ein; altpreussische Beamte übernahmen
zunächst die Einführung der Aceise für die ummauerten Städte und der
Contribution für die übrigen Städte und das flache Land. Da der König
bei der Huldigung der Stände auf eine Erhöhung der directen Steuerlast
für alle Zeiten verzichtet hatte, andererseits aber mit der Höhe der ge-
sammten jährlichen Steuersumme sehr unzufrieden war, da er die feste
Ueberzeugung hegte, dass er bei den Zöllen von den Kaufleuten, ganz
besonders aber von den jüdischen, betrogen würde, rief er 1766 eine
Steuerreform ins Leben, die ‚„Regie“. Friedrich gedachte die Reform
aufs humanste einzurichten, die Nahrungsmittel des Armen, Brot und
Schweinefleisch, sollten gar nicht besteuert, die Luxusgegenstände da-
gegen möglichst hoch besteuert werden. Der Franzose Launay wollte
diesen Plan des Königs mit Hilfe von Landsleuten zur Durchführung
bringen. Dies machte die Regie bald im höchsten Maasse unpopulär,
eine Menge von Formalitäten erschwerte die Handhabung, und wenn
auch die Sätze an sich nicht zu hoch waren, so fühlte sich die Menge
doch eben durch die Formalitäten beschwert und glaubte sich zehnmal
mehr besteuert, als es in Wirklichkeit der Fall war. Den Tabak und
Kaffee monopolisirte der König. Der Tabakanbau wurde begünstigt
und nahm bald einen erfreulichen Aufschwung, einen höchst unerfreu-
lichen aber nahm der Kaffeeschmuggel. Um ihn unmöglich zu machen,
bestimmte König Friedrich, dass nur gebrannter Kaffee in gelötheten
Blechbüchsen gekauft werden dürfte, damit geschmuggelter ungebrannter
Kaffee beim Brennen sich durch seinen Geruch verrätherisch bemerkbar
mache, Besondere Polizeibeamte hatten darauf zu achten und zu diesem
Zwecke sogar die Vollmacht, in die Wohnungen eindringen zu können;
die „Kaffeeriecher“ taufte sie der Volksmund. Die an sich gut ge-
meinten Reformen haben Friedrich dem Grossen aber den besten Theil
seiner Popularität gekostet, und man hoffte vom Thronnachfolger die
Aufhebung der verhassten Regie. König Friedrich Wilhelm I, hatte
sich auch schon vorher in gewisser Weise dazu verpflichtet; die Ab-
schaffung der Regie machte ihn gleich allgemein beliebt; gern hätte
allerdings ein guter Theil seiner besten Beamten das Tabakmonopol ge-
rettet, brachte es doch dem Staate jährlich über eine Million Thaler,
Hatte dadurch der Staat einerseits grosse Steuerausfälle, so sollten auf
der anderen Seite von nun für die Erhöhung der niedrigen Beamten-
gehälter, für Schulen, Kunst und Wissenschaft, für Wegebau viel
grössere Mittel, als der sparsame Friedrich II. hierfür zur Verfügung
gehabt hatte, flüssig gemacht werden, Auch Friedrich Wilhelm hatte
6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
den Ständen gegenüber sein Wort verpfändet, den Kataster nie revidiren
zu lassen, also die directen Steuern nicht zu erhöhen. Ersatz für die
ausgefallenen Einkünfte musste geschafft werden, und so griff man zu
den alten Mitteln zurück, d. h. man besteuerte die nothwendigen Lebens-
mittel der breiten Masse, Brot und Schweinefleisch. Das war eine
grosse Enttäuschung und hatte mancherlei Missstimmung zur Folge; die-
selbe war allerdings nicht so gross, wie man es wohl behauptet hat, da
die Erhebung der Steuern in milden Formen geschah, und es bewahr-
heitete sich auch hier wieder der alte Erfahrungssatz, dass es bei den
indireeten Steuern nicht so sehr auf das Object als auf die Form der
Besteuerung ankommt.
An den Vortrag schloss sich eine längere angeregte Erörterung, an
der sich vornehmlich Staatsanwalt Dr. Keil, Director Dr. Neefe,
Prof. Dr. Sombart und Oberbürgermeister Bender betheiligten.
In der am 31. März abgehaltenen dritten (öffentlichen) Sitzung
hielt der Syndicus der Handelskammer, Dr. W. Eras, einen Vortrag
Ueber Gesellschaften mit beschränkter Haftung.
Nach einer Charakterisirung der verschiedenen, bereits existirenden
Typen von Erwerbsgesellschaften gab er eine Geschichte des vor Kurzem
im Reichstage angenommenen Gesetzes, welches die oben erwähnte neue
Form der Gesellschaft ins Leben ruft. Er führte sodann die wichtigsten
Bestimmungen des Gesetzes auf, um an denselben die Vorzüge und
Mängel des Gesetzes zu zeigen, und kam zu dem Resultat, dass die
beste Lehrmeisterin, die Praxis, auch an diesem Gesetze zeigen werde,
was daran verbesserungsbedürftig sei.
Die vierte Sitzung — die letzte vor den grossen Sommerferien —
fand am 21. April unter zahlreicher Betheiligung statt. In derselben
sprach Herr Staatsanwalt Dr. Keil
Ueber das Termin- und Differenzgeschäft an der Börse.
Der Gedankengang des Redners war kurz folgender: Die Rechts-
wissenschaft steht zur Zeit den wirthschaftlichen Vorgängen an der Börse
schon aus dem Grunde fremd gegenüber, weil der ökonomische Inhalt
der einzelnen Börsengeschäfte sich mit der rechtlichen Form derselben
noch nicht deckt. Besonders ist dies beim Termingeschäft der Fall,
einer besonderen Form des Lieferungskaufs. Gegenstand desselben ist
der Handel mit fungiblen Welthandelsartikeln, die, nach Qualität,
Quantität, Lieferungstermin stereotyp, sogar die Person der Contrahenten
in den Hintergrund treten lassen. Der Terminhandel ist ein zweiseitiges
Creditgeschäft, welches, wenn es legal functionirt, eine ökonomisch
richtige Preisbildung herbeiführt. Wenn die Preise objeetiv von Vor-
rath, Bedarf und Conjunetur, subjeetiv von Angebot und Nachfrage ab-
III. Historisch - staatswissenschaftliche Abtheilung. 7
hängen, so hat die Speculation die Aufgabe, den Vorrath nach Bedarf
örtlich und zeitlich zu vertheilen, die ungünstigen Einflüsse der Con-
junetur abzuschwächen und Mängel der persönlichen Beobachtung zu
eliminiren. Arbeitet die Speculation in ökonomisch richtiger Weise, so
gleicht sie im Interesse des Consumenten und Producenten die Preise
immer mehr aus, wie andererseits der Terminhandel die Grosskaufleute
beim Import und Export von Waaren durch Abstossen des Verwerthungs-
risikos gegen allzu grosse Verluste sichert. Dass die Wirkungen that-
sächlich erzielt sind, geht aus der Abnahme der Preisdifferenzen der
Waare, aus dem Verschwinden der Irrthümer der Speculation über die
künftige Gestaltung des Preises, sowie aus einer günstigen Einwirkung
auf den Verkehr im Locogeschäft hervor. Auswüchse des Termin-
geschäfts, wie eine Verschärfung der Conjunctur, künstliche Preisbildung
durch eine kapitalkräftige Partei sind unleugbar, aber gegenüber dem
Nutzen für den Grosshandel verschwindend. Der geringen Qualität des
Lieferungsgetreides ist der Handelsminister bereits entgegengetreten.
Das Differenzgeschäft zeigi juridisch dieselbe Physiognomie wie der
Terminhandel; ökonomisch hat es eine andere Bedeutung. Es beabsichtigt
nur die Ausgleichung des Vertragspreises mit dem Preise am Stichtage,
kann daher nur secundär und unfreiwillig als Begleiter des Termin-
handels productiv wirken. Die Contrahenten creditiren sich nicht mehr
in Höhe des Werthes der Waare, sondern für den Betrag der ver-
muthlichen Differenz. Eine Statistik des Differenzgeschäfts lässt sich
nicht geben, nur kann vermuthet werden, dass, wenn z. B. in Budapest
nur 12 pCt. der Schlüsse an der Productenbörse durch Uebergabe,
88 pCt. dagegen ohne Dazwischenkunft von Waare erledigt werden, ein
grosser Theil der letzteren Geschäfte von Anfang an als Differenz-
geschäfte beabsichtigt wurden. Anzeichen, dass der Börsenhandel dem
Schadensersatzanspruch gegen den säumigen Contrahenten immer mehr
den Charakter einer abstracten Differenzforderung geben will, sind in
den Bestimmungen der Berliner, Breslauer, Bremer und sonstiger Börsen
zur Genüge vorhanden. Der Rücktritt vom Vertrage ist häufig zu
Gunsten der blossen Differenzzahlung ausgeschlossen. Auch existiren
bereits Liquidationskassen für Kaffee und Zucker in Hamburg und Magde-
burg, welche statutenmässig als Gegencontrahenten der Käufer und Ver-
käufer auftreten und die Differenzen schon vor Eintritt des Kündigungs-
termins reguliren. Als Mittel der Abwehr, um den gerechten Preis der
Waare gegenüber künstlichen Beeinflussungen zu schützen, muss ein
Abschneiden des sachlich falschen Credits und eine corporative Gliede-
rung des Börsenhändlerstandes bezeichnet werden. Die Klaglosstellung
des Differenzgeschäfts, die moralisch gerechtfertigt ist, nützt wenig, da
die Jobber im eigensten Interesse ihre Verpflichtungen an der Börse
erfüllen werden. Börsentechnisch ist ein Verbot der oben charakteri-
8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
sirten Abwickelungsvorschriften bestimmter Liquidationskassen am Platze,
wie ja der Getreidehandel in Berlin ohne eine derartige Bestimmung
florirt. Ferner ist das einseitige Hervorheben der Differenzelausel in
den Sehlussscheinen zu untersagen, und sind Prämiengeschäfte überhaupt
zu verbieten. Da das Privatpublikum weder des Differenz- noch des
Termingeschäftes wirthschaftlich bedarf, so würde eine Klaglosstellung
aller darauf abzielenden Verträge zwischen einem Privatmanne und einem
Börsenhändler einschneidend wirken, wie denn auch der Börsenhändler
nicht mehr als Selbsteontrahent in einem mit einem Privatmanne abge-
schlossenen Commissionsvertrage auftreten dürfte. Ein Börsenregister,
welches nur Kaufleuten, die mit Waaren und Eiffeeten handeln, offen
steht, würde den berufsmässigen Zusammenschluss der Börsenhändler
herbeiführen, dem dann ohne Schaden eine schärfere Controle bei Fest-
stellung der Course ohne Berücksichtigung offenbarer Differenzgeschäfte
im Wege der Selbstverwaltung zu übertragen wäre.
Gegen obige Ausführungen, insbesondere gegen die Möglichkeit, das
Differenzgeschäft ohne Schaden für den effectiven Handel zu beschränken,
sprachen sich die Herren Stadtrath Kopisch und Bankier Holz aus
der Fülle ihrer Erfahrungen aus.
Im Winter-Semester wurden die wissenschaftlichen Sitzungen der
Section am 1. December wieder aufgenommen. Nachdem der Vor-
sitzende, Professor Dr. Elster, zunächst einige geschäftliche Angelegen-
heiten erledigt hatte, ertheilte er Herrn Ober - Regierungsrath a. D.
Schmidt das Wort zu dem Vortrage
Ueber die Arbeiterwohnungsfrage.
Dem Vortrage sei Folgendes entnommen: Seit 1840 haben die
furchtbaren Wohnungszustände in London und den englischen Fabrik-
städten die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Die deutsche
Städtestatistik zeigte, dass dieselbe offene Wunde in unserem Lande
bestehe, und der Verein für Socialpolitik nahm sich der Sache energisch
an in der richtigen Erwägung, dass die Wohnung der Mittelpunkt in
wirthschaftlicher und sittlicher Beziehung sei. In erster Linie müsse
dafür gesorgt werden, dass der Arbeiter sich zu Hause wohl fühle. Nun
herrscht aber die Arbeiterwohnungsnoth, wie Pastor von Bodelschwingh
nachgewiesen hat, in allen Städten, und in seinem Nachweis spielt be-
sonders Breslau eine traurige Rolle. Unter den 77174 bewohnten
Wohnungen daselbst befinden sich 41962, welche nur ein heizbares
Zimmer besitzen, und in diesen wohnt die Hälfte der Bevölkerung; es
kommen ferner auf eine Wohnung mit einem heizbaren Zimmer durch-
schnittlich 3,7 Einwohner, Es haben von 1000 Familien 600 nur ein
einziges heizbares Zimmer zur Verfügung. Wohnungen mit einer Mieths-
stufe bis 100 Mark giebt es 8513, bis zu 200 Mark deren 35 018. Die
II. Historisch - staatswissenschaftliche Abtheilung. 9
Noth ist hier also nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Der Bedarf
an Mittelwohnungen wird immer gedeckt werden, da die Speculation
dann sofort eintritt, wenn ein Mangel sich fühlbar macht; bei den
Arbeiterwohnungen trifft dies aus verschiedenen Gründen nicht zu. Es
kann aber auch der Arbeiter für seine Miethe, welche zudem vielfach
'/, seines Einkommens wegnimmt, nicht mehr geben, andererseits ist
auch der Sinn für eine bessere Wohnung dem Arbeiter vielfach ver-
loren gegangen, und die herrschende Genusssucht macht es sehr schwer,
dagegen anzukämpfen. Trotz alledem darf dies nicht zur Entmuthigung
führen; denn ganz abgesehen von der sittlichen Pflicht eines Jeden, der
mit äusseren Gütern gesegnet ist, seinen nothleidenden Mitmenschen,
soviel an seinem Theile ist, zu helfen, verspricht die Herstellung besserer
Arbeiterwohnungen die Erweckung des Antriebs in der Arbeiter-
bevölkerung solche zu erlangen, und dies hat die weitere Folge, dass
die schlechteren Arbeiterwohnungen im verstärkten Maasse zum Angebot
kommen und dadurch billiger werden.
Die Lösung der Arbeiterwohnungsfrage wird daher bedingt sein:
1. durch Verringerung der Wohnungsmiethe,
2. durch Verbesserung der Wohnung trotz des billigeren Preises,
3. durch Verbesserung der wirthschaftlichen Lage des Arbeiters,
4. durch eine grössereW erthschätzung der Wohnung seitens desArbeiters.
Der Vortragende führte nun an einer Reihe von Beispielen die
mannigfaltigen Bestrebungen vor, mit welchen man der Arbeiterwohnungs-
noth abzuhelfen einen Anfang gemacht hat. Vielfach sind die Arbeit-
seber von selbst gezwungen, um sich einen Stamm geübter Arbeiter
zu erhalten, Arbeiterwohnungen zu bauen. Der Staat ist hierin häufig
vorangegangen. Redner erinnerte ferner an Saarbrücken, Essen, an
Königshütte, Borsigwerk, Laurahütte u. s,. w. In den Grossstädten sind
die Verhältnisse ganz anders, da es hier im Allgemeinen keine dauernden
Arbeiten giebt. Aushilfe können hier die Baugenossenschaften, nament-
lich solehe mit beschränkter Haftpflicht, geben. Hierbei hat man schon
manchen Erfolg erreicht.
Nach Schilderung der in Flensburg erreichten Ergebnisse besprach
der Vortragende die Bemühungen von Schrader und Wohlgemuth in
Berlin, in den Vororten, in Adlershof und Lichterfelde billige Arbeiter-
wohnungen zu bauen, Allein es dürfe nicht verkannt werden, dass nur
ein geringer Theil der unteren Klassen, welche ein regelmässiges, wenn
auch geringes Einkommen haben, davon Genuss haben kann, Unter
diesen Bestrebungen, dem Arbeiter durch das Cottagesystem ein eigenes
Haus zu verschaffen, erachtet der Vortragende das vom Pastor von
Bodelschwingh zu Elberfeld ins Leben gerufene Patronagesystem als das
beste. Fünf bis sieben Mitglieder üben ein Patronat aus und beauf-
sichtigen die Genossenschaft. Mitglied wird Jeder, welcher in die Bau-
10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
sparkasse Einlagen macht; aus dem Miethsverhältniss tritt das miethende
Mitglied dann in das Eigenthumsverhältniss ein, wenn ein Drittel des
Kaufpreises eingezahlt ist. Mit 500 Mark Einzahlung beginnt die Be-
dingung zum Grundstückserwerb. Im Anschluss hieran erhielt die im
Jahre 1847 ins Leben gerufene Berliner gemeinnützige Baugesellschaft,
welche jetzt ebenso wie die Alexandra-Stiftung die Herstellung von
Miethshäusern mit Prämienbewilligung an die Miether unternimmt, eine
genauere Besprechung. Diese Gesellschaft hat im Gegensatz zu den
Einzelhäusern zu den Etagenhäusern gegriffen, und dies ist für die Gross-
städte auch in der That das geeignetste Mittel, um auf dem Wege ge-
meinnütziger Bestrebungen dem Arbeiterwohnungsmangel in umfassender
Weise abzuhelfen. Mit Unrecht verbindet sich für Viele damit der
Begriff „Arbeiterkaserne‘‘ und „Arbeiterviertel“. Nach Würdigung der
neuerdings in Berlin von Malachowsky und Freund hierüber aufgestellten
Gesichtspunkte behandelte der Vortragende zum Schluss die jetzt in
Hamburg in grossartigem Maassstabe geplante Herstellung von gesunden
und wohlfeilen Arbeitervierteln.
Der Vorsitzende, Professor Dr. Elster, sprach hierauf dem Vor-
tragenden den Dank für seine gehaltvollen Ausführungen aus und er-
öffnete die sich anschliessende Debatte. Es sei seines Erachtens doch
fraglich, ob durch diese im Vortrage aufgezählten Bemühungen ein
befriedigendes Ergebniss für die grosse Mehrzahl erreicht werden könne;
er griff hierbei auf den im vorigen Jahre zu Frankfurt a. M. versammelt
gewesenen Armenpfleger-Congress zurück, wo zwei Richtungen sich geltend
gemacht hätten, von denen die erste eine Lösung der Arbeiterwohnungs-
frage durch den Bau von Wohnungen erhofft, die zweite vor Allem ein Ein-
greifen der Gesetzgebung in Bezug auf den Miethsvertrag, eine Erweiterung
des Kreises der pfandfreien Gegenstände u. s. w. erstrebt habe.
Hierauf schilderte Commissionsrath Milch die von ihm als Häuser-
verwalter gemachten Erfahrungen. Er hob hervor, dass der Unter-
nehmergewinn noch nicht 3 pCt. betrage, weil das Wohnungsbedürfniss
des Arbeiters ganz unregelmässig sei und eine Verbilligung der Arbeiter-
wohnungen dadurch zur Unmöglichkeit gemacht würde, dass der Arbeiter
zum Abschluss eines längeren Contractes sich nicht verstehen könne
und die Wohnung derartig einwohne, dass die Renovationskosten jähr-
lich 'j, des Miethsertrages wieder wegnähmen. Ein seinen Miethern
gemachter Vorschlag, bei einem dreijährigen Miethsabschluss auf die
Miethe für das letzte Vierteljahr verzichten zu wollen, da hierdurch
dann die Renovationskosten für zwei Jahre wegfielen und bei längerem
Verweilen in denselben Wohnräumen letztere mehr geschont würden,
habe bisher wenig Anklang gefunden.
Nach weiteren Erörterungen fand erst in vorgerückter Stunde die
angeregte Debatte ihren Abschluss.
II. Historisch - staatswissenschaftliche Abtheilung. 1
Die sechste Sitzung am 15. December 1892 fand in dem
neuen Verwaltungsgebäude der Alters- und Invaliditätsversicherungs-
Anstalt für die Provinz Schlesien statt. Die zahlreich versammelten
Mitglieder und Gäste wurden von dem Vorsitzenden der Anstalt, Ober-
Bergrath a. D. und Landesrath Kratz durch eine Ansprache begrüsst.
Nachdem der Vorsitzende der Section den Dank der Gesellschaft für die
Zugänglichmachung der Anstaltsräume und Kenntnissnahme ihrer Ein-
richtungen ausgesprochen hatte, gab er dem Mathematiker der Anstalt
zu seinem angekündigten Vortrage das Wort.
Herr Dr. Ernst Wagner sprach:
Ueber die statistischen Grundlagen und Ergebnisse des Invaliditäts-
und Altersversicherungsgesetzes.
A. Die statistischen Grundlagen des Gesetzes.
In den $S$ 19 bis 21 des Gesetzes vom 22. Juni 1389, welche von
der Aufbringung der Mittel handeln, finden wir das versicherungstech-
nische Problem aufgestellt, dessen Lösung in der Ermittelung von vier
Zahlen besteht, nämlich in der Berechnung der wöchentlichen Beiträge
für jede der vier durch das Gesetz gebildeten Lohnklassen. An den
Mitteln zur Gewährung der Invaliden- und Altersrenten betheiligt sich
das Reich durch Zahlung eines festen Zuschusses von 50 Mark jährlich
zu jeder Rente, ferner übernimmt es den auf die Dauer militärischer
Dienstleistungen entfallenden Antheil der Rente ($ 28), trägt die Kosten
des Reichsvereicherungsamtes und besorgt endlich die unentgeltliche Aus-
zahlung der Renten an die Empfänger durch die Reichspostverwaltung-»
Alle übrigen Ausgaben für Renten und Verwaltung sind durch
laufende Beiträge der Versicherten und deren Arbeitgeber zu gleichen
Theilen aufzubringen und für jede Kalenderwoche zu entrichten, in
welcher der Versicherte in einem die Versicherungspflicht begründenden
Arbeits- oder Dienstverhältniss gestanden hat. Zum Zwecke der Be-
messung der Beiträge und der Berechnung der Rentenhöhe sind folgende
Klassen des Jahresarbeitsverdienstes und der Steigerungssätze der Renten
festgestellt worden:
Steigerungssatz für jede vollendete
Beitragswoche der
Lohnklasse Jahresarbeitsverdienst
Invalidenrente Altersrente
I bis 350 Mark einschl. | 2 Pfennige 4 Pfennige
II mehr als 350—550 Mark 6 - 6 £
III a4Ea0530:= 850 9 - 8 E
IV , - 850 Mark 13 = 10 -
12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Bei Berechnung des von den nach $ 41 d. G. gebildeten Versicherungs-
anstalten zu zahlenden Theiles der Invalidenrente wird ausserdem ein
fester Betrag von 60 Mark jeder Rente hinzugefügt. Bei der Alters-
rente, welche beim Eintritt in das 71. Lebensjahr beginnt, werden
1410 Beitragswochen in Anrechnung, und wenn mehr als 1410 in ver-
schiedenen Lohnklassen entrichtet wurden, die in den höchsten Lohn-
klassen entrichteten Beiträge in Ansatz gebracht.
Für die als Beitragszeit geltende Dauer bescheinigter, mit Erwerbs-
unfähigkeit verbundener Krankheit von 7 oder mehr aufeinander folgen-
den Tagen, sowie militärischer Dienstleistungen wird bei Berechnung
der Rente die Lohnklasse II zu Grunde gelegt.
Unter Berücksichtigung dieser in Folge von Krankheiten entstehen-
den Ausfälle sind die Beiträge so zu bemessen, dass durch dieselben
gedeckt werden
1. die Verwaltungskosten,
. die Rücklagen zur Bildung eines Reservefonds,
. die durch Erstattung von Beiträgen voraussichtlich entstehenden
Aufwendungen,
4. der Kapitalwerth der von der Versicherungsanstalt aufzubringenden
Antheile an denjenigen Renten, welche innerhalb jeder der fünf-
jährigen Beitragsperioden (während welcher eine Aenderung der
Beitragshöhe nicht erfolgen darf) voraussichtlich zu bewilligen
sein werden.
Se So)
Die erste Beitragsperiode ist auf zehn Jahre vom Inkrafttreten des
Gesetzes an festgesetzt, die Rücklagen zum Reservefonds sind so zu
bemessen, dass am Schlusse derselben ein Fünftel des in dieser Periode
den Versicherungsanstalten zur Last gefallenen Rentendeckungskapitals
vorhanden ist.
Ist am Schlusse der Periode auch das Deckungskapital für die inner-
halb derselben endgiltig bewilligten und bei Beginn der neuen Periode
noch nicht erloschenen Renten vorhanden, so haben die während der
abgelaufenen Periode erhobenen Beiträge genau den durch das Gesetz
gestellten Forderungen entsprochen.
Die vier Zahlen, welche im $ 96 des Gesetzes die wöchentlichen
Beiträge der vier Lohnklassen für die erste zehnjährige Beitragsperiode
festsetzen, sind daher gewissermaassen die Quintessenz des statistischen
Materials, auf welchem sich das Gesetz aufgebaut hat — eine Beleuch-
tung der statistischen Grundlagen gestaltet sich somit zu einer Entstehungs-
geschichte dieser Zahlen, wobei jedoch hier von einer Darlegung der
mathematischen Entwickelungen abgesehen werden soll,
Die erforderlichen statistischen Nachweise zerfallen in der Haupt-
sache in folgende vier Gruppen:
III. Historisch -staatswissenschaftliche Abtheilung. 13
1. die Invaliditätstafeln,
2. die Sterbetafeln, |
3. die Tafeln der Heirathswahrscheinlichkeiten weiblicher Versicherter,
bezw. der Wahrscheinlichkeiten, Wittwen oder Waisen zu hinter-
lassen;
4. die Vertheilung der Versicherten auf die einzelnen Altersjahre
und Lohnklassen.
Die unter 1.—3. angeführten Tafeln sind zur Ermittelung von
Leistung und Gegenleistung für jeden einzelnen Versicherten nothwendig,
die Tafel 4. dient zur Bemessung des Gesammtwerthes der Leistungen
seitens aller Versicherten.
Es darf bei der Neuheit dieser grossartigen Collectivversicherung
nicht verwundern, wenn die von der Theorie zu fordernden statistischen
Unterlagen nicht alle in genügender Vollkommenheit zu beschaffen waren,
so dass es ohne einige Hypothesen nicht möglich gewesen wäre, aus
den theoretisch woblbegründeten Formeln die verlangten numerischen
Werthe darzustellen. Vielmehr wird man erst nach einer durch mehrere
Jahrzehnte hindurch fortgesetzten Wirksamkeit des Gesetzes in der Lage
sein, für alle in Betracht kommenden Fragen ein Material von gleich-
mässiger Zuverlässigkeit und Genauigkeit zu besitzen, und insofern „muss
das Gesetz sich seine Statistik selbst schaffen“. ')
1. Bereits bei der Tafel der Invaliditätswahrscheinlichkeiten be-
gegnen wir der Nothwendigkeit, plausible Hypothesen zuzulassen, inso-
fern solche Werthe nur für männliche, nicht aber für weibliche Personen
gegeben sind. Man war also zu der Annahme genöthigt, die gleichen
Werthe für beide Geschlechter zu verwenden. Nach kritischer Sichtung
aller bisher publieirten Invaliditätstafeln entschied man sich für die
„Invaliditätstafel für Arbeiter verschiedener Berufszweige“ von G. Behm,
welche den Berechnungen der Belastung durch Renten zu Grunde gelegt
wurde. Die Werthe derselben sind vom 16. Lebensjahre an für 5 zu
5 Jahre unter Spalte 2 der Tabelle I mitgetheilt.
Die ersten Erhebungen über Invalidität begannen im Jahre 1868
seitens des Vereins deutscher Eisenbahnverwaltungen in Bezug auf die
Eisenbahnbeamten, und wurden später auch auf die Eisenbahnarbeiter
ausgedehnt. Sie zeigen bei dem Nichtzugpersonale nur wenig höhere,
bei dem übrigen Personal bereits beträchtlich höhere Werthe als die
Tabelle I, mit Ausnahme der ältesten Jahrgänge, welchen jedoch wegen
der geringen Anzahl, aus denen die Wahrscheinlichkeiten abzuleiten
waren, nicht besonderes Gewicht beizulegen ist.
