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Full text of "Jahresberichte der deutschen Geschichte 7.1924"

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| in Verbindung mit 


Fr. Andreae, O. Becker, Fr. v. Klocke, 

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Jahresberichte 


der 


deutschen Geschichte 


in Verbindung mit 


Fr. Andreae, O. Becker, Fr. v. Klocke, 

R. Koebner, R. Kötzschke, H. Rachel, 

H. Rothfels, R. Vaupel, G. Wolf, 
L. Zscharnack 


herausgegeben von 


V. Loewe u. M. Stimming 


Jahrgang 7: 1924 


Breslau 1926 
Priebatsch’s Verlag 


Vorwort. 


Durch den unerwarteten, aus voller Schaffenskraft und weit- 
reichenden Plänen heraus erfolgten Heimgang unseres Verlegers, 
Dr. Felix Priebatsch in Breslau hat unser Unternehmen einen tief 


zu beklagenden Verlust erlitten. Es verdankt seinem wissenschaft- 


lichen Interesse und seinem Opfermute die Begründung grade in den 
schwersten Jahren des deutschen Buchhandels, es ist ihm zugleich 
dafür verpflichtet, dass er sich auch als Mitarbeiter zur Verfügung 
stellte. Das Andenken an den Gelehrten lebt in den Annalen der 
Wissenschaft fort, das Gedächtnis der geistvollen und gütigen Per- 
sönlichkeit bewahren mit den Herausgebern alle die im treuen 
Herzen, die Felix Priebatsch im Leben näher treten durften. Eine 
tragische Fügung des Geschickes hat ihn nicht mehr den grossen 
Ausbau erleben lassen, dem unser Unternehmen dank der Förderung 
durch die berufenen Reiehs- und staatlichen Instanzen vom nächsten 
Jahrgang ab entgegeiisisht. 


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Liste der Mitarbeiter. 


Universitätsprofessor Dr. Fr. Andreae in Breslau (C VII.) 
Privatdocent Dr. O. Becker in Berlin (C V.) 

Oberarchivar Dr. Fr. v. Klocke in Münster i. W. (A III 3.) 
Universitätsprofessor Dr. R. Koebner in Breslau (A IÍ 
Staatsarchivrat Dr. V. Loewe in Berlin (A I C M) 

Dr. Hugo Rachel in Berlin (C VII) 

o. Universitätsprofessor Dr. H. Rothfels in Königsberg i. i. P. (C VI) 
Universitätsprofessor Dr. M. Stimming in Leipzig (A Ill. 1 2.BWV.) 
Staatsarchivrat Dr. Vau pel in Berlin (C IV.) 
 Universitätsprofessor Dr. G. Wolf in Freiburg i. Br. (C I.) 


Kap. 
Kap. 


Kap. 


Kap. 
Kap. | 
Kap. 
Kap. 


Kap. 
Kap. 


HI. 


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VIIL. 


Inhaltsverzeichnis. 


A. Allgemeiner Teil. 
Bibliographie. Archivwesen Ba se 
Geschichtsphilosophie, Mittelalter. Geistes- 
geschichte . Kr ës E 
Histor. Hilfswissenschaften 
1. Urkundenlehre. — 2. Palaeographie. — 
3. Genealogie, Heraldik u. Sphragistik 
Histor. Geographie u. Siedelungsgeschichte 
siehe nächsten Jahresbericht 


B. Mittelalter. 


Allgemeines . 

Frühzeit 

Das Frankenreich . 

Die Kaiserzeit . 

Verfassungsgeschichte Se 
Wirtschaftsgeschichte siehe C. 


C. Neuere Zeit. 


Reformation . 

Gegenreformation u. dreißigjähriger Krieg 

Vom Westfälischen Frieden bis zum Tode 
Friedrichs des Grossen 

Vom Tode Friedrichs des Grossen bis zur 
Begründung des Deutschen Reichs . 

Von der Reichsgründung bis zu Bismarcks 
Entlassung . 

Von der Entlassung Bismarcks bis Z: Ausgang 
des Weltkrieges `, . . . à. 

Wirtschaftsgeschichte . 

Neuere Kultur- u. Geistesgeschichte 
Neuere Kirchengeschichte siehe nächsten 

Jahresbericht 


Seite 


1—2 


3 —13 
12—37 


55—76 


11—89 

90—92 

92 — 108 
109—118 
118—131 


131—148 
148—162 


A. Allgemeiner Teil. 
Kapitell. 


Bibliographie. Archivwesen. 
(Loewe.) 


Verzeichnisse der neuesten landesgeschichtlichen Literatur liegen 
mir vor für Ostpreußen’ Thüringen-Sachsen,) Pom- 
mern?) Schleswig-Holstein?) Hessen?) Würtem- 
berg) Elsaß-Lothringen,) die Schweiz.) 

Einen instruktiven Rückblick aui ein Jahrhundert preußischer 
Archivverwaltung gab der -Generaldirektor der preußischen Staats- 
archive P. K e h r°) bei Gelegenheit der Wiedereröffnung des Geheimen 
Staatsarchivs in seinem neuen und würdigen Heim in Berlin-Dahlem. 
jn der langen Reihe preußischer Ministerpräsidenten, die zugleich 
Chefs der Archivverwaltung waren, hatten nur diejenigen Verständnis 
für die Aufgaben der Archive, die unter allen die bedeutendsten Staats- 
männer waren: Hardenberg und Bismarck. Das erste Halbiahrhundert 


wird durch eine rein bureaukratische Verwaltung, abseits vom gei- ` 


stigen Leben der Nation und abseits der Wissenschaft, gekennzeichnet, 
erst 1852 trat in Karl Wilhelm v. Lancizolle der erste Gelehrte an die 
Spitze der Archivverwaltung. Kehr charakterisiert weiterhin in inte- 
ressanten Ausführungen die Amtsführung M. Dunckers, Sybels und 
Kosers und betont schließlich, daß die preußische Archivverwaltung 
trotz mancher Mißgriffe und mißglückter Versuche mit ihrer wissen- 
schaftlichen Richtung seit 1852 auf dem richtigen Wege gewesen sei. 
Gleichfalls bei Gelegenheit der Wiedereröffnung des Cieheimen Staats- 


1) Wermke, E., Altpreuß. Bibliographie f. d. J. 1923. Altpreuß. For- 
schungen 1, 145—69; 2, 152—79. 

2?) Laue, M., Bibliographie. Thüring.-sächs. Zeitschr. f. Gesch. u. Kunst. 
12, 113—31; 13, 88—140. 

3) Luther L K., Geschichtl. u. landeskundl. Literatur Pommerns 
1915—23. Pomm, Jahrbücher 22, 33—124. | 

a) Pauls, V., Literaturbericht. Zeitschr. f. Schleswig-Holstein. Gesch. 
53, 3607—85. 

5) Dersch, W., Bücher- u. Zeitschriften-Umschau. Zeitschr. f. hess. 
Gesch. u. Landeskunde 54, 279—448. 

Lenze, O., Württemberg. Gesch.-Literatur vom J. 1921 u. 22. Würt- 
temberg. Vierteljahrhefte f. Landesgesch. 31, 208. Sp 

1) Poewe, W., Elsass-Lothring. Bibliographie f. d. I. 1922. Els.-Loth- 
ring. Jahrbuch 3, 158—77 

8) ME H., SEET d Schweizergesch. Jahrg. 1923. Beilage 
zur Zeitschr. f. schweizer. Gesch. Jahrg. 1924. 

°) Kehr, P., Ein Jahrhundert preuss. Archivverwaltung. Preuss. Jahr- 
bücher 196, 15980. 


apren 


archivs unterrichtete M. Klinkenborg*) über Aufbau und Ziele 
dieses wichtigsten der preußischen Staatsarchive. 

Mit sehr beachtenswerten einleitenden Bemerkungen über Wert 
und Pflege moderner Nachlässe überhaupt stellte L. Dehio!) die 


‘politischen Nachlässe des 19. Jahrhunderts im Besitz der preußischen 


Staatsarchive zusammen. Bei weiten die größte Anzahl derselben 
findet sich im Geheimen Staatsarchiv, für die Vervollständigung des 
Stoffes in den Provinzen wird die Teilnahme der historischen Kom- 
missionen und Vereine und das vielfach erst noch zu weckende In- 
teresse der in Frage kommenden Familien und Persönlichkeiten nicht 
zu entbehren sein. 

Bei Gelegenheit der Übersiediine des Staatsarchivs für die Pro- 
vinz Schleswig-Holstein von Schleswig nach Kiel ist im Vorjahre eine 
Übersicht über die Bestände des Kieler Staatsarchivs gegeben worden 
(vgl. Ib. 6, 2). Eine erwünschte Ergänzung dieser Übersicht bietet nun- 
mehr Kochendörffer”) in einer nach der geschichtlichen und 
territorialen Entwicklung gegliederten Darstellung des Archivwesens 
Schleswig-Holsteins. Er behandelt darin die einzelnen Landesarchive, 
die städtischen, kirchlichen, ständischen und Privatarchive, gibt end- 
lich eine kurze Übersicht über das Archivwesen Dänemarks.) Für 
die auch für die allgemeine deutsche Geschichte so bedeutsamen wetti- 
nischen Archive liegt bisher eine erschöpfende Gesamtdarstellung noch 
nicht vor, als Anfang einer solchen dürfen wir vielleicht die Studie 
betrachten, die W. Lippert) den ältesten wettinischen Archiven im 
14. und 15. Jahrhundert widmete. 

= Die Pflege der vielfach reiches geschichtliches Material ent- 
haltenden adligen Archive liegt, wie man. weiß, noch sehr im Argen. 
Um so mehr ist daher die Gründung der „Vereinigten Westfälischen 
Adelsarchive E. V.“ zu begrüßen, eines Vereins, der sich die fach- 
männische Ordnung und Erschliessung der in privater Hand befind- 
lichen archivalischen Schätze zur Aufgabe gesetzt hat und in seinem 
„Westfälischen Adelsblatt“°) über die Ergebnisse seiner Arbeit regel- 
mäßig Bericht erstattet.'‘) 17) 


10) Klinkenborg, M., Aufbau u. Ziele d. preuß. Geheimen Staats- 
archivs. Mitteil. d. Vereins f. d. Gesch. Berlins 41, 19—21. 

11) Dehio, L., Politische Nachlässe d. 19. Jhd. im Besitz der preuss. 
ne Korr.-Blatt d. Gesamtver d. deutsch. Gesch.- u. Alt.-Vereine 72, 
2—104. 

12) Kochendörffer, H., Das Archivwesen Schleswig-Holsteins. Kiel, 
Mühlau, 1924, 40 S. 

13) Kochendörffer, H., Das Archivwesen in Dänemark. Korresp. 
platt d. Gesamtver. 72, 58—64. 

1) Lippert, W., Die ältesten wettinischen Archive im 14. u. 15 Jhd. 
Neues Archiv f. sächs. Gesch. 47, 71—99, 

15) Westfälisches Adelsblatt. Monatsblatt d. Vereinigten Westfäl. Adels- 
archive. Ig. 1924. 

°) Müsebeck, E., Die nationalen Kulturaufgaben des Reichsarchivs. 
Archiv für Politik u. Geschichte 2, 393—408. 

#7) Eder, P., Über Archivfragen in den Friedensverträgen des 19. u. 
20. Jhd. Korresp. blatt d. Ver. f. siebenbürg. Landeskunde 47, 9—-17. 


NW 


2 


A. Kapitel Il. 


Geschichtsphilosophie. — Mittelalterliche 
Geistesgeschichte. | 


(Koebner.) 


Zwei Historiker, die vor Jahrzehnten im „geschichtswissen- 
schaftlichen Streit“ führend waren, haben sich aufs Neue zum Wort 
gemeldet. Felix Rachfahl(f), der damals gegen Lamprecht auf- 
getreten war, hat seine letzte Schrift!) unter die Zielsetzung gestellt, 
eine sozialwissenschaftliche Betrachtung über die allgemeinsten Be- 
griffe des historischen Gegenstandes — Staat, Gesellschaft, Kultur — zu 
geben, die am Ende auf die Aufgaben der Geschichtswissenschaft hin- 
führt. Dieses Verfahren der Begriffsentwicklung läßt sich vertreten 
und bezeichnet gegenüber den zahlreichen methodologischen Unter- 
nehmungen, die in. den letzten Jahrzehnten von den formallogischen 
und psychologischen Elementen des Geschichtsbegrifis ausgegangen 
sind, einen anziehenden Wechsel des Standpunkts. Und gelegentlich 
bringt die Praxis des historischen Forschers, die in philosophisch-me- 
thodologischen Schriften so oft nur ganz oberflächlich zur Klärung 
der Begriffe herangezogen wird, bei Rachfahl ihre anregende Kraft 
für die theoretische Grundlegung der Wissenschaft zur Geltung. R. 
spricht die in der Forschung lebendige Problemlage des Historikers 
aus, wenn er in der Frage nach dem eigentlichen „Arbeitsgebiet der 
Geschichte“ das Ineinandergreifen aller historisch gegenständlichen 
Sachbezüge und dasSchwergewicht despolitischen zugleich betont: („Die 
Frage lautet nicht: politische oder Sozial- oder Kulturgeschichte? 
sondern: welches ist der innere Zusammenhang und der Wechsel- 
bezug zwischen politischer, Sozial- und Kulturgeschichte? Nicht 
schlechthin: was ist die Aufgabe der Geschichte?, sondern was ist die 
Aufgabe der Staatsgeschichte?“). Aber in diese mit. sicherem Ver- 
. ständnis aufgedeckten verwickelten Grundverhältnisse ist nur mit 
straffer begrifflicher Gedankenführung einzudringen, und eine solche hat 
Rachfahls Buch leider nicht festhalten können. Die Betrachtung 
schweift über "allgemeine. historische Erfahrungssätze und Sentenzen 
hin und führt zur keinen festen Ergebnissen. 

Wie bei Rachfahl, so finden wir bei Kurt Breysig, der neben 
Lamprecht als Hauptneuerer im Methodenstreit der Jahrhundertwende 
auftrat, heute die alte Grundgesinnung festgehalten. Seine Lebens- 
arbeit hat in mehrfachen Ansätzen immer wieder den gleichen Plan 
verfolgt: die Geschichtswissenschaft als Formbeschreibung und Form- 
vergleichung geistigen und sozialen Lebens auszubauen, ihr eine Ge- 


1) Rachfahl, F., Staat, Gesellschaft, Kultur und Geschichte. Jena, 
Fischer, VI, 106 S. 


1* 3 


schichtslehre als Lehre von den Grundkräften und Grundgesetzen 
der Entwicklung als Wegweiser mitzugeben und diese wiederum auf 
eine um die Grundbegriffe „Persönlichkeit und Gemeinschaft‘ kreisende 
Ciesellschaftsliehre zu gründen. Die letzte Fassung des Gesamt-Unter- 
nehmens, die B. jetzt nach langer Durcharbeitung vorlegt?), beginnt 
wieder, wie einst die „Kulturgeschichte der Neuzeit“, bei der breiten 
gesellschaftstheoretischen Grundlegung. . Die Geschichte soll als Ent- 
faltung persönlicher Urkraft begriffen werden, die an Menge" und 
„Gemeinschaft“ den Stoff ihres schöpferischen Handelns, aber auch 
eine regulierende und hemmende Gegenkraft findet. Der 1. Band der 
neuen Geschichtslehre ist ganz diesem Thema gewidmet; die Ge- 
schichte sieht man erst von fern. Die Beurteilung des Unternehmens 
hängt davon ab, wie man sich grundsätzlich zu der Möglichkeit ver- 
hält, „Persönlichkeit“ und „Gemeinschaft“ als letzte gesellschaftliche 
Kräfte metaphysisch anzusetzen und aus den sozialen und geistigen 
Erscheinungen herauszudeuten. B.s „begriffliche Geschichtswissen- 
schaft“ setzt sich von vornherein dem Einwand aus, daß ihre theore- 
tischen Grundpositionen selbst nicht begrifflich analysiert sind. Sie 
ist dem Denken Nietzsches, das im persönlichen Lebens- und Macht- 
willen die allerwirklichste Tatsache sieht, an die sich keine begriff- 
liche Zersetzung heranwagen darf, mit einer Beharrlichkeit treu ge- 
blieben, die jenseits aller theoretischen Kritik immer Achtung einilößt. 
Es ist die Beharrlichkeit einer Glaubensüberzeugung. In diesem ihrem 
Charakter wie auch in der Lehre, an der sie iesthält, liegt die vibrie- 
rende, man möchte sagen, visionäre Beredsamkeit begründet, mit der 
sie sich ausspricht; in den gleichen Momenten begründet sich anderer- 
seits Des Tendenz, stets die wertsetzende Forderung und Gesellschafts- - 
kritik mit der Gesellschafts-Analyse zu verbinden. 

Den Ausgang von der Frage nach den letzten Maßstäben der 
Sozialethik hat auch die geschichtsphilosophische Arbeit von Ernst 
Troeltsch nie verleugnet; aber es war für ihn nicht wie für 
Breysig möglich, sich der Anschauung eines die Geschichte durch- 
dringenden Lebensgeistes hinzugeben und sich in ihm geborgen zu 
fühlen. Für ihn war die Geschichte vielmehr der Ausdruck der höch- 
sten Mannigfaltigkeit und Gegensätzlichkeit der Lebens-Ausrichtung, 
und die Frage, wieweit diese Wandelbarkeit durch eine allgemeingültige 
Sinndeutung des Menschentums auszugleichen und zu beherrschen sei, 
war ihm das letzte Kulturproblem. Um dieser Auseinandersetzung 
willen hat er seine zwei großen ideengeschichtlichen Werke geschrie- 
ben, die „Soziallehren“ und den „Historismus“; der Rückblick auf die 
Fülle ewig unbefriedigter, ewig zu neuen Fassungen vordringender 
Lebensproblematik sollte es hier wie dort möglich machen, diese Pro- 
blematik unter einheitlichen Gesichtspunkten zu ordnen. Sie zu ver- 
stehen, das sollte ein Schritt zu ihrer Bewältigung sein. In den Vor- 
trägen, die Troeltsch 1920 in England hielt und die nunmehr nach 

2) Breysig, K., Vom geschichtlichen Werden. Umrisse einer zukünf- 


tigen Geschichtslehre. 1. Bd. Persönlichkeit und Entwicklung. Stuttgart und 
Berlin, Cotta, XXI, 308 S. 1925. (2. Bd. 1926). 


4 


seinem Tode veröffentlicht wurden,’) werden die geschichtlichen und 
geschichtsphilosophischen Motive seines Denkens durchgängig dieser 
ethischen Problematik untergeordnet: sie stellen nicht, wie der für die 
deutsche Ausgabe gewählte Titel vermuten lassen könnte, eine Fort- 
setzung seines zweiten Hauptwerks där. 

An einer Stelle aber greifen diese Vorträge dennoch et einer 
bemerkenswerten kritischen Auslassung in die heutige geschichts- 
philosophische Bewegung ein. Eine Lösung des Konfliktes zwischen 
ethischer Normbestimmtheit und historischer Wertmannigfaltigkeit 
kann nur anerkannt werden, wo sie fähig ist, breite Schichten auf eine 
Gesinnung zu einigen, „Gemeingeist“ zu bilden. Wie steht es, so fragt 
Tr., mit der historischen Möglichkeit eines solchen Gemeingeistes’ 
Er erhebt Bedenken gegen die in unserem Bildungsleben verbreitete 
Neigung, unserer Gegenwart als einer Zeit kultureller Anarchie frü- 
here Epochen, in denen die Gesellschaft von einer Einheitsgesinnung 
beseelt worden sei, gegenüberzustellen. Er bekennt sich zwar zum 
Begriff des „Kulturzeitalters“ und spricht sogar von einer „typischen 
Folge“ solcher Zeitalter: aber er warnt vor der Überspannung dieses 
Begriffs, die die Gegensätze zwischen den Gruppen-Gesinnungen einer 
und derselben Epoche hinwegdeutet, vor den „monistischen Auffas- 
sungen“ des (emeingeistes, die die stets lebendigen Spannungen des 
Interesses und der Idee außer Acht lassen. | 

Wo das moderne soziologische Denken sich vollständig von der 
historischen Forschung emanzipiert und sein Genügen darin findet, die 
neuesten Formeln für die Bewegung geistiger und gesellschaftlicher 
Tendenzen spielend gegen einander klingen zu lassen, sind solche Be- 
denken unbekannt. Für Karl Mannheim) bedeutet es ein Moment 
der Unzulänglichkeit an Troeltsch, daß seine Problematik des histori- 
schen Weltanschauungswandels sich nicht zu einer alle Wahrheit in 
„Struktur“ des Geisteslebens verwandelnden Theorie des Historismus 
erhoben habe. In diesem Sinne, im Sinne einer „dynamisch-histori- 
schen Lebensphilosophie“ möchte M. Troeltsch’s Arbeit fortsetzen. Wie 
er das logisch zustande bringt, muß hier unbetrachtet bleiben; aber 
der Historiker darf wohl sein Erstaunen darüber aussprechen, wie M. 
die „Gestalten“ des Lebens und der Kultur — ungeachtet dessen, daß 
er sie ständig im Flusse befindlich nennt — als wissenschaftlich voll- 
kommen beherrschbar und durchsichtig behandelt, ohne dieses Wissen 
: auch nur an einem Falle praktisch zu bewähren. „Sitte ist eine Er- 
scheinung, die ohne Schwierigkeit adäquat, als Ausstrahlung, Doku- 
ment einer „Volksseele“ gestalthaft erfaßbar ist...“ Ohne Schwierig- 
keit? Beneidenswerter Autor! 

Eine solche Betrachtungsweise, die historische und philoso- 
phische Wahrheiten in eins verfließen läßt und jenseits des Wandels 
der Gesinnungen überhaupt keine Geltung kennt, ist vom methodo- 


3) Troelts ch, E., Der Historismus und seine Überwindung. Fünf Vor- 
iräge Berlin, Pan-Verlag. XII, 108 S. 

a) Mannheim, K., Historismus. Archiv für Sozialwiss. und Sozialpo- 
litik, Bd. 52, S. 1—60. l 


9) 


t 


logischen Denken, das nach Geltungs-Voraussetzungen der historischen 
Erkenntnis fragt, durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt. Die ` 
logisch-systematische Bearbeitung der geschichtsphilosophischen Pro- 
bleme ist heute sicherlich die weniger populäre der beiden 
Denkrichtungen; aber sie steht dennoch nicht still. Rickert 
hat nunmehr in seine kleine ,„Geschichtsphilosophie“*) die Ge- 
danken zum „Geist“- und „Sinn“-Problem hineingearbeitet, durch 
die er die letzte Fassung der „Grenzen“ erweiterte. Einen beachtens- 
werten Vorstoß in noch wenig erörterte Probleme unternimmt 
Thyssen’), indem er die Geschichte aus den Begriffen des „Zeit- 
Einmaligen“ und des Vergangenen aufzubauen versucht; indessen wird 
der Historiker in dem abstrakten Schema der „individuellen Welt- 
struktur“, das aus dieser Erörterung hervorgeht, seine Gegenstands- 
welt und seine’ Wissenschaft kaum wiedererkennen. — — 


Das erregte kombinatorische Gedankenspiel, . das in der 
Nachbarschaft der Geschichtswissenschaft mit den Begriffen der histo- 
rischen Struktur, des Kulturzeitalters, des Gemeingeistes u. s. w. er- 
öffnet worden ist, beginnt zum mindesten an einem Punkte unserer 
Wissenschaft fruchtbar zu wirken: es regt die Forschung im Gebiete 
der mittelalterlichen Geistesgeschichte an. Es ist zu 
verstehen, wenn hierbei die empirische Forschung gelegentlich ent- 
schieden als Opponent vorschneller Begriffisbildung auftritt; wie sich 
an Solche Kritik eine neue originelle und tiefblickende Begriffsbildung 
anschließen kann, hat Huizinga’s als Analyse wie als Darstellung 
gleich kostbares Buch vom ausgehenden Mittelalter erwiesen, dessen 
deutsche Übersetzung an dieser Stelle schon besprochen worden ist”) 
Huizinga‘s kritische Leistung bezog sich auf die Tendenz, die spät- 
mittelalterliche geistige Bewegung mit dem Begriff des „Renaissance“- 
Geistes zıı bewältigen. Er zeigte, wie in diesem Schlagwort sehr ver- 
schiedene geschichtliche Formen des Strebens nach geistiger „Wieder- 
geburt“ mit einander vermischt werden — und wie insbesondere die 
Idee eines vollkommenen Menschentums, zu dem man sich zurückfinden 
müsse, ein mannigfaltig ausgeprägtes, anspannendes und erregendes 
Motiv des ganzen mittelalterlichen Geisteslebens ist, so daß das Neu- 
artige derjenigen Renaissance-Bewegung, die mit dem Humanismus 
verknüpft ist, nicht gerade in diesem (Gedanken gesucht werden 
darf. „Vollkommenes Menschentum“ in dem hier gemeinten Sinne be- 
deutet aber insbesondere auch eine spezifisch irdische Vollkommen- 
heit, ein Persönlichkeits-Ideal des Weltmenschen; diese Idee ist 
nicht minder mittelalterliches Kulturgut wie die der Weltverneinung, 
der Askese — und die mittelalterliche Lebensauffassung wird erst voll- 


5) Rickert, H., Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine Ein- 
führung. 3., umgearbeit. Aufl. Heidelberg, Winter, X. u. 156 S. 

®) Thyssen, J., Die Einmaligkeit der Geschichte. Eine geschichts- 
logische Untersuchung. Bonn, Cohen, 259 S. 

1) Jahrg. 6, S. 61, Nr. 14. Zur Ergänzung ist auf die Leydener Antritts- 
vorlesung des Verfassers (Over historische Levensidealen) und auf seine 
„Renaissancestudien“ in „De Gids“ 1920 hinzuweisen. 


6 


kommen erfaßt, wenn es gelingt, diese Spannweite der Idealbildung 
und die Wechselbezüge der von ihr umschlossenen Ideale zu begreifen. 
Damit wird ein Problem bezeichnet, um dessen Bewältigung: die 
gegenwärtige Forschung mit verheißungsvollem Eifer bemüht ist. 
Troeltsch hat in den Soziallehren den entscheidenden Schritt getan, 
im Gegensatz zu- herkömmlichen Anschauungen die bejahende Stellung 
zur „Welt“ als einen integrierenden Bestandteil der kirchlichen Welt- 
- ansicht des Mittelalters zu begreifen. Er verstand diese christliche 
Weltbeiahung vornehmlich aus den sozialgeschichtlichen Bedingungen. 
Das mittelalterliche Christentum, so wie es sich seit dem 11. Jahr- 
hundert selbständig entwickelt, hat seine Eigenart als Christentum der 
„Spannungen“; seine Energie gilt gleichmäßig der konsequenten Durch- 
arbeitung der asketischen Motive, die im ursprünglichen Christentum 
angelegt sind, und der Vollstreckung der Notwendigkeit, Kirche und 
Weltleben in ein inneres Einvernehmen zu setzen, nachdem die poli- 
tische und gesellschaftliche Entwicklung der vorangehenden Jahr- 
hunderte die ausschließliche Durchdringung dieser beiden Sphären un- 
widerruflich gemacht hat. An diesem Punkte setzt eine Literatur- 
Überschau Günter‘s?) kritisch und programmatisch ein. Die Welt- 
bejahung muß nach Günter an einen andern Platz im Gefüge der 
christlich-mittelalterlichen Kultur gestellt werden, als er ihr bei Tr. 
zugewiesen wird. Sie ist nicht eine Verstrickung, in die die Kirche - 
sich allmählich hineinzieht; sie ist eine tiefe Tendenz in dem Volks- 
leben, das sich das Christentum Jaienmäßig zu eigen macht. Gewiß 
war „die Cluniazenser-Reform mit allen Konsequenzen... ein wesent- 
liches Stück der mittelalterlichen Weltanschauung. Aber ich sehe im 
Gegenstück auch Weltanschauung; und zwar nicht bloß germanischen 
Individualismus, sondern die Weltanschauung der Nichtaskese, des 
Christentums der Masse bzw. ihrer Führer.“ G. verweist darauf, wie 
impulsiv.christliche Idealisten in der weltlichen Arbeit tätig sind, wie 
ursprünglich auch die dem asketischen Christentum abgestrittene In- 
dividualität der religiösen Selbstbesinnung sich ausspricht, mit welcher 
Unbefangenheit andererseits Körperschönheit positiv gewertet wird. 
Der Schlußabschnitt von Günters Aufsatz wehrt eine Stilisie- 

rung des „asketischen Geistes“ ab, die beträchtlich weniger differen- 
ziert ist, als die in den soeben erwähnten Ausführungen kritisierte: die 
Auffassung, als habe die Kirche absichtlich und förmlich systematisch 
alle weltbejahende Kultur unterwühlt; v. Hofmanns Deutung der „drei 
sroßen Gelübde“ gibt den literarischen Anlaß zum Widerspruch. In 
der Grundabsicht begegnen sich hier G.'s gedrängte Thesen-Zer- 
gliederungen und Quellen-Hinweise mit dem breit angelegten Werk, 
indem Schnürer?) begonnen. hat, die Kulturleistung der mittelalter- 
lichen Kirche zur Anschauung zu bringen. Dieses große Darstellungs- 
unternehmen nimmt dennoch nicht eigentlich die Arbeit auf, die Günter 


8) Günter, H., Der mittelalterliche Mensch. Hist. Jb. d. Görres-Ges., 
Bd. 44, S. 1—18. 


Ä ®) Schnürer, G., Kirche und Kultur im Mittelalter. Bd. 1. Pader- 
born, Schöningh. 


d 


mit Recht fordert: die Arbeit, die sich bemühen soll, die Mannigialtig- 
keit und Gegensätzlichkeit der Ideenbildung zu entfalten, die an die 
zemeinsamen christlichen Voraussetzungen des Mittelalters angeknüpit 
hat. Die unbefangene Durchführung einer solchen Aufgabe wird bei 
Sch. durch die apologetische Tendenz seiner Darstellung gehemmt. 
Auch Günter zwar verleugnet niemals den Katholiken der Gegenwart. 
dem daran gelegen ist, die Kultur, die unter der Führung seiner Kirche 
herangewachsen ist, als vollwertig im Sinne der christlichen Religion 
und zugleich als vollwertig im Sinne außerreligiöser Lebensgestaltung 
zu erweisen. Aber er ist sich dessen bewußt, daß innerhalb dieser 
Zielsetzung die historische Gesinnungs-Analyse und die von dogma- 
tischen und -ethischen Wahrheits- und Wertmaßstäben ausgehende Ge- 
sinnungskritik klar auseinander gehalten werden müssen. Wenn 
Günter auf die Frage zu sprechen kommt, ob das Christentum der 
mit der Clumiazenser-Reform anhebenden Bewegung ein „wesens- 
anderes“ sei als das der christlichen Antike, so entgeht ihm nicht, 
daß diese Frage „historisch allein nicht zu lösen“ ist, und wenn 
er der Frage der kirchlichen Kulturleistung. nahe tritt, will er zeigen, 
wie die Stellung der Kirche zur nicht religiösen Kultur in ihren be- 
iahenden wie in ihren verneinenden Wertsetzungen verstanden 
werden muß — nicht, daß die Kultur, so verstanden mit der „wahren“ 
Kultur identisch ist. Schnürers Buch dagegen ist von diesem 
Vorsatz beherrscht. Er ist sich bewußt, die Arbeit Ozanams und Gode- 
froy Kurths wieder aufzunehmen, die den Einklang kulturellen und 
christlichen Fortschritts erweisen wollte. Alle historische Individua- 
lität wird durch Erbaulichkeit verdeckt; ehe noch eine Erscheinung 
charakterisiert werden kann, sind Lob und Bemängelung, Zustimmung 
und Entschuldigung beredt zur-Stelle.e. Dem Buche kommt zu gute. 
daß es mit diesen — aus anderen katholisch-apologetischen Geschichts- 
darstellungen wohlbekannten — Zügen auch die Vorteile katholischer 
Gelehrsamkeit aufweist: seine leichte Faßlichkeit, begriffliche Ein- 
fachheit, Wärme des Vortrags, sein Citatenreichtum mögen manche 
geschichtlichen Ansprüche nicht befriedigen; aber ohne Zweifel ver- 
mögen sie dem Leser mit leichter Hand ein fruchtbares Wissen zu 
vermitteln. 

Aber wir kehren zu Günters Bemerkung zurück, daß die geistige 
Kultur des Mittelalters in ihren spezifisch nichtasketischen 
Tendenzen der Forschung noch besondere Forderungen einheitlichcir 
Verständnisses stellt. Diese Forderungen werden nicht erst heute 
verstanden. Die literarhistorische Forschung zumal ist ihnen schon 
früher begegnet. Hier ist zunächst an die Dante-Forschung zu er- 
innern. Die Erscheinung Dantes ist, abgesehen von dem, was Sie 
persönlich bedeutet, auch ein vollgültiges Zeugnis dafür, daß eine Ge- 
sinnung, die sich zwischen Weltentrücktheit und Weltliebe, zwischen 
theologischer Bildung und ritterlich-weltmännischer Ausdruckskultur 
zurechtfindet, nicht in Kompromissen aufzugehen braucht und ihre ei- 
gene persönliche Geschlossenheit haben kann. Nun konzentriert sich i 
Dante gewiß ein Ringen nach einer „Wiedergeburt“ des Menschen 


8 


und der Kultur, das in seiner Eigenart eine neue Wendung des spät. 
mittelalterlichen Denkens anzeigt; von dieser Seite hat uns nament- 
lich Burdach dem Verständnis der Epoche näher gebracht, dessen: 
neue Erörterungen zum Thema „Dante und Renaissance?) auch wegen 
ihrer methodologischen Vorbehalte gegen den Schematismus der ideen- 
mäßigen Epochengliederung hier Erwähnung verdienen. Aber wie 
gegen eine einseitige historische Isolierung dieses „Renaissance-Be- 
wußtseins‘“ der Hinweis Huizinga‘s auf die Zusammengehörigkeit der 
Erneuerungs-Sehnsucht mit dem ganzen mittelalterlichen Denken in 
Erinnerung zu bringen ist, so darf auch insbesondere die Vereinigung 
laienmäßiger und geistlicher Ethik zu einem selbständigen Gesinnungs- 
ganzen schon als ein lebendiges Problem der literarischen Kultur des 
hohen Mittelalters, der „höfischen“ Epoche angesehen werden. Es. 
ist das große Verdienst Ehrismanns, jener Dichtung und nament- 
lich der Erscheinung Wolframs von Eschenbach unter diesem Gesichts- 
punkte nachgegangen zu sein, und enge sachliche Beziehungen 
zwischen der dichterischen und der scholastisch-wissenschaftlichen Ge- 
dankenarbeit des Zeitalters aufgewiesen zu haben, In dieser Arbeit 
ist ihm jetzt Günther Müller) gefolgt. Sein Augenmerk ist — wie 
das der Studie Günters — nicht auf die „Spannungen“ sondern auf die 
Zeugnisse einer Harmonie geistlichen und laikalen, asketischen und 
weltbejahenden Fühlens gerichtet. Er findet dieses Lebensprinzip des 
hochmittelalterlichen Geisteslebens in dem sicheren Glauben an eine 
- Güterordnung, in der jedes Gut seinen gültigen Platz hat: ein 
„dualistischer“ Seelenkonflikt ist ausgeschaltet, wo die Welt im Bilde 
eines solchen „stufengeordneten“ Ganzen, eines „Gradualismus“ ver- 
standen wird. Diese These nimmt --- wie Troeltsch’? Charakteristik 
der mittelalterlichen Gesellschaftsauffassung und wie andrerseits der 
romantische Mittelalter-Hymnus Landsberg‘'s ` — entscheidende 
Mittel der Kultur-Interpretation aus der Systematik des. Thomas von. 
Aquino: die Harmonie mannigfaltiger Seins- und Zweckeinheiten, die 
der Philosoph aufweist, findet M. in der nichtwissenschaftlichen 
Daseinsgestaltung der Dichtung als lebendig Gewußtes, als das, was 
dem Dichter immer gegenwärtig bleibt, wenn er ein Lebensgut dar- 
stellt. Wenn ein und derselbe Dichter den Eremiten und den Minner, den 
Frauendienst und die eheliche Liebe preist, die göttlichen .Wahrheiten 
predigt und seine Phantasie in Kampfes- und Liebesscenen spielen 
läßt, so ist das ein Leben in zwei Welten nur für den, der nicht ver- 
steht, wie das mittelalterliche Denken die eine Welt als ein mannig- 
faltiges Nebeneinander eigengesetzlicher Güter und Daseinsformen 
begreift. 
Diese Auffassung bleibt nicht These, sondern wird in zahl-. 
reichen Einzel-Aufweisen durchgeführt, und es ist kein Zweifel, daß sic 
uns viel für das Verständnis mittelalterlichen Geisteslebens gibt. 


10) Burdach, K., Dante und das Problem der Renaissance. Deutsche 
Rundschau 198. | 


1) Müller, G., Gradualismus. Dte. Vierteliahrsschr. f. Literaturwiss. 
u. Geistesgesch., 2, 681—720. 


H 


Dennoch hinterläßt Mis Arbeit Bedenken: sie ist in ihrem Aufbau noch 
zu viel These, zu wenig Durchführung. Sie bringt den „Gradualis- 
mus“ als festes Gesinnungsprinzip an die Erscheinungen heran und 
läßt ein Motiv, das doch nur ein Hilfsbegriff zum Verständnis der gei- 
stigen Individualitäten sein kann, sofort als deren letztes einheitliches 
Prinzip erscheinen. Dieser begriffliche Übereifer bewirkt zugleich, 
daß zu viel bewiesen wird; man fragt sich: wenn alle Lebenswerte 
im „Gradualismus“ verträglich sind, wo kommen dann die seelischen 
Konflikte her, die diese Welt doch auch kennt und die auch M. gele- 
gentlich anklingen läßt? 

Hier — wie auch im Stil der Studie, der mit den Kunstaus- 
drücken geistesgeschichtlicher Typenbildung schwer behängt ist — 
zeigt sich wieder jene Übersättigung mit Strukturbegriffen, auf die 
an dieser Stelle schon vor zwei Jahren hinzuweisen war, und deren 
Gefahren für das adäquate .Verständnis historischer Erscheinungen 
man um so ernster nehmen muß, je mehr man (wie der Referent selbst) 
die Analyse der Gesinnungsstruktur nach einer streng begrifflichen 
Methode für ein notwendiges Element historischer Forschung hält. 
Die „Strukturen“ und Typen dürfen nicht statt der Menschen, die wir 
verstehen wollen, in unseren Darstellungen umherwandeln; sie dürfen 
auch nicht als qualitates occultae die ganze Motivation der Tatsachen 
des geistigen Lebens bestreiten. Diese Warnung möchte man mehr 
noch als der Untersuchung Müllers, dem Aufsatz Hennig Brink- 
manns entgegenhalten, der schon in seinem Titel „Diesseitsstimmung 
im Mittelalter‘“'?) seine enge Zugehörigkeit zum gleichen Problemkreis 
andeutet. Um seine Streifzüge in der lateinischen Literatur des 
13. Jahrhunderts gebührend einzuführen, spricht der Verfasser zu- 
nächst einmal seine Ansichten über Geschichte, Geistesgeschichte und 
Kulturgeschichte im allgemeinen aus. Sie gipfeln in der Erklärung: 
„das Wechselspiel der Typen, ihre Aufeinanderfolge, ihr Wandel macht 
das Wesen einer Geschichte des einzelnen Kulturgebiets aus... Wo... 
ein Zusammenhang zwischen der Typenfolge mehrerer Kulturgebiete 
aufgesucht wird, setzt die Tätigkeit der Kulturgeschichte ein.“ 
Die erste historische Aufgabe ist also, daß „die einzelnen Menschen- 
typen nach sauberer Vorarbeit gefunden“ werden. Wie ist die Er- 
füllung dieser großen Proklamation möglich? „Für jetzt muß ich mich 
mit der Idee begnügen“, fügt der Autor hinzu; aber zugleich möchte 
seine mittelalterliche Studie doch ein Paradigma dafür sein, wie man 
einen Typus findet. Ihre These ist: „zwei Menschentypen, asketischer 
Idealist und Diesseitstypus, stehen seit 1000 gegeneinander.“ Den 
ersten nimmt B. aus der geistesgeschichtlichen Literatur hinüber; den 


‚zweiten möchte er selbst entwickeln. Eine Fülle von literarischen 


Berufungen und namentlich von Citaten aus der Vagxantenpoesie soll 
die „Diesseitsnatur‘ charakterisieren. Ihr Hauptmerkmal ist, daß sie 
„dem Rhythmus der Seele lauscht“; bald treibt sie Selbstanalyse, bald 
realistisch-psychologische Schilderung; sie wird durch die Lust am 


12) Brinkmann, H., Diesseitsstimmung im Mittelalter. A. a. O. 721 ff. 
10 


Fabulieren bezeichnet, durch Wandertrieb, aurch Schreibseligkeit. 
Wertung des Irdischen, Immoralismus, Eigenbewertung der Natur, end- 
lich ein Ringen um eine der Antike gleichwertige künstlerische Voil- 
kommenheit greifen ein. Dies alles bezeugt „die ersten Regungen des 
„Individuums“, ein „neues Freiheitsbewußtsein“. — Diese Begriffs- 
bildung ist nicht neu. Wir hören die Motive wiederklingen, mit denen 
Burckhardt und Dilthey die Renaissance charakterisiert haben. 
Stellenweise liest sich B.’s Verdeutlichung des „erwachenden Lebens“ 
im 11. und 12. Jahrhundert wie eine Parodie auf Diltheys berühmte 
Abhandlung über den Menschen des 15. und 16. — als sollte bewiesen 
werden, daß mit den gleichen Mitteln, die dort die Zeitstimmung des 
ausgehenden Mittelalters kennzeichnen, der Lebensgeist seiner Höhe- ` 
zeit getroffen werden kann. Heißt das wohl, einen historischen Typus 
charakterisieren? Nun hat bereits Burckhardt die Vagantenpoesie als 
Vorklang der Renaissance bezeichnet, und auch Brinkmann glaubt 
schließlich, die mittelalterliche „Diesseits“-Kultur als Vorstufe der 
Renaissance fassen zu müssen. Aber daraus folgt, daß hier eben kein 
historischer „Menschentypus“ aufgefunden ist, sondern eine Mannig- 
faltigkeit von Tendenzen der Lebensauffassung, die seit den Anfängen 
selbständig produktiven Geisteslebens ihre eigene Kontinuität in 
der europäischen Geschichte haben, aber zugleich einen kontinuier- 
lichen Sinneswandel erfahren, sich mit verschiedenartigen Bildungs- 
motiven und Gegenwartsaufgaben verknüpfen und damit auch eine 
höchst wechselvolle „menschliche“ Eigenart aussprechen. — Bei allen 
diesen Einwendungen gegen die begriffliche Ausrichtung des Aufsatzes 
darf anerkannt werden, daß er in Wissen und Verständnis aus dem 
vollen schöpft. Daß B.s Auffassung des Mittelalters im schärfsten 
Gegensatz zu der Müllers steht, durchaus „dualistisch“ ist, ist wohl 
schon deutlich geworden. Aus dem Vergleich der beiden Arbeiten, 
die in der gleichen Publikation nebeneinander stehen, wird deutlich, 
welche Aufgaben einer noch mehr ins Einzelne gehenden geistesge- 
schichtlichen Erforschung des 11. und 12. Jahrhunderts bevorstehen. 

Die ersten Jahrhunderte der germanisch-romanischen Kultur 
werden im ganzen seltener in die Erörterung hineingezogen, die mit 
dem schweren Geschütz der Strukturen-Analyse vorgeht — und wenn 
von der „Karolingischen Renaissance“ die Rede ist, so weiß man, daß 
dieses Schlagwort nicht die gleichen kulturpsychologischen Probleme 
in sich birgt wie die im engeren Sinne sogenannte „Renaissance“. 
Wenn wir aber in Erna Patzelts Untersuchung") das einleitende 
Kapitel lesen, in dem die Verwendung jenes Ausdrucks im 19. und 20. 
Jahrhundert einer gründlichen Durchsicht unterzogen wird, so sehen 
wir, daß seine schillernden Anklänge die Forschung doch recht störend 
belastet- haben: geistliche und weltliche Bildungsbestrebungen, litera- 
rische Kultur und politische Machttendenzen hat man mit diesem Aus- 


15) Patzelt, E, Die Karolingische Renaissance. Deutsche Kultur, 
hsg. von V. Brecht u. A. Dopsch. Historische Reihe I. Wien, Österr. Schul- 
bücherverlag. 196 S. 


II 


druck umfassen wollen. Eine Reinigungsarbeit tat not. Die Methode, 
nach der die Verfasserin sie vorgenommen hat, ist wohl ein wenig ein- 
seitig. Sie kämpft gegen eine „Renaissance Theorie" — während: 
doch ihre Forschungsübersicht recht eigentlich zu dem Ergebnis führt,. 
daß keine einheitliche Vorstellung von der Bedeutung jener „Renais- 
sance“ besteht. Und sie führt den Kampf in der Weise, daß sie im: 
engen Anschluß an Dopsch’ bekannte Thesen den Nachweis bringt, 
daß Karl der Große im Bildungsleben wie in der Wirtschaftsfürsorge- 
an Traditionen habe anknüpfen können und in der Politik keinen Um- 
sturz im imperialistischen Sinne gewollt habe; folglich, meint sie, dürfe- 
von einer Renaissance keine Rede sein. So wird dieser Begriff durch: 
den wohlbekannten Protest gegen „Katastrophentheorie“ und „Cäsur‘“ 
erledigt. Aber weder unter der Karolingischen noch unter der spät- 
mittelalterlichen Renaissance wird heute ernstlich irgendwo eine ab- 
rupte Kulturschöpfung oder traditionsiose Kulturerneuerung verstan-: 
den, und so passen hier Ziel und Angriff nicht eigentlich zusammen.. 
Der Eifer des Buches zu zeigen, daß „alles schon dagewesen ist“, hat: 
aber außerdem die bedenkliche Folge, dab ınan von Karl selbst. und: 
seinem Hofe gerade in den geistesgeschichtlich entscheidenden Ab- 
schnitten, denen über das Bildungswesen und die Kunst, so gut wie: 
nichts zu hören bekommt. Der Leser erhält nur zahlreiche und gewiß. 
überzeugende Beweise dafür, daß die Bildung und Kunst der Merovin- 
gerzeit keine Verdammung in Bausch und Bogen verdienten: in der Zu- 
sammenstellung dieser Zeugnisse liegt der Wert der Arbeit. Ist aber 
damit wirklich etwas über die Eigenart der Kultur entschieden, die- 
vom Hofe Karls ausging? Sie war doch mehr als Können und Wissen; 
sie war eine Gestaltung des geselligen Lebens und der Versuch, den 
Franken und ihrem Königtum den Glanz eines geistigen Adels zu. 
geben; ein eigentümlicher Kulturbegriff war ohne Zweifel in ihr- 
rege. Er klingt in dem (nach Meinung des Verfassers „bedenklich oft. 
zitierten“, aber darum doch nicht aus der Welt zu schaffenden) Hof- 
poeten-Wort von der erneuerten „aurea Roma“ wieder, andrerseits in: 
den Proklamationen Karls und der ihm Nahestehenden, in denen die 
christliche Erziehungsaufgabe des Königtums ausgesprochen wurde, 
endlich in dem Eifer, altdeutsches Kulturgut zu sammeln. . Dieses Be- 
wußtsein einer mannigfaltigen Bildungsaufgabe ist die geschicht- 
liche Erscheinung, die letztlich das Schlagwort von der „Karolingischen; 
Renaissance“ motiviert hat; es gilt, dieses Bewußtsein zu analy- 
sieren, und zu prüfen, wie weit es schon vorbereitet war. Man möchte: 
der Arbeit etwas von dem kulturpsychologischen Eifer wünschen, vom 
dem die vorher erwähnten Autoren ein wenig zu viel haben. — 
Dopsch selbst hat es auf sich genommen, die Kulturentwick- 
lung Deutschlands in der Frühzeit und im Mittelalter in einer knappen 
streng sachlichen und dabei volkstümlich einfachen Darstellung zu- 
sammenzuziehen.'') Ein Hausbuch von der Hand eines führenden For- 


8 DI Dopsch, A., Die deutsche Kulturwelt des Mittelalters. Wien.. 
Osterr. Schulbücherverlag. 108 S. 


12 


schers — das ist nicht nur für die Laien, sondern auch für die wissen- 
schaftliche Welt ein seltenes, dankbar zu begrüßendes Geschenk. Der 
Forscher hat sein wissenschaftliches -Hauptanliegen nicht verieugnen 
können und in den Abschnitten des Buches, die die älteste Zeit be- 
"handeln, wohl ein wenig zu sehr auf die wissenschaftlich gebildeten 
Leser Rücksicht genommen. Immer wieder klingt auch hier die Aus- 
einandersetzung mit der Vorstellung von den „Barbaren“ und von der 
.„Cäsur“ hinein; immer wieder legt die Darstellung den Hauptton dar 
auf, wie es nicht gewesen sei. Und darunter muß dann doch die An- 
schaulichkeit leiden. Ohne negative Urteile können wir nicht arbeiten; 
aber im Aufbau des historisch Individuellen sind sie die Schatten, nicht 
der Körper — und es ist nicht gut, wenn sie den Körper in ihr Dunkel 
‚ziehen, statt. seine Linien zu verschärfen. 


A. Kapitel 1. 


Hilfswissenschaften. 
1. Urkundenlehre. 


(Stimming.) 

Allgemeines. Auf dem Gebiete der Urkundenlehre herrschte im 
Berichtsiahre eine rege Produktivität, die zeigt, daß neben der heute 
im Vordergrunde stehenden geistesgeschichtlichen Forschung auch die 
Quellenkritik nicht vernachlässigt wird. Über die älteste Tradition in 
den geschichtlichen Hilfswissenschaften verfügt die Pariser Ecole des 
Chartes. Diese Anstalt veröffentlichte im Jahre 1921 zum 100iährigen 
Jubiläum ihres Bestehens eine Festschrift, auf die hier nachträglich 
hingewiesen sei.!) Die lange Liste der Mitglieder und der Veröffent- 
lichungen legt von den rühmlichen Leistungen des Instituts ein be- 
redtes Zeugnis ab. Für das Verständnis des abendländischen Urkunden- 
wesens bieten die oströmischen Urkunden eine wichtige Hilfe. Es ist 
daher mit Freuden zu begrüßen, daß die beiden Akademien in Wien 
und in München es unternommen haben, die griechischen Urkunden 
des Mittelalters zu sammeln. Als erste Veröffentlichung erschienen die 
von Dölgen?) bearbeiteten Regesten der Kaiserurkunden des ost- 
römischen Reiches von 505—1025; ihnen sollen vier weitere Hefte als 
Fortsetzung und eine zusammenhängende Darstellung der byzantini- 
‚schen Kanzlei folgen. Das oströmische Urkundenwesen ist nicht nur 
deshalb so wichtig, weil es die Traditionen der Antike am reinsten 
gewahrt hat, sondern auch dadurch, daß es im Laufe seiner Entwick- 
lung mehrfach Einfluß auf das Urkundenwesen des Abendlandes ausge- 


1) Ecole Nationale des Chartes. Livre du Centenaire (1821—1921). 
2 Bde. Paris 1921. | 

2) Corpus der griechischen Urkunden des Mittelalters und der neueren 
Zeit.. 1. Abt. Regesten der Kaiserurk. d. oström. Reiches. Bearb. von F. 
Dölgen. 1 Tl. Regesten von 505—1025. München, Oldenbourg. XXX, 106 S. 


13 


übt hat.?) Zur Frage der byzantinischen Einwirkungen liefert B r a n d it) 
einen höchst wertvollen Beitrag. Er untersucht mit vorbildlicher 
methodischer Zuverlässigkeit und kritischem Scharfsinn die in dem 
Ravennater Liber diurnus benutzten und überlieferten Urkunden und 
gewinnt so festen Boden für die Darstellung und Beleuchtung der Be- 
ziehungen zwischen Byzanz, Ravenna und Rom bis in die Zeiten Papst 
Clemens’ III. Dabei fallen neue Lichter auf die Emanzipationsbestre- 
bungen Ravennas vom päpstlichen Primat und auf den noch unge- 
klärten Ursprung des Palliumrechts. Aus der christlichen Antike 
stammen die sogenannten Litterae formatae, das sind Briefe, die durch 
Geheimzeichen beglaubigt wurden, um die Empfänger gegen Betrug 
zu schützen. Sie sind, wie Clara Fabricius®) in ihrer sorgfältigen 
Arbeit dartut, seit dem Ende des vierten Jahrhunderts nachweisbar 
und verdanken ihren Ursprung wahrscheinlich der kirchlichen Gesetz- 
gebung des nikänischen Konzils von 325. Die ältesten Nachrichten 
entnimmt die Verfasserin der sogenannten Regula formatarım vom 
Ende des 5. Jahrhunderts, deren Angaben als zuverlässig gelten dürfen. 
Im Laufe der Zeit wurden die Geheimzeichen durch das Siegel ver- 
drängt; sie kommen zum letzten Male zu Beginn des 10. Jahrhunderts 
vor. Noch weiter in das Altertum zurück führen die Untersuchungen 
des verstorbenen Altmeisters der griechischen Paläographie, Gardt- 
hausen's,) über das Monogramm. Das Monogramm, eine Fort- 
bildung der Ligatur, besteht aus der Vereinigung mehrerer zu einem 
einheitlichen Zeichen verbundener Buchstaben zur Ersparung von Zeit 
und Mühe; es kommt schon im 5. vorchristlichen Jahrhundert auf 
Münzen vor. Das Mittelalter hat das Monogramm von der Antike 
übernommen und es im Urkundenwesen besonders reich und mannig- 
faltig ausgebildet: als Chrismon, als Unterschriftsmonogramm, als 
Benevalete u. s. w. Der Hauptakzent der gelehrten Untersuchung 
Gardthausens liegt auf dem Altertum; die mittelalterlichen Ausläufer 
des Monogramms werden nur in großen Zügen behandelt.) 


 Kaiserurkunden. Die italienischen Diplomatiker beginnen nach 
deutschem Vorbilde die Urkunden ihrer einheimischen Könige kritisch 
zu sichten. So beschäftigt sich Schiaparelli?) mit den Diplomen 


3) Brandeleoni, Fr., Le clausole penali nei documenti bizantini 
dell Italia meridionale. Studi bizantini. 2. Ser. 5, 13—27. 


| a) Brandi, K., Ravenna u. Rom. Neue Beitr. z. Kenntnis d. röm.- 
byzantin. Urkde. Archiv f. Urk.-Forschg. 9, 1—38. 


5 Baumgarten, P. M., Beiträge zur Gesch. d. Pallium. Miscellanea 
Fr. Ehrle 2, 3388—47. l 


6) Fabricius, Cl., Die .Literae formatae im Frühmittelalter. Archiv 
f. Urkundenforschg. 9, 39—86 und 168—88. 


7) Gardthausen, V., Das alte Monogramm. Leipzig, Hiersemann 
XI, 188 S. 


8) Schmitz, H., Datierung und Beglaubigung in mittelalterl. Urk. bis 
zum Interregnum. (Auszug). Münster Diss. 1923. 


°) Schiapareli, L., I diplomi di Ugo, e di Lotairo, di Berengario II. 
e di Adalberto. Roma 1924. 


14 


der Herrscher von Hugo bis Adalbert. P. E. Schram m*’) untersucht. 
im Anschluß an seine Heidelberger Dissertation die Briefe Kaiser 
Otto’s II, um durch genaue Datierung der Dokumente festzustellen, 
wann die engen Beziehungen zwischen dem Kaiser und Gerbert an- 
geknüpft wurden. Die Annäherung begann, wie dargetan wird, im 
März. des Jahres 997.) 22) Reinöhl!?) weist gegen Mühlbacher 
das Privileg Ludwigs III. für das Kloster Drübeck am Harz (877 
"Jan. 26) als Fälschung nach; auch die Urkunde Lothars für dasselbe 
Kloster von 1130 Nov. 3 muß aus der Reihe der echten Diplome ge- 
strichen werden. Die Untersuchung Reinöhls’) über die Siegel 
des Supplinburgers, eine Vorarbeit für die Diplomata der Monumenta 
Germaniae, bestätigt im wesentlichen die Forschungen Posses. Neues 
Quellenmaterial zur Geschichte der Oberlausitz bringt Jecht) durch 
die Veröffentlichung von fünf bisher ungedruckten UrkundenKarls IV.von 
1348—77 zumeist nach Originalen aus Bautzen. Dem in München auf- 
bewahrten Register der Reichskanzlei aus den Jahren 1322—27 widmet 
Erben“) eine eindringliche Untersuchung, deren Ergebnisse sowohl 
der Registerforschung wie auch der Geschichte Ludwigs des Bayern 
zugute kommen. Der Verfasser dieses ältesten erhaltenen Reichs- 
registers war Berthold von Tuttlingen, der sich auch mit einer in Brief- 
form gegossenen Streitschrift an dem großen Kampfe zwischen Kaiser- 
tum und Papsttum beteiligte. 


Papsturkunden. Einen neuen Beitrag zur Aufklärung der kon- 
stantinischen Schenkung; die nach der herrschenden Meinung zwischen 
750 und 780 von einem römischen Kleriker gefälscht wurde, liefert 
Levison.”) In seiner soliden und zuverlässigen Art legt er über- 
zeugend dar, daß die lateinische Fassung älter sei als die griechische, 
und beschäftigt sich-sodann ausführlich mit dem Ursprung und der Ent- 
wicklung der Sylvesterlegende, die in ihren verschiedenen Fassungen 
sowohl von dem Verfasser der konstantinischen Schenkung wie auch 
im Liber pontificalis benutzt wurde. Eine dankenswerte Untersuchung 
über die Eigenhändigkeit der Papst- und Kardinalsunterschriften in den 
feierlichen Privilegien des 11.—14. Jahrhunderts haben Katterbach 


10) Schramm, P. E., Die Briefe Kaiser Ottos III. u. Gerberts von 
Reims aus d. J. 997. Archiv f. Urkund.-Forschg. 9, 87—122. 


1) Manaresi, C, L'originale del diploma 231 di Ottone II. [für Rez- 
gio]. Milano 1923. 


12) Borghezio, G., originale del diploma di Enrico IV. per l'abbazia 
di Fruttuaria 23. Sept. 1069. Bolletino storico bibliografico subalpino 25, 201-10. 


13) Reinöhl, F. v., Die gefälschten Königsurkunden des Klosters 
Drübeck. Archiv f. Urkundenforschg. 9, 123—40. 


14) Reinöhl, F. v., Die Siegel Lothars III. Neues Archiv 45, 270--84. 


15) Jecht, R., Nachträge zu den Oberlausitzer Urkunden Karls IV. 
Neues Lausitzisches Magazin 100, 135—140. 


16) Erben, W., Berthold von Tuttlingen, Regisirätör u. Notar in der 
Kanzlei Kaiser Ludwigs des Bayern, nach seinen Werken dargestellt. Wiener 
Ak. d. Wiss. Phil.-hist.-Kl. Denkschr. I. 66. Wien, Holder. 177 S. 


17) Levison, W., Die konstantinische Schenkung und die Sylvester- 
legende. Miscellanea Fr. Ehrle 2, 159—247. 


15 


und Peitz’) zu der Festschrift für Franz Ehrle beigesteuert. Wäh- 
rend bei den Päpsten — so lautet das zusammenfassende Urteil — der 
persönliche Anteil immer geringer wurde, lief die Entwicklung bei den 
 Kardinälen auf die volle Unterschrift hinaus. K atte rb a c ht’) *’) 
publiziert außerdem zwei ungedruckte päpstliche Schutzurkunden für 
S. Giorgio in Braida nach Originalen des vatikanischen Archivs und 
eine Anzahl päpstlicher Suppliken frühen Datums, die noch nicht die 
feste Form: der späteren Bitturkunden tragen. Die Frage nach dem’ 
Anreger des zweiten Kreuzzuges hängt von der Datierung der ohne 
Jahr überlieferten Bulle Eugens III. vom 1. Dezember ab. Indem 
Caspar?) nachweist, daß diese aus dem Jahre 1145 stammt, ergibt 
sich, daß dem Papst und nicht dem französischen König das Verdienst 
gebührt, die erste Anregung gegeben zu haben. Die von Honsel- 
mann?) nach einer Kopie aus Höxter gedruckte Urkunde Papst 
Lucius’ II. von 1145 bringt die ältesten Nachrichten über die Abtskapitel 
der Benediktiner in Deutschland und ist daher von nicht geringem 
Werte. Baumgarten?) behandelt in einer zwanglosen Folge von 
Einzelstudien Fragen der päpstlichen Kanzlei und des päpstlichen Ur- 
kundenwesens in den Jahren 1227—41. Hecker”) schildert, wie in 
der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts an der Kurie ständige Partei- 
vertreter, die Prokuratoren, entstanden, obwohl die Päpste sich an- 
fangs nachdrücklich gegen dieselben gewehrt hatten. Da aber die ge- 
schäftskundigen Prokuratoren der päpstlichen Kanzlei ihre Arbeit sehr 
erleichterten, und da sie auch den Petenten unentbehrlich waren, so 
‚setzten sie sich allmählich durch. Über zwei nach Amerika ver- 
schlagene päpstliche Formelbücher vom Ende des 13. Jahrhunderts be- 
richtet H a s k i n s.%) 29 


Privaturkunden. Die Arbeit Kir n's”) zeigt erneut, daß sich 


18) Katterbach, B., u, Peitz, W. M., Die Unterschriften d. Päpste 
u. u in den bullae maiores vom 11.—14. Jahrh. Miscellanea Fr. Ehrle 
4, 177—274. 
| 1) Katterbach, Br. Zwei unedierte Papsturkunden des 12. Jahrh. 
Rom, Quartalschr. 32, 170—173. 

2) Katterbach, B., Päpstliche Suppliken mit der Klausel der sola 
‚sıgenatura..e Rom. Quartalschr. 31, 185—96. 

2) Caspar, E., Die Kreuzzugsbullen Eugens III. Mit Anhang von P. 
Rassow. Neues Archiv 45, 285—305. 

22) Honselmann, Kl, Eine bisher ungedruckte Urkunde des Papstes 
Lucius II. und die Anfänge der Provinzialkapitel der Benediktiner in Deutsch- 
land. Zeitschrift für vaterländische Geschichte (Westfalens) 82, 62—78. 

23) Baumgarten, P. M., Miscellanea diplomatica. Röm. Quartal- 
‘schrift 32, 37—81. 

2) Heckel, R. v., Das Aufkommen d. ständigen Prokuratoren an der 
päpstlichen Kurie im 13. Jahrh. Miscellanea Fr. Ehrle 2, 290—321. 

2) Haskins, Ch. H., Two Roman formularies in Philadelphia. Miscel- 
lanea Fr. Ehrle 4, 275 ff. 

2) Mollat, G., Jean XXII Lettres communes analysees d'aprés les 
registres. Bibl. des écoles francaises d’Athenes et de Rome IX fasc. 19. 160 S. 


27) Kirn, P., Die Nebenregierung des Domkapitels im Kurfürstentum 
Mainz u. ihr Ausdruck im Urkundenwesen des 15. Jahrh. Archiv f. Urkunden- 
forschung 9, 141—53. 


d6 


durch. Verbindung diplomatischer und veriassungsgeschichtlicher For- 


schung wertvolle Ergebnisse erzielen lassen. Kirn untersucht auf dem 
Gebiete des Urkundenwesens der Erzbischöfe von Mainz im späteren 
Mittelalter die Frage, ob die Nebenregierung des Domkapitels tatsäch- 
lich in der Form, wie sie durch die Wahlkapitulationen festgelegt wurde, 
bestanden habe, und stellt fest, daß die Domherren wirklich das Be- 
urkundungsgeschäft vom Anfang bis zum Ende in der erzbischöflichen 
Kanzlei überwacht und kontrolliert haben 29) Nachdem Zschaeck’) 
durch seine Untersuchung des Urkundenwesens der Grafen von Arnsberg 
eine feste Grundlage geschaffen hatte, war es ihm leicht, die unechten 
Urkunden der Grafen festzustellen. Das hat er in einem neuen Auf- 
satze getan, in dem vor allem die verdächtige Urkunde von 1207 mit 
Sicherheit als Fälschung nachgewiesen wird 3) 32) 3°) *) 


2) Müller, K. O, Das Kanzleiregister des Domkapitels zu Sitten 
Tı282—1327]. Zeitschr. d. Savignystiftung f. Rechtsgesch. Kan. Abt. 44, 532-33. 
i 2) Zechaeck F. Fälschungen im Urkundenwesen d. Grafen von 
Arnsberg. Zeitschr. f. vaterl. Gesch. u. Alt. kde (Westfalens) 82, 79—105. 