Y) Commentar von R. Bosse u. E. v. Woedtke, Dritter Abdruck, Leipzig 1891,
pag. 128,*
14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Ein ähnliches Verhalten zeigt die von Zillmer 1884 veröffentlichte
Invaliditätstafel des Gewerkvereins der deutschen Maschinenbau- und
Metallarbeiter, deren bei den jüngeren Jahrgängen ziemlich hohe Werthe
eine grössere Unfalls-Invaliditätswahrscheinlichkeit enthalten, während sie
vom 47. Lebensjahre niedriger sind als die von Behm angegebenen.
Weder die von Kaan 1885 mitgetheilten Invaliditätstafeln aus der
Statistik der österreichischen Bruderladen, noch die von verschiedenen
Autoren gegebenen Tafeln aus Erfahrungen der preussischen Knappschafts-
kassen konnten wegen der sowohl untereinander erheblich differirenden,
als auch die Behm’schen Tafelwerthe stellenweise bis um das Vierfache
übertreffenden Wahrscheinlichkeiten weiter in Betracht gezogen werden.
Dass die Behm’sche Tafel zum mindesten ausreichend hohe Inva-
liditätswahrscheinlichkeiten liefert, ergiebt eine Vergleichung der Anzahl
der im Jahre 1836 invalide gewordenen Eisenbahnarbeiter deutscher Ver-
waltungen mit der berechneten Zahl der Invaliden; der Fehler der Rech-
nung belief sich auf 6 pCt., da Beobachtung — Rechnung — 206 —
218,6 war.
Eine fernere Gelegenheit zur Prüfung ergab sich in der Gesammt-
zahl der in der Berufsstatistik vom 5. Juni 1882 erhobenen, in Folge
von Krankheit, Verletzung und Altersschwäche invalid gewordenen Per-
sonen aller Berufszweige. Indessen konnten diese Zahlen nicht unmittel-
bar zur Ableitung von Invaliditätswahrscheinlichkeiten Verwendung finden,
da sich herausstellte, dass die nachgewiesenen „Fälle von Erwerbsunfähig-
keit‘‘ keineswegs alle Invaliden umfassen konnten. Es zeigte sich z. B.,
dass die thatsächlich vorhandene Anzahl von Invaliden der Knappschafts-
kassen am Erhebungstermine nahezu um 30 pCt. grösser war, als die
der Erwerbsunfähigen im Bergbau und Hüttenwesen der Berufsstatistik.
Hiernach erschien die Annahme gerechtfertigt, dass der procentische
Zuschlag für die Anzahl der vorhandenen Invaliden bei den übrigen
Berufszweigen noch beträchtlich höher zu bemessen sein dürfte, da der
Begriff der Berufsinvalidität sich in der langen Praxis des Berg- und
Hüttenwesens wohl am schärfsten präcisirt haben dürfte. Man entschloss
sich zu einer Erhöhung von 60 pÜt., so dass statt 554031 Invaliden der
Berufsstatistik, 886450 Invaliden in Rechnung gestellt wurden. Aus den
10jährigen Altersgruppen wurden die Werthe für 1jährige Altersklassen
graphisch abgeleitet, und hieraus die Verhältnisszahlen aller Versicher-
ungspflichtigen zu den Invaliden berechnet. Unter der Annahme, dass
die Anzahlen der Ueberlebenden der Absterbeordnung der männlichen
Bevölkerung des Deutschen Reiches sich auf jeder Altersstufe ebenso in
Active und Invalide theilen, wie die eben erwähnten Verhältnisszahlen
angeben, lassen sich nun, wenn die Sterbenswahrscheinlichkeiten der
Invaliden gegeben sind, für jedes Lebensjahr die Invaliditätswahrschein-
lichkeiten ausrechnen,
III. Historisch -staatswissenschaftliche Abtheilung. 15
Die Ausführung dieser Rechnnng ergiebt bis etwa zum 33. Lebens-
jahre etwas höhere, von da ab beträchtlich niedrigere Werthe der Inva-
liditätswahrscheinlichkeit nach der Berufsstatistik, im Vergleich zu der
Behm’schen Tafel. Hiernach gewährt die dem Gesetze zu Grunde
liegende Invaliditätstafel eine weitgehende Sicherheit der Rechnung, da
sie jedenfalls mit zu grossen Wahrscheinlichkeiten rechnet. Da die
Unfallsinvaliden bereits der reichsgesetzlichen Fürsorge unterliegen, die
Unfallswahrscheinlichkeiten aber in der Behm’schen Tafel noch mitent-
halten sind, so sind die Werthe derselben entsprechend zu verringern,
und zeigte es sich als ausreichend, diese Verringerung durch den
Coefficienten 0,87 zu bewirken, mit welchem alle Belastungsziffern für
Invalidenrente multiplieirt wurden.
2. Die Sterbetafel zerfällt der Natur der Sache entsprechend in
zwei ganz verschiedene Theile
a. in die Sterbenswahrscheinlichkeiten für Invalide,
DES e - Active, welche ohne vor-
hergehende Invaliditätserklärung versterben.
Die Verwendung derselben Sterbetafel für Invalide und Active
würde zu einer ganz überflüssigen Belastung führen, da die Unterschiede
der Sterblichkeiten sehr beträchtlich sind. Es stellt sich z. B. für inva-
lide Eisenbahnbeamte im Alter von 40 Jahren die Sterbenswahrschein-
lichkeit auf 0,0622 in einem Jahre, während für gleichaltrige Active
dieselbe nur 0,0105 beträgt.
Aehnliche Verschiedenheiten zeigen sich auch für die Bergarbeiter,
so dass die „Tafel der Sterblichkeit pensionirter Eisenbahnbeamter von
J. Zimmermann‘!') durchaus geeignet erschien, als Grundlage für die
Sterbetafel aller Invaliden angenommen zu werden (siehe Spalte 3 Tab. I),
weil die Werthe niedriger sind, als die für sonstige Berufszweige bisher
bekannt gewordenen, Da dieselben in den höheren Lebensjahren sogar
unter die der „Deutschen Sterbetafel‘“ heruntergingen, wurden vom Alter
von 69 Jahren die Wahrscheinlichkeiten der letzteren substituirt. Sehr
bemerkenswerth ist die hohe Sterbenswahrscheinlichkeit sehr junger In-
validen, welche nahezu so gross ist, wie die der über 70jährigen, welche
Erscheinung sich ganz gleichmässig bei den Invaliden der preussischen
und österreichischen Bergarbeiter wiederholt. Es erklärt sich dies durch
das Ueberwiegen der geringeren Sterblichkeit der bereits „‚gekräftigten‘“
Invaliden in höheren Altersklassen über die grössere Sterblichkeit der
neu hinzutretenden Invaliden, während das Umgekehrte bei den jüngeren
Jahrgängen stattfindet.
Behufs der Berechnung der Anwartschaft auf Rente bedarf man
ferner der Activitätsordnung, also derjenigen Tafel, welche angiebt, wie
\) Ueber Dienstunfähigkeit- und Sterbensverhältnisse, Berlin 1886, 1887 1888,
16 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
viele von einer bestimmten Anzahl gleichaltriger Activer in den fol-
genden Lebensjahren noch activ vorhanden sind.
Schliesslich ist noch eine Tafel der Wahrscheinlichkeitswerthe für
Active, ohne vorherige Invaliditätserklärung im Laufe des Jahres zu
sterben, aufzustellen, welche bei der Berechnung der Wahrscheinlichkeit
von Beitragserstattungen an hinterbliebene Wittwen oder Waisen in
Betracht kommt. Unter der Vorausssetzung, dass bei der versicherungs-
pflichtigen Bevölkerung des Deutschen Reiches die Summe der Activen
und Invaliden sich auf die verschiedenen Lebensjahre ebenso vertheilt,
wie die Gesammtbevölkerung des Reiches, kann die Absterbeordnung
der letzteren zugleich als die Absterbeordnung der versicherungspflichtigen
Bevölkerung dienen. |
Als eine sehr wesentliche statistische Grundlage ist demnach auch
die „Deutsche Sterbetafel“') anzusehen, da sich aus derselben, unter
Hinzuziehung der beiden bereits angeführten Tafeln erstens die Activitäts-
wahrscheinlichkeiten (siehe Spalte 5), zweitens die Sterbenswahrschein-
lichkeiten der Activen (siehe Spalte 4) ermitteln lassen. Nach den bis-
herigen Erfahrungen scheinen sich die allgemeinen Sterbenswahrschein-
lichkeiten für Arbeiter geringer als für den Durchschnitt der Bevölkerung
zu stellen, so dass mit der Benutzung letzterer keinesfalls zu geringe
Belastungsziffern in den Voranschlägen eingeführt worden sind.
Alle bisher angeführten Tafeln, welche in Tabelle I im Auszuge
mitgetheilt werden, gelten sowohl für männliche, als auch für weibliche
Versicherte, was unbedenklich statthaft sein dürfte; denn wenn z. B.
auch in der Deutschen Sterbetafel vom 27.—57. Lebensjahre die Sterbens-
wahrscheinlichkeiten für das weibliche Geschlecht die für das männliche
ein wenig übersteigen, sinken sie in den späteren Lebensjahren merklich
unter dieselben, so dass die angewandten Werthe im Gesammtdurch-
schnitt wohl als zutreffend angesehen werden dürfen.
3. Die in dem ursprünglichen Entwurfe nicht vorhandenen, sondern
erst im Laufe der Commissionsberathungen eingeführten Rückerstattungen
des von den Versicherten geleisteten Antheiles der Beiträge im Falle der
Verehelichung einer weiblichen Person, oder des Versterbens mit Hinter-
lassung einer Wittwe bezw. von Waisen unter 15 Jahren ($$ 30 u. 31),
machten die Aufstellung von entsprechenden Tafeln nöthig.
Zur Berechnung der Belastung, welche durch Rückzahlung von Bei-
trägen an heirathende weibliche Versicherte erwachsen wird, bedarf man
erstens der Kenntniss der Wahrscheinlichkeit, dass eine Versicherte eines
bestimmten Alters noch ledig, sodann der Wahrscheinlichkeit, dass dieselbe
im Laufe eines begonnenen Lebensjahres heirathen wird; ausserdem natür-
t) Monatshefte der Statistik d. Deutschen Reiches 1887 XI. u. Statist. Jahrbuch
d. Deutschen Reiches 1891.
IH.
Historisch -staatswissenschaftliche Abtheilung.
17
lich der Vertheilung der weiblichen Versicherten auf die Altersklassen
und der zu erwartenden durchschnittlichen Beitragshöhe, wovon noch
weiter unten die Rede sein wird.
Tabelle I.
Wahrschein- Wahrschein-
- = lichkeit
Ö Sterbens- ng lichkeit j £
En ee DRS d Al für weibl. [83 88
= u.2 wahrscheinlichkeit en ä on I)
& Se S 5 Versicherte | 2223| <S,.
a War 25 ua | 582
fr) ES RZ 2eSefess|i>KS
ee ET IS ledig [En |4°8 — 8
HJ2%S a|le2$
E für | für 2 zu 234 = ° ERS
Invalide | Active sein ige Be= ü E ö
re ee
1 2 3 4 5 6 a 9
16] 0,00011 | 0,1182 | 0,00451 | 0,99538 | 0,999 | 0,0012] 0 0
20| 0,00019 0,1020 0,00744 | 0,99237 | 0,989 | 0,0777] 0,0145 0,0012
25| 0,00038 | 0,0831 | 0,00835 | 0,99217 | 0,945 | 0,1719| 0,2704 0,0063
30 | 0,00076 | 0,0656 0,00908 | 0,99016 | 0,770 | 0,1241] 0,6395] 0,0330
35| 0,00152 | 0,0639 | 0,01061 | 0,98787 | 0,569 | 0,0730| 0,8260! 0,1338
40| 0,00305 | 0,0622 | 0,01282| 0,98413 | 0,450 | 0,0492] 0,8815) 0,2344
45| 0,00609 | 0,0530 | 0,01554| 0,97837 | 0,394 | 0,0281] 0,8930) 0,3299
50] 0,01218 | 0,0510 | 0,01921| 0,96861 | 0,358 | 0,0142] 0,8978| 0,4142
55| 0,02437 | 0,0485 | 0,02434| 0,95129 | 0,532 | 0,0052] 0,9014| 0,4839
60] 0,04873 | 0,0512 0,03270 | 0,91857 | 0,310 | 0,0017] 0,9052| 0,5380
65| 0,09747 | 0,0629 | 0,04584 | 0,85669| — — —_ —
70| 0,19493 | 0,08108 | 0,07322| 0.731855] — — _ —
i51/ 0,3308& | 0.120604 | 0,0956 1 | 0,1453 Vle »b.zunausH elle
ao arer o17aao ,10400 |. ee) ara
85 1 0,24363 m 0,0? == ez _ —__
für einjährige Altersklassen graphisch interpolirt werden konnten.
Zur Bestimmung der Wahrscheinlichkeit des Ledigseins (Tabelle I
Spalte 6) konnte wieder die Berufsstatistik herangezogen werden, welche
dies für zehnjährige Altersklassen ermitteln liess, woraus die Werthe
Die
Heirathswahrscheinlichkeiten dagegen wurden den Angaben von W.
Küttner!) entnommen, welcher dieselben für einjährige Altersklassen
der Bevölkerung des Königreichs Sachsen berechnet hat (Tab. I Sp. 7),
Da nun der Sicherheit halber angenommen wurde, dass alle sich ver-
heirathenden weiblichen Versicherten den Antrag auf Rückerstattung
!) Zeitschrift d. Königl. Sächs. Statist. Bureaus 1885.
3 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
der von ihnen geleisteten Beitragshälfte stellen werden, so ist die Wahr-
scheinlichkeit einer Beitragsrückforderung das Product der beiden ge-
nannten Wahrscheinlichkeiten für jedes Lebensjahr.
Genau dieselben Formeln gelten für den Fall der Erstattung von
Beiträgen an Hinterbliebene. Auch hier ist die Wahrscheinlichkeit einer
Beitragserstattung das Product aus der Sterbenswahrscheinlichkeit für
Active (Tabelle I Spalte 4) und der Wahrscheinlichkeit, entweder, dass
ein männlicher Versicherter eine Wittwe bezw. Waisen unter 15 Jahren
hinterlässt, oder dass eine weibliche Person vaterlose Kinder unter
15 Jahren hinterlässt. Diese beiden letzteren Wahrscheinlichkeiten
liessen sich ebenfalls mit Hilfe der Berufsstatistik berechnen. Da die
erwerbsthätige Bevölkerung auch nach Familienstand und 10jährigen
Altersklassen ausgezählt worden war, konnte festgestellt werden, wie
viele versicherungspflichtige männliche Personen verheirathet oder ver-
wittwet sind. Unter der Annahme, dass jeder in Activität versterbende
Wittwer Waisen unter 15 Jahren hinterlässt, können die benöthigten
Wahrscheinlichkeitswerthe unmittelbar berechnet werden.
Ganz ebenso lieferte die Berufsstatistik die Wahrscheinlichkeiten,
dass bei einem Todesfalle einer erwerbsthätigen versicherten Wittwe
dieselbe Waisen hinterlässt, Mangels zuverlässiger Unterlagen konnte
für den Fall des $ 31 Abs. 2, dass unter „vaterlosen“ Kindern unehe-
liche zu verstehen sind, die Rechnung nicht besonders geführt werden,
was sich auch angesichts der sehr weitgehenden obigen Annahmen über
zu erwartende Hinterbliebene erübrigen dürfte. Die beiden letzten Wahr-
scheinlichkeitswerthe finden sich in Tabelle I Spalte 8 und 9.
4. Ausser diesen 8 Tafeln von Wahrscheinlichkeitswerthen ist die
Altersvertheilung der gesammten versicherungspflichtigen Bevölkerung,
ihre Anzahl und die Kenntniss der Jahreslöhne von grösster Wichtigkeit
für die Bemessung der Beitragshöhe.
Die Altersvertheilung für 10 jährige Altersklassen liefert die Berufs-
statistik unmittelbar, die Feststellung der als versicherungspflichtig an-
zusehenden Bevölkerung fand nach folgenden Grundsätzen statt. Die
Beschäftigungen sind in folgenden 6 Hauptabtheilungen zusammengefasst:
A. Land- und Forstwirthschaft, auch Thierzucht und Fischerei;
B. Industrie inel. Bergbau und Hüttenwesen;
C. Handel und Verkehr inel. Gast- und Schankwirthschaft;
D. Lohnarbeit wechselnder Art und häusliche Dienstleistungen (von
nicht in der Haushaltung Wohnenden);
E. Staats-, Gemeinde-, Kirchen-Dienst, Krankenpflege und sog. freie
Berufsarten ;
F. Von eigenem Vermögen lebende, ohne Beruf und Berufsangabe.
Von diesen 6 Berufsabtheilungen kommt natürlich F überhaupt nicht
in Betracht, dagegen musste eine neue Abtheilung geschaffen werden:
III. Historisch-staatswissenschaftliche Abtheilung. 19
G. Dienende für häusliche, nieht gewerbliche Dienste (im Haushalt
der Herrschaft lebend),
da dieses Dienstpersonal in der Berufsstatistik nach der Zugehörigkeit
ihrer Dienstgeber zu den vorstehenden Abtheilungen dort mitgezählt
worden ist,
Ausserdem musste noch die „Stellung im Berufe“ berücksichtigt
werden, welche in folgender Weise unterschieden wird:
a. selbstständige, auch sonstige Geschäftsleiter;
b. höheres Verwaltungs- und Aufsichtspersonal, inel. des Bureau-
und Rechnungspersonales,
ec. sonstige Gehilfen und Arbeiter;
unter a fallen auch die meisten Arbeiter der Hausindustrie nach der
Definition „‚zu Hause für fremde Rechnung arbeitend‘“, durch a fr unter-
schieden. %
Nach obigen Bezeichnungen setzte sich die versicherungspflichtige
Bevölkerung des Deutschen Reiches wie folgt zusammen:
A: sämmtliche Personen ausser a und °/, der Forstbeamten. Von
den im Betriebe des Familienhauptes thätigen Familienmitgliedern
(el der Berufsstatistik, weil die Versicherungspflicht derselben
nicht allgemein zu bestimmen ist) jedoch nur der dritte Theil;
B: (b + eo;
C: (b + ce), ausser den Eisenbahn-, Post- und Telegraphenbeamten,
jedoch mit Hinzufügung von a der See- und Küstenschifffahrt
SEIFADSr SR
D: die Hälfte der nachgewiesenen Personen;
E: 3c, Ab, 5 (b + ce), nämlich das Dienstpersonal im Kirchendienst,
in Unterrichts-, Erziehungs-, Kunst- und sonstigen Bildungsanstalten,
das Warte- und sonstige Dienstpersonal in Krankenanstalten;
G: sämmtliche Personen.
Ferner mussten noch die durch Ableistung ihrer Militärpflicht dem
Bestande der Versicherungspflichtigen bei der Zählung entzogenen Per-
sonen berücksichtigt werden, um aus dem gesammten Zahlenmaterial die
einjährigen Altersklassen richtig ableiten zu können. Wird ferner noch
der Bevölkerungzuwachs seit dem 5. Juni 1382 in Betracht gezogen,
welcher für die Versicherungspflichtigen wohl nahezu derselbe sein dürfte,
wie für die ganze Reichsbevölkerung, so stellte sich für die Mitte des
Jahres 1889 die Anzahl der Versicherungspflichtigen auf rund
7 322 000 männliche und
3 696 000 weibliche
zusammen 11018000 Personen.
Mit dieser Zahl wurde die Gesammtbelastung der Versicherungs-
anstalten und die Höhe des Reichszuschusses berechnet; die wirkliche
Anzahl der beim Beginn der Versicherung erwartungsmässig vorhandenen
9#
30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Personen muss um die Zahl der oben erwähnten Militärpersonen, welche
erst nach Beendigung der Dienstzeit in die Versicherungspflicht eintreten,
verringert werden. Letztere Zahl war auf rund 270000 zu veranschlagen,
so dass hiernach Mitte 1889 10 748 000 Personen von dem Gesetz um-
fasst worden wären.
Die Curve der Altersvertheilung der versicherungspflichtigen Be-
völkerung beginnt mit vollendetem 16. Lebensjahre bereits mit hohem
Werthe, die höchsten Werthe werden vom 18.—19. erreicht, bei den
männlichen Personen findet alsdann eine ziemlich schnelle Abnahme bis
zum 30., dann eine langsamere, sehr gleichmässige Abnahme bis zum
60. und ein noch langsameres Fallen bis zum 80. Lebensjahre statt.
Bei den weiblichen Personen findet das Fallen der Curve gleich-
mässig schnell bis zum 30. Jahre statt, um von da sehr langsam zum
Ende abzusteigen, im Alter von 40—50 Jahren tritt ein sehr schwaches
secundäres Maximum auf, welches durch den Wiedereintritt verwittweter
Frauen in versicherungspflichtige Beschäftigungen zu erklären ist.
Als letzte, aber für die schliessliche Bemessung der zu erhebenden
Beiträge wichtigste Grundlage hätten wir nun noch eine statistische
Nachweisung beizubringen, welche die Anzahl der Versicherten und die
Altersgruppirung derselben innerhalb jeder Lohnklasse vorführt. Doch
war kein irgendwie verwendbares Material vorhanden; in diesem Punkte
musste man sich also mit einer nicht unbeträchtlichen Unsicherheit der
Schätzung begnügen, da eine allgemeine Lohnstatistik, wie sie erforder-
lich war, nicht existirte.e Denn man darf nicht vergessen, dass der im
Jahre 1883 publieirte Entwurf des Gesetzes nicht die jetzt giltigen
Lohnklassen kannte, sondern mit 5 Klassen von „Ortslöhnen‘“ rechnete,
deren Jahresdurchschnitt von 300—700 Mark aufstieg. Aus den orts-
üblichen Tagelöhnen für die kleineren Verwaltungsbezirke wurden mit
Hilfe der Bevölkerungsziffern der durchschnittliche Tagelohn für grössere
Verwaltungscomplexe ermittelt, und aus den Durchschnittssätzen dieser
mit der Zahl der versicherungspflichtigen Personen schliesslich der
Durchschnitt für das Reich berechnet. Als solcher ergab sich 1,53 Mark
für männliche, 1,03 Mark für weibliche Personen. Für die 5 Orts-
klassen, welche sich bis zu 1,00 Mark, bis 1,40 Mark, bis 1,80 Mark,
bis 2,20 Mark und über diesen Betrag an 'Tagelohn abstuften, liess sich
die Zahl der zugehörigen Personen aus den Angaben der Volkszählung
ziemlich genau ermitteln. Da diese Ortsklassen sich über das ganze
Reich vertheilen, muss auch in ihnen dieselbe Altersgruppirung u. s. w.
wie für die Gesammtbevölkerung gelten, und die aufgestellten Formeln
konnten auf dieselben unmittelbar Anwendung finden.
Diese relativ sichere Grundlage war nicht mehr vorhanden, als in
das Gesetz die Lohnklassen eingeführt wurden, denn wie für diese sich
die Altersvertheilung stellt, darüber ist nichts bekannt, eben so wenig,
III. Historisch - staatswissenschaftliche Abtheilung. 9]
wie viele Versicherte in jeder Lohnklasse sieh befinden, Ferner ist das
Verbleiben in derselben Lohnklasse nicht unveränderlich, daher war ein
Durchschnitt für den mittleren Jahreslohn aller Lohnklassen mit einiger
Sicherheit gar nicht zu bestimmen. Auch ist der Einfluss der zugelassenen
Selbstversicherung ($ 8) nicht zu bemessen, und wäre es sehr bedenklich,
eine plausible Annahme zu machen, in wie weit von der Befugniss des
$ 22 Absatz 2 Gebrauch gemacht werden wird, nach Uebereinkunft
zwischen Arbeitgeber und Versicherten einen höheren als den vom Ge-
setze festgestellten Jahresarbeitsverdienst für die Beiträge zu Grunde zu
legen — nur so viel ist a priori wahrscheinlich, dass in den höchsten
Lohnklassen vorzugsweise ältere Versicherte sich befinden.
Man war also gezwungen, auch für jede Lohnklasse dieselbe Alters-
vertheilung zu Grunde zu legen, wie für die Gesammtheit der Ver-
sicherten, und dem hieraus offenbar entspringenden Fehler der Beitrags-
bemessung durch einen Sicherheitszuschlag zu begegnen, der auf
15,5 pCt. festgesetzt worden ist. Dieser Zuschlag kann natürlich die
in dem Wesen des zur Aufbringung der Mittel gewählten Kapital-
deckungsverfahrens begründete allmähliche Erhöhung der Beiträge in
bestimmten Perioden nicht verhindern. Nach überschläglichen Berech-
nungen kann in dem nach etwa 50 Jahren eintretenden Beharrungs-
zustande diese Erhöhung in der I. Lohnklasse etwa die Hälfte, in den
übrigen etwa den vollen Betrag der jetzigen Sätze erreichen. Vielleicht
wird dieselbe durch das später immer mehr zunehmende Ueberwiegen
der jüngeren Altersklassen und möglicherweise geringer werdende Inva-
liditätsgefahr niedriger ausfallen, wogegen über etwaige Aenderungen
des Geldwerthes keine Annahmen gemacht werden konnten.
Bei der Ermittelung des wöchentlichen Beitrages aus dem für das
Jahr rechnungsmässig beizubringenden wurde mit 46 dividirt, da
5 Wochen pro Jahr als durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit,
1 Woche als durchschnittliche Krankheitsdauer jedes Versicherten an-
genommen worden sind.
Am Schlusse dieses allgemeinen Theiles möge noch bemerkt werden,
dass das theoretisch richtigste System der Beitragserhebung wohl die
Bemessung nach dem Individuallohne jedes Versicherten gewesen wäre.