Schaus, E. Eine Schottsche Fälschung zur Geschichte des Nahe- 
waus. Neues Archiv 45, 363—67. 

3) Grotefend, O., Die Siegel der Bischöfe von Kammin und ihres 
Diomikapitels. Baltische Studien 26, 191—234. 

82) Knötel, P., Schlesische Städtebildnisse auf Siegeln. (Zeitschr. d. 
Ver. t. Schles. Gesch. 57. 10613). 

3) Drei, G., Le carte degli archivi Parmensi dei secoli X-—XI. Archi- 
vio storico per le provincie Parmensi 22 (1922), 535—612. 

3) Rolland, C. G., Recueil des chartes de l‘abbaye de Gembloux. 
J. Duculot, Gembloux 1921 XIV, 384 S. 


2. Paläographie. 
(Stimming.) 


Allgemeines. Boüard'!) veröffentlicht seine Einführungsvor- 
lesung über Begriff, Geschichte und Aufgaben der lateinischen Paläo- 
graphie an der Ecole des chartes. In den letzten Jahren ist eine statt- 
liche Anzahl von Schrifttafelwerken erschienen, die ein reiches An- 
schauungsmaterial aus den verschiedensten europäischen Ländern 
liefern. Von den deutschen Schrifttafeln Petzet's und Glauning’s) 
enthält das neue vierte Heft Proben von Münchener Handschriften des 
LA und 14. Jahrhunderts in modernen Reproduktionen mit zuver- 
lässigen Erläuterungen. Zu bedauern ist nur der unverhältnis- 
mässig hohe Kaufpreis. Das mit zahlreichen Tafeln und Textabbil- 
dungen geschmückte Werk Hermann's’) zeugt von dem Reichtum 
der Wiener Nationalbibliothek an Prachthandschriften vornehmlich aus 


1) Boüard, A. de, Leçon d'ouverture du cours de paleographie à 
l'Ecole des Chartes (3. Nov. 1923). Bibl. de l’Ecole des Chartes 85, 129--47. 

2) Petzet, E. u. Glauning, O., Deutsche Schriittafeln des 9. bis 
Ip Jahrh. aus Handschriften d Bayr. Staatsbibliothek. Abt. 4. Leipzix, Hierse- 
mann. (Taf. 46—55) 2°. 

3) Hermann, H. J., Die frühmittelalterl. Handschr d Abendlandes I. 
= Beschreibendes Verzeichnis der illuminierten Handschriften in Österreich. 
Bd 8. Leipzig, Hiersemann 1925. XW, 240 S. 


er CH 


-der Karolingerzeit. Die New PalaeographicalSociety‘) hat 
im Jahre 1923 ein neues Heft ihrer mustergültigen Schrifttafeln heraus- 
gegeben. In Italien erschien das 1. Heft der Monumenti palaeografici 
degli Abruzzi, bearbeitet von Carusi und Bartholomaeis,) in 
Spanien die Paleographia espanola, herausgegeben von Villada.‘) 
Für die Unentbehrlichkeit des Briquetschen‘) Werkes über die 
Wasserzeichen spricht die Tatsache, daß in verhältnismässig kurzer 
Zeit nach dem Erscheinen des Werkes bereits eine zweite Autlage nöt- 
wendig geworden ist.?) 


Vorkarolingische Schriften und karolingische Minuskel. Zwei 
angelsächsische Forscher knüpfen mit ihren Arbeiten an die Unter- 
suchungen Ludwig Traubes an: T ur n e r°) liefert zu dem baltnbrechen- 
den Werke des Meisters über die Nomina sacraErgänzungen; L o w e!®) 
veröffentlicht, den Spuren Traubes folgend, der ein Verzeichris der 
Handschriften in Kapitale zusammengestellt hatte, eine Liste von 166 
Handschriften in Halbunciale, nach den Auibewahrungsorten in alpha- 
betischer Reihenfolge geordnet. Weinberger’! sucht eine An- 
zahl von Handschriften als Bestandteile der ehemaligen F:ibliothek des 
berühmten Cassiodorklosters Vivarium nachzuweisen.) Die Frage 
nach der Entstehung der karolingischen Minuskel ist durch eine Reihe 
neuer Vorarbeiten und Einzelstudien gefördert worden.) Lindsay") 
untersucht mit bekannter Gründlichkeit die Schrift der aus dem Kloster 
Lorsch stammenden Codices vornehmlich des 9. Jahrhunderts und 
stellt die Besonderheiten des Lorscher Duktus zusammen. Zahlreiche 
Schriftproben in Fascimile sind der Arbeit beigege en Den ältesten 
Handschriften aus Lyon ist die Abhandlung Low e’s'’) gewidmet. 
- Während die Arbeiten Lindsays und Lowes selbständige Monographien 


?) The New Palaeographical Society. Facsim. of ancient manuscripts 
l. Series. Vol. IH. London 1923. 

5) Carusi, C. et Barthoiomaeis, V. de, Monumenti palaeo«ra- 
fici degli Abruzzi. Tom. 1. Rom, P. Sansaini. 

6) Villada, Z. G., Paleographia espanola, precedita de una intro- 
duccion sobre la paleographia latina. Tom 1: Texte. Tom. 2. Album mit 
67 Taf. Madrid 1923. 

1) Briquet, C. M., Les filigranes. Dictionaire historique des marques 
du papier [1282—1600]. 2. Aufl. 

») Carusi, C., Cenni storici sult abbazia di Farfa e sul monasterio 
Sublacensi (Subiaco). Palaeographia Latina 3, 52—62. 

Turner, C. H., The nomina sacra in early latin christian MSS. 
Miscellanea Fr. Ehrle 4, 62—74. 

10) Lowe, E. A., A hand-list of half uncial manuscripts. Miscellanea 
Fr. Ehrle 4, 34—61. | 

1) Weinberger, W., Handschriften von Vivarium. Miscellanea Fr. 
Ehrle 4, 62—74. 

II Schiaparelli, L., Note paleografiche. Sulla data et provenienza 
di cod. 89 della bibl. capitolare di Verona. Archivio storico Italiano. 82, 106-17. 

13) Löffler, Aus der Wiegenzeit der karol. Minuskel. Zeitschrift für 


1) Lindsay, W. M., The Early Lorsch Scriptorium. Palaeographia 
Latina 3, 1-49, | 

15) Lowe, E A., Codices Lugdunenses antiquissimi. Lyon. 52 S. w 
37 Tafeln. (Documents paléogr. etc. de la bibl. de Lyon H 3/4). 


18 


BE e Beer wegen wee Be gi Bref: weree eem EE Ee e mp rm e em — 


- über einzelne Schreibzentren darstellen, wollen Steinacker und 
Schiaparelli Beiträge zur Vorgeschichte der karolingischen Minuskel 
geben. Schiaparelli‘‘)'”) veröffentlicht in 83 Lichtdrucktafeln den 
berühmten Codex 490 der Bibliothek zu Lucca, der die „Chronica 
Isidori“ und eine Schrift Augustins enthält, und schickt dem Bilderteil 
eine ausführliche Beschreibung und paläographische Untersuchung der 
Handschrift voraus, die auch separat in den Studi e testi erschienen ist. 
Der Codex ist ein wahres paläographisches Unicum. Er ist um die 
Wende des 8. Jahrhunderts von gegen 40 verschiedenen Schreibern 
geschrieben und zwar m allen damals bekannten Schriftarten: von der 
Kapitale bis zur karolingischen Minuskel. Wir haben also die ganze 
Entwicklungsreihe der Schrift vor uns. Gegen die alte Sickel’sche These 
vom römischen Ursprung der karolingischen Minuskel, die im Jahre 
1917 in. dem Italiener Gaudenzi einen neuen Verteidiger gefunden hatte, 
wendet sich Steinacker.') Er weist mit einleuchtenden Gründen 
nach, daß die bekannte Minuskelhandschriit des Liber diurnus nicht, 
wie Sickel und neuerdings Peitz annehmen, zwischen 772 und 795, 
sondern zwischen 795 und 814 entstanden sei, zu einer Zeit, als an ver- 
schiedenen Stellen des Frankenreiches bereits cine vollausgebildete 
karolingische Minuskel geschrieben wurde. Die neue Schrift kann also 
unmöglich von Rom ins Frankenland getragen sein. Steinacker nimmt 
ebenso wie Schiaparelli an, daß die karolingische Minuskel aus dem Be- 
dürfnis nach einer verdeutlichten, Bücherschrift heraus an verschie- 
denen Orten unabhängig. von einander entstanden sei. Rand" 
beschreibt eine nach Amerika verschlagene Evangelienhandschrift der 
Karolingerzeit.?°) 


Späteres Mittelalter. Uhlhorn”) liefert einen wertvollen -. 


Beitrag zur Geschichte der gotischen Schrift. Er untersucht auf einem 
örtlich begrenzten Gebiet die bisher recht stiefmütterlich behandelten 
Großbuchstaben, die in besonders eindrucksvoller Weise die Zusam- 
menhänge von Schrift und Kunststil und die Tendenzen der Schriftent- 
wicklung erkennen lassen.” Die Großbuchstaben sind zumeist den 
Maiuskelalphabeten entnommen. Daneben spielen die Großbuch- 
staben mit Verdoppelungsstrichen, die vereinzelt seit dem 7. EE 
vorkommen, eine besondere Rolle 291 


16) Codice 490 della bibliotheca capitolare di Lucca. 83 pagine per 
servire a studi paleografici, scelte da L. Schiaparelli. Rome 1924. 

7 Schiaparelli, L., Il codice 490 della Bibl. Capitolare di Lucca 
et la scuola scrittoria Lucchese (sec. VII/IX). Contributi allo studio della 
minoscula precarolina in Italia. Rome, Bibl. Vat. 116 S. u. 8 Taf. [= Studi 
e testi 36]. 

18) Steinacker, H., Zum liber diurnus und zur Frage nach dem Uer- 
sprung der Frühminuskel. Miscellanea Fr. Ehrle A 105—176. 

19) Rand, E. K., A carolingien Gospel-Book in the Pierpont Morgan 
library, in New-York. Miscellanea Fr. Ehrle 4, 89—104. 

2) Nélis, H., De linfluence de la minuscule romaine sur écriture aux 
12. ef 13. siècles en Belgique. Bulletin de l'institut hist. Belge de Rome 3, 5-30. 

2) Uhlhorn, F., Die Großbuchstaben der sogen. gotischen Schrift. 
Zeitschrift f. Buchkunde. Jahrg. 1. S. 17—30, 64—74. 

2) Burger, C. P., Het hieroglyphenschrift van de renaissanse. Het 
Boek 13, 273—300. 


E dy 


3. Genealogie, Heraldik. und Sphragistik. 
(v. Klocke ) | 


Das Jahr 1924 hat manches Neue auf familiengeschichtlichem 
Arbeitszebiete gebracht. Die Entwicklung stellt sich jedoch mehr als 
Ausbau der Liebhaberinteressen-Organisationen denn als Ausge- 
staltung des wissenschaftlich-genealogischen Vorstellungsgebietes dar. 
Neben die „Familiengeschichtlichen Blätter“, die freilich auch wissen- 
schaftliche Höhe weniger wahren als man erwarten sollte,!) ist eine 
neue Zeitschrift von jedenfalls bemerkenswertem Programm ge- 
treten, die „Zeitschrift für kulturgeschichtliche und biologische Fa- 
-milienkunde‘“”), die freilich der Emporführung zur Höhe auch noch 
bedarf und im übrigen bei ihrer Zielsetzung auffälligerweise das 
Stichwort soziologisch vermissen läßt. Es scheint überhaupt, wie 
schon im vorigen Jahresbericht (S. 18) angedeutet wurde, schwierig 
zu sein, daß in den Fachliebhaberkreisen eine tiefere Vorstellung 
von der Genealogie sich durchsetzt. So lehnt zwar der Vorsitzende 
der „Zentralstelle für deutsche Personen- und Familiengeschichte“, 
der Rechtsanwalt Breymann die Genealogie als nur „historische 
Hilfswissenschaft“ ab und möchte sie vielmehr „als vollständiges 
Wissensgebiet, das seinerseits wieder vielfältige Ausstrahlungen auf 
verwandte Wissenschaften aufweist, als ein abgerundeter Wissens- 
kreis, der sich mit anderen Wissenschaften schneidet“, verstehen, de- 
finiert sie dann aber doch viel zu eng als „die Wissenschaft der 
Verwandtschaftszusammenhänge der Menschheit“). Diese Definition 
Breymanns ist zu eng, weil sie dem wahren Objekte der Genealogie 
nicht gerecht wird. Das wirkliche Objekt der Genealogie stellt ja 
nicht nur die verwandtschaftliche Verknüpfung der Menschen dar, 
sondern vielmehr das soziale Gebilde, das sich aus Menschenreihen 
als Gesamtheiten oder als Teilen von Geschlechtern ergibt. Wes- 
wegen denn auch die Eigenschaft der Genealogie als Sozialwissen- 
schaft — und zunächst nichts anderes! —- nie laut genug betont 
werden kann. 


Eine Neuerung des Jahres 1924, die sich aber mit ihren Einzel- 
teilen wohl noch in manches folgende Jahr hinein erstrecken wird, ist 
das von einem Vorstandsmitgliede der Zentralstelle für Familienge- 
schichte, dem Verlagsbuchhändler Spohr herausgegebene „Prakti- 
kum für Familienforscher“. In den dünnen Einzelheften dieses 
„Praktikums“ wird die Genealogie nach ihren Einzelseiten, doch ohne 


1) In den Familiengeschichtlichen Blättern 1924 Sp. 105f. ist allen 
Ernstes ein Spitzenaufsatz abgedruckt, der die Lehre von der Seelenwande- 
rung für die „wissenschaftliche Genealogie“ zur Erörterung stellt. 

?) Zeitschrift für kulturgeschichtliche und biologische Familienkunde. 
Herausgeber: W. Hornschuch. Jhrg. IL Nürnberg, Spindler, 293 S. 

3) Breymann, H.: Zwanzig Jahre Zentralstelle für deutsche Per- 
sonen- und Familiengeschichte. Familiengeschichtl. DU 22, 1—6. 


20 


ein befriedigendes straffes Programm, für sogenannte „Anfänger“ und 
„Fortgeschrittene“ unter den „Forschern“ vorgetragen, wobei in 
manchen Teilen die erstrebte Gemeinverständlichkeit freilich als un- 
zulängliche Plattheit, Gedankenarmut und Unkenntnis sich darstellt 
(von dem in jedem Falle anmaßlichen Gebahren, die Liebhaber- 
interessenten schlankweg als Forscher, d. h. als wissenschaftlich 
tätige Leute auszugeben, ganz zu schweigen). Die im Jahre 1924 
erschienenen Hefte des Praktikums hat der Herausgeber und Ver- 
leger Spohr in der Hauptsache selbst verfaßt. Das erste‘) möchte 
eine familiengeschichtliche Arbeitsanweisung sein, gibt aber doch nur 
aus Laienvorstellungen in Laienmethode Laienratschläge; die Ver- 
breitung, die das Heft inzwischen unter den Liebhaberinteressenten 
der Familienkunde gefunden hat, beweist nur, daß diese Masse etwas 
anderes als Wissenschaftlichkeit will). Spohrs zweites Heft, über 
Verwandtschafts- und Sippschaftstafeln®), kündigt zwar schon auf dem 
Umschlag und dem Titelblatt eine „eingehende Behandlung der bis- 
herigen Formen und einer neuen, praktischen und übersichtlichen Dar- 
stellung in Tafel- und Listenform, mit dreifarbiger Tafel und drei- 
farbigen Tabellen“ an, zeigt mit seinem Inhalt aber nur, daß Spohr 
die „bisherigen Formen“ dieser genealogischen Vorstellungsart nicht 
tiefer verstanden hat und daß es Spohr selbst trotz Dreifarbigkeit nicht 
gegeben ist, das Problem dieser genealogischen Gebilde zu lösen. 
Spohrs drittes Heft bedeutet nicht viel mehr als einen verbrämten 
Katalog über die beim Verlag Spohr käuflichen Formulare’). Der 
Gewinn dieser Hefte des inzwischen mit lebhafter Reklame ver- 
breiteten „Praktikums“ ist also höchst fragwürdig. 


Die Genealogie in ihrem gegenwärtigen Zustand krankt über- ` 


haupt an einem Grundübel, nämlich dem, daß zwar vielfältig in 
schönen Reden hohe Ziele vorgetragen werden, daß aber um die 
ernsthafte Herausbildung klarer, wissenschaftlicher Begriffe und Sy- 
steme kaum jemand sich kümmert. Während sonst in der Wissen- 
schaft die völlige Beherrschung von Begriffen und Systemen selbst- 
verständliche Vorbedingung für gedeihliche Arbeit im Fache ist, glaubt 
man in der Genealogie vielfach ohne solche Vorbedingung auskommen 
zu können. Daran ist auch ein Versuch des Gießener: Psychiaters 
R. Sommer gescheitert, dessen „Familienforschung und Vererbungs- 
lehre“ im vorigen Bande dieser Jahresberichte S. 17 f. besprochen 
wurde. Was Sommer als Beitrag zur genealogischen Zeichenlehre 


a) Spohr, O.: Wie beginnt man familiengeschichtliche Forschungen? 
Praktikum für Familienforscher, Heft 1. Leipzig, Degener u. Co. (Spohr), 16 S. 
5) Um so befremdender ist die lobende Besprechung von P. v. Geb- 
hard in den Familiengeschichtl. BII. 22, 99. 
6) Spohr, O.: Verwandtschafts- und Sippschaftstafeln. Praktikum für 
Familienforscher, Heft 2. Leipzig, Degener u. Co. (Spohr), 19 S. 
7) Spohr, O.: Liniaturen und Formulare zur Familienkartei. Mit 10 


Tafeln. Praktikum für Familieniorscher, Heft T, Leipzig, Degener u. Co. 
(Spohr), 12 S 


21 


entwickelt®), ist in Wirklichkeit ein Beitrag zur genealogischen Be- 
zifferungsweise, d. h. etwas ganz anderes, aber auch so in keiner 
Weise haltbar, da S. bei seinen Ausführungen die völlige Verschieden- 
heit des Aufbaus einer Stammtafel einerseits und einer Ahnentafel 
andererseits nicht berücksichtigt hat. Begrüßenswert ist hingegen 
die neue Vorstellung von „Mutterstämmen“, die der durch frühere 
Arbeiten auf familiengeschichtlichem Gebiete wohlbekannte Grazer 
Staatsrechtslehrer Otto Freiherr v. Dungern erstmalig auf- 
zeigt?). Er macht darauf aufmerksam, daß man bei genealogischen 
Arbeiten den Mannesstamm eines Geschlechtes in dessen Stammtaiel 
oder in einem besonderen Auszug aus der Stammtafel, der sog. Stamm- 
reihe, immer schon stark herausgearbeitet hat, daß man dann in der 
. Ahnentafel auch zur Verfolgung der übrigen Abstammungsreihen, die 
durch die verschiedenen Ahnirauen vermittelt werden, gekommen ist, 
daß man aber noch niemals „die reinen Mutterlinien der Menschen“ 


aufgestellt und verglichen hat, d. h. diejenigen Abstammungsreihen aus 


den Gesamtahnenschaften, die nur von Mutter zu Mutter, also in aus- 
schließlich weiblicher Linie führt (es ist also die Ahnenreihe, die bei 
der üblichen Tafeldarstellung ganz rechts oder ganz unten vom Be- 
Schauer verläuft und das genaue Gegenstück zu der ebendort ganz 
links oder ganz oben befindlichen Ahnenreihe des reinen Vater- oder 
Mannesstammes bedeutet). Freiherr v. Dungern verfolgt die Mutter- 
stämme der Regenten und Thronanwärter aus den Familien, die in 
Europa noch souverän sind oder einander trotz ihrer Entfernung von 
der Regierung gegenseitig noch als souverän anerkennen. In Betracht 
kommen dabei 51 Personen aus 25 verschiedenen Geschlechtern; diese 
51 Personen haben also 25 verschiedene Vaterstämme, aber nur 13 
ihrm Ursprung nach verschiedene Mutterstämme. „Es gibt also in 
dieser Masse regierender Familien, obwohl sie doch nach Macht, 
Rang, Alter und Nationalität bunt genug zusammengesetzt ist, weniger 
Mutterstämme als Mannesstämme“ (S. 6). Diese tatsächlich neue Be- 
obachtung- erklärt sich in etwa mit der nahen Verwandtschaft vieler 
jener Fürstlichkeiten untereinander. Darum erweitert v. Dungern 
sein Untersuchungsgebiet in mehrfachen Staffelungen, kommt aber 
. immer zu dem Ergebnis, daß weniger verschiedene Mutterstämme als 
Mannesstämme vorhanden sind; 555 schließlich untersuchte Personen 
des hohen Adels stammten aus 90 verschiedenen Mannesstämmen und 
nur 74 verschiedenen Mutterstämmen. v. Dungerns Ausführungen sind 
in vieler Beziehung lehrreich. 


Über Aufgaben und Beziehungen der Genealogie im allgemeinen 
oder nach diesen oder jenen Einzelseiten hin ist mancherlei ge- 
schrieben. Nur einiges braucht davon an dieser Stelle kurz zitiert zu 
werden, so neben einer recht sachlichen Aufgabe-Betrachtung von 


8) Sommer, R.: Zur geneälogischen Zeichenlehre. Ztschr. f. kultur- 
geschichtl. u. biolog. Familienkunde, Jg. 1, 19—22. 


2) Dungern, O. C.: Mutterstämme. Neue Wege für Vererbungs- u. 
Familienforschung. Graz, Leuschner u. Lubensky, 36 S. 


22 


Butte) etwa die Wertung der Genealogie in bevölkerungspolitischer 
Hinsicht von Elster!) und .in philosophischer ` Hinsicht von 
Zachau”) sowie die Erörterungen über die Beziehungen der Fa- 
miliengeschichte zur Völkerkunde”), zur Stadtgeschichte'*), zur Orts- 
geschichte überhaupt‘), zur Denkmalskunde'®), zum Kunstge- 
werbei" 291. 

An genealogischen Sammelwerken sind zunächst wie üblich 
die Gothaischen Genealogischen Taschenbücher für den Adel er- 
schienen?®). Die Wirtschaftsverhältnisse haben freilich bedauerlicher- 
weise die Kürzung der Gothaer,Reihe um einen Band veranlaßt. Es 
ınußte die Herausgabe von je 2 Bänden Adeliger Häuser (1. Deutscher 
Uradel, 2. Alter Adel und Brietade) für das einzelne Jahr aufge- 
geben werden, und zwar zu einstweilen dauernder Wirkung. Es soll 
von jetzt an nur abwechselnd ein Band Uradel in den „geraden Jahren“ 
und ein Band Alter Adel und Briefadel in den „ungeraden Jahren“ 
erscheinen. So ist schon für 1924 verfahren. Das Freiherrliche, das 
Gräfliche und das Fürstliche Taschenbuch (Hofkalender) kommen hin- 
gegen jährlich heraus. Im Berichtsjahr ist das Gesamtwerk ferner 
zur offiziellen Adelsmatrikel der Deutschen Adelsgenossenschaft ge- 
worden. Die faktische Bedeutung der Gothaer mit ihren mehr als 
7000 Artikeln ist damit erheblich gesteigert. Es kommt jetzt nur alles 
darauf an, daß die Schriftleitung einerseits die berechtigten Forder- 
ungen der Wissenschaft immer umfänglicher verwirklicht, anderer- ` 
seits die oft unberechtigten Wünsche einzelner Familien energisch 
ablehnt. Vom „Genealogischen Handbuch bürgerlicher Familien“, dem 
„Deutschen Geschlechterbuch”, ist im Berichtsjahr nur ein Band her- 


10) Butte, H.: Aufgaben und Wege der familienkundlichen Vereine in 
gegenwärtiger Zeit. Mitt. d. Roland 9, 1—2, 9—10, 17—18. ey 

11) Elster, A.: Bevölkerungspolitische Bedeutung der Familienfor- 
schung. Riehlbundheft 2. Schweidnitz, Kaiser, 16 S. 

12) Zachau, J.: Der philosophische Sinn der Familienkunde. Ztschr. 
f. kulturgesch. u. biolog. Familienkunde, 1, 257—259. 

13) Thilenius, G.: Völkerkunde u. Familienforschung. Ztschr. für 
Niedersächsische Familiengeschichte, 6, 9—14. l | 

14) Lappa, J.: Familiengeschichte und Stadtgeschichte. Ztschr. f. 
vaterl. Gesch. u. Altertumskunde (Westfalens), 82, 165—184. 

15) Hohlfeld, J.: Die Verankerung der Familiengeschichte in der 
Ortsgeschichte. Familiengesch. DI 22, 147—152. 

t6) y, dr Gabelentz-Linsingen, H.: Familiengeschichtsfor- 
schung und Denkmalskunde. Familiengesch. Bil. 22, 42—46. 

= 4) Bonhoft, Fr.: Familiengeschichte und Kunstgewerbe. Ztschr. f. 

Niedersächsische Familiengeschichte, 6, 41—45. 

18) Tille, A.: Die Archive und die Familiengeschichtsforschung. Fa- 
miliengesch. Bill. 22, 137—140, 221—226. 
j 1) Schneidemühl, G.: Die Bedeutung der Handschriftenbeurteilung 
tür Familienforschung. Farngiliengesch. BII. 22, 145—148. 

20) Gothaische Genealogische Taschenbücher: 1. Hofkalender, 161. Jg., 
596 S.; 2. Gräfliches Taschenbuch, 97. Jg., 656 S.; 3. Freiherrliches Taschen- 


buch, 74. Jg., 816 S.; 4. Adeliges Taschenbuch, Abt.: Deutscher Uradel, 25. Jg., 
848 S, Gotha, J. Perthes. 


23 


ausgekommen”). Durch die Runologieheraldik und den Armanismus. 
des Herausgebers Koerner wird das Werk nach wie vor verun- 
ziert. Unter den einzelnen Genealogien des Bandes erscheint am 
beachtlichsten die des Geschlechtes Klamroth, das aus Bauernkreisen 
des Ostharzes teilweise über das Handwerkertum in die Großkauf- 
mannschaft und Industrie aufsteigen konnte?®). In der Reihe der schon 
früher angekündigten „Deutschen Stammtafeln“ (vgl. Jahresberichte 
der Deutschen Geschichte Bd. 4) ist nach verschiedenartigen Schwie- 
riekeiten zunächst ein Beiheft mit „Stammtafeln deutsch-baltischer 
Geschlechter“, bearb. von E. Seuberlich, veröffentlicht”). Der 
Inhalt ist für die Genealogie wie für die Kolonisationsgeschichte des 
P.altikums, vornehmlich für die Herkunftsgeschichte großlivländischen 
Bürgertums wertvoll wenn auch die Bearbeitung stellenweise 
Wünsche läßt. Von den im A Bande dieser Jahresberichte skizzierten 
„Deutschen Ahnentafeln“, geleitet von Wecken, konnte nach langer 
Pause das zweite Heft herausgebracht werden”). Als größter Bei- 
trag darin ist die in einem erweiterten Privatdruck bereits 1922 her- 
ausgekommene Ahnentafel H. von der Gabelentz-Linsingen (vgl. 
Jahresberichte der deutschen Geschichte, Bd. 6, S. 21) zu nennen”). 
als sehr schätzenswert ferner die große Fortsetzung der Ahnentafel 
W. Pfeilsticker”). Als Neuigkeit muß ferner das von Böhme heraus- 
gegebene „Lexikon deutscher Familien“ gebucht werden, das kurze 
Skizzen über Familien und Geschlechter aus allen deutschen Gauen 
bringen will”). Die Bearbeitung und der Wert der einzelnen Bei- 
träge ist einstweilen sehr verschieden. Vom 2. Hefte an erscheint 
das Werk als Beiheft zur Zeitschrift für kulturgeschichtliche und ale 
gische Familienkunde. 


Von größeren beachtlichen Familiengeschichten ist zunächst das. 
gründliche Werk von Aeschbacher über das schweizerische 
Grafengeschlecht von Nidau zu nennen" Es handelt sich um ein 
nordwestlich von Bern am Bielersee angesessenes Dynastenge- 
schlecht, das aus dem Pause der Grafen von Neuenburg hervorge-. 
gangen war. Als Ahnherr wird der noch dem 11. Jahrhundert ange- 


21) Deutsches Geschlechterbuch, hrsg. von B. Koerner; Bd. 45, All- 
gemeiner Band. Görlitz, Starke, 755 S. 
22) Ebenda S. 191—315. | 

3) Deutsche Stammtafeln in Listenform, hrsg. von der Zentralstelle für 
Deutsche Personen- und Familiengeschichte. Beiheft I: E. Seuberlich, 
Stammtafeln Deutschbaltischer Geschlechter, I. Reihe. Leipzig, Zentralstelle, 
184, Sp. 4° mit vielen Bildertafeln. _ 

24) Deutsche Ahnentafeln in Listenform, hrsg. durch die Zentralstelle für 
Deutsche Personen- u. Familiengeschichte von Fr. Wecken. Bd. I, Heft 2. 
Leipzig, Zentralstelle, Sp. 161—368. 

25) Ebenda, Sp. 161—262. 

2) Ebenda, Sp. 297—320. . 

?7) Lexikon deutscher Familien, hrsg. von P. W. Böhme. Jahrg. L 
Chemnitz, Selbstverlag, 31 S. 

>) Aeschbacher, P.: Die Grafen von Nidau und ihre Erben. 
Biel, Heimatbund-Kommission Sceland. XIV, 318 S. mit 45 Kunstblättern 
und 3 Stammtafeln. 


24 


hörige Ulrich von Fenis von der Burg Fenis oder Hasenburg im 
heutigen bernischen Seeland angesehen, dessen Familie in der An- 
hängerschaft Kaiser Heinrich IV. hervortritt und dessen Nachkommen 
später die Häuser (Welsch-) Neuburg (Neuchatel), Nidau, Straßberg 
und Aarberg- Valanzin ausmochte. Wohl von Graf Ulrich Ill. von 
Neuenburg wurde gegen Ende des 12. Jahrhunderts die Burg Nidau 
erbaut; und von seinem Sohne Rudolf ward die Linie Nidau begründet, 
die durch 4 Generationen bis in das Ende des 14. Jahrhunderts be- 
standen und als Inhaber der Landgrafischaft Aarburgund unter den 
Dynasten der Westschweiz bedeutende Stellung besessen hat. Ihr 
letzter Sohn Rudolf IV. fiel 1375 im Abwehrkampfe gegen Landes- 
feinde; von seinen Erben kam die Herrschaft Nidau um 1400 an die 
Stadt Bern. Aeschbacher schildert unter Beibringung eines reichen 
Stoffes die Geschichte der Häupter dieses Hauses, der Grafen 
Rudolf I., IL, IL IV. und ihrer Angehörigen; er gibt zugleich eine 
ausführliche Darstellung der Geschichte ihres Gebietes; auch auf die 
Ministerialenfamilien, insbesondere die von Nidau und von Mörigen 
geht er ein. So wird das Buch zu einem in vieler Beziehung wert- 
vollen Werke, — Recht schätzenswert ist auch die große Arbeit von 
Kelleter”®), die die Geschichte eines alten und namhaften Stahl- 
industriellen-Geschlechtes, hineingestellt in die umfassend aufgezeigte 
Geschichte der Industrie seiner Heimat vorführt. Die weltbekannte 
Messer- und Scherenfirma Henckels wird im Zusammenhang mit der 
Entwicklung der Solinger Klingen-Industrie behandelt. Die Henckels- 
Sippe gehört schon im 15. Jahrhundert zu den verbreitetsten und an- 
gesehensten Geschlechtern von Solingen. Ein Heinrich H aus So- 
lingen führt um 1480 bereits Reisen zwischen Solingen, Paris und 
Lübeck. Zusammenhängendes und Näheres über die wirtschaftliche 
Betätigung der H. läßt sich aber erst vom 17. Jahrhundert an ersehen. 
In dessen 1. Hälfte erscheinen die H. gesichert im Solinger Schleifer- 
gewerbe; im folgenden Jahrhundert, 1731 wurde für Peter A. die 
später so berühmt gewordene Zwillingsmarke für H’sche Produkte in 
die amtliche Zeichenrulie eingetragen. Seit der 1. Hälfte des 18. Jahr- 
hunderts tritt der Reider und „Vergülder“ Johann Abraham H als 
der bedeutendste Verzierer von Degen und Ohrensäbeln seiner Heimat 
hervor und von seinem Bruder Johann Gottfried, Messermacher in 
Solingen, der 1760 die Zwillingsmarke erwarb, stammt das Haus 
„l. A. Henkels“, das dann im 19. Jahrhundert zu einer Weltfirma auf- 
stieg. Die Ausführungen Kelleters bringen neben wirtschaftsgeschicht- 
lich sehr unterrichtsamen Bildern aus der Familien- und Firmenge- 
schichte auch wichtige Aufschlüsse über die Solinger Stahlwarenin- 
dustrie. Mit vielen alten Anschauungen wird durchgreifend aufge- 
räumt. — Der Kreis der großen Kaufmannsgeschlechter Frankfurts, 
dem schon manche Familien- und Firmengeschichten gewidmet sind, 


2) Kelleter, H.: Geschichte der Familie J. A. Henckels, in Ver- 
bindung mit einer Geschichte der Solinger Industrie. Solingen, J. A. Henckels. 
XX, 192, CXXXIII S. 4° mit 34 Bildtafeln und Stammtafel-Beilage. 


25 


hat eine weitere Darstellung erhalten in der Geschichte des Ge- 
schlechtes Metzler und des Bankhauses B. Metzler seel. Sohn u. Co., 
die von dem Frankfurter Wirtschaftshistoriker Voelker aus Anlaß 
des 250jährigen Geschäftsjubiläums im Metzlerschen Auftrag bear- 
beitet ist.?°) — Das Geschlecht stammt aus dem Kurfürstentum Sachsen; 

es: wurde 1671 über Nürnberg auch in Frankfurt heimisch; und das 
Jahr 1674 gilt als Begründungszeit der noch bestehenden namhaften 
Frankfurter Firma. Ursprünglich eine Handlung in Textilwaref, 
wandte sich die Firma dann dem Spezereihandel zu und kam über’ das 
damit zusammenhängende Speditionswesen in der 2. Mälite des 18. 
Jahrhunderts weiter zum Bankgeschäft. Die Frankfurter Handels- 
geschichte findet in dieser Firmen- und Familiengeschichte vielseitige 
Widerspiegelung. Manche eingeschobene Urkunden und Aufzeich- 
nungen sind wertvoll, wenngleich die Wiedergabe den Anforderungen 
der Geschichtswissenschaft nicht immer genügt. Ganz unzulänglich 
ist bedauerlicherweise das Genealogische der Darstellungen. Insbe- 
sondere die fälschlich „Stammbaum“. benannte Stammliste am Schlusse 
des Werkes wird selbst den bescheidensten Aniorderungen nicht ge- 
recht. — Das Geschlecht Gruson, dessen Name durch das Magde- 
burger Gruson-Werk bekannt ist, hat von einem Angehörigen, dem 
Oberst a. D. E. Gruson, eine familiengeschichtliche Schilderung 
erhalten.) Das Geschlecht stammt aus Nordfrankreich und wurde 
im Strom wallonischer Religionsflüchtlinge zuerst nach Mannheim und 
dann weiter nach Magdeburg geführt. Nach Familien- und Firmen- 
akten wird die Bedeutung der Gruson in der Magdeburger Industrie 
des 19. und 20 Jahrhunderts klarzulegen versucht. Die Leiter des 
Grusonwerkes kommen teilweise mit eigenen Lebensskizzen zur Gel- 
tung. — Über Kreise der älteren deutsch-böhmischen Glasindustriellen 
verbreitet Fischer in einem den 1592 geadelten Glasmachern Schürer 
von Waldheim gewidmeten Werke begrüßenswerte Lichter””.) 
Die Arbeit stellt nur ein Kapitel aus dem Abschnitt „Glas- 
macherfamilien“ eines noch ungedruckten größeren Werkes 
über die deutschbömische Glasindustrie dar. Man möchte 
wünschen, daß das Ganze bald zu Druck gelangte.) Dann 
ist als beachtlich noch zu nennen die Geschichte eines bäuer- 


32) Voelcker, H: Geschichte der Familie Metzler und des Bank- 
hauses L. Metzler seel. Sohn u. Co. zu Frankfurt a M. 1674--1924. Privat- 
druck Frankfurt a. M. 339 S. 4° mit zahlreichen Abbildungen, 

3t) Gruson, E.: Aus den Tagen der Vorfahren und aus unserer 
Zeit. Geschichte der Familie Gruson. Privatdruck Quedlinburg, Röhl. 132 S. 
mit 2 gemalten Tafeln und Bildbeigaben. 

32) Fischer, K. R.: Die Schürer von Waldheim. Beiträge zur Ge- 
schichte eines Glasmachergeschlechtes. Prag, Verein für Geschichte der 
Deutschen in Böhmen, 115 S. mit vielen Abbildungen. 

3) Auf eine Skizze von W. Pfeilsticker, Die Pfeilsticker, Ein 
Versuch ihrer Handwerks- und Familiengeschichte, in BH. f. Württember- 
gische Familienkunde, Heft 5/6, S. 73—85, sei wenigstens anmerkungsweise 
verwiesen. 


26 


lichen Geschlechtes Herrmann aus Schwanheim an der Bergstraße.’*) 
Es handelt sich zwar um ein kleines Geschlecht mit einer aus den Ge- 
samtverhältnissen heraus nur dürftigen Überlieferung. Der Verfasser 
seiner Geschichte, Archivrat Herrmann in Darmstadt hat aber 
durch die geschickte Verbindung mit der Heimatgeschichte aus dieser 
Familiengeschichte etwas methodisch Schätzbares zu machen ver- 
standen. Mit Recht sagt er hinsichtlich der Aufstellung des größeren 
Rahmens: „Wissen wir auch nur wenig von dem, was sie erlebten, 
dachten und erstrebten, so lernen wir dadurch wenigstens .die dörf- 
liche Gemeinschaft kennen, an deren Schicksal sie Anteil hatten“. — 
Schließlich sei hier auch auf einige Urkundenbücher zur Geschichte 
größerer Geschlechter verwiesen. Zu dem im vorigen Bande der 
Jahresberichte gewürdigten ersten Teile der Riedeselschen Geschichte 
ist, ebenfalls von E. E Becker bearbeitet, nunmehr das Riedeselsche 
Urkundenbuch für die Zeit von 1200 bis 1500 erschienen.) Es bringt 
die Unterlagen für jenen ersten Darstellungsband, darüber hinaus aber 
auch Regesten derienigen Urkunden des Riedeselschen Samtarchivs 
- zu Eisenach, die sich nicht auf Angehörige des Geschlechtes Riedesel 
beziehen. Für zahlreiche Geschlechter des Adels von Hessen, aber 
auch für nicht wenig Geschlechter der angrenzenden Gebiete enthält 
das Werk wertvolle -Stoffe. Leider ist die Form der Regesten nicht 
sehr übersichtlich und nicht immer in sonst üblicher erprobter Methode 
verfaßt. Das namhafte Geschlecht von Heydebreck aus Altvorpom- 
mern und Mecklenburg hat durch den früheren Stettiner Archiv- 
direktor NHoogeweg ein wertvolles Urkundenbuch erhalten, das die 
Stoffe zur Heydebreckschen Geschichte bis 1500 zusammenfaßt.?‘) 
Für die große westfälische Sippe der von Senden und die aus ihr her- 
vorgegangenen Geschlechter von Porteslar, Rast, von den Specken, 
von Grothaus, Morrien, Maleman, von dem Brole, Bennkamp, Schilling 
u. a. hat der Generalleutnant Senden ein stattliches Urkundenbuch 
zusammengestellt, in dem man allerdings die Hand des Fachmanns 
doch häufiger vermissen muß.?”) 

Einzelstücke aus der Genealogie bekannterer Persönlichkeiten 
bezw. zur Geschichte namhafterer Geschlechter sind mehrfach bear- 
beitet. 2 291 Im Zusammenhang mit den Standesverhältnissen nament- 

“) Herrmann, F.: Heimat- und Stammbuch der Familie Herrmann 
aus Schwanheim an der Bergstraße. Darmstadt, Selbstverlag, 238 S. und 
'Stammtafel-Anhang. 

35) Becker, E. E.: Die Riedesel zu Eisenbach 2. Bd.: ,Riedeselisches 
Urkundenbuch 1200--1500. Marburg a. L., Ewert, 524 S. 

3) Hoogeweg,H.: Geschichte des Geschlechts v. Heydebreck. Ur- 
kundenbuch. Bd. 1. 1245—1500. Stettin, Saunier, 291 S., 2 Tfln 

3) Senden, E. E. A.: Urkunden und Regesten zur Geschichte des 
westfälischen Uradelsgeschlechtes derer von Senden. Bd. I, bis 1400. 
Münster, Regensberg, 371 S. und 4 Stammtifln. 

ss) Spielberg, W.: Die Grafen von Piugen und Rebegau, von 
Hohenburg und von Raabs. Monatsbl. d. Ver. f. Landeskunde von Nieder- 
österreich 23, 79—86. 

3) Knetsch, C.: Unebenbürtige Nachkommen west- und . mittel- 


deutscher Herrengeschlechter (Bentheim, Diepholz, Isenburg, Katzenelnbogen, 
Sayn-Wittgenstein, Solms). Familiengesch. BI. 22, 109—116. 


27 


lich von Philippi, der seine verdienstvollen Untersuchungen: 
dieser Art mit einer Erörterung über das bedeutende Münstersche:- 
Stadtadelsgeschlecht Kerkerink fortgesetzt hat,’°) während an eine 
ältere Arbeit von ihm eine Betrachtung des Grafen zu Münster 
über die mächtigen münsterländischen Herren von Münster- Mein- 
hövel angeknüpft ist.) Einen nützlichen Beitrag zu einer Frage aus 
der mittelalterlichen Fürstengenealogie, wie sie in der: 
eigentlichen genealogischen Zeitschriftenliteratur leider viel zu selten 
anzutreffen ist, gibt Kekule v. Stradonitz”) mit einer Unter- 
suchung über die Herkunft der Kaiserin Konstanza, der Gemahlin Kaiser 
Heinrichs VI. Er erweist aus den Quellen genauer, daß Konstanze eine 
posthume Tochter von Roger IL von Sizilien und dessen 3. Gemahlin 
Beatrix von Rethel war, und benennt als ihre Großeltern Roger I. von: 
Sizilien und Adelheid von Montierrat sowie Günther von Rethel und 
Beatrix von Namur. Hofmeister bemerkt dazu in einer Anzeige,”°) 
daß Rogers II. Mutter Adelheid nicht aus der von Mont- 
ferrat benannten Linie der Aledramiden, sondern aus einer 
- andern, deren Zweige nach Savona, Vasto, Saluzzo usw. 
hießen, stammte; Hofmeister berichtigt bezw. erweitert ebenda aus 
seiner umfassenden Kenntnis auch einige Daten der vorgenannten 
Arbeit. Eine Untersuchung über Walter von der Vogelweide und 
seinen Kreis hat Jaksch veröffentlicht.) Das Geschlecht und die 
Ahnenschaft Klopstocks ist anläßlich der 200jährigen Wiederkehr des. 
Geburtstages unseres Messiasdichters durch Kleemann und na- 
mentlich durch v. Arnswaldt behandelt. Der Quedlinburger 
Lokalhistoriker Kleemann hat allgemeiner die geschichtlichen Nach- 
richten über die Klopstock in Quedlinburg zusamımengetragen,?) der 
Genealoge Arnswaldt hingegen im besonderen Stammtafel und Ahnen- 
tafel aufgestellt.” ?) Die Familie Klopstock ist im Jahre 1657 nach 
Quedlinburg gekommen, und zwar mit dem Urgroßvater des Dichters, 
mit Daniel Klopstock, der der Sohn eines 1632 t Pfarrers Christoph 
K. zu Artlenburg an der Unterelbe war, welcher seinerseits anschei-. 
nend aus Ratzeburg stammte und jedenfalls bislang den ersten be- 


a) Philippi, Fr.: Ursprüngliche Standesverhältnisse der münsteri-- 
schen Erbmänner und insbesondere der Familie Kerkerink zur Borg. Viertel- 
jahrschriit Westfalen 12, 1ff. 

Grafzu Münster, H.: Die Standesverhältnisse der Herren von 
Münster-Meinhövel. Großenhain, Starke, 23 S 
a2) Kekule v. Stradonitz, St.: Die Abstammung der Kaiserin 
Konstanze, der Gemahlin Kaiser Heinrichs VI., und die Frauen des Königs. 
Roger II. von Sizilien. Familiengesch. BIL 22, 45—50. 

a3) Hofmeister, A. in der Histor. Ztschr. 130, 350 f. 

a) Jaksch,Walther von der Vogelweide und sein geschichtlicher 
Kreis. Mit einer Stammtafel (über Personen jenes Kreises). In: Festschrift 
für Alfred Anthony von Siegenfeld.e Wien, Heraldische Gesellschaft Adler. 

») Kleemann, S.: Die Familie Klopstock in Quedlinburg. Quedlin-: 
burger Kreisblatt, 51. Jhrg., Nr. 119—125; auch Sonderdruck, 23 S. 

8) yv, Arnswaldt, W. K.: Die Familie Klopstock in Quedlinburg. 
Familiengesch. BI. 22, 185—190. 

MEN Arnswaldt, W. K.: Ahnentafel des Dichters Klopstock. Fa- 
miliengesch. BI. 22, 215—220. 


28 


kannten Stammvater dieser Linie des Geschlechtes Klopstock darstellt. 
Daniel fand in Quedlinburg Bedienstung beim dortigen Fürstl. Stifte 
(er starb als Stiftsschösser 1684); und auch seine Nachkommen da- 
‘selbst betätigen sich vornehmlich als Stiftsbeamte, als Anwälte, 
wie des Dichters Großvater Karl Otto Kl. (* 1667, t 1722) und der 
Vater Gottlieb Heinrich (* 1698, t 1756), oder als Kaufleute. Der letzte 
männliche Träger des Namens K. in Quedlinburg starb daselbst 1824. 
Die Ahnentafel des Dichters Friedrich Gottlieb Klopstock erweist, 
da die Urgroßmutter väterlicherseits Margarete Breitert und die Groß- 
mutter väterlicherseits Juliana Maria Windreuter aus Quedlinburg 
stammten, während die Mutter Anna Maria Schmidt aus Langen- 
salza gebürtig war, in der Ahnenschaft bis zur III. Ahnen-Generation, 
den sog. 8-Ahnen ausschließlich Honoratiorenkreise von Quedlinburg, 
Mühlhausen i. Th. und Langensalza. Weiter zurück differenziert 
‚sich die Ahnentafel sozial und landschaftlich stärker; das mittel- 
deutsche Element in Klopstocks Ahnenschaft bleibt aber durchaus 
überwiegend. Die Ahnentafel ist, von der IV. Ahnen-Generation an ` 
‚mit wachsenden Lücken, bis in die VI. Generation hinaufgeführt. Aus 
Anlaß der zweiten Säkularfeier von Kants Geburtstag hat W. Meyer 
‘eine Ahnentafel des großen Philosophen veröffentlicht,*) die bis zur 
HI. Ahnen-Generation ein ziemlich vollständiges Bild gibt und aus 
A weiteren (Generationen noch einen Teil der Ahnenschaft mütter- 
licherseits zeigt. Der Vater Johann Georg Kant (* Memel 1682, T 
Königsberg 1746, verh. 1715 mit Anna Regina Reuter, f? 1737) und 
die beiden Großväter Hans Kant (t Memel 1715) und Kaspar Reuter 
(T Königsberg 1729) gehörten dem Riemergewerbe an. Hans Kant 
war der Sohn eines angeblich aus Schottland eingewanderten, um 
1667/70 verstorbenen Krügers Richard Kant in Werden bei Heyde- 
krug, wohin er durch Einheirat gelangte; Kaspar Reuter war der 
Sohn eines Nürnberger Färbers Friedrich Reuter (und dessen ersten 
Frau Anna Maria Nothelfer) und der Schwiegersohn eines Königs- 
berger Riemermeisters Michael Felgenhauer. Von den weiteren 
Ahnen lassen sich die Reuter-Nothelferschen noch erheblich zurück- 
verfolgen, zunächst meist ebenfalls Handwerker in Nürnberg, von 
Herkunft die Reuter jedoch aus Tübingen, die Nothelfer aus dem 
Bodenseegebiet. Die Meyersche Arbeit gibt ebenso wie die Arns- 
. waldsche schätzbare Beiträge zur Ahnenkunde großer Männer. 
Übrigens sei erwähnt. daß eine Stammtafel des von Ostpreußen auch 
nach Kurland verzweigten Geschlechtes Kant schon vor 25 Jahren 
von dem Freiherrn A. v. Rahden im Jahrbuch für Genealogie 1899, 
Mitau 1901, S. 180 veröffentlicht ist; dazu wird jetzt ein Nachweis 
über einen nach Mittelamerika verpflanzten Zweig gebracht.) Zur 
Stammtafel des Geschlechtes Goethe hat v. Klocke einen Beitrag 
gegeben, der das bisher über das Geschlecht unseres größten Dichters 


a8) Meyer, W.: Zu Kants Ahnentafel. Familiengesch. BIL 22, 79—84. 
3) Familiengesch. Bil. 22, 96. 


29 


Bekannte nicht unwesentlich erweitert.) Man wußte schon, daß. 
von Hans Goethe d. J. zu Berka (T 1686) zwei Linien ausgegangen 
waren, eine ältere zu Berka und Umgegend und eine jüngere zu. 
Astern und Umgegend (aus dieser stammte der Zweig Johann Wolf- 
ganz Goethes.) Nunmehr erweist v. Klocke eine dritte Linie, die 
von einem jüngeren Bruder jenes Hans d J., von Jakob G. zu Sonder- 
hausen und später zu Cannawurf (seit 1637 daselbst, T 1673) ausge- 
gangen ist und mehrere Generationen hindurch im Bauertume von 
Cannawurf (Kr. Eckartsberga in Thüringen) bestanden hat. Diese 
neue dritte Linie der Goethe kann man als die der „älteren Canna- 
wurfer“ bezeichnen. Denn seit Ende des 18. Jahrhunderts lebten in 
Cannawurf weitere, bislang ebenfalls noch unbekannte Goethe, die 
aber nicht aus dieser dritten Linie hervorgegangen sind und daher 
die „jüngeren Cannawurfer Goethe genannt werden müssen“. Sie 
erscheinen in Cannawurf mit Johann Christoph Goethe aus Rottleben,. 
der dem zweiten Aste der ersten Linie angehörte. Eine Skizze des 
 Zusammenhangs fügt v.. Klocke an. Genaueres über die Rottlebener: 
ist noch nicht bekannt, wie überhaupt für die Stammtafel der Goethe 
noch viel’ Arbeit zu leisten ist. Aus dem Cannawurfer Kirchenbuch 
teilt v. Klocke übrigens auch die Eintragung über die bislang der 
Goethe-Literatur nicht richtig bekannte Geburt bezw. Taufe von 
Goethes nach Frankfurt verzogenen Großvater Friedrich Georg mit, 
der am 6. September in Cannawurf als Sohn des dortigen Schmiedes 
Hans Christian Goethe getauft wurde. Über den engeren Familien- 
kreis von Goethes berühmten Freunde, dem Kriegsrat Johann Heinrich 
Merck bringt der Herausgeber der vortrefflichen Merckschen Fa- 
milien-Zeitschrift, Archivrat Herrmann eine willkommene, auf 
Familienbriefe, Rechnungsbücher und andere Literarien gegründete 
Schilderung.°') Das aus der Literaturgeschichte bekannte Bild Mercks. 
wird dadurch wesentlich erweitert. Herrmann gibt ferner auch 
eine Ahnentafel Johann Heinrich Mercks.’’) Die Ahnentafel erstreckt 
sich mit großer Vollständigkeit über die ersten 4, mit Lücken noch 
über die 5. und 6. Ahnengeneration. Die Merck von den ersten 3 
dieser Generationen waren Apotheker. Des Kriegsrates Vater Johann 
Franz (* 1687, f 1741) und der Großvater Georg Friedrich (* 1647. 
f 1715) in Darmstadt, der Urgroßvater Georg (* 1611, t 1683) in 
Schweinfurt. Die Mutter Mercks Elisabeth Katharina Kayser stammte 
aus Bischofsheim, die Großmutter väterlicherseits Anna Elisabeth 
Storck aus Darmstadt, die Urgroßmutter väterlicherseits Hanna Bar- 
bara Leypold aus Schweinfurt. Nach der landschaftlichen Herkunft 
ist ein Viertel der Ahnenschaft Johann Heinrich Mercks, nämlich die 
großväterlich Mercksche Aszendenz, fränkisch, die übrige hessisch, 


*) v, Klocke, Fr.: Zur Stammtafel des Geschlechtes Goethe. Fa- ` 
miliengesch. BII 13—20. 


31) Herrmann, Fr.: Aus dem Leben des Kriegsrats Joh. Heinrich 
Merck und seiner Kinder. Mercksche Familienzeitschrift 9, 41—86. 


5’) Herrmann, Fr.: Ahnentafel des Kriegsrats Joh. Heinrich Merck. 
Mercksche Familienzeitschrift 9, 87—102, mit Tafel. 


30 » 


Sozial gesehen ist die Ahnentafel stärker gemischt; viele der An- 
gehörigen gehörten dem Honoratiorentume an. Eine übersichtliche 
Ahnentafel Hebbels hat v. Wiese für die ersten 3 Ahnengenera- 
tionen des Dichters an Hand des in den letzten „Jahresberichten der 
deutschen Geschichte“ (6, 29) besprochenen stofilich wertvollen, im 
- genealogischen Aufbau aber unzulänglichen Büchleins von Nagel zu- 
sammengestellt.) Diese Ahnenschaft wird von Handwerkern und 
Hausleuten in Dithmarschen gebildet. Eine nützliche Charakteristik 
des Züricher Geschlechtes Meyer zu Stadelhoven, dessen berühmtester 
Spross der Dichter Konrad Ferdinand Meyer ist, gibt Schultheeß 
in einer Arbeit, die zunächst die ständischen Verhältnisse der Züricher 
Bevölkerung umreißt und dann die Entwicklung der Meyer verfolgt.) 
Das aus Eglisau stammende Geschlecht gelangte kurz vor der Mitte 
des 17. Jahrhunderts in den Kreis der regimentsfähigen Bürger von 
Zürich; es stieg in diesem an Ansehen und Wohlhabenheit und konnte 
darauf im 18. Jahrhundert in den eigentlichen Herren". Stand von 
Zürich eintreten. Aus diesem Gesellschaftskreise hat der Dichter 
grundlegende Wesensarten empfangen und selbst dargestellt. „Alles 
in allem war Konrad Ferdinand Meyer durchaus das Produkt seiner 
väterlichen Sippe, die zwar längst nicht mehr zu den reichsten, ver- 
wandtschaftlich und gesellschaftlich jedoch immer noch zu den ersten 
Geschlechtern zählte“. Schließlich sei noch auf einen für die Herkunit 
des Komponisten Franz Schubert wichtigen Aufsatz von Deutsch 
verwiesen, der insbesondere für die Kenntnis des Schubertschen 
Elternhauses wichtig ist, allerdings genealogische Systematik ver- 
missen läßt.) Soweit es möglich, hat nach dieser Arbeit v. Klocke 
eine kleine Ahnentafel des Komponisten aufgestellt, die väterlicher- 
seits in mährische Bauernkreise (der Vater Franz Theodor war zwar 
Lehrer in Wien, T 1830, aber 1763 als Sohn des Bauern Karl Sch. in 
Neudorf bei Altstadt geboren,) mütterlicherseits in oesterreichisch- 
schlesische Handwerkerkreise (die Mutter Elisabeth Katharina Vitz, 
f 1812, zunächst Köchin in Wien, war 1756 als Tochter des Schlossers | 
Franz V. in Zuckmantel geboren) führt. 5° 57) 

Von Arbeiten über bestimmte Geschlechterkreise ist vor allem 
das große Werk von Krick über die Familien der geistlichen Wür- 
denträger des Bistums Passau zu nennen.”) Der Verfasser hat ver- 


5) v Wiese, R.: Die Ahnentafel Friedrich Hebbels. Familiengesch. 
BII. 22, 19—22. 

5): Schultheß, H.: Conrad Ferdinand Meyer im Spiegel seiner 
Sippe. „Wissen und Leben (Neue Schweizer Rundschau) 1923/24, Heft 17. 

Deutsch, O. E.: Schuberts Vater. Alt-Wiener Kalender für 1924, 
ra 

5) v. Klocke, Fr.: Herkunft und Ahnen des Komponisten Franz 
Schubert, Familiengesch. BIL 22, 61—62. 

Fischer, P.: Stammtafel und Überblick über Paul de Lagardes 
Be Paul de Lagardes Schriften für das deutsche Volk, Bd. 2, 
XM— XV. 

5) Krick, H. L.: 212 Stammtafeln adeliger Familien, denen geistliche 
Würdenträger des Bistums Passau entsprossen sind. Schweiklberg, Missions- 
kloster, 467 S. quer 20. 


31 


sucht, in 212 Stammtafeln die Familien der bedeutendsten Welt- und 
Klostergeistlichen des Bistums Passau vorzuführen. Die Arbeit ver- 
folgt wichtige Zwecke; es sei daran erinnert, wie bedeutsam die Auf- 
schlüsse waren, die Aloys Schulte mit seinem Werk über den Adel 
und die deutsche Kirche im Mittelalter der Wissenschaft gegeben hat. 
Auch das Ergebnis Kricks erscheint nicht unwesentlich, wenn man er- 
sieht, daß von den 212 behandelten Geschlechtern aus vornehmlich 
bayrischen und oesterreichischen Niederadel 5/8, nämlich 132 ausge- 
storben sind, davon 70 durch den Eintritt der Söhne in den geistlichen 
Stand. Aber die Sicherheit der Krickschen Vorführungen erscheint 
infolge mangelhafter Bearbeitung doch fragwürdig. Vor allem sind 
die Tafeln sehr unvollständig; es geht bei solcher soziographischen 
Untersuchung nicht an, aus den Geschlechtertafeln einfach die Linien 
forzulassen, denen keine Geistlichen entsprossen sind; das Bild, das 
sich so ergibt, ist von vornherein nicht richtig. Überdies hat der 
Verfasser seine genealogischen Studien nicht mit der Sorgfalt und 
Eindringlichkeit durchgeführt, die nötig war. Wichtige Literatur ist 
ihm unbekannt geblieben, notwendige neue Forschungen sind nicht 
angestellt, andererseits unzuverlässige ältere Werke unkritisch ver- 
wertet. So muß man das Werk genealogisch als kaum brauchbar be- 
zeichnen.) Von Moeschlers Arbeit über Familien der Herrnhuter 
Brüdergemeinde ist der 2. Band erschienen, der Stammtafeln mehrerer 
noch blühender Exulantengeschlechter, namentlich der Nitschmann, 
sowie u. a. Nachweise über Abstammungen von Amos Comenius ent- 
hält.) Aus der Veröffentlichungsreihe Alte Mannheimer Familien“ 
liegt ein 5. Heft vor,°') in der eine Arbeit von Jakob über die 
Künstlerfamilie Kobell allgemeineres Interesse hat. —) 


Veröfientlichungen über familiengeschichtlich besonders we- 
sentliche Quellen sind in größerer Zahl erschienen 2.272 


5) Rez. von W. K. Prinz zu Isenburg: Familiengesch. BIL 24, 
278-279. 

©) Moeschler, F.: Alte Herrnhuter Familien. Die mährischen, 
böhmischen und österreichisch-schlesischen Exulanten. Teil H. Herrnhut, 
Lindenbein, 80 S. 

61) Alte Mannheimer Familien, hrsg. von FI. Waldeck. Teil 5. Mann- 
heim; en se Vereinigung, 91 S. 

22) Ebenda, S. 56—75. | 

63) Großmann, K.: Vlothoer Familien des 16., 17. und 18. Jahr- 
hunderts. Familiengesch. BI. 22, 55—00. 

al yv, Gebhard, P.: Berliner personen- und familiengeschichtliche 
Quellen. Familiengesch. BI. 22, 21—24. 

6) Lüdicke, R.: Die Berliner Grundbücher scit dem Ende des 17. 
Jahrhunderts. Familiengesch. BIL 22, 117-—122, 191—196. 

6) Werwach, Fr.: Die alten Landbücher und Erbregister des Regie- 
rungsbezirkes Potsdam. Familiengesch. BI. 22, 89—92, 

#) Weiske, K.: Familiengeschichtliche Quellen in der Hauptbibliothek 
und den Archiven der Franckeschen Stiftungen zu Halle a. S. Familiengesch. 
BII. 22, 49—50. 

8) Rothenfelder, Die Hilfsmittel zur Familienforschung im Ger- 
manischen Nationalmuseum zu Nürnberg. BI. d. Bayrischen Landesvereins 
iür Familienkunde 1, Nr. 1/2. 


32 


Auch einige Beiträge zur Geschichte der Genealogie wurden 
vorgelegt, außer einer Arbeit über den namhaften älteren württem- 
bergischen Genealogen Faber”) kurze Betrachtungen neuerer Fach- 
zenossen, unter denen die von Hofmeister, Kekule v. Stra- 
donitz und Tille beachtlich sind" 

Heraldik. ‘Eine kurze „praktische Einführung in die Heraldik und 
Wappenrechtsfrage“ hat Freyer gegeben.””) Seine Darstellung der 
geschichtlichen Entwicklung des Wappenwesens bleibt ziemlich an 
der Oberfläche und nicht ohne Irrtümer; die Ausführungen über das 
‚Wappenrecht befriedigen mehr. Im Literaturverzeichnis vermißt man 
bedauerlicherweise die nützliche Einführung in das Wappenwesen von 
Fr. Philippi. Recht erfreulich hingegen ist der anastatische Neudruck 
des Wappenlexikons von Rentzmann.‘) Wenn das Werk auch 
in erster Linie für den Numismatiker geschaffen wurde, so erweist 
es sich auch für den reinen Heraldiker von erheblichem Nutzen. Auf 
35 großen Doppeltafeln werden insgesamt 8400 Wappen oder Wappen- 
teile vorgeführt, deren Reihenfolge sich durch die Wappenbilder be- 
stimmt. Aufgenommen sind freilich nur Staats- und Städtewappen, 
diese aber bis zum ersten Erscheinungsjahr des Werkes mit großer 
Vollständigkeit. Ein umfängliches Indexheft ermöglicht mit seinem 
ersten Teile die Bestimmung eines vorliegenden Wappens auf seinen 
gesuchten Träger, mit einem zweiten Teile die Feststellung eines ge- 
suchten Wappens für einen bestimmten Staat oder eine bestimmte 
Stadt. Die namhafte Münzhandlung A. Riechmann in Malle a. S. hat 
sich mit der Neuausgabe des lange vergriffenen und Sehr gesuchten 
Werkes ein unzweifelhaftes Verdienst erworben. Das neuere große 
Wappenwerk, der Neue Siebmacher, konnte wie in den vor- 
hergehenden Jahren, so auch 1924 nur wenig gefördert werden; ledig- 
lich für die Abteilung Bürgerliche Wappen erscheint von Zeit zu Zeit 


60) Baumeister, Bürger- und Zunftbücher der Stadt München. — 
Ebenda Nr. 3/4. 


”) Fink, G.: Die Kirchenbücher der lübeckischen Landgemeinden. 
Familiengesch. Bil. 22, 151—154. 


7) Schäfer, R.: Verzeichnis der Leichenpredigten in der Kirchen- 
bibliothek zu Schotten in Oberhessen. Familiengesch. BI 22, 83—88. 


2) Adelheim, G.: Die russische Nekropolis, eine wichtige Quelle 
für die deutsche Familiengeschichtsforschung. Familiengesch. Bll. 22, 91—92. 


j 73) Scholl, R.: Ferdinand Friedrich Faber, der Familienforscher. BI. 
für württembergische Familienkunde. Heft 5/6, 93—97. 


p a) Breymann, H.; Hofmeister, A; Kekule v. Stradonitz, 
St.; Sperl, A.; Tille, A.: Wie wir zur Genealogie gekommen. Familien- 
gesch. BlI. 22, 5—12. | 
2 1) Freyer, W.: Wappenkunde und Wappenrecht. Praktische Ein- 
führung in die Heraldik und Wappenrechtsfrage. Praktikum für Familien- 
forscher, Heft 7. Leipzig, Degener u. Co., 21 S. mit 52 Abb. 