Man hätte alsdann einer weit grösseren Anzahl von Lohnklassen bedurft,
wäre dann aber in der Lage gewesen, die Renten viel genauer nach
dem wirklichen Arbeitsverdienste bemessen zu können, als es bei den
in Kraft getretenen vier Lohnklassen thatsächlich möglich ist. ‚Wenn
ausserdem die Lohnklassen auf 10—i5 vermehrt würden und die Löhne
Deutschlands örtlich gesondert dargestellt würden, so wäre in der That
das lohnstatistische Problem so gut wie gelöst.‘ ')
) W. Sombart, Lohnstatistische Studien, Archiv für sociale Gesetzgebung
und Statistik, Il, p. 262.
223 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Dies wäre allerdings ein sehr wünschenswerthes, nebenbei zu er-
langendes Resultat gewesen, und die in der Berücksichtigung des Indi-
viduallohnes begründete Rentenbemessung wurde auch als die gerechteste
bei den Berathungen anerkannt. Immerhin erschienen die praktischen
Schwierigkeiten bei der Durchführung eines solchen Systems so gross,
dass man sich auf die wenigen Lohnklassen, die nach Durchschnitts-
löhnen gebildet wurden, beschränken zu müssen glaubte.
Bedenkt man, welche Schwierigkeiten bei der Berechnung in Folge
der unvollständigen statistischen Grundlagen zu überwinden waren, und
wie erfolgreich hierin der jetzige Vorsteher des Rechnungsbureaus des
Reichsversicherungsamtes, Dr. Beckmann, gewesen ist, so kann man
der in der Sitzung des Londoner Institute of Actuaries') vom 27. April
1891 gemachten Aeusserung: ‚„‚Ihey must do justice to their actuarian
friends in Germany, those actuaries were extremely thorough men.
They had done their best with the scanty material at their command“
nur beipflichten.
B. Einige statistische Ergebnisse für die Provinz
Schlesien.
Die Berechnung der versicherungspflichtigen Bevölkerung Schlesiens
erfolgte nach dem obigen Verfahren auf Grund der Angaben der „Be-
rufsstatistik der Staaten und grösseren Verwaltungsbezirke‘‘ (Statistik
des Deutschen Reiches, Neue Folge, Bd. 4), wobei für die Alters-
vertheilung die Zahlen, welche für die Gesammtanzahl der Versicherungs-
pflichtigen im Deutschen Reiche gelten, ebenfalls als maassgebend an-
genommen werden mussten. Die Berücksichtigung der Bevölkerungs-
zunahme erfolgte proportional dem Anwachsen der bevölkerung
Schlesiens, indem sie mit Hilfe der Volkszählungsergebnisse von 1880,
1885 und 1890 aus der Zählung vom 5. Juni 1882 interpolirt wurde.
Für das Jahr 1891 stellte sich die Anzahl aller Versicherungspflichtigen
Schlesiens auf rund 660000 männliche, 406000 weibliche, in Summa
1066000 Personen, wobei die erst im Laufe des Jahres in das ver-
sicherungspflichtige Alter eintretenden, bezw. die erst später aus dem
Militärdienst hinzukommenden Personen mitgezählt sind. Man kann an-
nehmen, dass jeder neue Jahrgang in maximo 32 000 männliche und
30 000 weibliche Versicherte umfasst, während alljährlich rund 3100 Ver-
sicherte das 71. Lebensjahr erreichen, und somit Altersrentner werden,
sofern sie nicht schon früher als Invalidenrentner ausgeschieden sind,
was später voraussichtlich in grossem Umfange eintreten wird, so dass
alsdann die jährlich zu zahlenden Altersrenten nur einen geringen Bruch-
theil der Invalidenrenten ausmachen werden.
!) Journal of the Institute of Actuaries. Vol. XXIX, Part. IV, p. 368.
III. Historisch -staatswissenschaftliche Abtheilung. 33
Am Schlusse des Jahres 1892 befanden sich 752 871 Quittungs-
karten Nummer 1 in dem Archive der Versicherungsanstalt zu Breslau,
von denen 981 Stück, also 1.3 pro mille, wegen ungenauer Geburtsdaten
nicht eingeordnet werden konnten. Von den eorreet ausgefüllten Karten
gehörten 465 234 männlichen, 286 656 weiblichen Versicherten an, so
dass sich das Verhältniss der männlichen zu den weiblichen auf 62:38
stellt, annähernd wie 8:5. Von besonderem Interesse ist es nun zu
sehen, wie sich die Vertheilung der beobachteten Versicherten auf die
einjährigen Altersklassen vollzieht, denn die Curve zeigt sowohl für die
männlichen als auch für die weiblichen Versicherten getrennt ein über-
aus genaues Abbild der Schwankung der Geburtenzahl im Deutschen Reiche.
Abgesehen von der beständig nach den älteren Jahrgängen sinkenden
Tendenz der Curve ist es geradezu überraschend, mit wie grosser Ge-
nauigkeit die bis jetzt vorliegenden Zahlen den Gang der Geburten-
häufigkeit des Reiches auch für Schlesien wiedergeben; die geringste
Schwankung von Jahr zu Jahr wird gewissenhaft, wenn auch mit immer
kleineren Amplituden bei zunehmendem Alter copirt. Zum Vergleich
kann z. B. die im Statist. Jahrbuch des Deutschen Reiches für 1892
Tafel I. gegebene Curve der Geburtenhäufigkeit benutzt werden. (Siehe
die Figur.) Es ist nicht anzunehmen, dass die erwartungsmässige Ge-
Vertheilung der Versicherten der Anstalt Schlesien auf die
Geburtsjahrgänge am 31. December 1892,
AS 1eE AISTT ‚1806, 106 1856 ,,: eb, 1846 - 1saılas
— | 4
42
41 Geborene
40 >
39 auf 1000 Einwohner
38
“ im Deutschen Reich.
35
34 1836 1831 1826 1821
30000 Pt—— I — 30000
25000 I 25000
Männer
Frauen
Se en BE en Er Er re a Ban) 20000
15000 | 15000
10000 ee 2 = 10000
5000 RS i 5000
Männer
i m el
ER tree rer Fee er erBr rer rer erTer re Tauen
136 sl Iseoı Isciriee TEST Tee 18 les 1826 71821
Die obere der beiden Curven stellt männliche, die untere weibliche Versicherte
vor. Die punktirte Strecke bedeutet die später in die Versicherung eintretenden
zur Zeit noch in Ableistung des Militärdienstes begriffenen Personen.
34 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
sammtzahl aller Versicherten, von der etwa '/, noch nicht zur Kenntniss
der Versicherungsanstalt gelangt ist, an diesem Resultat etwas ändern
wird; zugleich ist noch zu bemerken, dass von sämmtlichen Versicherten
Schlesiens höchstens 6—7 pCt. nicht in Schlesien geboren sind. Diese
Angabe beruht allerdings nur auf Schätzung, da die genaue Anzahl der
ausserhalb Schlesiens geborenen Deutschen bezw. der Ausländer noch
nicht hat zur Ziffer gebracht werden können,
Mit Rücksicht auf die Möglichkeit, dass in der nächsten Beitrags-
periode die im $ 24 zugelassene Abstufung derselben nach Berufszweigen
innerhalb der Lohnklassen zur Ausführung gelangen könnte, werden
nicht allein die sechs grossen Berufsabtheilungen in genauem Anschlusse
an die Reichsstatistik bei allen statistischen Erhebungen unterschieden,
sondern noch weitergehende Eintheilungen von A und B vorgenommen.
A zerfällt in die Berufsgruppe Al: Landwirthschaft, Thierzucht und
Gärtnerei, und All: Forstwirthschaft, Jagd und Fischerei, da letztere
Gruppe in Schlesien fast am stärksten von allen Versicherungsanstalten
vertreten ist, und nahezu eben so viele Versicherte enthält, wie die
entsprechende Gruppe in den acht bayerischen Anstalten zusammen.
Rücksichten auf die eventuell nicht unbeträchtlich verschiedene Inva-
liditätsgefahr und die starke Anzahl der Versicherten in den Gruppen
haben ferner veranlasst, von B die drei Gruppen abzutrennen: BIIIL Berg-
bau-, Hütten- und Salinenwesen, B IX Textilindustrie, B X1V Bau-
sewerbe. Diese römischen Ziffern entsprechen den Gruppenbezeichnungen
der Berufsstatistik; zum Unterschiede soll das um drei Gruppen ver-
kleinerte B hier durch B bezeichnet werden.
Die erwartungsmässige procentische Vertheilung der Versicherten
auf diese 10 Berufsgruppen muss sich nun auch in der Vertheilung der
Rentenempfänger widerspiegeln; inwieweit diese Zahlenreihen parallel
gehen, zeigt folgende Tabelle II.
Tabelle Il
Procentische Vertheilung der Versicherten auf die Berufs-
gruppen.
Mn Altersrentner Invalidenrentner
Berufsgruppe Wan TEN en Te
m a RT: 1892 1892
A NE 45,5
Alleis ua 0,8 5,9 4,4 3,4
REN HER” 17,8 8,8 8,7 14,6
BT ee 7,8 1,6 1,7 8,9
RE 4,0 3,2 3,0 3,6
BXIV.. at... 6,2 4,7 7,3 4,0
LEW 5,4 2,1 2,4 1,2
De ren 2,2 16,6 14,9 10,2
in ah 0,7 5,9 4,1 3,8
Era ad 1759 40,5 6,6 10,2 5,2
w
=
=
Ns
II. Historisch - staatswissenschaftliche Abtheilung. 35
Diese Verhältnisszahlen stammen für das Rechnungsjahr 1891 von
13 535 Altersrentnern, deren Renten vom Rechnungsbureau des Reichs-
versicherungsamtes endgiltig vertheilt waren, von welchen 612 im Laufe
desselben Jahres durch Tod u. s. w. in Wegfall kamen. Für 1892
waren 5035 Altersrenten und 1520 Invalidenrenten endgiltig vertheilt,
bereits angewiesen jedoch 6345 Alters- und 2352 Invalidenrenten.
Wiewohl diese wenigen ersten Resultate nur mit Vorsicht zu
Schlüssen verwendet werden können, ist doch die gleichmässige Ver-
tretung der Landwirthschaft (AI) bei Versicherten, Alters- und Invaliden-
rentnern bemerkenswerth, sie beträgt durchweg 45 pCt. aller Betheiligten.
Dagegen ist die Forstwirthschaft bei den Altersrentnern etwa 6 mal
stärker vertreten, als unter den Versicherten, was auf günstige Gesund-
heitsverhältnisse der Forstarbeiter und -Beamten schliessen lassen würde.
Das gleiche Verhältniss zeigt sich jedoch bei E, und erscheint es auch
plausibel, dass die „Privat- und Communalbeamten‘“, welche E in über-
wiegender Zahl enthält, sich in günstigen Lebensverhältnissen befinden.
Zieht man jedoch die Zahlen für den Abgang im Laufe des Jahres 1891
heran, so zeigt sich, dass derselbe im Durchschnitt 4,5 pCt. des Zuganges
beträgt, bei der Gruppe AII aber nur 3,5 pCt., hingegen bei E 7,4 pCt.
erreicht, als höchsten Werth aller Gruppen. Hiernach scheinen die Ge-
sundheitsverhältnisse bei E noch weiterer Aufklärung zu bedürfen, es
befinden sich unter den Rentnern der Gruppe E viele Gemeindeboten,
Nachtwächter, sogar der Beruf ,„Tag- und Nachtwächter‘‘ fand sich an-
gegeben. Unzweifelhaft günstig dürften also nur die Forstarbeiter stehen,
welche auch die ältesten männlichen Rentner aus den Geburtsjahrgängen
1797 und 1800 gestellt haben.
Die Betheiligung von C ist besonders schwach an den Invaliden-
renten, auch bei den Altersrenten erreicht sie noch nicht die Hälfte
ihrer erwartungsmässigen Anzahl. Die Gruppe D bietet scheinbar sehr
abnofme Verhältnisse, insofern sie bei den Invalidenrenten fast 5 mal,
bei den Altersrenten 7—8 mal stärker vertreten ist, als unter den Ver-
sicherten. Es wäre jedoch ein Irrthum, für die Gruppe D ganz besondere
Eigenthümlichkeiten hieraus construiren zu wollen; es erklärt sich dies
vielmehr daher, dass die Gruppe D vielleicht schon in der Berufs-
statistik, in hohem Grade aber in der vorliegenden Statistik einen Noth-
behelf, sozusagen eine ‚„‚Verlegenheitsgruppe“ darstellt. In der grossen
Anzahl von Fällen, wo als Beruf durchgehends nicht nur auf der Quit-
tungskarte sondern auch in den Arbeitsnachweisen „Arbeiter‘ angegeben
war, blieb keine andere Möglichkeit, denselben einer anderen Gruppe
als D zuzuweisen, in Uebereinstimmung mit den Ansichten des Reichs-
versicherungsamtes. Auch in den Fällen, wo eine Anzahl ganz ver-
schiedener Berufszweige angegeben waren, konnte nicht anders verfahren
werden, während „Fabrikarbeiter“ unter B stets einwurfsfrei Platz fand.
36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Die an sich schon sehr schwierige Aufgabe einer correeten Berufs-
eintheilung wurde namentlich bei den Altersrentnern noch durch die
Schwierigkeit erhöht, unter den häufig mehrfachen Berufsangaben die
Nebenberufe einigermaassen treffend auszusondern, um mit statistischen
Erhebungen der Berufsarten überhaupt vorgehen zu können; es sollen
daher hiermit diese Mängel ausdrücklich hervorgehoben werden.
Aus dieser Unsicherheit der Berufsbestimmung erklären sich leicht
die Abweichungen der vom Reichsversicherungsamte für Schlesien an-
gegebenen Verhältnisszahlen (Amtl. Nachr. des Reichsversicherungsamtes,
Inv.- u. Altersvers., Jahrg. II, p. 40 u. 41) von den in Tab. III mit-
getheilten Zahlen.
Dort entfallen für die Altersrentner des Jahres 1891 auf männliche
Rentenempfänger der Abtheilung A 57,4 pCt., auf weibliche 59,0 pCt.,
also 8,0 pCt. bezw. 6,9 pCt. mehr als nach der vorliegenden Tabelle,
hingegen auf Abtheilung D 7,3 pCt. bezw. 7,7 pCt. weniger, woraus
hervorgeht, dass in den Fällen, wo die landwirthschaftliche Thätigkeit
aus den eingereichten Arbeitsbescheinigungen als die überwiegende
anzunehmen war, alle diese Fälle der Berufsabtheilung A eingereiht
wurden.
Bei den übrigen Gruppen betragen die Abweichungen weniger als
', pCt., nur männliche Rentner in E sind in Tabelle III mit 1,1 pCt.
stärker vertreten als in der Statistik des Reichsversicherungsamtes.
Ueber den Antheil männlicher und weiblicher Personen an den ein-
zelnen Berufsgruppen giebt Tabelle III Auskunft; am wenigsten ver-
änderlich zeigt sich auch hier die Betheiligung der Landwirthschaft.
Das durchschnittliche Verhältniss von männnlichen und weiblichen Alters-
rentnern war 62:38 im Jahre 1891, 54:46 im Jahre 1892, von Inva-
lidenrentnern 70:30 im Jahre 1892. Die Verhältnisszahlen des nicht
ganz vollständig nachgewiesenen Abganges zum Zugange betrugen im
Jahre 1891 für männliche Altersrentner 5,2, für weibliche nur 3,4 pCt,,
die Anzahl der ausscheidenden weiblichen Rentner war fast genau in
demselben Verhältniss auf die Berufsgruppen vertheilt, wie der Zugang,
was, wie oben bemerkt, bei den Männern nicht der Fall ist.
Zu erwähnen ist noch die procentische Vertheilung der gezahlten
Altersrenten auf die im Jahre 1891, wo fast nur die vorgesetzliche Zeit
zur Berechnung der Rentenhöhe in Betracht kam, allein vorkommenden
Rentenklassen.
Rentenklasse I II II IY%
106,80 M. 135,00 M. 163,20 M. 191,40 M.
Procent (| männlich 73,2 18,0 6,3 2,5
der weiblich 9.2,6 1,9 0,4 0,1
Altersrentner ' zusammen 82,4 11,9 4,1 1,6
III. Historisch - staatswissenschaftliche Abtheilung. 27
Tabelle LUl
Procentische Vertheilung auf die Berufsgruppen.
Männliche Weibliche
Berufs-
© Inva- ) Inva-
STORpR a E Altersrentner | liden- = 5 Altersrentner | liden-
>= rentnerl| > "© rentner
= | 1891 | 1892 | 1892 © | 1891 | 1892 | 1892
Al ee Allee 30 20 42,990 003,67) D1,2 1 Almen
All Tepe ae A BE 1,0
B ZEa MIET, Ina ro bla al a a ae
BI 1a a N 34 |, 0200 ARTE
IX 20 DR a ER N
18.9 ld a a PR a RE N a Na hart 0
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D 1. aa a Ei ZT, 1881 LEO TON
E CU a N ag Aa a ra a
G Ger a, oe oe 9er Pal ara
Hätte man von dieser letzten Zahlenreihe auf die Vertheilung der
im Jahre 1891 verkauften Beitragsmarken in Schlesien nach den vier
Lohnklassen schliessen wollen, so würde man bedenklich geirrt haben,
denn die Einnahme von 7 769 041,48 Mark aus Beitragsmarken vertheilt
sich in Procent auf die Lohnklassen wie folgt: I 45,07; II 27,05;
III 18,64; IV 11,20; Doppelmarken 0,04. Das Ueberwiegen der ersten
Lohnklasse in den Renten erklärt sich sowohl aus den Bestimmungen
des $ 159 d. G., weil in vielen Fällen nur für einen Theil der in der
vorgesetzlichen Zeit in Betracht kommenden Arbeitswochen die Lohn-
höhe bezw. diese überhaupt nicht nachgewiesen werden konnte, und in allen
solchen Fällen die Steigerungssätze der ersten Lohnklasse anzuwenden
sind, als auch aus dem Umstande, dass der Arbeitsverdienst der alt-
gewordenen Arbeiter überhanpt ein geringerer ist.
Die äusserst beschränkte Verwendung von Doppelmarken — es sind
in Schlesien für das Jahr 1891 nur 15973 Stück & 23 Pf. ausgegeben —
zeigt, dass von der nach $ 8 zugelassenen Selbstversicherung bisher nur
geringer Gebrauch gemacht worden ist, was zum Theil wohl in dem
mangelhaften Verständniss für diese, dem Versicherten sehr günstige Ein-
richtung beruht, zum Theil auch darin begründet sein mag, dass die-
selbe auf die Lohnklasse II beschränkt ist, während diejenigen, welche
zur Selbstversicherung berechtigt sind, sich wohl meist in den höheren
Lohnklassen befinden dürften, und daher unbegründeter Weise die er-
wachsenden Rentenbeträge für zu niedrig erachten mögen. Auch die
238 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Bedeutung der Zusatzmarke des Reiches scheint vielfach missverstanden
zu werden, denn der Antheil von 8 Pf., welcher von jeder Doppelmarke
dem Reiche zukommt, stellt eine für alle Versicherte gleiche wöchent-
liche Prämie für die Versicherung einer Invaliden- oder Altersrente von
50 Mark jährlich dar, wodurch verhindert wird, dass durch die zuge-
lassene Selbstversicherung der Kreis der Versicherungspflichtigen auf
andere als im Gesetze als solche bezeichneten Personen ausgedehnt wird.
Ob die Selbstversicherung später einen solchen Umfang annehmen
wird, dass aus derselben die Gefahr einer zu grossen Belastung der Ver-
sicherungsanstalten und des Reiches entstehen könnte, ist a priori nicht
zu bestimmen, nach den bisherigen Erfahrungen liegt ein Grund zu dieser
Annahme keineswegs vor.
C. Das statistische Urmaterial und seine Behandlung.
Das Urmaterial der statistischen Ergebnisse ist naturgemäss ein
zwiefaches, für die Statistik der Versicherten sind es die eingelieferten
Quittungskarten, welche zu weiteren Erhebungen verwendet werden, für
die Statistik der Rentner sind es die Rentenbescheide mit ihren Vor-
gängen.
Eine Buchführung über die gezahlten Alters- und Invalidenrenten
findet in den sogenannten Rentenlisten statt, welche für jeden Geburts-
jahrgang getrennt geführt werden, innerhalb desselben wird irgend welche
weitere Unterscheidung nicht gemacht, sondern jede angewiesene Rente
desselben Geburtsjahres unter laufender Nummer eingetragen. Die An-
gabe dieser Nummer in Verbindung mit dem Geburtsjahr, der Ordnungs-
zahl der Anstalt und der Bezeichnung A oder J bildet als das ‚Renten.
zeichen‘ das hauptsächlichste Orientirungsmittel für die Versicherungs-
anstalt, das Rechnungsbureau des Reichsversicherungsamtes und die
Reichspostverwaltung; z. B. wird eine Altersrente Schlesiens von 1820
und eine Invalidenrente der Rheinprovinz von 1851 notirt:
u! 13 | 246
1820 FI 851
A
Aus den Rentenlisten können zugleich summarische Erhebungen
veranstaltet werden, vor allem dienen sie dazu, die Ausgaben für Renten-
zahlungen, den Ab- und Zugang an Renten und die Höhe des Deckungs-
kapitals festzustellen. Will man über das Verhalten der beregten Ge-
sichtspunkte bei den Rentenempfängern der verschiedenen Berufsgruppen
Erhebungen veranstalten, so reichen diese Rentenlisten nicht aus, man ist
genöthigt, neben diesem ‚‚Hauptbuche‘ Manuale zu führen. Dies geschieht
bei der Versicherungsanstalt Schlesien mittelst der sog. „Nebenrenten-
listen“, welche nach den oben bezeichneten Berufsgruppen und Ge-
schlecht getrennt die Jahrgänge der Rentner nachweisen; es zerfällt
also die Hauptliste in maximo in zwanzig solcher Listen, welche bei
III. Historisch -staatswissenschaftliche Abtheilung. 29
etwa beabsichtigter Anwendung des $ 24 d. G. ein genaues Bild der
Leistungen der Anstalt für die verschiedenen Berufsgruppen am Schlusse
der ersten Beitragsperiode geben werden. Dieselben dienen ferner zu
Untersuchungen der Invaliditätswahrscheinlichkeiten u, s. w. Sind an-
dererseits die Beitragsleistungen und die zu erwartende Höhe des An-
spruches auf Renten der Versicherten in den einzelnen Berufsgruppen
erhoben, so ist die Beitragshöhe für jede Berufsgruppe innerhalb jeder
Lohnklasse für die neue Beitragsperiode unschwer festzustellen.
Hieraus geht schon hervor, dass, um die für derartige Berechnungen .
erforderlichen statistischen Unterlagen bereitstellen zu können, die ein-
gelieferten Quittungskarten der Versicherten nicht ohne weiteres in’s
Archiv als caput mortuum zur Asservation gegeben werden dürfen,
sondern dass die Ruhe derselben bisweilen zu statistischen Zwecken
unterbrochen werden muss. Um nun dieses Urmaterial möglichst fehler-
los zur Aufbewahrung und Bearbeitung zu erhalten, werden alle von
den aufrechnenden Stellen und anderen Anstalten eingehenden Quittungs-
karten sofort beim Eingange einer genauen Prüfung unterworfen, welche
sich namentlich auf genaue Angaben der Personalien und richtige Auf-
rechnung der eingeklebten Marken erstreckt. Eine genaue Angabe der
Personalien, besonders der Geburtsdaten, ist von grösster Wichtigkeit;
knüpft sich doch an das Geburtsdatum unmittelbar die Feststellung der
Thatsache, ob jemand sich im versicherungspflichtigen bezw. zur Er-
hebung eines Antrages auf Altersrente vorgeschriebenen Alter befindet.
Immerhin sind diese Angaben — und nicht nur bei Arbeitern aus Russ-
land und Böhmen — in manchen Fällen nicht zu erlangen, und die Auf-
bewahrung dieser „Unvollständigen‘‘ muss daher an besonderer Stelle
erfolgen.
Bei der sehr grossen Menge gleichlautender Namen, insbesondere
auch der oft wechselnden Schreibung polnischer Eigennamen, würde die
lexikalische Anordnung des Archives der Quittungskarten auf grosse
Schwierigkeiten gestossen sein, und würde sich als letztes Identifieirungs-
mittel schliesslich nur das Geburtsdatum nebst Geburtsort ergeben, was
z. B. für das bei der Anstalt Schlesien auf etwa 40—50000 mal be-
rechnete Vorkommen des Namens „Scholz“ unerlässlich geworden wäre,
Es ist daher grundsätzlich die Ordnung der Quittungskarten nach
dem Geburtsdatum in aller Strenge durchgeführt worden — nur inner-
halb des Geburtstages hat die alphabetische Ordnung nach dem Zu-
namen einzutreten, was höchstens innerhalb ca. 100 bis 150 Namen vor-
kommen kann. Es wird daher jeder Geburtsjahrgang nach männlichen
und weiblichen Personen, innerhalb dieser nach Monat und Tag getrennt.
Diese Anordnung hat für gewisse statistische Erhebungen grosse Vor-
züge, erspart aber zugleich in der gewählten Form der Aufbewahrung
einen Zettelkatalog der Namen aller Versicherten, welcher unumgänglich
30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
nothwendig ist, wenn z. B. die Karten der Versicherten einfach in der
zufälligen Reihenfolge des Einganges der Quittungskarte Nr. 1 in die
Aufbewahrungsräume eingelegt werden. Um grösstmögliche Raumaus.
nutzung und Uebersichtlichkeit zu verbinden, sind Cartons aus Pappe
hergestellt worden, welche zur Aufnahme von 16 zusammengefalteten
Quittungskarten je eines Versicherten ausreichen. Dieser taschenartige
Carton ist an einer kurzen Schmalseite offen, auf einer langen Schmal-
seite von 15,5 zu 1,5 cm Dimension befindet sich ein Schild in weisser
Farbe für männliche, in grüner für weibliche Versicherte, in dessen
Schema die unveränderlichen Personalnotizen übersichtlich eingetragen
werden, Die Gebürtigkeit ausserhalb Schlesiens bezw. im Ausland wird
durch rothes bezw. blaues Durchstreichen des Vordruckes „Schlesien“
kenntlich gemacht. Ausserdem können die Ausstellungsjahre der Karten
notirt werden, so dass der Ablauf der Gültigkeit nach $ 104 d. G. sehr
leicht bemerkt werden kann.
Diese Cartons werden nämlich in aus Eisenblech gestanzten Schub-
läden aufbewahrt, in welchen je 60 Platz finden; und auf diese Weise
bilden die Schilder der aufrecht stehenden Cartons eine sehr übersichtliche
Liste über den Inhalt jeder Schublade. Kennt man also Namen und
Geburtsdatum eines Versicherten, und letzteres muss zur Identifieirung
stets verlangt werden, so braucht man nur die mit diesem Datum be-
zeichnete Schublade aufzuziehen, um die angesammelten Karten desselben
bei der Hand zu haben.