”s) Rentzmann, W.: Numismatisches Wappenlexikon des Mittel- 
alters und der Neuzeit. Staaten- und Städtewappen. Anastatischer Neu- 
on Halle a. S., Riechmann. 35 Doppeltafeln in Wappen. Index-Beiheft, 


3 38 


eine Lieferung.) Von dem erstmalig 1589 erschienenen berühmten 
Wappenbuch des Jost Amman wurde noch 1923 abermals eine 
neue Reproduktion, nunmehr schon die dritte im Laufe der letzten 
50 Jahre, vorgelegt.) Die 84 Wappentafeln des Werkes sind freilich 
auch von unvergänglicher Wirkung und zum Studium wie als Vor- 
lage guter Heraldik unentbehrlich. Über ein seltenes Wappenwerk 
aus der Zeit um 1600, das der Altdorfer Professor Nikolaus Taurellus 
mit seinen Emblemata- physicoethica gegeben hat, berichtet H u p p, 


unter Mitteilung eines Verzeichnisses der darin enthaltenen Wappen, 


die vornehmlich aus Nürnberg und den fränkischen und oberpfälzi- 
schen Gebieten stammen "9 | 

Unter dem treffenden Motto Difficile est satiram non scribere 
hat Rheude eine Zusammenstellung der neuen Wappen der deut- 
schen Freistaaten (die Hansestädte ausgenommen) mit Beigabe von 
Abbildungen gebracht.°) Es ist allerdings unmöglich, eine große An- 
zahl dieser neuen Hoheitszeichen vom heraldischen Standpunkte aus 
erträglich zu finden. Manche sind mehr oder weniger den alten 
Wappen nachgebildet, andere aber auch neu geschaifen, wie natür- 
lich das thüringische, das aber statt des geschichtlich gegebenen alten 
Thüringer Löwen etwa mit anderen Farben in fabelhaft sinniger Weise 
7 Sterne bekommen hat, weil der neue Freistaat Thüringen aus 
7 Ländern gebildet ist. Am schrecklichsten freilich mutet das neue 
preußische Abzeichen an, für das die maßgebenden Stellen es .ab- 
sichtlich vermieden haben, „eine heraldische Form des Adlers zu 
wählen, weil heraldische Sinnbilder dem inneren Wesen der neuen 
Staats- und Volksgemeinschaft widersprächen!“ Den Stand der For- 
schung über Städtewappen sucht hinsichtlich allgemeinerer Werke 
über einzelne Landschaften Roth aufzuzeigen.) Derselbe hat auch 
ein sehr verdienstliches Werk über die Städtewappen der Provinz 
Westfalen vorgelegt.) In sehr richtiger Weise zeigt der Verfasser 
die Entwicklung der einzelnen Städtewappen an Hand von Siegeln. 
gelegentlich auch von Münzen, oder besonderen älteren Darstellungen 


- und gibt danach auf Grund der Akten die Beschlüsse der maßgeben- 


den Stellen, die zur Feststellung der heute üblichen Wappenformen 
geführt haben (die letzterwähnten Ausführungen sind zugleich ein Be- 
weis dafür, wie bürokratisch und von geschichtlichem Verständnis, 


17) J. Siebmachers Großes und Allgemeines Wappenbuch V, 12, Heft 5: 
Seyler, G. A.: Bürgerl. Geschlechter, S. 55—67, Tfln. 74—91. Nürnberg, 
Bauer u. Raspe. 

7) Jost Ammans Wappen- und Stammbuch. Nach dem bei Sigmund 
Feyrabend 1589 in Frankfurt a. M. erschienenen Werke neu aufgelegt. 
München, G. Hirth, 1923. 

”) Hupp, O.: Das Wappenbüchlein des Taurellus. Schweizer Archiv 
für Heraldik, 38, Nr. 1—3. 

| ©) Rheude, L.: Die Wappen der Deutschen Freistaaten. Deutscher 
Herold, 55, 31—34. 
a) Roth, A.: Über Städtewappen.. Familiengesch. BIL 22, 209—216. 

82) Roth, A.: Die Städtewappen der Provinz Westfalen. Watten- 
scheid, Busch, 126 S. und 10 Tiln. | 


34 


RÉI 


wie von ästhetlischeır Geschmack oft gleicherweise weit entfernt die 
Stellung des ehemaligen preußischen Herrenhauses bei solchen Fest- 
stellungen sein konnte.) Über einzelne Wappen dürfte aus der Sach- 
lage heraus trotz der emsigen Bemühungen Roths noch nicht das 
letzte Wort gesprochen sein. Das Wappen einer der ehedem be- 
deutendsten westfälischen Städte, das von Soest, ist z. B. nicht richtig 
wiedergegeben, wie es allerdings auch vom Soester Magistrat in ver- 
derbter Gestalt geführt wird. Die historisch begründete Form, die 
H. Schwartz in einem Aufsatz „Das Soester Stadtwappen“ in der 
Zeitschrift des Soester Geschichtsvereins, Heft 33, Soest 1917, er- 
weist (die Arbeit blieb Roth unbekannt), muß den Soester Schlüssel 
senkrecht im Wappenschilde führen. Für die berühmten geschnitzten 
Wappen westfälischer Adelsgeschlechter im Domkapitelssaale zu 
Münster gibt v. Klocke eine Übersicht mit einigen neuen Deu- 
tungen.) ®) Das Wappenbuch der Kölner Domherren aus Mem 
ł. Viertel des 16. Jahrhunderts behandelt Macco jetzt ausführ- 
licher.) Das Werk gibt 163 wappen-, familien- und ständegeschicht- 
lich recht wichtige Darstellungen von ie 4 bzw. 8 Ahnenwappen . 
Kölner Domherren aus der Zeit von 1373 bis 1536. Leider ist die 
Beschreibung Macco’s sehr ungleichmäßig, man vermißt ein festes 
wissenschaftliches System darin; die notwendige Beziehung zu 
Kisky’s Feststellungen über das Kölner Domkapitel ist nicht ver- 
sucht; die Hauptarbeit für die sehr wünschenswerte Auswertung des 
Wappenbuches bleibt daher noch zu tun. Von dem sehr schätzens- 
werten Werke Staehelins mit Wappen Baseler Bürgerge- 
schlechter, das auch in den Wappenzeichnungen von Roschet recht 
hoch steht, konnte eine Fortsetzung erscheinen.) Eine Veröffent- ` 
lichung von Siebs über Bauernwappen aus den Marschlandschaften 
an der Unterweser, die als Fortsetzung eines früher erschienenen 
Wappenbuches des Landes Wursten zu gelten hat, bringt weitere 
Stoffe zu dem noch wenig bekannten bäuerlichen Wappenwesen 
dieser norddeutschen Gegenden; leider lassen die beigebenen Zeich- 
nungen außerordentlich viel zu wünschen.) Schließlich sei noch auf 
eine Arbeit hingewiesen, in der Knodt Wappen und Farben des 
Wingolf behandelt.) Zu den meist höchst unerfreulichen Studenten- 
wappen steht das hier Vorgeführte in anerkennenswertem Gegensatz, 


8) v, Klocke, Er: Westfälische Adelsgeschlechter und ihre Wappen 
im Kapitelssaale des Domes zu Münster. Familiengesch. Bll. 22, 160—161. 

a) v. Arnswaldt, W. K.: Heraldisches aus Westfalen. Familien- 
` gesch. BIL 22, 161—164. 

8) Macco, H. F.: Der Cölnischen Thumherren Beweisungen. Deut- 
scher Herold 55, 42—46. 

æ) Wappenbuch der Stadt Basel, hrsg. von W. R. Staehelin. TI. 2, 
Folge 2. Basel, Helbing u. Lichtenhahn, 50 BI. 

5) Siebs, L. E.: Wappenbuch der Marschlandschaften Osterstade, 
an Wührden, Lunemarsch und Vieland. Bremervörde, Borgardt, 1923. 

: 8) Knodt, H.: Wappen- und Farbengeschichte des Wingolfs. Schriften 

aus dem Wingolf, Heft 2. Mühlhausen i. Th., Fischer, 60 S. 


3o 35 


wenngleich auch die Wingolf-Wappen noch an Überladung leiden; der 
Text gibt manches Neue, freilich auch manches Falsche. 
 Sphragistik. Gardthausen®) behandelt ein 1878 bekannt 
zewordenes, auf Korfu gefundenes Petschaft, dessen Siegelfläche in 
der Umschrift einen Namen in griechischen Buchstaben, in der Mitte 
aber ein Monogramm enthält, und dessen Griff ein Tier, ein Hund 
oder wohl eher ein Wolf bildet. Aus der Umschrift ist das Typar 
bereits von Schlumberger und anderen auf Ulfilas bezogen; nur 
Streitberg hat sich in Hoops Realencyclopädie dagegen gewandt, auch 
die Echtheit des Stückes bezweifelt. Für die Echtheit gibt aber das 
Monogramm die Entscheidung, das Gardthausen, der genaue Kenner 
dieser Dinge, erstmalig befriedigend auflöst. Er bekommt alsdann 
als ganzen Siegeltext: Oöspia + (Xerouavav)  Erıozdrou Die Anwen- 
dung der griechischen Buchstaben erklärt G. damit, daß das Siegel 
entweder für die Korrespondenz des Bischofs mit den griechischen 
Geistlichen oder Beamten zu dienen hatte, oder daß es älter ist als die 
Erfindung der gotischen Schrift. Mit der Feststellung der Echtheit 
des Stempels tritt G. auch für die Namensform Urphilas als die eigent- 
liche des großen Gotenbischofs em. Aus der Bearbeitung der Diplome 
Lothars II. für die Monumenta Germaniae legt v. Reinöhl eine 
Untersuchung über die mit der Besiegelung zusammenhängenden 
Fragen vor.) Danach hat sich für die Stellung des Siegels ein fester 
Brauch nicht ausgebildet. Zur Befestigung sind die Siegel mit einer 
Ausnahme auf das Pergament auf- bzw. durchgedrückt; für den einen 
Ausnahmefall (St. 3259), wo ein heute verlorenes Siegel eingehängt 
gewesen ist, hält v. R. die Anfügung eines falschen Siegels für wahr- 
scheinlich. Die Anbringung der Siegel erfolgte wenig sorgsam; die 
meisten sitzen schief. Als Siegelmasse diente ungefärbtes Wachs. 
In der Regel, aber nicht immer, erfolgte die Besiegelung als letzter 
Akt der Beurkundung. Für 3 Diplome läßt sich die Anhängung von 
Goldbüllen nachweisen; aber nur eine davon ist erhalten. v. R. be- 
schreibt sodann den Siegelinhalt und geht schließlich noch auf Fäl- 
schungen ein. v. Reinöhl kommt über J. Schultze (1905) und O. Posse 
(Kaisersiegel) u. a. mehrfach hinaus. Eine eindringliche Arbeit von 
Grotefend ist den Kamminer Bischofssiegeln vom Ende des 12. bis 
Mitte des 16. und den Kamminer Kapitelssiegeln von der 1. Hälfte des 
13. bis Ende des 15. Jahrhunderts gewidmet.°‘) Der. ermittelte Stoff 
wird in 68 teilweise nicht ganz deutlichen Abbildungen vorgeführt. 
Die älteren Bischof:siegel tragen durchweg eine Bischofsfigur. Ende 
des 13. Jahrhunderts erscheint dafür Johannes der Täufer (der Patron 
des Domstiftes), dessen Bild später zur Regel wird. Vom 2. Viertel 
des 14. Jahrhunderts an finden sich dazu Wappen, zunächst Familien- 


8) Gardthausen, V.: Das Siegel des Ulfilas. Beitr. z. Gesch. d. 
dtsch. Sprache u. Lit. 48, 448—458, (mit Abb.). 


*) v, Reinöhl, Fr.: Die Siegel Lothars II. Neues Archiv f. ält. 
deutsche Geschkde. 45, 270—284. 


21) Grotefend, O.: Die Siegel der Bischöfe von Kammin und ihres 
Domkapitels. Baltische Studien, NF 26, 191—234. 


36 


wappen der Bischöfe, später auch das Stiftswappen (ein Kreuz.) Auch 
die seit Anfang des 14. Jahrhunderts verfolgbaren Sekret- bzw. Rück- 
siegel haben vielfach Wappen. Ende 15. Jahrhunderts ist das Ring- 
siegel eingeführt, das nur den Kreuzschild des Bistumswappens ent- 
hält. Vom Domkapitelssiegel sind 5 Typen nachweisbar, von denen 
die beiden letzten nebeneinander geführt. wurden; auf allen erscheint 
Johannes der Täufer, einige haben dazu noch Bischofsfigur oder 
Christus Maria krönend. Eine Untersuchung von Ernst über die 
Klosterneuburger Madonna") zieht auch die Siegel als Quelle heran 
und wird damit zugleich sphagistisch lehrreich. Der im 13./14. Jahr- 
hundert ausgebildete Typ der thronenden Madonna von Klosterneu- 
burg verbreitete sich in Innerösterreich schnell. Er erscheint „in Inner- 
österreich auf den Konventssiegeln von Zwettl, Heiligenkreuz, Klein- 
mariazell, Lilienfeld, Säusenstein, der Frauenklöster von Ybbs und von 
S. Bernardo. In Wien siegeln mit unserer Madonna die Nonnen von 
St. Nikolaus, das Himmelpfort- und das Karmeliterkloster; am Semme- 
ring führt sie ein Rektor Pertold des Spitals zur Mariä Himmelpfort 
im Typar. In Oberösterreich die Konventssiegel von Engelzell, Baum- 
gartenberg und Wilhering. Sonst noch das steirische Stift Neuburg 
und ein Propst Georg von Gurk.“ Den Unterschied zwischen Siegel 
und Petschaft führt Knetsch einem breiteren Kreise an einigen lehr- 
reichen Urkundenstellen vor.) a 


2) Ernst, R.: Die Klosterneuburger Madonna. 


#8) Knetsch, C.: Siegel und Petschaft. Familiengesch. BU 22, 
27—30. | 


37 


B. Mittelalter. 


Kapitel I. 


Allgemeines. 
(Stimming.) 


Kötzschk es!) Allgemeine Wirtschaftsgeschichte ist als der 
‘erste größere Versuch einer umfassenden Darstellung entsprechend 
hoch zu bewerten. Es soll eine Zusammenfassung der gesicherten 
Forschungsergebnisse gegeben werden. Unter sorgfältiger Berück- 
sichtigung der umfangreichen Literatur verfolgt K. den Gang der Ent- 
wicklung von der Spätantike bis in das spätere Mittelalter. Neben 
den abendländischen Staaten werden auch Byzanz und der Orient 
nicht vergessen. Besonders wertvoll ist das Bestreben, die Wirt- 
schaftsentwicklung nicht isoliert zu betrachten, sondern sie in die all- 
gemeinen Lebenszusammenhänge einzuordnen und in ihrer Abhängig- 
keit von den politischen und sozialen Faktoren, von der nationalen 
Eigenart und von der kulturellen Stufe darzustellen. Hellmann's?) 
vortreffliche Geschichte des früheren Mittelalters ist in zweiter Auf- 
lage erschienen, in der besonders die Abschnitte über. das 10., 11. und 
12. Jahrhundert eine gründliche Überarbeitung erfahren haben’) Das 
Buch von Kam per s?) über die Kaisermystik ist aus einem Vortrage 
entstanden und knüpft an die früheren Forschungen des Verfassers 
über die Kaiseridee und die Kaisersage an. Er verfolgt ideengeschicht- 
liche Phänomene durch weite Zeiträume, indem er die meisten Ele- 
mente der Kaisermystik auf altorientalischen Ursprung zurückzuführen 
sucht: die Weltherrscheridee stamme aus Babylon, die Krönungs- 
zeremonien aus dem alten Ägypten; die Strahlenkrone leitet er von 
dem Himmelshut des babylonischen Sonnengottes her; die Sage vom 
Weltheiland wird an verschiedenen Stellen. des alten Orients und Okzi- 
dents nachgewiesen. Der Nachweis, daß die Dinge wirklich aus dem 
Orient entlehnt sind und nicht originale Neuschöpfungen der abend- 
ländischen Phantasie waren, ist freilich in den wenigsten Fällen mit 
völliger Sicherheit zu führen?). 


1) Kötzschke, R., Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters. 
Jena, Fischer, XIV, 626 S. 
2) Hellmann, S., Das Mittelalter bis zum Ausgange der Kreuzzüge. 
WIENRESeh, hrsg. v. L. M. Hartmann, Bd. 4]. 2. Aufl. Gotha, Perthes. 
398 


3) O man, C., A History of the art of war in the middle ages (378—1485). 
T. 1—2. 2. Aufl. London, Methuen. 

1) Kampers, F., Vom Werdegang der abendländischen Kaisermystik. 

6) Kampers, F., Roma aeterna und sancta dei ecclesia rei publicae 
Romanorum. Hist. Jahrb. d. Goerresgesellsch., 44, 24049, 


38 


B. Kapitel Il. N 
Frühzeit.. 


(Stimmin g.) 


Auf dem Gebiete der germanischen Vorgeschichte macht sich 
das Bestreben bemerkbar, die Ergebnisse der Ausgrabungen und der 
Einzelforschungen zu verarbeiten und zusammenzufassen. Dies ist 
das ausgesprochene Ziel der Darstellung von Wels.) Er gibt einen 
Überblick über die Geschichte der Germanen vom Homo Heidelbergen- 
sis bis zur Römerzeit. Dabei betont er mit besonderem Nachdruck 
die bodenständige Entwicklung der germanischen Kultur und die 
schöpferische Gestaltungskraft der Arier. Durch strenge Wissen- 
schaftlichkeit zeichnet sich das Buch von Wahle?) aus; er setzt an 
die Stelle der archäologischen Betrachtung, die bei den meisten 
Prähistorikern im Vordergrunde steht, die historische Behandlung des 
Stoffes. Indem er das Wirtschaftsleben, das Siedlungswesen, die Kunst. 
und das geistige Leben der verschiedenen Zeitalter in ihrer Abhängig- 
keit von den natürlichen Faktoren der Entwicklung schildert, 
bietet er eine umfassende prähistorische Kulturgeschichte des 
deutschen Volkes. Die Darstellung von Wenz?) hält sich mehr im 
- Rahmen der üblichen archäologischen Betrachtung. Nur im Vorüber- 
gehen sei. das prunkvoll ausgestattete, phantastische Werk von 
Fuhrmann’) erwähnt. Der Verfasser glaubt, die gesamte bisherige 
Sprach- und Geschichtsforschung und ihre Ergebnisse in Trümmer 
geschlagen und eine neue Welt aufgebaut zu haben; seine Methode ist 
völlig unwissenschaftlich’) Für die neuesten Ausgrabungen sei all- 
gemein auf den 16. Band des „M an n u s“ hingewiesen’). Hammer’), 
der in den Haufendörfern mit Gewanngemarkung die spezifisch 
deutschen Siedlungen sieht, will, den Spuren von Meitzen folgend, 
Wesen, Entstehung und Entwicklung der Germanendörfer aus den 
modernen Flurkarten nachweisen und so einen Beitrag zur älteren 
Siedlungsgeschichte der Germanen liefern, ohne jedoch den Versuch 


1) Wels, K. H., Die germanische Vorzeit. Ein Buch von heimischer 
Art und Entwicklung. Quelle u. Meyer 205 S, 86 Abb. 

2) Wahle, E.. Vorgeschichte des deutschen Volkes. Ein Grundriss 
Leipzig, Kabitz, 184 S. 

3) Wenz, G., Die germanische Welt. Einführung in die german. Alter- 
tumskunde u. Geisteswelt. Leipzig, Quelle u. Meyer. 

+) Fuhrmann, E., Das alte Europa. Versuch einer Gesch. der Ger- 
has 1. Bd. Das alte Europa. 2. Bd. Reiche des Ostens. Gotha, Auriga- 

erlag. 

5) Dopsch, A., Wirtschaftliche u. soziale Grundlagen der europäischen 
Kulturentwicklung aus d. Zeit von Caesar bis auf Karl d. Gr. Il. 2. verb. 
u. erweit. Auflage Wien, Seidel XVI, 615 S. 

6) Kossina, G., Zu meiner Ostgermanenkarte. Mannus 16, 160—175. 

7 Hammer, Ph., Kennzeichen und Veränderungen der ersten german. 
Ackerbausiedlungen mit besonderer Berücksichtigung des Elsaß. Elsaß- 
Lothr. Jahrb. 3, 105—35. 


39 


zu machen, seine durch Sachkritik gewonnenen Ergebnisse mit der 
schriftlichen Überlieferung in Einklang zu bringen ° ° 1°). H a r na ck?!) 
sucht mit HHfe neuer Quellen Licht auf die Persönlichkeit des Papstes 
Bonifatius II. (5380—32), den er für einen Germanen hält, fallen zu 
lassen und besonders seinen Anteil an dem Papstwahldekret Felix’ II. 
festzustellen. 


8) Müller, R., Die Burgunden am Niederrhein 410—443. Mundiacum- 
Mündt, eine Nibelungenfrage des Jülicher Landes. Ruhrblumen. Heimat- 


beilage zum Jülicher Kreisblatt. 
Schultz, W., Zeitrechnung und Weltordnung bei den Germanen. 


Mannus 16, '117—126. 

10) Bork, F., Zur Entstehungsgeschichte des Futharc. Mannus 16, 
127—137. 

11) Harnack, A. von, Der erste deutsche Papst (Bonifatius I. 530—32} 
und die letzten Dekrete d. röm. Senates. Sb. d. Berliner Akad. d. Wiss. 
Phil.-Hist. Abt. 1924, no. 4. | 


B. Kapitel IM. 


Das F rankenreich. 


(Stimming.) 


1. Quellen. In der Abteilung Concilia der Monumenta Germa- 
niae ist nach langer Pause ein neuer Band erschienen. Er enthält die 
Libri Carolini!) jene Streitschrift, die 789—91 im Auftrage Karls 
des Großen gegen die Beschlüsse des zweiten nicänischen Konzils 
über die Bilderfrage abgefaßt worden ist. Der belgische Gelehrte 
Ganshof?) wendet sich gegen das ungünstige Urteil, welches Hal- 
phen 1923 in seiner Ausgabe über den Quellenwert der Vita Caroli 
Magni ausgesprochen hatte, und hebt die Zuverlässigkeit und die 
Glaubwürdigkeit Einhards hervor: nur bei der Darstellung der kriege- 
rischen Ereignisse habe jener aus zweiter Hand geschöpft, dagegen 
verdienten die Ausführungen über die Persönlichkeit und die politische 
Wirksamkeit Karls, da diese auf Grund eigener Beobachtungen ge- 
macht seien, volles Vertrauen. Die Erörterungen über das Capitulare 
de villis wollen kein Ende nehmen. Tayler’) stimmt zwar der 
These Mayers (vgl. Jahrg. 6, S. 51, n. 7), daß in dem Kapitular ältere 
Wirtschaftsgesetze verwertet worden seien, zu, erhebt aber gegen dic 
Methode Mayers Bedenken und lehnt dessen Einzelergebnisse ab.) °’) 


1) Monumenta Germaniae historica. Legum sectio 3. Concilia Tom. IH 
Suppl.: Libri Carolini sive Caroli Magni Capitulare de imaginibus. Rec. 
Bastgen. Hannover, Hahn. VII, 231 S 

2) Ganshof, F. L., Notes critiques sur Eginhard, biographe de Charle- 
magne. Revue Belge de Phil. et d'Histoire 3, 725—58. 

3) Tayler, The unity of the „Capitulare de villis“. Revue Belge de 
Philologie et d‘Histoire. 3, 7359—68. 

a) Sommer, H., Burgund. und fränk. Sagen in Gregors von Tours. 
Darstellung der Burgunderkriege. (Auszug). Greifswald. Diss. 1923. 

5 Hümpiner, W., Eine unbeachtete Interpolation in Reginos vor 
Prüm Chronik. Histor. Jahrb. d. Görresges. 44, 65—72. 


40 


2. Darstellungen. Die wissenschaftliche Festgabe zum 1200jäh- 
rigen Jubiläum des Erzbistums München-Freising®) enthält eine statt. 
liche Anzahl bemerkenswerter Aufsätze. Von besonderem Interesse 
sind die Abhandlungen über die Christianisierung und die älteste kirch- 
liche Organisation Südbayerns. Mit der christlichen Mission in Deutsch- 
land beschäftigt sich auch A bels.) Er verficht die Ansicht, daß nicht 
der heilige Wiho, der erste Bischof des um 783 von Karl dem Großen 
gegründeten Bistums Osnabrück, das Emsland bekehrt habe, sondern 
Ludger von Münster, zu dessen Diözese das Gebiet gehörte. Phi- 
lippi?) prüft an der Hand der spärlichen Überlieferung, besonders. 
der drei Fassungen der Vita Lebwini, die sächsischen Verhältnisse nach 
der fränkischen Eroberung und entwickelt in einem weiteren Zu- 
sammenhange seine bereits früher vorgetragenen Anschauungen über 
die sächsischen Gografen. Während die Sachsen nach ihrer Unter-. 
werfung die Kriegshoheit und das Recht der auswärtigen Politik ver- 
loren und auf die allgemeine Volksversammlung verzichten mußten, 
blieb die alte Gauverfiassung unangetastet. Die von den Franken ein- 
gesetzten Grafen hatten nur die Justiz über die fränkischen Ansiedler 
neben dem Aufgebot, der Verwaltung der Königsgüter und der Ge- 
richtsbarkeit nach Königsrecht; für die Sachsen blieben die vom Volke 
gewählten Gografen Richter. Schiller-Krämer?) will in ihrer 
Giessener Dissertation die vielumstrittene Frage beantworten, wleweit 
der Grundbesitz in der Karolingerzeit bäuerlich oder grundherrlich 
war, und wie es um die Größenverhältnisse des Grundeigentums stand. 
Als Quelle dienten der Verfasserin die Traditionen der deutschen 
Hochstifter und Klöster, von denen jedoch die wichtigen Fuldaer 
Traditionen nicht mit herangezogen worden sind. Die richtige stati- 
stische Verwertung dieser Quellen ist nicht leicht; auch gegen die 
Methode der Verfasserin, die sich eng an Caro anschließt, ließen sich 
an verschiedenen Stellen Einwendungen erheben. S-K. kommt zu dem: 
Ergebnis, daß der größte Teil des freien ländlichen Grundeigentums 
grundherrlichen Charakter trug; freie bäuerliche Einhufenbesitzer 
ließen sich nirgends nachweisen.) Gougaud!!) beschäftigt sich 
im Rahmen seiner Untersuchung über apokryphe Gebete des Mittel- 
alters mit dem angeblichen Gebete Karls des Großen, das sehr weite 


e) Wissenschafitl. Festgabe zum 1200 iähr. Jubiläum des heil. Korbinian. 
Hrsg. v. Jos. Schlecht. München, O. Huber. XVI, 552 S. 

7) Abels, H., Die Christianisierung des Emslandes. Eine kirchen- 
gesch. Untersuchung. Osnabrück, Schöning 59 S. 

al Philippi, F., Die UmwandlIng. d. Verhältnisse Sachsens durch die 

fränk. Eroberg. Histor. Zt. 129, 189—232. 

®) Schiller-Krämer, E., Organisation und Größenverhältnisse des 
ländlichen Grundbesitzes in der Karolingerzeit. - Vierteljahrsschr. f. Sozial- 
u. Wirtschaftsgesch. 17, 247— 93. 

10) Lot, F., La grandeur des fiscs á l‘époque carolingienne Revue 
„Belge de Philologie et d'Histoire 3, 51—57. 

1) Gougaud, L., La prière de Charlemagne et les pièces apocryphes. 
apparantées. Revue dhist. ecclesiastique 20, 211 ff. 


41 


Verbreitung besaß. Seelmann?”) glaubt auf Grund sprachlicher 
Kriterien die Wallonen als die Nachkommen der von Karl dem Großen 
deportierten Sachsen in Anspruch nehmen zu können. Auf dem 
Hintergrunde der politischen, kirchlichen und kulturellen Verhältnisse 
der Zeit Ludwigs des Prommen entwirft B ez old) ein reizvolles 
Bild von Walafried Strabo und der geistig hochbedeutenden Kaiserin 
Judith. Als Prinzenerzieher des iungen Karl des Kahlen und als Hof- 
poet stand Walafrid in engster Beziehung zu dem karolingischen 
Kaiserhaus, dem er Zeit seines Lebens in Treue anhing. Aus dem 
Dichter wurde im Laufe der Zeit ein gelehrter Theologe. Im Laufe 
der Darstellung fallen interessante Streiflichter auf die musikalische 
Kultur der Zeit und auf die Einführung des Orgelbaus in Deutsch- 
land.) 


12) Ser KH Wiederauffindung der von Karl d. Gr. Se 
Sachsen (in d. Ardennen), Niederdeutsches Jahrb. 50, 45—53. 
Bezold, F. v., Kaiserin Judith u. ihr Dichter Walahfried Strabo. 
Histor. Zt. 130, 377—439. 
u) Munding, E., Abtbischof Waldo, der Begründer des goldenen 
Zeitalters der Reichenau. Benedictin. Monatsschr. 6, 248—59. 


B. Kapitel IV. 


Die Kaiserzeit. 
(Stimming.) 


1. Allgemeines. Bühler!) läßt seinem „Frankenreiche“ (vgl. 
Jahrg. 6, S. 49 u. 78) eine „Deutsche Geschichte“ folgen, deren 
erster Band die Zeit der sächsischen und salischen Kaiser umfaßt. Sie 
besteht wie das erste Werk aus der Aneinanderreihung von Über- 
setzungen sorgfältig ausgewählter Quellenstücke, die einen unmittel- 
baren Eindruck von den vergangenen Zeiten vermitteln sollen. 
Schäfer?) stellt in einem kurzen Aufsatze die Entwicklung des 
Königswahlrechts und dessen Wirkung in Deutschland im Vergleich zu 
anderen Ländern unter politischen Gesichtspunkten dar. Kienast?) 
behandelt im 1. Teile seiner auf drei Bände berechneten Darstellung 
die Bündnis-, Sold- und Lehnsverträge deutscher Fürsten mit England 
und Frankreich, in denen er Vorläufer der modernen Subsidienver- 
träge sieht, im Rahmen der wechselnden politischen Konstellationen 
von 1066 bis zum Anfange des 13. Jahrhunderts. Ein reiches, weit- 


1) Bühler, L, Die sächs. u. salischen Kaiser. Nach zeitgenöss. Quellen. 
Mit 16 Bildertaf. Leipzig, Inselverlag. 477 S. 

2} Schäfer, D., Dtl. als Wahlreich. Preuss. Jahrb. 196, 24741. 

3) Schmeidler, B., Die Stellung Frankens im Gefüge des alten 
dt. Reiches bis ins 13. Jahrh. Der Sonntagskurier. Beilage d Fränk Kuriers. 
Jahrg. 6. (Vgl. Hist. Zeitschr. 132, 364). 

a) Kienast, W., Die deutschen Fürsten im Dienste der Westmächte 
bis zum Tode Philipps d. Schönen von Frankreich. I. Bijdragen van het In- 
stitut voor middeleuwsche geschiedenis d. Un. Utrecht, no. 10, 222 S. 


42 


zerstreutes Material ist gesammelt und verarbeitet worden. Das 
Hauptinteresse aber wird erst der dritte systematische Teil bean- 
spruchen, der unter anderem die verfassungsgeschichtlichen Ergebnisse 
enthalten soll.’) 


2. Die Ottonen. Schramm‘) schildert in einem längeren 
'Aufsatze, der wohl seiner ungedruckten Heidelberger Dissertation?) 
entnommen wurde, die Beziehungen zwischen Rom, Byzanz und dem 
deutschen Kaisertum vornehmlich in der Zeit Ottos IL Mit Recht 
wird auf die achtungsgebietende Stellung der orientalischen Gross- 
macht, deren Bedeutung nicht immer gebührend beachtet und ge- 
würdigt worden ist, hingewiesen. Im Mittelpunkt der Untersuchung 
stehen die römischen Ereignisse der Jahre 996—997, bei denen be- 
sonders die Rolle des byzantinischen Gesandten Leo in ein helles Licht 
gerückt wird. Über die Geschichtswerke des Klosters S. Michele di 
Chiusa, den Gründungsbericht (983—87) und die Lebensbeschreibung 
des Abtes Benedikt, die in den Monumenta Germaniae (SS. 12 197 ff.) 
abgedruckt sind, veröffentlicht Elisabeth Abegg eine kleine Studie 
aus dem Nachlass des t Gerhard Schwarz?). Aus den von Ho f- 
meister?) publizierten und erläuterten beiden Predigten über den 
heiligen Konstantius aus dem neapolitanischen Severinuskloster lassen 
sich einige interessante Nachrichten über den Sarazenenfeldzug von 
991 gegen Capri und Amalfi entnehmen. 


3. Die Salier. Im Anschluß an seine neue Ausgabe des Gre- 
gorregisters beleuchtet Caspar) die Persönlichkeit Gregors VII, 
ohne ein abgerundetes Charakterbild geben zu wollen. Durch die 
enge Vertrautheit mit den Quellen hat der Verfasser dem vielbe- 
handelten Stoff neue Seiten abzugewinnen gewußt. Er weist vor 
allem auf das Mönchische im Wesen des großen Reformpapstes, der 
bewußt an den Mönchspapst Gregor I. angeknüpft habe, hin und unter- 
streicht das Primitive in seinem Wesen, das in den Registerbriefen 
sowohl im Sinne des Unvollkommenen wie auch im Sinne der Wucht 
des Ursprünglichen hervortrete. In einem Anhang wendet sich Caspar 
gegen die einseitig klerikalen und quellenkritisch vielfach unzuläng- 
lichen Arbeiten Fliche‘s über Gregor. Dieser regsame französische 
Autor hat im Berichtsjahr wieder zwei neue Arbeiten über die Ge- 


- 


5) Schünemann, K., Ungarische Hilfsvölker in d Literatur d. dten. 
~ Mittelalters. Ungar. Jahrb. 4, 99—115. 


6) Schramm, P. E., Kaiser, Basileus u. Papst in d. Zeit d. Ottonen. 
Histor. Zt. 129, 42475. 


7) Schramm, P. E., Studien zur Gesch. Kaiser Ottos III. Heidelberg. 
Diss. 1923. [Masch. Schr.] 

8) Schwarz, G, u Abegg, E., Das Kloster St. Michele della Chiusa 
und seine Gesch.-Schreibung. Neues Archiv 45, 23555. 


°) Hofmeister, A„ Aus Capri u. Amalfi. Der Sermo de virtute u. 
der Sermo de transitu S. Constanti u. der Sarazenenzug von 991. Münchener 
Museum f. Philologie des Mittelalters 4, 235—72. 


10) Caspar, E., Gregor VII. in seinen Briefen, Hist. Zt. 130, 1—30. 
43 


schichte des Investiturstreits veröffentlicht: die eine,'!) ein zusammen- 
fassendes Werk über die gregorianische Reform, lag mir noch nicht 

or; die zweite”), ein längerer Aufsatz über Papst Viktor III. gibt 
eine kritische Würdigung der Persönlichkeit des mönchischen Papstes. 
und seines Pontifikates; sie deckt sich inhaltlich mit der 1923 erschic- 
nenen Untersuchung Fliches über die Krise in der Reform während 
der Jahre 1085—88 (vgl. Jahrg. 6, S. 54, No. 16).) Eine interessante: 
Parallele zum Investiturstreit in Deutschland bieten die gleichzeitigen. 
Vorgänge in Frankreich, denen die Darstellung von Schwarz") ge- 
widmet ist. Während in Deutschland der Kampf im Zentrum zwischen: 
Kaisertum und Papsttum ausgefochten wurde, spielte er sich in Frank- 
reich auf verschiedenen Schauplätzen ab. Dadurch wurde der Kirche 
ihre Aufgabe sehr erleichtert. Trotzdem ließ sich auch hier das strenge 
eregorianische Reformprogramm nicht durchführen. Urban Il. sah. 
sich im Interesse seines Kreuzzugsplanes zum Entgegenkommen ge- 
nötigt:. er duldete die Praxis, die sich in Frankreich herausgebildet 
hatte, daß der König zwar auf die Investitur mit Ring und Stab ver- 
zichtete, aber den Gewählten in das Bistumsgut einsetzte; und daß 
die Weihe nach der Approbation und Belehnung erfolgte. In Frank- 
reich bildete sich also ohne generelle Regelung ein Usus heraus, wie 
er später für England durch das Londoner Abkommen und für Deutsch- 
land durch das Wormser Konkordat in ähnlicher Weise vertraglich 
sanktioniert wurde. Der EinfluB des Königs auf die Besetzung der 
Bistümer, der vor der Wahl einsetzte, erfuhr in keinem der drei Länder 
eine wesentliche Beeinträchtigung. Einen Beträg zur Hirsauer Re- 
form liefert Stenzel!) Er untersucht die Beziehungen, die seit 
den achtziger Jahren des 11. Jahrhunderts zwischen dem berühmten 
Reformkloster und dem Elsaß bestanden. Die einzige Hirsauer Toch- 
tergründung war das gegen 1130 gestiftete Kloster Alspach bei Kay- 
sersberg, das 1282 in die Hände der Minoriten geriet. Das Reform- 
papsttum verfolgte nicht nur innerkirchliche Ziele, sondern: hatte auch 
die Union mit der griechischen Kirche und die Befreiung des heiligen 
Landes auf seinem Programm. Der erste Versuch einer Vereinigung 
der morgenländischen und der abendländischen Kirche geht, wie 
Holtzmann‘*) dartut, auf Alexander II. zurück; Gregor VII. nahm 


11) Fliche, A., La reforme grégorienne. T. 1. La formation des idées 
EE (= Specilegium sacrum Lovaviense 6). Paris, Champion XI. 


22) Fliche, A.. Le pontificat de Victoire UE (1086-87). Revue 
d’hist. ecclesiastique 28, 337—412. 


13) Gillis, F. M., Matilda, countess of Tuscany. The catholic historical 
ıeview. 4, 234—445. l 


3) Schwarz, W., D. Investiturstreit in Frankreich. Zt. f. Kirchen- 
gesch. 42, 255—328 u. 43, 92—150. 


15) Stenzel, K., Hirsau u. Alspach. Ein Beitrag zur Gesch. der Hir- 
sauer Reform. Zeitschr. f. Gesch. d. Oberrheins 78, 25—62. 


1) Holtzmann, W., Studien zur Orientpolitik d. Reformpapsttums u. 
zur Entstehung des 1. Kreuzzugs. Hist. Viertelischr. 22, 167—99. 


44 


die Bestrebungen wieder auf, und auch der Gegenpapst Clemens Ill. 
ging dem Unionsgedanken mit Eifer nach. Urban II. aber suchte die 
Bestrebungen Clemens‘ III. zu durchkreuzen, weil er fürchten mußte, 
daß ein Erfolg des Gegenpapstes seine Stellung gefährden würde. 
Später ist er selbst dem Beispiel seines Gegners gefolgt, doch ist es 
nach der Meinung Holtzmanns nicht richtig, daß der Unionsgedanke 
einen wesentlichen Antrieb zum ersten Kreuzzuge gegeben habe”). 
Eine neue nützliche und handliche Ausgabe der Gesta Francorum, jener | 
von Sybel so hoch bewerteten Quelle zur Geschichte des 1. Kreuzzuges, 
bietet Beatrice Leen Das Büchlein ist in erster Linie für den aka- 
demischen Gebrauch bestimmt. Dem Textabdruck sind kritische Vor- 
.bemerkungen, die vornehmlich auf den Forschungen von Hagenmeyer 
beruhen, und eine kurze Darstellung: des I. Kreuzzuges vorausge- 
schick). ) 

A Die Hohenstaufen. Quellen. Hofmeister?) er- 
setzt die veraltete Ausgabe der Vita des Bischofs Otto von Bamberg 
in den Monumenta Germaniae (SS Bd. 12) durch eine neue vornehm- 
lich auf den kritischen Vorarbeiten Haags beruhende Edition. Eine 
ausführliche Einleitung gibt über die Entstehungszeit, die Überlieferung 
und den Quellenwert des in Prüfening entstandenen Geschichtswerkes 
Aufschluß. Aus dem bayrischen Kloster Prüfening stammt auch die 
von Leidinger im Codex Monacensis lat. no. 12600 neu aufgefundene 
Geschichtsquelle. Sie stellt, wie B a e th g e n?t) nachweist, einen Aus- 
zug aus den Regensburger Annalen, die von 1130 an in Prüfening selbst- 
ständig fortgesetzt wurden, dar. Das Ergebnis der text- und stilkri- 
tischen Untersuchung K aufm an n's?) über das Tagebuch des Ta- 
geno ist, daß der von Aventin überlieferte Bericht des Passauer Dom- 
herren über den Kreuzzug Friedrich Barbarossas nur Bruchstücke 
des verlorenen Originales in stark überarbeiteter Form enthalte. Illig”) 
veröffentlicht ein Fragment der sächsischen Weltchronik in ober- 
deutscher Sprache, das wahrscheinlich im 15. Jahrhundert in Salzburg 


17) Leib, B., Rome, Kiew et Byzance à la fin du XIe siècle. Rapports 
religieux des Latins et Gréco-Russes sous le pontificat d’Urbain II (1088—99). 
Paris, Picard. XXXII, 356 S. [Lag mir noch nicht vor.] 

18) L ees, B. A., Anonymi Gesta Francorum et aliorum Hierosolymita- 
norum. Oxford, Clarendon Press. XXXI, 156 S. - 

19) Rolland, C. G., Fragment d'une oeuvre de Sigebert de Gembloux. 
Bulletin de la commission royale d'histoire (Brüssel) 86, 217—28. 

‘ 2) Die Prüfeninger Vita d. Bischofs Otto von Bamberg. Hrsg. von Ad. 
Hofmeister, Greifswald, Bamberg, LX, 117 S. 

21) Baethgen, F., Eine neue Rezension d Regensburger Annalen. 
Neues Archiv 45, 25669. 

22) Kaufmann, M., Das Tagebuch des Tageno. Krit. Untersuchung 
d. Überlieferung einer Quelle zur Gesch. des Kreuzzugs Friedrichs I. Würzburg, 
C. I. Becker, 156 S. 

22) Illig, U., Das Salzburger Fragment der sächs. Weltchronik, unters. 
u. hggb. Graz, Leuschner u. Lubensky. 53 S. [= Veröff. d. hist. Seminars d. 
Univers. Graz Il] | 


45 


entstanden ist. Müller”) und Möllenberg?) fechten eine er- 
bitterte Kontroverse über das mittelalterliche Staudbild auf dem alten 
Markt zu Magdeburg aus: während Möllenberg nachzuweisen sucht, 
daß Karl der Große dargestellt sein solle, nimmt Müller wohl mit Recht 
an, daß das Denkmal im 13. Jahrhundert zu Ehren Kaiser Ottos Il., des 
angeblichen Begründers des Magdeburger. Stadtrechtes, errichtet 
worden sei. Von den Straßburger Regesten ist der erste Teil des 2. 
Bandes, dessen Bearbeitung in den Händen von Hessel und 
Krebs?%) liegt, erschienen: er reicht bis zum Jahre i1244. 


Darstellungen. Wehrmann’”) gibt eine kurze quellen- 
mäßige Darstellung der Missionstätigkeit des Bischofs Otto von Bam- 
berg in Pommern und fügt seinen Ausführungen ein Verzeichnis 
der Literatur über den Apostel der Pommern bei. Ham p e’) 
läßt seinem Essay über Arnold von Brescia, den er für das 
Sammelwerk „Kämpfer“ geschrieben hat, quellenkritische Erörterungen 
folgen, die sich besonders mit den letzten Schicksalen des unglücklichen 
Brescianers befassen. Güterbock?”) erörtert die Frage, wann der 
bedeutungsvolle Abfall Tortonas vom Lombardenbunde erfolgt sei. 
In seiner scharfsinnigen Untersuchung weist er nach, daß von den 
beiden überlieferten Fassungen des Vertrages, der zwischen Barba- 
rossa und der Stadt abgeschlossen wurde, die bisher meist für die 
jünger gehaltene tatsächlich die ältere sei und im März des Jahres 1176 
‘entstanden sein müsse, während die andere aus dem Winter 1176/77 
stamme und das endgültige Vertragsinstrument darstelle. Derselbe 
Verfasser?) entnimmt der im Jahre 1916 aufgefundenen Urkunde 
Friedrichs I. für einen Bürger von Brescia vom 21. Oktober 1158 
Nachrichten über den Aufenthalt des Kaisers auf der Burg Rivoli. 
K e h r°!) beleuchtet mit Hilfe ungedruckter und wenig beachteter Ur- 
kunden die Haltung Venedigs zum Reiche des Schismas von 1160 bis 
1177. Von lebhaftem methodischen Interesse ist die feinsinnige Studie 
des gleichen Autors?) über Papst Gregor VIII, der vor seiner Erhe- 


24) Müller, E., Kaiser Otto II. der Rote auf dem Markt zu Magdeburg. 
E. rechtsgeschichtl. Untersuchg. Korrespondenzblatt d. Gesamtvereins 72, 46 
bis 58. — Antwort von Möllenberg, ebenda. Sp. 143—54. Replik von Müller, 
ebenda. Sp. 15461. 

25) Möllenberg, W., Das Reiterstandbild auf dem Alten Markt zu 
Magdeburg (= Neujahrsbll. d Hist. Komm. f. d. Prov. Sachsen 45). Magdeb,., 
Holtermann. 36 S. 10 Abb. S 

26) Regesten der Bischöfe von Straßburg. Hrsg. v. A. Hesselu.M. 
Krebs. Bd. 2. 1. (1202—44). Innsbruck Univers. Verl. Wagner. 

27) Wehrmann, M., Die Lehr- u. Predigttätigkeit des Bischofs Otto 
von Bamberg in Pommern. Baltische Studien. N. F. Bd. 26, 157—89. . 

2) Hampe, K., Zur Geschichte Arnolds v. Brescia. Hist. Zt. 130, 58-69. 

SEI Güterbock, F., Tortonas Abfall vom Lombardenbund. Eine 
diplomat. Untersuchg. Neues Archiv 45, 306--59. 

Güterbock, E, Barbarossa auf der Burg Rivoli. Ein Beitrag zur 
Paßpolitik. Neues Archiv 45, 367—73. 

3) Kehr, P., Kaiser Friedrich I. und Venedig während des Schismas. 
Quellen u. Forsch. aus italien. Archiven 17, 23149. 

32) Kehr, P., Papst Gregor VIII. als Ordensgründer. Miscellanea Fr. 
Ehrle 2, 248—75. 


46 


bung auf den Stuhl des heiligen Petrus päpstlicher Kanzler und Kar- 
dinalpresbyter war und den Namen Albert von Morra führte. Dieser 
Albert entwarf im Jahre 1187 ein Statut für die Kirchen S. Andrea in 
Benevent und S. Trinità di Palazzolo, dessen Wortlaut Kehr mit an- 
deren gleichzeitigen Augustinerchorherrenregeln vergleicht. Aus den Ab- 
weichungen zieht er Rückschlüsse auf das Wesen und den Charakter des 
sonst wenig bekannten Papstes, dessen Pontifikat nur wenige Monate ` 
dauerte. Besonders tritt die asketische Natur Gregors, sein hoher 
sittlicher Ernst und seine nachsichtige Güte hervor”). * °). Als 
schöpferischer Staatsmann großen Stils erscheint Hermann von Salza 
in der neuen Darstellung Ca sp ar s*). Aus der Ferne leitete er mit 
sicherer Hand das große Unternehmen des Deutschen Ritterordens in 
Preussen. Mit politischer Meisterschaft wußte er sich sowohl vom 
Kaiser wie auch vom Papst das größtmögliche Maß von Handlungs- 
freiheit für die beabsichtigte territoriale Gründung zu verschaffen, wo- 
bei er die Erfahrungen, die der Deutsche Orden im ungarischen Burzen- 
lande gemacht hatte, verwertete. Für die Organisation des Ordens- 
staates dienten ihm weder die lehnsrechtlich aufgebauten Kreuz- 
fahrerstaaten noch der sizilische Staat als Muster und Vorbild. Der 
Beamtenstaat in Preußen war die eigenste Schöpfung Hermanns 
von Salza. 


3) Pauksch. M., Der Minnesänger Kaiser Heinrich. Braunes Beitr. 
48, 120—23. 
ee Se Norgate, K., Richard the Lion-hearted. London, Macmillan. VIII, 

3) Ruch, W. Die Besetzung der sizil. Bistümer unter Friedrich Il. 
Heidelberg Diss. 1923. 

s) Caspar, E., Hermann v. Salza u. die Gründung des Deutschordens- 
staates in Preußen. Tübingen, Mohr. VIII, 107 S. 


B. Kapitel V. 


Verfassungsgeschichte. 


(Stimming.) 


1. Quellen. Im Mittelpunkt der Forschung über die Volks- 
rechte steht immer noch die Lex Salica. Die text- und stilkritischen 
Untersuchungen F. Beyerle‘s!) bringen neue Beiträge zur Analyse 
des Gesetzbuches, dessen ursprünglicher Kern bis in die Karolingerzeit 
fortlaufend durch Zusätze und Überarbeitungen ‘erweitert und ver- 
ändert worden ist. Deutlich heben sich nach Form und Stil die beiden 
Normtypen von einander ab: die Weistümer und die Satzungen. B. 
hält die Bußweistümer für die ältesten Bestandteile; ihnen schlossen 
sich später die Konstitutionen an. Überall zeigen sich Spuren der 


1) Beyerle, F., Über Normtypen u. Erweiterungen der Lex Salica. 
Zt. d. Savigny-Stiftg. f. Rechtsgesch. G. A. 44, 21661. 


47 


ununterbrochenen Fortentwicklung des Rechts. Goldmann?) be- 
müht sich um die Deutung umstrittener Rechtsausdrücke der Lex 
Salica. Wie die Krammer‘sche Ausgabe der Lex Salica für die Monu- 
menta Germaniae hat nun die Schwind’sche Textausgabe der Lex 
Baiuvariorum vor ihrem Erscheinen in der Öffentlichkeit eine ver- 
nichtende Kritik erfahren. Kr u s ch?) hält die Textgestaltung Schwinds 
für verfehlt und ist der Ansicht, daß man zu den textkritischen Grund- 
lagen der Merkel‘schen Ausgabe zurückkehren müsse. Nach ausführ- 
lichen Erörterungen über die Überlieferung, die auf 30 Handschriften 
beruht, wendet K. sich der Frage nach der Entstehung des Gesetz- 
buches zu. Es stammt nach seiner Meinung aus der Zeit kurz nach 
dem zweiten Feldzuge Karl Martells gegen Bayern im Jahre 728, als 
die fränkische Macht in Bayern auf ihrem Höhepunkte stand. Damals 
sei mit Zustimmung der Großen und des Volkes ein Edikt König Theu- 
derichs IV. erlassen worden. An diesen Kern habe sich die spätere 
bayrische Gestzgebung ankristallisiertt.e Die Hauptquelle des bayri- 
schen Gesetzes sei die Lex Alamannorum gewesen. Von dieser 
müsse aber zuerst eine brauchbare Ausgabe geschaffen werden, ehe 
man über die Lex Baiuvariorum völlige Klarheit gewinnen könne, denn 
die Lehmann’sche Edition sei ebenso unzureichend wie Sohm’s Ausgabe 
der Lex Ribuaria. 


Juncker°) untersucht und analysiert die wenig bekannte so- 
genannte Berliner Dekretalensammlung des 12. Jahrhunderts. Sie ist 
wahrscheinlich italienischer Herkunft und muß, nach ihrem Inhalte zu 
urteilen — die letzten Stücke stammen aus der Zeit Papst Alexan- 
ders HI. — um 1180 entstanden sein. 


Hugelmann‘) weist auf den Einfluß der EE des 
vierten Lateranischen Konzils auf den Sachsenspiegel hin. Eikes An- 
schauung, daß der deutsche König durch seine Wahl zugleich kaiser- 
liche Rechte erworben habe, glaubt er auf den Einfluß Innocenz’ HI., 
der auf dem Konzil die Wahl Friedrichs II. als Kaiserwahl bestätigte, 
zurückführen zu können. Auch die Ehegesetzgebung des Konzils scheint 
im Sachsenspiegel berücksichtigt worden zu sein. Dagegen machte sich 
Eike die Bestimmungen über die Bischofswahlen nicht zu eigen”) Wert- 


2%) Goldmann, E., Beiträge z. Gesch. d. fränkischen Rechts. 1. Wien 
u. Leipzig, Deutike. 62 S. 

3) Orben, H., La patrie de la ewa Francorum Chamavorum. Revue 
Belge de Philologie et d’Histoire 5, 317—19. 

a) Krusch, B., Die lex Bajuvariorum. Textgeschichte, Handschriften- 
kritik u. Entstehung. Mit 2 Anh.: lex Alamanorum et lex Ribuaria. Berlin, 
Weidmann III, 347 S. 

5) Juncker, J., Die Collectio Berolinensis. Ein Beitrag zur Gesch, d. 
kanon. Rechts im ausgehenden 12. Jahrh. Zeitschr. d. Savienystiftung f. Rechts- 
gesch. Kanon. Abt. 13, 284—426. 

a Hugelmann, K. G., Der Sachsenspiegel u. das vierte Lateranen- 
sische Konzil. Zt. d. Savignystiftung f. Rechtsgesch. K. A. 44, 4271—87. 

7?) Kisch, G., Zwei Sachsenspiegel-Vokabularien. Zeitschr. d. Savigny- 
stift. f. Rechtsgesch. Germ. Abt. 44, 3507—15. 


48 


a f Ee 


volle neue Aufschlüsse bringt Eckhard?) in seiner Göttinger Habilita- 
tionsschrift, die der Untersuchung des Deutschenspiegels gewidmet ist. 
E. hat besonders die wenig beachtete Giessener Handschrift mit großem 
Nutzen verwertet. Er stellt, auf Ficker aufbauend, fest, daß die Ver- 
fasser des Deutschenspiegels und des Schwabenspiegels nicht identisch 
seien, daß vielmehr der Deutschenspiegel ein Zwischenglied zwischen 
dem Sachsenspiegel und dem Schwabenspiegel darstelle. Der 
Deutschenspiegler benutzte eine oberdeutsche Übersetzung des 
Sachsenspiegels, die er zu einem neuen Rechtsbuche umzuarbeiten be- 
gann. Damit ist er scheinbar nicht fertig geworden. So ist der 
Deutschenspiegel als ein unfertiges und unausgeglichenes Werk auf uns 
gekommen; in buntem Durcheinander stehen überarbeitete Artikel des 
Sachsenspiegels und Stücke der oberdeutschen Übersetzung in wört- 
licher Wiedergabe, wie sie in dem unfertigen Manuskripte des Autors 
standen. Eigenwert haben nur die überarbeiteten Stellen. Dadurch 
daß er vom Schwabenspiegel benutzt wurde, hat der Deutschenspiegel 
Einfluß auf das Rechtsleben ausgeübt?). ` 


W erunsk yt?) polemisiert gegen die von Dopsch verfochtene 
These, daß das sogenannte österreichische Landrecht II eine Verord- 
nung König Ottokars II. von 1266 darstelle, also älter sei als das Land- 
recht I, indem er die Hauptargumente seines Gegners („furban und 
echt“; daß der österreichische Hochadel erst von König Rudolf die 
Niedergerichtsbarkeit auf seinen Grundherrschaften erhalten habe) als 
nicht stichhaltig nachzuweisen sucht. L oe scht). veröffentlicht den ` 
neu aufgefundenen Urtext des Kölner Dienstmannenrechts in lateini- - 
scher Sprache und stellt als den mutmaßlichen Verfasser den Ministe- 
rialen Antonius fest. Müller!) publiziert das älteste Ravensburger 
Stadtrecht aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Es beruht auf 
der Grundlage des Stadtfreiheitsprivilegs. König Rudolfs 1. aus dem 
Jahre 1278”). 

2. Frühzeit. Neue von Dopsch vertretene Anschauungen haben 
Mayer") veranlaßt, das Problem der Feldgemeinschaft der germa- 


8) Eckhardt, K. A., D. Deutschenspiegel, seine Entstehungsgesch. u. 
sein Verhältnis zum Sachsenspiegel. Weimar, Böhlau, 88 S. 

9) Stutz, U., Die Witzenhäuser Schwabenspiegelhandschr. Zeitschr. 
d. Savignystift. Í. Rechtsgesch. Germ. Abt. 44, 315—16. 

10) Werunsk y, E., Kritische Bemerkungen zur österreichischen Land- 
rechtsfrage. Archiv f. österreich. Gesch. 110, 371—413. 

t) Loesch, H. v., Das kürzere Kölner Dienstmannenrecht. Zeitschr. 
d. Savignystütung f. Rechtsgesch. G. A. 44, 298—307. 

12) Müller, K. O., Die ältesten Stadtrechte der Reichsstadt Ravens- 
berg nebst d. Waldseer Stadtrechtshandschr. und d. Satzungen d. Ravensberger 
u (= Oberschwäb. Stadtrechte 2.). Stuttgart, Kohlhammer, VII; 
13) Oppermann, O., Opmerkingen over hollandsche stadtrechten 
der 13. eeuw. Met een aanhangsel ower de wording der legende van St. 
Jeroen. Utrecht, Instituut voor middeleeuwsche geschiedenis. 38 S. [Vgl. 
Zeitschr. d. Savignystift. f. Rechtsgesch. Germ. Abt. 44, 465]. 

1) Mayer, E., Germanische Geschlechtsverbände u. d. Problem der 
Feldgemeinschaft. Zt d. Savignystiftg. f. Rechtsgesch. G. A. Bd. 44, 30--113. 


+ 49 


nischen Geschlechtsverbände erneut einer gründlichen Untersuchung 
zu unterziehen. Hierzu hat M. bisher wenig beachtete niederländische 
und niederdeutsche Quellen, die freilich aus viel spätereı Zeit stammen, 
herangezogen. Er kommt zu dem Ergebnis, daß die Ansiedlung der 
Germanen nach Geschlechtsverbänden unter Leitung des Geschlechts- 
ältesten stattgefunden habe; ein Agrarkommunismus habe jedoch nie- 
mals bestanden, wohl aber vor der Niederlassung ein Herdenkommu- 
nismus. Indem M. annimmt, daß ein guter Teil der späteren adeligen 
Grundherrschaften aus dem Grundeigentum und den Rechten des Ge- 
schlechtsältesten und seiner Rechtsnachfolger entstanden sei, nähert 
er sich den Ansichten Viktor Ernsts. Schröder") weist nach, 
daß Herzog kein urgermanisches Wort gewesen sei, sondern bei den 
Goten als Kontrafaktur zu dem griechischen strategös entstanden 
sei; das Wort furisto habe lange mit hêristo in Rivalität gestanden 
und sei erst im 12. Jahrhundert zum festen Begriff für Fürst geworden. 
Die Comites provinciarum der Goten waren —- nach den Ausführungen 
von L. Schmid tt?) — Gerichts- und Verwaltungsbeamte für die nicht 
mobilisiertten Goten neben den römischen Iudices provinciarum; mili- 
tärische Kommandogewalt besaßen sie nicht. Lediglich zivile Comites. 
gab es auch in den Städten, während in den Grenzprovinzen Militär- 
statthalter ihres Amtes walteten. 


Das Reich. Lintze!’) untersucht die verfassungsrechtliche 
Stellung und politische Bedeutung der deutschen Hoftage in den ersten 
anderthalb Jahrhunderten des Reiches. Es gab neben kleineren Collo- 
- quia familiaria Reichshoftage und Landeshoftage, die Öffentlich ange- 
sagt wurden. Eine Abgrenzung der Kompetenz beider gab es nicht: 
die Reichshoftage waren Vereinigungen.der Stammeshoftage und wur- 
den aus politischen Gründen nach Zeit und Gelegenheit zusammen- 
gerufen. Es gab nur ein Beratungsrecht des Hoftages, kein Zustim- 
mungsrecht. Wie weit der König dem Rate der Großen folgte, war 
im wesentlichen eine Machtirage. Bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts 
war der König stark genug, um fast immer seinen Willen durchzu- 
setzen.) Schulte?) schildert den Hergang und die Bedeutung der 
Aachener Königskrönungen in chronologischer Reihenfolge bis zum 
Jahre 1531 mit zahlreichen verfassungsgeschichtlichen Ausblicken. In 
den Vorgängen spiegelt sich „ein großer Teil der Tragik des Deutschen 


15) Schröder, Edw., „Herzog“ u. „Fürst“. Über Aufkommen u. Be- 
sul zweier Rechtswörter. Zt. d. Savignystiftg. f. Rechtsgesch. G. A. 44, 

` 16) Schmidt, L., Die comites Gothorum. Ein Kapitel zur ostgoth. 
Verfassungsgesch. Mitt. d. Inst. f. österr. Geschichtsforsch. 40, 127—34. 


1) Lintzel, M., Die Beschlüsse d. dten. Hoftage von 911—1056. Berl... 
Ebering IV, 159 S. 
l 18) Brein, J. A., Mittelalterliche Anschauungen über das staatsrecht- 
liche Verhältnis zwischen dem ost- u. weström. Kaisertum. (Auszug.) Er- 
langen Diss. 1923. 1 

1) Schulte, A. Die Kaiser- und Königskrönungen in Aachen 813 bis. 
1531. Bonn, Schröder. 


30 


Reiches.“ Eichmann”) bietet eine Untersuchung und einen neuen 
Textabdruck der auf den Kardinalkämmerer Cencius zurückgehenden 
Kaiserkrönungsordnung von 1192—98. Stutz”*) macht das deutsche 
Königswahlrecht zum Gegenstand kritischer Finzeluntersuchungen. Er 
wendet sich gegen Oppermann, der behauptet hatte, daß im 11. bis 13. 
Jahrhundert die Inthronisation der Könige mehrfach vor der. Salbung 
vorgenommen worden sei, um die Unabhängigkeit der Staatsgewalt 
von der Kirche zum Ausdruck zu bringen, und verfolgt den achtzig- 
jährigen Rangstreit zwischen Mainz und Trier, der mit der endgültigen 
Eroberung der ersten Stimme durch Trier und dem Letzistimmrecht - 
des Mainzers in der Goldenen Bulle sein Ende fand. Heinze?) weist 
nach, daß das Reichsvikariat des sächsischen Kurfürsten erst durch die 
Goldene Bulle geschaffen worden sei und durch diese dauernde Gel- 
tung erhalten habe. Kutscha’s?) Abhandlung ist eine Art von 
äußerer Geschichte Schlesiens im Mittelalter. Das Lehnsband zum 
deutschen Reiche, das von Barbarossa erneuert wurde, lockerte sich 
in der folgenden Zeit immer mehr, sodaß Schlesien im späteren Mittel- 
alter so gut wie unabhängig war. 


Die Kirche. In dem Aufsatz Schell's*) ist die Feststellung 
bemerkenswert, daß die Einrichtung des mittelalterlichen Sendgerichtes 
in Berg von der evangelischen Kirche übernommen wurde. Die kurzen 
Ausführungen Kallen’s”) über den Einfluß des Säkularisationsge- 
dankens auf die mittelalterliche Kirchenverfassung erschöpien das 
interessante Thema bei weitem nicht. Förster“) schildert in 
skizzenhafter Kürze die Kölner Erzbischofswahlen bis zum Ende des 
13. Jahrhunderts. Wie in anderen Bistümern, so fand auch in Köln 
ein allmähliches Zurückweichen des Laienelements ınd die endliche 
Beschränkung des Wahlrechts auf das Domkapitel, die 1274 erreicht 
wurde, statt. Von einem modernen Kompetenzstreit zwischen der 
Pfarrgemeinde Geseke und dem preußischen Fiskus geht die Schrift 
Freisens”) aus. Er untersucht die Rechtststellung der Kirchen in 


2) Eichmann, E. Die Kaiserkrönungsordo Cencius II. Miscellanea 
Fr. Ehrle 2, 322—-37. 

21) Stutz, U., Zur Geschichte des deutschen Königswahlrechts im 
Mittelalter. Zeitschr. d. Savignystiftung f. Rechtsgesch. Germ. Abt. 44, 263-88. 

2) Heinze, E., Das kursächs. Reichsvikariatsrecht von der Goldenen 
Bulle. Histor. Viertelischr. 22, 1—27. 

22) Kutscha, A, Die Stellung. Schlesiens zum Deutschen Reich im 
Mittelalter. Berlin, Ebering. VIII, 80 S. (= Histor. Studien. H. 159). 

2a) Schell, O., Zur geschicht, Entwickl. des Sendgerichts, besonders 
im Bergischen. Zeitschr. d. Bergischen Gesch.-Ver. 34, 95—106. 

2) Kallen, G., Der Säkularisationsgedanke in seiner Auswirkung auf 
die Entwicklung der mittelalterl. Kirchenverfassung. Hist. Jahrb. der Görres- 
Gesellschaft 44, 197—210. 