Das Archiv enthält im Erdgeschoss und in einem auf eisernen
Trägern wie in den modernen Bibliotheksgebäuden darüber erhöhten
Geschoss je 32 aus Cementplatten (Moniersystem) hergestellte feuer-
sichere Abtheilungen, deren jede durch Zwischenplatten in 8 Schränke
zerlegt ist. In jedem dieser Schränke finden 50 eiserne Schubläden
Platz. Vorläufig sind nur 50 dieser Abtheilungen, kurz als „Blocks“
bezeichnet, mit Schubläden besetzt, so dass zur Zeit 20000 solcher
verfügbar sind, welche Raum für je 16 Karten von 1 200 000 Versicherten
gewähren. Es können also 19200 000 Karten untergebracht werden,
während der ganze vorgesehene Platz 24'/, Million Quittungskarten auf-
zunehmen vermag,
Für jeden Versicherten wird ferner eine „Registerkarte“ angelegt,
in welcher ausser den Personal- und Berufsangaben der Inhalt aller
seiner Quittungskarten eingetragen wird. Dieses Specialeonto dient als
von der Anstalt als giltiger Ersatz anzusehendes Duplicat aller Renten-
ansprüche, wenn etwa die Quittungskarten in Verlust gerathen sollten,
und hat vor den im Besitz der Versicherten befindlichen Aufrechnungs-
Bescheinigungen den Vorzug, dass die Belastung aller sonst etwa be-
theiligten Anstalten daraus festgestellt werden kann; auch dient es an
Stelle der Quittungskarten als Nachweisung und Zählzettel für die vor-
III. Historisch - staatswissenschaftliche Abtheilung. 31
zunehmenden Berufsauszählungen und Berechnungen der künftigen Be-
lastung der Lohnklassen.
Da die Eintheilung des Raumes nach Geburtsdaten geschehen ist,
so ist mit dem allmählichen Verschwinden der ältesten und dem Hinzu-
tritte neuer Jahrgänge ein Wandern jedes Jahrganges die unvermeidliche
Folge, wenn volle Ausnutzung des Raumes stattfinden soll. Um daher
in diesem langsam fliessenden „Strom der Zeiten‘ feste Punkte zu er-
halten, muss neben der veränderlichen Bezeichnung der Jahre, Monate
und Tage eine unveränderliche Ortsbezeichnung vorhanden sein. Zu
diesem Behufe sind die Blocks mit den Nummern 1—64 bezeichnet,
jede Reihe von 10 übereinander angeordneten Schubläden, deren 400
in jedem Blocke vorhanden sind, erhält die Nummer 1—40; bezeichnet
man nun jede Schublade einer Reihe durch die Ziffern O0 bis 9, so ist
- leicht zu sehen, dass durch eine fünfstellige Zahl jede Schublade ein-
deutig bezeichnet werden kann, sofern man über die Bedeutung der
Stellenwerthe der Zahl unterrichtet ist.
Mit Hilfe dieser festen Ortsbezeichnungen können Umlegungen
grössten Umfanges, ohne Irrungen befürchten zu müssen, vorgenommen
werden. Dass alle diese bezeichneten Einrichtungen in möglichst über-
sichtlicher und bequemer Form getroffen werden mussten, war bei den
grossen Dimensionen der Kartenhalle (44 zu 29 m Grundfläche) un-
vermeidlich.
D. Künftige statistische Ergebnisse.
Die beschriebene Behandlung des Urmateriales setzt uns in den
Stand, eventuell auch eine Anzahl von Fragen zu behandeln, deren Be-
antwortung durch das Gesetz nicht nothwendig erfordert wird, welche
aber durch geringe Mehrarbeit nebenher erledigt werden können.
Zuerst wäre eine allerdinss nur rudimentäre Lohnstatistik
Schlesiens für die abgegrenzten 10 Berufsgruppen ausführbar, wobei
durch die gesetzlich festgestellten Lohnklassen die wirklichen Lohn-
verhältnisse natürlich nur in groben Umrissen in Folge der alles nivelli-
renden Durchschnittswerthe annähernd angedeutet werden können.
Zweitens wäre mit Hilfe der Quittungskarten theoretisch eine
Statistik der „Arbeitslosigkeit‘‘“ möglich. Aus der Zeit, welche zwischen
der Ausstellung zweier Quittungskarten verflossen ist (da die Aufrechnung
der alten und Ausstellung der neuen möglichst Zug um Zug erfolgen
soll), von welcher die gezahlten Beitrags-, Krankheits- und Militair-
dienstwochen abgezogen werden, könnte auf die Anzahl Wochen arbeits-
loser Zeit geschlossen werden. Hierbei tritt zunächst als störendes
Moment die zugelassene freiwillige Fortsetzung nach $ 118 und $ 119
(Saisonarbeiter) ein, über dessen Vorhandensein die Karte nicht Aus-
kunft giebt, besonders aber die in der Landwirthschaft nicht seltene
Unterbrechung der Tagelöhnerei behufs Thätigkeit im eigenen Besitz
32 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
(die unsicher zu veranschlagenden e,, aT und e,T der Gruppe AI be-
trugen nach der Berufsstatistik 48 pCt. im Reiche, 33 pCt. für Schlesien
aller nicht selbständigen Betriebsthätigen). Man kann hiernach nur die
„Wochen nicht versicherungspflichtiger Thätigkeit‘‘ feststellen, und selbst
dieses wird wegen der „Saisonarbeiter‘ unsicher.
Drittens liesse sich über den Ortswechsel der Versicherten einiges
Material gewinnen (indem man die verschiedenen in der Quittungskarte
vorkommenden Versicherungsanstalten auszählt), natürlich nur innerhalb
der Abgrenzungen, welche durch die Eintheilung der Bezirke der An-
stalten gegeben sind. Innerhalb des Bezirkes derselben Anstait ist
höchstens die einmalige Constatirung eines Ortswechsels möglich, wenn
Ausstellungs- und Aufrechnungsort der Karte verschieden sind. Auch
hierbei werden die wegen des vielfachen Zusammenfallens mit den
Provinzbegrenzungen unvermeidlichen Zersplitterungen der Gebiete, sowie
die an den Bezirksgrenzen wohnenden Arbeiter in Folge der in ver-
schiedenen Anstaltsbezirken liegenden benachbarten Arbeitsstellen in
einem schwer zu schätzenden Betrage den wirklichen Sachverhalt ver-
schleiern müssen.‘) So kann z. B. ein im westlichen Zipfel des Kreises
Hoyerswerda wohnhafter Arbeiter leicht Marken der Anstalten Schlesien,
Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Königreich Sachsen in einer Quittungs-
karte beibringen, ohne sich von seinem Wohnort wenig mehr als eine
Meile entfernt zu haben. Umgekehrt würde ein Ortswechsel eines in
der Rheinprovinz wohnhaften Versicherten nach Hohenzollern und zurück
gänzlich unbemerkt bleiben müssen, da letzteres mit zum Bezirk der
ersteren Anstalt gehört. Nimmt man hinzu, dass ein derartig zu er-
mittelnder Ortswechsel immer nur zu sehr ungleichen Terminen erhoben
werden kann, dann wird man der auf diesem Wege zu erlangenden
Statistik kaum einen praktischen Werth beilegen dürfen, vielmehr liegt
die Gefahr nahe, durch eine solche zu ganz irrthümlichen Schlussfolge-
rungen verleitet zu werden.
Ein Theil dieses Ortswechsels gelangt dadurch an hiesiger Anstalt
zur Kenntniss, dass von allen Karten fremder Anstalten, welche in
Schlesien zum Umtausch gelangen, die Marken Schlesiens nebst den
wesentlicheren Angaben notirt werden, um über die Vertheilung der
verwendeten Marken möglichst genaue Information zu erhalten. Dass
die in solchen „‚durchgehenden‘‘ Karten enthaltenen Beiträge immerhin
nicht unbedeutend sind, beweist eine Aufnahme im Mai 1892, nach
welcher bis dahin in innerhalb Schlesiens umgetauschten Karten fremder
Anstalten rund 25000 Mark an Werth schlesischer Marken enthalten
waren.
Ferner ist es kaum wahrscheinlich, dass es mittelst des durch das
vorliegende Gesetz entstehenden statistischen Materiales gelingen würde,
!) Vgl. auch $ 41 Abs. 3 des Gesetzes.
III. Historisch -staatswissenschaftliche Abtheilung. 33
über den Betrag des Vagabondenthums und des sogen. „Residuums‘
irgend welche Aufklärung zu erhalten. Gerade dass letzteres und die
heruntergekommenen Existenzen, welche nicht als Arbeiter ihre Lauf-
bahn begonnen haben, von dem Gesetze erfasst würden, bezeichnete
ein englischer Kritiker als eine Nothwendigkeit ‚to keep the body
politie in good humour !‘“ ')
Eine durch die beschriebenen Einriehtungen der Anstalt für die
Provinz Schlesien leicht beiläufig zu lösende Aufgabe würde es sein,
die Anzahl der ihr angehörigen Versicherten, welche nicht in Schlesien
geboren sind, nach ihrer Gebürtigkeit zu ermitteln, und zugleich die
Vertheilung der Geburten auf die einzelnen Tage des Jahres an einem
grossen Materiale kennen zu lernen, worüber noch gar keine Erfahrungen
vorliegen. Hierdurch würde die bisher nur mittelst ganzer Monate be-
stimmte Curve der Geburtenhäufigkeit im Jahre eine wesentliche Ver-
feinerung erfahren; zugleich wäre man, durch die auszuführende Be-
schränkung auf Schlesien als Geburtsland, in der Lage, für ein bestimmt
begrenztes Gebiet diese Untersuchung mittelst eines ganz homogenen
Materials zu führen.
Indessen sei schliesslich nochmals hervorgehoben, dass die sorg-
fältigsten Untersuchungen über Wahrscheinlichkeiten der Invalidität
bezw. des Ausscheidens aus dem Rentengenuss, sowie aus dem Ver-
sicherungsverhältniss, nebst der Feststellung der Ursachen der Invalidität
eine Hauptaufgabe der Versicherungsanstalten bilden muss.
Die Untersuchungen der Ursachen der Invalidität werden erst nach
Ansammlung eines leidliich umfangreichen Materiales mehr ins Detail
gehen können; zunächst hat das’ Reichsversicherungsamt folgende vier
Gruppen in Vorschlag gebracht: Unfallverletzungen, Altersschwäche,
äussere und innere Krankbeiten. Jedenfalls aber dürfte es sich em-
pfehblen, den Berufskrankheiten eine besondere Aufmerksamkeit zu
widmen, welche als solche in der Theilung: äussere und innere Krank-
heiten nicht gesondert zur Wahrnehmung gelangen können.
Ueber die von vielen Seiten als der Wirkung des Gesetzes voraus-
sichtlich sehr hinderlich prophezeite Simulation der Invalidität lässt sich
noch gar nichts sagen; so lange die Invalidenrenten jedoch keine hohen
Beträge erreichen, was für die nächsten 10—20 Jahre nicht der Fall sein
kann, dürfte diese Gefahr voraussichtlich sehr gering sein und auch später
wird die Simulation unter Voraussetzung genauer ärztlicher Untersuchung
immer in so engen Grenzen gehalten werden können, dass aus derselben
dem Gesetze keine ernstlichen Schwierigkeiten entstehen dürften.
Wenn auch nicht zu erwarten ist, dass die Zahl der jährlich ent-
stehenden Invaliden andauernd so beträchtlich hinter dem Voranschlage
") Journal Inst. of Act. 1. c. p. 368,
34 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
zurückbleiben wird, wie im ersten Jahre (für Schlesien rund 12000
zu bewilligende veranschlagt, gegen 2352 thatsächlich bewilligte Anträge),
so ist doch mit Sicherheit zu erwarten, dass die Situation der Anstalten
sich noch günstiger gestalten wird, als es nach den angenommenen In-
validitätswahrscheinlichkeiten der Fall war. Nimmt man hinzu, dass
auch die Verwaltungskosten (im Reichsdurchschnitt 40 Pf., in Schlesien
36 Pf.) pro Kopf des Versicherten erheblich hinter dem Voranschlage
von 1 Mark zurückbleiben, und ein starkes Anwachsen derselben in
späteren Jahren nicht anzunehmen ist, so dürften die Aussichten für die
Finanzverhältnisse der Anstalten durchweg als günstige bezeichnet
werden.
Im Anschluss an den Vortrag betonte Landesrath Kratz ganz be-
sonders, dass erst die Praxis des Gesetzes demselben mit der Zeit zu-
verlässige statistische Grundlagen zu verschaffen vermöge, und dass den
angedeuteten, nebenher zu gewinnenden statistischen Ergebnissen nur
sehr bedingt Vertrauen entgegengebracht werden dürfe.
Auf eine Anfrage des Ober-Regierungsraths a. D. Schmidt, ob
genügende Vorsorge getroffen werden könne, dass die Einnahmen der
Anstalt nicht durch ungenügende Beitragsleistung geschmälert würden,
sprach Landesrath Kratz über die Nothwendigkeit einer Controle seitens
der Anstalt und über die erfolgreiche Wirksamkeit der Controlbeamten.
Nach Schluss der Debatte nahm die Versammlung die Kartenhalle
näher in Augenschein, woselbst durch Demonstration und Darlegung des
Betriebes die Ausführungen des Vortragenden erläutert wurden,
Für die Mitglieder der Section it ein besonderer staats- und rechts-
wissenschaftlicher Lesezirkel begründet worden. In Umlauf kamen im
Jahre 1891 folgende Zeitschriften und Bücher:
1. Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik.
2. Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirthschaft im
Deutschen Reiche.
3. Vierteljahrsschrift für Volkswirthschaft, Politik und Cultur-
geschichte.
Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft.
Archiv für sociale Gesetzgebung und Statistik.
Archiv für Öffentliches Recht.
Zeitschrift für die gesammte Strafrechtswissenschaft.
Preussische Jahrbücher.
Bayerische Handelszeitung (Beilage zur Münchener „Allgemeinen
Zeitung‘).
10. Handwörterbuch der Staatswissenschaften. 1., 2. und 3. Bd.
Dede
Sitzungen der historischen Section
im Jahre 1892.
In der ersten Sitzung am 7. März hielt Herr Oberlehrer Dr.
Krebs einen Vortrag
Ueber die ersten Winterquartiere der Wallensteiner in Schlesien (1627).
Die Abhandlung ist gedruckt in der Zeitschrift des Vereins für Ge-
schichte und Altertum Schlesiens, XXVII, 150 ff.
In der zweiten Sitzung am 25. April hielt Director Dr. Rei-
mann einen Vortrag
Ueber den Ausbruch des Krieges zwischen Russland und der Pforte
im Jahre 1787.
Die Osmanen sind im 15. und 16. Jahrhundert der Schrecken
Europas gewesen. Wenn sie sich nordwärts erhoben, ward auch in
Breslau die Türkenglocke geläutet, und Katholiken und Evangelische
fielen mit Angst auf ihre Kniee und riefen inbrünstig den Beistand
Gottes an. Zum letzten Mal erbebte Deutschland vor ihnen im Jahre
1685, als der Grossvesir Kara Mustafa mit 200 000 Streitern bis nach
Wien vordrang. Jedoch ein gewaltiger Umschlag trat ein. Die An-
greifer wurden geschlagen und mussten zurückweichen. Die Kaiserlichen
folgten ihnen nach, und fünf Jahre später eroberten sie Belgrad. Zwar
ging die Stadt wieder verloren, aber die österreichische Sache rückte
trotzdem vorwärts. Die schlimmsten Niederlagen erlitten die Türken
durch den unsterblichen Siegeshelden Eugenio von Savoye, wie er in
alamoder Weise sich unterschrieb; durch die Schlachten von Zenta,
Peterwardein und Belgrad verloren sie Ungarn, Siebenbürgen, Slavonien,
die kleine Walachei und Theile von Serbien. Doch gewannen die
Türken die letzten beiden Landschaften nach dem Tode des Prinzen
Eugen zurück, und beinahe fünf Jahrzehnte lang herrschte Friede zwischen
Oesterreich und der Türkei.
Ein neuer, viel unversöhnlicherer Feind erwuchs den Osmanen in
der Kaiserin Katharina II. von Russland. Im Jahre 1768 erklärte dieser
die Pforte, welche den bedrängten Polen zu Hilfe kommen wollte, den
Krieg; aber Katharina führte denselben im ganzen glücklich und erwarb
3*
36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
im Frieden von Kutschuk Kainardsche bei Silistria 1774 die Steppe
zwischen dem Bug und Dniepr, Kinburn, Kertsch und Jenikale, freie
Fahrt auf dem Schwarzen Meere für Handelsschiffe, Asow, die grosse
und kleine Kabardei. Ausserdem wurden die Tataren der Krim und des
Kuban von der Türkei losgerissen und für unabhängig erklärt; aber
Katharina mischte sich fortwährend in ihre Angelegenheiten und be-
handelte sie ungefähr wie die Polen. Nach dem Tode der Kaiserin
Maria Theresia schloss sie ein Bündniss mit Joseph II. Sie verfolgte
nun die Absicht, die Türken aus Europa zu jagen und ein neues
griechisches Kaiserthum in Konstantinopel zu errichten. Aber als es
zur Ausführung kam, versagte der Kaiser seine Mitwirkung. Katharina
wurde vor Aerger krank, wie wenn der Tempel ihres Ruhmes zusammen-
gestürzt wäre; sie fasste sich jedoch bald und erklärte, dass sie die
Tataren der Krim und des Kuban ihrem Reich einverleibe. Die Türken
geriethen hierüber in Wuth und wollten es nicht dulden, jedoch sie
wurden von allen Seiten zur Nachgiebigkeit gedrängt, ausser von
Friedrich dem Grossen, der aber keine Hilfe versprach. Katharina liess
in Versailles sagen, dass sie nach Abtretung der Krim und des Kuban
an den alten Grenzen festhalten und den Vertrag von 1774 als die
Grundlage des neuen ansehen, d. h. nichts weiter erwerben wolle. So-
gleich meldete Frankreich dies in Konstantinopel und liess vorstellen,
ob es nicht besser wäre, sich durch einige Opfer loszukaufen, als den
Wechselfällen eines Krieges sich auszusetzen. Weil aber die Türken
sich hartnäckig sträubten, die Besitznahme der tatarischen Landschaften
durch die Russen ausdrücklich gut zu heissen, konnte die Unterhandlung
zwischen Petersburg und Konstantinopel noch immer scheitern. Jedoch
man fand einen Ausweg. Die Verträge von 1774 und 1779 wurden
erneuert, aber die Artikel weggelassen, die sich auf jene Gebiete bezogen.
Am 8. Januar 1784 unterzeichneten der russische Gesandte Bulgakoff
und ein türkischer Unterhändler den neuen Vertrag, und der Krieg
wurde zunächst vermieden. Aber Russland hatte bereits eine Handlung
vollzogen, welche zu neuen Streitigkeiten führen musste.
Kaunitz nennt einmal Katharina sehr treffend eine Frau, deren
Ruhm- und Convenienzbegierde grenzenlos sei.') Auch im Kaukasus
suchte Katharina festen Fuss zu fassen, und sie schickte deshalb im
Jahre 1783 zwei Kronen und zwei Zepter an die Fürsten Heraklius von
Georgien und Salomon von Imerete. Letzterer wies beides zurück, der
andere dagegen erkannte die Oberherrlichkeit der Kaiserin und ihrer
Nachfolger an und begab sich für alle Zukunft in ihren Schutz. Und
als der Sohn des Fürsten Heraklius nach dem Tode Salomons von dessen
Lande Besitz ergriff, that er den gleichen Schritt. ?)
!) Beer, Joseph Il., Leopold II. und Kaunitz. Vorrede XX.
?) Zinkeisen, Gesch. des osmanischen Reiches. VI, 399,
Ill. Historisch -staatswissenschaftliche Abtheilung. 37
—
Georgien hatte zu Persien gehört, war 1732 an die Osmanen ab-
getreten, aber von Nadir Schah zurückerobert worden. Als 1779 Kämpfe
um die Herrschaft in Persien ausbrachen, fiel Georgien ab und trat, wie
eben erwähnt, unter den Schutz Katharinas. Die Pforte wollte sich nun
aber die Russen nicht auch von dieser Seite her näher kommen lassen.
Auf ihren Befehl veranlasste der Pascha von Trebisonde 3000 Lesghier,
ein anderes Volk des Kaukasus, einen Einfall in Georgien zu machen;
sie hieben 600 Russen nieder, wurden aber dann mit Verlust zurück-
geschlagen. Der Reis Effendi beklagte sich über den Aufenthalt russischer
Truppen in diesem Lande, jedoch Bulgakoff gab die Beschwerde nur
heftiger zurück. ')
Der Krieg ging weiter; denn die Bergvölker des Kaukasus wollten
die Russen um keinen Preis hier eindringen lassen, und die Pforte stand,
von dem gleichen Interesse geleitet, auf ihrer Seite und unterstützte sie
mit Geld. So sendete Soliman, Pascha von Achiska, einmal ihnen
150 000 Piaster. Die Pforte versah ihn mit Geschützen und Schiess-
bedarf, sie liess von Diarbekir her 30 000 Mann nach Georgien vor-
rücken und Magazine dort anlegen.?) Als der französische Gesandte
dem Reis Effendi sanfte Vorstellungen über die Unterstützung der Berg-
völker machte, da entgegnete der Türke: die Pforte habe die Absicht,
ihnen nicht allein mit Gelde, sondern auch mit Truppen zu helfen; denn
in ihrem eigenen Interesse dürfte sie nicht dulden, dass die Bewohner
des Kaukasus den Russen unterworfen würden. Natürlich erhob Bulgakoff
Einspruch gegen solche Unterstützung der Lesghier, aber er richtete
nichts aus, und zwar um so weniger, als die russischen Consuln in der
Türkei sich eifrig bemühten, dem Sultan die Unterthanen abwendig zu
machen. °)
So stand es ungefähr am Ende des Jahres 1785 in jener Welt-
segend. Von alle dem meldet aber Ranke nichts, er erzählt nur, dass
Katharina 1783 den Fürsten Heraklius in ihren Schutz genommen. Er
meldet weiter‘): Im Mai 1786, als wieder ein solcher Einfall (der
Lesghier in Georgien) mit grosser Änstrengung hatte zurückgewiesen
werden müssen, forderte Katharina die Pforte auf, den Pascha, der den
Frieden breche (durch Unterstützung der Lesghier), mit Absetzung zu
bestrafen. Eben das erzählte Katharina dem Kaiser Joseph Ill. im An-
fang eines Briefes vom 21. August 1786. Nach ihr ist der Einfall
recemment geschehen. Den Monat, wo sie die Forderung stellte, nennt
sie nicht. Woher hat nun Ranke den Mai? Zinkeisen, welchen er ja
!) Zinkeisen VI, 516.
2) An ar Or5st.
®) A. a. O. 576—578.
?) Werke 31/32, p. 292,
38 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
benutzt hat, giebt uns (VI, 942) die Note, sie ist vom 29. Mai. Aus
ihr geht zunächst hervor, dass der russische Gesandte Bulgakoff bereits
vorher — also 1785 — und am 8. Januar 1786 in dieser Angelegenheit
an die Pforte sich gewendet hat; folglich muss der Einfall schon 1785
erfolgt sein. Die Absetzung des Pascha von Achiska hat Katharina
schon am 8. Januar 1786 verlangt, wie auch Zinkeisen (VI, 582) er-
zählt. Indem aber die Pforte darauf nicht einging und keine schriftliche
Erwiderung ertheilte, wurde die Kaiserin ungeduldig und liess am
29. Mai erklären: sie werde nicht säumen, die Mittel vorzubereiten, um
sich selber Recht zu verschaffen, und wenn die Pforte den Pascha nicht
absetze, werde sie sich ihrer Streitkräfte gegen denselben ohne Verzug
bedienen.
Was also Katharina zuerst in ihrem Briefe dem Kaiser Joseph
meldet, das bezieht sich auf eine frühere Zeit; dagegen was sie im Mai
der Pforte hat sagen lassen, davon spricht sie im zweiten "Theil ihres
Schreibens, jedoch mit einiger Freiheit. Wir werden ihre Worte später
anführen,
Ranke fährt in seiner Erzählung fort: ‚In Konstantinopel, wo jetzt
eine bittere Stimmung gegen die Russen vorwaltete, wurde diese An-
muthung, den Pascha abzusetzen, nicht allein zurückgewiesen, sondern
man erhob auch Einwendungen gegen das Schutzverhältniss Russlands
zu Georgien. Man behauptete, Irakli habe schon vorher eine Bestallung
von dem Sultan entgegen genommen: die Oberherrlichkeit, welche sich
die Kaiserin anmaasse, laufe dem Frieden entgegen.‘“ Der erste Satz ist
ebenfalls aus dem Briefe Katharinas an Joseph entlehnt, aber der zweite
nicht, sondern hier hat Ranke die Antwort, welche die Pforte dem
russischen Gesandten am 3. Juli gegeben, näher angesehen; sie steht bei
Zinkeisen gleich hinter der Note Bulgakotfs. Beide Schriftstücke sind
aus dem Geheimen Staatsarchiv in Berlin abgedruckt. In ihrer Ent-
gegnung behauptet allerdings die Pforte, dass Heraklius bereits viel früher
eine Bestallung vom Sultan erhalten habe, und dass das Vasallen-
verhältniss der Fürsten von Georgien zu Russland den Verträgen wider-
spreche. Ob die erste Angabe richtig ist, vermag ich nicht zu sagen;
aber der Behauptung der Pforte, dass die Russen alle Grenzen verrücken,
muss man beipflichten. Und wie stellten sich die Türken zu der
Drohung der Kaiserin? Wichen sie kleinmüthig zurück? Nein, sondern
sie antworteten: wenn die Russen gegen die Verträge die türkischen
Grenzen überschritten und Feindseligkeiten begingen, so würden sie ihnen
entgegentreten und sie die Schuld des Bruches tragen. Wie die Drohung,
so verschweigt Ranke die Gegendrohung, und man begreift nach seiner
knappen Darstellung schwer, was wir dann bei ihm lesen, dass die
russischen Minister vernehmen liessen, wolle die Pforte das Verhältniss
Georgiens zu Russland rückgängig machen, so werde General Potemkin
III. Historisch -staatswissenschaftliche Abtheilung. 39
mit 70 000 Mann an den Grenzen erscheinen, um sich Recht zu ver-
schaffen. Auch hier fehlt übrigens die Genauigkeit. Nicht die Minister
liessen vernehmen, sondern der Gesandte Bulgakoff erklärte der Pforte
amtlich, d. h. im Auftrage der Kaiserin: „Wenn Ihr uns die Erfüllung
unserer Forderungen schriftlich zusichert, gut; wenn nicht, so hat unser
General Potemkin Befehl erhalten, zur Befriedigung derselben mit
60—70 000 Mann Truppen an die Grenzen zu kommen.‘‘!)