2) Foerster, H., Die Cölner Bischofswahlen von d. Zugehörigkeit 
Cölns zum deutschen Reiche ab bis zur Ausbildung des ausschließl. Wahl- 
rechts d. Domkap. Elberfeld, Martini u. Grüttefien. 
js 2”) Freisen, Die Stadt Geseke im früheren Herzogtum Westfalen, das 
dortige Kanonissenstift und die dortigen beiden Pfarreien. Ein Beitrag zur 
Gesch. d. Eigenkirchenwesens. Würzburg, St. Rita-Verlag. 94 S. 


IT A 


l 


Geseke im Wandel der Zeiten; beide seien im Mittelalter dem dortigen 
Kanonissenstift inkorporiert gewesen; infolgedessen sei der preußische 
Fiskus als Rechtsnachfolger des säkularisierten Stifts unterhaltungs- 
pflichtig.. Hollnsteiner?) verfolgt die Rechtsentwicklung des 
österreichischen Chorherrenstifts St. Florian, das von Karl dem Großen 
dem Bistum Passau als Eigenkirche geschenkt wurde, cas sich aber 
im Laufe der Zeit, teilweise mit Hilfe gefälschter Urkunden, zu einer 
bevorrechteten Stellung und zur Unabhängigkeit vom bischöflichen 
Eigenkirchenherrn emporzuschwingen wußte. Durch verständnisvolle 
Verbindung von diplomatischer und rechtsgeschichtlicher Forschung ist 
H. zu klaren, wohlbegründeten Ergebnissen gelangt.) 


Territorien. Im Berichtsjahr sind zwei wertvolle Arbeiten über 
die Entstehung geistlicher Territorien erschienen. Beide behandeln 
Bistümer, die an der äußeren Peripherie des Reiches lagen, und deren 
Entwicklung daher von der der innerdeutschen Territorien mannigiach ` 
abweicht. Den Kern der Forschungen des weiland Marburger Privat- 
dozenten Salis,’) der 1914 den Heldentod für das Vaterland starb, 
bildet die Entstehung der weltlichen Herrschaft der Bischöfe von 
Kammin. Hier in dem pommernschen Bistume beruhte die Landeshoheit 
nicht auf der hohen Gerichtsbarkeit, sondern auf den Grundherr- 
schaften. Die Bischöfe erhielten im Jahre 1176 von den Herzögen von 
Pommern ein Exemptionsprivileg, durch welches sie in den Besitz fast 
sämtlicher dem Landesherren nach slavischem Rechte zustehender 
Hoheitsrechte und Einnahmen auf ihrem Grundeigentum kamen. Durch 
die nahezu völlige Ausschaltung der herzoglichen Gewalt auf den 
Grundherrschaften der Kamminer Kirche, die im Laufe des 13. Jahr- 
hunderts eine bedeutende Ausdehnung erhielten, wurden die Bischäfe 
gleich den geistlichen Fürsten des Deutschen Reiches zu Territorial- 
herren. Der rasche Aufstieg der Bischöfe von Lausanne zu Territorial- 
herren — das lehren die Ausführungen von H ü ffe r?!) -— ist wesent- 
lich dadurch mitbedingt, daß die Besitzungen des Bistums in einem 
Gebiete lagen, wo die Macht der Reichsgewalt niemals allzu grob war. 
Darin trat auch keine Änderung ein, als Lothar von Supplinburg im 
Jahre 1127 Konrad von Zähringen mit dem Fürstentum Burgund be- 
lehnte. Die Grundlagen des Lausanner Territoriums bildeten Grund- 
herrschaften, Forsten und Grafschaften (Waadt 1011). Um die: Wende 
des 12. Jahrhunderts besaßen die Bischöfe bereits ein großes ge- 


>») Hollnsteiner, J., Die Rechtsstellg. d. Stiftes St. Florian in Öster- 
reich bis in die Zeiten Rudolfs von Habsburg. Eine diplomat. u. rechtsge- 
schicht, Untersuchg. Mitt. d. Instit. f. österr, Gesch.-Forschg. 40, 37—108. 


2) Czypionka, V., Das Marienkloster d. Augustinerchorherren in 
Gorkau am Zobten. Zt. d. Ver. f. Gesch. Schles. 58, 17—42. 


3) Salis, F., Forschungen zur älteren Gesch. d. Bistums Kammin. 
Baltische Studien N. F. Bd. 26. S. 1—155. 


31) Hüffer, H., Die Territorialmacht der Bischöfe von Lausanne in 
ihrer Entwicklung bis zum Ende der Zähringer (1218). Zeitschr. für 
schweizer. Gesch. 4, 240—351. 


52 


schlossenes Gebiet, in dem sie als Landesherren walteten.”?) Sto- 
wasser?) weist in einer eindringlichen Untersuchung nach, daß die 
Habsburger keineswegs, wie man bisher unter dem unbewußten. Ein- 
flusse des Privilegium maius angenommen hatte, über die gesamten 
Länder, von denen sie den Herzogstitel führten, als Landesherren ge- 
- boten, sondern daß es im Gebiete von Österreich und Kärnten noch 
reichsunmittelbare weltliche Fürstentümer (Schaunburg, Ortenburg 
etc.) gegeben habe. Ferner geht aus seinen Ausführungen hervor, daß 
unter den bei Otto von Freising erwähnten „tres comitatus“ die drei 
Grafschaften, aus denen die Markgrafschaft gegen die Ungarn ge- ` 
bildet wurde, und. nicht drei der Mark angegliederte Grafschaften zu 
verstehen seien. Castelmur) berichtet über einen Versuch, dem 
Bischof Ortlieb von Chur anläßlich des Streites um die Besetzung der 
Pfarrei von Ardez eine landständische Verfassung aufzuzwingen. Die 
_ Forschungen M ey er's”) zeigen die Entstehung der Schweizer Eid- 
genossenschaft in einem neuen Licht. Den Ursprung sieht er in dem 
ältesten Schwurverband der drei Waldgemeinden, dessen Vertragstext 
Bresslau einst aus dem Bundesbrief von 1291 rekonstruiert hatte. Diese 
Einung habe aber nicht, wie man bisher annahm, in den vierziger 
Jahren des 13. Jahrhunderts stattgefunden, sondern ebenfalls im Jahre 
1291 kurz vor der Ausstellung des genannten Bundesbriefies als Ab- 
wehrbewegung gegen die Neuerungen Rudolfs von Habsburg und seiner 
Söhne unter der Führung von Schwyz, dessen Reichsunmittelbarkeit 
von den Habsburgern nicht anerkannt wurde. Der Zweck des Bundes 
sei also die Herstellung der alten Freiheit und Abwehr der habs- 


“ "burgischen Rache gewesen. Die Keimzelle der Eidgenossenschaft habe- 


also eine Einigung gebildet, die sich aber von sonstigen spätmittelalter- 
lichen Einungen durch ihre enge Verbindung und durch den Abschluß 
auf Ewigkeitsdauer unterschieden habe. Nach der Darstellung Meyers 
beruht die Überlieferung des Weißen Buches von Sarnen mehr auf 
historischen Tatsachen, als man bisher angenommen hatte. Müller°*) 
stellt mit Hilfe einer bisher unbekannten Urkunde von 1442 die Ge- 
richtsverhältnisse des fränkischen Dorfes Ottendorf an der Kocher fest 
und liefert einen willkommenen Beitrag zur Abgrenzung der hohen ` 
und der niederen Gerichtsbarkeit im späteren Mittelalter. Wei- 
mann?) behandelt ein Entwicklungsstadium der Ministerialität, das 


32) Gradl, L., Die Einrichtung der Landeshoheit der Bischöfe von 
Hildesheim. Gießen Diss. 1923. [Masch.-Schr.]. 

3) Stowasser, O. H. Zwei Studien zur österr. Verfassungsgesch. 
Zeitschr. d. Savignystiftung- f. Rechtsgesch. G. A. 44, 114—167. 

3) Castelmur, A. v., Ein Versuch zur Einführung der ständ. Verf. 
im Bistum Chur. Zeitschr. f. schweiz. Kirchengesch. 18, 96—108. 

35) Meyer, Karl, Der älteste Schweizerbund. Zeitschr. f. schweizer, 
Gesch. 4, 1—156. 

Sat Müller, K. O., Das Gericht zu Ottendorf. Eine Untersuchung über 
die Zuständigkeit südfränk. Dorfgerichte im Mittelalter. Zeitschr. d Savigny- 
stiftung f. Rechtsgesch. G. A. 44, 168—96. 

”) Weimann, K., Die Ministerialität im SES Mittelalter. Lpz., 
Dyk. VII, 132 S. 


83 


bisher so gut wie gar keine Beachtung gefunden hat, nämlich nach 
dem Zeitpunkt, den man als den Endtermin für das Vorhandensein der 
Dienstmannschaft überhaupt festgesetzt hat. Obwohl sich die Arbeit 
auf den Niederrhein beschränkt, geht sie in ihrer Bedeutung doch weit 
über das Lokale hinaus und gestattet auch wertvolle Rückschlüsse auf 
Entstehung und Wesen der älteren Ministerialität. Es gab noch im 
späteren Mittelalter bis in das 16. Jahrhundert eine zahlreiche, mannig- 
fach gegliederte Dienstmannschaft, die sich aus freien und unireien 
Elementen fortlaufend ergänzte. Die sog. Freidienstmannen unter- 
schieden sich deutlich vom Adel und den Freien auf der einen und den 
Eigenleuten auf der anderen Seite; am nächsten standen sie den Stadt- 
bürgern. Wir finden sie besonders in niederen und in gewerblichen 
Amtsstellen. Es gab aber auch Ministeriale von ritterlicher Lebens- 
haltung. 

Städte. v. Winterfeld?!) ist in scharfsinniger Untersuchung 
in das Dunkel der ältesten Geschichte von Dortmund eingedrungen. ` 
Dortmund war unter den Saliern ein befestigter Pfalzort und der Mittel- 
punkt der westfälischen Reichsgüter. Die Anfänge des bürgerlichen 
(jiemeinwesens reichen bis in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts 
‚zurück. Im Laufe des 12. Säkulums wurde Dortmund ein wichtiger 
Handelsplatz und erhielt ein eigenes Stadtrecht, ein Stadtgericht und 
autonome Gemeindeverwaltung.’®) *) Die Stadt Danzig hat — wie 
Keyser*) darlegt — im Laufe des 13. Jahrhunderts mehrmals sein 
Recht gewechselt: um 1270 ging es zum Lübecker Recht, 1295 zum 
Magdeburger Recht Ober 391 *) 44) | 


3) Winterfeld, L. v., Untersuchungen zur ältesten Geschichte Dort- 
munds. Beiträge zur Ge SE Dortmunds 31, 7—76. 

D Winterfeld, L. v., Die Entstehung des Dortmunder Stadtrichter- 
amtes. ebd. 31, 147—154. 

a0) Meininghaus, A., Zur Gesch. der Dortmunder Freigrafen. ebd. 
31, 129—146. 

at) Keyser, E., Das Stadtrecht Danzigs im 13. Jahrh. (Altpreußische 
Forschungen. 1, 81—95). 

a2) Eichholzer, E ‚Zur Gesch. u. Rechtsstellung des züricherischen 
Untervogts. Zeitschr. d. Savignystiftung f. Rechtsgesch. G. A. 44, 197—215. 

3) Hans a y, A. L'origine du patriciat A Liege au moyen âge. Revue 
Belge de Phil. et d’Hist. 2, 696—701. 

Niessen, J., Landesherr u. bürgerliche Selbstverwaltung in Bonn 

von 1244—1794. Rhein. Archiv 5. 


- 


34 


C. Neuere Geschichte. 


Kapitel I. 


Reformation. 
(Wolf.) 


Allgemeines. ') ?) Eine .wertvolle bibliographische Hilfe ist 
W. Friedenburgs?) Register zu den ersten 20 Bänden seines 
„Archivs für Reformationsgeschichte“ und dessen bisherigen Ergän- 
zungsbänden. Dasselbe enthält nicht nur ein alphabetisches Verzeichnis 
der Mitarbeiter mit Angabe ihrer Beiträge und ein systematisches Ver- 
zeichnis, welches besonders wegen der Zusammenstellung der bio- 
und topographischen reformationsgeschichtlichen Arbeiten wichtig ist, 
sondern vor allem auch ein chronologisch geordnetes Verzeichnis der 
abgedruckten Quellenstücke, in erster Linie der Briefe. Gerade beim 
Charakter des „Archivs“, welches weniger abgeschlossene Artikel als 
hauptsächlich einzelne Bausteine vielfach miszellenartiger Natur 
bringt, ist ein solches Register besonders zu begrüßen. Göllers‘) 
mehr programmatische Schrift, ursprünglich ein Vortrag für die Gör- 
res-Gesellschaft, beschäftigt sich zwar in der Hauptsache mit den 
Beziehungen zwischen Renaissance und dem Hochmittelalter. Indem er 
jedoch vor allem das sachliche Verhältnis der Renaissance zur Kirche, 
hierin vielfach Pastors Spuren folgend, voranstellt, gibt er auch dem 
Reformationshistoriker manche Anregung. Führen sich doch nach 
Göllers Ansicht auf das „Erstarken des individualistischen Prinzips 
gegenüber dem Autoritätsgedanken“, das er nach seinen vielfältigen 
Ursprüngen und Wirkungen untersucht, ebenso sehr die nordische Re- 
iormation wie die extrem individualistischen Strömungen in Südeuropa 
zurück! Bei alledem betont Göller namentlich die diesen sämtlichen 
Bewegungen zugrundeliegenden allgemeinen philosophischen Ideen. 
In solchem Zusammenhange erörtert er verschiedene Fragen, welche 
bei der Beurteilung der Renaissance gewöhnlich zurücktreten; denn 
im Gegensatze zu den meisten Forschern außer Pastor würdigt er 
das durch die Renaissance beeinflußte neuere Kultur- und Geistes- 
leben sehr stark unter dem Gesichtspunkte der katholischen Gegen- 


1) Wendorf, H.: Reformation u. Gegenreformation. Histor. Viertel- 
ischr., 22, 132—140. 

2). Wolf, G.: Reformationsgeschichtl. Neuerscheinungen II in Mitteil. 
aus d. histor. Literatur, 52, 15—23. 

3) Archiv f. Reformat.-Gesch. 20, 261—320. 

*) Göller, E.: Kirchengeschichtl. Probleme d. Renaissancezeitalters, 
30 S. Freiburg, Herder u. Co. 


. 88 


reformation. — Ein Freund hat in seinem Nekrolog’) Wilhelm Wal. 


thers Symbolik®) dessen eigentliches Lebenswerk genannt. Das 
Buch wird durch seinen Untertitel viel besser gekennzeichnet als 
durch den im Laufe der Zeiten vielfach abgewandelten, noch heute 
stark umstrittenen Begriff „Symbolik“. Leider haben die ungünstigen 
Geldverhältnisse Kürzungen des Manuskripts erheischt, welche gerade 
wegen Walthers Eigenart von besonders empfindlicher Tragweite sind. 
Beruhte Walthers Hauptstärke von jeher auf seiner großen Quellen- 
und Literaturkenntnis und auf seiner apologetischen Stellungnahme 
zu Luthers Meinungsäußerungen, so wären natürlich ausführliche und 
möglichst zahlreiche Zitate sowie Auseinandersetzungen mit abwei- 
chenden Ansichten -für den Forscher wertvoll gewesen. Zugegeben, 
daß das Buch sich an weitere Kreise wendet, die mehr im praktischen 
kirchlichen Berufsleben als in der Wissenschaft stehen und solche 
Zutaten weniger brauchen, ist ihr Verlust trotzdem bei Walthers 
Eigenart vom Gelehrtenstandpunkte aus zu bedauern. Was dagegen 
das Werk vielleicht für diese weiteren Kreise beeinträchtigt, steigert 
seinen Wert für den Reformationshistoriker: Walther stellt den Pro- 
testantismus nach den Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts dar, 
wozu er auch am meisten berufen war, ohne Rücksicht auf die 
späteren Abwandlungen und Neubildungen. Die Disposition von 
Walthers Symbolik ist sehr einfach. Übereinstimmend für die vier 
christlichen Hauptkirchen (orthodoxe, katholische, reformierte, lu- 
therische) faßt er deren Lehre. und Leben unter einigen Grundbe- 
griffen zusammen, um auf solche Weise teils den ganzen Geist dieser 
Religionsgemeinschaften, teils ihre von einander abweichende Eigen- 
art zu veranschaulichen. Der Titel „Symbolik“ wird dadurch gerecht- 
fertigt, daB Walther als Quellen zur Darstellung des reformierten und 
lutherischen Christentums dessen Bekenntnisschriften benutzt. Für die 
griechische und römische Kirche ließ sich dieser Grundsatz nicht derart 
streng durchführen; statt der Bekenntnisschriften schuf für dieselbe 
Walther den weiteren Begriff „Erkenntnisquellen“. Die wissenschaft- 
liche Bedeutung seines Buches für den Reformationshistoriker fußt 
fast ganz auf den Abschnitten über die reformierte und lutherische 
Religion. Die kleineren Gemeinschaften, welche gerade neuerdings all- 
gemeineres Interesse beanspruchen, z. B. die Wiedertäufer und 
Schwenkfeldianer, hat Walther tiberhaupt nicht berücksichtigt. Das 
Buch von Kühn‘) gehört an sich nicht zu den reformationsgeschicht- 
lichen Arbeiten. Stark beherrscht durch Troeltschs Gedankenreihen 
und wie dieser vom heutigen Protestantismus ausgehend, stellt es 
verschiedene „Typen“ offenbarungsgläubiger Frömmigkeit auf und 


5) Hashagen, Friedr.: Allg. Ev.-Luth. Kirchenzeitung 1924, Sp. 452. 
Walther, W.: Lehrbuch der Symbolik. Die Eigentümlichkeiten der 
vier christl. Hauptkirchen vom Standpunkte Luthers aus dargestellt (in: Samnı- 
lung theologischer Lehrbücher) XII, 478 S. Leipzig u. Erlangen, H. Deichert. 
Hierzu Loofs in Deutsche Literatur-Zeitung. 46, 753—758. 
ER 1) Kühn, Ioh.: Toleranz u. Offenbarung. XVI, 473 S. Leipzig, Meiners, 


OD 


nd 


erörtert, wie sich dieselben zur modernen Toleranzidee verhalten, um 
auf solcher Grundlage deren religiöse Wurzel bloßzulegen. Kühn 
schrieb also keine Entwicklungsgeschichte des Toleranzgedankens, 
sondern betrachtete nach einem einleitenden Abschnitt über die 
„Grundlinien“ die verschiedenen „Typen“, den prophetischen, spirituali- 
stischen, täuferischen, mystischen, dann den der „sittlichen und ratio- . 
nalen Religiosität“ (d. h. des modernen Protestantismus) nebenein- 
ander in getrennten Kapiteln. Für unser Referat gewinnt das Werk 
seine Tragweite nicht durch diese Problemstellung sondern weil Kühn 
als maßgebende Vertreter dieser Typen besonders Männer aus dem 
16. Jahrhundert anführt, weil er namentlich in Luthers Theologie als 
eigentliches Motiv die prophetische Offenbarung erblickt. Da er die- 
sem Typ die Fähigkeit der Entwicklung zur Toleranz abspricht, ist 
damit auch sein Urteil über Luther gegeben; höchstens billigt er ihm 
Keime des späteren Fortschritts zu. Kühn schließt sich also Troeltsch 
und seinen Gesinnungsgenossen auch nach.der Richtung an, daß er in 
den sog. schwärmerischen Richtungen fruchtbarere Wurzeln des 
heutigen Toleranzgedankens findet als in den Anschauungen der führen- 
den Reformatoren. Derartige Schablonisierungen und Konstruktionen 
fordern naturgemäß zu starkem Widerspruch aller derer heraus; 
welche die Grundgedanken des Autors oder dessen Abweichung von 
einer streng quellenmäßigen Methode nicht billigen. Andererseits ge- 
winnen sie durch den Zwang der Verfasser, sich eine große Belesen- 
heit über viele an sich weit auseinanderliegende Gegenstände anzu- 
eignen, wertvolle anregende Gesichtspunkte, an denen auch der 
zünftige Forscher nicht vorübergehen darf. Wir knüpfen an 
Kühns Werk das von Austin Evans?); denn nur scheinbar hat 
letzteres einen örtlich und zeitlich begrenzten Inhalt. Die Verfol- 
gungen der Nürnberger Wiedertäufer sind für Evans nur ein charak- 
teristisches Beispiel für die grundsätzliche Stellungnahme der Refor- 
matoren zu Andersdenkenden und ein Beweis, wie wenig die Refor- 
matoren schon zur wahren Duldung fortgeschritten waren. Dem 
literarischen Zweck von Evans genügte zur Schilderung der Nürn- 
berger Vorgänge der gedruckte Quellenstoff. — Es ist lehrreich, mit 
Grisars Kampibildern (Jahresber. 5, 70f.; 6, 100f.) den Vortrag 
von Viktor Schultze?) zu vergleichen, welcher sich teilweise mit 
demselben Material, z. B. dem Passional, beschäftigt. Doch greift 
‘Schultze sein Thema weiter. Er will zeigen, wie den agitatorischen 
Bedürfnissen der neuen Bewegung zunächst die Verbreitung des ein- 
fachen Lutherbildes genügte, wie aber schon seit 1518 Luthers Bild 
in eine bestimmte Umgebung versetzt und dadurch die Bedeutung 
des Reformators sinnfälliger hervorgehoben wurde. Indem Schultze 


®) Evans, Austin Patterson: An Episode in the Struggle for religious 
Freedom. The Sectaries of Nuremberg 1524-28, IX, 235 S. New-York, Co- 
lumbia University. 

°) Schultze, V.: Das Bild im Dienste der Reformation, in: Allg. Ev.- 
Luth. Kirchenzeitung 57, Nr. 44—46. 


8/ 


hierauf zu den Kampfbildern übergeht, liefert er dadurch zu Grisars 
Arbeiten eine wichtige Ergänzung, daß er die Kampibilder mit den be- 
reits vor Luther üblichen Vergleichen zwischen dem schlichten Leben 
Christi und seiner Jünger einerseits, dem prunkvoll:n Auftreten der 
römischen Hierarchie andererseits verknüpfte. Von den Illustrationen, 
welche unter dieser Einwirkung standen, hebt er außer Cranachs Pas- 
sional Holbeins Bilder des Todes und „Christus, das Licht der Welt“ 
hervor. Pallas‘°) ist zu seinem Vortrag durch zwei stark auseinander- 
liegende Beweggründe geführt worden: einmal durch die langjährige 
wissenschaftliche Beschäftigung mit den kursächsischen Kirchenvisita- 
tionsprotokollen des 16. Jahrhunderts und ihrem auch für die Neuge- 
staltung der Rechts-, Vermögens- und Wirtschaitsverhältnisse wich- 
tigen Inhalt und zweitens durch die neuen Aufgaben, vor welche die 
evangelische Kirche infolge der politischen Umwälzungen unserer 
deutschen Gegenwart gestellt ist. Seine Ausführungen sind sowohl 
nach der geschichtlichen wie nach der praktischen Seite sehr lehrreich. 
Ausgehend von den verschiedenen Bestandteilen des vorreformatori- 
schen Kirchenvermögens und seiner Einnahmequeilen zeigt Pallas, wie 
die Reformatoren es versäumten, ihr Kirchenwesen selbständig zu 
machen, wie dadurch die Mittel in andere Hände zlitten und wirtschaft- 
liche Verquickungen eintraten, welche das innere religiöse Leben, 
namentlich in den Städten, beeinträchtigten. Pallas’ Zukuniftsziel ist es, 
bim jetzigen Neubau der kirchlichen Verwaltung die alten Versäum- 
nisse der Reformationszeit wieder gutzumachen. 

Einzelne Ereignisse. Kalkoff!!) hat seiner inzwischen er- 
schienenen Monographie über die Kaiserwahl Friedrichs des Weisen 
eine kurze Zusammenfassung seiner Forschungsergebnisse vorausge- 
schickt, die wir aber erst in den nächsten Jahresberichten bei der Be- 
sprechung seines Buches würdigen können. Wir verweisen hier auf 
diese Zusammenfassung nur deshalb besonders, weil sie summarischer 
und übersichtlicher als das durch viele Einzelausführungen exkurs- 
mäßig belastete Buch die Hauptpunkte hervorhebt. Schiff") fand, 
daß Gelehrte und Laien sich bisher zu einseitig mit der Vorgeschichte 
des Bauernkriegs beschäftigt und nach den neuen Zutaten der reli- 
giösen Bewegung zum vorhandenen Gärungsstoff gefragt, daß sie aber 
fast niemals den Bauernkrieg mit späteren Aufständen verglichen 
haben und infolgedessen über seine Wirkungen im Dunkeln tasten. 
Hierdurch sind auch die späteren Erhebungen des Landvolks ganz 
isoliert betrachtet worden. Nun ist zwar Schiff von einer einheit- 
lichen Darstellung des Zusammenhangs zwischen den Ereignissen von 
1525 und späteren Unruhen noch weit entfernt. Aber indem er ein- 
zelne konkrete, allerdings landesgeschichtlich begrenzte Vorgänge 


10) Pallas, K.: Die kirchliche Vermögensverwaltung, ihre Ausgestal- 
tung in der Reformationszeit u. deren Auswirkungen bis zur Gegenwart. In: 
Zeitschr. d. Ver. f. Kirchengeschichte der Provinz Sachsen, 20, 29-—43. 

1) Kalkoff, P.: Die Kaiserwahl Friedrichs des Weisen. Archiv f. 
Reformationsgesch. 21, 135—140. 

22) Schiff, O.: Deutsche Bauernaufstände. Histor. Zeitchr. 150, 189-209. 


98 


-herausgreift und nach Eigenart wie nach Verwandtschaft würdigt, ge- 
winnt er doch vielfach ein neues Bild und zeigt, wie wenig die Bauern 
auch nach 1515 zufrieden waren und wie die Gelegenheit zu Putschen 
Tortdauerte 13) | 
Landesgeschichte (in alphabetischer Reihenfolge der Territo- 
rien). Vierordt beklagte, daß er in seiner Geschichte der evange- 
lischen Kirche in Baden darauf angewiesen gewesen sei, die Refor- 
‚ mation in der Ortenau nach Zeugnissen zu erzählen, die fast ein Jahr- 
hundert jünger sind als die geschilderten Vorgänge; namentlich stützte 
er sich auf einen Bericht des Pfarrers Lazarus Rapp (1616). Ja, in 
vieler Beziehung blieb sogar die Beschreibung der Ortenau von Pehem 
aus dem Ende des 18. Jahrhunderts unsere Hauptquelle. Später sind 
allerdings einige ältere Dokumente aufgetaucht. Aber es war doch 
wertvoll, daß durch den Aktenaustausch zwischen dem früheren Straß- 
burger Bezirks- und dem Karlsruher Generallandesarchiv letzteres 
Papiere erhielt, die wenigstens teilweise die Lücke ausfüllen und aus 
welchen Batzer!) das Wichtigste mitteilt. So aphoristisch diese 
Notizen sind, so enthalten sie doch manches über die badische Landes- 
geschichte hinausgehendes Bemerkenswertes. Z. B. interessiert uns 
die Weigerung des Bischofs von Straßburg, dem Wunsche des Ober- 
vogts Matthäus Mußler in der Ortenau zu folgen und dort das Interim 
einzuführen, weil der Augsburger Reichsabschied von 1548 den katho- 
tischen Ständen das Festhalten an der alten Religion gebiete. Man er- 
kennt hinter diesem Erlasse des persönlich milden Bischofs unschwer 
die Hand seines tatkräftigen, wissenschaftlich noch ganz ungenügend 
gewürdigten Kanzlers Christoph Welsinger. Weizsäcker‘) nimmt 
zu den Forschungen des tschechischen Historikers Josef Klik teils zu- 
stimmend, meist aber korrigierend, Stellung. Sein wichtigstes ab- 
weichendes Ergebnis ist, daß er den germanisierenden Einfluß des ein- 
dringenden Protestantismus zwar nicht leugnet, aber für von Klik 
übertrieben ansieht. Erstens bezweifelt Weizsäcker bei vielen Prädi- 
kanten die deutsche Abstammung; zweitens hält er den einzelnen 
deutschen Geistlichen für unfähig, allein aus eigener Kraft einen ganzen 
tschechischen Ort zu entnationalisieren; drittens betont er die Spal- 
tungen, welche durch die konfessionellen Gegensätze inmitten des 
deutschen Lagers hervorgerufen wurden und wenigstens stellenweise 
das Vordringen der Tschechen begünstigten; viertens zeigt er, daß 
der tschechische Widerstand gegen die evangelischen Deutschböhmen 
stärker war, als das Klik annahm. Auch den Einfluß der Gegenrefor- 
mation auf die Germanisierung Böhmens schlägt Weizsäcker. geringer 
an. Ohne ihn ganz zu leugnen, hebt er hervor, daß gerade damals 


13) Stolze, W.: Die Lage d dten. Bauernstandes im Zeitalter des 
Bauernkriegs. Jahrbuch d Luthergesellschaft 6, 38—51. 

14) Batzer, E.: Neues über die Reformation in der Ortenau. Zeitschr. 
f. Gesch. d. Oberrheins, 78, 63—83. , 

15) Weizsäcker, W.: Über die Nationalitätenverhältnisse in Böhmen 
von den Hussitenkriegen bis zur Schlacht am weißen Berge. Mitteil. d. Ver. 
1. Gesch. d. Dten. in Böhmen, 62, 117—127. | 


59 


die Stände zur entschiedeneren Wahrung ihrer nationalen Vorrechte 
angespornt wurden. Das Werk von Johannes Heckel') verdankt 
ähnlich der Arbeit Alfred. Schultzes über die sächsischen Stifter (vgl. 
. Jahresberichte 5, 60)’ seine Entstehung den neuesten politischen Um- 
wälzungen und der durch sie veranlaßten Notwendigkeit, die Rechts- 
lage der evangelischen Dom- und Kollegiatstifter Preußens klarzu- 
stellen. Ein, solches Gutachten setzte die eingehende Kenntnis der 
ganzen geschichtlichen Entwicklung voraus, welche sich auf ein mög- 
lichst umfassendes Aktenmaterial stützen mußte. Behandelt demze- 
mäß Heckel die Zustände bis zur Gegenwart herunter, so wurzeln die- 
selben doch so wesentlich in der Reformation, daß er vor allem die 
damals geschaffenen Verhältnisse, und erst auf dieser Grundlage und 
viel knapper die späteren Abwandlungen zu schildern hatte. Die Ar- 
beit zerfällt, soweit sie sich mit der Zeit vor dem Reichsdeputations- 
hauptschluß beschäftigt, in drei große Kapitel: über die Besetzung der 
Bistümer mit Protestanten, die innere Verfassung der evangelisch ge- 
wordenen Dom- und Kollegiatstifter und den Anteil des Domkapitels an 
der staatlichen und kirchlichen Verwaltung des Territoriums. Ent- 
sprechend dem aktuellen Bedürfnis, aus dem die Arbeit überhaupt her- 
vorgegangen ist, beschränkt sie sich dabei auf die Stifter, welche auch 
nach der Reformation ihre Selbständigkeit innerhalb des branden- 
 burgisch-preußischen Staates behaupteten. Nebenfrüchte seiner großen 
Studie sind Heckels Artikel über den Summepiskopat, den Begriff des 
höchsten Regals und das System Stephanis.'”) Ersterer bekämpft die 
Ansicht, daß die Idee des brandenburgischen Summepiskopats schon 
der Reiormationszeit angehöre, hält sie vielmehr für eine Folge des 
dreißigiährigen Krieges. Als durch denselben der Große Kurfürst 
katholische Untertanen erhielt, denen ihr Glaubensbekenntnis gesichert 
wurde und über welche die zuständigen Bischöfe nach wie -vor ihre 
geistliche Jurisdiktion beanspruchten, bestritt der Kurfürst diese Forde- 
rung durch sein angebliches Recht als ständiger und oberster Bischof 
der Katholiken. Dieser Ausdruck wurde bald ganz allgemein für die 
gesamten kirchenobrigkeitlichen Befugnisse des Kurfürsten angewandt 
und übertrug sich alsdann auf die gleichgearteten Rechte anderer evan- 
gelischer Landesobrigkeiten. Der Artikel über das höchste Regal 
knüpft an frühere Ausführungen von Ulrich Stutz an (vgl. Jahresber. 
5, 57) und verfolgt das Schicksal und die Bedeutung, welche dieser 
Gedanke seit seinem ersten Auftreten in einem Gutachten Butzers bis. 
zur vollen Ausbildung des fürstlichen Absolutismus am Ende des 17. 
Jahrhunderts genommen hat. Heckels dritter Artikel, welcher sich an 
die Forschungen Riekers und Karl Müllers anschließt. und deren Er- 


1) Heckel, Joh.: Die evangel. Dom- u. Kollegiatstifter Preußens, ins- 
besondere Brandenburg, Merseburg, Naumburg, Zeitz (= Kirchenrechtl. Ab- 
handl., herausg. v. U. Stutz, H. 100—101), XII, 455 S. Stuttg., Enke. 

17) Heckel, Joh.: Die Entstehung d. brandenburg.-preuß. Summepisko- 
pats. Zeitschr. d. Savignystiftung, Kan. Abt. 13, 266—283. — Höchstes Regal 
ebenda S. 518—523. — Das Episkopalsystem des Joachim Stephani und sein 
Schicksal. Ebenda S. 523—528. 


60 


gebnisse teilweise berichtigt, beschäftigt sich mit der zuerst von den 
beiden pommerischen Brüdern Stephani geäußerten Ansicht, daß der 
Augsburger Religionsfriede die bischöfliche Jurisdiktion in evange- 
lischen Gebieten nicht aufhebe, sondern auf deren: weltliche Obrigkeiten 


förmlich übertrage. Er entwickelt, daß diese Ansicht keineswegs die `` 


* Frucht rein theoretischer Betrachtung gewesen ist, sondern die Grund- 
sätze der pommerischen Kirchenordnung von 1569 gegen den Sieges- 
lauf des landesherrlichen Kirchenregiments schützen wollte und etwas 
ganz anderes bedeutete, als was ihre Nachfolger aus ihr gemacht 
haben. Die drei Abhandlungen Heckels zeigen, wie wertvolle Er- 
gebnisse aus einer Verbindung scharfer juristischer Begriffsbildung 
mit streng historischem Forschen und aus einer sich über die Jahr- 
hunderte hinweg hinstreckenden Beobachtung einzelner Institutionen 
oder Meinungen gewonnen werden können. — Auch Brennekes") 
Studien sind ursprünglich durch die heutigen kirchenpolitischen Um- 
wälzungen veranlaßt: er wollte ein Stück Vorgeschichte und damit 
wichtige Vorbedingungen der hannöverschen Landeskirche klarlegen. 
Entgegen der herrschenden Auffassung betont er zweierlei: 1) „die 
Kalenbergsche Reformation ist nicht eigentlich das Ergebnis einer fort- 
geschrittenen Entwicklung allgemeiner Zustände, sondern entsprang 
der Initiative einer einzigen Persönlichkeit“; 2) darf man das poli- 
tische Machtinteresse aus dem Zusammenhang jener reformatorischen 
Vorgänge nicht ausschalten. Die erste: These gibt Brenneke Gelegen- 
heit, zu schildern, wie wenig die Kalenbergschen Landstände außer 
den vier großen Städten von sich aus ein neues Kirchenregiment auf- 
bauen konnten. Durch die zweite These macht das Bild der Kalen- 
bergschen Reformation im. Vergleich zu PBrennekes Vorgänger 
Tschackert den Eindruck eines bunten Wechsels; denn Brenneke 
zeigt, wie die Herzogin Elisabeth zwar ihr Ziel’ test im Auge behielt, 
aber ständig lavieren mußte. Forsthoff") hält im Gegensatze zu 
Hashagen, der die klevische Kirchenordnung erasmischen Einflüssen 
zuschreibt, an seinen früheren Behauptungen ihres lutherischen Ur- 
sprunges fest (vgl. Jahresber. 6, 88). — Der Markgraf Wilhelm von 
Riga, ein Bruder des ersten preußischen Herzogs Albrecht, war nach 
Livland gekommen, um dort gleich diesem die Reformation einzu- 
führen und sich aus einem Kirchenfürsten in einen weltlichen Landes- 
herrn zu verwandeln, wurde aber durch die ständische Opposition an 
der kräftigen Durchführung seines Entschlusses verhindert. Über 
seine fortgesetzten Bemühungen unterhielt er mit seinem Bruder einen 
regen Briefwechsel, der heute im Königsberger Archiv: liegt. Auf 
Grund desselben hat K ar g e) Wilhelms Politik und Schwierigkeiten 


291 Brenneke, A.: Die polit. Einflüsse auf das Reformationswerk der 
Herzogin Elisabeth im Fürstentum Calenberg-Göttingen (1538---55). Nieder- 
sächs. Jahrbuch, I, 104—145. 

10) Forsthoff: Wes Geistes Kinder sind die klevischen Kirchen- 
ordnimgen? Monatshefte f. rhein. Kirchengesch. 18, 61—68. 

2) Karge, P.: Reformation u. Gottesdienstordnung des Markgrafen- 
H von Riga vom März 1546. Mitteil. aus d. livländ. Gesch. 


61 


skizziert und hierdurch eine wertvolle Ergänzung zu Arbusow ge- 
liefert. In Königsberg befinden sich nicht nur Schreiben von Wilhelm 
und anderen Livländern, die mit Herzog Albrecht enge Beziehungen 
unterhielten, sondern’ auch wichtige, solchen Briefen beigefügte Akten- 
abschriften. Unter ihnen ist besonders wertvoll die von Wilhelms 
Kanzler Christoph Sturtz verfaßte Gottesdienstordnung von 1546, 
welche Karge anhangsweise wörtlich abdruckt. Zwar ist sie Entwurf 
geblieben, vergegenwärtigt uns aber lebendig die religiöse und organi- 
satorische Denkweise Wilhelms und seines Kanzlers und die ganzen 
Pläne dieser Männer. — Bisher galt Kurfürst Ottheinrich von der Pfalz 
als einer der energischsten Landesnerren in der Durchführung der 
Reformation, welcher namentlich mit den Bischöfen, die über sein Ge- 
biet die geistliche Jurisdiktion besaßen, recht rücksichtslos verfuhr. ` 
Um so überraschender ist die von Kuhn?) geschilderte milde Be- 
handlung des Nonnenklosters Mödingen und anderer Konvente, welche 
bewirkte, daß trotz aller Visitationen der Katholizismus sich noch 1567 
erhalten hatte. Allerdings darf hierbei Ottheinrichs starke Überzeu- 
gung von der durchschlagenden Wirkungskraft des von den katho- 
lischen Landesobrigkeiten nicht mehr gehemmten evangelischen 
Geistes nicht vergessen werden. Aus Joachim s”) Nachlaß ist ein 
Vortrag über Preußen in der ersten Zeit des letzten Hochmeisters ge- 
druckt worden, der namentlich von den kirchlichen Verhältnissen ein 
anschauliches Bild gewährt.) — Andreas Gorka gehörte zu den pol- 
nischen Großen, mit welchen Herzog Albrecht von Preußen anknüpfte, 
der als Ordensmeister bekanntlich der innen- und außenpolitisch wenig 
erfolgreiche Gegner des Königs von Polen gewesen war, nach seinem 
Übertritte jedoch vollständig mit dem alten System brach und sich an 
seinen früheren Feind und jetzigen Oberlehnsherrn anzulehnen suchte. 
Der Verkehr gewann, seit auch Andreas Gorka sich der neuen Lehre 
anschloß, einen intimeren Charakter. So sind Wotschkes?”) Mit- 
teilungen aus diesem Briefwechsel dankenswert; besonders hervorzu- 
heben sind die Schreiben aus der Zeit nach dein schmalkaldischen 
Kriege und des Fürstenbundes. Leider bringt Wotschke in den An- 
merkungen zwar viele wörtliche Belegstellen, gibt aber nirgends an, 
wo die Briefe zu finden sind. Hasha gen”) geht den Erscheinungen 
nach, welche den Kalvinismus mit dem rheinischen Geist zusammen- 
geführt und durch dieses Band das politische, wirtschaftliche, soziale 


2) Kuhn, H.: Reformationsversuche im Kloster Mödingen. Beiträge 
zur bayer. Kirchengesch. 31, 76—88. 

"2 Joachim, E.: Vom Kulturzustande im Ordenslande Preußen am 
Vorabend der Reformation. Altpreuß. Forschungen 1, 1—22. 

®) Fischer, Herm.: Das Quatember- oder Hofgericht zu Königsberg 
1506—25, ebenda 2, 41—69. 

2) Wotschke, Th.: Herzog Albrecht u. Graf Andreas Gorka. Dte. 
wissenschaftl. Zeitschr. für Polen, 4, 1—26. 

l 121 Hashagen, J.: D. rhein. Protestantismus u. die Entwicklung der 
rhein. Kultur XII, 236 S. Essen, Bädecker. — Einen Auszug daraus ver- 
öffentlichte Hashagen u. d. T.: Kalvinismus und Kapitalismus am Rhein. 
Schmollers Jahrbuch 47, 49—72. 


62 


und allgemeinkulturelle Leben in ienen Gegenden befruchtet haben. 
Zwar führt er den genossenschaitlichen, dem Beamtenregiment abge- 
neigten Trieb des Rheinländers und seinen kapitalistischen Aufstieg 
nicht allein auf den Kalvinismus zurück; aber offenbar beeinflußt durch 
Adeen Troeltschs und Max Wevers, verfolgt er doch möglichst tief 
diese Zusammenhänge. Ein großer Teil seiner Betrachtungen gilt der 
späteren, teilweise sogar der neuesten Zeit. Aber indem er bis zu 
den ersten Anknüpfungspunkten zwischen rheinischem und reforma- 
torischem Geiste zurückgeht, um ihre Eigenart, Gegensätze uud Ver- 
wandtschaften zu zeigen, streift er Fragen, welche für die rheinische, 
ja für. die allgemein deutsche Reformationsgeschichte, bedeutungsvoll 
sind. Kalkoff?) hat auf Fräulein Wagners Angriffe geantwortet 
(vgl. Jahresber. 6, 81). Die Tendenz seiner neuen Abhandlung ergibt 
sich schon aus ihrem Titel. Der erste Teil, welcher sich mit der 
Kaiserwahl von 1519 beschäftigt und die Ergebnisse des inzwischen 
veröffentlichten Buches vorwegnimmt, ist ebenso anfechtbar wie 
letztere selbst. Demgemäß ist auch hinfällig, was nach Kalkoff Fried- 
rich der Weise als Kaiser für Luther getan hätte und was aus der 
Haltung des Wettiners bei dieser Wahl auf seinen Charakter zu folgern 
wäre. Auch was Kalkoff über die Kölner Verhandlungen zwischen 
Karl V. und Friedrich wegen der lutherischen Sache gegen Frl. Wagner 
einwendet, ist nicht durchschlagend; freilich vermag ich ebensowenig 
mit letzterer als ausgemacht anzunehmen, daß beide Männer sich über 
Luther in Köln nicht besprochen haben können. Ebensowenig darf 
Kalkoffs Ansicht als bewiesen gelten, daß Friedrich der Weise Luthers 
Bitte um Bedenkzeit am ersten Verhörtage veranlaßt habe. Wie in 
seinen anderen Arbeiten, ist auch diesmal Kalkofis Ansicht nicht un- 
berechtigt, daß viele Geschehnisse und Beweggründe nicht in die. 
Akten gekommen sind; aber in seinem Streben, von diesem Stand- 
punkte aus angebliche oder wirkliche Lücken durch Indizienbeweise 
und Kombinationen zu ergänzen, schießt er häufig über das Ziel 
hinaus.?”) 

Ortsgeschichte (alphabetisch).?°) ®) Bauer‘) hat auch 1924 
seine Studien über die Frankfurter Kirche (Jahresber. 5, 62; 6, 92) fort- 
gesetzt. Um zur Behauptung der damaligen Lutheraner Stellung zu 
nehmen, daß die vertriebenen, nach Frankfurt geflüchteten Fremden 
sich fälschlich als ihre Gesinnungsgenossen ausgegeben und sich da- 


2) Kalkoff, P.: Friedrich der Weise, dennoch der Beschützer Luthers 
u. des Reformationswerkes. Zeitschr. f. Kirchengesch. 43, 179—208. 

?7) Kolb: Zur Geschichte des Generalsuperindenten u. des Synodus. 
Blätter f. württemberg. Kirchengesch., N. F. 28, 49—84. 

3) Piel, A.: Gesch. d. ältesten Bonner Buchdrucks (= Rheinisches 
Archiv, Bd. 4) XI, 112 S., Bonn, Schröder, (Beitrag zur Geschichte Hermann 
von Wieds). | 

») Wähler, M.: Die Blütezeit des Erfurter Buchgewerbes (1450—1530). 
Mittel, d. Ver. f. Gesch. u. Alt.-Kde. Eriurts, 42, 5—58. (Auch die einzelnen 
Drucker sind berücksichtigt.) 

3) Bauer, K.: D. Bekenntnisstand d. Reichsstadt Frankfurt a. M. 
DL IV. Archiv f. Reformationsgesch. 21, 1—36. 206—238. 


63 


durch die Aufnahme in das Bürgerrecht erschlichen hätten, untersucht 
Bauer die Glaubensanschauungen des Führers dieser Fremden, Poul- 
lain, und vergleicht sie mit denen Johann von Laskis, um an den ge- 
fundenen Abweichungen zu zeigen, daß Poullain sich mit Recht zur 
geltenden Lehrmeinung der Frankfurter Kirche bekennen und nicht mit 
Laski zusammengeworfen werden durfte. O. Leuze) hat schon 
früher in den Blättern für württembergische Kirchengeschichte auf die 
reichen Bestände der Isnyer Kirchenbibliothek hingewiesen und neuer- 
dings die dortigen 340 Reformationsdrucke aus den Jahren 1518—1529 
mit einer Einleitung herausgegeben, welche die Entstehung und An- 
sammlung dieser Bibliotheksabteilung behandelt. Als Denkmal der 
religiösen Interessen einer deutschen kleinen Reichsstadt ist dieser 
bibliographische Beitrag Leuzes auch über den Kreis ortsgeschicht- 
licher Benutzer hinaus von Wert. — Einen recht lehrreichen Einblick 
in das religiöse Leben einer kleineren rheinisch-evangelischen Ge- 
meinde gewährt uns Sachsses”?) ausführlicher Aufsatz über Ober- 
winter, nicht weit von Bonn. Die Ortschaft war ursprünglich in pfäl- 
zischen Händen und wurde, nachdem schon längst die neue Lehre Ein- 
gang gefunden hatte, durch Kurfürst Friedrich HL völlig reformiert, 
fiel aber später an Jülich und’ teilte dessen wechselvolle Schicksale, 
sodaß im 17. Jahrhundert geradezu eine Notze" anbrach, wie 
Sachsse einen Abschnitt überschrieben hat. Mit besonderer Liebe hat 
Sachsse das innere Kirchen- und Schulleben in der Gemeinde ge- 
schildert. 


Schweiz (Allgemeines und Ortsgeschichte). Jordans??) Ar- 
tikel stellt die kirchenpolitischen Vorbedingungen der schweizerischen 
Reformation dar. Seine Absicht war nicht eine eingehende, auch die 
- örtlichen Unterschiede berücksichtigende Schilderung des Verhält- 
nisses zwischen Staat und Kirche in der Schweiz, sondern bis zum 
Ausgang des 13. Jahrhunderts zurückgreifend er skizziert in ihren 
Hauptzügen die allmählich abgewandelten Beziehungen, vor allem. 
natürlich die durch die kirchlichen Mißstände nötig gewordenen, immer 
stärkeren Einmischungen der staatlichen Gewalten in das religiöse 
Leben, parallel damit das politische Werden der einzelnen Städte und 
Kantone. Er würdigt die Hauptstationen der kirchenpolitischen Ent- 
wicklung, z. B. den Pfaffenbrief von 1370 und das Stanzer Verkomm- 
nis von 1481, betrachtet dann den status quo am Vorabend der Refor- 
mation und faßt seine Hauptergebnisse in bemerkenswerten „Conclu- 
sions“ zusammen, welche die Eigenart dieser Schweizer Vorgänge 
gegenüber anderen Ländern widerspiegeln. Die glänzendste. reforma- 
tionsgeschichtliche Erscheinung des Berichtsijahres ist der dritte Band 


3t) Leuze, O.: Isnyer Reformationsdrucke VHI, 138 S. Isny, Verlag 
des evangel. Kirchengemeinderats. 


2) Sachsse, K.: Gesch. der evangel. Kirchengemeinde Oberwinter 
a. Rh. Monatshefte f. rhein. Kirchengesch., 18, 1—56. 


33) Jordan, J.: L’eglise et la confédération jusqu’ä la réforme. Zeit- 
schrift f. schweizer. Kirchengesch. 18, 109—135. 


64 


der Geschichte Basels von Rudolf Wackernagel.) Er führt den 
Untertitel „Humanismus und Reformation“, reicht aber nur bis zum 
Siege des Protestantismus und der damit verbundenen Umwälzung von 
1527. Ich wüßte keine zweite Stadtgeschichte zu nennen, welche uns 
einen derart lebendigen Einblick in das gesamte damalige Leben eines 
geistig und wirtschaftlich hochstehenden Gemeinwesens gewährt und da- 
bei auf so umfassenden eigenen Archivstudien beruht. B ü c hi s5) Artikel 
über Peter Cyro ist durch das Buch von Sulser (vgl. Jahresber. 5, 651.) 
veranlaßt, speziell durch dessen Begründung von Cyros Umzug: aus 
Freiburg nach Bern. Im Gegensatze zur Sulser hält nämlich Büchi 
daran fest, daß Cyro Freiburg verlassen habe, um einer aus religiösen 
Gründen drohenden Ausweisung zuvorzukommen. Das ursprüngliche 
Motiv veranlaßte Büchi, alles zusammenzustellen, was er über die 
Frühgeschichte Cyros, über die Anfänge und ersten Anhänger der Re- 
formation in Freiburg und über das rasche Scheitern der ganzen Be- 
wegung herausbringen konnte. — Die spärlichen biographischen No- 
tizen, über welche Finsler bei seiner Neuausgabe der WyBß’schen 
Chronik verfügte, ergänzt Fretz”‘) nach Funden im Stadtarchiv von 
Baden bei Zürich; er weist dabei vor allem auf die Identität des Chro- 
nisten mit dem in Merz’ Badener Wappenbuch vorkommenden Bäcker- 
meister hin.?”) 

Humanismus. Die große Sammlung der Erasmusbrieie”) 
ist jetzt bis 1524 fortgeschritten. Das Unternehmen ist zu bekannt, als 
daß es hier einer besonderen Würdigung bedürfte.. Auch der neueste 
Band wird durch seine sorgfältigen Erweiterungen für alle künftigen 
Erasmusforschungen bleibenden Wert haben. Smith?) hat seine 
Erasmusbiographie wesentlich vom Standpunkte der englischen Hoch- 
kirche aus geschrieben. Er betont hauptsächlich den Zusammenhang 
zwischen Erasmus und dem anglikanischen Christentum sowie die 
Mittelstellung, welche beide zwischen Katholizismus und Luthertum 
einnahmen. Pineau*) ist zu seinem Buche durch zwei Motive ver- 
anlaßt worden: einmal durch den Stoff der Allen schen Briefveröffent- 
lichung und zweitens durch die weit von einander abweichenden An- 
sichten, worin Erasmus’ Gesamtbedeutung bestehe und unter weiches 


3) Wackernagel, R.: Gesch. der Stadt Basel, 3. Bd., XII, 524 u. 
119 S. Basel, Helbing u. Lichtenhahn. — Um mich nicht zu wiederholen, ver- 
weise ich auf die Zeitschr. f. Kirchengesch. 44, 132f. 

3) Büchi, A.: Peter Girod u. der Ausbruch der Reformbewegung 
in Freiburg. Zeitschr. f. schweizer. Kirchengesch. 18, 1—21. 305-323. 

3) Fretz, Diethelm: Zur Lebensgesch. des C hronisten Bernhard Wy8B. 
Zwingliana, 4, 194—211. 

3) Jecklin, F.: Urkundl. Beiträge zur bündner. Reformationsgesch., 
ebd. 4, 231—245. 

38) Opus epistolarum Desiderii Erasmi Rotterdami denuo recognitum et 
um per P. S. Allen et H. M. Allen, XXIII, 631 S. Oxford, Clarendon 

ress. , 

3) Smith, Preserved: Erasmus. A Study of his Life, Ideals an Place 
in History. 479 S. New-York u. London, Harper and Brother. 1923. 

») Pineau, LB: Erasme, sa pensée religieuse IX, 270 S. Paris, Les 
Presses Universitaires de France. 


5 65 


Schema er eigentlich einzuordnen sei. Diesem letzteren, eigentlich un- 
fruchtbaren Streben gegenüber beruft sich Pineau auf den Ausspruch 
der Dunkelmännerbriefe: „Erasmus ist ein Mann für sich“. Darum 
setzt er sich die Aufgabe, die Eigenart seiner Entwicklung und seiner 
Lebensumstände bis 1520 zu begreifen. Denn die letzten drei Lustren 
sieht er als einen Epilog an — für uns Deutsche nicht ganz verständ- 
lich, weil in diese Jahre Erasmus’ ganze Auseinandersetzung mit der 
Reformation fällt, die seinen Charakter und Glaubensstandpunkt hell 
beleuchtet. Im Vordergrunde der Darstellung stehen die epochemachen- 
den Schriften von Erasmus. Mme. Bagdat!) ist durch ihre Be- 
schäftigung mit dem Pazifismus des 18. Jahrhunderts und seinen Vor- 
aussetzungen auf eine Schrift gestoßen, die verhältnismäßig weniger 
Aufsehen erregte als andere erasmische Werke, der sie aber doch einen 
hohen Innenwert und eine bleibende Bedeutung zuspricht. Sie bringt 
diese rasch hingeworfene, recht unsystematische Gelegenheitsarbeit 
mit anderen Werken zusammen, in welchen Erasmus die gleichen 
Fragen erörterte, namentlich mit der institutio principis christiani. Hier- - 
aus leitet sie den erasmischen Gesamtstandpunkt ab, setzt ihn mit den 
Zeitereignissen in Verbindung und reiht alsdann Erasmus in die große 
vorangegangene und folgende Entwicklung der pazifistischen Ideen 
ein. Sie schließt damit, daß die erasmischen Ansichten noch heute be- 
achtenswert sind. — Die Redaktion der Revue des deux Mondes ver- 
öffentlicht aus dem Nachlaß Victor Sardou's”) die ungedruckt ge- 
bliebene Einleitung, welche dieser seiner Übersetzung der erasmischen 
Colloquien vorausschicken wollte. Der gehaltvolle Artikel von 
Kaegi”) führt den Streit zwischen Erasmus und Hutten nicht auf die 
lutherische Sache, sondern auf die beiden Persönlichkeiten, auf die 
Enttäuschung und den Abbruch des alten Freundschaftsbundes sowie 
wenigstens teilweise auf Mißverständnisse und Intriguen zurück. 
Darum verfolgt er zunächst quellenmäßig den äußeren Verlauf der 
Beziehungen zwischen den zwei Männern. Dann bespricht er ihre 
Lebensanschauung und Lebensziele, welche sie zunächst zusammen- 
führten und zur gegenseitigen Verherrlichung anspornten, später aber 
um so tiefer trennten, weil Erasmus ein kühler Skeptiker und be- 
schaulicher, ruhebedürftiger Charakter, dabei gleichzeitig ein Kosmo- 
polit, Hutten hingegen eine national gesinnte, tatenlustige Natur war. 
Ob Kaegi nicht stellenweise Huttens Motive zu sehr systeinatisiert 
und zu hoch eingeschätzt hat, bleibe dahingestellt. Jedenfalls tritt er 
durch seine Arbeit in scharfen Gegensatz zu Kalkoff, gegen den er 
auch in einem besonderen Anhang ausdrücklich, und zwar in Einzel- 
heiten mit Glück, polemisiert Man wird aber doch Kalkofi insoweit 


4) Constantinescu-Bagdat, Elise, La „Querela Pacis“ d’Eras- 
me (These in Freiburg in der Schweiz) XV, 218 S. Paris, Les Presses Uni- 
versitaires de France. 

Sardou, Victor: Erasme et ses colloques. Revue des deux mondes, 
7. Periode, 21, 481—511. i 
%8) Kägi, W.: Hutten u. Erasmus. Histor. Viertelischr. 22, 200—278, 
461-514. 


66 


Recht geben müssen, daß der Eigennutz in Huttens Laufbahn eine 
größere Rolle gespielt hat, als das bei Kaegi hervortritt. Bemerkens- 
wert ist die Kritik der Grundgedanken im Lob der Narrheit, welche 
nach Kaegi nicht zu ausschließlich unter dem Gesichtswinkel eines 
‚Angriffs auf die Geistlichkeit betrachtet werden dürfen. Auch die Ar- 
beit von Frl. Gewerstock*) ist als eine unbeabsichtigte Korrektur 
der Kalkoff schen Ansichten zu bezeichnen. Denn obgleich dieser sich 
immer wieder dagegen verwahrt, Huttens literarische Verdienste. zu 
leugnen, wirkt doch seine Gesamtbeurteilung Huttens praktisch auch 
nach dieser Hinsicht. Frl. Gewerstock unterstreicht denn auch 
Joachimsens Bedenken gegen Kalkoffs Annahme, daß den Hutten’schen 
Dialogen die durchschlagende Wirkungskraft gemangelt hätte. Das 
Schwergewicht ihrer Arbeit ruht aber nicht in diesen Auseinander- 
setzungen, sondern in der Bestimmung, welche Stellung die Hutten- 
schen Dialoge innerhalb der ganzen humanistischen Dialogliteratur ein- 
genommen haben. Es werden also Gedanken weitergesponuen und 
teilweise berichtigt, welche schon Niemann in seinem Buche über die 
Dialogliteratur der Reformationszeit verfolgt hat.”°) 

Luther. Der unermüdliche Georg Buchwald”) hat die 
Lutherliteratur wieder um zwei Veröfientlichungen bereichert, die 
nicht für den gelehrten Forscher, sondern für den praktischen Seel- 
sorger bestimmt sind. Damit beschäftigt, die bekanntlich von ilim ent- 
deckten, für die Laien aber schwer verständlichen Rörer’schen Nach- 
schriften der Lutherpredigten für eine volkstümliche Ausgabe zu ver- 
arbeiten, fand er in denselben manchen Kernspruch und manches 
Selbstzeugnis, was in der geplanten volkstümlichen Veröffentlichung 
unter der Stoffmasse verschwinden würde und deshalb durch systema- 
tische Zusammenstellung solcher Äußerungen herausgehoben zu wer- 
den verdient. Indem Buchwald den aufgenommenen Aussprüchen die 
Fundstellen beifügte, dient seine Veröffentlichung, in der übrigens 
nicht ausschließlich die Rörerbände, sondern auch andere nach dieser 
Richtung noch mangelhaft ausgebeutete, in den letzten Jahrzehnten 
erschlossene Quellen, z. B. Luthers erste Vorlesungen, berücksichtigt 
sind, zugleich als eine Art Register. Buchwalds Neuveröffentlichung 
der Lutherbriefe?”) wendet sich an das „evangelische deutsche Haus“. 
Da die meisten Briefe lateinisch geschrieben sind und viele entweder 
theologische Fragen erörtern oder sich sonst nicht mehr für die heutige 
Lektüre eignen, wollte Buchwald durch eine geschickte, für das bio- 
graphische Verständnis zweckmäßige Auswahl und durch gute Über- 
setzungen den Leser mit Luthers ganzer Persönlichkeit vertraut 


a) Gewerstok, Olga: Lucian u. Hutten. Zur Gesch. des Dialogs 
im 16. Jahrh. (= Germanist. Studien, hrg. v. E. Ebering, 31). 178 S. Berlin, 
Ebering. 

3) Bömer, A.: Verfasser der Epistulae obscurorum virorum. Zentral- 
bl. f. Bibliotheksw. 41, 1—12. (Vgl. Jahresber. 6, 97). 

3) Buchwald, G.: Neues zur Charakteristik Luthers, 67 S. Leipzig, 
Ed. Pfeiffer. 

a7) D. Martin Luthers Briefe, ausgewählt von G. Buchwald, IV, 337 S. 
Leipzig, B. G. Teubner. 


H 67 


machen. Derartige ausgewählte Lutherbriefsammlungen gibt es ja 
schon viele Aber mag auch Buchwalds Entschluß kein originaler 
Gedanke gewesen sein, so ist doch das Ausschlaggebende die für 
solche Zwecke glückliche Durchführung. .Sehr zu begrüßen ist auch, 
daß Buchwald im alphabetischen Verzeichnis der Briefempfänger den 
einzelnen Namen die notwendigen biographischen Daten beigefügt hat. 
Gogartens) Neuveröffentlichung der lutherischen Schrift vom un- 
freien Willen ist durch neuzeitliche religiöse Gedanken veranlaßt. Er 
betrachtet die Auffassung Troeltschs vom Neuprotestantismus zwar 
als natürliche Reaktion gegen die frühere Ansicht, daß der Geist der 
modernen Welt reformatorischen Ursprungs sei, gleichzeitig aber auch 
als einen untauglichen Versuch, den Zusammenhang zwischen diesem 
Geiste und dem Protestantismus aufrechtzuerhalten. Weil jedoch nach 
Gogartens Meinung beide grundsätzlich unvereinbar sind, will er den 
Charakter dieser nicht auszufüllenden Kluft feststellen. Das entschei- 
dende Wahrzeichen der Reformation ist für Gogarten nicht die Be- 
freiung von den Schranken der mittelalterlichen Kirche, sondern die 
„Bindung“ des menschlichen Willens „durch den offenbaren, in die 
Endlichkeit eingegangenen Gott“. Als bestes Beweisstück dient 
Luthers Schrift de servo arbitrio. Dieselbe ist zwar auch in den 
meisten volkstümlichen Lutherausgaben enthalten; indeß hielt Gogarten 
zu ihrer Verbreitung und damit auch zur Rechtfertigung des eigenen 
Standpunktes eine Sonderveröffentlichung für passend, die uns auch 
wissenschaftlich wegen der im Nachwort dargelegten Gesamtansicht 
Gogartens interessiert. — Ein Kabinettstück scharfsinniger Quellen- 
kritik ist Böhm er s?) Untersuchung über Luthers erste Psalmen- 
vorlesung. Während früher das sog. Dresdner Manuskript, welches 
Seidemann herausgab, als einheitliches Ganzes galt, stellte Böhmer 
verschiedene um Jahre auseinanderliegende Bestandteile fest und 
brachte sie mit anderen literarischen Überresten zusammen, die schon 
Koffmane mit der Dresdner Handschrift geistig verknüpft hatte. 
Böhmers Forschungen sind für die Frage, welche Entwicklung 
Luthers Ansichten durchgemacht haben und wann die wichtigsten 
Marksteine anzusetzen sind, von höchstem Wert. — Eine andere 
quellenkritische Untersuchung betrifft eine zuerst 1865 von ihrem da- 
maligen Besitzer Lommatzsch Luther zugeschriebene Handbibel mit 
zahlreichen Einträgen mannigfaltigster Art. Teils durch Schriften- 
vergleichung, teils durch Würdigung charakteristischer Randbemer- 
kungen kam H Volz”) zur Überzeugung, daß sie keinesfalls 
lutherisches Gut war. Die wenigen Anhaltspunkte weisen auf einen 
außergewöhnlich kenntnisreichen oberdeutschen Schreiber, der vor- 


3) Martin Luther: Vom unfreien Willen. Nach der Übersetzung von 
Justus, Jonas, hrg. von Fr. Gogarten. 372 S. München, Kaiser. 

a) Böhmer, Heinr.: Luthers erste Vorlesung (= Berichte über die 
Verhandl. d. Sächs. Akademie der Wissensch. zu Leipzig. Philos.-Histor. 
Klasse, 75 Bd., 1 Heft). 58 S. Leipzig, Hirzel. Vgl. Selbstanzeige, Theolog. 
Literaturbl. 45, 148—150. 