Aller Wahrscheinlichkeit nach ist diese starke Erklärung in den
letzten Monaten des Jahres 1786 in Konstantinopel abgegeben worden,
und es hätte daher eine andere Aeusserung der russischen Herrscherin
von Ranke früher angeführt werden sollen. Er berichtet aber erst später,
dass Katharina dem Kaiser Joseph von ihrem Streit über Georgien, dessen
Protection sie niemals aufgeben könne, Nachricht ertheilte und ihn
ersuchte, bei der Vermittelung, zu der sich Frankreich bereits erboten
habe, mitzuwirken. Es geschieht dies in dem schon mehrmals erwähnten
Briefe vom 21. August, als Katharina die Erklärung der Pforte vom 3. Juli
empfangen hatte, doch drückte sie sich viel bestimmter und entschiedener
aus, als es nach Ranke zu sein scheint. Sie schrieb nämlich: sie sei
fest entschlossen, den Schutz, welchen sie den Fürsten von Georgien zu-
gestanden habe, nicht zurückzunehmen und jeden mittelbaren oder un-
mittelbaren Angriff, welchen die Pforte gegen ein dem russischen Reich
unterworfenes Land unternehmen würde, zurückzuweisen. Katharina
meldet hier, was sie den Türken im Mai hat sagen lassen; aber sie giebt
die Note ihres Gesandten nur dem Sinne nach wieder. Was sie dem
Kaiser berichtet, athmet eime noch grössere Entschiedenheit und offen-
bart ohne Zweifel viel besser als die Worte Bulgakofis die Stimmung
Katharina’s.
Wenn wir die russischen Erklärungen vom 8. Januar und 29. Mai,
die ebenangeführte Aeusserung der Kaiserin gegen Joseph, und die letzte
Drohung mit dem Anmarsche Potemkin’s in Betracht ziehen, so können
wir über die Absichten Katharina’s gar nicht in Zweifel sein. Nun tadelt
aber Ranke den Fürsten Kaunitz, weil er übersehen hätte, dass dies-
mal die Vermeidung eines Bruches nicht mehr ganz von der Kaiserin
und den österreichischen Einwirkungen auf den Divan abhinge, da die
Türken die Krim wiederzuerobern gedächten. Einen Beweis dafür,
dass die Pforte solche Absichten 1786 hegte, führt Ranke nicht an, und
es giebt auch keinen.
Im Anfange des folgenden Jahres kam ein Herr von Laskaroff
als Bevollmächtigter Potemkin’s nach Konstantinopel und bestand auf
") So erzählte später die Pforte bei Zinkeisen VI, 946. Hieran schliessen sich
die Worte comme l’Imperatrice va venir encore elle-m&me, was für die Zeit-
bestimmung wichtig ist.
40 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
den alten Forderungen Russlands, indem er hinzufügte: wolle sich
die Pforte darein nicht fügen, so müsste die Kaiserin den Frieden als
gebrochen betrachten. Diesen Vorgang, welchen Zinkeisen nach den
Berichten des preussischen Gesandten erzählt, übergeht Ranke mit Un-
recht. Aber was antwortete die Pforte? Sie werde, sagte sie, von ihrer
rechtfertigenden Note vom 3. Juli des vorigen Jahres keinen Finger breit
weichen.!) Und in dieser Antwort steht von einer Absicht, die Krim
zurückzugewinnen, nichts. Erst bei der Kriegserklärung stellt die Pforte
in Bezug auf die Krim eine Forderung auf, die aber doch etwas anders
lautet, wie wir später hören werden.
Im Jahre 1787 reiste Katharina bekanntlich nach Südrussland und
der Krim. ,Man besah“, schreibt Ranke, „die Festung und Stadt Cher-
son mit ihren neuen Gebäuden und dem bereits aufblühenden Handels-
verkehr“. Das Wort ‚‚man‘‘ bedeutet hier Katharina und Joseph mit
ihrem Gefolge. Nun erzählt aber Letzterer dem Feldmarschall Lasey,
er würde nichts in Cherson gesehen haben, wenn er nicht bei seiner
ersten Ankunft in der Stadt, bevor er der Kaiserin entgegenfuhr, in
Zeit von 36 Stunden sie durchlaufen hätte. Und vom Handel bemerkt
er, derselbe sei noch ohne Bedeutung.)
Hier an diesem Orte wechselten die Kaiserin und Joseph politische
Bemerkungen. Ranke meldet: „Katharina liess erkennen, dass sie den
Krieg mit den Türken gern wieder anfangen möchte. Der Kaiser machte
ihr einige Einwendungen, sie gab darauf zu verstehen, dass sie ihre Sache
auch ohne fremde Hilfe durchzusetzen im Stande sein werde“. Die An-
gaben sind aus einem Briefe Joseph’s an Kaunitz entlehnt, wo es heisst:
„Die Kaiserin brennt vor Begierde, mit den Türken wieder anzufangen;
sie hört auf keine Vorstellung über dieses Kapitel, denn ihre Eitelkeit
und ihr Glück verblenden sie dermaassen, dass sie glaubt, sie werde
sarız allein im Stande sein, was sie will, auszuführen ohne meine Mit-
wirkung.“°) Jedermann sieht auch hier, wie sehr Ranke die Nachrichten
abschwächt.
In Cherson kam es zwischen den russischen, österreichischen und
französischen Diplomaten zu Unterhandlungen über die Erhaltung des
Friedens, wofür sich auch Joseph bei Katharina verwendete. Es wurden
angeblich ermässigte Forderungen aufgestellt, welche Bulgakoff nach
!) Zinkeisen VI, 613.
?) Arneth, Joseph II. und Katharina von Russland, 358, 355. Der Kaiser
schreibt: „Die Wüsteneien, welche die Stadt umgeben, die ungesunde Luft und die
schlechten Zolleinrichtungen werden es für lange Zeit verhindern, dass der Handel
blühend wird.‘ Katharina dagegen pries dem Herrn von Grimm die Lage, den
Boden und das Klima der Stadt; aber sie will loben und ihren Potemkin heraus-
streichen. (Sbornik XXIII, 44.)
®) Ebendas. 292 Anmerk.
III. Historisch -staatswissenschaftliche Abtheilung. 41
Konstantinopel mitnehmen sollte.e Ranke meint, dass dieselben einen
friedlichen Austrag sehr möglich erscheinen liessen. Ich gestehe, dass
ich über dieses Urtheil doch erstaunt bin. Von den fünf Punkten lautete
nur einer, von dem später noch die Rhede sein wird, etwas zu Gunsten
der Türken, die übrigen vier stellten Forderungen an den Sultan.') Am
wichtigsten war für ihn die Entscheidung über Georgien. „Man kam über-
ein“, erzählt Ranke, „‚‚dass dieser Streitpunkt mit Stillschweigen über-
gangen werden solle. Die Meinung der Kaiserin war, zwar ihr Schutz-
verhältniss über dieses Land unbedingt festzuhalten, aber doch nicht
darauf zu dringen, dass es von den Osmanen anerkannt würde.“ Wie
elend ist doch diese Auskunft, welche der grosse Geschichtsschreiber für
diplomatische Weisheit hält! Im Anfange des Jahres 1784 hatten die
Türken, wie erwähnt, stillschweigend darein gewilligt, dass die Krim
dem russischen Reich einverleibt würde; sie wussten jetzt ganz genau,
dass sie dadurch nichts gewonnen hatten. Sollten sie wiederum den
nämlichen Fehler begehen? Einmal betrogen zu werden, sei menschlich,
meint Friedrich der Grosse, wem es dagegen zum zweiten Male begegnet,
den nennt er einen Thoren. Und das wollten die Türken nicht sein,
„In diesem Augenblicke“, schreibt Ranke weiter, „hätten die Russen
ohne Zweifel den Frieden zu erhalten gewünscht“. Ganz gewiss; nur
hätte sich die Kaiserin dann gegen die Türken gemässigter benehmen
müssen. Von Cherson begab sich Katharina nach der Krim. ,‚Der An-
blick von Sewastopol“, meldet Ranke, ‚mit seinem umfassenden Hafen,
habe Katharina in eine Art von Extase versetzt; denn von hier könne
man Konstantinopel in 48, vielleicht in 36 Stunden erreichen.‘ Die
letzte Bemerkung machte aber nicht Katharina, sondern Joseph in einem
Brief an Lasey;?) daher hätte für den Conjunktiv könne, der Indikativ
konnte geschrieben werden sollen. Und überdies hätte Ranke wohl hier
etwas farbenreicher sein können, da der Zeitpunkt denkwürdig genug war.
In meinem letzten Vortrage hiess es hierüber: Noch stolzer (als in
Cherson) wurde Katharina in Sewastopol. Ungefähr 36 Linienschiffe und
Fregatten lagen dort vor Anker. Als die Kaiserin und ihr hoher Gast
an ihnen vorbeifuhren, standen die Matrosen in solcher Zahl auf den
Raaen, dass sie für den Dienst der Fahrzeuge wohl genügen konnten.
„Das Schauspiel war so schön als möglich,‘ bemerkte der Kaiser. Den
Hafen nennt er den besten, den er in seinem Leben gesehen; 150 Schiffe
konnten dort sehr bequem liegen, geschützt gegen alle Gefahren sowohl
des Meeres als des Feindes, welcher sich in die von drei Batterien ver-
theidigte Bucht nicht hineinwagen durfte. Man hatte bereits mehrere
Häuser, Kasernen und Magazine gebaut. „Wenn man in den nächsten
!) Sie stehen bei Zinkeisen VI, 624,
2), Ps 36%
42 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Jahren so fortfährt,‘“ meinte Joseph, „so wird der Platz sicherlich be-
deutend werden“. Katharina war ausser sich vor Entzücken über das,
was sie sah, und über die neue Machtstufe, welche dadurch das russische
Reich betrete. Der Kaiser Joseph aber erwog, dass die Fahrt von hier bis
nach Konstantinopel in 48 und manchmal sogar in 36 Stunden vollbracht
würde. „Was für unangenehme Betrachtungen,‘ schrieb er, ‚muss das
meinem Kameraden, dem Grossherrn, verursachen, der niemals sicher ist,
dass ihm allernächstens diese Kerle mit Kanonenkugeln ohne das geringste
Hinderniss die Fenster einschiessen“. Jedenfalls war der Zeitpunkt un-
geeignet, friedliche Gesinnungen in der Brust der Kaiserin zu erwecken
oder zu erhalten.
Die Türken sahen übrigens ganz richtig, dass Katharina im Kaukasus
ebenso vorging, wie früher in der Krim, und dass sie dort festen Fuss
zu fassen die Absicht hatte. Das wollten sie aber um keinen Preis
dulden, sondern lieber zu den Waffen greifen. Bevor sie jedoch den
entscheidenden Schritt thaten, rief der Reis Effendi den Herrn v. Bulgakoff
zu sich, um mit Bestimmtheit zu erfahren, was die Pforte von Russland
in Bezug auf die zwischen ihnen streitigen Punkte zu erwarten hätte.
Ranke spricht davon nicht, so wichtig die Zusammenkunft war; denn hier
musste sich die Friedensliebe der Kaiserin offenbaren. Aber das Gegen-
theil findet statt. Eine Beschwerde der Pforte ging dahin, die Be-
wohner von Oczakow seien vertragsmässig befugt, ihr Salz aus den benach-
barten Salinen, die 1774 an die Russen gekommen waren, unentgeltlich
zu beziehen, aber sie wurden durch die letzteren daran verhindert. In
Cherson hatten die Diplomaten die Forderung der Pforte ein wenig einge-
schränkt, indem sie verlangten, dass die Türken das, was über den Bedarf
von 100 000 Köpfen hinausginge, zu bezahlen hätten. Dem Reis Effendi
erklärte dagegen Bulgakoff, es müsste dabei bleiben, dass die Pforte
jährlich nur 50 Pud in Anspruch nehmen könnte, d. h. 1637Y/, Pfund.
Also waren jene sogenannten ermässigten Forderungen doch nur ein
Schein,
Die Türken hatten sich über die Consuln von Jassy, Bukarest und
Alexandrien beklagt, welche die Bevölkerungen fortwährend aufhetzten
und den Hospodar der Moldau verführt hätten. Nach seiner Absetzung
war dieser Mann über die russische Grenze geflohen. Die Pforte ver-
langte den Verträgen gemäss seine Auslieferung und die Entfernung der
Consuln aus den genannten Städten; aber jenes wurde natürlich abge-
schlagen und über das andere wollte der Gesandte weiteren Befehl aus
Petersburg erbitten. Zu eben diesem Mittel griff Bulgakoff in Bezug
auf eine andere Beschwerde der Pforte, welche vergeblich über die
schlechte Behandlung der türkischen Kaufleute in Russland klagte. Wenn
sie zur Sicherheit Konstantinopels das Recht haben wollte, die russischen
Schiffe, die im Schwarzen Meere segelten, zu durchsuchen, und Bulgakoff
III. Historisch - staatswissenschaftliche Abtheilung. 43
es rundweg abschlug, so ist das Verhalten beider Mächte begreiflich,
und in gleicher Weise bestand der Gesandte fest und unverrückt auf
der Oberherrschaft Russlands über Georgien. ')
Unter diesen Umständen zögerte zwar die Pforte noch einige Wochen,
aber am 13. August entschied sie sich für den Krieg, und drei Tage
später wurde Bulgakoff, allerdings mit allen Ehren, in die sieben Thürme
gebracht. „Er ist vor dem ottomanischen Ministerium beinahe stumm
geblieben,‘ meldete der preussische Gesandte nach Hause; ‚daraus geht
unzweifelhaft hervor, dass er den Ausgang der Angelegenheit nicht vorher-
gesehen und keine bestimmten Verhaltungsbefehle für irgend welchen
Ausgleich besessen hat.‘‘?)
So trat ein, was Katharina wollte, wenn sie auch einen Aufschub
bis zum nächsten Jahre lieber gesehen hätte, denn sie war noch nicht
genügend zum Kampfe vorbereitet. „Man muss wie Ew. Majestät die
verkehrte russische Hausordnung gesehen haben,“ schrieb Kaunitz am
5. November an Joseph II., „um die Möglichkeit zu begreifen, dass man
so wenig im Stande ist Krieg zu führen, nachdem man mit solcher
Prahlerei that, als ob man ihn suche und den Augenblick seines Be-
ginnes kaum erwarten könne‘‘, Um dieselbe Zeit beklagte Potemkin
die vorzeitige Eröffnung des Krieges, während im nächsten Jahre seine
Flotte der türkischen Hauptstadt Gesetze vorgeschrieben haben würde. °)
Nachdem die Pforte die Entscheidung der Waffen angerufen hatte,
rechtfertiste sie diesen Schritt vor den fremden Mächten. Indem sie
ihre Beschwerden gegen Russland aufzählte, nannte sie zuerst die Ein-
verleibung der Krim, welche gegen den Frieden von Kutschuk Kainardsche
unerwartet vollzogen worden wäre, dann die Oberherrschaft über Geor-
gien, das Verhalten Russlands in Bezug auf das Salz gegenüber den Be-
wohnern von Oczakow, die Weigerung, den geflüchteten Hospodar der
Moldau, welchen die russischen Consuln verführt hätten, auszuliefern.
Diesen Beamten, die in der Walachei und Moldau, auf den Inseln des
Archipelagus und an Orten, wo sie gar nicht nöthig wären, von der
Kaiserin hingesetzt würden, warf das Schriftstück vor, sie verpflanzten
Unterthanen der Pforte nach Russland, wahrscheinlich als Ansiedler,
andere nähmen sie in den Dienst der heimischen Flotte. Die russischen
Kaufleute könnten mit aller Sicherheit ihrem Handel in den Ländern der
Pforte nachgehen, dagegen müssten die türkischen höhere Zölle entrichten
als andere fremde Geschäftsmänner, sie blieben ununterstützt von der
russischen Regierung, wenn sie ihre Schulden eintreiben wollten, so dass
!) Zinkeisen VI, 626.
2) Zinkeisen VI, 629, Anmerk.
®) Beer, Joseph Il., Leopold II. und Kaunitz, p. 282. Ssolowjoff, Gesch. des
Falles von Polen, 182,
44 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
sie meistentheils verarmt und zu Grunde gerichtet nach Hause kämen.
Ihre Kauffahrteischiffe dürften nicht bei Sturm oder Wassermangel landen.
Die Türken schoben die Unsicherheit, welcher sie jetzt unterlägen,
hauptsächlich dem Umstande zu, dass die Krim in die Hände der Russen
gefallen wäre; sie hatten daher gegen Bulgakoff den Wunsch ausge-
sprochen, einen neuen Vertrag mit Katharina zu schliessen, durch wel-
chen die Halbinsel wieder unabhängig würde, wie es durch den Frieden
von Kutschuk Kainardsche bestimmt worden wäre. Natürlich hatte der
Gesandte sich geweigert, einen solehen Vorschlag nach Petersburg zu
melden, worauf die Pforte den Frieden für gebrochen erklärte. Von diesem
Verlangen der Türken spricht übrigens Ranke auch hier an der richtigen
Stelle, doch hat er die Worte que la Crime restät dans l’ancien 6tat
falsch verstanden; sie bedeuten nicht in den Zustand wie vor 1774,
sondern wie vor 1784. In der russischen Rechtfertigung, von welcher
sogleich die Rede sein wird, heisst es ausdrücklich: die Pforte habe
dem Gesandten erklärt, dass sie sich einzig und allein durch den Ver-
trag von Kutschuk Kainardsche gebunden erachte, durch die folgenden
nur soweit, als sie es für gut finde. Ranke hat diese Rechtfertigung
ohne Zweifel nieht näher angesehen und sich durch Zinkeisen verführen
lassen, der die beiden Actenstücke zwar herausgegeben, aber nicht
richtig verstanden hat. Er meint nämlich, mit ihrer Forderung habe
die Pforte die Nothwendigkeit der Zurückgabe der Krim ausgesprochen
wissen wollen.!) Ebenso schreibt Ranke von Forderungen, bei denen
auch die Absicht auf Wiedererwerbung der Krim erscheine.?) Das ist
aber, wie gezeigt, unrichtig.
Reissen wir nun der Kaiserin Katharina die schöne Maske vom Ge-
sicht. Auch sie sandte den fremden Mächten zu ihrer Rechtfertigung
ein Schriftstück zu, länger und wortreicher als das türkische. Wiewohl
sie eine Fülle von Beweisen für das üble Verhalten der Pforte zu be-
sitzen vorgab, wollte sie doch erst in einiger Zeit damit hervortreten
und jetzt nur anführen, was zum Bruche geführt hätte. Katharina be-
hauptet, dass von der Pforte Forderungen in Bezug auf das Salz erhoben
worden wären, die über die Bestimmungen des Friedensvertrages hinaus-
singen, sie führte weiter an, dass die Türken sich der Einsetzung von
Consuln widersetzt und der Pascha von Achiska den Einfall der Lesghier
in Georgien unterstützt hätte. Was die letztere Angelegenheit betrifft,
so meldete die vollendete Heuchlerin den fremden Mächten, wie sie, um
einen Bruch zu verhüten, versöhnliche Schritte gethan hätte, getreu der
Mässigung, die ihr von ihrer Menschen- und Friedensliebe vorgeschrieben
worden wären, $ie erdreistete sich zu sagen, dass sie mit ähnlichen
1) VI, 6928.
2) 31/32 299.
III. Historisch - staatswissenschaftliche Abtheilung. 45
Vorschlägen Bulgakoff aus Cherson nach Konstantinopel zurückgeschickt
hätte. Wir wissen, dass dies alles lauter Unwahrheit ist. Wie sie am
Anfang ihrer Laufbahn in Kurland sich benommen, so ist sie bis an’s
Ende geblieben. Den Gipfelpunkt erreichte die Meisterin in der Kunst
der Verstellung mit der Behauptung, dass sie eben im Begriffe gestanden
hätte, in einige Forderungen der Türken zu willigen, als die Kriegs-
erklärung eingetroffen wäre. Der gutmüthige Zinkeisen glaubt ihr,') aber
hier lässt Ranke sich von ihm nicht verführen.
Die Pforte hatte den Kampf für eine religiöse Pflicht erklärt.
Ebenso meldete die fromme Katharina den fremden Mächten, sie sei
durch jene zu einem Waffengang herausgefordert worden; sie hielt sich
infolge dessen für vollkommen unschuldig an den Leiden, welche der
ausbrechende Krieg erzeugen würde, und für berechtigt, nieht allein auf
den göttlichen Schutz und den Beistand ihrer Freunde zu zählen, son-
dern auch auf die Wünsche der gesammten Christenheit für den Triumph
einer so gerechten Sache, wie diejenige wäre, deren Vertheidigung zu
unternehmen sie sich gezwungen sähe. ?)
In Russland sucht man weniger, grosse Wohlfahrt im Innern zu schaffen,
als vielmehr die Grenzen auszudehnen. Sollte die starke Hungersnoth, die
in dem weiten Reiche wüthete, die Kaiserin abhalten, die Reise nach
der Krim, die sehr viele Millionen verschlang, zu unternehmen? Sollte
sie den Fürsten Potemkin, welchen sie schon oft mit reichen Geschenken
überhäuft hatte, für seine Leistungen in den neuen Gebieten nur mit dem
Beinamen der Taurier abfinden und die 100 000 Rubel, welche sie ihm
zudachte, lieber dem hungernden Volke geben? Sollte sie aufhören,
ihre Generaladjutanten aus den Steuern des armen Volkes für die Dienste,
welche sie ihr leisteten, übermässig zu belohnen ?
Zunächst aber musste sie den Krieg führen, welchen sie selbst herbei-
gewünscht hatte. Dass ihr Joseph hierbei nicht feindlich entgegentreten
würde, darüber durfte sie keinen Zweifel hegen; dagegen war es unsicher,
ob er ihr Beistand leisten könnte. Schon als er noch in Russland
weilte, hatten ihn schlimme Nachrichten aus seinen niederländischen
Provinzen erreicht, die ihn ganz ausser Fassung brachten. Im Gegen-
satze zu Katharina meinte er es mit seinen Unterthanen wirklich gut,
aber er dachte gar zu hoch von der Allgewalt der Herrscher und ver-
stand es nicht, wie Friedrich der Grosse, vor Privilegien Halt zu machen.
Ueber die Schwäche, welche die Generalstatthalterschaft ihm hierbei
gezeigt zu haben schien, ward er rasend vor Wuth, und wenn Kaunitz
wirklich glaubte, dass Menschenfreundlichkeit und Religion dem Kaiser
verbieten würden, das Blut seiner Unterthanen zu vergiessen, so befand
Y VI, 633.
?) Beide Schriftstücke stehen am Schlusse des sechsten Bandes von Zinkeisen.
46 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
er sich im Irrthum. Zwar suchte sich Joseph mit den Provinzen zu
verständigen, und er forderte sie deshalb auf, Deputirte nach Wien zu
schicken; aber zugleich gab er Befehl, von den Waffen Gebrauch zu
machen, wenn die öffentliche Ruhe gestört werden sollte. Doch gingen
seine Absichten noch viel weiter. Wenn seine niederländischen Unter-
thanen sich geradezu gegen ihn auflehnten und von den kaiserlichen
Truppen besiegt würden, so wollte der Menschenfreund den gesammten
Besitz derjenigen, die am Aufstande theilgenommen hätten, als der Krone
verfallen ansehen und über alle Gesetze, Privilegien und Staatseinrich-
tungen ganz allein nach seiner Willkür verfügen. Die Grundsätze, welche
der Kaiser hier gegen den englischen Gesandten aussprach,') waren natür-
lich nur für den äussersten Fall berechnet, und dieser trat noch nicht
ein; denn die Deputirten erschienen. Joseph verlangte, dass vor jeder
weiteren Verhandlung alles in den früheren Stand gesetzt werden und
also die Neuerungen, die er einseitig getroffen und welche das Land
siegreich zurückgewiesen hatte, zunächst doch wieder in’s Leben treten
sollten. Mit diesen Aufträgen reisten die Deputirten nach Hause. Sie
hatten gegen den Kaiser doch nicht grob sein können, und so überredete
sich dieser, sie wären befriedigt von Wien fortgegangen. Da nun auch
die Truppen in den Niederlanden ohne jede Schwierigkeit zusammen-
gezogen worden waren, so hielt sich Joseph für geborgen, und vertrauens-
selig, wie er war, überliess er sich dem Glauben, er werde leicht Mittel
finden, die Verfassung der Niederlande mit den von ihm beabsichtigten
Aenderungen und Verbesserungen auszusöhnen, sobald die Ruhe gänzlich
wieder hergestellt sei. So schrieb er am 30. August an Katharina. Er
hoffte damals, in einigen Tagen die Nachricht von der Ausführung seiner
Befehle zu empfangen, und weil er mit solcher Zuversicht vorwärts
blickte, ging er noch einen Schritt weiter. Er hatte früher als die
Kaiserin von Russland die Kunde von der türkischen Kriegserklärung
vernommen, und so gab er unaufgefordert und etwas eilig die Erklärung
ab, dass er, treu seinen Verpflichtungen als Bundesgenosse und noch
mehr von aufrichtiger Freundschaft gegen sie getrieben, auf jede Weise
zeigen wolle, wie sehr ihre Sache die seinige sei. Am 13. October
meldete Joseph der Kaiserin, er sei mit seinen Anordnungen fertig und
habe sein Heer so aufgestellt, dass es einen Seitenangriff auf die türki-
schen Truppen machen könne. Eben schienen ihm die belgischen Un-
ruhen ihr Ende gefunden zu haben, und zwar in gerade so lächerlicher
Weise, wie sie angefangen hätten. „Die Niederlage der holländischen
Patrioten,‘‘ fuhr er fort, „die ohne Schwertstreich herbeigeführt worden
ist, macht dem Könige von Preussen, welcher den Werth der hollän-
dischen und französischen Worte sehr wohl abgeschätzt hat, eben so
Y) Ranke, 31/32, 313, Anm. 1.
-
II. Historisch-staatswissenschaftliche Abtheilung. 47
viel Ehre wie dem Herzoge von Braunschweig, der es verstanden, den
ihm ertheilten Auftrag vortrefflich auszuführen.‘‘').
Indem aber Katharina jetzt auf die Unterstützung des Kaisers Joseph
rechnen konnte, schien der Plan, über welchen sie vor fünf Jahren mit
ihrem Bundesgenossen einig geworden war, der Verwirklichung nahe,
Jedoch wie selten gelingt es auch bedeutenden Geistern, ihre hochfliegen-
den Entwürfe so vollständig auszuführen, wie Fürst Bismarck Deutsch-
lands Einigung in’s Werk gesetzt hat!
In der dritten Sitzung am 19. December las Director Dr.
Reimann einen Aufsatz über
Katharina II. und Joseph II. im Bunde gegen die Türken 1788.
Wie der siebenjährige Krieg ein Jahr früher ausbrach, als Maria
Theresia die Absicht hatte, so verhielt es sich auch 1787 mit dem Bruche
zwischen Russland und der Pforte. Durch die fortwährenden scharfen und
herausfordernden Beschwerden des russischen Gesandten gereizt, erklärte
der Sultan endlich am 16. August 1787 der Kaiserin von Russland den
Krieg. Hier war man mit den Rüstungen noch nicht fertig; aber man
musste den hingeworfenen Handschuh jetzt aufnehmen, und Katharina
that es sehr gern. Sie wollte so gut als möglich ihre Rolle spielen und
die muselmännische Höflichkeit vergelten. Sie beschloss auch sogleich,
wieder, wie im Jahre 1769, in das Mittelmeer eine Flotte zu schicken,
Im nächsten Frühlinge sollte das geschehen, und wenn sich dabei zu
ihren 20 Schiffen französische hilfreich gesellten, so war sie bereit, der
verbündeten Macht in Aegypten eine Entschädigung zu gewöhren.?)