5) Volz, Hans: Eine angebliche Handbibel Luthers. Archiv f. Refor- 
mationsgesch. 161—205. l 


68 


übergehend in Pegau geweilt haben muß. — Um die Forschungen 
G. Buchwalds und O. Albrechts über die Entstehung von Luthers 
Kleinem Katechismus zu ergänzen, beschäftigt sich L. Theobald”) 
mit der Frage, was sich aus den Tischreden für die Geschichte und 
kritische Auslegung des Katechismus ergibt; gleichzeitig nimmt er 
Stellung zu verschiedenen älteren und neueren Meinungsverschie- 
denheiten über dessen Auslegung oder die seiner einzelnen Teile, 
sowie über seine von der mittelalterlichen Praxis abweichende An- 
ordnung. Niesels”) kleine, aber bemerkenswerte Untersuchung 
wurde veranlaßt durch die in seiner „Theologie Osianders“ erhobene 
Forderung Emanuel Hirschs, die nachweisbaren gegenseitigen Ab- 
hängigkeitsverhältnisse in Luthers Schriften aufzudecken. Es liegt 
auf der Hand, daß alsdann einzelne Schriften in ganz anderem Lichte 
als bisher erscheinen, vielleicht sogar sich neue chronologische An- 
haltspunkte für das allmähliche Ausreifen lutherischer Gedanken er- 
geben können. Niesel fand nun zur Bestätigung der Ansichten seines 
Lehrers, daß Luthers Sermon vom neuen Testament großenteils in 
die babylonische Gefangenschaft hineingearbeitet, oft sogar wörtlich 
übersetzt ist, jener also bei der Entstehung der letzteren Schrift 
Luther vorgelegen haben muß. Zum 400jährigen Gesangbuchjubiläum 
hat Smend”) eine Festschrift erscheinen lassen, die keine neuen 
Forschungen enthält, aber als gute zusammenfassende Betrachtung 
eines sowohl kirchengeschichtlich wie hymnologisch vielseitig unter- 
richteten Gelehrten zu begrüßen ist und in eine Würdigung der bis 
zur Gegenwart fortdauernden Kulturmission des Lutherliedes aus 
mündet.) Strohls’) Buch ist die Fortsetzung des 1922 erschie- 
nenen (vgl. Jahresber. 5, 71). Nachdem letzteres Luthers Entwick- 
lungsgang bis zur Entdeckung seiner Rechtiertigungslehre geführt ` 
hatte, verfolgt Strohl jetzt, wie unter deren Eindruck Luthers 
Ideen teils ausreiften, teils sich zurückbildeten: Den Abschluß des 
vorliegenden Werkes bildet die Schrift von der Freiheit des Christen- 
menschen. Auch bei diesem Buche Strohls besteht der Hauptzweck 
und Hauptwert nicht in eigenen originalen Gedanken, sondern in der 
Vermittlung deutscher Forschungsergebnisse an die französischen . 
Fachgenossen; aber ebenfalls gleich seinem Vorgänger kann es ge- 


5) Theobald, L.: Luthers Tischreden u. sein kleiner Katechismus. 
Neue kirchl. Zeitschr. 35, 387—416. 

5) Niesel, W.: Literarkrit. Vergleich von Luthers Sermon vom neuen 
Testament mit dem über die Messe handelnden Abschnitt aus De captivitate 
babylonica ecclesiae praeludium. Ebenda 35, 478—481. 

53) Smend, J.: Das evangel. Lied von 1524. Schriften des Ver. f. 
Reformationsgesch. Nr. 137. 86 S. 1 Abb. Leipzig, M. Heinsius Nacht, 
Eger u. Sievers. 

5) Abert, H.: Luther u. die Musik, 16 S. Flusschrift der Luther- 
gesellschaft. | 

5) Strohl, H.: L’epanouissement de la pensée religieuse de Luther 
de 1515 à 1520 (= Etudes d'histoire et de philosophie religieuses publiées 
par la faculté de théologie protestante de l’Université de Strasbourg. Fasc. 9). 
424 S. Straßburg, Istra. 


69 


Jegentlich auch deutschen Gelehrten durch die gute Zusammenfassung 
dieser Ergebnisse dienen. 

Die Literatur über Luthers Theologie stand auch 1924 noch 
stark unter den Auspizien Karl Holls. Dieser griff selbst noch 
wiederholt in die Erörterungen ein. In einem Schlußworte präzisierte 
er nochmals seine Abweichungen von W. Walther. Außerdem sei 
hier auf seine gediegene Untersuchung über die Geschichte des Wortes 
„Beruf“ verwiesen, die nur ein Forscher schreiben konnte, welcher 
gleichmäßig in der älteren Kirchen- wie Reformationsgeschichte zu 
Hause war”). Holl geht davon aus, daß der Ausdruck Krres schon 
in den paulinischen Briefen vorkommt und dort die Berufung der 
Christen zu einem neuen Lebenswandel bedeutet, daß später das 
Mönchtum den Begriff verengert und auf den Eintritt in den Regular- 
klerus eingeschränkt hat und daß gerade hierdurch die Schätzung 
der anderen Berufe vom religiösen Standpunkte aus geschmälert 
wurde. Die Mystik beseitigte zwar diesen Zusammenhang von Berufung 
und Ordensgelübde, hob aber die mit ersterer verknüpfte Loslösung 
des Berufenen von der Welt nicht auf. So ist verständlich, daß und 
warum durch Luther, der die alten Ideale des weltfernen, gott- 
gefälligen Christen ablehnte und durch das Verlangen eines religiösen 
Lebenswandels der Menschen in dem ihnen von Gott angewiesenen 
Wirkungskreise ersetzte, das Wort „Beruf“ umgedeutet wurde. In 
diesem Zusammenhange sei noch auf zwei kurze, aber wertvolle 
Artikel Holls hingewiesen. Durch seinen Münchner Vortrag”) wollte 
er die von den Refiormatoren gehegte, heute aber auch in evange- 
lischen Kreisen erschütterte Überzeugung neu beleben, daß die Refor- 
mation das ursprüngliche Christentum in seiner Reinheit wiederher- 
gestellt habe. Holl stützt sich dabei auf den Gedanken, Luther habe 
aus seiner eigenen Erfahrung heraus in den Spuren des Apostel 
Paulus die Torheit des christlichen Glaubens wieder entdeckt. An 
einer anderen Stelle”) wendet sich Holl gegen die häufige Auffassung, 
daß Luther sich um die Mission nicht gekümmert hätte, weil er 
erstens an ein baldiges Weltende glaubte und weil er zweitens ange- 
nommen hätte, daß schon zu apostolischen Zeiten das Evangelium 
allen Völkern verkündet worden sei. Holl weist nach, daß diese 
letztere Ansicht nicht dem neuen Testament, sondern der Scholastik 
angehört und daß sie gerade von Luther mit Hinweis auf die Deut- 
schen, bei denen nie ein Apostel weilte, und auf Amerika bekämpft 
wurde. Man hätte vielmehr fragen sollen: wie hätte Luther praktisch 
die Mission in Gang bringen können, nachdem es schon eine große 


5) Holl, K.: Die Ergebnisse der Auseinandersetzung über die Recht- 
fertigungslehre. Neue kirchl. Zeitschr. 35, 47f. 

5) Holl, K.: Die Geschichte des Wortes Beruf. Sitzungsber. der Ber- 
liner Akademie, 29 S. 

5) Holl, K.: Reformation u. Urchristentum. Reden und Vorträge ge- 
an e der 28. Generalversammlung des Evangelischen Bundes in München, 
` -—1D, 
„us! K.: Luther u. die Mission. Neue Allgemeine Missionszeitschr. 
, 30—49. 


70 


f 


A 


Leistung mehrerer Geschlechter war, auch nur in den einheimischen 
evangelischen Ländern einen brauchbaren geistlichen Stand zu schaf- 
. jen?. Holl benutzt seine genaue Kenntnis der lutherischen Schriften, 
um die großen Einflüsse zu zeigen, welche Luthers Gesamtanschau- 
ung auf die Mission ausübte. Unter den noch immer erscheinenden 
Besprechungen von Holls Lutherbuch ist die von H. Hermelink®) 
besonders bemerkenswert. Er schält nicht nur aus jedem einzelnen 
Aufsatze Holls die Grundgedanken heraus, wobei er auf Holls frühere 
Meinungsäußerungen zurückgreift. Noch wichtiger als diese an sich 
gewi ebenfalls lehrreiche Würdigung sind Mermelinks Erörterungen, 
durch welche Beweggründe Holls gesamte Ansichten beeinflußt sind, 
wie sie sich in die bisherige Entwicklung des Lutherstudiums ein- 
reihen und welche neue wissenschaftlichen Aufgaben sie dem künf- 
tigen Forscher stellen. Auf einem ganz anderen Boden stehen die 
„grundsätzlichen Bemerkungen“ Gogartens®). Ihm ist die kriti- 
sche Auswertung von .Holls Ansichten für den Fortschritt der 
reformationsgeschichtlichen Forschung Nebensache. Er betrachtet 
dieselben lediglich als ein bezeichnendes Beispiel, um zu be- 
weisen, daß die Theologie unter: dem Einfluße Kants ihre Aufgabe 
als Wissenschaft falsch auffasse, daß sie sich nicht begnügen dürfe, 
„die wissenschaftlichen Prinzipien auf ihren besonderen Gegenstand, 
also das Evangelium und was zu ihnen gehört“, anzuwenden, sondern 
daß sie dem Grundprinzip der Wissenschaft die Aussage des Evan- 
geliums gegenüberzustellen habe und hierdurch ihre „konstitutive Be- 
deutung für die Wissenschaft“ gewinne. Von diesem Gesichtspunkte 
aus meint Gogarten, daß Holl Luthers Glauben zwar quellen- 
mäßig richtig geschildert habe, daß ihm aber die wissenschaftlichen 
und weltanschaulichen Bedingungen fehlen, um mit Hilfe seiner histo- 
rischen Kenntnisse von Luthers Glauben diesen Glauben richtig zu 
verstehen. Traub“) nimmt ebenfalls im Anschluß an Holls Luther- 
buch einen Gedanken wieder auf, den schon Häring (vgl. Jahresber. 
5, 72) gegen Holl eingewendet und zu dem dieser in der 2. Auflage 
Stellung genommen hatte, nämlich über Luthers Anschauung betreffs 
der menschlichen Erbsünde. Er schließt daran weitere Erörterungen 
über Luthers Ansichten von der „Glaubensbedeutung Christi“ und von 
der Rechtfertigung, wobei er auch von den Meinungsverschieden- 
heiten zwischen Holl und Walther spricht. In mancher Beziehung 
hängt auch dr Artikel Wobbermins®) mit Holls Buch zusammen. 
Um nachzuweisen, daß Luther nicht nur in der Ethik, sondern auch 
— dies freilich bloß mittelbar — in der Erkenntnistheorie Kant den 
Weg bereitet hat, stellt Wobbermin Luthers religiös-theologische 


©) Hermelink, H.: Ein Wendepunkt in der Lutherforschung. Christ- 
liche Welt 38, 99—103. 
Di 4) Gogarten, Fr.: Theologie u. Wissenschaft, ebenda 38—42, 71—-79, 
e) Traub, Fr. EES zu Holls Lutherbuch. Zeitschr. f. 
Theologie u. Kirche, N. F. 5, 165đff. 
68) Wobbermin, Luther, Kant und Schleiernächer u. die Auf- 
gaben der heutigen Theologie. Ebenda S. 104-120. 


/1 


Grundbetrachtung der vorlutherischen gegenüber und muß sich deshalb 
auch mit Holl auseinandersetzen. Er fragt dann weiter, ob Schleier- 
macher durch das Weiterspinnen Kant‘'scher Gedanken zugleich die 
Grundsätze des lutherischen Reformationswerkes zur Geltung gebracht 
habe, und bespricht, inwieweit das der Fall gewesen sei oder nicht. 
Wünschs“) Buch besitzt weniger einen kirchengeschichtlichen, als 
einen praktisch-theologischen Charakter. In seiner Schrift „Die Berg- 
predigt bei Luther“ (1920) hatte Wünsch einer Anregung Troeltschs 
folgend nicht etwa die Beschäftigung Luthers mit dem Texte der 
Bergpredigt verfolgt, sondern untersucht, wie sich seine Bergpredigt- 
gedanken entwickelten und welche Stellung sie in seiner gesamten 
Ideewelt einnahmen. Wünschs Ergebnisse sollten Troeltschs Ansicht 
bestätigen, daß zwischen Luthers Weltethik und der heutigen Zeit 
ein tiefer Unterschied liegt und letztere den Diesseitstrieb freudig 
bejaht, mit allen Kräften fördert und sich ihm nicht mehr bloß resig- 
niert hingeben will. Gegen Wünschs Ansicht wurde vielfach, nament- 
lich von Althaus (Theol. Lit.-Bl. 43, 81 ff.), protestiert. Außerdem bot 
Holls Luthersbuch Wünsch neue Anregungen. Während Holl zwar be- 
tonte, daß Luther ein Kind seiner Zeit war, doch vor allen Dingen frug, 
was Luther dauernd Neues geschaffen, welche bleibenden Richtlinien 
er für die christliche Glauben- und Sittenlehre aufgestellt hat, gibt 
Wünsch zwar auch zu, daß der von Luther begründete Zusammenhang 
zwischen Religion und Sittlichkeit fortlebt, verlangt aber in erster 
Linie, daß Luthers Schlußfolgerungen nach den jetzigen Verhältnissen 
revidiert werden müssen. So stellt Wünsch zwar Luther als hervor- 
ragendstes Beispiel schöpferischer Frömmigkeit hin, möchte aber vor 
allem zeigen, von welchen überholten Vorbedingungen und Gedanken- 
gängen Luther sich hätte leiten lassen. Dabei trat naturgemäß ein Motiv 
zurück: die allmähliche persönliche Entwicklung Luthers verschwindet 
bei Wünsch fast ganz hinter der allgemeinen Würdigung seines Ge- 
samtwerkes. Doch hat er das große, namentlich in der Weimarischen 
Lutherausgabe ausgebreitete Material sorgfältig benutzt. Auch 
: Binders‘) Betrachtung geht von Gegenwartserwägungen aus. Er 
bekämpft die heute weitverbreitete Ansicht, daß Luther nur den „Obrig- 
keitsstaat“ im Auge gehabt hätte und darum rückständig: sei, weil 
jetzt statt dessen der Volksstaat als wahrer Staat gelte. Vielmehr 
schreibt Binder der Reformation eine für die moderne Staatslehre 
unentbehrliche und epochemachende Bedeutung zu. Die Unvollkom- 
menheit in Luthers politischen Ansichten und Ausdrücken hält Binder 
für die Folge der ihm zugänglichen geschichtlichen und zeitgenössischen 
Staatsanschauungen. Den Kernpunkt seines Fortschritts erblickt er 
in der Absage an die Staats- und Weltverneinung Augustins und in 
der Überzeugung vom selbständigen Daseinsrecht einer bürgerlichen 


a) Wünsch, G.: Gotteserfahrung u. sittliche Tat bei Luther. (= Bü- 
cherei der christl. Welt, Heft 4). 77 S. Gotha-Stuttgart, F. A. Perthes. 

6) Binder, J.: Luthers Staatsauffassung, (-:- Beiträge zur Philosophie 
d. dien, Idealismus, herausg. von A. Hoffmann-Erfurt, Beiheft 13). 34 S. Er- 
furt, Stenger. 


72 


Gemeinschaft. Wenn Luther nur von der Obrigkeit redet und keinen 
Staatsbegriff kennt, so kommt das nach Binder daher, daß die Be- 
zeichnung „Staat“ überhaupt erst im 17. Jahrhundert aufkam und daß 
deshalb Luther seine Vorstellungen nur aus dem Familienleben und 
aus den Beziehungen zwischen Fürsten und Untertanen sowie zwi- 
schen den einzelnen Ständen entlehnen konnte. Nachdem Johannes 
Ficker‘) 1920 in der „Zeitschrift des Vereins für Kirchengeschichte. 
der Provinz Sachsen“ die ältesten Lutherbildnisse besprochen und re- 
produziert hatte, ließ er 1924 eine zweite Reihe folgen, aber nicht wieder: 
wie früher nur die unveröffentlichten, sondern auch andere, weil die 
Stellen, an denen gute Reproduktionen zu finden sind, nicht leicht 
zusammengebracht werden können. 

Andere Reformatoren und sonstige Freunde der Reformation. 
Eells Buch‘) über Butzers Stellung zur Doppelehe des Landgrafen 
Philipp, welches außer auf Butzers eigenen Schriften hauptsächlich. 
auf dem von Lenz veröffentlichten Briefwechsel fußt, versucht 
eine Ehrenrettung des Straßburger Reformators. Während ge- 
rade bei dessen diplomatischer Geschmeidigkeit der Gedanke 
naheliegt, daß ihn politische Gründe zum Nachgeben bestimmt 
haben, will Eells als Anstoß nur das menschliche Mitleid mit 
Philipps Gewissensnot gelten lassen. Barons) Arbeit ist der 
Vorläufer eines großen. Werkes über die staats- und sozialpolitischen 
Weltanschauungen im 16. Jahrhundert und soll Troeltsch, auf dessen 
Schultern sie steht, ergänzen. Während nicht nur Troeltsch, ‚sondern 
auch andere wesentlich mit Gegenwartsfragen beschäftigte Gelehrte, 
z. B. Jellinek, ihre Gesichtspunkte aus der Beobachtung der Aufklä- 
rungszeit gewonnen und den Verstandesmenschen des 18. Jahrhunderts. 
historisch analysiert haben, will Baron das „konfessionelle Zeitalter“, 
wie er das Saeculum nach 1530 nennt, ganz für sich betrachten und 
sehen, was es an Motiven für die spätere Staatsanschauung abgeben 
konnte. Dabei hält Baron streng an der Meinung von Troeltsch und 
Max Weber fest, welche Kalvins Vorstellungs- und Gedankenwelt für 
die aufiklärerische Staatsanschauung als fruchtbarer angesehen haben 
als die ihrer Ansicht zu weltabgewandten, unpolitischen Ideen des. 
Luthertums. Ein solches Ziel würde das tiefste Quellenstudium der 
gesamten zeitgenössischen Literatur voraussetzen und könnte nur 
durch zahlreiche Einzelbeobachtungen, die nicht von vornherein ge- 
neralisieren, erfüllt haben. Baron ging einen anderen Weg. Er 
stellte die Anschauungen Kalvins unter einige große Hauptgesichts- 
punkte, kontrastierte jene mit parallelen Äußerungen Luthers und 
anderer Reformatoren und erörterte darauf, worin die Unterschiede und 


e) Ficker,Joh.: Die frühen Lutherbildnisse Cranachs. Zeitschr. des 
Ver. f. Kirchengesch. der Provinz Sachsen, Bd. -20, Beilage. 

67) Eells, Hastings: The Attitude of Martin Butzer toward the Bigamy 
of Philipp of Hesse. VII, 253 S. New Haven, Yale University Press. 

e) Baron, H.: Kalvins Staatsanschauung u. das konfessionelle Zeit-. 
alter (= 1. Beiheft der Histor. Zeitschr.). VHI, 121 S. München u. Berlin, 
R. Oldenbourg. Hierzu vgl. die scharfe Kritik von J. Rückert in Deutsche. 
Litztg. 46, 2010—15. 


13: 


Übereinstimmungen bestanden und welche abweichende oder ver- 
wandte Wirkungen auf die Nachwelt von Kalvin, Luther und den 
- anderen Reformatoren ausgingen. Eine solche Methode ist gewiß 
nicht ohne Verdienste und bringt manche Anregungen mit sich, ruft 
aber andererseits auch starke Wiedersprüche hervor. Pannier®) 
bemüht sich, die Daten der schrittweisen Bekehrung Kalvins zur neuen 
Lehre möglichst genau festzulegen und prüft in diesem Zusammen- 
hange die Angaben von Bezas Biographie. G. Bossert’) zeichnet 
das Lebensbild des Calwer Reformators Marcus Heiland”', 7°). 
Chavan”) verfolgt nicht etwa, wie man das nach dem Titel seines 
Aufsatzes vermuten könnte, die Entwicklung der Melanchthon’schen 
Anschauungen über die Prädestination unter neuen Gesichtspunkten, 
sondern benutzt die geläufigen Forschungsergebnisse, z. B. in See- 
bergs Dogmengeschichte, um eigenhändige Einträge, die er in einer 
alten, einst Melanchthon gehörigen, jetzt antiquatarisch verkäuflichen 
Bibel gefunden hat, wenigstens ungefähr zu datieren.. Das Schriftchen 
von Ehrenzeller”) schreitet nicht über die bisherige Vadianlite- 
ratur hinaus, sondern gibt unter deren sorgfältiger Benutzung ein für 
weitere Leserkreise bestimmtes, anschauliches Bild von der Persön- 
lichkeit und den verschiedenen Wirkungskreisen des Mannes. Deshalb 
ist hauptsächlich sein Leben bis zur Katastrophe von 1531 berück- 
sichtigt, seine letzten 20 Jahre nur insoweit, als Vadians historische 
Werke jedes einzeln gewürdigt werden. Auffallend ist, daß Ehren- 
zeller die neuen literargeschichtlichen Entdeckungen, welche Vadian 
einen Hauptplatz unter den Flugschriftstellern zusprechen, anschei- 
nend nicht kennt. Einen ganz bedeutenden Fortschritt der Zwingli- 
forschung verdanken wir Walter Köhler”). Man darf dessen Werk 
als die Krönung einer fast 20jährigen erfolgreichen Laufbahn bezeich- 
nen. Köhlers akademische Tätigkeit in Zürich, die mit ihr verbundene 
Mitwirkung an der neuen Zwingli-Ausgabe, welche vor allem einen 
klareren Einblick in dieEntwicklung des Reformators gestattet, nament- 


®) Pannier, Jakob: Recherches sur évolution religieuse de Calvin 
jusqu’à sa conversion. Cahiers de la Revue d'histoire et de philosophie reli- 
gieuses, Nr. 8), 48 S. Straßburg, Istra. 

7) Bossert, G.: Markus Heiland, der Reformator von Calw, ein ge- 
nn Pfarrer ohne Universitätsbildung. Blätter für württ. Kirchengesch. 

. F. 18, 1—15. 

71) Stuhlfauth, G.: Ludwig Heilmanns „Lobt Gott, ihr frommen 
Christen“. Monatsschrift f. Gottesdienst u. kirchl. Kunst, 27, 182—192. 227—234. 
Hierzu OÖ. Clemen, Zeitschr. f. Kirchengesch. 44, 129. 

72) Kögler, H.: Die Holzschnitte des Nicolaus Manuel. Jahresber. d. 
ötfentl. „Kunstsammlungen Basels, 1924, S. 43—75. ; 
havan, A.: Melanchthon et la prédestination. Revue d’histoire 
et de SE religieuses, 4, 250—263. 

a) Ehrenzeller, W.: Joachim Vadian. Sein Leben u. seine Be- 
deutung. 54 S. St. Gallen, Fehr. 

”) Köhler, W.: Zwingli u. Luther. Ihr Streit über das Abendmahl 
nach seinen polit. u. religiösen Beziehungen. 1. Bd.: Die religiöse u. politische 
Entwicklung bis zum Marburger Religionsgespräch 1529. (= Quellen u. For- 
schungen zur Reformationsgesch., Bd. 6). XIII, 851 S. Leipzig, M. Heinsius’ 
Nachf. (Eger u. Sievers). 


74 


lich aber auch die außergewöhnlich große Referentenarbeit, durch 
welche Köhler seit Jahrzehnten wohl zu allen halbwegs bedeutenden 
reformationsgeschichtlichen Arbeiten Stellung genommen und sich eine 
einzigartige Literaturkenntnis angeeignet hat, befähigte ihn zu einer 
Arbeit, welche sowohl historiographische als auch politisch-geschicht- 
liche als auch dogmenhistorische Bedeutung hat und für viele darin 
behandelte Fragen eine. ebenso neue wie abschließende Lösung dar- 
stellt. Damit Köhlers Ergebnisse Gemeingut der religionsgeschicht- 
lichen Erkenntnis werden, dazu müßte sich dieser allerdings wohl ent- 
schließen, den wesentlichsten Inhalt seines Werkes noch einmal für 
einen breiteren Interessentenkreis knapp zusammenfassen. Dem un- 
mittelbaren Bedürfnisse des wissenschaftlichen Forschers dient natür- 
lich gerade die jetzige ausführliche, zwischen Untersuchung und Dar- 
stellung hin- und hergehende Behandlung. des Themas. Schon früher 
hatte Köhler darauf hingewiesen, daß nicht Luther, sondern Zwingli 
den negativen Ausgang des Marburger Religionsgesprächs herbeige- 
führt habe, weil letzterer die einheimischen Züricher Parteiverhältnisse 
berücksichtigen mußte. Daneben knüpfte Köhler an Eglis-Erörterungen 
an, warum der Streit gerade um das Abendmahl ausgebrochen sei. 
Indem er solchen Spuren folgte, entdeckte Köhler, daß Zwingli eine 
längere Entwicklung durchlief und hierbei den verschiedensten sach- 
lichen und persönlichen Einflüssen unterlag. Wenn Köhler früher er- 
kannt hatte, daß Zwingli sich fürchtete, durch zu weite Nachgiebigkeit 
sich gegenüber den Schweizer katholischen Widersachern eine Blöße 
zu geben, so stellt Köhler im neuen Buche fest, daß gerade diese schon 
früher an der Vertiefung der Meinungsverschiedenheiten gearbeitet 
haben, nachdem bis 1524 Zwingli mit Luther auch in der Abendmahls- 
lehre zusammengegangen war. Dem 2. Bande darf man gespannt ent- 
gegensehen. | 
Katholische Kirche, Kalkoff*) bekämpft die Ansicht, daß 
Aleander ein Vorläufer und später ein entschiedener Anhänger der 
katholisch-kirchlichen Reformpartei gewesen sei und daß er nach seiner 
Priesterweihe den früheren anstößigen Lebenswandel aufgegeben 
habe 771 Keil”) veröffentlicht die Streitschriften, welche der kur- 
trierische Hofrat und Professor Latomus gegen seinen früheren Freund 
Butzer verfaßte, damit sich nicht die durch Hermann von Wied ein- 
geleitete Kölnische Reformation auf die benachbarte Trierer Diözese 
fortpflanzte.. Die Streitschriften bieten auch insofern ein gewisses 
Interesse, weil Latomus kein Fachtheolog, sondern Jurist war. 


7) Kalkofif, P.: Zur Charakteristik Aleanders. Zeitschr. f. Kirchen- 
gesch., 43, 209—219. 

7) Hommel, H.: Zwei Glossen der alten Christen auf die neuen Ar- 
tikel der Visitatoren. Eine neuentdeckte Schrift des Cochläus. Zentralbl. f. 
Bibliothekwesen 41, 221—27. : 

78) Bartholomäus Latomus: Zwei Streitschriften gegen Martin Butzer 
(1543—45). Hggb. von Keil (= Corpus catholicorum, Bd. 8). XXIII, 167 S. 
Münster i. W., Aschendorff. 


75 


Scriba” benutzt eine Abschrift aus der Totenliste. des ehemaligen 
Dominikanerklosters in Wimpffen, die schon Negwer, der letzte Bio- 
graph Wimpinas (1909), abgedruckt, aber für wertlos erklärt hatte, um 
diese Quelle mit einigen älteren Autoren zusammenzuhalten und aus 
ihr doch noch eine bemerkenswerte Lebensnachrichten zu gewinnen. 

Sekten. Fässers®) Geschichte des Wiedertäuferreichs in 
Münster hat W. Siehoff unter Berücksichtigung der neuen Forschungen 
in 2. Auflage herausgegeben. Es ist eine geschickte, volkstümliche 
Darstellung für weitere Kreise vom-katholischen Standpunkte aus. Auf 
kritische Fragen geht sie nicht ein. Ebensowenig reiht sie den Mün- 
sterischen Aufstand in einen größeren, sei es orts-, sei es ideenge- 
schichtlichen Zusammenhang. Ihre Absicht ist nur, den dramatischen 
Verlauf des Aufruhrs schlicht zu erzählen. — Wir reihen bier einen 
Mann an, welcher zeitlebens Einspänner gewesen ist, und in jedem 
Kapitel nur künstlich untergebracht werden kann; deshalb soll er am 
Schlusse des ganzen Abschnittes berücksichtigt werden. Es ist der 
Naturforscher und Arzt Theophrast Paracelsus, dessen theologische 
und philosophische Anschauungen erst neuerdings besser bekannt und 
durchforscht worden sind (Jahresber. 6, 110ff.). Vor 15—20 Jahren hat 
Strunz) das Leben und die Bedeutung dieses Mannes teils in einer 
größeren Biographie, teils in verschiedenen Einzelarbeiten historisch- 
kritisch behandelt. Es war ihm Bedürfnis, noch einmal in einer ge- 
drängten Form die Persönlichkeit, ihre wechselvollen Schicksale und 
vielseitigen Wirkungskreise zu schildern, zumal der reiche, seit seinen 
früheren Arbeiten erschienene Stoff Gelegenheit zu manchen Ergäu- 
zungen und Berichtigungen bot. Die dem Schriftchen beigegebene 
Litraturübersicht ist bei der Zerstreutheit des Materials besonders 
dankenswert; sie umfaßt auch die dichterischen Werke über 
Paracelsus. 


73) Scriba, Otto: Konrad Wimpina. Blätter für württ. Kirchengesch., 
N. F. 28, 143—163. 
8) Fässer, Joh. Christ.: Das Wiedertäuferreich zu Münster i. W.. 
2. Aufl., 173 S. Münster i. W., Theissing. 
8t) Strunz, Franz: Paracelsus, Eine Studie. (= Die Schweiz im dten. 
GE E herausg. von Harry Maync [Bern], Bd. 27). 102 S. Leipzig, 
. Hessel. | 


76 


C. Kapitel H. 
Gegenreformation und Dreißigjähriger Krieg. 


(Wolf.) 


Die gesammelten Schriften Eberhard G o thein st) über Kultur- 
geschichte der Renaissance, Reformation und Gegenreformation ver- 
zeichnen wir erst in diesem Abschnitte, weil ihr wichtigster in die 
deutsche Geschichte einschlagender Bestandteil der Wiederabdruck 
seines Beitrags zu Hinnebergs „Kultur der Gegenwart“ ist. Der Her- 
ausgeber Salin schickt dem ersten Bande’eine biographische Würdigung 
Gotheins voraus, welche aber mehr vom Standpunkte eines dankbaren 
Schülers aus Gotheins Heidelberger Jahren geschrieben ist, als dessen 
Bedeutung innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft klarlegt. 
Gothein ist deshalb vielfach verkannt worden, weil er durch seine 
Lebensverhältnisse früh in nationalökonomische Professuren hineinkam, 
obgleich seine Hauptleistungen auf historischem Gebiete lagen. Ältere 
Fachgenossen erinnern sich seines Streites mit Dietrich Schäfer über 
Berechtigung und. Aufgaben der Kulturgeschichte neben der staatlichen 
Historie. Was Gothein in seiner Abhandlung „Staat und Gesellschaft 
im Zeitalter der Gegenreformation“ bot, war eine Nutzanwendung 
seiner vorher aufgestellten Grundsätze. Gothein brach darin erst- 
malig und zielbewußt mit der Ansicht, daß das Wort Gegenreforma- 
tion ausschließlich Regierungsmaßregeln zur Unterdrückung anders- 
gläubiger Untertanen durch katholische Landesobrigkeiten bedeute. 
Vielmehr bestimmte Gothein den Charakter der Gegenreformation nach 
den Einwirkungen, welche der nachtridentinische Katholizismus auf 
die von ihm ergriffene menschliche Gesellschaft und, auf deren ver- 
schiedenste Betätigungsfelder ausübte. An Gotheins Texte ist gar 
nichts geändert, in den Anmerkungen nur das, was lediglich vorüber- 
gehende Bedeutung zu haben schien, gestrichen worden. Der Heraus- 
geber hat also nicht, wie das meist geschieht, die Anmerkungen durch: 
Verweise auf die Literatur bereichert, welche seit der Veröffent- 
lichung der Gotheinschen Arbeiten erschienen ist. Der Schwerpunkt 
von Leubes Buch?) liegt zwar im späteren 17. und im 18. Jahr- 
hundert; doch besitzt dasselbe auch für die früheren Zeiten erheb- 
liche, namentlich grundsätzliche Bedeutung. Leube will nämlich nach- 
weisen, daß das Bild von der lutherischen Orthodoxie, welcher eine 
Erstarrung im Buchstabenglauben vorgeworfen wird, aus der Zeit des 


1) Gothein, Eberh.,: Schriften zur Kulturgesch. der Renaissance, Re- 
jormation u. Gegenreformation. Mit einer biograph. Einleitung bech von 
Edgar Salin, Bd. 1: Die Renaissance in Süditalien XXXI, 4, 268 S. Bd. 2: 
A a u. Gegenreformation, 290 S. München u. Leipzig, Duncker u. Hum- 
btot. 

2) Leube, H.: Die Reformideen in der deutschen luther. Kirche von 
Zeit der Orthodoxie. V., 184 S. Leipzig, Dörffling u. Franke. 


77 


Pietismus und der Aufklärung stammt und hierdurch die Äußerungen 
des orthodoxen religiösen Lebens und die damaligen praktischen Re- 
formbestrebungen zu kurz kommen. Zu diesem Zwecke liefert Leube 
zur evangelischen Kirchengeschichte auch der früheren Zeit nach zwei 
Richtungen hin wertvolle Beiträge. Erstens betrachtet er die Auf- 
fassung von der Orthodoxie durch die Theologengenerationen seit dem 
Beginne des 18. Jahrhunderts bis zu den neuesten Darstellungen von 
Lamprecht und Uhlhorn herunter als Forschungsproblem, leistet also 
eine historiographische Arbeit. Zweitens schildert er von sich aus die 
orthodoxen Reformbestrebungen und sucht zu zeigen, wie damals alle 
kirchlichen Kreise nach Reformen drängten, daß mithin die Klagen, 
welche sogar aus dem eigenen Lager über die unbefriedigenden Zu- 
stände ertönten, mindestens stark übertrieben waren. Beweist der 
erste Abschnitt Leubes große Literaturkenntnis, so vertieft letzterer 
im zweiten sich in die zeitgenössischen Schriften und gruppiert deren 
Würdigung um bestimmte, geographisch begrenzte Mittelpunkte der 
damaligen Orthodoxie. 

Einzelne Ereignisse. Rachfahl’) hat noch kurz vor seinem 
Tode nach zwanzigjähriger Pause den 3. Band seines Oranien fertig- 
gestellt. Die im Vorworte ausgesprochene Hoffnung auf einen weiteren 
Teil wird leider unerfüllt bleiben, weil das Manuskript infolge testamen- 
tarischer Verfügung eingestampft wurde. So ist das jetzt bis 1569 ge- 
führte Werk Torso geblieben und schließt gerade mit einem Zeitpunkt 
ab, wo Oranien seine Versuche aufgab, von außen her mit deutscher 
Hilfe in die Niederlande einzudringen, und wo die Empörung auf dem 
einheimischen Boden selbst aufloderte. Wie seine Vorgänger fußt 
auch dieser 3. Band auf einem reichen, ungedruckten Material und 
auf einer sorgfältigen Verarbeitung der kaum übersehbaren Literatur. 
Neben den Brüsseler Beständen hat das Dresdner Archiv wertvolle 
Aufschlüsse gestattet; denn so tatenunlustig Kurfürst August war, so 
eifrig war er umworben und so fleißig wurde er unterrichtet, sodaß 
die überdies fast lückenlos erhaltenen kursächsischen Akten manche 
Informationen enthalten, die man dort nicht suchen würde. Außerdem 
schöpite Rachfahl namentlich aus den Papieren der Länder und Städte, 
welche an die Niederlande angrenzten, also vor allem aus dem Kölner 
Stadt- und Düsseldorfer Staatsarchiv. Es ist nicht die Schuld des 
Verfassers, sondern durch den zu behandelnden Gegenstand begrün- 
det, daß die besonders im 1. Bande hervorgetretenen starken Seiten 
von Rachfahls Begabung, seine Fähigkeit, die großen verfassungs- und 
sozialgeschichtlichen Zusammenhänge und die historischen Voraus- 


setzungen bestimmter Ereignisse und Bestrebungen zu schildern, dies- ` 


mal zurücktreten. Denn von den Niederlanden selbst ist im 3. Bande 
wenig die Rede. Sein wichtigster Gegenstand ist der erste, von 
außen hineingetragene Freiheitskampf und dessen diplomatische Vor- 
bereitung. Nur der Kritiker, welcher persönlich die viele Bände füllen-. 


3) Rachfahl, F.: Wilhelm von Oranien u. der niederländische Auf- 
stand. A Bd. XI, 705 S. Haag, Martinus Nijhoff. 


/8 


vin mp ` R, 


den, aber verhältnismäßig ertraglosen Korrespondenzen jener Zeit 
durchgearbeitet und versucht hat, die springenden Punkte aus dem 
Wirrwarr kleinlicher politischer Auseinandersetzungen herauszufinden, 
kann ermessen, welche entsagungsvolle Tätigkeit, aber auch welche 
Kunst, die wichtigsten Linien fest im Auge zu behalten, zur Vollendung 
dieses 3. Bandes gehörte.) — Nachdem im Auftrage der belgischen 
Historischen Kommission Cauchie in Verbindung mit René Mare die 
Generalinstruktionen für die Nuntien in Flandern herausgegeben hat, 
beginnt jetzt das belgisch-historische Institut in Rom die korrespon- 
dierenden Nuntiaturberichte zu veröffentlichen. Der von L. von der 
Essen besorgte 1. Band?) besitzt für die deutschen Forscher beson- 
dere Wichtigkeit. Frangipani war nämlich vor seiner Brüsseler Zeit 
Nuntius in Köln. Seine früheren Depeschen gab Ehses in den „Quellen 
und Forschungen aus dem Gebiete der Geschichte“ heraus. Die biogra- 
phischen Notizen, mit welchen dieser seine Veröffentlichung einleitete, 
lassen sich wesentlich durch eine .Lebensskizze bereichern, welche 
Schmitz in der Pariser Nationalbibliothek entdeckte. Essen schreibt 
sie Frangipanis vertrautem Sekretär Heinrich Stravius zu und fügt sie 
anhangsweise seinen Nuntiaturberichten bei. Außerdem enthält Essens 
Finleitung Bestandteile von allgemeiner Tragweite. Denn was er über 
das Personal der Nuntien, ihre Fakultäten, Geschäftsführung, Schrift- 
stücke usw. sagt, gilt keineswegs nur für den Brüsseler Posten. Aber 
auch inhaltlich interessieren uns die Depeschen wegen der zwar ge- 
lockerten, aber noch keineswegs unterbrochenen Beziehungen zwischen 
den Niederlanden und Deutschland. Gaħz abgesehen davon bilden sie 
einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der damaligen kirchlichen 
Reorganisationstätigkeit, die sich ja auch nicht auf die Niederlande be- 
schränkte.. Wurde doch, nachdem sich die außenpolitischen Verhält- 
nisse einigermaßen wieder gefestigt hatten und infolge Alberts und 
Isabellas Statthalterschaft in Brüssel ein Nuntius beglaubigt werden 
konnte, dieser Posten mit dem bewußten Zwecke geschaffen, hier im 
Grenzland des katholischen Machtbereichs das arg gefährdete religiöse 
Leben wieder aufzufrischen. Bemerkenswert ist, daß durch diese 
Tätigkeit Frangipani in einem günstigeren Licht erscheint als Jurch 
seinen vorangegangenen Kölner Wirkungskreis. Offenbar lagen 
Frangipani die reformatorischen Aufgaben besser als die schwierigen 
diplomatischen Verhandlungen. Hingewiesen sei auch auf verschiedene 
Einzelarbeiten Essens,‘) welche eng mit seiner Veröffentlichung der 
Nuntiaturberichte zusammenhängen. 


Landesgeschichte (in alphabetischer Reihenfolge). Über die 
Visitationen, welche der bergische Landschreiber Dietrich Grymnäus 
1589 ausführte, haben schon Harleß und Redlich wichtiges Material 


$% Rachfahl, F.: Die Hanse u. die Niederlande in der zweiten Hälfte 
des 16. und im Anfang des 17. Jahrh. Zeitschr. des Ver. f. Hamburgische Gesch. 
25, 278—289. (Ausführliche Würdigung des Werkes von Häpke; vgl. Jahres- 
berichte 6, 82). 


79 


veröffentlicht. Forsthoff”) hat jedoch noch mancherlei gefuaden, 
was den bisherigen Stoff besonders nach der biographischen Richtung 
hin ergänzt. Er verschmilzt: dieses mit dem, was sich aus dem schon 
Gedruckten ergibt, zu Personalschilderungen aus dem evangelischen 
Leben verschiedener Gemeinden in der zweiten Hälfte des 16. Jahr- 
hunderts. Einen weiteren Einblick in die damaligen bergischen Kirchen- 
zustände gewährt uns ein Artikel von Rudolf Vömel,) der die Schick- 
sale der.reformierten Gemeinde Gruiten bei Elberfeld durch die Jahr- 
hunderte verfolgt und bei den gegenreformatorischen Zeiten besonders 
ausführlich ist. Auch hier ruht das Hauptgewicht auf den Personal- 
nachrichten. Der neueste Band von Bretholz”) böhmisch-mäh- 
rischer Geschichte (vgl. Jahresber. 5, 56) beschäftigt sich in seinem 
ersten Teile hauptsächlich mit den großen Umwälzungen, welche nach 
der Schlacht am weißen Berge eintraten und das Kultur- und Wirt- 
schaftsleben des Landes aufs empfindlichste schädigten. Bretholz 
weist selbst darauf hin, daß er in einer zusammeniassenden Darstellung 
das weitschichtige Material zur Geschichte verschiedener dieser 
Fragen, welches nicht nur in der umfangreichen Literatur, sondern 
vor allen Dingen in ungedruckten Akten steckt, nicht erschöpfend aus- 
beuten konnte. Er führt deshalb nur einzelne zeitgenössische Stimmen 
an, die ihm besonders beachtenswert dünkten, und würdigt dieselben. 
Besonderes Gewicht legt er auf den Nachweis, daß die Alleinherrschaft 
der tschechischen Sprache vor dem Umsturz von 1620 sich auf den 
Adel beschränkte und sonst alle böhmischen Kreise Deutsch konnten. 
Ob hierfür freilich die starke, nach 1820 einsetzende Auswanderung in 
die deutschen Gebiete als „sicheres“ Zeichen gelten darf, ist die Frage. 
Seine Angaben über die Schäden des dreißigjährigen Krieges stützt 
Bretholz auf Quellen, die wegen ihrer Veröfientlichung in tschechischen 
Publikationen den deutschen Gelehrten so gut wie unbekannt sind, u.a. 


e) Correspondance d‘Ottavio Mirto Frangipani, premier nonce de Flandre 
{1596—1606) publiée p. Léon van der Essen. tom. I.: Lettres (1596—98) et 
annexes (= Analecta Vaticano-Belgica publiés par l'institut historique belge 
de Rome 2. série: nonciature de Flandre 1.) LXXXII, 452 S. Rome; Institut 
historique belge. 

7) Essen, Léon van der: Les origines et le développement de la di- 
plomatie á l’époque moderne (16e—18e siècle.) Revue générale (Brüssel) 67, 
265—287; rapport sur la publication d'un ensemble de documents extraits des 
archives Farnésiennes de Naples concernant histoire économique et sociale des 
. Pays-Bas au 17e siècle, i. Bulletin de la Commission Royale d’histoire 87, 21-37; 
intervention de Marguerite de Parme dans le mouvement de réconciliation des 
provinces Wallones (1579) ebenda 88, 1—12; un cahier de doléances des prin- 
cipaux conseils des Pays-Bas concernant la situation des provinces obéissantes 
- sous le gouvernement de l‘archiduc Ernest (1594—95) ebenda 88, 291—311; la 
nonciature de Bruxelles depuis son origine jusqu’& sa suppression 1795 in Revue 
générale 68, 165—186. 

"JI Forsthoff: Aus der Gegenreformation im Bergischen, Monats- 
hefte f. rhein. Kirchengesch. 18, 69—84. . 

e es T mel, R.,: Aus der Gesch. der evangel. Gemeinde Gruiten, ebenda, 
°) Bretholz: Geschichte Böhmens u. Mährens. 3. Bd.: Dreißigjähr. 
Krieg u. Wiederaufbau bis 1792. 241 S. Reichenberg, Paul Sollors Nachf. 


80 


auf einen Bericht des Prager Kardinalerzbischofs Harrach nach Rom. 
-Die Vorzüge der Darstellung, welche ich am 2. Bande hervorhob, teilt 
auch dessen Nachfolger. Eine wichtige Aktenpublikation zur Ge- 
schichte der katholischen Gegenreformation in Böhmen hat Ignaz 
Kollmann!) begonnen. Leider fehlt diesem Anfang noch jede Ein- 
leitung, welche uns eingehender über Fundstätten, Überlieferung und 
Beschaffenheit der Quellen usw. unterrichtet und uns die Einrichtungen, 
den Geschäftsgang und die früheste Geschichte der Kongregation ver- 
gegenwärtigt. Der Leser erfährt bisher nur kurz, daß der meiste Stoff 
aus dem Archiv der Kongregation in Rom stammt. Im übrigen muß er 
seine Kenntnisse mühsam aus der eigenen Aktenlektüre und aus den 
sehr reichhaltigen Anmerkungen, in denen vielfach noch wertvolles 
weiteres Material veröffentlicht wird, zusammensuchen. Die Bedeu- 
tung der Publikation geht über Böhmen erheblich hinaus. Wir erhalten 
erstmalig eine Einsicht in die ersten Anfänge des berühmten Instituts. 
Im Vordergrunde stehen die Berichte des Wiener Nuntius Carafa, 
welcher sofort vom Kardinalnepoten Ludovisi angewiesen wurde, Auf- 
träge der Kongregation entgegenzunehmen und über alle Dinge, die 
zu ihrem Bereiche gehörten, entweder an Ludovisi selbst oder an den 
Vorsitzenden der Kongregation Kardinal Sauli zu berichten. Da sich 
unter diesen Schreiben nicht nur fortlauiende Depeschen, sondern auch 
größere zusammenfassende Darstellungen befinden, so bereicherte Koli- 
mann durch seine Publikation unser Material an Vorarbeiten für die 
berühmte Sammelrelation Carafas, welche eine unserer wichtigsten 
Quellen zur Geschichte des dreißigjährigen Krieges ist. Kollmann hat 
sich bemüht, dem Material nachzugehen, aus welchem Carafa in diesen 
Schilderungen schöpfte. Als Quellen hat er unter anderem bischöfliche 
Diözesanberichte und die Denkschrift Minuccis an Sixtus V. nachge- 
wiesen. Außer von Carafa strömten bei der Kongregation auch von 
den verschiedensten anderen Seiten zahlreiche Vorschläge und 
Wünsche und ein umfassendes Informationsmaterial zusammen, z. B. 
vom Kardinal Dietrichstein aus Olmütz oder vom Franziskaner Hiero- 
nymus Lapi. Als Frucht der Kollmannschen Publikation kann eine 
Arbeit von Käthe Spiegel') angeschen werden. Doch hat die Ver- 
-fasserin daneben noch eigene Studien im inneren ministerialen Landes- 
und im Universitätsarchiv in Prag getrieben. Es handelt sich um die 
dreißigjährige Krisis der Prager Hochschule, welche durch die Schlacht 
am weißen Berge hervorgerufen, aber erst nach dem westfälischen 
Frieden beendigt wurde. Während bis 1620 in Prag zwei Anstalten 
nebeneinander bestanden hatten, erstens die alte, im 16. Jahrhundert 
großenteils der neuen Lehre verfallene Universität und zweitens die 
von Ferdinand I. im Jahre 1562 errichtete Jesuitenakademie, lag es 


10) Acta sacrae congregationis de propaganda fide res gestas Bohemicas 
nlustrantia Tomi I. pars I. 1622—23. Opera Ignatii Kollmann edidit Comi- 
tiorum Bohemiae deputatio, 475 S. Pragae, sumptibus Comitiorum Bohemiae 
Gregerianis. 

1) Spiegel, Käthe: Die Prager Universitäts-Union. Mitteil. d. Ver. 
i. Gesch. d. Dten. in Böhmen, 62, 5—94. 


"SI 


jetzt nahe, beide Schulen zu verschmelzen und die Jesuiten zu alleini- 
gen Herren zu machen. - Der Plan wurde von Ferdinand Il. eifrig be-. 
fürwortet. Aber der Prager Erzbischof, die römische Kurie, der. 
Wiener Nuntius, die anderen Orden, welche ebenfalls Lehrkanzeln an 
der Universität anstrebten, bereiteten Schwierigkeiten. Frl. Spiegels 
Arbeit wirft also ein Licht darauf, wie nach Überwindung des gemein- 
samen Gegners die innerkatholischen Parteigegensätze ausbrachen. 
Clauss!) begann 1924 mit Veröffentlichungen aus den Gunzenhäuser 
Visitationsakten, einer beachtenswerten Quelle zur späteren Reforma- 
tionsgeschichte in der Markgrafschaft Brandenburg-Ansbach. Sie sind 
von 1567 ab für das ganze Dekanat vorhanden und verteilen sich auf 
das nächste halbe Jahrhundert. Im Vordergrunde stehen die Persön- 
lichkeiten und Leistungen der Pfarrer; aber auch an sachlich interes- 
santen Bemerkungen fehlt es nicht. So erfahren wir, daß es noch um 
1600 Pfarrer gab, die nicht studiert hatten; wir lernen außer Qualifika- 
tionen und Lebensläufen auch die wirtschaftlichen Verhältnisse der 
Geistlichen kennen und werfen bisweilen einen Blick in ihre Biblio- 
theken. Franz von Ge y s o s*) Beiträge zur Politik und Kriegführung 
Hessens im dreißigjährigėn Kriege sind bis kurz nach der Schlacht bei 
Nördlingen gediehen und werden infolge Geysos Tod wohl nicht fort- 
geführt werden. Durch diesen unbeabsichtigten Schlußpunkt werden 
sie noch mehr, als das schon in der Verwandtschaft des Themas und 
der teilweisen Gleichheit der benutzten Akten liegt, zum Gegenstück 
von Kretzschmars Werk über den Heilbronner Bund. Nur hat 
Kretzschmar außer diesen hessischen Papieren noch viele andere Ar- 
chive benutzt, Geyso sich dagegen auf Marburg beschränkt. Trotz- 
dem schon dadurch Kretzschmars Buch außerordentlich viel wertvoller 
ist, werden sich Geysos Artikel daneben behaupten. Ob er freilich mit 
seiner Mauptthese durchdringt, daß Landgraf Wilhelm im Denken und 
Wollen den anderen evangelischen Fürsten weit überlegen gewesen 
und bei Befolgung seiner Pläne die deutschen Protestanten aus dem 
Kriege siegreich hervorgegangen wären, ist eine andere Frage. Aber 
jedenfalls ist wichtig, daß überhaupt einmal Wilhelms Politik und 
Kriegführung aktenmäßig und eingehend geschildert wurde. — Wäh- 
rend vor zwanzig Jahren Friedrich Schneider auf Grund eines Zufalls- 
fundes das Tun und Treiben des Mainzer Domherrn Werner von Bodel- 
schwingh nach dessen notariell aufgenommenem Inventar als typisches. 
Beispiel für das Alltagsleben eines Mainzer Grandseigneurs schilderte. 
standen Veit’) für sein kulturhistorisch interessantes Bild aus der 
Mainzer Kirchengeschichte im Würzburger Archiv 30 Bände mit Testa- 
menten, Nachlaßverzeichnissen, Rechnungen, Nachlaßversteigerungs- 


1?) Clauss, H.: Aus Gunzenhäuser Visitationsakten d. 17. Jahrh. i. 
Beiträge zur bayr. Kirchengesch. 31, 101—110. 

13) Geyso F. v.: Politik u. Kriegführung Hessens im Zeitalter des. 
dreißigjiähr. Krieges. Zeitschr. d. Ver. f. hess. Gesch. 1—160. 

1) Veit, A. L.: Mainzer Domherren vom Ende des 16. bis zum Ais 
Fans ee Jahrh. im Leben, Haus und Habe. XVII, 223 S. Mainz, Kirch- 
eim u. Co. 


82 


protokollen usw. zu Gebote. Außerdem’zog er noch andere Akten, 
namentlich eine relatio status vom November 1629 mit reichen stati- 
stischen Angaben, hervor. Nach all diesen Schriftstücken zeichnete er 
das Auftreten, die Interessen, Wohnung, Kleidung, Lebensweise eines 
-Domherrn. Dabei flocht er auch manche biographisch beachtenswerte 
Episode ein. Doch habe ich schon an anderer Stelle (Zeitschrift für 
Kirchengeschichte 45, 151) mein Bedenken geäußert, ob sich nicht aus 
diesem immerhin einseitigen Material eine zu günstige Auffassung vom 
Zustand und von den Lebensanschauungen des Domkapitels ergibt. 
Ein Artikel von Heini der sich auf die Finanzakten des Berliner 
und Königsberger Archivs stützt, aus ihnen zahlreiche statistische Mit- 
teilungen bringt und dadurch Triebels Buch über die preußische Finanz- 
verwaltung während der ersten Regierungsjahre des Großen Kur- 
fürsten ergänzt, zeigt erstens, wie festgewurzelt die landesherrliche 
Macht in Preußen damals schon war und wie zweitens das Herzogtum 
zu jener Zeit die Haupkraftquelle für den Gesamtstaat sowohl in mili- 
tärischer wie in finanzieller Beziehung bildete. Hein gibt einen treff- 
lichen Überblick über Preußens Leistungen für den kurfürstlichen 
Haushalt, für die märkischen Domänen und für die Truppen. 
A. Heskele) liefart einen Beitrag zur Geschichte eines Mannes, der 
wohl einmal eine ausführliche Biographie verdiente. Friedrich Leb- 
zelter ist den meisten Forschern, welche die Dresdener Archivalien 
aus dem dreißigiährigen Kriege benutzt haben, wegen seiner „Zei- 
tungen“ aus Prag, einem Mittelding zwischen iournalistischem und 
diplomatischem Bericht, bekannt. Weil Kursachsen noch keinen stän- 
digen Gesandten in Böhmen hatte, wurde er bisweilen auch in wich- 
tigeren Geheimsachen gebraucht. Um seine spätere Wirksanıkeit 
kümmerte man sich dagegen wenig. Wohl weil er dort nicht wieder 
so lange weilte wie in Prag, wurden seine Briefe aus Regensburg vom 
Jahre 1621 erst von Walter Götz ausgebeutet. Darum ist zu be- 
grüßen, daß MHeskel auf die ebenfalls in Dresden befindlichen ganz 
gleichartigen Berichte Lebzelters aus seiner Hamburger Zeit hinweist 
und charakteristische Auszüge bringt. Die nach dänischen und schles- 
wig-holsteinischen Archivalien verfaßte Arbeit von Langendorff") 
beschäftigt sich mit den holsteinischen Erb- und Lehensstreitigkeiten 
in der zweiten Hälfte des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Ihr 
Hauptgewicht beruht in der ausführlichen Schilderung der langen Ver- 
handlungen. Sie interessiert uns durch die Vielseitigkeit der sich kreu- 
zenden Gegensätze und ihre mannigfache Verflechtung. Während 
sonst Fürsten und Stände einander bekämpiten, trat zeitweilig eine 
Interessengemeinschaft zwischen den regierenden älteren Brüdern, 
welche ihr Erbe nicht mit den jüngeren Geschwistern teilen wollten, 


35) Hein, M.: Leistungen Preußens für den Gesamtstaat im ersten 
Jahrzehnt des Großen Kurfürsten. Altpreuß. Forsch. 1, 57—80. 
Heskel, A.: Friedrich Lebzelter als kursächsischer Agent in 
en Zeitchr. d. Ver. f. Hamburgische Gesch. 25, 210—221. 
17) Langendorf, P.: Herzog Johann der Jüngere zu Schleswig- 
Holstein-Sonderburg. Nordelbingen, 3, 341—410. 


H 83 


und dem Adel ein, der sich. gegen Johann den Jüngeren, einen naclı- 
geborenen Bruder König Friedrichs II. von Dänemark, wehrte. N or d- 
mann’) weist nach, daß eine von ihm aufgefundene Genfer Hand- 
schrift mit einem in Hallers Bibliothek der Schweizergeschichte er- 


wähnten ungedruckten Auszug aus Michael Stettlers Schweizerchronik 


identisch ist, daß es sich aber nicht um einen Auszug, sondern um Vor- 
arbeiten handelt. — Seit Konrad Ferdinand Meyer seinen Roman ge- 
schrieben, sind Georg Jenatsch, ursprünglich Pfarrer in Scharans und 
dann aktiver Politiker, und die Graubündener Wirren ein beliebter 
Forschungsgegenstand geblieben. Namentlich hat letzteren Ernst 
Haffter von Weinfelden auf Grund eines reichen archivalischen Mate- 
rials behandelt. Bei Erörterung der Quellen zur Biographie Jenatschs 
hat er sich Ww einem besonderen Exkurs mit dem in Chur liegenden 
Verhörsprotokoll beschäftigt.- Dieses hat jetzt F. Jecklin‘®) heraus- 
gegeben. Im Anschluß daran hat Valer besprochen, was sich aus dem 
Protokoll mit Sicherheit ergibt und welche Fragen offen bleiben. Hier- 
bei kommt zu manchen von Haffter und anderen abweichenden Er- 
gebnissen. 


Ortsgeschichte (in alphabetischer Reihenfolge). Hertzberg?) 
veröffentlicht biographisch, politisch, verfassungsgeschichtlich und kul- 
turhistorisch interessante Notizen aus dem Tagebuche des Bremer 
Ratsherrn Henrich Salomon (1528—1597). Derselbe entfaltete lange 
Jahre hindurch eine wichtige amtliche Tätigkeit, erfuhr vieles nicht 
allgemein Bekanntes und schrieb seine Eindrücke gewöhnlich unmittel- 
bar nach'den Ereignissen nieder. — Die Festgabe des westpreußischen 
Geschichtsvereins für die Tagung seines hansischen Bruders war ein 
Stück aus der geplanten Fortsetzung von Simsons!) Geschichte 
der Stadt Danzig. Sie ist so veröffentlicht worden, wie sie sich im 
Nachlasse vorfand. Obgleich schon hier die souveräne Herrschaft des 
Verstorbenen über den Stoff sich kundgibt, gewinnt man doch den 
Eindruck, daß es sich um die erste rohe Verarbeitung des archivali- 
schen Materials handelt. Dafür spricht schon rein äußerlich, daß sich 
Simson fast ausschließlich auf seine archivalischen Vorlagen bezieht, 
diese aber fast in jedem Textsatze zitiert und so häufig die gleiche 
Anmerkung mit verschiedenen Stichwörtern verbindet. Bei eigener 
Ausarbeitung hätte Simson außerdem zweifellos auch die gedruckte 
Literatur noch stärker herangezogen. Wie bei der Lage Danzigs 


selbstverständlich, handelt es sich in Simsons Fragment vor allem um 


das Ringen zwischen Schweden und Polen, welches Gustav Adolfs 


t 


18) Nordmann, Th.: Eine wiedergefundene Stettlerchronik. Archiv 
des histor. Ver. d. Kantons Bern, 27, 169—186. 


1) Jecklin, F. u. Valér, M.: Die Ermordung Georg Jenatschs. Zeit- 
schr. f. schweizer. Gesch. 4, 396—444. 


2) Herrzberg, H.: Das Tagebuch des bremischen Ratsherrn Salo- 
mon. Bremisch. Jahrbuch 29, 27—81. 


21) Simson, P.: Danzig u. Gustav Adolf, 47 S. Danzig, Verlag d. 
Westpreuß. Gesch. ver. Í . 


84 


Fingreifen in den Dreißigjährigen Krieg voranging.”) Loy°?) be- 
zeichnet den Regensburger Wucherstreit als „Beitrag zum Kampfe des 
Luthertums gegen den Kapitalismus“. Der Artikel bildet einen Aus- 
zug aus einer ungedruckt gebliebenen Dissertation, leider mit Weg- 
lassung vieler ausführlicherer Quellenangaben. Er behandelt die 
Regensburger Vorgänge als Einzelfall unter verschiedenen verwandten 
Erscheinungen, die besonders in thüringischen Städten nach Luthers 
Tode hervortraten. Es setzten sich nämlich evangelische Piarrer, 
welche auf dessen Gedanken fußten, mit den von ihnen für irreligiös 
angesehenen wirtschaftlichen Strömungen auseinander. Der Regens- 
burger Streit brach infolge einer Teuerung 1587 aus; die Prediger 
äußerten sich über die Frage, ob das Zinsnehmen erlaubt sei, auf den 
Kanzeln, bekämpften dort einander zunächst sachlich, bald auch per- 
sönlich und zwangen den Stadtrat zum Eingreifen. W. Friedens- 
burg?) veröffentlicht Auszüge aus anschaulichen und ausführiichen 
-Niederschriften des Magisters Johann Portmann. Dieser war 1614—54 
erster Geistlicher in Wernigerode. Er trug in seinen Freistunden alles 
zusammen, was ihm bemerkenswert schien: die Art und Zahl seiner 
Amtshandlungen, wirtschaftliche Notizen, Inhaltsangaben seiner Lek- 
türe, Zeitungen, die er aus den verschiedensten Orten Deutschlands 
empfing, eigene Erlebnisse aus den Jahren 1636—48. Die Person des 
Schreibers verdiente allgemeineres Interesse, ebenso seine Aufzeich- 
nungen, welche samt den Einläufen mehrere Quartbände füllen. 
Wotschkes?) Artikel beschäftigt sich mit den Niederländern und 
sonstigen Kalvinisten, welche sich in Wittenberg angesiedelt hatten, 
und knüpft äußerlich an ein übrigens wirkungslos gebliebenes Mandat 
des Kurfürsten August von Sachsen an. Dieser wollte den durch Alba 
vertriebenen Niederländern 1569 ein Asyl gewähren: sein Anerbieten 
verdient um so höheres politisches Interesse, weil er bekanntlich im 
niederländischen Aufstande sehr lau war. 

Evangelische Kirche, Wotschke?°) veröffentlicht aus den 
Handschriften der Gothaer Bibliothek Briefe an Paul Eber, welcher 
nach Melanchthons Tode das Haupt der Wittenberger Theologen 
wurde, zwar nicht ganz den Einfluß Melanchthons erbte, immerhin in 
vielen dogmatischen, organisatorischen, persönlichen, akademischen 
Fragen häufig um Rat und Hilfe angegangen wurde. Ebers Korrespon- 
denz beleuchtet daher seine Stellung zu Niedersachsen nach den ver- 
schiedensten Seiten hin. — Der 300iährige Todestag Jakob Böhmes 


2) Schmidt-Ewald, W.: Kaspar Hornschuch, ein Ohrdrufer Stadt- 
kommandant aus der Zeit des dreißigiähr. Krieges. 44 S. 


233) Loy, Fr.: Der Regensburger Wucherstreit. Beiträge zur bayr, 
Kirchengesch. 31, 3—28. 


2) Friedensburg, W.: Aus der Gesch. Wernigerodes im dreißig- 
jähr. Krieg. Zeitschr. d. Harzvereins 56/57 S. 58—76. 


2) Wotschke, Th.: Kalviner in Wittenberg. Zeitschr. d. Ver. f. 
Kirchengesch. d Provinz Sachsen, 20, 41-55. 


3) Wotschke, Th.: Paul Ebers Beziehungen zu Niedersachsen. Zeit- 
schr. d. Gesellschaft f. niedersächs Kirchengesch. 28, 9—37. 


85 


brachte außer verschiedenen Gedächtnisreden?”—:°) mehrere umfang- 
reiche Schriften. Im Auftrage des Görlitzer Stadtrats gab Richard 
Jecht’) ein Bildwerk heraus, welches uns nicht bloß die Persönlich- 
keit Böhmes, sondern auch seine ganze Umwelt veranschaulicht. 
Während nämlich die ersten Böhme-Bilder 50 Jahre nach seinem Tode 
auftauchen und wenig zu den Angaben seines Biographen Abraham 
von Frankenberg stimmen, mit anderen Worten Phantasiepradukte 
sind, können wir uns die verschiedenen Schauplätze seines Wirkens 
teils nach zeitgenössischen Ansichten, teils nach noch heute erkenn- 
baren Überresten vergegenwärtigen. Namentlich besitzen wir Gör- 
`- litzer Städteansichten aus dem 16. Jahrhundert. Gleichzeitig erschien, 
ebentalls auf Veranlassung des Stadtrats und ebenialls von Richard 
Jecht besorgt, eine Festschrift.') Jecht schrieb auch selbst den wich- 
(Gesten Beitrag darin. Er nennt denselben einen „historisch-philolo- 
gischen und keineswegs einen philosophischen“. Das heißt, er will, 
gerade weil verschiedentlich der Einfluß des äußeren Lebens Böhmes 
auf seine innere Gestaltung geleugnet worden ist, diese ganzen, von 
der Forschung seit Jahrzehnten vernachlässigten Nebenumstände teils 
durch strenge Prüfung alter Ergebnisse, teils durch neues, hauptsäch- 
lich aus dem Görlitzer Ratsarchiv geschöpftes Material möglichst voll- 
kommen rekonstruieren. Hierbei ist außer den festgestellten Einzel- 
heiten besonders die Übersicht über die Hauptquellen zu Böhmes 
Lebensgeschichte im Eingang des Aufsatzes wertvoll. Auch der 
zweite Mitarbeiter an der Festschrift, Felix Voigt, legt in seinem 
Artikel „Beiträge zum Verständnis Jakob Böhmes.“ Vom Wesen 
seiner Persönlichkeit und seiner Gedankenwelt“ ein Hauptgewicht 
auf die Einflüsse, denen Böhme unterlag. Weil Böhmes Schriften sehr 
schwer verständlich sind, haben sich die verschiedenen Zeiten nach 
ihrem eigenen Bedürfnis von Böhme ein recht abweichendes Bild 
zurechtgemacht. Demgegenüber sucht Voigt, „seine Lehre rein be- 
schreibend darzustellen, vor allem auch sein Verhältnis und seine Ab- 
hängigkeit von den mystischen Kreisen zu behandeln, die unmittelbar 
oder noch öfter nur mittelbar auf ihn gewirkt haben“. Der ersten 
Aufgabe dient eine Einführung in die Hauptprobleme von Böhmes 
Gedankenwelt „in knapper Form, zumeist mit dessen eigenen 
Worten“. Wissenschaftlich bescheidenere Ziele steckte sich 
Peuckert’). Obgleich er in seinen Anmerkungen reiche Quellen- 


?) Lohmeyer, E.: Jakob Böhme, 36 S. Breslau, Trewendt u. 
Granier. 