Wie rasch aber stiess die Kaiserin auf ungeahnte Schwierigkeiten.
Zunächst wurde sie durch die verzagte Stimmung ihres Lieblings Potemkin
erschreckt. Mit welchem Stolz hatte dieser vor wenigen Monaten ihr
in Sewastopol die neuen Schiffe gezeigt, mit denen er im nächsten Jahre
vor der türkischen Hauptstadt erscheinen wollte, um dem Sultan Gesetze
vorzuschreiben! Aber diese siegesfrohe Stimmung schlug um, als die
Türken am 30. August die Feindseligkeiten begannen, um Kinburn zu
erobern, welches am Liman des Dniepr gegenüber der türkischen Festung
Oczakoff lag. Dass nervenschwache Feldherren einen guten Plan ver-
derben können, hatte der Prinz Heinrich im bayerischen Erbfolgekriege
zum Leidwesen Friedrich’s des Grossen bewiesen, und ähnlich erging es
jetzt dem Fürsten Potemkin. Dass der Krieg früher ausgebrochen war,
als er gedacht, benahm ihm die Fassung, und als die Türken Kinburn
wirklich belagerten und seit 4 Tagen aus Kanonen und Bomben be-
!) Arneth, Joseph Il. und Katharina II., 302, 303.
?) S. den Briefwechsel zwischen Katharina und Potemkin bei Ssolowjoff
Gesch. des Falles von Polen, p. 184.
48 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
schossen, da schrieb er wie in Verzweiflung an die Kaiserin, ja, er
wünschte, den Oberbefehl an einen Anderen abzugeben. Katharina
tröstete den Verzagten; sie meinte, wenn Kinburn verloren ginge,
so würde doch Russland noch immer bleiben was es wäre. Dann fuhr
sie fort: „Ist nur mein Fürst gesund, so läuft Alles gut ab, und platzt
auch irgendwo etwas Unangenehmes heraus, so wird es zurechtgerückt.‘
Katharina flehte zu Gott, dass er dem Fürsten Gesundheit und Kraft
verleihen und die Hypochondrie von ihm nehmen möchte. Sie rieth ihm,
rasch von der Vertheidigung zum Angriff überzugehen. Aber wie er-
schrak sie erst einen oder zwei Tage später!!) Am 22. September hatte
sie an Joseph geschrieben: „Ich erwarte jeden Augenblick Nachrichten
von der Flotte, die Ew. Kais. Maj. im Hafen von Sewastopol gesehen
hat; sie muss der feindlichen Flotte entgegengefahren sein. - Die Ge-
legenheit ist schön für tapfere Leute, die gute Schiffe haben.‘“?) Wir
sehen, was für Erwartungen Katharina’s Busen schwellten, der sich dann
krampfhaft zusammenzog, als Potemkin Nachricht gab. „Mütterchen,
Herrscherin, ich bin unglücklich geworden,“ schrieb er; „obwohl ich
mein Möglichstes gethan, geht Alles verkehrt. Die Flotte hat der Sturm
zertrümmert; ein Rest davon ist in Sewastopol, lauter kleine, unzuver-
lässige oder vielmehr untaugliche Fahrzeuge. Die Linienschiffe und die
Fregatten sind zu Grunde gegangen. Gott schlägt, nicht die Türken.‘‘°)
In düsterer Verzweiflung griff er zu dem äussersten Entschlusse, bei-
nahe wie Maria T'heresia, als der bayerische Erbfolgekrieg in sicherer
Aussicht stand. ‚Alle Gnaden und Güter, die ich von Ihrer Freigebig-
keit erhalten habe,“ schrieb er an die Kaiserin, „lege ich Ihnen zu
Füssen und will in Einsamkeit und Vergessenheit mein Leben beschliessen,
das, wie ich denke, nicht mehr lange dauern wird.“
Die Nachricht von dem grossen Schaden, welchen der Sturm ange-
richtet, betrübte Katharina natürlich sehr; aber sie meinte, dennoch sej
Nichts verloren. Ueberaus schmerzlich war ihr dagegen die verzweifelte
Stimmung Potemkin’s, in welcher er durchaus den Oberbefehl abgeben
wollte und von der Nothwendigkeit sprach, die Truppen aus der Krim
zurückzuziehen. Sie schlug ihm umgekehrt vor, zum Angriff überzugehen
und etwas gegen Oczakoff und Bender zu unternehmen. „Ermanne Dich
doch,‘ fuhr sie fort, „und bedenke, dass ein beherzter Geist auch das
Missgeschick umzuwandeln vermag. Alles dies schreibe ich Dir als
meinem liebsten Freunde, meinem Zögling und Schüler, der bisweilen
mehr Muth hat, als ich selbst. Für diesmal bin ich beherzter als Du,
!) Ebendas. 178 ff.
?) Arneth, Joseph II. und Katharina II., p. 301.
®) Der Schaden war übrigens nicht so gross, wie sich später herausstellte
Sbornik XXIII, 434.
III. Historisch - staatswissenschaftliche Abtheilung. 49
weil Du krank bist, ich aber gesund bin. Du bist ungeduldig wie
ein fünfjähriges Kind, während die Geschäfte, die Dir auferlegt sind,
eine durch nichts zu erschütternde Geduld erheischen.‘“
Zu derselben Zeit, wo Katharina den Fürsten Potemkin aufforderte,
sich zu ermannen, konnte der General Suwarow mit Stolz an den vorher-
gehenden Tag denken. Am 12. October waren die Türken gelandet,
um Kinburn zu erstürmen, und ein langer, heisser Kampf entbrannte;
denn beide Theile stritten mit äusserster Tapferkeit. Aber zuletzt er-
fochten die Russen den Sieg und brachten den Türken die schwersten
Verluste bei. Auch im Kaukasus behielten die Generäle Katharina’s die
Oberhand, und so konnte sie mit dem Ausgange des Jahres 1787 immer
noch zufrieden sein. Dagegen machten sich die Folgen der Hungersnoth
schrecklich geltend. ,‚Gott gebe, dass die Krankheiten aufhören,‘ schrieb
die Kaiserin an Potemkin am 6. Februar 1788, „die Theuerung ist furcht-
bar. Gott verleihe Kraft, alle sichtbaren und unsichtbaren Mühselig-
keiten zu ertragen.“ Diesmal suchte sie der Fürst aufzurichten, indem
er sie ermahnte, sich zu gedulden und unerschütterlich auf Gott zu ver-
trauen. „Christus wird Ihnen helfen und das Ende der Trübsal senden.
Gehen Sie Ihr Leben durch, Sie werden sehen, wie viel ungehofftes
Heil Ihnen nach dem Missgeschick zu Theil ward.“ Zu den tausend und
abertausend Menschen, die mit der Bibel Unfug getrieben haben, gehört
auch Potemkin. Er bezog auf Katharina’s Thronbesteigung die Rolle des
Apostels Paulus im Römerbriefe: „Ich empfehle euch aber unsere
Schwester Phoebe, welche ist am Dienste der Gemeine, dass ihr sie
aufnehmet in dem Herrn, wie sich’s ziemet den Heiligen.‘‘')
Mehr als dieses Schreiben musste Katharina die Nachricht erfreuen,
dass der Kaiser dem Sultan den Krieg erklärt hätte, Seit 1739 lebten
die beiden Nachbarländer in einem glücklichen Frieden, der auch nicht
durch den Raub der Bukowina gestört worden war. Nach dem Tode
der Kaiserin Maria Theresia hatte sich Joseph zum Sturze des osmani-
schen Reiches mit Katharina verbunden, dann aber, als sie ihn rief,
war er erschrocken zurückgewichen. Aber die Listige gab ihr Spiel
noch nicht verloren. Sie reizte die Türken so lange, bis ihr diese den
Krieg erklärten. Allerdings hatte sie zu ungestüm gespielt und die Feind-
seligkeiten vorzeitig heraufbeschworen. Aber nun, da sie angegriffen
wurde, musste Joseph ihr Beistand leisten. Nach dem Vertrage von 1781
war er verpflichtet, drei Monate nach geschehener Aufforderung mit
10000 Mann Fussvolk und 2000 Mann Reiterei sammt Feldartillerie der
Kaiserin von Russland zu Hilfe zu kommen. Die Lage der Dinge in
den österreichischen Niederlanden hätte Joseph dahin führen sollen, die
Aufforderung Katharina’s abzuwarten und nur die verabredete Hilfe zur
\) Ssolowjoff 185.
50 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Culiur.
festgesetzten Zeit zu leisten. Die Kaiserin von Russland erkannte richtig,
welchen Schaden die flämische Bewegung ihren Plänen bringen könnte,
und sie erstaunte darüber, dass ein Fürst, der auch mit dem Geringsten
zu sprechen pflegte, von der Stimmung des belgischen Volkes keine
Ahnung hatte, während doch die Uebereinstimmung allgemein gewesen
wäre, als der Widerstand ausbrach.‘) Aber in seinem Herrscherdünkel
hielt Joseph die Unruhen für gestillt oder so gut wie gestillt, und er
beschloss, mit seiner ganzen Macht gegen die Türken zu ziehen, die ihm
nichts zu Leide gethan hatten. Der Vicekanzler Ostermann sagte dem
österreichischen Gesandten, die Kaiserin wünsche lebhaft, dass der
Wiener Hof bald in den Besitz Bosniens und Serbiens gelange, in
Albanien bis an das Meer vorrücke und sich aller Länder bemächtige,
die ihm der Vereinbarung gemäss zufallen sollten.
Joseph hatte den Krieg eigentlich in unehrlicher Weise bereits im
Anfange des Decembers angefangen, indem er die Festung Belgrad über-
rumpeln liess, und als das Unternehmen missglückte, hatte Kaunitz sogar
zu einem neuen Versuche, welcher am Ende doch unterblieb, gerathen, ?)
dann aber zur Kriegserklärung gedrängt, und nun stellte der Kaiser sein
Heer auf der 200 Meilen langen Grenze so auf, dass die an die Türkei
stossenden Kronländer gegen Einfälle der Feinde gedeckt wären. Sein
Rathgeber war hierbei wie im Jahre 1778 der Feldmarschall Graf Lasey.
In den letzten Tagen des März kam Joseph selbst in das Lager bei
Futak, und einen Monat später wurde die kleine Festung Schabatsch
an der Save genommen. Nun wollte der Kaiser den Fluss überschreiten
und gegen Belgrad ziehen; aber seine Generäle riethen ab, da noch
viele Vorbereitungen getroffen werden müssten, und er fügte sich noth-
gedrungen. Kaunitz aber ergrimmte über diese Kriegsmänner, welche
Rathschläge der Art gaben. Er meinte: diese Herren scheinen vergessen
zu haben, dass zu allen Zeiten ein Feldherr nur dann glücklich gewesen
ist und grosse Thaten verrichtet hat, wenn er sie zu unternehmen wagte,
und dass man, wenn Eroberung von festen Plätzen und geschickte Ma-
növer nicht zum Ziele führen, immer noch den Feind zu einer Schlacht
zwingen und dadurch über den Feldzug oder den Krieg entscheiden kann.
Der Staatskanzler glaubte in einem solchen Fall auf einen günstigen Aus-
gang rechnen zu dürfen, weil die Oesterreicher den Türken in der Kriegs-
kunst überlegen wären.‘)
!) Sbornik XXI, 430.
2) Beer, Joseph II., Leopold II. und Kaunitz, 283 ff. Beer, Die orientalische
Politik Oesterreichs, p. 93—9.
3) Dieses Schreiben vom 22. Mai, das sehr wichtig ist, fehlt seltsamerweise bei
Beer, der nur die Antwort hat, dagegen giebt Ranke 31/32 323 die Hauptstelle
jenes Schreibens vom 22. Mai.
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III. Historisch -staatswissenschaftliche Abtheilung. 51
Dieses Schreiben erhielt der Kaiser, als alle Vorbereitungen zum
Vordringen über die Save getroffen waren. Aber er freute sich nicht
darüber, dass nun Thaten zu kommen schienen; denn seine Generäle
missbilligten den Marsch, weil man alsdann zur Belagerung von Belgrad
schreiten müsste. Der Grossvezier sollte schon in Sofia siehen. Man
fürchtete, dass er, wenn man die Save überschritten, mit seinem Heere
binnen Monatsfrist herankommen würde, und man erschrak vor der Mög-
lichkeit, von ihm angegriffen zu werden, die Festung Belgrad und zwei
grosse Flüsse im Rücken. Joseph zeigte sich hier in seiner ganzen Feld-
herrnblösse. Statt dem Staatskanzler zu folgen und die Generäle mit
sich fortzureissen, gab er nach, so brennend der Schmerz war, den er
darüber empfand. ‚Aber was bedeutet der Wille eines Einzigen gegen-
über dem aller Uebrigen?“ antwortete er am 27. Mai dem Fürsten
Kaunitz, „und welche Hilfe kann man von Leuten erwarten, die man
wider ihre Ueberzeugung handeln lässt? Sie ziehen sich zurück, lassen
Euch in der Noth sitzen und thun nur genau ihre Pflicht, und allein ist
man ausser Stande, alles zu machen und vorherzusehen.‘‘')
So blieb der Kaiser in Semlin stehen und nach sieben langen Wochen
schrieb er an Kaunitz: ‚Mein weiterer Plan für den Feldzug ist sehr
einfach. Da ich so lange gewartet habe, um die Save zu überschreiten
und Belgrad zu belagern, muss ich noch länger warten.“ Er wollte
sehen, was der Grossvezier thun würde, wenn der türkischen Flotte im
Liman des Dniepr etwas zustiesse, oder wenn von den beiden russischen
Heeren das eine vor Oczakoff zöge, das andere in die Moldau einrückte,
ob der Grossvezier alsdann mit seinem gesammten Heere gegen ihn oder
gegen die Russen marschiren oder ob er seine Streitkräfte theilen würde.
Erst im September, nachdem wieder ungefähr sieben Wochen verstrichen
wären, hoffte der Kaiser, wenn die feindlichen Truppen durch Fahnen-
flucht schwächer geworden sein würden, mit mehr Aussicht auf Erfolg
und geringerer Gefahr etwas unternehmen zu können. ?)
Joseph wartete, wie man sieht, was die Russen und die Türken thun
würden. Jene hielten sich noch still; denn sowohl Rumanzoff, welcher
in die Moldau einrücken sollte, als Potemkin, dessen Ziel Oczakoff war,
hatten erst mancherlei Vorbereitungen für den Feldzug zu treffen. Aus
dem Lager des Letzteren berichtete der Fürst von Ligne im April 1788
dem Kaiser: „Wenn wir Lebensmittel hätten, würden wir marschiren,
hätten wir Pontons, die Flüsse überschreiten, und hätten wir Munition,
die Festungen belagern. Weiter hat man nichts vergessen.) Da be-
greift man, dass Potemkin seiner Verzagtheit noch immer nicht Herr
1) Beer 290.
?\) Beer 294.
®) Witzleben, Prinz von Coburg-Saalfeld, I, 125.
59 | Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
werden konnte. Gegen Ende des Maimonats hatte er wiederum die
Räumung der Krim angerathen. Aber davon wollte die Kaiserin um
keinen Preis etwas wissen. ,„Gieb um Gotteswillen“, schrieb sie am
7, Juni, „diesen Gedanken nicht Raum, die ich durchaus nicht begreifen
kann und die mir ganz unzulässig erscheinen, um so mehr, als sie uns
Vortheile nehmen, die wir in Krieg und Frieden erworben haben,
Steigt Jemand, wenn er zu Pferde sitzt, ab, um sich am Schwanz an-
zuhalten ?°“')
Mit nagender Ungeduld blickte Katharina nach dem Süden auf die
verschiedenen Schauplätze des Krieges; aber auch im Norden verfinsterte
sich der Horizont. Zu den stolzesten Erinnerungen der Kaiserin gehörte
der Sieg, den ihre Flotte 1770 in den Gewässern von Chios bei Tschesme
davon getragen, und sie feierte die ruhmvolle That auch 1788 durch ein
Tedeum, wie Maria Theresia dies noch vor zehn Jahren wegen des Tages
von Kolin gethan hatte. Nun wollte Katharina, wie bereits erzählt
worden ist, jetzt ebenfalls wieder in das Mittelmeer Kriegsschiffe senden,
und sie wünschte bei diesem Vorhaben von den Franzosen unterstützt
zu werden. Gering war freilich ihre Hoffnung bei der Schwäche, welche
diese Nation in den Vereinigten Niederlanden gezeigt, indem sie einen
Theil der Bürger zur Empörung gegen den Statthalter aufgemuntert hatte
und nachher vor England und Preussen feige zurückgewichen war.
Katharina spottete wohl selbst über die Franzosen, die sich früher nie-
mals ungestraft hätten Nasenstüber geben lassen und jetzt alles von
Georg UI. und Friedrich Wilhelm II. ertrügen. Einen Backenstreich
empfangen und dann die andere Backe hinreichen, meinte Katharina, sei
zwar evangelisch, aber nicht königlich. Sie erfuhr ferner, dass von den
französischen Officieren, welche die türkischen Soldaten einübten, 10 nach
Hause zurückgekehrt, aber etwa 20 neue dahin gegangen wären. Und
wenn der Herr v. Grimm über die Absendung der russischen Flotte mit
dem Grafen v. Montmorin sprach, so wollte dieser das Einlaufen in fran-
zösische Häfen nur so weit gestatten, als er dadurch nicht seinem An-
sehen und Einfluss bei der Pforte schadete.?)
Katharina fühlte hier Bedauern; in ihren Briefen an Grimm be-
zeichnete sie die Franzosen jetzt mit den deutschen Worten ‚‚die armen
Leute“. Dagegen hasste sie Georg III. und Friedrich Wilhelm II. gründ-
lich, und zwar jenen noch mehr als diesen. Sie nannte Beide die Häupter
des Fürstenbundes und der Windmühlen, die Vertheidiger der deutschen
Freiheit, welcher Niemand zu nahe tritt, die Unterdrücker der Freiheit
der Holländer, die eben gerettet werden sollten, die Aufreizer der
Türken.°) Solchen Unsinn schrieb die despotische Frau im November
") Ssolowjoff 191.
2) Sbornik XXIII, 418, 496, 437, 445.
3) A. a. ©. 424.
III. Historisch - staatswissenschaftliche Abtheilung. 53
1787; wie aber musste sich ihr Zorn steigern, als der König von Eng-
land im nächsten Frühjahre seinen Unterthanen verbot, den Russen
Transportschiffe für ihre Kriegsflotte zu leihen, weil er streng neutral
bleiben wollte.) Jedoch das Haupthinderniss für die Ausführung ihres
Lieblingsplanes kam nicht von einer grossen Macht, sondern von
Schweden,
Katharina liebte die unumschränkte Herrschergewalt über die
Maassen, und sie konnte sehr hart, ja grausam werden, wenn sie sich
in diesem Gefühle verletzt glaubte; denn ob dadurch das Glück einer
Familie zerstört würde, das war ihr gleichgültig. Dagegen gönnte sie
nicht nur den Nachbarstaaten gern den Besitz einer unverständigen Frei-
heit, sondern sie suchte sogar eifrig, diesen vermeintlichen Schatz ihnen
zu erhalten. So verfuhr sie bekanntlich in Polen, und so machte sie es
auch in Schweden, indem sie die nach dem Tode Karls XII. eingerichtete
Adelsherrschaft, welche die königliche Gewalt unvernünftig beschränkte,
nicht nur selbst in ihren starken Schutz nahm, sondern auch Preussen
und Dänemark zu dem gleichen Verhalten bestimmte. Dennoch wusste
Gustav III., der Neffe Friedrich’s des Grossen, den günstigen Zeitpunkt,
als Katharina zum ersten Male mit den Türken Krieg führte und zu-
gleich durch die polnische Theilung 1772 beschäftigt wurde, für seine
Zwecke zu benutzen und das ihm auferlegte Joch abzuwerfen, ohne doch
den Ständen jeden Antheil an der Gesetzgebung zu nehmen, Um so
inniger hielten nach dem Staatsstreiche die russischen Gesandten und die
dem Könige feindliche Adelspartei zusammen, und so ist es begreiflich,
dass Gustav von der Gelegenheit, welche der zweite Türkenkrieg ihm
bot, ebenfalls Gebrauch machen wollte, um diese Verbindung zu zerreissen
und womöglich verloren gegangene Provinzen zurückzuerobern.
Die Zeitumstände waren ohne Zweifel günstig für den König, und
Katharina gerieth in die grösste Unruhe, als sie von seinen Rüstungen
hörte. Am 15. Juni schrieb sie an Potemkin: ‚Ich glaube, sie packen
nicht an, sondern beschränken sich auf blosse Demonstrationen, und es
handelt sich nur darum, ob man solche ruhig hinnehmen soll... Folgte ich
meiner Neigung, so würde ich dem Admiral Greigh und dem Geschwader
Tschitschagows befehlen, die Demonstration zu zerstäuben. In 40 Jahren
sollten mir die Schweden nicht wieder Schiffe bauen. Aber nach solcher
That haben wir zwei Kriege statt des einen. Anfangen dürfen wir
schon darum nicht, weil er — der König —, wenn er uns angreift,
nach der Verfassung keine Hilfe von der schwedischen Nation erhält;
packen wir dagegen an, so muss sie helfen. So will ich ihm denn volle
Zeit lassen, Dummheiten zu machen, Geld zu verschleudern und sein Brot
aufzuessen.‘‘?)
!, Sbornik XXIII, 445.
2) Ssolowjoff 192.
54 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Um dem schwedischen Kriege zu entgehen, liess die stolze Kaiserin
dem Ministerium in Stockholm, sowie allen denen, die in dieser Nation
einigen Antheil an der Regierung haben, durch den Grafen Rasumowski
erklären, dass sie den Frieden wolle und sich lebhaft für die Ruhe in
Schweden interessire. Der Gesandte sorgte natürlich dafür, dass seine
Note durch den Druck zur allgemeinen Kenntnis kam. Mit Recht ge-
rieth Gustav in heftigen Zorn darüber, dass Katharina gewissermaassen
Berufung an die öffentliche Meinung in Schweden einlegte und sich
zwischen den König und sein Volk stellte Am 23. Juni liess er dem
Grafen sagen, dass er ihn nicht mehr als Gesandten anzuerkennen ver-
möge, und er befahl ihm, das Land zu verlassen. Er selbst aber begab
sich nun mit seinem Heere nach Finnland und schickte von hier eine
Note nach Petersburg, worin er die Bedingungen angab, unter denen der
Friede sich erhalten liesse. Zuerst verlangte der König, dass der Graf
Rasumowski für seine Ränke und sein Bestreben, die freundschaftlichen
Beziehungen zwischen beiden Mächten zu stören, streng bestraft werden
sollte, damit Seinesgleichen von allen Versuchen, sich in die inneren
Angelegenheiten souveräner Staaten zu mischen, für immer abgeschreckt
würden. Ferner forderte Gustav als Entschädigung für die schwedischen
Rüstungen die Abtretung des russischen Finnlands. Drittens sollte die
Kaiserin seine guten Dienste zur Herstellung des Friedens mit den Türken
annehmen und zwar so, dass Russland der Pforte die Krim zurückgäbe.')
Wenn es aber dem Könige nicht gelänge, auf Grund dieser Bedingungen
die Pforte zum Frieden zu bestimmen, so sollte er die Grenzen, wie sie
vor dem Kriege von 1768 bestanden hätten, den Türken anbieten dürfen.
Endlich als Bürgschaft für die Bereitwilligkeit, solche Opfer zu bringen,
sollte die Kaiserin vorläufig ihre Flotte entwaffnen, die in der Ostsee
befindlichen Schiffe zurückrufen, ihr Heer aus den an Schweden und die
Türkei abzutretenden Gebieten entfernen und zugleich gestatten, dass der
König nicht eher entwaffne, als bis der Friede zwischen Russland und
der Pforte geschlossen sei.
/Jwei Tage nach Empfang der Note schrieb Katharina dem Fürsten
Potemkin: ‚Die Handlungen dieses Königes sind die eines Verrückten....
Jetzt mag Gott zwischen uns Richter sein.“?) Und dem Kaiser bezeich-
nete sie am 18. Juli nicht mit Unrecht das Schriftstück als grossmäulig,
unschicklich in den Ausdrücken und ungereimt in seinen Vorschlägen,
ein wahres Erzeugniss des Wahnsinns. Uebrigens verhehlte sie dem
t) Wenn Brückner bei Sybel 22, 366 noch hinzufügt: Herstellung der Grenzen
vor 1774, so könnten das nur die von 1768 sein, da aber diese nachher erwähnt
werden, so ist jener Zusatz offenbar falsch. Auch hat ihn Katharina nicht in ihrem
Schreiben an Grimm (Sbornik XXIII, 453).
?2) Brückner in der Hist. Ztschr. 22, 368.
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III. Historisch -staatswissenschaftliche Abtheilung. 55
Kaiser nicht, welche Pein ihr der unerwartete Zwischenfall bereitete,
weil dadurch die Absendung der Flotte nach dem Mittelländischen Meere,
wie sie damals noch glaubte, verzögert würde.') Eben deswegen warf
sie einen tödtlichen Hass auf Gustav. In den Briefen an Grimm heisst
er gewöhnlich Sir John Falstaff, und in verschiedenen Sprachen offen-
barte sich ihre Wuth. ,Der Kerl glaubt, dass er allein alle Klugheit
gefressen hat,‘ schrieb sie deutsch am 17. August, „und dass die Welt
ein dummer Teufel ist“. Zwölf Tage später verwünscht sie auf englisch
den König: „God damn the King Falstaff“. Und am 14. October
schimpft sie ihn französisch einen charakterlosen Bösewicht, unwürdig
der Stelle, die er einnimmt, von seinen Unterthanen mehr verachtet als
gehasst.°)
Was nach jenen Friedensbedingungen zu erwarten stand, war ein-
getreten und der Krieg ausgebrochen. Am 17. Juli hatten die Schiffe
beider Theile sich ein Seetreffen geliefert. Die obersten Befehlshaber,
der Herzog Karl von Südermannland und der russische Admiral Greigh,
schrieben sich jeder den Sieg zu, und sowohl in Stockholm als in Peters-
burg wurden Dankgottesdienste gehalten; aber da die schwedische
Flotte nach Sveaborg fuhr, wo die russische sie einschloss, konnte Katha-
rina zufrieden sein. Noch gelegener kam ihr der Abfall der finnischen
Truppen. Als Gustav die Vorbereitungen zur Belagerung von Frederikshamm
traf, weigerten sich die Officiere zu kämpfen, weil der Krieg ohne Ein-
willigung der Stände geführt würde. Die Hochverräther sind sogar noch
in Verbindung mit Katharina getreten. Gustav musste sein Vorhaben
aufgeben und nach Stockholm traurig zurückkehren. So konnte weder
seine Flotte nach Kronstadt segeln, noch er mit den Landtruppen vor
Petersburg ziehen. Nicht lange, so kam er sogar in die Nothwendigkeit»
das eigene Reich zu vertheidigen; denn die Dänen fielen in Schweden
ein, um den Russen die vertragsmässige Hilfe zu leisten. Jedoch als
sie sich anschiekten Gothenburg zu belagern, wusste Gustav diese Stadt
in einen guten Vertheidigungszustand zu setzen, und Preussen und Eng-
land zwangen durch Drohungen den Hof in Kopenhagen, am Kriege
keinen Theil mehr zu nehmen. Nun konnte Gustav wieder mit einiger
Zufriedenheit um sich blicken. „Wir sind die Dänen los,“ schrieb
er am 4, December 1788 an einen Freund, „und ihr ganzer Angriff hat
nur dazu gedient, das Nationalgefühl zu wecken und ein mir ergebenes
Heer auf die Beine zu bringen.‘“°)
Das Unternehmen des Königs von Schweden hatte auch den Kaiser
Joseph sehr erschreckt. Er war nicht eben mit den Russen zufrieden,
!) Arneth 3.