8) Buddecke, W.: Der lebendige Jakob Böhme. 27 S. Greifwald, 
Moninger. 

®) Jecht, R.: Die Lebensumstände Jakob Böhmes. Schles. Monats- 
hefte, 1, 205—210. 

3) Jakob Böhme u. Görlitz. Ein Bildwerk. 28 Tafeln, Görlitz, 
Selbstverlag des Magistrats. 

Jakob Böhme. Gedenkblatt, hrsg. v. R. Jecht. IV, 132 S. Görlitz, 
Selbstverlag des Magistrats. — Die Festschrift bildet einen Teil des 100. 
Bandes des „Neuen Lausitzer Magazins“. 

2) Peuckert, Will-Erich: Das Leben Jakob Böhmes, 183 S., Jena, 
Diederichs. 


86 


und Literaturamfaben beifügte und darin auch zur Böhmeliteratur 
kritische Stellung nahm, wollte er in erster Linie Böhmes Leben und 
Anschauungen einem breiteren Kreise näher bringen. Deshalb unter- 
brach er die Darstellung, in welcher er vielfach die Mitteilungen 
früherer Biographen, namentlich Frankenbergs, berichtigte, aber noch 
öfter aus seinen Erzählungen einen wahren Kern herauszuschälen 
suchte, durch zahlreiche Auszüge aus Böhmes eigenen Schriften oder 
aus anderen zeitgenössischen Quellen. Für die erste Einführung 
paßt Peuckerts Buch am meisten. Eine merkwürdige Arbeit ist die 
von Hankamer?). Sie zerfällt in zwei Hauptabschnitte: ` Gestalt 
und Gestaltung. Unter Gestalt versteht Hankamer eine unter dem 
Gesichtspunkte des Persönlichen und des Werdens erblickte Erschei- 
nung. Gestaltung ist ihm „das Vollendete, Endgültige der Gestalt, 
möglichst gelöst von der Form des Werdens, gesehen nicht nur als 
ein Gewordenes, sondern auch als Seiendes in der Idee“. Der erste 
NHauptabschnitt umfaßt wieder drei Kapitel: Ursprung, Sendung und 
Ausdruck, d. h. allgemeine Voraussetzungen, Erweckung und Cha- 
rakteristik der äußeren Erscheinungsformen von Böhmes Wirken. 
Der zweite stellt systematisch seine ganze Lehre dar. Schon dieser 
ganze Aufbau lehrt, daB es sich um ein ideenreiches, aber schwer 
verständliches, vielfach gekünsteltes Buch handelt. Dessen Lektüre 
wird überdies durch die gesuchtesten Ausdrücke, z. B. arthaft, leid- 
verhöhnt, hinaufgemartert, erschwert; mit Recht hat Erich Seeberg 
in seiner Kritik hervorgehoben, daß Hankamers Bezeichnungen am ` 
wenigsten geeignet sind, uns in Böhmes Denken einzuführen, weil 
gerade dessen dunkle Redeweise eine Verdeutlichung beansprucht. 
Außerdem verführt Hankamers Programm dazu, die ideellen An- 
knüpfungspunkte von Böhmes Lehren zu sehr in den großen Zeit- 
strömungen zu erblicken und darüber seine Abhängigkeit von be- 
stimmten Persönlichkeiten oder enger begrenzten Einflüssen zu ver- 
nachlässigen. Arnolda) benützt verschiedene Literaturerschei- 
nungen der letzten Jahrzehnte, um kritische Betrachtungen über Vor- 
bdingungen, Eigenart und Wirkungen der Philosophie Böhmes daran 
anzuschließen. Seine Abhandlungen sind also zugleich ein Sammel- 
referat und Forschungsprogramm. Leider sind sie niedergeschrieben, 
ehe Arnold die oben erwähnten neuen Schriften über Böhme zu Ge- 
sichte kamen 23) 

Katholische Kirche. Der neue Band des Concilium Tri- 
dentinum?) schließt die Akten der dritten Konzilsperiode ab. Es 


33) Hankamer, P.: Jakob Böhme. Gestalt u. Gestaltung. 425 S. 
eu Friedrich Cohen. Vgl. Erich Seeberg, in Theol. Literatur-Zeitung 49, 
48 A 

3a) Arnold: Beiträge aus der schlesischen Kirchengeschichte zur 
Jakob Böhme Forschung. Korrespondenzblatt d. Ver. f. Gesch. d. evang. Kirche 
'Schlesiens, 17, 147—192. 

a) Wiesenhütter, A.: Jakob Böhmes philosophische Sendung. 
Schles. Monatshefte 1, 201—205 (Vergleich zwichen Böhme und Kant). 

3) Concilium Tridentinum Tom. IX. Actorum pars VI. Collegit, edidit, 
illustravit Stephanus Ehses XXXII., 1191 S. Freiburg i. Br., Herder u. Co. 


87 


bleibt aber immer noch die Lücke von 1547 bis zu den Anfängen der 
3. Periode durch 2 Bände zu schließen. Ehses hatte dieselben vor- 
läufig zurückgeschoben, weil die Kriegs- und Nachkriegszeit es ihnr 
unmöglich machte, den Stoff für die Veröffentlichung druckreif herzu- 
richten. Hoffentlich ist ihr Erscheinen nicht durch Ehses’ Tod in eine 
unabsehbare Ferne geschoben. Über das gesamte Unternehmen und 
die einzelnen Bände des Concilium Tridentium habe ich wiederholt 
in den „Mitteilungen aus der historischen Literatur“ so eingehend be- 
richtet, daß ich hier nicht darauf zurückkommen möchte. Dem 8. Bande 
hatte infolge der politischen und finanziellen Schwierigkeiten nicht 
das sonst übliche Quellenverzeichnis nebst der ausführlichen Beschrei- 
bung der einzelnen benutzten Serien und Bände beigegeben werden 
können; das ist erfreulicherweise im jetzigen Bande nachgeholt. 
Dieser hat für die deutsche Gegenreformation besondere Wichtigkeit.. 
Wurden doch in den dort behandelten Sitzungen nicht bloß die Sakra- 
mente der Ordination und der Ehe erledigt, sondern vor allem auch. 
die für die Reorganisation des Katholizismus so bedeutsamen kirch- 
lichen Reformfragen! Daß Ehses nicht nochmals in Rom seine Texte- 
mit den Vorlagen vergleichen und nötigenfalls noch ergänzen konnte. 
bedauert er selbst; dieser Mangel muß unter den heutigen Zeitver- 
hältnissen in Kauf genommen werden. E hs es) ist nicht mehr dazu 
gekommen, selbst den jahrelang gesammelten Stoff in einer größeren 
Darstellung zu verarbeiten. Nur einige Einzeluntersuchungen waren 
die Nebenfrüchte seines rastlosen Sammeleiferss. Er hat aber 
wenigstens noch eine dramatische Konzilsepisode nach Akten ge- 
schildert, die er nachtragsweise im letzten Aktenbande des Concilium 
Tridentium veröffentlicht hatte. Die Legaten wollten nämlich ver- 
suchen, die vielumstrittene Frage, ob die bischöfliche Residenzpflicht 
göttlichen oder positiven Rechtes sei, durch eine gewaltsame Abstim- 
mung zu lösen, in welcher die Kirchenväter ohne vorherige Debatte 
mit einfachem. Ja oder Nein sich äußern sollten. Ehses benutzte für 
seinen Aufsatz außer den von ihm veröffentlichten Akten Briefe, die 
Buschbell für die Fortsetzung seiner Epistolae im Concilium Triden- 
tinum gesammelt hat. Die Loyola-Biographie A strains”) ist ver- 
deutscht worden. Die Übersetzung dient ebenso wie das spanische 
Original zunächst seelsorgerisch-erbaulichen Zwecken. Beide sind 
ganz im Geiste der alten Jesuitenleben geschrieben. Man muß daher 
über manches hinwegsehen, z. B. die Behauptung, daß lgnatius das 
deutsche Volk heiß geliebt hätte. Überhaupt lagen Astrain, der be- 
kanntlich eine große Geschichte der Jesuiten in Spanien geschrieben 
hat, die deutschen Dinge ferner. Immerhin verdient das Buch auch 
hier Erwähnung. Durch knappe Zusammenfassung des Themas bringt 
es manche sonst leicht entgehende Notizen, übersichtlich z. B. über die 


#) Ehses, Stephan: Eine bewegte Abstimmung auf dem Konzil von 
Trient, 20.April 1562. In: Miscellanea Francesco Ehrle (Studi e testi 39), 3, 
224-234. 

s3) Astrain, D Antonio S. J.: Der hl. Ignatius von Loyola, aus dem 
Spanischen übersetzt von E. Weber. 183 S. Wiesbaden, Rauch. 


88 


Anfänge des deutschen Jesuitismus. Der Verdeutscher hat gelegent- 
lich zu Astrains Text Erläuterungen und Berichtigungen hinzugefügt, 
allerdings nur wenige und nicht tiefgehende. Braunsberger®) 
stellt zusammen, was Canisius geleistet hat, um die Jesuitenbiblio- 
theken zu begründen und auszugestalten und um religiöse Schriften 
herauszugeben. Schellhaß®) behandelt zunächst ganz allgemein 
die bis in die letzten Tage des Tridentinums zurückreichenden freund- 
schaftlichen Beziehungen zwischen Morone und Canisius. Dann be- 
spricht er die Vorbereitungen zum Erscheinen des Opus Marianum. 
Dieselben waren deshalb so schwierig, weil der Verleger Sartorius 
wegen der hohen Herstellungskosten durch ein Monopol sichergestellt 
werden wollte, aber gegen die volle Erfüllung seiner Wünsche große 
Bedenken bestanden. In diesem Zusammenhange bringt Schellhaß 
interessante Angaben über die ursprüngliche Gestalt des Canisius- 
werkes auf Grund einer Dillinger Handschrift, die schon Rieß und 
Braunsberger gekannt, aber nur kursorisch berücksichtigt hatten. 
Cahannes°) veröffentlicht und erläuterte den Bericht, welchen der 
Disentiser Pfarrer Giovanni Sacco über die Tessiner und Graubün- 
dener Visitationsreise des Kardinals Borromeo anläßlich seines Heilig- 
sprechungsprozesses 1605 in Mailand herausgab. Hefele*), der vor 
dem Kriege mit einer. Dissertation über die Ligapolitik des Bischofs 
Julius von Mespelbrunn promoviert hatte, sah sich durch verschiedene 
nachträgliche Funde und die Jubiläumsliteratur von 1917, zu der er 
Stellung nehmen wollte, veranlaßt, einige biographische Fragen her- 
auszugreifen und, wie er selbst sagt, „Bausteine“ zur Lebensgeschichte 
des Würzburgers zu liefern. Der Artikel ist also ein Mittelding 
zwischen einer Sammelrezension und einer Zusammenfassung der bio- 
graphischen Probleme. | 


#8) Braunberger, Otto, S. J.: Ein Freund der Bibliotheken u. 
ihrer Handschriften, in Miscellanea Francesco Ehrle (= Studi e testi 41), 
5, 455—472. SS 

®2) Schellhaß, K.: Kardinal Morone, Petrus Canisius u. dessen Opus 
Marianum, ebenda 5, 473—488. | 

%) Cahanne.s, Giov.: Die Pilgerreise Carlo Borromeus nach Disentis 
im August 1581. Zeitschr. f. schweizer. Kirchengesch. 18, 136—165. 

“) Hefele, Fr.: Julius Echter von Mespelbrunn. Archiv d. Histor. 
Ver. f. Unterfranken, 64, 37—66. 


89 


C. Kapitel MM. 


Vom Westfälischen Frieden bis zum Tode 
Friedrichs des Großen. 


(Loewe.) 


Zur Geschichte zweier deutscher Fürsten des 17. Jahrhunderts, 
Karl Ludwigs von der Pfalz und des Großen Kurfürsten, bietet 
Loewe‘s!) Biographie des gelehrten Diplomaten Ezechiel Spanheim 
Beiträge. 1629 zu Genf geboren hat der Halbfranzose und eifrige 
Reformierte seine gelehrte Arbeit, die ihm den Ruf eines der ersten 
Archäologen und Münzforscher seiner Epoche verschaffte, mit dem 
Amte eines Diplomaten bis in sein hohes Alter hinein verbinden können. 
Im Jahre 1680 trat er in den Dienst Kurfürst Friedrich Wilhelms, dem 
er in den Jahren des engsten Anschlusses Brandenburgs an Frank- 
reich zunächst bis 1689, dann von 1697 ab bis zum Ausbruch des Erb- 
folgekrieges als Gesandter in Paris diente. Den Ausklang seiner 
Wirksamkeit stellte seine Mission als Gesandter des jungen König- 
reichs in London dar, wo er im Jahre 1710 gestorben ist. Die Haupt- 
rolle in den Beziehungen zwischen Berlin und Paris in den bedeutungs- 
vollen Jahren 1680—89 hat, wie bekannt, der französische Gesandte 
Rebenac gespielt, immerhin läßt sich in der diplomatischen Tätigkeit 
Spanheims in diesen Jahren der allmähliche Wandel in ienen Be- 
ziehungen deutlich und im Zusammenhange verfolgen. Seine gelehrte 
Tätigkeit hat Spanheim auch mit den führenden Geistern seiner Zeit, 
namentlich Leibniz in Verbindung gebracht. Aus dem Briefwechsel 
mit ihm teilt L. eine größere Anzahl ausgewählter Stücke mit, die ins- 
besondere für die Bestrebungen des Philosophen, durch Vermittlung 
Spanheims in Berlin festen Fuß zu fassen von Bedeutung sind. Hin- 
gewiesen sei endlich auf das Kapitel über Spanheims berühmte ,„Re- 
lation de la cour de France en 1691“, eine umfassende, in Deutschland 
bisher noch wenig gewürdigte Schilderung des Hofes Ludwigs XIV., 
die nach französischem Urteil durch ihre Unparteilichkeit und Stoff- 
fülle ihren Platz neben Saint-Simon und Voltaire hat. 

konnten wir im Vorjiahre die eingehende Studie Braubachs über 
die Politik des Kurfürsten Max Emanuel von Bayern anführen (vgl. 
Jahresber. 6, 114), so ist diesmal eine Arbeit über den Kurfürsten 
Johann Wilhelm von der Pfalz zu nennen’), die gleichfalls der Auf- 
hellung der Geschichte des spanischen Erbfolgekrieges und insbe- 
sondere des Anteils der deutschen Fürsten an demselben dient. Das 
Wesentliche seiner Politik sieht der Verfasser in dem Streben, aus der 
Enge eines deutschen Kleinfürsten Anteil an der großen Politik zu 


1) Loewe, V., Ein Diplomat u. Gelehrter. Ezechiel Spanheim (1629— 
1710). Mit Anh.: Aus dem Briefwechsel zwischen Spanheim u. Leibniz. Berl., 
Ebering, XI, 204 S. (= Histor. Studien 160). 

2) Sante, G. W., Die Kurpfälz. Politik des Kurfürsten Joh. Wilhelm 
vornehml. im Span. Erbfolgekrieg (1690—1716). Histor. Jahrb. d. Görres- 
ges. 44, 19—64. 


90 


A 


gewinnen. Johann Wilhelm, der sich zunächst dem Kaiser anschloß, 
gewann schließlich mit durch die Gunst Englands die Oberpfalz und 
die bayrische Kurwürde, hat aber später die gehofite Unterstützung 
nicht mehr gefunden 3) | 

Fin Werk großen Stiles legte im Berichtsiahre der Dresdener 
Kunsthistoriker Cornelius Gurlitt*‘) über August den Starken vor. 
Archivalisches Material ist nur wenig benutzt, dagegen wird sehr 
reicher Stoff aus der zeitgenössischen Literatur dem Leser vorgeführt, 
ohne freilich immer kritisch verarbeitet zu werden. Der Verfasser will 
weder Lebensbeschreibung noch Landesgeschichte geben, den Haupt- 
inhalt seines Werkes bildet vielmehr die eingehende Schilderung des 
kulturellen und wirtschaftlichen Lebens wie sie in dieser Zusammen- 
fassung und Gliederung des Stoffes bisher noch für kein anderes 
deutsches Territorium geliefert worden ist. Daß die Kulturgeschichte 
im engeren Sinne eine besonders sachkundige und aıziehende Dar- 
stellung gefunden hat, versteht sich bei der Persönlichkeit und Auto- 
rität des Verfassers von selbst — grade diese Kapitel werden dem 
Buche eine dauernde Anziehungskraft sichern. Ist Gurlitts Werk nicht 
eigentlich eine Biographie, so ist es doch seine Absicht, „einen viel ge- 
schmähten verstehen zu lernen.“ Aber dieses Ziel wird erst voll er- 
reicht werden, wenn die für die Erkenntnis der politischen und Wirt- 
schaftsgeschichte Sachsens bisher noch fehlenden umiassenden und 
planmäßigen Quellenveröffentlichungen erschienen sein werden. 

Für den Zeitgenossen‘ Augusts, den Preußenkönig Friedrich 
Wilhelm I. liegt nur ein kurzer Aufsatz Krauske’s’) vor, der das 
Wesen des Königtums Friedrich Wilhelms zu skizzieren sucht. Stär- 
kere Beachtung hat im Berichtsjahre die Persönlichkeit Friedrichs des 
Großen gefunden. Eine Greifswalder Dissertation R ohm er's!) hat 
sich die politische Entwicklung des Kronprinzen zur Aufgabe gesetzt. 
Sie betont entschiedener als es bisher geschehen ist die antihabsburgi- 
sche Denkweise des jungen Fürsten bereits seit dem Jahre 1734 und 


lehnt es ab, die iülich-bergische Frage in den Mittelpunkt der Politik 


seit dem Regierungsantritt zu stellen. Wohl die wichtigste Quelle zur 
Jugendgeschichte Friedrichs, sein Briefwechsel! mit seiner Schwester 
Wilhelmine von Baireuth wurde in einer guten Übersetzung durch 
v. Oppeln-Bronikowski einem weiteren Publikum erschlossen.’)®) Im 


3) Salm-Salm, Alfr. Fürst zu, Die Verhandlungen über das Fürsten- 
tum Salm u. die Wild- und Rheingrafschaft auf dem Friedenskongress zu 
Riswiik 1697. Zeitschr. f. vaterl. Gesch. u. Alt.kde. (Westfal.). 82, 14450. 

a) Gurlitt, Cornel, August der Starke. Ein Fürstenleben aus der 


Zeit des deutschen Barock. 2 Bde. Dresden, Sybillenverlag, 416 u. 360 S. 


5 Krauske, O., Das Königtum Friedr. Wilh. I. Altpreuß. For- 
schungen 2, 70—77. 

6) Rohmer, D., Vom Werdegang Friedrichs d. Großen. Die polit. 
Entwicklung des Kronprinzen. Greifswald, Bamberg, 132 S. 

01) Friedrich der Große u. Wilhelmine von Baireuth. Bd. 1: Jugend- 
briefe 1728—1740. Hggb. u. eingeleitet von G. B. Volz. Deutsch von F. v. 
Oppeln-Bronikowski. ` Lpz., Koehler. 503 S. 

8) Volz, G. B., Die Markgräfin Wilhelmine von Baireuth u. ihre Denk- 
würdigkeiten. Forsch. zur brand. u. preuss. Geschichte 36 (1924), 164—79. 


91 


Berichtsjahre erschien der erste Band der von G. B. Volz herausge- 
gebenen und eingeleiteten Sammlung, auf die im nächsten Jahre räher 
einzugehen sein wird, nachdem sie inzwischen durch den zweiten 
Band zum Abschluß gelangt et 3) 

In die letzten Jahre Friedrichs führt eine , sorgfältige Untersuchung 
Weigels,') die, vornehmlich auf hannoversches Material gestützt, 
die einzelnen Phasen der Entstehung des Kurfürstenbündnisses zwi- 
schen Preußen, Sachsen und Hannover untersucht. Der Verfasser 
würde sich ein Verdienst erwerben, wenn es ihm gelänge, seinen Plan 
einer vollständigen Geschichte des Fürstenbundes zu verwirklichen. 


9) Roterberg, E., D. Reichsfreiherr Dodo Heinrich zu Inn- u. Knyp 
hausen als Gesandter Friedr. d. Gr. am engl. Hofe (1758—63). Greifswald. 
Dissert. 1924, 115 S. (Forsch. z. brand, u. preuss. Gesch. 38, 174: V olz). 

10) Weigel, H. Der Dreikurfürstenbund zwischen Brandenburg- 
Preußen, Hannover u. Sachsen vom J. 1785. Ein Beitrag zur Entsteh. gesch, 
d. deutschen Fürstenbundes. Lpz., Dieterich. IV, 119 S. 


C. Kapitel W. 
Vom Tode Friedrichs des Großen bis 


zur Begründung des Deutschen Reiches. 
(Vaupel). 


Aligemeine Darstellungen: Von zusammenfassenden allgemeinen 
Darstellungen des Zeitraumes liegen aus dem Berichtsjahr vor das 
Bändchen 4 der Deutschen Geschichte aus der Sammlung Göschen, 
bearbeitet von J. Koch, und eine Arbeit Fr. Schnabels?). Die 
Deutsche Geschichte Kochs weicht erheblich von den ersten von Kurze 
besorgten Bänden ab, sie behandelt ganz ausschließlich die politische 
Geschichte und begnügt sich, im Literaturnachweis nur die bedeutend- 
sten deutschen Quellen und Bearbeitungen anzuführen. Weder das 
eine noch das andere wird als Vorteil angesehen werden dürfen, die 
gebotene Literaturübersicht zumal kann umsoweniger befriedigen, als 
sie auch bei ihrer Beschränkung auf deutsche Werke unvollkommen 
und unzulänglich ausgefallen ist. Das Schwergewicht der Schnabel- 
schen Geschichte beruht auf einer Darlegung der wirtschaftlichen und 
geistigen Entwicklung. Obwohl auch die anderen Staaten berücksich- 
tigt werden, steht doch im Mittelpunkt die Deutsche Geschichte. 


Die Zeit von 1786 bis 1815: Einen Plan des heimgegangenen Paul 
Bailleu, dessen Arbeitsgebiet vornehmlich das Zeitalter der franzö- 


1) Deutsche Geschichte IV: J. Koch, Von der Auflösung des alten bis 
zur Begründung des neuen deutschen Reiches (1806—1870) = Sammlung 
Göschen Bd. 893. Berlin-Leipzie.. W. de Gruyter u. Co. 152 S. 

2) Fr. Schnabel, 1789—1919. Eine Einführung in die Geschichte der 
neuesten Zeit. Leipzig-Berlin. B. G. Teubner IV, 198 S. 


92 


sischen Revolution war, aufnehmend, hat M. Klinkenborg?)-be- 
zonnen, die hauptsächlich in der Historischen Zeitschrift, der Deutschen 
Rundschau und in der Allgemeinen Deutschen Biographie verstreuten 
Aufsätze des Verstorbenen herauszugeben. Unter demTitel „Preußischer 
Wille“ sind die Arbeiten „Zur Krönungsfeier“, „Der Ursprung des 
Siebenjährigen Krieges“, „Der Ursprung des Fürstenbundes“, „Graf 
Hertzberg“, „König Friedrich Wilhelm Il. und die Genesis des Friedens 
von Basel“, „Johann Christoph Woellner“ mit dem 1898 in Münster 
auf der Generalversammlung des Gesamtvereins der deutschen Ge- 
schichts- und Altertumsvereine erstatteten Referat über „Forschungen 
in Privatarcliven zur Geschichte der Rosenkreuzer im 18. Jahr- 
hundert“, „Gräfin Wilhelmine Lichtenau“, „Bismarcks Jugend“, „Fritz 
Reuters Universitäts- und Festungszeit“, „Lassalles Kampf um Berlin“, 
„Heinrich v. Sybel“, Heinrich v. Treitschke“ vereinigt. Ein warm emp- 
fundener Nachruf des Herausgebers leitet die Sammlung ein. Die Auf- 
sätze über die Königin Luise und ihren Kreis sind einem besonderen 
Band vorbehalten, der bisher noch nicht vorliegt. — Die bekannte, bei 
ihrem ersten Erscheinen lebhaft umstrittene Napoleonbiographie von 
M. Lenz?) liegt jetzt in vierter Auflage vor. Der Verfasser kann sich 
in der sehr beachtenswerten Vorrede zur neuen Auflage auf die 
wesentliche Punkte des Napoleonproblems aufhellenden Arbeiten von 
O. Brandt und Th. Ebbinghaus sowie von E. Ruck beziehen, zumal die 
Studie des letzteren gibt ihm Gelegenheit, sich erneut zu den Grund- 
zedanken seiner Auffassung zu bekennen. — Einen wertvollen Beitrag 
zur Erkenntnis der geistigen Strömungen jener Jahre hat H. Trau t’) 
beigesteuert durch die Veröffentlichung der 1798 erschienenen, bislang 
verschollen gewesenen, nun in der Frankfurter Stadtbibliothek wieder 
aufgefundenen kleinen Schrift J. J. Willemers, des Gatten von Goethes 
Suleika, „Besitzen denn die Franzosen die Freiheit, welche sie uns an- 
bieten?“ Aus sittlicher Grundeinstellung lehnt W. die französische 
Revolution ab, die er ursprünglich bewundert hat; hinter der Freiheit 
der Franzosen verbirgt sich ihm entschiedene Immoralität, um nicht zu 
sagen, Irreligion, Egoismus und Despotismus; es gebe keine Staats- 
verfassung, die der höheren moralischen Kultur unüberwindlichere 
Hindernisse in den Weg lege als die französische; selbst wenn die 
Franzosen zur Freiheit gekommen wären, sei es ein übereilter Schluß 

anzunehmen, durch Annäherung an sie oder gar Vereinigung mit ihnen 
ebenfalls zur Freiheit zu gelangen, denn unser Nationalcharakter sei 
so gar sehr verschieden von. dem französischen. — Über die Volks- 
stimmung in Preußen in den entscheidenden Jahren 1805 und 1806 und 


3) Preußischer Wille. Gesammelte Aufsätze von Paul Bailleu. Her- 
ausgegeben und mit einem Nachruf versehen v. M. Klinkenborg. Berlin. 
Hafen-Verlag. IV, 353 S. 

M. Lenz, Napoleon. Vierte, verb. Aufl. Monographien z. Welt- 
gesch. XXIV. Bieleield-Leipzig. Velhagen u. Klasing. 

5) Joh. Jak. Willemer, An meine Mitbürger auf der rechten Seite des 
Be über die Frage: Besitzen denn die Franzosen die Freiheit, welche 
sie uns anbieten? Herausg. v. H. Traut = Hist.-pol. Bücherei hrsg. v. G. 
Küntzel u. J. Ziehen, Heft 5. Frankfurt a/M. Diesterweg: 22 S. 


93 


über die Frage, inwieweit sie zum Zusammenbruch beigetragen hat, 
handelt ©. Tschirch‘) in einem Vortrag vornehmlich an Hand der 
Buchliteratur und außerhalb Preußens verlegter Zeitschriften. Die wich- 
tigen Einzeluntersuchungen über die Herkunft der Flugschriften und 
ihre Verfasser, die die Grundlage des Vortrages bilden, hat Tschirch 
in einer von der Rubenowstiftung preisgekrönten Arbeit „Geschichte 
der öffentlichen Meinung in Preußen vom Baseler Frieden bis zum 
Zusammenbruch der Monarchie 1806“ niedergelegt, die hoffentlich bald 
veröffentlicht werden wird. — Aus dem ersten Heft der „Löscheimer“, 


jenem 1807/08 erschienenen, gegen die „Vertrauten Briefe“ und die - 


„Feuerbrände“ gerichteten preußischen Journal druckt G. Raddatz’) 


einiges ab. Wie hier ergänzend zu R. bemerkt wird, war der Heraus- ` 


geber der Zeitschrift, die es auf 6 Hefte brachte, nach dem „Neuen 
Nekrolog der Deutschen“ XIII (1835) S. 143 der 1835 als Preuß. General- 
leutnant verstorbene Gustav v. Both. — Über die Neutralisierungs- 
bestrebungen in den Hansastädten 1795/1803 und ihre bezeichnende 
Begründung unterrichtet ein Vortrag von E Willmanns.) — Eine 
sehr eingehende Untersuchung vom katholischen Standpunkt hat A. 
DoeberIl?) den bayerischen Konkordatsverhandlungen der Jahre 
1806/07 gewidmet und durch die Benutzung der Akten Nuntiatura Mo- 
naco-Baviera im Vatikanischen Archiv die Arbeit H. v. Sicherers „Staat 
und Kirche in Bayern“ ergänzen und teilweise berichtigen können. 
Leider war es dem Verfasser bei der Sammlung seines Materials nicht 
vergönnt, die Untersuchung bis zum Konkordat von 1817 weiterzu- 
führen, doch ist diese Fortsetzung, die die Arbeit erst eigentlich zum 
Abschluß bringt, von anderer Seite inzwischen unter günstigeren Ver- 
hältnissen bereits in Angriff genommen. Man muß D. Dank wissen, 


daß er sich entschlossen hat, die von ihm neben der gedruckten Litera- . 


tur vorzugsweise verwerteten vatikanischen Akten in extenso als Bei- 
lagen seiner Studie mitzugeben. Zu bedauern bleibt es, daß die Akten 
des Münchener Hauptstaatsarchivs nicht herangezogen worden sind. 
Das Thema ist so doch noch nicht erschöpft. — Die Geschichte der 
bayerischen Konstitution vom 13. 2. 1808 und Bayerns Verhältnis zur 
Rheinbundverfassung erörtert M. Doeberl,) wobei er sich mit 
Jacob (vgl. dessen Ausführungen H. Z. 126, 504ff.) auseinandersetzt. — 
Kleine Bausteine zur Erkenntnis der Persönlichkeit Hardenbergs sind 


6) O. Tschirch, Preußens öffentliche Meinung vor dem Zusammen- 
bruch von 1806 = Geisteskultur XXXIH (1924) S. 117—137. 
7) G. Raddatz, Löscheimer — Pr. Jbcher Bd. 197 (1924) S. 270—291. 


SIE Willmanns, d Gedanke einer Neutralisierung d. Hansastädte 
I Ein Beitrag z. Gesch. d. pol. Ideen, i. d. Hans. Geschbl. Bd. XXIX 
(d. f. z. Zt. nicht zugänglich, vgl. die Anzeige v. H. Rothfels i. d. HZ 133 
SC S. 162/3). 

9) Doeberl, d. bayerischen Konkordatsverhandlungen i. d. Jahren 
1806 und 1807. = Hist. Forsch. und Quellen, hrsg. v. J. Schlecht, Heft 7/3. 
München- Freising. Datterer. VII, 211 S. 


l 10) M. Doeberl, Rheinbundverfassung und bayerische Konstitution in 
d. Sitz.-Ber. d. Bay. Ak. d. Wissensch. 1924 (d. Ref. z. Zt. nicht zugänglich, 
vgl. d. Anzeige i. Lit. Zentralbl. 1924). 92 S. 


94 


die beiden Briefreihen, die H. Ulmann”) veröffentlicht. Die eine 
Serie, die manches über Hardenbergs Gattin Sophie von Lenthe und 
Hardenbergs Verhältnis zu ihr bringt, setzt sich aus Baseler Briefen 
eines Agenten H. W. v. Bülow an den kurhannöverschen Comitial- 
gesandten in Regensburg v. Ompteda zusammen, die andere bilden 
einige Schreiben des Staatskanzlers an die Prinzessin Wilhelm geb. 
Prinzessin Marianne von Hessen-Homburg aus dem jetzt in Darmstadt ` 
verwalteten Fischbacher Archiv. — Dankbar wird der Niebuhrforscher 
für den Abdruck des Entlassungsgesuches N.s aus dem dänischen 
Dienst und der sich darauf beziehenden Korrespondenz zwischen dem 
Regenten, dem Kronprinzen Friedrich, und dem Finanzminister Grafen 
v. Schimmelmann aus dem Dänischen Reichsarchiv sein, vor allem 
auch für das den Abschiedsentschluß erläuternde schöne Schreiben 
Niebuhrs, in dem er dem Regenten seine politische Überzeugung 
(Haß gegen Frankreich und die Revolution) und die daraus abgeleiteten 
Motive seines Übertritts nach Preußen darlegt.'”) — Sicher nicht zu- 
fällig zeigen zwei gründliche Arbeiten das Denken des Freiherrn vom 
Stein z. T. anders als die herkömmliche Lehre auf. E. Botzen- 
hart?) macht von den im Geheimen Staatsarchiv beruhenden ge- 
schichtlichen Arbeiten des Reichsfreiherrn, der Geschichte der Deut- 
schen, der französischen Geschichte, der Geschichte des Zeitraumes 
von 1789 bis 1799, erstmalig grössere Abschnitte bekannt, hauptsächlich 
solche, die die Staats- und Geschichtsphilosophie ihres Verfassers er- 
kennen lassen; in einer trefflichen Einleitung entwickelt er seine eigene 
Auffassung von Steins Anschauungen, Lehmanns These von den ent- 
scheidenden Einflüssen der Ideen von 1789 wird abgelehnt, ebenso 
Meineckes Ansicht von dem kosmopolitischen Einschlag; der Satz 
„Steins Denken vom Staat war feudal durch und durch“ wird sich 
freilich eine Korrektur gefallen lassen müssen. — Mit Meinecke spe- 
ziell setzt sich H Dronen in einer sehr fördernden Studie über 
das Verhältnis nationaler und universaler Gedankengänge bei Stein 
auseinander; er meint Stein nicht mit Gneisenau und Humboldt, sondern 
mit. Arndt mindestens seit 1812 ee zu müssen, und 
er betont, daß das nationale Eleft as bei dem Reichsfreiherrn 
fest an Heimat und angeborenem Le" gÄskreise verwurzelt sei, keinen 
Beisatz von dem aus der Aufklärung herkommenden Kosmospolitismus 
zeige; vor allem seien Steins Anschauungen von der europäischen 
Staatengemeinschaft nicht als Ausfluß solchen kosmopolitischen 
Denkens, sondern aus damaligen politischen Notwendigkeiten heraus 
zu erklären; allerdings stecke in den Steinschen Gedankengängen 


11) Briefe über und von dem Freiherrn, späteren Fürsten Karl August 
v. Hardenberg a. d. J. 1795 und 1814/15, hrsg. v. H. Ulmann. Darmstadt, 
Gesellsch. hess Bücherfreunde. 136 S. 
2) A. Linvald, Barthold Georg Niebuhr und seine Entlassung a. d. 
dänischen Staatsdienste = HZ 129 (1924). S. 86—94. 
13% E,Botzenhart, Freiherr vom Stein. Staatsgedanken. Aus seinen 
unveröffentlichten Geschichtswerken. Tübingen. Osiander. IV, 156 S. 
u) H, Drüner, d nationale und d. universale Gedanke bei dem Frei- 
herrn vom Stein = H V XXII (1924). S. 28—069. 


95 


auch etwas Universales, aber dieses Universale habe nichts mit dem 
Kosmopolitismus des Rationalisten zu tun, sondern sei ein Univer- 
salismus, der seinen Ausgangspunkt von der Nation nehme und den 
nationalen Einzelwillen stärke und belebe, indem er ihn an seine Auf- 
gabe innerhalb des Menschheitsganzen mahne. — Vorgreifend sei auf 
die Meineckische!?) Anzeige des Drünerschen Aufsatzes hinge- 
wiesen, die dort vertretene Auffassung, „daß in Steins politischer Ge- 
dankenwelt etwas dem späteren 19. Jahrhundert fremdartig Gewor- 
denes steckt“, wird wohl zu beachten sein 291 ?”) 18) 19) 20) 

Die Zeit von 1815—1871: Mit besonderer Freude stellen wir 
die Anzeige an die Spitze, daß die voluminöse, vor einem Menschen- 
alter begonnene, rastlos geförderte, von unermüdlicher Arbeitskraft 
und bewundernswerter Gelehrsamkeit beredt zeugende Geschichte 
Europas von A. Stern?!) mit dem 10. Band ihren Abschluß gefunden 
hat. Dieser letzte Band, gespeist vornehmlich aus den Beständen des 
Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs und des Politischen Archivs des 
Berliner Auswärtigen Amtes, setzt mit dem Ausgleich in Österreich- 
Ungarn ein, geht dann zur Darstellung der Gründung des Nord- 
deutschen Bundes, der Luxemburger Frage, der Verhältnisse in Italien 
und Frankreich über und erzählt schließlich — gut die Hälfte des 
reichlich über 500 Seiten starken Bandes —- nach einem weiten Rück- 
blick auf die Entwicklung in Spanien den deutsch-französischen Krieg 
mit Vorgeschichte und Ergebnis, (die Reichsgründung allerdings sehr 
kurz). Den deutschen Historiker werden von den im Anhang mit- 
geteilten Dokumenten besonders die Auszüge aus dem Schriftwechsel 
Varzin-Ems Juli 1870, namentlich der 13. Juli, interessieren.??) 

Von den Quellenpublikationen des Berichtsiahres ist als eine Quelle 
ersten Ranges für die Geschichte der Paulskirche der von R. 
Hübner?) sorgfältig herausgegebene Nachlaß J. G. Droysens 
anzusprechen. Den Hauptteil der Veröffentlichung bilden die Ver- 


15) HZ 131 (1925). S. 177. 

16) O. Graf zu DE ‘- Wernigerode, Glaube und Völkerschick- 
sal. Stein im Jahre 1812 = ndschau, Bd. 198 (1924). S. 184—189. 

17) J. v. Gierke, d. Se eform d. Freiherrn vom Stein = Haische 
Universitätsreden. 21. Halle 1924.” Niemeyer. 32 S. 

18) Fr. L. Jahn, Eine Würdigung seines Lebens und Wirkens. Im Auftr. 
D BE Turnerschaft hrsg. v. Fr. Eckhardt. Dresden. W. Limpert. 

19) J, Nadler, Görres und Heidelberg == Pr. Jbcher B. 198 (1924). 
S. 27%-291. 

2) FF Haymanın, Weltbürgertum und Vaterlandsliebe in der Staats- 
lehre Rousseaus und Fichtes. Berlin. Pan-Verlag. 

2) A Stern, Geschichte Europas seit den Verträgen von 1815 bis zunr 
Frankfurter Frieden von 1871, 10. Band = 3. Abt. Geschichte Europas von 
1848—1871, 4. Bd. Stuttgart. Cotta. XXI, 585 S 

A. Stern, König Leopold I. von Belgien und die Krisis von 1840 = 
H V XXII (1924). S. 313—330. 

23) Aktenstücke und GEN z. Geschichte d. Frankfurter Na- 
tionalversammlung a. d. Nachlaß v. J. G. Droysen, hrsg. v. R. Hübner 
= Dt. Geschqu. d. 19. Jhdts., hrsg. d. d. Hist. Kommiss. b. d. Bay Ak. d. Wiss. 
Band 14. Stuttgart-Berlin-Leipzig. Dt. Verlagsanstalt. X, 848 S. 


96 


jassungsberatungen der 17 Vertrauensmänner und die Verhandlungen 
des Verfassungsausschusses der deutschen Nationalversammlung. Die 
über die 17 er- Sitzungen damals in der Frankfurter Oberpostamts- 
zeitung und dann von Jucho und Roth-Merck in ihren Sammlungen 
abgedruckten Protokolle sind ganz unzulänglich, das von dem Abge- 
ordneten Petri geführte Separatprotokoll, besonders über die wich- 
tigsten Verfassungsberatungen, war bis auf Fragmente verschollen und 
wird nun vollständig aus dem Droysennachlaß, zusammen mit ent- 
sprechenden Aufzeichnungen des Historikers, bekannt; von den Proto- 
kollen über die Verhandlungen des Verfassungsausschusses war ein 
„erster Teil“ von Droysen, dem Schriftführer dieses Ausschusses, 1849 
veröffentlicht worden, der damals nicht mehr publizierte „zweite Teil“ 
wird jetzt nach dem Droysenschen Manuskript vorgelegt. ` Umrahmt 
sind diese beiden Kernstücke des Nachlasses von dem Schriftwechsel 
zwischen der Provisorischen Regierung in Schleswig-Holstein und 
ihrem Vertrauensmann in Frankfurt März-April 1848 und dem Frank- 
jurter Tagebuch Droysens 1848/49. — Zwei kleinere Quellen zur Ge- 
schichte jener Tage hat G. Küntzel bekannt gegeben. Die eine ist 
der Briefwechsel zwischen Friedrich Wilhelm IV. und dem 
'Reichsverweser Erzherzog Johann aus den Jahren 1848 
bis 1850, von dem bisher nur einzelnes bekannt war”). Die 16 Briefe 
aus dem Hohenzollernschen ünd dem Meranschen Hausarchiv werden 
ergänzt durch amtliche Schreiben aus dem Bereich des Preußischen 
Außenministeriums, vornehmlich. Berichte des Legationsrates von 
Kamptz, des Oberstleutnants v. Fischer, des Flügeladjutanten von 
Boddien, die die Maivorgänge 1849 betreffen. Die zweite Quelle ist 
das Tagebuch der geistvollen Clotilde Koch-Gontard, in deren 
Haus die gemäßigte Mitte des Parlamentes mit Heinrich v. Gagern als 
Mittelpunkt verkehrte. Für Gagern sind auch die Aufzeichnungen, die 
bis zum 16. 12. 48 (Abgabe des Präsidiums) reichen, gemacht.) — 
Auf eine Erwerbung der Berliner Universitätsbibliothek macht A von 
Harnack’) aufmerksam: auf die von den Nachkommen des be- 
kannten Verlegers H. Brockhaugfyeranlaßten, nur in wenigen 
Exemplaren gedruckten Auszüge ei dessen umfänglichen Tage- 
büchern, die u. a. politisch wertvolx% s oberkungen für 1848/49 ent- 
halten. — Aus der Dokumentensamm x Darmstädter in der Preu- 
Bischen Staatsbibliothek druckt W. Waldau”) acht Briefe E. M. 
Arndts aus den Jahren 1848—1850, zumeist an die Frankfurter 


24) Briefwechsel zwischen König Friedrich Wilhelm IV. u. d. 
"Reichsverweser Erzherzog Johann von Österreich (1848—1850), hrsg. 
v. G. Küntzel = Hist.-pol. Bücherei, hrsg. v. G. Küntzel u J. Ziehen. 
Heft 4. Frankfurt a/M. Diesterweg. IX, 74 S. 


25) Tagebuch von Frau Clotilde Koch-Gontard über die konsti- 
tuierende Deutsche Nationalversammlung zu Frankfurt a/M. (Mai-Dezember 
1848), hrsg. v. G. Küntzel. Frankfurt a/M. Englert u Schlosser. X, 98 S. 

2) A v. Harnack, Heinrich Brockhaus = HZ 12 (1924). 
S. 94—95. | 

27) Unveröffentliche A r nd t- Briefe. Von Wilhelma Waldau = der 

Fürmer XXVI, (1923/24). S. 812—815. 


97 


Familien Schlemmer und Lindheimer gerichtet, und einen Brief von 
Arndts Witwe über dessen Tod an Frau Schlemmer vom 9. 3. 1860 
ab. — Die Mitteilungen über die Flucht Metternichs aus dem 
Tagebuch der Fürstin Melanie werden ergänzt durch Briefe des 
Grafen Rechberg, des Begleiters der Fürstlichen Familie auf ihrer 
abenteuerlichen Reise, die E. Stern-Rubarth vorlegt.’®) 

Von der monumentalen mit Zustimmung des Hauses Bismarck 
veranstalteten „Friedrichsruher Ausgabe“ der Gesammelten 
Werke des Begründers des Deutschen Reiches sind im Berichtsiahr 
die. politischen. Schriften Bismarcks bis zur Übernahme des aus- 
wärtigen Ministeriums und. die Gespräche bis 1871 erschienen 29) Daß 
die Bände bereits in zweiter Auflage vorliegen, beweist, wie groß das 
Bedürfnis nach einer einwandfreien, das vielfach zerstreute Material 
kritisch sammelnden und ordnenden Ausgabe desSchrifttums, der Reden 
und Gespräche des Großen Kanzlers war. Die Namen der für die ein- 
zelnen Teile gewonnenen Herausgeber lassen mit vollem Vertrauen 
dem weiteren Fortschreiten der Publikation entgegensehen. Von den 
uns vorliegenden Bänden hat es der Bearbeiter der „Gespräche“ nicht 
leicht gehabt, diese gleitende, durch die Poschingerschen Editionen 
nachgerade verrufene Materie in einer so mustergültigen Weise vor- 
zulegen und die Klippen, an denen die Ausgabe hätte scheitern können, 
zu vermeiden. Vollständigkeit und einwandfreie Wiedergabe des 
Stoffes waren die Leitsätze für die Herausgabe der „Gespräche“. Das 
bedingte eine Heranziehung und eine Durcharbeitung von Literatur in 
weitestem Maße, selbst von manchem Verschollenen, und eine Arbeit, 
für die dem Herausgeber W. Andreas und seinem Mitarbeiter 
Dr. K. Pagel aäufrichtig gedankt sei. Überall, sowohl was die 
Personen wie was die Quellen anlangt, begleiten den Leser 
knappe kritische Bemerkungen und leiten ihn sicher durch das 
Stoffgebiet, das uns Bismarck im Verkehr mit seiner Zeit „in 
1000fältiger Brechung gleich dem Lichte, dessen Strahlen ins Prisma 
fallen“, offenbart. Den vom Bearbeiter in der-Einleitung mitgeteilten 
Grundsätzen für die Gestaltijıg des Bandes wird zuzustimmen sein, 
doch sei zu S. XVII auf die, ST ehtenswerten Ausführungen von Roth- 
fels in der HZ 133 S. 48&° CC viesen. Auch die drei Bände des Bis- 
marckischen politischen Schriw£tums, die H. v. Petersdorff bearbeitet 
hat, überholen die früheren Editionen, namentlich die Poschingerschen, 
(über welch letztere in der Einleitung sehr Interessantes. von Bismarcks 
tätiger Mitwirkung dabei berichtet wird) — wenigstens soweit es sich 

um Diktate und Schriftsätze Bismarcks handelt. Denn es war weder. 


®) E, Stern-Rubarth, Sturz u. Flucht Metternichs. Nach Briefen 
aus dem Hausarchiv der Grafen Rechberg — Dt. Rundschau Bd, 199 (1924). 
S. 286—295. 

2) Bismarck. Die gesammelten Werke. Berlin. O. Stollberg u. 
Co. Verlag f. Politik u. Wirtschaft. Politische Schriften, bearbeitet v. H. 
v. Petersdorff. 3 Bde (— 1862). XVI, 523 S., 421 S., 409 S. Ge- 
spräche, hrsg. u. bearb. v. W. Andreas. 1. Bd.: Bis z. Aufrichtung des 
deutschen Reiches. 1924, XX, 528 S. 


98 


| aus Raumgründen noch auch aus dem Plan der Gesamtausgabe heraus 
-~ möglich, alle Gesandtschaftsberichte zu bringen. Das Schwergewicht 
hatte in dem zu liegen, was von Bismarck stammt und nicht allzu 
Nebensächliches behandelt; dieses Bismarckische Schrifttum erfährt 
nun eine sehr wesentliche Bereicherung über Poschinger, Raschdau, 
Kohl hinaus einesteils durch die vollständige Wiedergabe der einzelnen 
Bismarckiana, da jetzt keine Interessen anderer mehr zu beachten 
waren, andernteils durch die hochwillkommene Heranziehung der 
Korrespondenz mit dem Prinzen von Preußen aus den Beständen des 
Hohenzollernschen Hausarchivs. Übrigens hat der Herausgeber das, 
was an anderer Stelle bereits veröffentlicht war und aus den ange- . 
führten Gründen hier ausgeschieden werden mußte, in knappen Rege- 
sten der Sammlung eingefügt; der Überblick über das gesamte bisher 
bekannte Material ist also — gewiß sehr zum Vorteil der Ausgabe — 
gewahrt. — Eine schöne Ergänzung zu Heycks Johanna v. Bis- 
marck, ein Lebensbild in Briefen, hat W. Windelband?®) durch 
die vorgelegte Auswahl von.Briefen der Lebensgefährtin des großen 
Kanzlers vornehmlich an ihren Sohn Bill gegeben, wenn auch der 
Zweck der Sammlung mehr war, die Atmosphäre im Bismarckischen 
Hause aufzuzeigen. — Ungemein charakteristische Schlaglichter auf 
den Liberalismus und das parlamentarische Treiben im Preußen der 
Konifliktszeit vor der Berufung Bismarcks werfen die ‚sieben Briefe 
Max Dunkers und Julian Schmidts an Heinrich v. Sybel 
aus dem Winter 1861/62, die Heyderhoff) aus dem Sybelschen 
Nachlaß veröffentlicht. Damals war die große Stunde der Liberalen 
gekommen, wenn sie sich, wozu die Korrespondenten persönlich be- 
reit waren; zur Annahme der Heeresvorlage hätten entschließen ` 
können. Stattdessen freilich „unter 8 Mitgliedern über Hauptfragen 
oft 9 Ansichten“ und zwischen den Parteien „fortwährend Häkeleien 
der einfältigsten Art.“ 
Von der großen Publikation aus dem Lassallenachlaß ist der 
4. Band erschienen, der die seit der Mitte der 50er Jahre reichlicher 
fließendeKorrespondenz zwischen Lassalle und der Gräfin Sophie 
v. Hatzieldt enthält.) Der Hauptwert dieses Briefwechsels ist 7 
weniger auf politischem Gebiet zu suchen, obwohl wir da doch manches / 
Neue erfahren, um das Wichtigste zu nennen: den Empfang der schle- 
sischen Weber durch Bismarck am 9. Mai 1864 und die Vorschlägr 
des Ministerpräsidenten, eine Produktivassoziation auf Staatskosten. 
zu begründen und mit der Arbeiterschaft die Arbeiterfrage zu löser 
die gelöst werden müsse, mit welchen Gesetzen und Mitteln es an 


3) Johanna v. Bismarcks Briefe an ihren Sohn Wilhelm 
ihre Schwägerin Malwine v. Arnim-Kröchlendorff geb. v. Bismarck, ke 
W. Windelband. Berlin. O. Stollberg u. Co. Verlag für T 
Wirtschaft. 93 S. 

9 Hevderdortt, Kritische Parlamentstage im alter 
Pr. Jbcher, Bd. 198. (1924). S. 140—148. 

32) Ferdinand Lassalle. Nachgelassene Briefe u. Schr’ 
G. Mayer. A Bd.: Lassalles Briefwechsel mit Gräfin Sopt 
Stuttgart-Berlin. Dt. Verlagsanstalt, Verlagsbchh. J. Springer. 


r 


sei. Der Gewinn dieses Bandes ist mehr biographischer Art, und der 
Herausgeber hat Recht getan, bei der Bedeutung, die das Verhältnis 
zur Hatzfeldt für Lassalles Leben hat, den Briefwechsel der beiden 
geschlossen vorzulegen. — Teile der Korrespondenz zwischen Las- 
salle und H.v. Bülow aus den Jahren 1863 und 1864, deren wesent- 
lichste Stücke unbekannt waren, teilt G. Mayer?°?) mit; die ganze 
Korrespondenz siehe jetzt im Band 5 der Nachgelassenen Briefe und 
Schriften Lassalles. | 
Mit der Vorgeschichte des deutsch-französischen 
Krieges, genauer mit den Tagen vom 3.—15. Juli 1870 beschäftigt 
sich eine amerikanische Arbeit,’*) leider in einer Art und Weise, die 
sowohl im Ganzen wie im einzelnen die größten Bedenken gegen die 
ganz einseitig antibismarckische und profranzösische Einstellung des 
Verfassers herausfordert und die denn auch bereits die gebührende Ab- 
fertigung gefunden hat (vgl. etwa K. Rheindorf, Forsch. z. br.-pr. Gesch. 
XXXVIII S. 117ff.). Der bleibende Wert des Buches beruht in den mit- 
geteilten Aktenstücken aus dem Politischen Archiv des deutschen Aus- 
wärtigen Amtes für die Zeit vom 4.—15. Juli 1870, denen Korrespon- 
denzen zwischen Karl Anton und Leopold von Hohenzollern und Prim 
sowie Depeschen der spanischen und österreichischen Vertreter in 
Berlin an ihre Regierungen aus den Madrider und Wiener Archiven 
und der Bericht Wertherns an Bismarck vom 25. 7. 70 über die An- 
fänge der Hohenzollernkandidatur angefügt sind. Warum die Erlasse 
der spanischen und österreichischen auswärtigen Ministerien an ihre 
Gesandten nicht abgedruckt worden sind, ist nicht ersichtlich. — Die 
ihrem, Wortlaut nach bisher unbekannte Denkschrift Rudolf Delbrücks 
aus Reims vom 13. September 1870, die die Grundlage für die Ver- ` 
handlungen Preußens mit den süddeutschen Staaten über die Fort- 
bildung der politischen Verhältnisse in Deutschland bildete (vgl. Del- 
brücks Lebenserinnerungen II 413f.), hat jetzt W. S to 1z e) vorlegen 
können. — Fr. Schneider‘) veröffentlicht den Briefentwurf Hein- 
richs XXII. an den König von Bayern: in der Frage der Übertragung des 
Kaisertums an die Krone Preußen, der zunächst am 5. Dezember 1870 
dem König von Sachsen zur Stellungnahme zuging und von diesem 
wohl gebilligt worden ist. Reuß bekannte, daß er die Form des Bundes 
der des Reiches vorziehe, daß er aber nicht verfehlen werde, einem 
von den Fürsten und freien Städten einstimmig gefaßten Beschluß in 
‘der Hoffnung, daß die alten Bundesverhältnisse nicht alteriert würden, 
Sereitwillig zuzustimmen. 
Von den beiden großen Aufgaben, die sich das Kaiser-Wilhelm- 
tut für deutsche Geschichte gestellt hat, die mittelalterliche einer 


°3) Aus d Briefwechsel Hans v. Bülows u. Ferdinand Lassalles. Mitget. 
er = d. Neue Merkur VII (1923/24). S. 433—456. 
2 origins of the war of 1870. New documents from the German 
d H Lord. Cambridge. Harvard University Press. XVI, 305 S. 
to e i e Geschichte d. Reichsgründung i. J. 1870 = Pr. Jbcher. 
3 —12. 
hneider, Heinrich XXII. Reuß ä. L. u. d. Reichsgründung = 
S. 445—447. 


Germania sacra und die neuzeitliche einer Sammlung der Korrespon- 
denz des Alten Kaisers, ist die letztere soweit gefördert worden, daß 
die Briefe Wilhelms I. an seine Schwiegereltern und den Schwager, 
den Großherzog Karl Alexander, sowie dessen Gattin, die sich 
über einen Zeitraum von nahezu 60 Jahren (1828/87) erstrecken, publi- 
ziert werden konnten 27) Während die Schreiben an den Schwieger- 
vater sich nicht über den Austausch konventioneller Höflichkeiten er- 
heben und samt und sonders ohne Bedeutung sind, die an die Groß- 
herzogin Maria Pawlowna fast ausschließlich familiäre Dinge behan- 
deln, aber für das Verhältnis Wilhelm-Augusta heranzuziehen sein 
werden, klingt in dem Briefwechsel mit Karl Alexander bald und dann 
immer stärker die Politik durch und macht so diesen Teil der Korre- 
spondenz zu einer wertvollen Quelle allgemeineren Charakters. 
Deutsche Frage und das Verhältnis zu Rußland sind die beiden Haupt- 


themen, die abgehandelt werden und die wir jetzt, nicht zum wenig- 


sten durch den Gegensatz der Auffassungen und durch die Besorg- 
nisse, die zu zerstreuen waren, nach der Veröffentlichung dieser bisher 
ganz unbekannten Briefe an den Weimarer Schwager in viel feinerer 


- Nüancierung, namentlich was die Stellung Wilhelms anlangt, zu er- 


kennen vermögen. Die Einleitung des Herausgebers, der uns auch die 


wichtigeren Gegenbriefe mitgeteilt hat, geht ausführlich auf die Be- 


gründung des Bundes zwischen Potsdam und Weimar, zwischen 
Wilhelm und Augusta, ein. — „Aus verklungenen Zeiten‘“®) betitelt 
sich ein schon in zweiter Auflage vorliegendes Büchlein, in dem die 
geistvolle Schweriner Oberhofmeisterin der Jahre 1868—1880 D von 
Bülow von ihren Lebensschicksalen, vom Berlin der 30er und 50er, 
vom Wien der 40er Jahre, von Schwerin und Bayreuth und vom Alten 
Kaiser zu plaudern weiß. Mitgeteilt werden 47 Briefe Wilhelms I. an 
„Exzellenz Paula“ aus den Jahren 1872/87, die zwar nichts von Politik 
enthalten, aber von der Güte, Ritterlichkeit und Aufmerksamkeit des 
alten Herrn zeugen. 

Die Reihe der darstellenden Spezialuntersuchungen eröffnen wir 
mit Fr. Vigener’) umfänglicher, bald 47 Druckbogen starker 
Ketteler biographie, in der die Früchte der letzten Jahre eines zu 
früh vollendeten Gelehrtenlebens niedergeiegt sind. Es ist sehr zu be- 
dauern, daß sich dem Verfasser nicht das Mainzer bischöfliche Archiv 
mit dem schriftlichen Nachlaß Kettelers geöffnet hat; dem Jesuiten- 


pater O. Pfülff stand es bekanntlich zur Verfügung. So fußt die Arbeit ` ` 


für die Mainzer Zeit wesentlich auf den hessischen Staatsakten, die in 
vollem Umfang benutzt werden durften und unter anderem die Stellung 


37) Die Briefe Kaiser Wilhelms I. Hrsg. v. Kaiser-Wilhelm-In- 
stitut f.-dt. Gesch. Kaiser Wilhelms I. Weimarer Briefe, bearb. von Joh. 
Schultze. 2 Bde. Stuttgart-Berlin-Leipzig. Dt. Verlagsanstalt.e. XXXIX, 
302 S., AV 241 S. 

Paula v. Bülow, Aus verklungenen Zeiten. Lebenserinnerungen 


E Hrsg. v. Prof. Dr. Joh. Werner. 2. Aufl. Leipzig 1925. K. F.” 


Köhler. 213 S. 
3) Fr. Vigener, Ketteler. Ein dt. Bischofsleben d. 19. Ihdts. Müncher 
Berlin. Oldenbourg. XV, 751 S. 


D 
+ 


‘~ 


des Ministeriums Dalwigk zur Katholischen Kirche zum ersten Male 
gründlich abzuhandeln erlaubten. Überhaupt bringt das Buch bei der 
breiten und tiefen Fundamentierung, die Vigener der Darstellung des 
Lebens und Wirkens seines Helden zu geben für nötig befunden hat, 
unendlich viel für die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts, 
“namentlich für die Kirchen-, Sozial- und Nationalpolitik seit den 50er 
Jahren und für das Vatikanum, dessen entscheidenden Beschlüssen 
sich Ketteler zwar unterwarf, gegen die er aber tief innerlich war; 
denn Kettelers Überzeugung war die bischöfliche, „daß die letzte und 
höchste Gewalt in Kirchenlenkung und Glaubensbestimmung nicht 
päpstlich sei, sondern kirchlich, d. h. daß sie in der untrennbaren Ge- 
meinschaft von Papsttum und Episkopat liege.“ (S. 568). Mit welcher 
Feinheit sich der Verfasser in die Welt dieses markantesten und volks- 
tümlichsten Kirchenfürsten des 19. Jahrhunderts einzufühlen verstanden 
hat, belegt der zusammenfassende Rückblick. Um nur zweierlei daraus 
hervorzuheben: er rechnet scharf mit der liberalen Auffassung ab, daß 
für Ketteler die Religion sehr wenig, die Politik sehr viel bedeutet habe, 
und er beleuchtet kritisch. die soziale Wirksamkeit des. „Arbeiter- 
bischofs“ aus münsterschem Adelsgeschlecht, jene Wirksamkeit, die 
Kettelers Namen nicht zum wenigsten so bekannt gemacht hat und die 
von.der Nachwelt um vieles überschätzt worden ist, obwohl die so- 
zialen Gedanken nach Vigeners Auffassung in der Geschichte der sozial- 
politischen Ideen ohne eigene Bedeutung sind. 

Unter den ausländischen Arbeiten sind es vornehmlich drei nor- 
dische, die besondere Beachtung verdienen. *). Aage Friis unter- 
sucht auf Grund dänischer, französischer und schwedischer Archivalien, 
vornehmlich der Aufzeichnungen des Direktors im dänischen Außen- 
ministerium Vedel die Haltung Dänemarks bei Ausbruch des Krieges 
von 1870. Entscheidenden Einfluß auf die zwiespältigen Strömungen 
in Kopenhagen, auf die Anschluß an Frankreich suchende national- 
liberale Gruppe des Ministeriums und auf den für unbedingte Neutra- 
lität eintretenden König und Kronprinzen, hat damals Vedel gehabt, der 
zwar innerlich mit seinen Sympathien bei Frankreich war, indessen 
kein Zutrauen zu dessen Erfolgen hatte und infolgedessen sein Augen- 
merk darauf richtete, möglichst lange freie Hand zu behalten und die 
Neutralitätserklärung hinauszuschieben; letzten Endes freilich dachte 
er auf dem Wege über Rußland und England zur Verständigung mit 
Preußen über Nordschleswig zu kommen. Bismarck seinerseits hat 
dem dänischen Gesandten Quade keine Zusagen gemacht und sich be- 
schränkt, ihm zu erklären, daß er persönlich auf eine befriedigende 
Lösung hoffe, eine Gebietsabtretung indessen schwer vor der öffent- 
lichen Meinung und dem König vertretbar sei. — H. Hijelholt be- 


ao) Aage Friis, Danmark ved Krigsudbrudet Juli-August 1870. Kopen- 
hagen 1923. 
' : “) H. Hjelholt, Den danske Sprogordning og det danske Sprogstyre 
i Kee mellem Krigene 1850—1864. Kopenhagen 1923. 
a22) A. F. Kriegers Dagboeger 1848—1880. Udgivet af E. Koppel, 
V. Frijs, P. Munch, 7 Bde. Kopenhagen 1920/25. 


K 


4 


richtet über die dänische Sprachpolitik in Schleswig vornehmlich an 
Hand der Akten des Schleswigschen Ministeriums und der Korrespon- 
denz des extrem dänisch gerichteten Leiters ` des schleswigschen 
Kirchen- und Schulwesens Regensburg sowie der Kirchenvisitations- 
akten. — Schließlich liegen die Tagebücher A. Kriegers, 1855 De- 
parternentschef im schleswigschen Ministerium, späteren Innen-, 
Finanz- und Justizministers, bekannt auch als Abgesandten auf der 
Londoner Konferenz 1864, vor. 