2) Sbornik 461, 463, 466.
3) Brückner, Katharina die Zweite. S. 387.
56 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
die ihn nach seiner Meinung zu wenig unterstützten, und er fürchtete,
dass die unbegreifliche Schilderhebung Gustav’s III. nicht allein jenen,
sondern endlich auch ihm Verlegenheiten bereiten könnte. Daher bat er
am 5. August den Fürsten Kaunitz um seinen Rath. Es ist nun merk-
würdig, welche bitteren Wahrheiten der Staatskanzler seinem Gebieter
zu sagen wagte; denn er sprach die Ansicht aus, die Nachwelt werde
das, was in den letzten acht Monaten sich zugetragen habe, für unbegreif-
licher halten, als den Angriff des Schwedenkönigs. Er zielte mit diesen
Worten hauptsächlich auf die österreichische Kriegführung. Er sah
übrigens nicht so schwarz in die Zukunft wie Joseph. Er zweifelte
daran nicht, dass Potemkin Oczakoff erobern werde. Von Rumanzoff
schrieb er, dass dieser die strengsten Befehle hätte, den Wünschen des
Kaisers gemäss vorwärts zu ziehen, und da er sich über den Mangel an
Reiterei beklagt, habe man ihm solche geschickt. Er werde Chotin
und Jassy nehmen. Allerdings vermehre die Schilderhebung des Königs
von Schweden die Schwierigkeiten des Petersburger Hofes, aber es sei
nicht zu fürchten, dass er grosse Fortschritte machen werde, und die
Note, die dern russischen Minister überreicht worden, werde alle euro-
päischen Mächte veranlassen, an seinen tollen Streichen sich nicht zu
betheiligen.
Den Staatskanzler schreckte die unthätige oder zu vorsichtige Krieg-
führung deshalb so sehr, weil er fürchtete, dass der König von Preussen
dadurch die Möglichkeit erhalten würde, nach dem Plane des Grafen
Hertzberg bewaffnet zu vermitteln, den beiden Kaiserhöfen Bedingungen,
welche für sie unvortheilhaft und wenig rühmlich wären, vorzuschlagen
und sie mit Waffengewalt zur Annahme derselben zu zwingen. Eben
deshalb verlangte Kaunitz eine recht kräftige Kriegführung, damit man
den Türken im nächsten Winter Frieden anbieten könnte. Sollte Russ-
land am Ende des Feldzuges Oczakoff und einiges andere gewonnen und
Oesterreich nichts in Besitz genommen haben, so würde es nicht nur
keine Entschädigung für den Verlust an Geld und Menschen empfangen,
sondern auch an politischem und militärischem Ansehen verlieren. Daher
müsste man durchaus darauf ausgehen, etwas zu erobern.
Der Staatskanzler schlug nun vor, der Kaiser solle zwei Haupt-
armeen bilden, die zweite, 50 000 Mann stark, dem tüchtigsten General
zu ganz selbstständiger Führung überlassen und ihm zugleich an-
vertrauen, dass die Absicht bestände, wo möglich im nächsten Winter
Frieden zu schliessen. Warum aber wünschte der Staatskanzler zwei
Hauptarmeen? Er konnte dem Kaiser den Oberbefehl nicht nehmen,
und da er zu dessen Kriegführung gar kein Vertrauen hatte, sollte der
andere Oberbefehlshaber ein starkes Heer nach eigenem Ermessen zu
lenken haben. Ein bis zwei Siege über die Türken würden die letzteren
bewegen, Frieden zu schliessen,
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u a a A 1 ee ne ne er See Se
II. Historisch - staatswissenschaftliche Abtheilung. 57
Als dieses wichtige Schreiben ankam, hatte Joseph, wie es scheint,
von selbst einen Wunsch des Staatskanzlers erfüllt, indem er dem Ge-
neral Laudon den Oberbefehl über ein Heer von 60000 Mann übertrug.
Dagegen weiter im Osten war ein schwerer Unfall eingetreten. Der
Feldmarschall-Lieutenant Graf Wartensleben, der in einer vortheilhaften
Stellung bei Mehadia stand, hatte das Banat von T’emesvar zu schützen,
Aber einer von seinen Generälen, Papilla, versah es und wurde bei
Schupanek mit Verlust von Menschen und Geschützen zurückgeworfen,
andere Posten, denen die Türken jetzt in den Rücken fallen konnten,
mussten ebenfalls weichen, und der Feind gelangte dadurch in den Besitz
von einem Theile des Banater Gebirges des linken Donauufers. Da zog
denn Joseph mit etwa 20 000 Mann dorthin, um das siegreiche türkische
Heer womöglich zurückzuwerfen. Unterwegs empfing er das Schreiben
des Staatskanzlers, und er meldete nun demselben nicht nur den Unfall,
sondern er fügte noch einige wahrhaft erschreckende Zeilen mit eigener
Hand hinzu. „Mich schmerzt in diesem wichtigen Augenblicke‘ schrieb er,
„am meisten, dass mich ein trockener Husten belästigt, welcher mir das
Athmen schwer macht. Ich werde mager und schlaflose Nächte schwächen
meine Kräfte. Jetzt ist noch eine Art von viertägigem Fieber dazu ge-
kommen... Die Arbeit fängt an mir schwer zu fallen, und zu Pferde
werde ich müde, selbst wenn ich im Schritt reite.‘“ Trotz dieser höchst
beunruhigenden Krankheitserscheinungen war der Kaiser entschlossen,
weiter seine Pflicht zu thun.
Kaunitz erschrak sehr, als er die traurige Meldung las. Wenn
Joseph schrieb, dass dieser Zustand bereits einen Monat dauere, so
wusste das der Staatskanzler besser. Das Uebel hatte schon vor zwei
Monaten angefangen, sich allmählich verschlimmert und war endlich zu
jener beunruhigenden Höhe gestiegen. Da nahm es der alte Staats-
mann auf sich, als der einzige Freund seiner Gattung, welchen Joseph
hätte, den obersten kaiserlichen Leibarzt ihm zu schicken, und er be-
schwor ihn ferner, die Rathschläge, die er ihm geben würde, gänzlich
zu befolgen, und zwar sollte der Herrscher sogleich aus dem Felde
zurückkehren, hauptsächlich der Herstellung seiner Gesundheit leben und
zur Unterstützung in den Regierungsgeschäften den Grossherzog von Tos-
cana, seinen Bruder, aus Florenz kommen lassen. Weiter schlug Kaunitz
vor, Joseph möge Lascy nach Wien mitbringen und Laudon an die Spitze
der kaiserlichen Truppen stellen, und da dieser auch keine sehr feste
Gesundheit besitze, ihm befehlen, alle möglichen Erleichterungen sich zu
verschaffen. Den treuen und guten Rath befolgte Joseph aber nicht,
sondern er zog mit seinem Heere weiter. Nach elf Tagen hatte sich
sein Zustand etwas gebessert, aber an den Fiebertagen zeigten sich
noch Nachwehen, und Husten und Athembeschwerden dauerten fort. Er
benutzte zur Weiterreise einen Wagen, um seine Kräfte, wie er lächer-
58 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
licher Weise meinte, für eine grosse Gelegenheit aufzusparen. „Es
handelt sich darum,‘ fuhr er am 26. August eigenhändig zu schreiben
fort, „das Banat und Siebenbürgen gegen das ganze Heer des Grossveziers
zu beschützen. Wartensleben wird in seiner Stellung mit Kanonen be-
schossen, aber er hält noch Stand. Er wird glücklich sein, wenn ich
zu rechter Zeit ankomme.“')
Es dauerte jedoch nicht lange, so musste sich Wartensleben zurück-
ziehen, und er that es heimlich und übereilt. Nun verbrannten die
Türken viele Dörfer, und der grösste Theil der Bevölkerung wurde mit
Vieh, Sachen und Erntevorräthen eine Beute des grausamen Feindes,
der hinlänglich Zeit hatte, die Wälder und Berge zu durchsuchen, wohin
sich die armen Leute für den Augenblick geflüchtet hatten. Der Gross-
vezier stand zwischen Orsova und Mehadia an der Temes, und seine
Streifwachen gingen bis Teregova. Wie froh musste der besiegte Heer-
führer sein, als der Kaiser kam und sich mit ihm vereinigte. Sie waren
jetzt etwa 30000 Mann stark. Sie deckten die grosse Strasse nach
Karansebes und nach Siebenbürgen und hofften den Feinden das Hervor-
brechen aus den Bergen zu verwehren. Joseph überredete sich, der
Grossvezier hätte weiter keine Absicht, als auf bewaffneten Fahrzeugen
Lebensmittel und Mannschaften nach Belgrad zu schaffen; er werde
weder die Donau noch die Save überschreiten und so den kaiserlichen
Truppen keine Gelegenheit geben, eine Entscheidung herbeizuführen.
Kaunitz hielt die lange Vertheidigungslinie Joseph’s für ganz unver-
nünftig, und dieser rechtfertigte nun ausführlich seine Kriegsweise. Mit
Stolz und Freude sah er auf das wohlangebaute, reichbevölkerte Land,
und er hielt es für falsch, es im Stiche zu lassen, um von dem armen
und verwüsteten Bosnien und Serbien Gebietstheile zu gewinnen. „Mit
welchem Rechte,“ fuhr der altkluge Kaiser fort, „kann ein Herrscher,
den seine Unterthanen bezahlen, damit er sie vertheidige, Leben und
Hab und Gut ihnen nehmen lassen und sie preisgeben, nur um einige
unbedeutende Eroberungen zu machen oder nichtige Vortheile zu er-
werben?“ Warum hatte denn aber Joseph, wenn er so dachte, den
Türken ohne Grund den Krieg erklärt, während sonst ihm die Unter-
thanen kostenlos würden geschützt geblieben sein? Und wie denn, wenn
der Herrscher oder seine Generäle es nicht verstanden, die Grenzen zu
decken, wie es nun kam?
!) Hiermit stimmt leider nicht, was Joseph am Tage zuvor an den Prinzen
von Coburg-Saalfeld geschrieben hatte (Witzleben I, 197): „Wartensleben hat seine
vortheilhafte Stellung bei Mehadia nicht zu behaupten vermocht, mithin sich zurück-
gezogen.‘ Aehnlich ist der Widerspruch in 2 Briefen vom 3. Juni 1787 bei Arneth,
Joseph II. und Katharina IL, p. 292 Anm. u. p. 363.
III. Historisch - staatswissenschaftliche Abtheilung. 59
Brochainville und Aspremont standen nach der Donau zu und be-
wachten gleichfalls die Gebirgsausgänge. Letzterer schickte einen münd-
lichen Befehl an einen Major, aber dieser verstand ihn falsch, und nun
verliessen Beide ihre guten Stellungen und zogen sich in das flache
Land zurück, ohne den Feind gesehen oder einen Schuss gethan zu
haben. Als Brochainville das vernahm, glaubte er, dass der Feind sie
umgehen wollte, und folgte dem bösen Beispiel, indem er die Richtung
nach Temesvar einschlug. Sie merkten zwar, dass ein blinder Lärm sie
irre geführt hätte, aber sie verbesserten ihren Fehler nicht, und Joseph
erhielt sechs Tage lang von diesen Vorgängen keine Kunde, und als er
sie erhält, marschirt er, um von seinen Lebensmitteln nicht abgeschnitten
zu werden, ebenfalls in nördlicher Richtung. Es zerreisst ihm das Herz,
wenn er daran denkt, wie die feindlichen Verheerungen sich nun noch
weiter erstrecken und gänzlich einen fruchtbaren Landstrich verwüsten
werden, der in 50 Jahren Millionen gekostet und sehr viel Arbeit und
Mühe gemacht habe. Ferner weiss er, dass die Schande nicht nur das
Heer, sondern auch ihn trifft, ohne seine Schuld, wie er natürlich über-
zeugt ist.
Und nicht lange, so muss er selbst auch zurückgehen, und dies ge-
schah in solcher Hast und Unordnung, dass der grösste Schaden daraus
entstand, und es vieler Tage bedurfte, bis alles wieder so war, wie es
sein sollte. Am 29. September schrieb Joseph an Kaunitz: „Ich liege
hier vor Lugosch und warte, ob der Feind aus den Bergen herauskommen
wird, um ihm entgegen zu masschiren.“ Aber die Türken thaten ihm
diesen Gefallen nicht, sondern sie brandschatzten und verwüsteten noch
eine Weile das Land und zogen dann nach Belgrad zurück, weil der
Grossvezier wegen der vorgerückten Jahreszeit die Truppen nicht mehr
bei den Fahnen erhalten konnte. Joseph aber begab sich mit den
Trümmern seines Heeres wieder nach Semlin, von wo er gekommen
war, und am 5. December traf er wieder in Wien ein, vermuthlich ohne
Triumphbögen zu finden. Dagegen hatte Laudon am 26. August Dubitza
in Bosnien zur Uebergabe gezwungen, später das türkische Lager bei
Gradiska zerstört und Nowi erstürmt; und dem Prinzen Josias von Coburg-
Saalfeld war es gelungen, trotz der alle Thatkraft lähmenden Bemer
kungen des Kaisers') am 19. September Chotin mit Hilfe der Russen
zu erobern, wie Kaunitz es vorhergesagt hatte. Ebenso traf die andere
Weissagung des Staatskanzlers ein, indem Potemkin 113 Tage nach Er-
!) Was soll man überhaupt von einem Kaiser sagen, der in seinem Schreiben
an den Prinzen diesem Anweisung giebt, was man bei zu nehmenden Positionen
besonders zu beobachten hat und wie Reiterei und Fussvolk verfahren müssen, wenn
sie angegriffen werden (Witzleben 159).
60 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
öffnung der ersten Laufgräben endlich am 17. December zur grossen
Freude Katharina’s Oczakoff mit Sturm eroberte.
Aber die Sachlage war doch trübe. Joseph lebte in grosser Furcht:
vor einem Kriege mit Preussen, und er liess in Petersburg deshalb er-
klären, dass er nicht im Stande wäre, zwei Kriege zu gleicher Zeit zu
führen, einen in Böhmen und Mähren, den andern mit den Türken. In
den Niederlanden führte sein unzeitiger Starrsinn neue Zwistigkeiten
herbei, und Polen suchte sich der Kette, die ihm Russland angelegt
hatte, wieder zu entledigen. Genug, die beiden Kaiserhöfe fanden sich
am Ende des Jahres 1783 vielen Schwierigkeiten gegenüber.
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sehlesischt Gesellschaft für vaterländische Gultur.
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70.
Jahresbericht. Nekrologe.
1892.
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Nekrologe auf die im Jahre I892 verstorbenen Mitglieder
der Schlesischen Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Anton Biermer, Dr. med., ordentlicher Professor der Mediein
und Geheimer Medieinalrath, Ritter des Kronenordens 2. Klasse, wurde
am 18. October 1827 zu Bamberg geboren, studirte in Würzburg,
München und Berlin, löste bereits in Würzburg eine von der dortigen
medieinischen Facultät gestellte Preisaufgabe. Hier in Würzburg, da-
mals der Mittelpunkt des wissenschaftlichen Lebens in der Mediein,
promovirte er auch zum Dr. med. und bestand seine medieinische Staats-
prüfung. Hier wurde er auch Assistent an der medieinischen Klinik und
habilitirte sich als Privatdocent, nachdem er 1855 eine wissenschaftliche
Reise nach Paris unternommen hatte. Seine Habilitationsschrift „Ueber
die Lehre vom Auswurf‘* ist eine seiner besten Arbeiten, die noch heut
trotz der mancherlei Wandlungen in der Mediein und ungleich höher ent-
wickelten mikroskopischen Technik ihren wissenschaftlichen Werth besitzt.
Als Frucht seiner Würzburger Thätigkeit erschienen noch andere werth-
volle Publieationen Biermer’s auf pathologisch-anatomischem und klini-
schem Gebiete. Im Sommer 1861 wurde er als ordentlicher Professor
der speciellen Pathologie und Director der medicinischen Klinik an die
Universität Bern berufen, als deren Rector er bereits 1863 gewählt
wurde. Im Jahre 1365 erhielt er einen Ruf an die Universität Zürich;
obgleich alles aufgeboten wurde, ihn in Bern zu behalten, ging Biermer
nach Zürich auf den Lehrstuhl, den zwei berühmte Kliniker, Schönlein
und Griesinger, vor ihm eingenommen hatten. Hier lehrte er fast zehn
Jahre, nachdem er inzwischen eine Berufung nach Königsberg i. Pr. ab-
gelehnt hatte, folgte er 1874 einem Rufe nach Breslau als Nachfolger
Leberts. Hier hat er gewirkt, bis ein halbes Jahr vor seinem Tode
ihn hartes Geschick (Tod der Gattin) und schwere Krankheit zwangen,
sein Amt niederzulegen. Nur die Ueberzeugung, dass seine Gesundheit
ihm nicht gestatte, in dem Sinne wie früher seinen Beruf auszuüben,
konnte den pflichttreuen Mann zur Niederleguug einer Stellung bewegen,
welche er auch in den Tagen des Unglücks und der Krankheit gewissen-
haft ausgeübt hatte,
9 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Die Hoffnung, welche seine Freunde an die nun für ihn beginnende
Zeit der Erholung geknüpft hatten, erfüllte sich nicht. Schneller als
man erwarten konnte, raffte ihn der Tod fern von der neuen lieb-
sewonnenen Heimath hinweg. Er starb am 24. Juni 1892 zu Berlin in
der Maison de sante, wo er Heilung gesucht hatte.
Biermer’s Arbeiten bewegen sich hauptsächlich auf dem Gebiete
der klinischen Mediein. Am bekanntesten ist neben seiner Habilitations-
schrift sein Buch über Bronchialkrankheiten und seine Arbeiten über
Bronchial-Asthma, dessen Wesen er durch eine neue Theorie aufzuklären
versuchte. Besondere Beachtung fanden seine Beobachtungen über die
pernieciöse Anämie, eine Erkrankung des Blutes, welche erst durch ihn
eigentlich erkannt und gewürdigt wurde. In seine Züricher Zeit fällt
auch seine Thätigkeit auf dem Gebiete der Hygiene, welcher er seitdem
stets ein besonderes Interesse entgegenbrachte. Seine Erfahrungen über
den Typhus und seine Beobachtungen über die Cholera haben dauernden
Werth behalten. Biermer aber war nicht bloss Theoretiker. In der
schweren Choleraepidemie, welche 1867 die Schweiz heimsuchte, zeigte
er in Zürich, was er als Arzt und Hygieniker praktisch zu leisten ver-
mochte, in so glänzender Weise, dass ihm das Ehrenbürgerrecht von
Zürich verliehen wurde, Auch in Breslau bethätigte er sein Interesse
für die Gesundheitspflege in wirksamer Weise. Bereits 1874 wurde er
hier Mitglied der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur, be-
sründete 1875 deren hygienische Section und war seit 1884 Vicepräses
der Gesellschaft. Eifrig betheiligte er sich an deren Versammlungen
und Sitzungen, und die Klarheit seines Urtheils, der Umfang seiner
Kenntnisse, die Energie seines Charakters haben wesentlich die Inter-
essen der Gesellschaft nach allen Richtungen gefördert. Als Mitglied
der städtischen Hospitalverwaltung widmete er allen Fragen über
die Bedeutung unserer Hospitäler, das eingehendste Interesse. Seiner
Erfahrung und seinem verständigen Rathe verdanken unsere städtischen
Krankenanstalten einen bedeutsamen Fortschritt und manche Einrichtung
zur Abwehr ansteckender Krankheiten. Er war einer der Begründer
des Vereines der Aerzte des Regierungsbezirks Breslau und gehörte
Jahre lang dem Vorstande desselben an. Für die Vereinsinteressen wie
für die allgemeinen Standesinteressen der Aerzte hat er stets eine warme
Theilnahme gezeigt. Biermer gehörte auch dem Curatorium des Schle-
sischen Museums der bildenden Künste in Breslau an und hat hier am
Gedeihen unseres Museums treu mitgewirkt.
Biermer’s grösstes Verdienst liegt auf dem Gebiete seiner Lehrthätig-
keit. Er war ein erfahrener, gewissenhafter Arzt, sorgfältig in der
Diagnose, überlegt auf dem Gebiete der Therapie. Sein Beispiel wirkte
auf seine Hörer. Die Genauigkeit in der Krankenuntersuchung, die
sorgfältige Anwendung aller bewährten Methoden sicherten ihm die An-
Nekrologe. 3
erkennung seiner Schüler wie draussen der Aerzte, welche in schwierigen
Fällen den Rath des bewährten Klinikers so gern einholten; und zeit-
weise war der Umfang seiner consultirenden Praxis so gross, dass er
ihn kaum zu bewältigen vermochte. Dabei zeichnete Biermer noch der
Vorzug aus, dass er vorurtheilsfrei und objeetiv jeden Fortschritt an-
erkannte, auch wenn dieser sich in Richtungen bewegte, die ihm nach
seinem wissenschaftlichen Entwickelungsgange fremdartig erscheinen
mussten. Stets wusste er die Summe seiner Erfahrungen durch die An-
wendung neuer Methoden zu erweitern und diese seinen Schülern zu-
gänglich zu machen. So beherrschte er vollständig alle Fortschritte,
welche die Bacteriologie, wie die Entwickelung der chemischen
Untersuchungsmethoden der inneren Mediecin gebracht hat. Begreiflich
war es, dass dem Meister seine Schüler anhingen. Schlug doch in
seiner Brust ein edles Herz, dessen Güte trotz der scheinbaren Rauhheit
seines Wesens jeder anerkannte, der ihm näher trat. Denjenigen
Schülern, deren Talente er erkannte, war er ein treuer und eifriger
Förderer und viele seiner Assistenten sind heut zu grosser Bedeutung
gelangt. Biermer war ein Mann von einfachem, schlichtem Wesen, ge-
rade und ehrlich, frei von jedem Vorurtheile, ein guter und edler Mann,
dessen ungekünsteltes Auftreten an seinen süddeutschen Ursprung er-
innerte. Im Jahre 1832 bekleidete er das höchste Ehrenamt auf unserer
Hochschule. Die herzliche Anerkennung und der Dank Vieler folgt ihm
in's Grab, wie ihn ihre Theilnahme in der langen Leidenszeit, die ihm
nach dem Tode seiner Gemahlin beschieden war, begleitet hat.
Carl Felsmann, praktischer Arzt, am 20. April 1822 zu Zirlau
bei Freiburg in Schlesien geboren, besuchte bis zum 13. Lebensjahre
die Dorfschule seines Geburtsortes, darauf durch 1'/, Jahre die Elementar-
schule zu Freiburg, wo er privatim durch einen Geistlichen im Latein
und Griechisch für das Gymnasium vorbereitet wurde. Leider war
dieser Unterricht zu lückenhaft, um den Anforderungen des Gymnasiums
zu genügen, das Felsmann 2 Jahre in Schweidnitz und 2 Jahre in Breslau
besuchte. Felsmann verliess die Secunda des St. Matthias-Gymnasiums
zu Breslau und studirte 3 Jahre an der medieinisch-chirurgischen Lehr-
anstalt zu Breslau. Darauf genügte er 1 Jahr seiner Militärpflicht als
Compagnie-Chirurg im 6. Schützen-Bataillon. Die politischen Unruhen
im Jahre 1848 riefen ihn wieder zur Armee, so dass er erst im Winter
1848/49 die Staatsprüfung als Medico-Chirurg absolvirte. Im August
1849 liess er sieh in Dittmannsdorf bei Waldenburg in Schlesien als
praktischer Arzt und Wundarzt nieder. Da er hier eine lohnende Praxis
fand und sich auch eine Landwirthschaft angekauft hatte, verblieb er
auch hier bis an sein Lebensende. Seinerzeit hatte ihn einer seiner
Lehrer an der med.-chir. Lehranstalt, der bekannte Emil Schummel, in
4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
die Botanik eingeführt, und diese Wissenschaft blieb allzeit seine Er-
holung. Die Flora Schlesiens, insbesondere die des Waldenburger Ge-
birges, verdankt ihm viele Bereicherungen; auch ceultivirte er in seinem
Garten viele kritische Arten, um über ihren Werth und die Gesetze der
Variabilität sich Klarheit zu verschaffen. Durch einige Jahre war er
auch Leiter des durch R. v. Uechtritz begründeten Schlesischen bota-
nischen Tauschvereins.. Er starb am 11. November 1892. Der Schle-
sischen Gesellschaft hat er seit 1855 als auswärtiges Mitglied angehört.
Max von Forekenbeck, Dr. jur., Oberbürgermeister von Berlin,
wurde am 21. October 1821 zu Münster in Westfalen geboren, doch
genoss er seine Schulbildung in Glogau, wohin sein Vater als Richter
versetzt wurde. Nach vollendetem Studium der Rechte und absolvirtem
Assessor-Examen wurde er 1847 als Stadtrichter in Breslau angestellt.
Hier wurde er 1848 Vorsitzender des demokratisch - constitutionellen
Vereins, kam dadurch in Confliet mit der Regierung, wurde unter Man-
teuffel gemaassregelt, siedelte 1849 als Rechtsanwalt nach Elbing über,
von wo er 1873 als Oberbürgermeister in Schlesiens Hauptstadt zurück-
berufen wurde. Forckenbeck’s politische Laufbahn datirt von 1848,
doch trat er erst 1858 in die parlamentarische Thätigkeit ein, als nach
der Reaction die neue Aera einsetzte. In diesem Jahre wählte ihn der
ostpreussische Wahlkreis Preussisch-Holland-Mohrungen als Mitglied in
das preussische Abgeordnetenhaus. Von Anfang seiner parlamentarischen
Thätigkeit stand er auf einem hervorragenden Posten. Er begründet
die junglitthauische Fraction, sieht dieselbe zur Fortschrittspartei sich
erweitern und steht während der Conflietszeit treu zu seiner Partei.
Seine persönlichen Eigenschaften, die Lauterkeit seines Charakters, sein
unbestechlicher Rechtssinn, die Freundlichkeit und Umgänglichkeit seines
Wesens erwarben ihm die Sympathien seiner Parteigenossen und die
Achtung der Gegner. Im Jahre 1866 trennte er sich von den Freunden,
sehörte zu den Gründern der nationalliberalen Partei und ward Präsident
des preussischen Abgeordnetenhauses.. Aus dieser hervorragenden
Stellung schied er 1873, nachdem er als Oberbürgermeister von Breslau
in das Herrenhans eingetreten war. So lange es einen deutschen Reichs-
tag giebt, hat Forckenbeck demselben ununterbrochen angehört, nur der
Tod vermochte ihm das Mandat zu nehmen. Anfänglich vertrat er den
Wahlkreis Wolmirstädt-Neuhaldensleben und in den letzten Sessions-
perioden den Wahlkreis Sagan-Sprottau. Im Jahre 1874 wurde ihm
das Präsidium des deutschen Reichstages übertragen. Dass er dieses
hohe, schwierige und verantwortungsvolle Amt in mustergiltiger Weise
verwaltete, darüber herrschte die allgemeinste Uebereinstimmung, die
sich auch auf seine politischen Gegner erstreckte. $o wählte ihn auch
der Reichstag von 1878, obwohl die Liberalen nicht die Mehrheit hatten,
Nekrologe.
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zu seinem Präsidenten wieder. Aber schon im Mai 1879 legte er dieses
Ehrenamt freiwillig nieder, als ihn die Bismarckische Wirthschafts-
politik in schroffen Gegensatz zu den Mehrheitsparteien brachte; auch
dieser Schritt ehrte ihn als ein neuer Beweis seiner unerschütterlichen
Ueberzeugungstreue. Darauf trennte er sich von seinen Freunden, den
Secessionisten, von der nationalliberalen Partei und die im Jahre 1884
vollzogene Fusion der Secessionisten mit der Fortschrittspartei machte
ihn wieder zu einem der verehrtesten Führer der entschieden liberalen
Parteigruppe.
Am 5.0October 1872 trat v. Forckenbeck als Oberbürgermeister an
die Spitze der Breslauer Stadtverwaltung, und im Jahre 1874 wurde er
Mitglied der Schlesischen Gesellschaft. Die Breslauer Commune hat
ihm eine Anzahl der wichtigsten Reformen zu verdanken, und als er
im Jahre 1878 als Chef des reichshauptstädtischen Stadtregiments be-
rufen wurde, ehrte ihn die höchste Errungenschaft seines Lebens, das
Ehrenbürgerrecht der Stadt Breslau Was er während der 13jährigen
Amtsthätigkeit als Oberbürgermeister von Berlin geschaffen, davon legt
die erstaunliche Entfaltung, welche das Berliner Gemeinwesen in dieser
Zeit genommen hat, glänzendes Zeugniss ab. Die Art, wie er die Ge-
schäfte als Oberbürgermeister geleitet hat, war musterhaft. Er hielt
stets seinen Blick auf die grossen Dinge gerichtet und tauchte nicht in
Kleinigkeiten unter, Er wusste, dass die Angelegenheiten eines grossen
Gemeinwesens nur durch das Zusammenwirken vieler Kräfte geleitet
werden können, und dass jede einzelne Kraft, um gedeihlich wirken zu
können, eines gewissen Maasses von Freiheit bedarf. Er hütete sich
davor, Verstimmung zu wecken, indem er in untergeordneten Fragen
eingriff, die auf mehr als eine Weise befriedigend gelöst werden können.
Aber andrerseits wusste er, dass aus dem gleichzeitigen Wirken ver-
schiedener Kräfte oft Frietionen hervorgehen, die durch das Eingreifen
des höchsten Verwaltungsbeamten der Stadt gemildert werden können,
und hier griff er stets zu rechter Zeit ein. Er hielt es für seine Auf.
gabe, darüber zu wachen, dass die grosse Maschine stets in richtigem
Gange blieb; jedes einzelne Rad in Thätigkeit zu setzen, hielt er nicht
für seine Aufgabe. Trat an die Stadt eine neue Aufgabe heran, so be-
zeichnete er bald in kurzen Zügen die Art, wie sie gelöst werden
müsse; er gab die Directiven in so überzeugender Art, dass jeder seiner
Mitarbeiter sich denselben gern fügte und in seinem Sinne die Sache
ergriff. So ging das Zusammenwirken des Magistrats mit der Stadt-
verordnetenversammlung ohne die leiseste Misshelligkeit und Trübung
in steter erspriesslicher Eintracht, in wetteifernder Arbeit für das Ge-
meinwohl. Sein 70. Geburtstag gestaltete sich in der Reichshauptstadt
zu einer grossartigen Feier, an der sich das gesammte liberale Deutsch-
land betheiligte, denn diese Feier galt nicht nur dem bewährten Ober-
EN. 2%
6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
haupte der Berliner Stadtverwaltung, als auch dem allzeit erprobten,
überzeugungstreuen liberalen Politiker. An diesem Tage konnte von
ihm gesagt werden: In unseren Tagen werden die Leute mit 70 Jahren
noch nicht alt. Allein schon wenige Monate später war sein Gesund-
heitszustand kein erfreulicher mehr und bereits am 26. Mai 1892 ent-
schlief er zu Berlin. Er hinterliess einen Sohn und zwei verheirathete
Töchter, die Gattin war ihm schon in Breslau durch den Tod entrissen
worden. Seinen Charakter schildert eine Traueranzeige: Nicht bloss
äusserlich, durch seine Amtsstellung, stand er an der Spitze des deut-
schen Bürgerthums; er vereinigte in sich vielmehr alle jene Eigen-
schaften, welche die Ehre des deutschen Bürgers ausmachen, nämlich:
Treue mit Freimuth gepaart; hingebende Vaterlandsliebe und _stolzes
Selbstgefühl im eigenen Kreise; kluge Berechnung und bereitwilliges
Vertrauen; Unzugänglichkeit gegen das Schlechte und nachsichtige Hilfs-
bereitschaft gegenüber der Schwäche; Strenge gegen sich selbst, Milde
und Ehrerbietung gegenüber Anderen; tiefen sachlichen Ernst und dabei
jene gewinnenpde Heiterkeit des Wesens, die der Menschenliebe und
Reinheit des Herzens entstammt; Einfacheit, Geradheit, Frömmigkeit.
v. Forckenbeck war Katholik; als nun seiner Leiche die kirchliche
Einsegnung seitens der katholischen Kirche verweigert wurde, gerieth
die Berliner Bürgerschaft in hochgradige Aufregung. \
Am 29. Mai fand zuerst im Trauerhause eine Trauerfeier im engsten
Familienkreise statt, bei welcher ein evangelischer Geistlicher die Leiche
einsegnete.e. Nun wurde der Sarg nach dem Rathhause überführt und
im Festsaale aufgebahrt, doch wurde hier von jeder besonderen Feierlich-
keit Abstand genommen. Darauf bewegte sich der imposante Trauerzug
nach dem Nicolaikirchhofe; hier hielt ein evangelischer Geistlicher die
Trauerrede, die mit den Worten begann: „So betten wir den Sohn der
westfälischen Erde in den märkischen Sand, den Sohn der katholischen
Kirche auf den evangelischen Friedhof.“
Julius Friedländer, Stadtrichter a. D., gehörte einer Familie
an, die ausgezeichnete Mitglieder zählte; sein Bruder Max, der Be-
sründer der Wiener ,‚Neuen freien Presse“, war einer der glänzendsten
Journalisten, sein Bruder Victor, der langjährige Primärarzt am Aller-
heiligen-Hospital, einer der edelsten Bürger unserer Stadt. Julius Fried-
länder wurde am 28. August 1834 zu Pless O8. geboren, besuchte die
unteren Klassen des Gymnasiums seiner Vaterstadt, dann nach Ueber-
siedlung seiner Eltern nach Breslau die oberen Klassen des hiesigen
Friedrichs-Gymnasiums, das er Ostern 1852 mit dem Zeugniss der Reife
verliess, um von 1852—-55 in Breslau und Berlin die Rechte zu studiren.
1855 wurde er Auscultator, 1861 Assessor und später Stadtrichter in
Breslau. Aus dieser Stellung schied er 1871 aus, um die Leitung der
Nekrologe. ri
Breslauer Wechslerbank zu übernehmen, der er bis zu seinem Tode als
Director angehörte. Hier zeigte sich seine ungewöhnliche Begabung
für das Finanzwesen, so dass er bald zum Vorsitzenden oder zum Mit-
gliede des Aufsichtsrathes verschiedener Actien-Gesellschaften gewählt
wurde, deren Vertrauen er durch seine Umsicht und Geschäftsgewandt-
heit glänzend rechtfertigte. Nebenher fand er noch Zeit, der Presse ein
lebhaftes Interesse zuzuwenden; er wurde Mitbegründer und Mitbesitzer
der „Breslauer Morgeuzeitung“, auf deren Haltung er entscheidenden
Einfluss ausgeübt hat, Im Jahre 1877 wurde Friedländer in die Stadt-
verordneten-Versammlung gewählt. Hier hat er während anderthalb
Decennien an den städtischen Angelegenheiten einen ganz hervorragenden
Antheil genommen. Kaum eine wichtige communale Einrichtung ist
während dieser Zeit geschaffen worden, an deren Zustandekommen er
nicht lebhaft betheiligt gewesen wäre. Alle diese Leistungen gründeten
sich auf eine nicht gewöhnliche Begabung, auf eine Ausrüstung mit
Kenntnissen und Erfahrungen, die er auf communalem Gebiete auf’s
Beste verwerthen konnte. Und seinen Leistungen entsprach auch sein
Streben, der Oeffentlichkeit zu dienen mit Hintenansetzung des eigenen
Vortheils. Sein praktischer Blick, seine Sachkenntniss und Erfahrung
verliehen den von ihm vertretenen Anschauungen eine gern anerkannte
Autorität.
Er war der hervorragendste Generalredner bei den Berathungen
über das städtische Budget, und in den Commissionen und Deputationen
der städtischen Verwaltung entfaltete er rastlose Thätigkeit. Welche
Werthschätzung seine Mitarbeit genoss, dafür spricht die lange Reihe
städtischer Ehrenämter, die ihm übertragen wurde. Seinen Bestrebungen
auf communalem Gebiete steht seine politische Thätigkeit ebenbürtig
zur Seite. Als Führer der entschieden liberalen Partei in Breslau, ja
in der Provinz, wurde er nach Gründung der deutsch-freisinnigen Partei
Vorsitzender des deutsch-freisinnigen Wahlvereines in unserer Stadt, und
bald stellte er seine glänzende Beredtsamkeit auch dieser Partei für die
Propaganda in der Provinz bereitwillig zur Verfügung. Dafür vertrauten
ihm seine Mitbürger 1885 ein Mandat für das preussische Abgeordneten-
haus an, das er eine Legislaturperiode hindurch ausübte. Der 5. Wahlkreis
des Regierungsbezirks Liegnitz (Löwenberg) wählte ihn als Vertreter in
den deutschen Reichstag. In beiden Parlamenten hielt er sich als Redner
zurück und arbeitete um so fleissiger in den Commissionen. Besonders
liess er sich es angelegen sein, für die nicht in Berlin ansässigen Ab-
geordneten seiner Partei eine Vereinigungsstätte zu schaffen. Er befand
sich in den glücklichsten materiellen Verhältnissen. Von den Gütern,
welche ihm die Gunst des Schicksals bescheert, verstand er den frucht-
barsten und segensreichsten Gebrauch zu machen. Da er unverheirathet
war, erkor er sich die Armen als seine Familie. Aus seinen reichen
8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Mitteln gab er gern, wo es galt, Noth und Armuth zu lindern, In dem
Streben, die Armenpflege durch eine ergänzende Verbindung zwischen
privater und communaler Hilfsleistung zu heben, gründete er in Breslau
den Verein gegen Verarmung und Bettelei, den er seit der Gründung
durch 12 Jahre als Vorsitzender geleitet hat. Wie segensreich dieser
Verein wirkt, geht daraus hervor, dass derselbe bisher jährlich an
40 000 Mark für seine Zwecke verwenden konnte,
Auch nach anderer Richtung wusste er von seinen Reichthume den
rechten Gebrauch zu machen. Er hatte sein Haus mit feinem ästheti-
schen Geschmacke zu einem wahren Kunsttempel ausgeschmückt; hier
fanden sich eine Gemäldegalerie mit Werken vorzüglicher Meister, eine
reiche Sammlung besonders Altmeissener Porzellans, eine stattliche An-
zahl seltener Bronzen und eine ebenso umfangreiche als gewählte
Bibliothek. In dieses trauliche Heim zog er sich gern nach Kampf und
Streit zurück, denn es war mit den guten Geistern der Liebe und Freund-
schaft, der heitern Geselligkeit und Freude bevölkert. Friedländer war
bis in sein letztes Lebensjahr anscheinend kräftig und gesund. Eine
kleine Geschwulst am Halse wurde durch einen operativen Eingriff be-
seitigt, allein es stellten sich neue Wucherungen ein, die sich bald als
lebensgefährlich erwiesen. Mit bewunderungswürdiger Geduld und Fassung
ertrug er die entsetzlichen Schmerzen, welche ihm seine Krankheit in
den letzten Leidenswochen bereitete. Am 27. Juli 1892 wurde er durch
den Tod von seinen Leiden befreit. In Anerkennung seiner grossen
Verdienste um die Stadt Breslau beschloss die Stadtverordneten -Ver-
sammlung, dem Verstorbenen ein ähnliches Begräbniss zu bereiten, wie
seiner Zeit dem verstorbenen Oberbürgermeister Friedensburg. In Folge
dessen gestaltete sich die Trauerfeierlichkeit im Trauerhause und die
Ueberführung der Leiche auf den Oberschlesischen Bahnhof zu einer
srossartigen Kundgebung, ein beredtes Zeichen für die Schwere des Ver-
lustes, den die ganze Stadt erlitt und empfand. Deputirte begleiteten die
Leiche nach Bielitz in Oesterr.-Schlesien, wo der Verewigte in der
Familiengruft auf dem evangelischen Friedhofe seine Ruhestätte fand. —
Unserer Gesellschaft hatte Friedländer seit 1879 angehört.
Rudolf Friedrich Ottomar Krause, Dr. med., Geheimer Sanitäts-
rath, wurde am 29. April 1817 zu Deutsch-Crone in Westpreussen ge-
boren, besuchte bis 1833 das Progymnasium seiner Vaterstadt, dann das
Gymnasium zu Neustettin, das er 1837 mit dem Zeugniss der Reife ver-
liess, um Mediein zu studiren. Er trat als Eleve in das Königliche
Friedrich-Wilhelm-Institut zu Berlin ein und studirte hier bis 1841. Am
27. Februar 1841 wurde er zum Dr. med. et chir. zu Berlin promoviirt.
Von 1841 zu 42 war er Charit6-Arzt zu Berlin und von 1842 bis 46
Escadron-Arzt des 4, Husaren-Regiments zu Ohlau. Nachdem er im Winter
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Nekrologe. I
1845/46 das Staatsexamen als praktischer Arzt zu Breslau bestanden hatte,
nahm er seine Entlassung aus dem Militärdienste und liess sich in
Lewin als praktischer Arzt nieder, wo er bis 1849 gleichzeitig auch als
Badearzt zu Cudowa praktieirte. Darauf verzog er nach Liegnitz, wo
er bis an sein Ende den ärztlichen Beruf ausübte. Als Anerkennung
für seine Thätigkeit erhielt er 1866 den Charakter als Königlicher
Sanitätsrath und im Januar 1885 den Charakter als Königlicher Ge-
heimer Sanitätsrath., Er starb am 5. August 1892 an Hirnschlag.
Unserer Gesellschaft hat er seit 1886 als auswärtiges Mitglied angehört.
Dr. med. Paul Lion, praktischer Arzt und Mitbesitzer der „‚Bres-
lauer Zeitung“, wurde am 25. August 1830 zu Neustadt OS. geboren,
wo er auch seine erste Schulbildung genoss. Seine weitere Ausbildung
erhielt er auf dem Matthias-Gymnasium zu Breslau, das er Michaelis
1851 mit dem Zeugniss der Reife verliess, um an der hiesigen Univer-
sität Mediein zu studiren. Wenig bemittelt, hatte er während der
Studienzeit mit mancherlei Schwierigkeiten zu kämpfen, doch erhöhten
die materiellen Sorgen nur seine Arbeitskraft, so dass er schon als
Student sich durch die glückliche Lösung einer gestellten Preisaufgabe
auszeichnete. 1855 promovirte er als Dr. med. und 1856 erfolgte seine
Approbation als praktischer Arzt. Hier in Breslau hat er bis zu seinem
Tode seinen Beruf mit Lust und Liebe ausgeübt; auch dann noch, als
seine Interessen mehr dem communalen und dem politischen Leben sich
zuwandten, konnte er sich nicht entschliessen, seine ärztliche Praxis
aufzugeben. Als gründlicher Kenner seiner Wissenschaft nahm er bald
unter seinen Collegen eine angesehene Stellung ein, und die herzliche,
mitfühlende Art, in der er mit seinen Patienten verkehrte, gewannen
ihm bald überall Zutrauen und Anhänglichkeit. Bald wählte ihn das
Vertrauen seiner Mitbürger in die Stadtverordneten-Versammlung, und
hier hat er durch 2 Decennien, besonders auf dem Gebiete der öffent-
lichen Kranken- und Armenpflege, eine segensreiche Thätigkeit entfaltet.
Seit 1880 Directionsmitglied des Kranken-Hospitals zu Allerheiligen, hat
er dieser Anstalt ein gutes Theil seiner Arbeitskraft gewidmet, und
nicht minder war er, der selbst in seiner Jugend Noth und Entbehrung
kennen gelernt hatte, als Mitglied des Vorstandes des hiesigen Vereins
gegen Verarmung und Bettelei thätig. Als Stadtverordneter war er ein
vorzüglicher Redner und gehörte zu den angesehensten Mitgliedern der
Versammlung. Bei seinem hohen Geiste und der Vielseitigkeit seiner
Bildung sprach er hier auch über Dinge, die nicht mit seinem Berufe
im Zusammenhange standen, klar, sachlich und nicht ohne rhetorischen
Schwung, und wenn er oft auch scharfe Worte wählte, so sicherten ihm
doch sein aufrichtiger Charakter und seine sich gleichbleibende Liebens-
würdigkeit allgemeine Beliebtheit. Auch im politischen Leben unserer
10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.
Stadt und Provinz ist er lange Jahre hindurch hervorragend thätig ge-
wesen. Er gehörte anfänglich der nationalliberalen Partei an, stellte
dann aber, als er vor 11 Jahren Mitbesitzer der „Breslauer Zeitung“
seworden war, seine Schaffenskraft in den Dienst dieser freisinnigen
Zeitung, deren unermüdlicher Mitarbeiter er geblieben ist. Und auch
in dieser Stellung zeigte er sich bei aller Entschiedenheit der Gesinnung
doch milde und versöhnlich gegen Andere, so dass er auch in politischen
Kämpfen sich die Achtung seiner Gegner erwarb. Von den mancherlei
Ehrenämtern, die Dr. Lion bekleidete, sei nur erwähnt, dass er dem
Vorstande der hiesigen Synagoge und der Direetion der Gesellschaft
der Freunde angehörte, und dass letztere Gesellschaft seiner Anregung
und Thätigkeit ihr jetziges Heim und eine Anzahl von Stiftungen
verdankt. Er war ein liebevoller Gatte und Vater und hatte sich
in Scheitnig ein trautes Heim gegründet, das er gern Abends gastfrei
seinen Freunden öffnete, in deren Verkehr er als liebenswürdiger und
herzlicher Wirth Erholung von der rastlosen Tagesarbeit fand. Aus
diesen vielseitigen Beziehungen wurde er plötzlich durch den Tod ge-
rissen, der ihn in Folge Herzschlag in der Nacht vom 22. August 1892
ereilte. Das überaus zahlreiche Trauergeleit zeugte von der allseitigen
Anerkennung und Liebe, die der Verewigte durch seinen edlen Charakter,
seine reichen Herzensgaben und sein segensreiches Schaffen sich im
privaten und öffentlichen Leben erworben hatte. Unserer Gesellschaft
sehörte der Verstorbene seit 1869 an.
Bernhard Georg Carl Traugott v. Tschepe wurde am 1. März
1823 als Sohn des späteren Majors der Artillerie Georg v. Tschepe zu
Magdeburg geboren, bestand am 2. März 1844 die Abiturientenprüfung
am St. Maria-Magdalenen-Gymnasium zu Breslau und begann am 11. Juni
1844 die bergmännische Ausbildung für den Staatsdienst. Nach dem
am 30. Juni 1845 abgelegten Tentamen studirte er in den Jahren 1846
bis Ostern 1849 an der Universität zu Berlin und diente in der Zeit
vom 1. April 1846 bis Ende März 1847 als Einjährig-Freiwilliger bei
der Garde-Pionier-Abtheilung zu Berlin. Durch Allerhöchste Cabinets-
ordre vom 5. October 1848 wurde er zum Landwehroffizier befördert.
Unterm 12. Februar 1852 wurde er zum Oberbergamts-Referendar
ernannt und demnächst vereidigt. Er wurde zunächst als Obersteiger
auf dem Königlichen Steinkohlenbergwerke König bei Königshütte be-
schäftigt, unterm 4. Juli 1853 zum Berggeschworenen in Kupferberg er-
nannt und zum 1. October 1854 als solcher nach Waldenburg versetzt.
Zum 1. October 1858 wurden ihm die Geschäfte eines Bergmeisters bei
dem Königlichen Bergamt zu Tarnowitz zunächst commissarisch, unterm
9. November 1858 aber unter gleichzeitiger Ernennung zum Bergmeister
definitiv übertragen.
Nekrologe. Et
In Folge der Reorganisation der Bergbehörden wurde er vom 1. Ja-
nuar 1862 ab mit Wartegeld zur Disposition gestellt.
Am 5. Juni 1862 erfolgte seine Ernennung zum Bergassessor. Er
trat als solcher bei dem Königl. Oberbergamt hierselbst ein, wurde im
Jahre 1868 zum Bergrath ernannt und unterm 6. December 1873 zum
Oberbergrath und etatsmässigen Mitgliede desselben befördert. Im Jahre
1879 wurde ihm der Rothe Adler-Orden IV. Klasse verliehen. Am
1. April 1887 trat er mit dem Charakter als Geheimer Bergrath in den
Ruhestand. Er verschied hierselbst am 4. Juni 1892.
v. Tschepe war nur kurze Zeit verheirathet gewesen und hat nur
eine Tochter hinterlassen, welche an den Hauptmann Tülff in Posen
verheirathet ist,
Unserer Gesellschaft hat v. Tschepe seit 1864 angehört.
Druck von Grass, Barth & Comp. (W. Friedrich) in Breslau,
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Ahmnticher von der Schla, Geselscaft fip vater, Caltur rg 1,9
RA Einzelne Schriften. MT
Zwei Reden, gehalten von dem Reg. -Quartiermstr. Müller und Prof, Roreie bei .d ;
Feier des Stiftungstages der Gesellschaft zur Beförderung der: ER und 1 ustr
Schlesiens, am 17. December 1804. 8°, 48 Seiten. BE:
An die Mitglieder der Gesellschaft zur Beförderung der Naturkuidd ind: strie se
und an sämmtliche Schlesier, von Rector Reiehe, 1809. 8% 328.2.
Oeffentlicher Aetus der Schles. Gesellschaft f. vaterl. Fan, gehalten am dorDetbr. 1 \
Feier ihres Stiftungsfestes.: 8°. 40-8. 7
Joh. George Thomas, Handb. d. Literaturgeschichte v. Schlesien, 1824, Br. 372 3,
Preisschrift.. - -
Beiträge zur else, veragnt von den Nitgliedern der entom. Seet ion, mit 17 Kpkk,; 182
.Die’schles. Bibliotlfek der Schles. Gesellschaftv.K. G.'Nowack. 8°. 1835 'oder später ersch
‚Denkschrift der Schles. Gesellschaft zu ihrem 50jähr. Bestehen, enthaltend die Geschich
. Schles. Gesellschaft und Beiträge zür Natur- und REN Schlesiens,
Mit 10 lithogr. Tafeln. 4°, 2878.
Dr.3. A.Hoennicke, Die Mineralquellen der Provinz Schlesiöss 1857. 8°. 166 SB gehr, Prei
ur, 0 6. ‚Galle, Grundzüge der schles. Klimatologie, 1857. “”. 127 >
“Dr. H. Lebert, Klinik des acuten Gelenkrheumatismus, Oreiilationsunietit; zum 1) Ahr
Fidlläum: des Geh. San. -Raths Dr. Ant. Krocker. Erlangen. 1860... 8%,.:149 8, 23
Dr. Ferd. Römer, Die fossile Fauna der silurischen Diluvialgeschiebe ° von Sadewitz, ‚bei 0)
in Schlesien, mit 6 lithogr. u. 2 Kupfer-Tafeln. 1861. 4%. 70,8.
Lieder zum Stiftungsfeste der entomologischen und botanischen Section der Schles, Gese
als Manuscript gedruckt. 1363: 8% 93; 8: age
Verzeichniss der in den Schriften der. Schles. Gesellschaft: von 1804-1803 incl. th
Aufsätze in alphab. Ordnung von Letzner. 1868. ) 8°,
Fortsetzung der in den Schriften der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur von 1864 | bisäsT |
enthaltenen Aufsätze, geordnet nach den Verfassern in alphab. Ordn. von Dr. Schreideı I.
General-Sachregister der in den Schriften. der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur von 1804 =
w‘. ‚bis 1876 a enthaltenen Aufsätze, geordnet in: alphab. ‚Eolge" von oe or 2
2. Periodische Schriften.
einge der Gesellschaft f, Naturkunde u. Industrie Schlesiens. Bu Ba. I, tt.
Hit. 2, 312 S, 1806, Desgl. Bd. II, 1. Heft. 1862,20, 3, % = Wr,
'Correspondenzblatt der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur, BO STERNEN
„Jahrg. I, 1810, 96 8. | Jahrg. III, 1832, 96 8. sg g.V, 1814, Hft. iu
„ IL 181, do. |, -IV.1813, Hft.Ju2je96S.| „ VI, 1815, Hit. i
Correspondenz der ’Schles. Gesellschaft f. "Yaterl. Cultur. 8°. Bd. J, 362 $: mit. Abbild.,
1820. "Desgl. Bü. II (Heft 1), 80:8. mit Abbild., 1820.
Bulletin der naturwissenschaftl. Section der Schles. Gesellschaft 1-11, 1822, 8%
do. do. do. 0, 1824. 80;
Uebersicht der Arbeiten (Berichte sämmtli Becienen) und Veränderungen der Schles. Ges
für. vaterl. Cultur: „Jahrg. 1849, Abth.1,1808.11,398.| Jahrg. 1869, 371 Seit,
Jahrg. 1824. 55 Seiten, 4°, u448$, met. Beobacht.
u AZ. ERTENE a2 1858, Aue 204 Be
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47 8. meteorol. Beob. . , .’ 1867, 278 Seit, 8°, nebst | up “ re. Heft
„ 1847. 404 Seit. 40, nebst ‘ Abhandl, 191 8, a
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Date Due