Die Arbeiten Bandmanns und Nirrnheims über die öffentliche 
Meinung und die deutsche Frage 1864/66 bezw. über die Anfänge des 
Ministeriums Bismarcks ergänzt und führt weiter eine sich auf Bayern 
beschränkende Untersuchung R ujïd er s.) Nach einem kurzen Über- 
blick über die bayerischen Parteien und ihre Presse in den Jahren 
1862/66 behandelt sie die Stellung der bayerischen öffentlichen Meinung 
zu Bismarcks Regierungsmaßnahmen, Verfassungskonflikt, Zirkular- 
„depesche vom 24. 1. 1863, Alvenslebenkonvention, Frankfurter Fürsten- 
tag, Handelspolitik, Schleswig-Holstein, Biarritz, 1866 bis zum Kriegs- 
ausbruch — freilich nur nach den Presseäußerungen, obwohl erkannt 
ist, daß Presse und öffentliche Meinung sich nicht decken. Die Leit- 
artikler und Hauptkorrespondenten zu ermitteln, ist wegen der Be- 
schaffenheit der in Frage kommenden Zeitungsarchive als aussichtslos 
- aufgegeben worden. — G. v. Böhm s*) Biographie Ludwigs Il., die 
auch aus eigenem Erleben gespeist ist, hat in neuer Auflage vorgelegt 
werden können. Die Arbeit ist um rund 100 Seiten vermehrt, insbe- 
sondere sind die Darstellung der Ereignisse von 1866, 1870/71, die Be- 
ziehungen zu Richard Wagner, Verlobung, Krankheit und Tod, der 
Regierungsanfang durch namhafte Zusätze bereichert worden. Die 
Bedenken, die an dieser Stelle Jahrgang V S. 91 vorgebracht worden 
sind, bleiben freilich bestehen, indessen soll darüber nicht vergessen 
werden, welche wertvolle Fundgrube das Buch bildet; es ist in ihm 
eine Menge besten Materials verarbeitet worden. Straffere Gruppie- 
rung des Stoffes würde das Ganze noch sehr wesentlich gewinnen 
lassen. — Bekanntes zusammenfassend, im wesentlichen aus dem von 
Vater und Vetter entworfenen Lebensbild Jollys schöpfend, aber in den 
zahlreichen Anmerkungen auch manches dort Gebotene ergänzend, 
entwirft O. Baumgarten”) in einer akademischen Festrede eine 
schöne Charakteristik des badischen Staatsministers und seines Freun- 
des, des Freiherrn v. Roggenbach, namentlich des ersteren, der unbe- 
dingt nach der deutschen Einheit unter preußischer Führung strebte, 
dessen Abneigung gegen Österreich vornehmlich in nem Abscheu 


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3) H Ruider, Bismarck u. d. öffentliche Meinung in Bayern 1862-1866. 
— Dt. Geschichtsbücherei, hrsg. v. M. Doeberl u. G. Leidinger. Bd. 1. München. 
H Schmidt: 152 S. 


ai G. v. Böhm, Ludwig Il., König von Bayern. Sein Leben u. seine : 


Zeit. Zweite verm. Aufl. Berlin. H. R. Engelmann. XVII, 802 S. j 
. Baumgarten, der Anteil Badens a. d. Reichsgründung. == 
EBEN u. Geschichte, eine Sammlung von Vorträgen u. Schriften. H. 
Tübingen. Mohr. 48 S. 
j 


f 


„vor der Staatslosigkeit, dem System des laisser faire laisser aller, der 
Bummelei und Pflichtlosigkeit des bequemen südlichen Menschentums" 

wurzelte. Sehr viel sympathischer war ihm’ Preußen, aus dem er sich 
„als Bruch mit der bisherigen Verlotterung und Bummelei“ den Kriegs- 
minister holte. Möglich war freilich Jollys Politik bei den nicht uner- 
heblichen Widerständen nur, weil sie den Großherzog auf ihrer Seite 
hatte und dieser sehr beliebt war. Den Anteil des badischen Liberalis- 
mus schätzt B. nicht sonderlich hoch ein, er meint, dieser Anteil sei 
mehr der einer passiven, oft auch widerwillig folgenden Mitwirkung 
gewesen. — Starke Anregungen vermittelt das im Berichtsjahr zum 
Abschluß gekommene und bis zum Untergang des alten Donaustaates 
ausgedehnte Werk V. Bibls,*) wenn auch manches nicht ohne Yor- 
behalt hinzunehmen ist. Resigniert zieht B. die Bilanz, daß das Habs- 
burgerreich ein „Anachronismus“ und — unter Berufung auf Fr. Wieser 
—- seine politische Geschichte ein Ringen gegen die allgemeinen Ge- 
setze der europäischen Entwicklung gewesen sei; zumal der Ausgleich 
von 1867 sei das Grab der Monarchie geworden. Sehr wirkungsvoll 
erscheinen heutzutage die mitgeteilten Auszüge aus einer damals er- 
schienenen deutsch-österreichischen Broschüre „Der Zerfall Öster- 
reichs“. Ungünstig wird die Politik Schwarzenbergs beurteilt. Und 
doch, so meint der Verfasser, hätte ein freies Österreich gebildet wer- ` 
den und zu Dauer und Kraft gelangen können, wenn die Gedanken, die 
auf dem Kremsierer Reichstag erörtert wurden, vor allem die Vor- 
schläge Kajetan Mayers, wirksam geworden wären (S. 181). — Eine 
gründliche Darstellung der Unterrichtsbewegung von 1848 fehlte bis- 
her; diese Lücke wird nun durch eine eingehende auf der zeitgenössi- 
schen Literatur und den Akten des preußischen Kultusministeriums in 
der Hauptsache aufgebaute Untersuchung des inzwischen verstorbenen 
G. Lüttgert’) geschlossen. Die Arbeit ist umso verdienstvoller, als 
sie nicht vom Standpunkt des Pädagogen, sondern von dem des Histo- 
rikers aus geschrieben ist, und sie beansprucht ein allgemeineres Inter- 
esse, wenn sie auch die Verhältnisse in Preußen in den Vordergrund 
stellt, da das, was damals in Preußen an Wünschen und Reformvor- 
schlägen laut wurde, in ganz Deutschland, Österreich ausgenommen, ` 
vertreten worden ist. Größere Selbständigkeit, stärkere Beteiligung 
von Fachmännern an der Unterrichtsverwaltung, modernere Lehr. 
pläne, Befreiung der Universitäten von der Staatsaufsicht, der Volks- 
schulen von der Kirche, Standesfragen — das waren die wesentlich- 
sten Forderungen, die besonders in Berlin und den Provinzen Rhein- 
land und Preußen erörtert wurden. Das vom Ministerium Ladenberg 
in Angriff genommene, von der Verfassung in Aussicht gestellte allge- 
meine Unterrichtsgesetz, das im Unterschied von dem Süvernschen 
Entwurf von 1819 auch die Universitäten einbeziehen wollte und um 
das sich die Räte Joh. Schultze, Kortüm, Stiehl, Brüggemann mühten. 


3) V, Bibl, d. Zerfall Österreichs. 2. Bd: Von Revolution z. Revolu- 
‘tion. Wien. Rikola. 577 S. | 

x IG Lüttgert, Preußens Unterrichtskämpfe i. d. Bewegung von 
848. Berlin. : Trowitzsch u. Sohn. 


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a rg EE EN r epp 


işt nicht zustande gekommen; Ladenbergs Nachfolger beschritten den 


Weg der Verordnungen, um die dringendsten Reformen durchzuführen. 
Es ist der L.’schen Untersuchung besonders zu danken, daß sie uns 
die gewaltige Arbeit, die vom Kultusministerium damals geleistet 


. worden ist, aus den Akten zugänglich gemacht hat. — Die Ereignisse 


des Jahres 1848, die „revolutionäre“ Bewegung, deutsche und thürin- 
gische Frage, im Fürstentum Reuß a L. behandelt vornehmlich auf 
Grund der Greizer Akten J. v. Strauch.) Beachtung verdienen 


die Ausführungen über die Stellung des Ländchens zu den Problemen . 


der allgemeinen deutschen Politik und des Anschlusses an Sachsen so- 


wie der Bildung einer thüringischen Einheit. Den roten Faden in diesen ` 


Verhandlungen und Erwägungen bildet das Bestreben, die Selbständig- 
keit des kleinen Staatswesens zu erhalten.) — Hochwillkommen ist 
die treffliche Geschichte Hamburgs im 19. Jahrhundert von E 
Baasch,®) deren erster Band im Berichtsjahr vorgelegt werden 
konnte. Die Ungunst der Verhältnisse, die es nicht gestattete, das. 
Material des Hamburger Staatsarchivs über das Jahr 1847 so, wie es 
zu wünschen gewesen wäre, auszuwerten, und die dazu zwang, die 
Akten aus anderen Archiven, im besonderen aus dem Preuß. Geheimen 
Staatsarchiv heranzuziehen, scheint doch ausgeglichen durch die Per- 
son des Verfassers, der wie kein anderer berufen war, die Fortsetzung 
der im gleichen Verlag erschienenen Neueren Geschichte Hamburgs. 
von A. Wohlwill zu bearbeiten. — Ostfrieslands Geschichte in der 
hannoverschen Zeit untersucht H. Borkenhage n“) nach eingehen- 
den Archivstudien. Entgegen den Behauptungen v. Meiers und 
v. Hassels, daß preußischerseits 1815 kein ernstlicher Widerstand gegen 
die Abtretung Ostfrieslands geleistet worden sei, kommt die Ver- 
fasserin zu dem Ergebnis, daß sich Preußen, vor allem der König, sehr 
schwer zur Aufgabe des Fürstentums entschließen konnte und nur 
eingewilligt hat, weil anders die seit Jahrhunderten erstrebte Er- 
werbung von ganz Pommern mit Rügen nicht zu erlangen war. Um- 
gekehrt war Hannover wenig daran gelegen, Ostfriesland um des. 
Landes und seiner Lage willen, deren Bedeutung damals eigentlich 
nur von Vincke erkannt wurde, zu erwerben, richtunggebend war 
vielmehr das Bestreben, Preußens Vordringen nach Westen über die 
Elbe zu lähmen. An seiner neuen Provinz hat dann Hannover freilich 
keine rechte Freude gehabt. Ausführlich werden die Schwierigkeiten 
geschildert, denen die hannoverschen Eingliederungs- und Verwal- 


#) J. v. Strauch, d. Schicksale u. d. Politik des Fürstentums Reuß 
L. in den Jahren 1848--1850 = 21. Jahresbericht des Vereins für Greizer 
Geschichte. Greiz. 140 S. 
F. Rusche, Kurhessen in der bürgerlichen u. sozialen Bewegung 
d Jahre 1848 u. 1849. Marbg. Diss. Auszug i. Jbch. d. philos. Fak. d. Univers. 
Marburg 1922/23 I S. 235/37. 
5) E. Baasch, Geschichte Hamburgs 1814-1918. De 
Perthes, 1. Bd: 1814—1867. VIII, 318 S. 
5) H. Borkenhagen, Ostfriesland mitër der hannoverschen He 
schaft 1815—1866 — Abhandlg. u. Vorträge z. Gesch. Ostfrieslands, hrsg. - 
Staatsarchiv in Aurich. H. 21. Aurich. Friemann. VII, 132 S. 


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tungsmaßnahmen bei dem zäh und eigensinnig an seinen alten Rechten 
testhaltenden, überdies durch die preußische Zeit verwöhnten und inner- 
lich der neuen Herrschaft abholden Ostfriesenstamm begegneten. Die 
Art und Weise, wie von Hannover wesentliche Wünsche des Landes 
namentlich auf dem Gebiete der Handels-, Zoll- und Verkehrspolitik 
behandelt wurden, war allerdings wenig geeignet, Ostfriesland mit 
seinem Schicksal auszusöhnen. — Neun kleine Skizzen in leichtem 
Plauderton aus der inneren: Geschichte Kurhessens"legt J. Kühn”) 
vor, von denen allgemeineres Interesse die aus dem Nachlaß Varn- 
hagens gespeiste Studie „Varnhagen von Ense und der kurhessische 
Familienzwist“ hat”). 

VonL.Bergsträßers”) serdienstlichem Grundriß der deut- 
schen Parteigeschichte ist im Berichtsjahr die 3. Auflage erschienen; 
ihr ist inzwischen die 4. bereits nachgefolgt, die, sowohl was die Litera- 
turnachweise wie die Darstellung anlangt, mit Herbst 1925 abge- 
schlossen ist, auch sonst, namentlich im 4. Hauptteil, die bessernde Hand 
des Verfassers zeigt. — Einen wertvollen Beitrag zur Geschichte des 
politischen Denkens unmittelbar nach den Befreiungskriegen bringt die 
Untersuchung Rollers) über die Gedankenwelt des Kreises dem 
der durch seine Beziehungen zu Arndt, J. A. Fr. Eichhorn, Niebuhr, 
Schleiermacher u. a. bekannte Berliner Buchhändler Georg Andreas 
Reimer zugehörte. Roller hat neben Akten der Mainzer Zentral- 
untersuchungskommission auch die Reimer betreffenden Unter- 
suchungsakten beim Ministerium des Innern aus der Zeit der Dema- 
zogenverfolgung herangezogen, die die damals bei Reimer beschlag- 
nahmten Korrespondenzen vornehmlich Siegmund Peter Martins, Hans 
Rudolf v. Plehwes und des Breslauer Konsistorialrates Gaß enthalten. 
Was R. und seine Freunde erstrebten, war die Heraufführung eines 
neuen Staates, in dem der einzelne mit der Allgemeinheit durch eine 
verfassungsmäßig geregelte Teilnahme am politischen Leben verbunden 
war — freilich nicht durch Umsturz und Geheimbündelei, wie ihnen 
vorgeworfen wurde, sondern durch die Macht der öffentlichen Mei- 
nung. Denn diese muß sich: nach ihrer Überzeugung durchsetzen, da 
sie ihnen nichts anderes ist als eine Äußerung des „volkstümlichen“ 
Lebens, des „Volksgeistes“ schlechthin und somit der Zufälligkeit ent- 
rückt, in das Gebiet des Notwendigen und Erhabenen gerückt ist. — 
Rankes Politisches Gespräch hat Fr. Meinecke) neu heraus- 

“yo K ü üh n, Kurhessische Bilderbogen. Studien u. Porträts z. Kultur- 
ne e 19. Jahrh. Berlin. Dt. Verlagsgesellschaft f. Politik u. Geschichte. 

5) Varnhagen von Ense. Denkwürdigkeiten d. eigenen Lebens. 
Die Karlsruher Jahre 1816—1819. Neuausgabe mit Einl. v. J. Häring. arls- 
ruhe. C. F. Müller. XIX, 378 S. 

5) L. Bergsträßer, Geschichte d. politischen Parteien in Deutsch- 
land. Mannheim, l. Bensheimer. °1924. ?1926. XII, 160 S. 

5) Th. Roller, Georg Andreas Reimer u. sein Kreis. Z. Geschichte 
d. politischen Denkens in Deutschland um die Zeit der Befreiungskriege. Berlin. 
tioreidmann. HU S. 


5) L, v. Ranke, Politisches Gespräch. Mit einer Einführung von Fr. 
s,einecke. Minchen-Leipzig. Duncker u. Humblot. 51 S 


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gegeben und mit einer feinsinnigen Enleitung versehen. — Gelegentlich 


einer ausführlichen Besprechung der Arbeiten von Rosenzweig und 


Christern über Hegel und Dahlmann untersucht O West- 


'phal?) hauptsächlich die Anschauungen der beiden Denker über das 


Verhältnis des Staates zur Gesellschaft und zur Religion. — Inwieweit 


‚Aristoles als Vorbild für Dahlmanns Staatslehre zu gelten hat, sucht 


E. Hölzle’®) kurz zu erweisen. — Dahlmanns „Politik“ hat mit einer 
eingehenden, das Gedankliche analySierenden Einführung O. West- 
phal?) neu herausgegeben. — Einige Aufsätze und Briefe Paul 
Pfizers hat G. Küntzel‘) vorgelegt. Zu bereits Bekanntem 
(„Liberal, Liberalismus“, „Beiträge zur Feststellung der deutschen 
Reichsgewalt“, Zeitungsartikel 1848/1850 aus der „Schwäbischen 
Kronik“ und dem „Schwäbischen Merkur“) gesellen sich als Nova aus 
dem Gagernschen Nachlaß Briefe Gustav und Paul Pfizers an H. 
v. Gagern aus den Jahren 1835—1859 und 3 Aufsätze aus dem August 
1866, die bisher als Arbeiten Dis nicht erkannt waren. Aus den 
Briefen an G. erfahren wir, daß Pf. G. bei dessen Verhandlungen mit 
Preußen Ende 1848 tätig zu helfen bereit war; die in der Schwäbischen 
Volkszeitung am 5., 8.14. 8. 66 erschienenen Artikel „Reichsver- 
fassung“, „Nicht zurückweichen!“, „Einheitsstreben und Partikularis- 
mus“ lassen noch einmal die bis zuletzt festgehaltene Grundlinie seiner 
Gedanken aufleuchten: kein südwestdeutscher Bund nach dem Aus- 
scheiden Österreichs, auch keine Staatenmaschinerie, die von Berlin 
aus Deutschland beherrscht, sondern nationale Zusammenfassung mit 
freier Volksgemeinde und einer die Einheit verbürgenden Zentralge- 
walt.°) — Die Lehre von der Volksouveränität im vormärzlichen Libe- 
ralismus zum, Ausgangspunkt nehmend, untersucht A. Frahm,?) wie 
es möglich war, daß aus den Kreisen dieses überwiegend gemäßigten 
Liberalismus das souveräne Parlament von 1848 hervorgehen konnte, 
dessen Souveränität nicht von vornherein festgelegt, freilich auch nicht 
ausgeschlossen war. Vieles, wie der Verfasser zeigt, wirkte dabei 
zusammen: „politische Notwendigkeit, das Bewußtsein, allein in 
Deutschland aufrecht zu stehen, abstrakte Logik, Erfolgtrunkenheit der 
schwächlichen Nachgiebigkeit der Kabinette gegenüber, die Suggestion 


5) O. Westphal, Z. Beurteilung Hegels u. Dahlmanns — HZ 129 
(1924). S. 252—280. 

5) E. Hölzle, Dahlmann und der Staat. — Vierteli. f. Sozial- und 
Wirtschaftsgesch. XVII (1924). S. 35058. 

») F, C. Dahlmann, Die Politik auf den Grund und das Maß der ge- 
xebenen Zustände zurückgeführt. Mit einer Einführung v. O. Westphal = 
Klassiker d. Politik, hrsg. v. Fr. Meinecke u. H Oncken. Band XIIL Berlin. 
R. Hobbing. 279 S. 

6) Politsche Aufsätze und Briefe von Paul Achatius Pfizer. hrsg. u. 
erl. v. G. Küntzel = Hist.-pol. Bücherei, hrsg. v. G. Küntzel u. J. Ziehen. 
Heft 2. Frankfurt a/M. Diesterweg. VI, 99 S. 

Voigt, Werdegang u. Wirksamkeit Friedrich Julius Stahls in 
en bis zu seiner Berufung nach Berlin (1840). Marbg. Diss. Auszug im 
Jbch. d philos. Fak. d. Universität Marburg 1922/23 I S. 145—147. 

San Br Frahm, Paulskirche und Volksouveränitätt = HZ 130 (1924). 


S | | 107 


der großen flutenden Bewegung, der äußere Druck der revolutionären 
Umgebung,“ endlich „ausschlaggebend“ Gagerns Erklärung vom 
19. Mai 1848. — Die im letzten Jahresbericht angezeigte Schriftenfolge 
- „Die Paulskirche“ ist weiter fortgesetzt worden. A. Fendrich*) 
handelt über die badische Bewegung in den Jahren 1848/49; 
der ehemalige Württembergische Staatspräsident Blos“) schildert 
unter Benutzung der Akten des Stuttgarter Staatsarchivs und Einflech- 
tung einiger persönlicher Erinnerungen die letzten Tage des Parlaments 
in Stuttgart; die Führer der Parteien der Linken, des „deutschen 
Hofes“ und des „Donnersberges“, und ihre Anschauungen betrachtet 
Sutter.) Aus der Sutterschen Arbeit sei der Satz angeführt: „Wäre 
in die Hände derer um Karl Vogt, Ludwig Simon, Robert Blum das 
Schicksal der Paulskirche gelegt worden, dieses Parlament hätte ein 
` Reich aufgeführt, ausdauernder, inniger gefügt. als die Schöpfung Bis- 
marcks, die „Blut und Eisen“ nötig hatte und deren Entstehung der 
edle Schwung und die aus den Tiefen des Volkes kommende Kraft 
fehlten, die jene befeuerten, die es mit dem Verlangen nach Einigkeit 
und Freiheit vor 75 Jahren am ernstesten nahmen.“ — Mit der deut- 
schen Arbeiterbewegung der Jahre 1848/49 und ihrem Führer Stefan 
Born, beschäftigt sich ausführlich M. Q u a r c k®) und sucht das dürre, 
absprechende Urteil, das Fr. Engels in den „Erzählungen über den 
Kommunistenprozeß“ über die „Arbeiterverbrüderung“ und den Ber- 
liner Schriftsetzer gefällt hat, als ungerecht und unzutreffend zu wider- 
legen. N 
Anhangsweise seien zwei Bücher H H. Houbens”)®) ge- 
nannt. In dem einen, das sich als eine Fortsetzung der 1918 erstmalig 
erschienenen, inzwischen in zweiter Auflage vorliegenden Arbeit „Hier 
Zensur — wer dort?“ gibt, hat er unter Benutzung der einschlägigen 
Literatur und für die preußischen Verhältnisse auch der Akten des 
Berliner Geheimen - Staatsarchivs jenes berüchtigte Kapitel der Ge- 
schichte des 19. Jahrhunderts, in dem der Staat das geistige Leben 
durch kleinliche, übel angewandte Zensurbestimmungen in die ihm gut 
dünkenden Bahnen zu pressen versuchte, behandelt und in leichtge- 
 schürzten Skizzen manches Zensurstückchen hauptsächlich aus Preußen 
und Österreich wieder erstehen lassen. Das zweite Buch Houbens 
reicht bis zur Gegenwart und wird ebenfalls vom Historiker zu be- 
achten sein, wenn auch die meisten hier behandelten Sachen mehr dem 
Gebiet der Literaturgeschicht: angehören. 
e) A. Fendrich, d. badische Bewegung der Jahre 1848/49. Frankfurt 
a/M. Frankfurter Sozietätsdruckerei. 37 S. 
DW Blos, d. Untergang des Frankfurter Parlaments. Frankfurt a/M. 
Frankfurter Sozietätsdruckerei. 141 S. 
Sutter, d. Linke der Paulskirche. Frankfurt a/M. Frank- 
furter en 53 S. 
&) M. Quarck, die erste deutsche E Geschichte der 
Arbeiterverbrüderung 1848/49. Leipzig. Hirschfeld. VIII, 400 S. 
°) H. H. Houben, d. gefesselte Biedermaier. Le alir. Kultur, Zensur 
in A alten Zeit. Leipzig. Haessel. 272 S. 


. H. Houben. Verbotene Literatur von der klassischen Zeit bis 
zur Gegenwart. Berlin. Rowohlt. 617 S. 


108 


C. Kapitel V. 


Von der Reichsgründung bis zu Bismarcks 
Entlassung (1871—1890.) | 


(Otto Becker.) 


Der erste Versuch einer eingehenden Darstellung der auswär- 
tigen Politik Bismarcks auf Grund der großen Aktenpublikation des 
Auswärtigen Amtes ist bereits im vorjährigen Bericht von Wolfgang 
Windelband gewürdigt worden. Windelband wies die Gıiundthese des 
Rachfiahlschen Werkes, der eigentliche Sinn der Bismarckschen 
Außenpolitik seit der Reichsgründung sei das Werben um das Bündnis 
mit England gewesen, scharf zurück und stimmte der Grundauffassung 
meiner Ausführungen in „Bismarcks Bündnispolitik“ zu. Daß Rachfahl 
die Möglichkeiten einer einseitigen westlichen undauch einer einseitigen 
östlichen Orientierung nicht wirklich bis zu ihren letzten Konsequenzen 
durchdacht hat, darf wohl heute bereits als die durchaus verherr- 
schende Auffassung unter den deutschen Historikern betrachtet wer- 
den, nachdem auch alle weiteren Untersuchungen durchweg zu einer 
Ablehnung seiner These geführt haben. Von ihnen ist hier vor allem 
‚die gründliche Spezialuntersuchung von Hans Rothfels über Bis- 


marcks englische Bündnispolitik!) zu nennen. Die starke Eigenart des 


den Lesern dieser Zeitschrift wohlbekannten Verfassers bewährt sich 
auch in diesem Werke. In welchen Fragen Rothfels und ich von ein- 
ander abweichen, kann hier nicht näher dargelegt werden. Ich ver- 
weise auf meine Ausführungen „Zur neueren Literatur über Bismarcks 
auswärtige Politik“, in meinem Buch „Das französisch-russische Bünd- 
nis.) Zu einer noch schärferen Abweisung der Rachfahlschen Auf- 
fassung gelangte Gerhard Ritter, in einer anregenden Studie, 
in der er die Abwandlungen der deutsch-englischen Beziehungen bis 
über die Jahrhundertwende hinaus verfolgt. Rachfahl hat seinen Kri- 
tikern in einem längeren’ Aufsatze im Weltwirtschaitlichen Archiv‘) 
geantwortet, in dem er sich vor allem mit Rothfels, Ritter und mir aus- 
‚einandersetzt. Die Dupliken®) von Rothfels und mir waren bereits vor 
dem Ableben dieses verdienstvollen Gelehrten niedergeschrieben. 


1) H. Rothfels, Bismarks englische Bündnispolitik, Stuttgart Dte. 
"Wende an ol 141 S. 

2) Berlin, (Carl Heymanns Verlag) 1925. S. 268—275. 

3) Gerh. Ritter, Bismarks Verhältnis zu England. Im Archiv für 
Politik u. Gesch., Juni/Juliheft 1924. Auch als selbständige Schrift in der 
Schriftenreihe der Dten. Verlagsanstalt f. Politik u .Gesch. erschienen. 

») F. Rachfahl, Zur auswärtigen Politik Bismarcks. Weltwirtschaft- 
liches Archiv. 21. Bd. Heft 1 .Januar 1925. 

Rothfels’ Duplik, anfangs für das Weltwirtschaftliche Archiv ge- 
E erschien als Privatdruck unter dem Titel: „Zum Problem d. deutsch- 
englischen Bündnispolitik in der Epoche Bismarck“, Otto Beckers Duplik 
ım Anhange seiner Schrift, Das französisch- russische Bündnis. S. 252—264. 


109 


Bismarck wollte Frankreich isolieren, um es zu hindern, einen 
Revanchekrieg gegen Deutschland zu entfesseln. Nichts hat ihm ferner 
gelegen, als das geschlagene Frankreich zu demütigen oder gar seine 
Souveränität und Großmachtstellung anzutasten. Kein schärferer 
Gegensatz ist denkbar als die Behandlung Frankreichs nach dem 
Frankfurter Frieden durch Deutschland und die Behandlung Deutsch- 
lands nach dem Versailler Frieden vor allem durch Frankreich. Der 
dokumentarische Nachweis für diese Tatsache ist jetzt geführt durch 
zwei bemerkenswerte Bücher von KarlLinnebach®) und Hans 
Herzfeld.) Linnebach hat außer dem ersten Bande der großen 
Aktenpublikation auch die Akten des Reichsarchivs benutzt. Es ist 
das zuverlässigste Material, mit dem er .darlegt, daß die Geschichte 
der Besetzung Frankreichs und der Abtragung der französischen 
Kriegsschuld im wesentlichen eine Geschichte der Erleichterungen und 
Milderungen war, die Deutschland Frankreich zugestand. Der außen- 
politische Hintergrund dieser Behandlung Frankreichs durch Deutsch- 
land kommt bei Linnebach nicht zu seinem Rechte. Deshalb ist das 


Buch von Herzfeld als erfreuliche Ergänzung zu begrüßen. Es ist 


eine gründliche Darstellung der auswärtigen Politik Bismarcks von 
1870—1873, die uns die Behandlung Frankreichs in dieser Zeit und die 
spezielleren Mitteilungen Linnebachs nun erst in ihren letzten Motiver 
begreiflich macht. | 

Unser Verständnis für die politischen Verwicklungen des Jahres 
. 1875, denen bereits Hans Herzfeld vor einigen Jahren eine fruchtbare 
Untersuchung gewidmet hat, erfährt eine weitere Förderung durch die 
Forschungen Hajo Holborns.) Es ist beachtenswert, daß auch 
Holborn auf Grund seiner speziellen Untersuchungen zu der Auffassung 
gelangt, daß der Gedanke der „doppelten Rückversicherung‘“ von Bis- 
marck im Keime schon zu Beginn der siebziger ‘Jahre gedacht worden 
ist. Die verleumderische Auslegung, die der französische Botschafter 
Le Flô in seinen Enthüllungen der Mission Radowitz (Februar/März 
1875) zu geben suchte, wird von Holborn auf Grund reichen unge- 
druckten Materials widerlegt. Auch Holborns Aufsatz „Bismarck und 
Schuwalow im Jahre 1875‘) ist für diesen Fragenkomplex heranzu- 
ziehen. In ihm veröffentlicht er eine Anzahl von Dokumenten, die dem 
. Archiv des Auswärtigen Amtes entstammen und in der großen Akten- 
publikation keinen Platz gefunden hatten. 


gd K. Linnebach, Deutschland als Sieger im besetzten Frankreich. 
Stuttgart, (Dte. Verlagsanstalt). 200 S. 


7 H. Herzfeld, Deutschland und das geschlagene Frankreich 
1871—73. Berlin (Dte. Verlagsgesellschaft) 300 S. 


8) Hajo Holborn, Die europäische Politik zu Beginn der siebziger 


Jahre. Archiv für Politik u. Gesch. Novemberheft 1924. Wesentlich er. 


weitert in seinem Buche „Bismarcks europäische Politik zu Beginn der sieb-. 
ziger Jahre und Mission Radowitz“ Berlin. (Dte. Verlagsgesellschaft für 
Politik und Geschichte) 1925. 

°) Hajo Holborn, Bismarck u. Schuwalow im Jahre 1875. Histor. Zeit-. 
schrift 148 S. 


110 


Recht dillettantisch ist die anmaßende Kritik, die Paul 
Harms!®) an Bismarcks Politik im Jahre 1878 übt. Er schließt sich 
einem häufiger geäußerten Urteil an, daß der große Kanzler, anstatt 
den Berliner Kongreß ‚herbeizuführen, den Ausbruch. eines englisch- 
russischen Krieges hätte fördern sollen. Er wird jedoch den Motiven, 
die den Staatsmann damals leiteten, nicht gerecht und durchdenkt auch 
nicht die Bündnismöglichkeiten, die sich der französischen Politik im 
Falle eines europäischen Krieges eröffnet hätten. Wie wenig er in das 
Wesen der Bismarckschen Politik eingedrungen ist, zeigt auch seine 
Behauptung, die deutsche Politik sei. damals von der Voraussetzung 
ausgegangen, „daß sie selbst in absehbarer Zeit kein weltpolitisches 
Interesse haben werde.“ 


Bismarcks Bündnis mit Österreich nd: seine Dreibundpolitik 
stehen im Mittelpunkte der Untersuchungen des schwedichen Gelehrten 
Helge Granfelt') und des Grafen Julius Andrässy.'’) 
Giranfelts Buch beruht auf einer äußerst fleißigen Sammlung der euro- 
päischen Literatur über das „Dreibundsystem“; auch italienische und 
ungarische Quellen sind herangezogen. Aber es war bereits beim-Er- 
scheinen etwas veraltet, da die gesamte im Auschluß an die große 
Aktenpublikation erschienene deutsche Literatur nicht mehr mit be- 
nutzt wurde. Wenn auch methodisch und gründlich, nach meinem 
Empfinden allzu breit, führt Granfelts Darstellung doch nicht recht zu 
fruchtbaren Resultaten. Sie steht stark unter dem Einflusse älterer 
Aufsätze Rachfahls. So urteilt auch er, daß Bismarck 1887 im ge- 
heimen für Österreich gegen Rußland optiert hätte. Seine Ausfüh- 
rungen namentlich über Bismarcks englische Politik leiden des öfteren 
an mangelnder Schärfe der Begriffsbestimmung. Andrássy fällt ein 
Verdammungsurteil über Bismarcks Rußland- und Balkanpolitik, na- 
mentlich über seinen Gedanken der Demarkationslinie der Interessen- 
sphären. Er sieht ein großes Unglück darin, daß sein Vater nicht länger 
Minister des Auswärtigen geblieben und daß es ihm so nicht mehr 
verzönnt gewesen sei, Bismarck für eine aktivere Orientpolitik Öster- 
reich-Ungarns zu gewinnen. Daß in Wirklichkeit die geschichtliche 
Entwicklung gerade Bismarck Recht gegeben hat, dafür hier nur ein 
Hinweis. Was hatte die Bulgaren antirussisch gemacht? Doch ge- 
rade die russische Okkupation. Solange Bulgarien als russische 
Interessensphäre galt, waren die Serben österreichisch gesinnt. Eine 
. erneute Besetzung Bulgariens durch Rußland hätte bei den Serben den 
Wunsch gestärkt, nicht auch „kosakisch“ zu werden. Der russische 
Kurs in Serbien begann, nachdem sich die Bulgaren endgültig von den 


10) P, Harms, Vier Jahrzehnte Reichspolitik 1878—1918. Ursachen 
des u und Vorbedingungen des Aufstiegs. Leipzig (Quelle u.. 
Meyer) 209 S 

, Ħ) Helge Granfelt, Das Dreibundsystem 1879—1916. Eine historisch- 

völkerrechtliche Studie. Bd. I Von Zweibund bis zum Sturze Bismarks. Stock- 
holm (Selbstverlag. Für Deutschland Speyer u; Peters Berlin) 416 S. 

12) Graf Julius Andrässy, Bismarck und Ana, Budapest ‚und 
Leipzig, 159 S, 


111 


Russen emanzipiert hatten. Vor allem aber hat das französisch- 
russische Bündnis die panslavistischen Ideen in der Doppelmonarchie 
aus dem Reiche der Utopie in das Reich der Realpolitik hinübergeführt 
und zu einer Lebensgefahr für den Staat anschwellen lassen. Auch 
das hatte Bismarck mit seiner russischen Vertragspolitik und Balkan- 
politik verhindern wollen. Sie war das Gegenteil einer Benachteili- 
gung Österreichs. 

Den Gipfel der Bismarckschen Staatskunst darf man in seiner er- 
folgreichen Friedenspolitik während der bulgarischen Krise und dem 
kühnen Nebeneinander seiner Rückversicherungspolitik mit Rußland 
und des durch ihn vermittelten „Orientdreibundes‘ sehen. Als höchst 
wertvoller Beitrag zu der Aufhellung dieser Zusammenhänge ist hier 
der Vollständigkeit halber noch einmal das Buch von Trützschler 
von Falkenstein über die Kriegsgefahr von 1887") zu nennen, 
auf das schon im letzten Bericht eingegangen ist. Mit einer polemi- 
schen Bemerkung Trützschlers gegen mich habe ich mich bereits an 
anderer Stelle auseinandergesetzt.') Für die Beurteilung des Rück- 
versicherungsvertrages darf hier auch auf zwei Aufsätze von Rasch- 
dau®) und Conrad Bornhak*) hingewiesen werden. Raschdau 
veröffentlicht eine im Sommer 1890 für Caprivi verfaßte Denkschrift 
über die Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen seit 1870. 
Die Frage, ob diese Denkschrift seine Stellungnahme zum russischen 
: Vertragswerben nach Bismarcks Sturz zu rechtfertigen vermag, ge- 
hört nicht mehr zu diesem Referat. Doch ist hier darauf hinzuweisen, 
daß seine Darstellung der Entwicklung der deutsch-russischen Be- 
ziehungen bis zum Ende der Bismarck-Aera nicht frei ist von Irr- 
tümern. So schreibt er: „Fürst Bismark ließ trotz all dem Geschrei 
nicht ab, den Faden mit Rußland weiter zu spinnen (während der bul- 
garischen Krisis). Anders Graf Kálnoky.“ In Wirklichkeit war Kál- 
noky im Jahre 1887, als der Dreikaiservertrag ablief, gar sehr bemüht, 
den Faden mit Rußland weiter zu spinnen, und bedauerte die Nicht- 
erneuerung des Vertrages. 

Aufs engste verknüpft mit der Tine der auswärtigen Politik 
Bismarcks ist seine Stellungnahme zur Staatsform in Frankreich. 
Georg Rosen!) hat sich der Aufgabe unterzogen, sie für die Zeit 
von 1871 bis 1890 vor allem auf Grund der Akten des Auswärtigen 
Amtes zu untersuchen. Daß der Kanzler die republikanische Staats- 
form begünstigte, weil er die Republik für weniger. bündnisfähig in 


13) Heinz Trützschler von Falkenstein, Bismarck und die 
Kriegsgefahr des Jahres 1887. Berlin (Dte. Verlagsanstalt für Politik u. Gesch). 
XV und 155 S. 

14) Otto Becker, Das französische- russische Bündnis S. 26668. 

15) Ludwig Raschdau, Zur Vorgeschichte des Rückversicherungs- 
vertrages, Deutsche Rundschau. Mai 1924 S. 113—126. 

16) Conrad Bornhak, Das Rätsel der Nichterneuerung des Rückver- 
sicherungsvertrages. Archiv für Politik und Geschichte. Juni/Juli 1924. 

17) Georg Rosen, Die Stellungnahme der Politik Bismarcks zur Frage 
der Staatsform in Frankreich von 1871 bis 1890. Detmold (Meyersche Hof- 
buchhandlung) 56. S 


412 


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St. Petersburg: hielt, ist’allbekannt. In den siebziger Jahren, als er 
seine ärgsten Feinde in der Kurie und dem Jesuitentum sah, fürchtete 
er wohl auch von einer klerikalen französischen Monarchie die Gefahr 
eines katholischen Dreibundes Frankreich, Österreich und Italien. 
Vieles spricht dafür, daß er später seine Einschätzung der Republik: in 
Bezug auf ihre Bündniskraft und der französischen Royalisten in Be- 
zug auf ihren Kriegswillen nicht unerheblich revidiert: hat. völlige 
Klarheit in dieser Frage bringt Rosens Schrift nicht, die übrigens die 
Abneigung des Zaren gegen die Republik und die Bedeutung des Rück- 
versicherungsvertrages erheblich unterschätzt. 

In einer Rede zur Gedenkfeier der Wiederaufrichtung des deut- 
schen Reiches handelte der Münchener Strafrechtler Fritz. von 
Calker’) über die Stellung Bismarcks zu der Frage: Unitarismus 


oder Föderalismus. V. Calkers Ausführungen sind reich an trefienden 
Bemerkungen über den Wert des staatlichen Eigenlebens der deutschen 


Bundesstaaten bezw. Länder für die kulturellen Entwicklungsmöglich- 
keiten und die „Vervollkommnung‘“ der deutschen Nation. Auch der- 
jenige, der bei Behandlung dieser Fragen den Mangel des Deutschen 
‚an fester nationaler Prägung im Oegensatze zu Calker in den Vorder- 
grund der Untersuchung stellen möchte. wird doch auch die Tatsache 
anerkennen müssen, daß unserer inneren Zerrissenheit, unserem Reich- 
tum an Widersprüchen doch auch ein Reichtum an Möglichkeiten, eine 
tiefere Quelle geistiger und seelischer Fruchtbarkeit entspricht. Aber 
das Hauptargument, mit dem Calker seinen föderalistischen Standpunkt 
begründet, der germanische Geist, den er gleichzeitig auch als Haupt- 
motiv Bismarcks für den föderalistischen Aufbau des Reiches hin- 
stellt, fordert doch den Widerspruch des Historikers heraus. Auch 
desjenigen, der sehr wohl erkennt, daß eine zu starke Zentralisation 
die Einheit des Reiches nicht fördern, sondern sogar gefährden und 
mit bürokratisierender Gleichmacherei die bunte Mannigfaltigkeit 
fruchtbarster Eigenart zerstören könnte. Es heißt doch die Kompliziert- 
heit und Tiefe des Hauptproblems unserer geschichtlichen Entwicklung 
verkennen, wenn Calker glaubt, daß die Frage, weshalb die deutsche 
staatliche Entwicklung im Mittelalter im Gegensatz zu Frank- 
reich nicht die Richtung auf den Einheitsstaat einschlug, mit der ger- 
manischen Eigenart erklärt werden könne, während die zentralisie- 
rende Entwicklung Frankreichs romanischem Geiste entspreche.’?) Ich 
verweise hier auf den Aufsatz von Friedrich Meinecke: „Ger- 
manischer und romanischer Geist im Wandel der deutschen Geschichts- 
auffassung‘‘?°) in dem er in Übereinstimmung mit Ranke meisterhaft 
darlegt, welche kritischen Bedenken sich gegen den wissenschaftlichen 
Gebrauch der Begriffe: germanischer und romanischer Geist erheben 
und wie man ihrer nur durch eine höchst elastische Auffassung vom 
Wesen germanischen und romanischen Geistes Herr werden kann. 


18) Fritz v. Calker, Bismarcks Verfassungspolitik, München (Beck) 


ams z. B. Calker S. 44. Anm. 28. 
20) Historische Zeitschrift Bd. 115. 


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Calkers These, daß „der Staat für die germanische. Staatsauffassung 
nur soweit denkbar ist, als die räumliche .und kulturelle Zusammen- 
gehörigkeit unmittelbar empfunden wird,“ steht im schärfsten Wider- 
spruch zur Entwicklung des brandenburgisch-preußischen Staates, der 


die verschiedenartigsten Staatsbildungen, zwischen denen keinerlei. 
räumliche und kulturelle Zusammengehörigkeit bestand, zum Einheits- 


staat zusammenschweißte und in der Weckung staatlichen Geistes das 
Größte geleistet hat, was die deutsche Geschichte aufzuweisen hat. 
Den Historiker muß es doch sehr überraschen, wenn von Calker bei 
der Aufzählung der verschiedenen deutschen „Stammestypen“ die 
Preußen‘ (im heutigen Sinne) in einem Atem mit den Alemannen, 
Franken und Schwaben nennt, und es sollte eigentlich nicht eines Hin- 
weises bedürfen, daß Schlesier, Pommern und Rheinländer zu grund- 
verschiedenen Stammestypen gehören. Calker meint, „die politische 
Tendenz des Eigenlebens ist nicht etwa eine Schöpfung dynastischen 
Sonderwillens, sondern sie ist aus der Stammeseigenart selbst heraus- 


gewachsen.“ Aber die Stärke, zu der sich das staatliche Eigenleben 


Bayerns entwickelt hat, ist doch im wesentlichen die Folge Gynasti- 
schen und Napoleonischen Sonderwillens. Allerdings kann von Calker 


einige Außerungen Bismarcks anführen, in denen er den Föderalismus: 


seiner Reichsverfassung mit dem „deutschen Geiste“ begründet. Aber 
auch bei.der Würdigung der Motive Bismarcks scheint Calker Sekun- 
däres und Primäres nicht hinreichend zu scheiden. Man dürfte Bis- 
marcks dämonischer Größe doch wohl nur gerecht werden, wenn man 


in ihm nicht nur den Föderalisten, sondern auch den kühnen Zerstörer 


staatlichen Eigenlebens würdigt, der auch vor der Annexion Schleswig- 
Holsteins und Hannovers durch den preußischen Einheitsstaat nicht 
zurückschreckte. Jene Hinweise Bismarcks auf den „deutschen Geist“ 
wird man doch nicht im Sinne eines sein Handeln primär bestimmen- 
den Axioms deuten dürfen. 

Über die dokumentarisch bezeugten Gründe Bismarcks für sein 
weitgehendes Entgegenkommen gegenüber den süddeutschen Staaten 
während der entscheidenden Verhandlungen vom September bis No- 
vember 1870 gibt ein wertvoller Aufsatz von Wilhelm Stolze® 
Auischluß. In ihm ist zum ersten Male die wichtige Denkschrift Rudolf 
Delbrücks vom 13. September 1870 abgedruckt, die die Instruktion dar- 
stellt, die Bismarck dem preußischen Unterhändler für die Münchener 
Verhandlungen mitgab. In ihr heißt es, der Kreis der in der kommen- 
den Reichsverfassung vorgesehenen Kompetenzen des Reiches würde 
auf die Dauer sicherlich nicht befriedigen. „Wenn er deshalb nicht 
befriedigt, weil er zu eng ist, so wird Preußen ..niemals ein Interesse 
haben, den auf seine Erweiterung gerichteten Bestrebungen ent- 
gegenzutreten.“ Der Grund, weshalb Bismarck ihn so eng zog, lag in 
seinen außenpolitischen Sorgen, die ihm einen möglichst schnellen Ab- 


2 Wilhelm Stolze, Zur Geschichte der Reichsgründung im Jahre 
1870. Preußische Jahrbücher 1924. 1—12. Eingehend wird dieser Fragen- 
komplex behandelt von Doeberl, Bayern u. die Reichsgründung. München, 
Berlin (Oldenbourg) 1925. 319 S. 


114 


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schluß mit Bayern als dringend wünschenswert erscheinen ließen, 
und in dem reizbaren Souveränitätsgefühl König Ludwigs Il. Das, 
spricht Bismarck unzweideutig aus in einem Schreiben an Delbrück 
vom 25. November 1870, das gleichfalls von Stolze mitgeteilt. wird. 
Diese Erkenntnis vertrat im Berichtsiahre auch bereits Otto B a u n- 


"garten auf Grund seiner Untersuchungen über den Anteil Badens 


an der Reichsgründung.””) Er lehnte die Auffassung ab, „als ob die 
vorwaltende Tendenz Bismarcks die föderalistische gewesen wäre.‘ 

„Indem er dem preußischen, bayrischen und anderem Partikularismus 
Rechnung trug, folgte er mehr dem Zwang der Umstände, als eigenem 


- Antrieb.“ Am nachdrücklichsten hat der große Staatsmann nach seiner 


Entlassung auf den föderativen Charakter seines Werkes hingewiesen. 
Der Grund lag damals vor allem in Seiner Sorge vor den Gefahren des 
persönlichen Regiments. i 

Für die Geschichte der inneren Politik des deutschen Reiches 
bleibt die beste zusammenfassende Darstellung Hartung s”) 
„Deutsche Geschichte vom Frankfurter Frieden bis zum Vertrag von 
Versailles“, die im Berichtsjahre in zweiter Auflage erschien. Die Be- 
handlung der auswärtigen Politik, der für diese Zeit ein verhältnis- 


- mäßig enger Raum zugestanden ist, wird in der dritten Auflage wohl 


auf Grund der inzwischen zugänglich gewordenen reuen Quellen und 
der daran anknüpfenden Literatur für manche Frage zu erweitern und 
auch im Urteil anders zu nüanzieren sein. Das ist ja das Schicksal 
aller Arbeiten über diese Zeit, daß sie durch die Erschließung neuer 
Quellen immer in Gefahr schweben, schnell zu veralten. Aber mit 
Recht sagt Hartung im Vorwort: „Wir haben, heute nicht die Zeit, zu. 
warten, bis Vollkommenes möglich ist.“ Seine Ausführungen über die 
innere Politik während der Bismarck-Aera können z. Zt. keineswegs 
als überholt gelten, da hier die Hauptquellen schon irüher flossen. Auf 
Schritt und Tritt erkennt man hier den gründlichen Forscher der Ver- 
fassungs- und Wirtschaftsgeschichte.e Wenn man auch nicht das 
Gleiche von Hohlfelds”*) Geschichte des Deutschen Reiches be- 
haupten kann und man hier doch recht häufig den Mangel an Quellen- 
nähe empfindet, auch auf manche Ungenauigkeiten stößt, so füllt sie 
doch auch eine Lücke aus. Denn vielen der Nichtfachgenossen wird 
mit seiner mehr volkstümlich gerichteten Einstellung gedient sein. Eine 
Gesamtwürdigung beider Werke kann übrigens in diesem Referat nicht 
in Frage kommen, da ihr Hauptverdienst in den kühnen Versuchen 
liegt, den Weltkrieg mit seiner Vorgeschichte und den Zusammen- 
bruch zu ernsthafter Darstellung zu bringen. | 

Fine zusammenfassende. Erzählung der Geschichte des Deut- 
schen Reiches bis zum Tode Kaiser Friedrichs hat auch Conrad 


2?) Otto ee Der Anteil Badens an der Reichsgründune. 

T übingen (Mohr). 48 S 
23) Fritz Hartung, Deutsche Geschichte von Frankfurter Frieden 
bis zum Vertrage von Versailles. II. Aufl. Bonn u. Leipzig (Schröder) 383 S. 
© 24) Joh. Hohlfeld, Geschichte des Deutschen Reiches 1871—1924. 


Leipzig (Hirzel). 788 S. 


* 115 


MM 


Bornhak” unternommen. Ich kann ihm in manchen Fragen nicht 
- zustimmen, z. B. in seiner Auffassung der englischen Politik Bismarcks, 
"mit der er sich Rachfahl nähert. Für ganz verfehlt halte ich seine 
Auffassung, daß das Zustandekommen des von Bismarcks 1889 er- 
strebten Bündnisses mit England ihn bestimmt zur Preisgabe seiner 
russischen Vertragspolitik veranlaßt haben würde. 

Hans Rothfels”) Aufsatz „Bismarcks Staatsanschauung“ 
verdient die Würdigung im Zusammenhange mit seinem größeren 
Werke „Bismarck, Deutscher Staat“, in dem er aufgegangen ist, das 
aber erst in das folgende Berichtsjahr fällt. 

Wenn man die Zeit von der Gründung des Reiches bis zum ` 
November 1918 überblickt, um Ausschau zu halten nach dem entschei- 
denden Wendepunkte der Deutschen Geschicke, so ergibt sich, daß der 
tiefste Einschnitt innerhalb des Jahres 1890 liegt. Weniger entschei- 
dend ist, daß damals der Reichsgründer das Steuerruder verlassen 
mußte, denn der Augenblick mußte ja einmal kommen, in dem auch er 
der Vergänglichkeit alles Irdischen seinen Tribut zu zollen hatte. Das 
Entscheidende aber ist, wie der Staatsmann sein Werk verlassen 
mußte. Es ist ja ganz unzutreffend, daß er sich keine geeigneten Nach- 
folger herangebildet habe. Gerade damals fehlte es noch keineswegs 
an Männern, die wohl geeignet gewesen wären, die auswärtige Politik 
in seinem Sinne fortzuführen. Darin liegt die verhängnisvolle Bedeu- 
tung seines Sturzes, daß iniolge der höchst persönlichen und unsach- 
lichen Momente, die in den Konflikt zwischen Kaiser und Kanzler hin- 
einspielten, diesem die Möglichkeit genommen wurde, Selber die ent- 
scheidenden Stellen mit. den von ihm für geeignet gehaltenen Persön- 
lichkeiten zu besetzen, die die Kontinuität hätten gewährleisten können. 
Es ist zu begrüßen, daß über dieses schicksalsschwere Ereignis, das 
schon in Schüßler einen würdigen Darsteller gefunden hatte, von 
Otto Gradenwitz”) und Wilhelm Mommsen”) weitere 
unser Wissen wesentlich bereichernde Arbeiten vorgelegt wurden. 
Was Gradenwitzens Buch besonders wertvoll macht, ist die Veröffent- 
lichung der Berichte des Freiherrn von Marschall, die die badische 
Regierung dem Verfasser zur Verfügung stellte. Marschall unterhielt 
schon damals gute Beziehungen zu Holstein, und so geben denn seine 
Berichte Einblick in die Unterminierarbeit dieser merkwürdigen Per- 
sönlichkeit. In seiner Parteinahme für Bismark verführt der Eifer den 
Verfasser manchmal dazu, Thesen aufzustellen, die die Frage heraus- 
fordern, ob sie Bismarck nicht im Grunde Unrecht tun. So schreibt 
er: „Bismarcks große Art zu denken ist auch bei den Fragen zu er- 
kennen, die vor dem Sturze zu den Differenzen führen: das Stoff- 
liche scheidet ganz aus und der politische Kampfeswert .des 


25) Conrad Bornhak, Im neuen Reiche. Berlin (Hafen Verlag). 395 S. 

26) Archiv für Politik und Geschichte 1924, 2, 119 ff. 

”) Otto Gradenwitz, Bismarcks letzter Kampf 1888—1898. 
Berlin (Stilke) 272 S. 

28) Wilhelm Mommsen, Bismarcks Sturz u. die Parteien. Stuttgart. 
(Deutsche Verlagsanstalt). 206 S. 


116 


einzelnen Schachzuges entscheidet.“ Gr. wird sich offenbar nicht be- 


wußt, daß dies die Unsachlichkeit der Gegner bis zu einem gewissen 


Grade rechtfertigen würde. Mommsens Werk lehrt uns, welchen ent- 
scheidenden Anteil die Parteiführer an Bismarcks Sturz hatten, 
namentlich die Führer der konservativen Fraktionen im Reichs- und 
Landtag und der Führer der Nationalliberalen. „Es wurde Bismarck 
zum Verhängnis, daß es ihm, dem Meister der Bündnisse, unmöglich 
war, ein dauerhaftes Bündnis mit einer großen Partei zu schließen, die 


` in dieser kritischen Zeit der Kristallisationskern einer Reichstagsmehr- ` 


heit für ihn hätte werden können. Hätte er sie gehabt, so würde der 
Kaiser den Entschluß seiner Entlassung sicherlich nicht gefaßt haben. 
Dennoch wäre es eine Überspitzung, zu sagen, daß der Reichstag es 
war, der ihn stürzte.. Denn wie aus Mommsens Ausführugnen hervor- 
leuchtet, ist doch auch die Haltung der Parteiführer wesentlich durch 
den Kaiser beeinflußt worden, für dessen Wunschgedanken sie nur all- 
zu bereitwilliges Verständnis zeigten. Der gesamte Verlauf der Bis- 
marckkrise hat noch einmal eine Schilderung gefunden durch Paul 
Mahn.) Eine gute schriftstellerische Leistung, die mehr durch ihre 
innere Wärme und künstlerische Geschlossenheit als durch neue For- 
schungsresultate anspricht. Als volkstümliches Buch sticht es erfreu- 
lich ab von den auf Sensation berechneten, den Fleiß des Gelehrten 
geschäftstüchtig ausschlachtenden Machwerken, auf die weite nach 
volkstümlichen historischen Schriften verlangende Kreise heute so 
blind hereinzufallen pflegen. 

Ein alphabetisch aufgebautes Nachschlagewerk, das über Bis- 
marks Stellung zu den verschiedenen politischen Fragen Auskunft gibt, 
hat M. Klemm") verfaßt. 

Wolfgang Windelband?!) veröffentlicht zum hundertsten 


Geburtstage Johanna von Bismarcks eine Auswahl ihrer Briefe. Für - 


den Historiker liegt der Wert dieser anziehenden Lektüre vor allen 
darin, daß sie die im Hause Bismarcks herrschende Atmosphäre er- 
. kennbar werden läßt und ebenso auch zum psychologischen Verstehen 
des großen Mannes beiträgt. Wir sehen, wie sein Leben in all den 


Jahren seiner Kanzlerschaft, auch in der Zeit unmittelbar nach dem 


siegreichen Kriege, die uns heute im Lichte der Verklärung erscheint, 
ausgefüllt ist mit aufreibenden Sorgen, mit persönlichem Ärger über, 
„Suddelei nach allen Richtungen, schwärzeste Intrigen und Dummheit 
aller Art, schwierigste Eigensinnigkeiten in höchsten Regionen, Urteils- 
losigkeit“, und Widerwärtigkeiten aller Art, mit Kämpfen, die die 
Widerstandskraft seiner Nerven immer wieder bis an die Grenzen 
völligen Zusammenbruches führen und die wohl auch die eigentliche 
Ursache für seine vielen in der Zeit kaum endenden Krankheiten 


2) Paul Mahn, Kaiser und Kanzler, Berlin (Häger). 249 S 

3) M. Klemm, Was sagt Bismarck dazu? Ein Wegweiser durch Bis- 
marcks Geistes und Gedankenwelt. 2 Bd. Berlin. (Scherl). 499 u. 459 S. 

4) Wolfgang Windelband, Johänna von Bismarcks Briefe an 
ihren Sohn Wilhelm und ihre Schwägerin Malvine von Arnim Kroechlendorff, 
Berlin. (Stollberg.) 93 S. 


117 


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waren. Immer wieder ist er so gut wie See sein Werk einem 
‘andern zu überlassen, um sich für den Rest seines Lebens die heiß 
ersehnte Ruhe auf seinen Gütern zu gönnen, und doch hängt er mit 
allen Fasern sgines Daseins an seinem Werk, das ihm höchstes Glück 
und Tragik zugleich ist. Dieses Schicksal des Genius verwandelt 
auch das Leben seiner, Gefährtin, die jede seiner Sorgen doppelt schwer 
mitträgt, trotz aller Triumpfe in einen Leidensweg. Für den Hi- 
storiker, der die Bedeutung des Intimpersönlichen würdigt und die 
sinnliche Wahrheit der Dinge zu pflegen sucht, ist diese Publikation 
eine willkommene Quelle. 


| C. Kapitel VI. 
Von der Entlassung Bismàrck’s bis zum 


Ausgang des Weltkrieges (1890—1918.) 


(Rothfels.) 


Dem Bedürfnis nach einer Gesamtdarstellung der 
neuesten deutschen Geschichte ist im Berichtsjahr von verschiedenen 
‘Seiten und in verschiedener Form entsprochen worden. Zunächst 
hat die früher hier charakterisierte deutsche Geschichte von Fritz 
Hartung,!) eine Neuauflage erfahren. Die Darstellung des geistigen 
Lebens, die in der ersten Fassung einigermaßen fragmentarisch ge- 
blieben war, ist weggefallen und dafür ein dritter Teil zugefügt worden, 
der auf knappen 60 Seiten die Geschichte des Krieges und der Revo- 
lution schildert. Man wird diesen Umbau nur begrüßen können. Das 
Ganze hat dadurch mehr Einheitlichkeit: erhalten,. die sorgfältige Be- 
nutzung der Quellen, das besonnene, abgewogene politische Urteil, 
das den älteren Partien eignet, sind nunmehr auch der so vielfach um- 
strittenen Geschichte der jüngsten Ereignisse zu Gute gekommen. 
Sie werden frei von Parteidogmen aber durchaus von einem klaren, 
durchgehenden Standpunkt her behandelt. . In jedem Fall darf der 
Leser einer zuverlässigen Einführung in die Probleme der Zeit ge- 
wärtig sein. Mit gewissen Einschränkungen kann man das auch von 
der Darstellung von Johannes Hohlfeld?) sagen. Sie ist ge- 
tragen von einem starken Bewußtsein der Verantwortlichkeit politi- 
scher Historie und insbesondere der Aufgabe, dem erschütterten Ge- 
schichtsbewußtsein das Gefühl der Kontinuität, des Verbundenseins 
von Vergangenheit und Gegenwart zu sichern. Vorzüge und Nach- 
teile des Werkes hängen mit diesem wichtigen und sehr berechtigten 
Ausgangspunkt eng zusammen. 


1) Hartung, F., Deutsche Geschichte vom Frankfurter Frieden bis z. 
Vertrag von Versailles. K. Schroeder. Bonn u. Leipzig. 283 S 

2) Hohlfeld, Joh., Geschichte des Deutschen Reiches 1871—1924. 
S. Hirzel, Leipzig, XII, 788 S. 


118 


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Ein Vorzug, auf den im Rahmen dieses Berichtes nur kurz hin- 
zuweisen ist, liegt darin, daß fast die Hälfte des Buches der Zeit nach 
1914 gewidmet ist und die Darstellung unmittelbar in die Tages- 
geschichte (Anfang 1924) einmünden läßt. Der Versuch, aus dem 
wirren Zeitgeschehen klare Linien herauszuarbeiten, verdient alle An- 
erkennung und ist, was das bloß Faktische uhd die äußere Kausalität 
betrifft, durchaus wertvoll. Deutung und Urteil hingegen stehen mehr 
als nötig unter der Hypothek allzugroßer Nähe, der zufällige Endpunkt 
der Darstellung vollends verführt zu unausgereiften Perspektiven. Die 
lebhaft-persönliche Art des Verfassers, die in diesem Versuch. sich aus- 
spricht, ist auch der Reichsgeschichte bis 1914 vielfach zu Gute ge- 
kommen. Sie verzichtet auf ein volles plastisches Bild, gibt aber durch 
ein Mosaik impressionistischer Einzelzüge dem Leser gewissermaßen 
den atmosphärischen Eindruck der verschiedenen Entwicklungs-. 
phasen. Es sei etwa auf das für die Schilderung der sozialen Um- 
schichtung gewählte Beispiel (S. 128) verwiesen. Freilich vereinfacht 
dieses punktierende Verfahren sich selbst die große Aufgabe, am die 
es gesetzt wird. Die Quellen sind zur. Illustration benutzt, aber ent- 
fernt nicht ausgeschöpft. Dazu kommt, daß die Verbindungslinien von 
der Vergangenheit zur Gegenwart der. Zweckvorstellung des Ver- 
jassers gemäß allzu plan gezogen werden. Beispiele dafür sind etwa 
die Betrachtungen über die Krise von 1875, über das deutsch-öster- 
reichische Verhältnis, über den antidynastischen Zug der Bismarck- 
schen Politik. Eine organische Entwicklung läßt sich nicht postulieren, 
‘grade in den Brüchen und Antinomien liegt ein wesentliches Stück der 
Einheit deutscher Geschichte. Freie schicksalhafte Tragik, der Mangel 
des organischen Übergangs zwischen der Bismarckischen und der 
Wilhelminischen Zeit,. das sind Grundansichten der Studie über die 
neuere Reichspolitik seit 1878, die Paul Harms vorlegt.’) Materiell 
bringt das Buch nicht eigentlich Neues, auch die Auffassung, die das 
Verhältnis der Gesellschaft zum Staat und die räumliche Beschränkung 
des Volkskörpers in den Mittelpunkt rückt, macht keinen Anspruch 
auf Originalität, manche oft gehörte Urteile, wie das über die Unver- 
meidlichkeit des russischen Krieges sind abwegig. Was dem Buche 
dennoch großen Wert gibt, ist sein politischer Ernst, sein leidenschaft- 
liches und zugleich diszipliniertes Miterleben der Probleme deutscher 
Geschichte, das in ungewöhnlich treffenden Formulierungen sich spie- 
gelt und hinter den äußeren Symptomen den Charakter der Einzelnen 
— etwa der Dreieinigkeit Wilhelm II., Bülow, Moltke — und der sie 
tragenden oder duldenden Schicht mit bitterem, aufrüttelndem Recht 
kritisiert. — Im Zusammenhang damit sei auf die nicht im Einzelurteil 
aber in der Haltung verwandte Aufsatzsammlung von P. N. CoB- 
mann und K. A. v. Müller verwiesen.) Sie besteht aus ausge- 
wählten Kriegsaufsätzen der Süddeutschen Monatshefte. Als pole- 


3) Harms, P., Vier Jahrzehnte Reichspolitik 1878—1918. Leipzig, 
Huelle u. Meyer, XVI, 209 S. | 
a) Die deutschen Träumer. München, (Süddeutsche Monatshefte), 173 S. 


119 


mische Publizistik stellen diese Artikel eine wertvolle Quelle zur 
inneren Geschichte der Jahre 1914—18 dar, in ihrer Ausrichtung sind: 
sie ein wesentlicher Beitrag zur deutschen Gesamtgeschichte. Es sei 
hier auf die Betrachtungen hingewiesen über den Zusammenhang von 
Charakter und Schicksal oder auf den knapp formulierten Vergleich 
bismarckischer und nachbismarckischer „Realpolitik“ (Benutzung vor-- 
nandener Mittel oder vorhandener Ziele.) 


Den Darstellungen und Betrachtungen zur Gesamtgeschichte 
des Zeitraums sind einige Werke anzureihen, die Beiträge mehr oder 
weniger quellenmäßiger Art zur inneren und äußeren Ge- 
schichte der Wilhelminischen Aera enthalten. In erster 
Linie die höchst bedeutsame Publikation, mit der Johannes Haller 
die versprochene Ausbeute aus dem Nachlaß des Fürsten 
Philipp zu Eulenburg-Hertefeld von dem engeren Aus- - 
gangspunkt des Kanzlersturzes aus ins Breite fortgeführt hat’) Was. 
Haller selbst dabei gibt und geben will, ist eine ausgesprochene Ret- 
tung des viel gelästerten Mannes, der seiner Ansicht nach nicht nur 
zu Unrecht in den übel berufenen Prozeß verstrickt, sondern grade 
um seiner hohen menschlich-politischen Qualitäten willen gestürzt - 
worden sei. Eulenburg, weit entfernt der glatte Höfling und intrigante 
Schmeichler der Legende zu sein, war der einzige klarblickende 
Freund und treue Mahner seines Kaisers; so interpretiert Haller mit 
ritterlichem Elan und mit der ganzen Verve seines temperamentvollen 
Stils die Briefe und Aufzeichnungen Eulenburgs. Es ist, wie Hans 
Herzfeld treffend gesagt hat,*) „Kein kleiner Erfolg, wenn ein so 
kluger Kopf wie Haller das letzte Opfer des Charmeurs Eulenburg 
geworden ist und ihn ganz in dem Lichte sieht, in dem der Fürst sich 
selbst gesehen haben wollte" Ohne Frage ist dieses Bild in ent- 
scheidenden Zügen verzerrt, nicht weniger verzerrt als die oberfläch- 
liche oder von einer charakterlosen Publizistik genährte Legende, an 
der Haller Kritik übt. Man kann von dem juristisch noch recht unge- 
klärten Kern- und Prunkstück dieser Legende, dem Prozeß, ruhig ab- 
sehen und sich an das halten, was der historischen Beurteilungsiorm 
zugänglicher ist. Es handelt sich vor allem um das Jahrzehnt von: 
1890—1900, in dem Eulenburg starken Einfluß ausgeübt hat und in dem 
der entscheidende Charakter der Wilhelminischen Aera sich ausge- 
prägt hat. GewißB fehlte Eulenburg der eigentliche persönliche und 
politische Ehrgeiz, ein charakterloser Streber war er nicht, so weit 
trifft die Apologie zu. Man möchte fast sagen: um so schlimmer. 
Denn der Mangel politischer Aktivität und elementarer Leidenschaft 
hat den Einfluß Eulenburgs verantwortungsloser und Jdauernder ge- 
macht als etwa den Waldersees. Die sentimentale Pose der Un- 
eigennützigkeit, der aufopfernden Freundschaft war das gefährlichste 
Gift, das dem jungen Kaiser gereicht werden konnte. Kein Luftzug 


5) Aus dem Leben des Fürsten SH zu Eulenburg-Hertefeld. Berlin 
(Paetel), XV u. 427 S. 


6) Dte. Lit.-Zeit. 1925 H. 23. 
120 


scharfen Willens zerreißt die schwüle Atmosphäre halber Gefühle und 


halber Leistungen. Sind die Mahnungen an den kaiserlichen Freund 


nicht letztlich eine raffiniertere Form der Schmeichelei? Und wie 
kann man ernstlich den Einfluß Eulenburgscher Intriguen beim Sturze 
Bismarcks wie Caprivis leugnen? Widerwillig genug geben die Briefe 
und Aufzeichnungen Eulenburgs tiefen Einblick in das Chaos der 90er 
Jahre, erst am Ende des Jahrzehnts erkannte der Grai mit Grauen, 
wohin der wesentlich von ihm mit bereitete Weg führte. Grade an 
dem Wendepunkt, in der ersten Krise der Selbstregierung, 1895, hat er 
für das „Sichausleben‘“ des Kaisers optiert. Man erfährt darüber neue 
und sehr bedeutsame Dinge. Holstein hat damals den Versuch ge- 
macht, die ministerielle Stellung der Bismarckschen Zeit wiederherzu- 
stellen. Vom Gegensatz gegen Holstein ist Hallers Buch getragen, 
nur aus ihm ist es psychologisch ganz verständlich. Und gewiß be- 
steht- aller Anlaß, die graue Eminenz mit scharfer historischer Kritik 
anzufassen, aber daß in diesem Fall Holstein tiefer sah und von dem 
überlegenen Verantwortungsgefühl des handelnden Menschen getragen 
war, ist doch nicht zu verkennen. Eulenburg hingegen hat dem Manne 
den Weg geebnet, unter dem die Scheinautokratie i1 der Tat sich erst 
recht ausleben sollte. Sein Briefwechsel mit Bülow ist dafür höchst 
interessant, beide Männer sind verwandter gewesen, als man bisher 
vermuten konnte Wie Eulenburgs Pseudoromantik den kulturellen 
Stil der Epoche repräsentiert, so Bülows „Weltpolitik ohne Risiko“ den 
politischen. Von dem Eulenburg-Biographen möchte mat so ap den 


Verfasser der „Aera Bülow“ appellieren — nicht so wegen der um- 


‘strittenen Persönlichkeit des Grafen, sondern wegen ihrer stellver- 
. tretenden Bedeutung für den Geist einer schicksalsschweren Zeit- 
spanne deutscher Geschichte. 


‚Eine Ergänzung zu Eulenburg bieten für das ed Jahrzehnt 
die Aufzeichnungen des ehemaligen. Hoimarschalls Grafen Robert 
Zedlitz-Trützschler.’) Ihre Detailschilderung von Personen 
und Zuständen, in erster Linie des Kaisers selbst entbehrt zwar der 
Ausrichtung auf größere historische Probleme und zeigt die Züge der 
Nahperspektive und der verdrängten Gefühle, die dem Hofmar- 
schallberuf nahe liegen, sie ist aber bei richtiger Einschätzung dieser 
Eigenheiten eine sehr instruktive Quelle. — Am schwächsten ist der 
unmittelbar quellenmäßige Gehalt in dem zu dieser Gruppe gehörenden 
Buch von Theodor Wolff, das „Vorspiel“’) Was der bekannte 
Hauptschriftleiter des Berliner Tageblatts hier gibt, sind locker ge- 
fügte Essais, über den Kaiser, die deutsch-englischen Bündnisverhand- 
lungen, über Marokko, Biörkö, Haag, Reval u. a. Vieles davon ist nur 


7) Zwölf Jahre am detitschen Kaiserhof. Aufzeichnungen des Grafen ` 


a Zedlitz-Trützschler. Berlin u. Leipzig (Deutsche Verlagsanstalt). 


N Wolff, Theod., Das Vorspiel. Bd. 1. München, Verlag für Kultur- 
politik. 


121 


D | i 
ein geistreicher und kenntnisreicher aufgelegter Eckardstein.) Über 
die Fehlgriffe, die aus dieser Quelle resultieren, wächst das Buch 
überall da entschieden hinaus, wo der Verfasser aus dem eigenen 


Lebensbereich erzählt, sei es aus den Erfahrungen der Pariser Kor- 


respondentenzeit, sei es aus der eigentümlichen Mittelstellung, die Th. 
Wolff — man könnte mit Permutierung eines Bismarck-Wortes sagen 
al$ „Botschafter der 6. Großmacht“ — bis zu einem gewissen Grade in 
Berlin inne hatte. So sind die französischen Stimmungsbilder nach 
Faschoda und die Mitteilungen aus der Zeit der ersten Marokkokrise 
sehr bemerkenswert. Auf der anderen Seite läßt das persönlich nahe 
Verhältnis zu Bülow und das Verständnis für das Imponderabile der 
öffentlichen Meinung den Autor über die englische Linie der deutschen 
Politik durchaus besonnen, wenn auch nicht abschließend urteilen. Zu 
dem“ Kernpunkt der Bündnisverhandlungen hat Bülow selbst einen 


Brief von 1923 beigesteuert, den Wolff maßvoll kritisiert, wie er denn 


im ganzen Bülow mehr, als es sonst üblich ist, die Stange hält. 

Das führt zur Literatur über die Geschichte der aus- 
wärtigen Politik Deutschlands nach 1890 hinüber. Sie wird be- 
herrscht von der großen Aktenpublikation des Auswärtigen Amtes, 
deren Charakter und Anlage im letzten Jahresbericht geschildert wor- 
den ist. Mit den prinzipiellen Fragen dieses Werkes hat sich der 
Hauptherausgeber Fr. Thimme inzwischen auseinandergesetzt.'°) 
Die erste Serie des „Neuen Kurses“ hat zu einer Reihe erwähnens- 
werter Studien Anlaß gegeben.'!) Auch ist zu ihr ein Wegweiser 
von Schwertfeger”?) erschienen, der u. a. das sehr vermißte lau- 
fende chronologische Verzeichnis der Akten beisteuert. Die im Be- 
richtsjahr neu erschienene Serie der Akten?) selbst umfaßt die Bände 
XIM--XVIl, darunter 2 Doppelbände. Die letzte Serie: enthielt im 
wesentlichen die Kanzlerschaft Caprivis und Hohenlohes, jetzt reiht 
sich die Bülows bis etwa zur Peripetie von 1904 daran. Es sind also 
Jahre von allergrößtem Interesse, deren aktenmäßiger Niederschlag 
der Wissenschaft vorgelegt wird. Sie umfassen den Beginn der 
deutschen Weltpolitik, die ostasiatischen Verwicklungen von 1898, den 
englischen Allianzfühler vom gleichen Jahr, das portugiesische Kolo- 


=- °) Die Kritik an Eckardsteins Memoiren ist im Berichtsjahr von 
Trützschler v. Falkenstein bis auf das Gebiet formell diplomatischer Fälschung 
weiter geführt worden. Archiv f. Politik u. Geschichte 2, 502—11. 

10 himme, F., Die Aktenpublikation des Ausw. Amtes. Beitr. zu 
ihrer Entstehungsgeschichte. Berlin. Dte. Verlagsges. f. Politik u. Gesch:' 60 S. 

11) Rachfahl, F., Die deutsche Außenpolitik in der Wilhelmin. Aera. 
Berlin. Deutsche Verlagsges. f. Politik u. Gesch. 99 S. — Meisner, H. O., 
Der „Neue Kurs“, Preuß. Jahrbb. 196, 41—70. — Rothfels, H., Das Problem 
der Schuldfrage u. d. „Neue Kurs“. Die Kriegsschuldfrage. II. Nr. 6, 196—200. 

Schwertieger, B. Die Diplomat. Akten d. Ausw, Amtes 1871 bis 

1914. Wegweiser 2. T. Der „Neue Kurs“ 1890—99, Berlin. Dte. Verlags- 
ges. f. Politik u. Gesch. XV, 386 S. 

13) Die Große Politik d. Europ. Kabinette. Sammlung d. diplom. Akten des 
Ausw. Amtes. Hggb. v. J. Lepsius, A. Mendelssohn-Bartholdy, Fr. Thimme. 
Bd. XIII, XIV, 1 u. 2. XV, XVI, XVII, XVIII, 1 u. 2. Berlin. Dte. Verlags- 
ges. f. Politik u. Gesch. 


122 | 


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nialabkommen und den Samoavertrag, die Bagdadverhandlungen und 
Faschoda, den ganzen Problemkreis der ersten Haager Konferenz und 
den spanisch-amerikanischen Krieg, die Chinawirren (1900—1902), den 
Burenkrieg und endlich die englische Werbung. Daneben laufen bis- 
her sehr unbekannte Finzelfäden der deutsch-französischen und der - 
deutsch-russischen Politik einher. Es muß hier genügen, summarisch 
auf diesen Inhalt hinzuweisen, der für die viel umstrittene Wendung 
der europäischen Gesamtkonstellation und ihre Beurteilung — natür-. 
lich nicht die einzige — aber eine sehr wesentliche Grundlage schafft. 
In welchem Maße privates Material die Sprache der amtlichen Akten 
zu ergänzen vermag, das hat der Herausgeber der Aktenpublikation 
Thimme selbst inzwischen mit einem Aufsatz über die Krüger- 
depesche dargetan il Nach dem neuen Material erscheint gesichert, 
daß die Idee der Glückwunschdepesche Marschalls Eigentum war, aber 
nur entstand, weil der Kaiser eine noch schärfere und bedenklichere 
Widerspruchform anregte. Damit schlichten sich einige der bisher be- 
stehenden Unklarheiten, auch wird der positive Sinn der Aktion, ein 
gewaltsames Heranpressen Englands deutlicher.. Daß jedoch nicht alle 
Rätsel des Schrittes gelöst sind, legt ein bald darnach erschienener 


- Aufsatz von A O. Meyer nahe.") 


Sind im Fall der Krügerdepesche private Aufzeichnungen einem 
Einzelfaktum zu Gute gekommen, so beansprucht die Publikation aus 
Briefen, Tagebüchern und Denkschriften Kiderlen- Wächters") 
für den Zeitraum des neuen Jahrhunderts eine ausdrückliche Umwer- 
tung üblicher Urteile unter scharfer Polemik gegen die amtlichen 
Akten begründen zu können. Freilich, wer näher zusieht, erkennt 
bald, daß der Herausgeber Ernst Jäckh das eigentümliche Mate- 


. rial, über das er verfügt, in sehr tendenziöser Weise stilisiert und ver- 


wertet. Es handelt sich um Briefe, die Kiderlen seiner langjährigen 
Hausdame geschrieben’ oder um Material, das er ihr vermacht hat. 
Diese sehr ad personam gestimmten Quellen, deren Kontrolle an Hand 
der reichlich vorhandenen anderen Veröffentlichungen (Cleinow und 
Caillaux) der Herausgeber mit souveräner Geste verschmäht hat, 
dienen als Grundlage einer höchst willkürlichen Klitterung. Gewiß ist 
das Material — richtig eingeordnet — von großem Wert, es zeigt aufs 
neue die aus- dem Durchschnittniveau hervorragende Vitalität Kider- 
lens und läßt insbesondere die Bethmannsche Englandpolitik von 1909, 
der der Bukarester Gesandte souffliert hat, in überraschendem Licht 
erscheinen. Aber die einseitige und peinlich auf die eigene Person zu- 
geschnittene Glorifizierung, die der Herausgeber daran knüpft, ist 
schlechterdings vom Übel. Mit den gr len Problemen der Kider- 


4) Thimme, Fr, Die E EE Europäische Gespräche. Je. 
1924. H. 3. S. 201f. 
15) Meyer, A. O., Fürst Hohenlohe u. die Krügerdepesche. Archiv f, 
Politik u. Gesch. 2, 591—596. . 
1 Kiderlen- Wächter, der Staatsmann u. Mensch. Briefwechsel 
und Nachlaß, Hggb. v. Ernst Jäckh. 2 2 Bde. Stuttgart. (Dte. Verlagsanstalt.) 
u. 25 | 


N 


123 


lenschen Politik von 1909 und 1911 fehlt jede Auseinandersetzung, vol- 
lends der demokratisch-pazifistische Umdeutungsversuch, den der 
sehr in seiner Zeit und dem diplomatischen Handwerk lebende 
Schwabe posthum erdulden muß, streift an das Groteske. Es sei zu 
alledem auf die kritische Würdigung der Publikation durch Paul 
Herre!) verwiesen. | 

Auch gegen die zweite große Publikation aus privater. Hand, 
die zur Geschichte der Außenpolitik Wesentliches beitragen will, gegen 
die Dokumente des Großadmirals v. Tirpitz") hat sich als- 
bald scharfe Kritik erhoben.) Sie ist zum überwiegenden Teil 
formeller Natur, d. h. sie greift nicht die Authentizität sondern 
die Rechtmäßigkeit der mit auf amtlichem Material ruhenden Ver- 
öffentlichung an. Der Historiker kann von dieser Kontroverse absehen, 
deren juristische Grundlagen durch die Praxis der letzten 
Jahre zudem stark ins Schwanken gekommen sind; ihm ist jede 
echte und primäre Quelle willkommen. In der Tat handelt es sich 
um ein Material von erstem Rang. Es umfaßt nicht núr Stücke, die 
der Fortgang der amtlichen Aktenpublikation vermutlich auch bringen 
wird (und inzwischen gebracht hat), sondern dazu eine Fülle 
von Dokumenten, die wir ohne diese „Indiskretion“ entbehren würden: 
Originale aus dem Verkehr des Ausw. Amtes mit Randbemerkungen 
des Kaisers, die Berichterstattung des Londoner Marineattaches, Auf- 
zeichnungen über Besprechungen zwischen Kanzler und Staatssekretär, 
über Konferenzen im Reichsmarineamt. Einzelstücke aus dem Brief- 
wechsel von Tirpitz, Notizen des Kabinettschefs u. a. Gruppiert ist 
dieses Material um die drei Flottenkrisen von 1909/06, 1908/09 und 
1911/12, denen ein für Tirpitz Auffassung besonders wichtiger Ab- 


schnitt über die deutsch-englische Entspannung von 1911—14 folgt. ` 


Besonders wichtig, denn was Tirpitz durch die Wahl der Dokumente 
und den verbindenden Text nachweisen will, ist nichts anderes als die 
These, wonach die Flotte durch die Untiefen namentlich auch der 
innerdeutschen Politik schließlich doch mit ruhiger Hand durchge- 
steuert worden sei und daß sie weit entfernt den äußeren Konflikt zu 
verursachen vielmehr England zur Anerkennung der deutschen Gleich- 
berechtigung gezwungen habe. Auch wer der Ansicht ist, daß die 
umgekehrte Meinung, die Tirpitz’ Flotte zum Sündenbock stempeln 
möchte, irre geht — die entscheidende Wendung ist. vor und unabhän- 
gig von.der Flotte erfolgt — wird doch der These des Großadmirals in 
dieser Form nicht zustimmen können. Sie zeigt alle Vorzüge einer 
geschlossenen politischen Auffassung und eines geschichtlich geschulten 
Machtinstinkts, wie sie bereits das ersteErinnerungsbuch auszeichneten 
aber auch alle Schwächen einer letzten Endes im Ressort stecken ge- 
bliebenen Politik. Von der Verfestigung der französisch-englischen 
Beziehungen bis zur Flottenkonvention von 1912 hin abstrahiert 


17) Deutsche Allgemeine Zeitung. 15. II. 25. 

18) Tirpitz, A. v., Der Aufbau d. dten. Weltmacht. Stuttgart, Cotta 
XI, 460 S. 

1) Thimme, Fr., Berl. Tagebl. 23. Nov. 24 ff. 


124 


Butt To 5 


met 


Tirpitz völlig. Er kann mit Recht auf seinen Widerspruch gegen 
Kiderlens Marokko- und Bethmanns Rußland- und Balkanpolitik hin- 
weisen, immer bleibt doch die Tatsache, daß die Flotte nicht In- 
strument einer anders orientierten Bündnispolitik geworden ist. Ge- 
wisse Ansätze dazu finden sich in Tirpitz‘ Gedanken, aber am Er- 
greifen der Macht hat ihn das „Portep&e“ gehindert. So wurden in 
dem großen Konflikt von Ende 1911 zwei entgegengesetzte politische 
Orientierungen zum widerspruchsvollen Kompromiss zusammenge- 
bogen, der trotz der darauf folgenden Scheinentspannung erst recht 
in die Gefahrenzone hineinführte. 


Unter den Darstellungen zur Geschichte der Au- 
Benpolitik ist in erster Linie das grundlegende Buch von Erich 
Brandenburg?) zunennen. Eshat dieAkten des Auswärtigen Amtes 
in ihrer ganzen Breite— auch über denbisher veröffentlichten Teil (Zeit- 
punkt 1904) hinaus — benutzen können und durch sorgsame, solide Ver- 
wendung dieses Materials unsere Kenntnis ungemein bereichert. In 
einer jeder Sensation abholden Sprache, fast nüchtern geschäftsmäßig 
wird über das diplomatische Spiel berichtet, dessen intimere Züge 
auch dem historisch-politisch Interessierten vielfach unbekannt ge- 
blieben sind. Es ist vom symptomatischen Interesse darnach auzu- 
messen, welche Partien die Enthüllungen etwa Hammanns belichten 
wollten und welche nicht. Ob nun freilich Brandenburg allen akten- 
mäßig greifbaren Problemen gleichermaßen gerecht wird, muß einst- ` 
weilen dahingestellt bleiben. Es fällt beispielsweise auf, daß die ganz 
unbekannten Neuanknüpfungsversuche Rußlands (bis 1914 hin) sehr 
flüchtig behandelt werden. Offenbar hängt das mit Brandenburgs 
Grundauffassung zusammen, der im Kontinentalgedanken via Peters- 
burg nur monarchische Romantik sieht. Mehr noch fällt ins Gewicht, 
daß die Akten selbst naturgemäß das Licht ungleich und zufällig ver- 
teilen, ja viele Zusammenhänge, die für das Ursachengeflecht des Welt- 
krieges wichtig sind, unbelichtet lassen. So ist die diplomatische Ge- 
schichte doch nur ein Teilbeitrag zu dem großen Thema. Ein Teil- 
beitrag auch insofern, als es sich eben nur um deutsche Akten handelt. 
Daß aus ihnen an keiner Stelle ein Wille zum Kriege herauszulesen 
ist, stellt Brandenburg auf das Unzweideutigste und Gewißenhafteste 
jest. Um so stärker belastet er die widerspruchsvolle Unklarheit der 
deutschen Politik. Da eine gleich intime Einsicht in das diplomatische 
Spiel der anderen Mächte fehlt, so ergiebt das eine starke Einseitig- 
keit. Mit übertriebener Objektivität wird von den anderen Mächten, 
insbesondere von England, soweit nicht Akten dagegen sprechen, 
grundsätzlich die günstigste Deutung akzeptiert, auch wenn literarische 
Quellen, indirekte Zeugnisse und allgemeine Erwägungen ex analogia 


auf andere Wege weisen. Daß unter Abstraktion vom Aktenstoff durch 


eine der Brandenburgschen entgegengesetzte Methode die Fragestel- 


2) Brandenburg, E., Von Bismarck z. Weltkriege. Die deutsche 
Politik in d. Jahrzehnten vor dem Kriege. Berlin. Deutsche Verlagsges. f. 


Politik u. Gesch. X, 454 S 


125 


-~ 


lung ungemein vertieft werden kann zeigt die glänzende Studie von 
Hermann Bächthold*) über den weltpolitischen Wendepunkt 
der Vorkriegszeit. Aus der geographischen Struktur des Weltstaaten- 
systems werden hier die dynamischen Kräfte entwickelt, die in den 
drei verschiedenen Möglichkeiten der Jahrhundertwende —Kontinental- 
bund, deutsch-englisches Bündnis, Entente — sich niederschlagen. 
Ferner sei zur Korrektur Brandenburgs auf die sehr erwägenswerten 
Gesichtspunkte zur englischen Bündnisfrage hingewiesen, die G. 
Ritter”) seiner Studie über Bismarcks Englandspolitik angefügt hat. 


Die Geschichte der Außenpolitik mündet in das Spezialthema 
der Kriegsschuldfrage. Weiche Ausmaße die hierauf bezüg- 
liche Literatur angenommen hat belegt die vom Börsenverein der 
Deutschen Buchhändler herausgegebene internationale Bibliographie”), 
die einschließlich der Zeitschriftenaufsätze 175 Seiten umfaßt. Lau- 
fende Literaturangaben und Besprechungen aller durch neues Material 
aktuell gewordener Fragen bietet die. im vorigen Bericht schon er- 
= wähnte Zeitschrift: „Die Kriegsschuldfrage“, herausgegeben 
von A. v. Wegerer. Dem gleichen Autor wird die deutsche 
Veröffentlichung einer wichtigen rutschen Quelle verdankt, der 
Tages-Aufzeichnungen desehemaligen Russischen 
Außenministerium's“*). Ihr Verfasser ist Baron Schilling, der 
Kabinettschef Sasanows,' ein Balte von entschieden deutschfeindlicher 
Tendenz. Ein Mann also, der dem ‘Geschehen aus nächster Nähe 
folgte — nach seinen eigenen Angaben hat er die Ereignisse am Schluß 
jeden Tages journalisiert — und der gewiß keiner die Ententepolitik be- 
lastenden Absicht verdächtig ist. Um so wichtiger sind seine Ein- 
tragungen über die Vorgeschichte und entscheidende Bedeutung der 
russischen Mobilmachung. Weitere Beiträge zum gleichen "Thema 
bietet das Buch von Günther Frantz über Rußlands Ein- 
tritt in den Weltkrieg”), es hat außer den Protokollen der 
russisch-französischen Generalstabsbesprechungen eine Fülle russi- 
scher Beuteakten aus dem Reichsarchiv benutzen können. Einen sehr 
umfassenden Einblick endlich in die russische und zugleich die fran- 
zösische Politik gewährt die Veröffentlichung des Diplomatischen 
Schriftwechsel von I sw olski). Das hier dargebotene Material deckt 
sich zum Teil mit dem was schon das Livre noir und Siebert gebracht 


1) Bächthold, H., Der entscheidende weltpolit. Wendepunkt d. Vor- 
kriegszeit. Weltw. Archiv. 20, 381-407. 

”) Ritter, G., Bismarcks Verhältnis zu England u. die Politik des 
„Neuen Kurses“. Berlin. Dte. Verlagsges. f. Politik u. Gesch. 71 S. 

Die Kriegsschuldfrage. Ein Verzeichnis der Literatur d. In- u. Aus- 

landes. Leipzig. 175 S. 

2”) Der Beginn des Krieges 1914. Mit einem Vorwort von A. v. Wegerer 
Berlin. Dte. Verlagsges. f. Politik u. Gesch. VII, 66 S. 
»5) Frantz, G., Rußlands Eintritt in den Weltkrieg. Berlin. Dte. Ver- 
 Jagsges. f. Politik u. Gesch. XI, 506 S. 

2) Der Diplom. Schriftwechsel Iswolskis 1911—14. Aus den Geheim- 
akten d. Russ. Staatsarchive. Herausgb. von Fr. Stieve. 4 Bde. Berlin. 
Dte. Verlagsges. f. Politik u. Gesch. 


126 


hatten. Es kann daher für alles Grundsätzliche und die allgemeine 
Schilderung der Rolle Poincar&s und Iswolskis auf das im vorigen 
Berichtsjahr .Gesagte verwiesen werden. Doch ist hervorzuheben, 
daß die neue Veröffentlichung. auch über 500 bisher unbekannte : Do- 
kumente namentlich zur Geschichte des Balkankrieges beibringt und 
das ganze umfängliche Schrifttum zum ersten Male nach reinwissen- 
schaftlichen Gesichtspunkten ordnet. . In seinem besonderen Band 
hat der Herausgeber Fr. Stieve die as umsichtig‘ Zu- 
sammengefaßt”). . 

Für den unmittelbaren Kriegsausbruch sind die Erinnerungen 
des österreichisch-ungarischen Diplomaten v. Musulin belangreich”). 
Doch stehen seine Angaben über die Genesis und den Zweck der 
Note an Serbien in unlösbarem Widerspruch zu den aktenmäßigen 
Daten. In einer glänzenden Studie über Serajewo schildert 


P Kern die Geburtsstunde des Weltkrieges?®). Seine Auffassung ist. 


inzwischen gegenüber den proserbischen Verteidigungsschriften 
Wendels durch neues Material bekräftigt worden. 

Verhältnismäßig am wenigsten durchsichtig erscheint bisher 
die englische. Vorkriegspolitiik. Man ist für ihre Beziehungen zu 
Deutschland im wesentlichen auf die Presse und auf Memoirenwerke 
angewiesen. Grade aus letzteren aber läßt sich in der Regel wenig 


Sicheres ‘entnehmen. Ausnahmen machen impulsiv-burschikose Na- 


turen wie Lord Fisher. Zu diesem Typus gehört auch Churchill) 
dessen Erinnerungen im Berichtsjahr in deutscher Übersetzung er- 
schienen sind. Bisher liegt der erste Band vor, der ein höchst ein- 
drucksvolles Bild entwirft von der militärischen ‘Vorbereitung der 


‘ Flotte und von der Entschiedenheit, womit der Flottenchef der Ad- 


miralität im kritischen Moment (Abend des 1. August) die Führung 
übernimmt. Von besonderem Interesse sind die Aufschlüsse über die 
englisch-französische Marinekonvention von 1912. Churchill selbst 
gab hiernach Grey und Asquith zu bedenken, daß sich England damit 
die Hände binde, spätestens jetzt zerbrach die Fiktion der „freien 
Hand“. Ganz auf diese offiziöse These sind die Erinnerungen des 
Premierminister Asquith eingestellt’). Sie üben die Kunst des 


‚Schweigens in virtuoser Weise, stützen ihre Anklage auf längstwider- 


legte, in der internationalen Diskussion ausgeschiedene Materialien und 
Arbeiten mit dem Formalismus der inhaltsleeren advokatorischen Kor- 
rektheit, wie sie etwa dem Stil der Beantwortung außenpolitischer 
Interpellationen im Unterhaus entspricht. Trotzdem ist über die tiefere 


>7).Stieve, F., Iswolski u. d ‚Weltkrieg. Berlin. Dte. Verlagsges. f, 


Politik, u. Gesch. VHI, 269 S. 


28) Musulin, Rich. v., Das Haus am Ballplatz. Erinnerungen eines 

österr.-ungar. Diplomaten. München. Verlag f. Kulturpolitik. 310 S. 

2) Kern, F., Serajewo. Die Geburtsstunde d. Weltkrieges. Preuss. 
Jahrbb. 197, 228—51. 

2) Churchill, Winston, D. Weltkrisis 1911—14.  Berechtigt. Über- 
setzg. Leipzig, Koehler VIII, 400 S. 

3%) Asquith, H. H., Der Ursprung des Krieges. (Autor. Übersetzung 
v. Th. Nowack) München Verlag f. Kulturpolit. 303 S. 


127 


\ 


politische Motivation der Ententepolitik aus dem Buche doch einiges 
zu entnehmen, was auch für die deutsche Geschichte Bedeutung hat. 
Insbesondere sei auf die dokumentarisch gestützten Partien über die 
Vorbereitung der politischen, militärischen und wirtschaftlichen : Mo- 
bilisierung durch das „Committee of Imperial Defence“ verwiesen. 
Es ist von großem Interesse und auch von einer gewissen Reflexbe- 
deutung für die Kriegsschuldfirage, mit diesem Bild das andere zu ver- 
gleichen, das sich aus Aufzeichnungen des ehemaligen deutschen 
Staatssekretärs des Inneren Clemens v. Delbrück über die 
wirtschaftliche Mobilmachung in Deutschland ergiebt.”?) Das Ergebnis 
der Bemühungen Delbrücks blieb bis 1914 hin im wesentlichen 
negativ, Reichskanzler undReichsschatzsekretär obstruierten, von einer 
Zielbewußtheit ist auch hier nichts zu spüren. Der Bericht Delbrücks 
über seine weitere Tätigkeit in der Kriegswirtschaftspolitik, den der 
Sohn des Verstorbenen ergänzt hat, fällt aus dem Thema des Buches 
einigermaßen heraus und. gehört der Geschichte des Welt- 
kriegsie.S. zu. . 

Für diese ist es das wichtigste literarische Ereignis im Berichts- 
jahr gewesen, daß das vom Reichsarchiv herausgegebene amtliche 
Kriegswerk zu erscheinen begonnen hat.??) Es nimmt die Tradi- 
tion der kriegsgeschichtlichen Abteilung des Großen Generalstabs 
wieder auf, aber doch in einer durch Mie Natur des modernen Krieges 
merklich gewandelten Form. Zudem hat der Ausgang des Krieges 
alle sonst üblichen Prestigerücksichten in Fortfall kommen lassen. 
Der didaktische Zweck nicht minder wie der wissenschaftliche 
Charakter des Werkes drängten auf rückhaltlose Offenheit. Ein 
umfängliches System der Befragung hat die Lücken, die das Akten- 
material läßt, nach Möglichkeit ausgefüllt. Die Erwartung des Vor- 
worts, daß das deutsche Volk die Ergebnise so intensiver und vorbe- 
haltloser Forschungsarbeit nicht zu scheuen haben werde, wird durch 
den Inhalt der ersten beiden Bände in besonderem Maße bestätigt. 
Zwar der eigentliche Gegenstand der Darstellung ist nicht die Leistung 
des Volksheeres im ganzen, darauf wie auf die Beziehungen zwischen 
Front und Heimat (Mobilmachung der Wirtschaft) soll in besonderen 
Forschungsbänden eingegangen werden. Zunächst galt es, das Rück- 
grat, die Entstehung der Führerentschlüsse, den Verlauf der operativen 
Handlung bis hinunter zu den Divisionen klarzulegen. Nur der zweite 
Band, die Befreiung Ostpreußens behandelnd, hat Gelegenheit, bei 
der geringen Zahl der beteiligten Truppen mehr ins Einzelne zu gehen 
und auch dem landschaftlichen Charakter der Ergebnisse mehr 
Rechnung zu tragen. Der erste Band, den Aufmarsch im Westen, die 
Grenzschlachten und die Verfolgung bis zum 27. August behandelnd, 
gibt wesentlich Geschichte der großen Strategie. Aber auch hier 


32) Delbrück, C. v., Die wirtschaftliche Mobilmachung in Deutschl. 
Aus d. Nachl. hggb. v. J. Delbrück. München, Verl, f. Kulturpol., VIII, 322 S. 

3) Der Weltkrieg 1914—1918. Bearbeitet im Reichsarchiv. Die mili- 
tärischen Operationen zu Lande. I. Band. Die Grenzschlachten im Westen. 
IL Bd. Die Befreiung Ostpreußens. Berlin. Mittler u. Sohn. 


128 


steht als der eigentliche Held das deutsche Volk dahinter, auch hat 
zur Aufhellung der operativen Zusammenhänge oft bis auf die Kom- 
pagnietagebücher heruntergegriffen werden müssen. Beide Bände 
sind voll von dramatischem Leben und suchen die Wirklichkeit des 
Krieges aufzufassen. Dem dient in vorzüglicher Weise die Art der 
Disposition, es wird von den Vorgängen auf feindlicher Seite dem 
Leser regelmäßig nur so viel mitgeteilt, als der deutschen Führung in 
dem betreffenden Zeitpunkt bekannt war und erst darnach abschnitts- 
weise das wirkliche Bild der Gegenseite skiziert. Im einzelnen kommt 
der zweite Band, der die Anfänge der russischen Geschichtsschrei- 
bung und russische Beuteakten mitbenutzt hat, wohl zu mehr endgüliü- 
zem Ergebnis. Der erste behandelt nicht nur die nach räumlicher 
Ausdehnung und Zahl der Streiter größten Schlachthandlungen der 
Weltgeschichte, sondern auch: die umstrittensten strategischen Pro- 
bleme. Auch ist das gegnerische Material hier vielfach noch sehr un- 
vollständig. Trotzdem ist der Versuch kritischer Stellungnahme mit 
großem Nachdruck gemacht worden. Hervorzuheben sind außer dem 
glänzend geschriebenen Rückblick die sehr positiv gehaltenen Erörte- 
rungen über den Schlieffen-Plan und die erschütternde Klarlegung 
der Gegensätze in den strategischen Anschauungen, die den vollen 
Erfolg entgleiten lassen. Eine sehr wertvolle Ergänzung des amt- 
lichen Werks bietet die noch vor ihm erschienene kritische Übersicht 
des Generalleutnant Kabisch über die Streitfragen des Welt- 
krieges.”) Der Verfasser gibt zu den Hauptproblemen (Feldzugs- 
pläne, Fall Prittwitz, Conrad, Marne, Oststrategie, Saloniki, Verdun, 
Offensive 1918) ein ausführliches Referat aller laut gewordenen in- 
und ausländischer Meinungen, um dann selbständig und von grund- 
sätzlichen Erwägungen her dazu Stellung zu nehmen. — Von der aus- 
gezeichneten knappen Darstellung Volkmanns”) liegt eine neue (5.) 
Auflage vor, die nach den Akten überprüft und durch kurze Abschnitte 
kriegswirtschaftlicher Art ergänzt worden ist. 

Zur Geschichte des Seekrieges sind zwei Brinnerungsbiiäher 
Mithandelnder zu nennen. Pochhammer,?) früher erster Offizier 
der „Gneisenau“, schildert Taten und Schicksale des Kreuzergeschwa- 
ders von Tsingtau über Coronel bis zu den Falklandinseln. Es ist nicht 
nur ein Buch warmen vaterländischen Gedenkens, sondern zugleich 
eine wichtige Quelle für die Geschichte des Krieges in Übersee, ihre 
geographischen wie ihre geistigen Voraussetzungen. — An die zen- 
tralen Themen der Seekriegsgeschichte führen die in Übersetzung vor- 
liegenden Denkwürdigkeiten des Admirals Schoultz?) heran, der 


#) Kabisch, E., Streitfragen d. Weltkrieges 1914—1918. Stuttgart. 
Bergers Literatr. Büro 400 S. 

Volkmann, E. O., Der große Krieg 1914-1918. Kurzgef. Dar- 
stellung auf Grund d am "Quellen des Reichsarchivs. 5. verm. u. verb. Aufl. 
Berlin, Verlag Hobbing. 

E Pochhammer, H. Graf Spees letzte Fahrt. Erinnerungen an 
«las Kreuzergeschwader. Leipzig K. F. Koehler 184 S. 

Schoultz, S. v., Mit der Grand Fleet im Weltkrieg. Leipzig, 

K. F. Koehler, XII, 478 S. 


° 129 


russischer Verbindungsoffizier bei. der Grand Fleet vom Frühjahr 1915 
ab war. Der Verfasser, jetzt Chef der finnischen Flotte, verfügt so- 
mit über ein einzigartiges Beobachtungsmaterial und ist bei aller kame- 
radschaftlichen Sympathie mit der englischen Marine innerlich von 
der naheliegenden Befangenheit des Mithandelnden frei. Sein Urteil 
zur Schlacht bei Skagerrak, die im: Mittelpunkte des Buches steht, 
lautet, daß bei Durchführung der Nachtschlacht den Deutschen ver- 
mutlich der volle Sieg zugefallen wäre. 

Gegenüber der Literatur zur Geschichte der Außenpolitik und 
‚des Krieges tritt die auf die Innenpolitik bezügliche an Zahl und 
Bedeutung zurück. In Ergänzung seiner früheren Publikation legt 
Gradenwitz) ein Buch über Bismarcks letzten Kampf vor, das im 
wesentlichen die Entlassungskrise behandelt, aber mit einigen quellen- 
mäßigen Beiträgen (insbesondere Berichte v. Brauers) und scharf- 
sinnig zugespitzten Erörterungen auf die - weitere Entwicklung über- 
greift. Die Gegenseite kommt in dem Buche von Nieman n,”) Wan- 
derungen mit Kaiser Wilhelm II., zu Gehör. — Für die innere Politik 
der Kriegszeit sind die „Schlaglichter“ aus dem Nachlaß von Conrad 
Hau ßm ann’) zu erwähnen, ausgewählte Briefe und Tagebücher, die 
ohne die Glättung des Memoirenstils in Stimmung und Getriebe der 
Parteien tief hineinführen und eine Fülle neuer Aufschlüsse bieten. A. 
war bekanntlich einer der führenden. süddeutschen Demokraten, der 
Gegensatz gegen Norddeutschland ist sehr bewußt und geht gelegent- 
lich bis zur Selbstkritik („Die norddeutschen Nerven nehmen geschicht- 
lich trainiert das Mitgehen und Kindermitschicken als eine Selbstver- 
ständlichkeit“). Dabei ist Haußmann unter seinen engeren Freunden 
wohl der Willenskräftigste und Bewußteste gewesen, das springt im 
Vergleich mit den Payerschen Erinnerungen sehr greifbar heraus. So- 
wohl für die Friedensfühler in der Schweiz und in Holland wie für das 
deutsche Friedensangebot ist von H. mehrfach Initiative genommen 
worden. Ebenso ist er einer der bereitesien Helfer im Kampf Beth- 
manns gegen die Alldeutschen gewesen und gibt darüber viel Detail. 
Weiterhin sind seine Aufzeichnungen für die Geschichte des Haupt- 
ausschusses, der Kandidatur und Kanzlerschait des Prinzen Max und 
des Weimarer Verfassungsausschusses ungewöhnlich ergibig. 


Zur Geschichte des Zusammenbruchs endlich sind zwei 
sehr verschiedenartige Veröffentlichungen zu nennen. Einmal die amt- 
lichen Urkunden zur Vorgeschichte des Waffenstillstandes,*) die nun 
endlich von den Fehlern des 1919 erschienenen Weißbuches gereinigt 
und dazu noch durch 41 neue Stücke ergänzt worden sind. Grade der 


38) Gradenwitz, O., Bismarcks letzter Kampf 1888—98. Skizzen 
nach Akten. Berlin, Stilke, 272 S. 

3) Niemann, A, Wanderungen mit Kaiser Wilhelm II. Leipzig, 
Koehler, 128 S. 

1) Hausmann, C.; Schlaglichter. Reichstagsbriefe u. Aufzeichnungen. 
Frankfurt a. M., Societätsdruckerei, VII, 315 S. 

41) Amtl. Urkunden Z Vorgesch. d. Waffenstillstandes 1918. 2. verm. '* 
Aufl. Berlin, Dte. Verlagsges. f. Pol. u. Gesch. XII, 290 S. i 


130 


Tr E 


Vergleich. mit dem privaten Material von Haußmann zeigt aber die 
Lückenhaftigkeit des amtlichen Materials, auch sind 'einige der „Proto- 
kolle“ nicht im vollen Sinne „Akten“, weil sie auf unbestätigter Nieder- 
schrift beruhen, was bei der Zuspitzung der Gegensätze quellenmäßig 


nicht unbedenklich ist. — Erst recht in umstrittenstes Gebiet führen 


die Dokumente, die von den Süddeutschen Monatsheiten 
unter dem Titel „Der Dolchstoß“ veröffentlicht worden sind.) 


+2) Der Dolchstoss. Süddte. Monatshefte, Te. 21, H. 7, S. 1—71, 73—130. 


 C Kapitel VIL ` ` 
Ä "Wirtschaftsgeschichte. 


(Rachel) ` 


a) Allgemeine Darstellungen. 

Das grundlegende Werk über die Übergangszeit vom soge- 
nannten Altertum zum Mittelalter, ist, nachdem die erste Auflage (1918 
und 1920 erschienen) rasch vergriffen war, in einer zweiten veränderten 
und erweiterten Auflage herausgegeben worden.!) Jenes Gebiet war 
vorher lange vernachlässigt; die schriftlichen Überlieferungen, wie 
Caesar, Tacitus, die germanischen Volksrechte, waren zu spärlich, um 
aus ihnen allein einen Zeitraum von °/a Jahrtausend aufhellen, ein zu- 
sammenhängendes wahrheitsgemäßes Bild von der germanischen Früh- 
zeit herstellen zu können. Die darauf gegründeten vorwieg:znd rechts- 
geschichtlichen Untersuchungen führten daher zu recht abweichenden 
Ergebnissen und oft wenig haltbaren Konstruktionen. Dopsch hat nun, 
indem er die Entwicklung der „Wissenschaft vom Spaten“ und der 
landeskundlichen Einzelforschung sich ausgiebig zu Nutze machte, auf 
mehr induktivem Wege die Zustände jener Zeit festzustellen und 


- ein volleres kulturgeschichtliches Bild von ihr zu geben vermocht. 


Er hat dabei bekanntlich gegenüber der älteren, schon erschütterten 
„Katastrophentheorie“ nachgewiesen, daß die Germanen keineswegs 
nur barbarische Vernichter einer hochentwickelten, schon überreifen 
Kultur, der Antike, gewesen sind, daß vielmehr ihre eigene Kultur eine 
höhere war und daß anderseits von der romanischenKultur mehr erhalten 
geblieben ist, als gemeiniglich angenommen wurde, daß demge- 
mäß in umiassenderem Maße eine Synthese beider Kulturen statt- 
gefunden hat. Ein Bruch in der Kulturentwicklung ist. nicht eingetreten, 
die römische Welt ist Jahrhunderte hindurch von den Germanen friedlich 
durchsetzt worden, und indem diese auch die politische Herrschaft 
übernahmen, war das nicht mehr als „die Richtigstellung einer Firma.“ 
Die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, auf die es hier allein 


1) Dopsch, A., Wirtschaftliche u. soziale Grundlagen der europäischen 
Kulturentwicklung aus der Zeit von Caesar bis auf Karl den Großen. 2te 
veränderte und erweiterte Au: I. u. II. Teil. Wien 1923 u. 1924. L. W. 
Seidel u, Sohn. l 


" 1831 


ankommt, stellen sich nach Dopsch wesentlich anders dar als nach den 
bislang herrschenden Meinungen. Das Sondereigen von Boden ist 
alt, die Grundherrschaft hat größere und die Markgenossenschaft ge- 
ringere Bedeutung als angenommen. Die Unterschiede im Besitz und 
der sozialen Stellung sind schon früh bedeutende; das Lehnswesen ist 
nicht erst infolge der Araberkriege entstanden, und hat sich wesentlich 
aus altgermanischer Grundlage, dem Gefolgschaftswesen, entwickelt; 
die Städte sind weder radikal verschwunden noch sind sie nach 
städtelosen Jahrhunderten neu gegründet worden, selbständigen Ge- 
werbe- und Handelsbetrieb gab es auch in der Frühzeit, die Annahme 
einer reinen Naturalwirtschaft und einer Periode der „geschlossenen 


Hauswirtschaft“ ist nicht haltbar, desgleichen die sog. hofrechtliche: 


Theorie.. 

Die so vielfach neuen und umwälzenden Darlegungen von 
Dopsch haben natürlich vielerlei Anfechtungen erfahren. Dopsch hat 
in der vorliegenden zweiten Auflage neben der inzwischen cıschiene- 
nen neuen und der vorher übersehenen Literatur auch die Ausfüh- 
rungen seiner Kritiker beachtet und zu ihnen Stellung genommen, ohne 
daß er jedoch von seinen Ergebnissen etwas ändern zu müssen glaubte. 
Vielleicht wird sich doch über Einzelnes noch streiten lassen, und mag 
Dopsch in der Freude an der Kontroverse etwas weit gegangen sein; 
im ganzen hat er zweifellos die Erkenntnis über diesen Zeitraum in 
entscheidender Weise gefördert und richtiggestellt, indem er seine 
Forschungen auf breiter Grundlage aufbaute und indem er den Blick 
von den rechtshistorischen Auslegungsstreitigkeiten auf die tatsäch- 
lichen Verhältnisse und Möglichkeiten richtete.. So hat er die innere 
Wahrscheinlichkeit durchweg für sich, selbst wo die Interpretation der 
Quellen allein auch andere Schlüsse zuließe. 


Wenn eines der wesentlichsten Ergebnisse der Untersuchungen 
von Dopsch dieses ist, daß der germanische Anteil an der neu sich 
formenden, der „mittelalterlichen“ Kultur genauer abgegrenzt und zu- 
gleich höher bewertet wird, so ließe sich dem noch eins hinzufügen, 
das auf S. 417:des zweiten Teils nur flüchtig berührt ist. Auf dem Ge- 
biete der Technik nämlich hat das Mittelalter die Antike in einer Hin- 
sicht schon früh überholt, in dem Ersatz menschlicher Arbeitskräfte 
durch mechanische, im besonderen durch die Ausnutzung von Wasser 
und Wind. Wassermühlen sind anscheinend im Altertum nur sehr 
spärlich verwendet worden, erlangen aber im Mittelalter große Be- 
deutung; in der Ausnutzung der Windkraft mittelst. der Segel zeigten 
sich nordische Völker den mittelmeerischen nicht nur ebenbürtig, son- 
dern überlegen, so nach Cäsar die Kelten der Bretagne, und die Wind- 
mühlen sind überhaupt nach bisheriger Kenntnis erst im 11. Jahrhun- 
dert in Gebrauch gekommen, und zwar nördlich der Alpen. Die ver- 
hängnisvolle technische Rückständigkeit der Antike und das selbstän- 
dige Fortschreiten auf diesem Gebiete im Mittelalter hängen bekannt- 


lich eng zusammen mit der stärkeren oder geringeren Verwendung 


unfreier Arbeit; durch genauere Feststellung dieser Dinge würde 
132 


o ge 


. Jena, Gustav Fischer. 626 S 


zweifellos die Auffassung von Dopsch eine weitere Bestätigung er- 


fahren. 

Wesentlich anders als das Werk von Doþpsch gibt sich ein an- 
deres großes Duch, das in seiner ersten Hälfte den gleichen Zeitab- 
schnitt wie jenes behandelt. Es ist die im Rahmen der von Brodnitz 
herausgegebenen Sammlung „Handbuch der Wirtschaftsgeschichte“ als 
zweiter Band erschienene Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittel- 
alters von Rudolf Kötzschke.) Sie will nicht neue Bahnen zeigen, 
sondern die bisherigen Forschungsergebnisse in einer geschlossenen 
Darstellung zusammenfassen; das Kritische tritt demnach zurück und 
es wird ein vorsichtig abwägender, vermittelnder Standpunkt einge- 
nommen. Es handelt sich darum, neben den Wirtschaftsgeschichten 
der einzelnen Länder und als Grundlage zu deren Verständnis eine all- 
gemeine Darstellung jener Zeit zu bringen, in der die Kultureinheit 
stärker hervortritt als die nationalen Unterschiede. Auch hier wird 
mit Recht die Kultur und Wirtschaft der Antike nicht nur in flüchtigem 


Überblick behandelt und ihr die Schilderung der neuen Völker, Ger- 


manen und Ostvölker, als das zweite grundlegende Element gegen- 
übergestellt. Der breiteste Raum ist dann der Frühzeit und dem hohen 
Mittelalter der germanisch-romanischen Völker gewidmet (Kap. II und 
IN); aber auch der europäische Osten, und die byzantinische und isla- 
mitische Welt (Kap. IV) sind, wenn auch sehr viel kürzer, behandelt. 
So umfaßt das Werk einen weiten Bereich und wirkt außerordenilich 


lehrreich, indem. die vielgestaltige Fülle, das Nebeneinander so vieler 


Volks-, Staats- und Kulturgebiete, die Möglichkeit des Vergleichens 
und Scheidens die Erkenntnis außerordentlich fördert. Es erübrigt 
sich bei der Persönlichkeit des Verfassers zu betonen, daß gründliche 


. eigene Forschung sich mit lückenloser Auswertung der Literatur — die 


auch in ausgiebigem Maße angeführt wird — paart, und daß die Dar- 
stellung lichtvoll und besonnen ist. 


Der Verfasser geht empirisch vor, er schildert die wirklichen 


Wirtschaftszustände und ihre Wandlungen in der Folge der Zeiten und 
deduciert nicht, wie das vielfach, man kann wohl sagen allzu viel ge- 
schehen ist, von allgemeinen ökonomischen Leitsätzen, für die dann 
Beweisstoffe aus der Geschichte herbeigebracht werden. Das Ver- 
fassungsgeschichtliche ist jedoch m. E. zu breit behandelt worden, es 
steht nahezu gleichwertig neben dem eigentlichen Gegenstand des 
Buches. Anderseits kommen manche wirtschaftsgeschichtliche Tat- 
sachen etwas zu kurz weg, so hätten die mittelalterlichen Messen, zu- 
mal die der Champagne, sowie die Organisationen seefahrender Kauf- 
leute, wie das Konsulat des Meeres und die hansischen Fahrerkom- 
pagnien m. E. eine stärkere Beachtung verdient. Ferner wird hier 
gleichfalls die technische Entwicklung, die doch eine wichtige Erschei- 


nung des wirtschaftlichen Lebens ist, zu wenig gewürdigt, obwohl sie 
mit‘ den Wandlungen im späteren Mittelalter, der Entfaltung der Geld- 


2) Kötzschke, R., Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters. 


133 


wirtschaft und der neuen Wirtschaftsgesinnung, ursächlich eng ver- 
knüpft ist. Neben den ausgiebigen Schilderungen der agrarischen Ver- 
hältnisse und des zunftmäßigen Handwerks dürften die Anfänge der 
industriellen Produktion im Bergbau-, Hütten- und Salinenwesen nicht 
so ganz zurücktreten, dürften Tatsachen wie die Ausdehnung des 
Mühlenbetriebs, das Aufkommen der Hochöfen, die Fortschritte in der 
Eisen- und Waffenherstellung im späteren Mittelalter nicht fehlen. 


Diese Dinge sind bisher von Technikern oder Nationalökonomen be- 


handelt worden, aber der Wirtschaftshistoriker sollte an ihnen nicht 
vorübergehen. Hinsichtlich der Gliederung des Stoffes erscheint es 
mir wenig glücklich, daß bei der mittelalterlichen Wirtschaftsent- 
wicklung, von der Frühzeit abgesehen, zwischen einer „Zeit des Hoch- 
‚standes“ (Kap. II) und dem „Ausgang“ (Kap. V) geschieden wird, 
wobei aber unter dem letzteren die Kreuzzüge, die Entfaltung der 
Geldwirtschaft und die „Blütezeit der Stadtwirtschaft“ behandelt 
werden. Man sieht nicht recht ein, warum diese Erscheinungen nicht 
auch zum „Hochstand“ gehören sollen; außerdem werden durch 
solche Spaltung enge Zusammenhänge, wie eben die Stadtwirtschaft, 
ohne Not auseinander gerissen. 


Für weitere Kreise bestimmt ist ein dem Übergang vom Mittel- 
alter zur neueren Zeit gewidmetes Büchlein). Der Verfasser hat es 
vorgezogen, an Stelle eines knappen Grundrisses der deutschen Ver- 
fassungs- und Wirtschaftsgeschichte, der in dem gezogenen Rahmen 
nur flüchtig und wenig anschaulich ausfallen könnte, einige hervor- 
ragend wichtige Vorgänge und Einrichtungen herauszugreifen und ein- 
= gehender zu behandeln. Er schildert den deutschen Staat des Mittel- 


alters, wobei er sich im besonderen mit dem Hallerschen Begriff des 


Patrimonialstaats. auseinandersetzt; ferner die Entstehung der Lan- 
deshoheit; ist hierin die Geschichte des Gerichtswesens vornehmlich 
berücksichtigt, so werden in zwei weiteren Aufsätzen — über das Heer- 
wesen in alter und neuer Zeit und über Landes- und Reichssteuern — 
die wichtigsten anderen staatlichen Funktionen der alten Zeit ge- 
würdigt. Dazwischen ist die Geschichte des deutschen Städtewesens 
und die mittelalterliche Stadtwirtschaft behandelt. Das erste findet 
sich ausführlicher in Belows größeren Arbeiten, besonders in „Der 
deutsche Staat des Mittelalters“, „Territorium und Stadt“, „Probleme 
der Wirtschaftsgeschichte“; nur die Abhandlung über das Heerwesen 
ist ein im Herbst 1914 gehaltener Vortrag, der hier etwas erweitert 
wurde. Am breitesten ist die mittelalterliche Geschichte behandelt, 
von da sind oft in geschickter Weise Verbindungen zur neuern und 
neuesten Entwicklung hergestellt; die Darstellung ist auf diese Weise 
belebt und aktuell gemacht worden in dem Bestreben, nachzuweisen, 
wie der geschichtliche Unterricht für die staatsbürgerliche Fortbildung 
nutzbar gemacht werden kann. Hierbei macht aber der Historiker 


3) Below, G. v, Vom Mittelalter zu Neuzeit. Bilder aus d. dt. Ver- 


fassungs- u. Wirtsch. -Gesch. Lpz., Quelle u. Meyer. VI) 122 S. 1924. (Bd. 
198 der Sammlg. „Wissenschaft u. Bildung“). 


134 


leider nur zu oft dem Politiker Platz und tritt die Abneigung gegen alles 
Demokratische allzu einseitig hervor. Vielleicht ist es auf diese 
nicht wissenschaftliche sondern gefühlsmäßige Stellungnahme zurück- 
zuführen, daß v. Below die Ergebnisse von Max Weber hinsichtlich 
der Stadtgeschichte gar nicht erwähnt. . 


b) Einzelne Gebiete. 


Aus der Schule und dem Ideenkreise von Dopsch hervorgegangen 
ist eine Untersuchung über die Handels-, Verkehrs- und Gewerbever- 
hältnisse des nordwestlichen Europa, der Gebiete zwischen der 
Somme und der unteren Elbe, in der Zeit von 600 bis 1000 n, Chr.) 


Auch sie bestätigt für ihren Bereich durchaus die von Dopsch ver- ` | 


tretene Auffassung, daß die Entwicklung der Gewerbe und des 
Handels im frühen Mittelalter keineswegs so geringfügig war, wie das 
vorwiegend angenommen worden ist, und daß nicht etwa erst mit 
Karl dem Großen oder noch später kulturelles Leben langsam wieder 
aufgeblüht ist. Es wurden nicht nur Gebrauchs-, sondern auch Kunst- 
zegenstände für den Verkauf gearbeitet, man war für feinere Waren 
nicht nur auf Einfuhr vom Orient angewiesen, der Handel wurde nicht 
nur von Juden und Orientalen betrjeben, sondern es gab auch einge- 
sessene Kaufleute in einer ganzen Reihe von Plätzen. Die Arbeit 
begnügt sich verständigerweise in der Hauptsache damit, die mit 
großem Fleiß gesammelten Nachrichten in systematischer Darstellung 
zu übermitteln, ohne Theorien aufzustellen oder zu bekämpfen. Wo ` 
der Verfasser davon abweicht, ist er nicht immer klar und über- 
zeugend. So trifft die wiederholt (so S. 131, 134, 166) aufgestellte 
Behauptung, daß Fernhandel besonders zwischen Gebieten von ver- 
schiedener Kulturhöhe stattbabe, aber bei kulturellem Aufstieg der 
vorher weniger entwickelten Länder zurückgehe, doch nicht ohne 
weiteres zu, im Gegenteil steigen mit fortschreitender Zivilisation auch 
die Bedürfnisse und. wächst die Nachfrage nach Einfuhrwaren.' So 
soll auch der Handelsverkehr zwischen dem hier betrachteten Nieder- 
deutschland und Skandinavien im 10. Jahrhundert aus diesem Grunde 
zurückgegangen sein; aber die skandinavischen Länder erhielten bis 
in das 16. Jahrhundert und auch darüber hinaus gewerbliche Er- 
zeugnisse, Tuche und Stoffe, Bier, Mehl und vieles andere weitaus 
vorwiegend aus der Fremde, aus Niederdeutschland, den Niederlanden 
und England. Daß die sonst systematische Darstellung zeitlich in. 
zwei sehr ungleiche Teile — die Zeit bis 900 und das 10. Jahrhundert 
— zerlegt worden ist, erschwert unnötig die Übersicht und reißt Zu- 
_ sammenhänge auseinander, ohne daß dafür ein überzeugender Grund 
angeführt werden könnte. Das Inhaltsverzeichnis ist merkwürdiger- 
weise zwischen dem Text und den umfangreichen, fast 60 Seiten 
und 1361 Nummern umfassenden Anmerkungen untergebracht. Die 
Beigabe einer kleinen Verkehrskarte ist zu begrüßen. 


a) Kletler, P., Nordwesteuropas Verkehr, Handel u. Gewerbe im 
irühen Mittelalter. Wien, österr. Schulbücherverlag, 238 S. 


135 


Gleichfalls auf Anregung von Dopsch geht eine Untersuchung 
über die Weistümer in den österreichischen Alpen- und Donauländern 
zurück), Es ist dies ein Gebiet, das für die Weistümerforschung be- 
sonders ergiebig ist. Die Fülle des vorliegenden Quellenmaterials gibt 
daher -für eine systematische Bearbeitung die besten Aussichten. . Das 
wesentlichste Ergebnis der, wie man anerkennen muß, gewissen- 
haften Untersuchung ist zunächst dies, daß die bisher herrschende 
Lehre über Alter und Charakter der Weistümer doch erheblich zu 
berichtigen ist. Die österreichischen Weistümer oder Banntaidinge 
setzen unzweifelhaft erst mit dem 14. Jahrhundert ein und werden 
weitaus am zahlreichsten im 16., um dann wieder abzunehmen bis 
auf die wenigen dem 19. Jahrhundert angehörigen Stücke. Und sie ` 
sind nicht etwa späte Aufzeichnungen uralten Herkommceis, sondern 
sie wollen die Verhältnisse ihrer Zeit regeln; auch in vielen Fällen, 
da sie sich auf altes Recht und Herkommen beziehen, liegt dies nach- 
weislich nicht weit zurück. Ferner wird festgestellt, daß die Weis- 
tümer durchgehends grundherrschaitlichen Charakters sind, Auf- 
zeichnungen der Rechte und Pflichten abhärigiger Bauern gegenüber 
der Herrschaft. Von hier aus wird nun versucht, die Verhältnisse von 
Grundherrschaft und Bauern in den österreichischen Ländern bis zur 
Neugestaltung durch Maria Theresia geschichtlich zu verfolgen und 
den inneren Zusammenhang der Weistümer mit der Urbarialreform und 
der älteren PANET EZERS ERC der Landesfürsten nachzu- 
weisen. 


‚Als Teil einer größeren Arbeit liegt die eingehende Üner: 
chung des Steuerwesens der steirischen Städte und Marktflecken vom 
späteren Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert vor®). Wir entnehmen 
ihr, daß die autonome Aufbringung der Steuern durch örtliche an- 
stelle landesherrlicher Organe sich seit dem Ende des 14. Jahrhunderts 
rasch durchgesetzt hat und im 15. Jahrhundert überall eingebürgert 
war. Die direkten Steuern von Haus- und Grundbesitz stehen voran, 
dazu treten direkte Gewerbesteuern; das bewegliche Vermögen ist 
nirgends herangezogen. Verbrauchs- und Verkehrssieuern sind erst 
später nach Bedarf eingeführt worden: Verbrauchssteuern, hier auch 
Ansagesteuern genannt, von Getreide, Viktualien, Salz, Getränken. 
auch Kaufmannswaren und gewerblichen Erzeugnissen; außer der 
Steuer vom Viehverkauf findet sich auch die Schlachtsteuer; ferner 
Schifffahrtsabgaben; endlich die allgemein üblichen Gebühren: Markt-. 
Wage-, Niederlagsgelder, Bürgerrechtsgeld, Brücken- und Wege- 
mauten. Zahlreiche Tabellen ergänzen den Text. 


5) Patzelt, Erna, Entstehg. u. Charakter der Weistümer in Österreich. 
Beitr. zur Gesch. d. Grundherrschaft, Urbarialreform u. Bauernschutzgesetz- 
gebg. vor Maria Theresia. Budapest, Eligius-Verlag, 123 S 

6) Mensi, Franz, Gesch. d. directen Steuern in Steiermark bis zum 
Reg.-Antritt Maria Theresias. Die Besteuerung d. landesfürstl. Städte und 
Märkte. T. 2. In: Zt. d. Hist. Ver. f. Steiermark, Je, 19. H. 14 


136 


D A 


nn 


Eine wirtschafts- und "kulturzeschichtliche Monographie ist 


einem wenig bekannten Winkel unseres Vaterlandes gewidmet’). Es 


handelt sich um den südöstlichen Teil des Bayrischen Waldes, den 
zwischen der Donau und dem Böhmerwald gelegenen Landstrich, der 
den Hauptteil des alten Hochstifts Passau ausmachte, das Land der 
Abtei genannt, weil es ursprünglich dem Kloster Niedernburg gehörte, 
bis dann der Besitz sowie die Landesherrlichkeit gegen Ende des 12. 
und im Anfang des 13. Jahrhunderts an das Bistum Passau überging 
und bei diesem bis zur Säkularisation, 1803, blieb. Die Geschicke und 
Zustände des Ländchens in jenen 6 Jahrhunderten der bischöflichen 
Herrschaft stellt die kleine Schrift, hauptsächlich auf Grund archiva- 
lischer Forschungen, dar. Sie ist selbst eine Art Quellensammlung, 
sie bringt in loser Ordnung eine Fülle von Einzelheiten, von denen 
viele nur lokales Interesse haben, manche aber auch von allgemeinem 
wirtschafts- und kulturgeschichtlichem Wert sind. Das dargestellte 
Gebiet ist ein karges und verkehrsarmes Waldgebirgsland, das immer 
ein abseitiges Dasein geführt hat, ohne Städte, nur mit 8—10 kleinen 
„Märkten“, ohne gewerbliche Entwicklung, der Handelsverkehr nur 


von „Säumern“ betrieben, bis im 18. Jahrhundert Straßen angelegt 


wurden, die für Lastwagen fahrbar waren. Bemerkenswert ist, daß 
hier nicht die Bauern durch ihre Grundherren „gelegt“ wurden, sondern 
die Grundherrn durch die Landesherrn. Bis zum Ende des 17. Jahr- 
hunderts hatten die Fürstbischöfe fast alle adligen Lehen (Ministerial- 
güter) aufgekauft, sie haben zielbewußt die Bildung von Großgrund- 
besitz und Fideikommissen vollständig verhindert und den bäuerlichen 
Mittelstand erhalten. Bezeichnend für die Zustände eines Kleinstaates 
der älteren Zeit ist es, daß die Bezirksverwaltung nur von ganz wenig 
Pflegern und Schreibern ausgeübt wurde, während der Verwaltungs- 
apparat am Regierungssitz durch eine verschwenderische Fülle von 
Personal sich auszeichnete. 

Man vermißt eine Karte oder wenigstens eine einfache Skizze, 
die bei einer solchen Landesbeschreibung nicht fehlen sollte. 

Die Rechnungen des altmärkischen Nonnenklosters Diesdorf 
geben einen lehrreichen Einblick in den Wirtschaftsverkehr im 14. und 
besonders: im 15. Jahrhundert.) Die kleine geistliche Grundherrschaft 
verkaufte die Überschüsse der Getreidezehnten ihrer abhängigen 
Dörfer und einzelne Erzeugnisse der eigenen Wirtschaft, besonders 
Wolle, Schafielle, Häute, Talg, Wachs nach den Städten Lüneburg, 
Salzwedel, Ülzen u. a. und deckte ihren Bedarf an Handelswaren regel- 
mäßig auf den städtischen Märkten, und zwar hauptsächlich in der 
nächstgelegenen Marktstadt Salzwedel und für feinere fremde und 
überseeische Waren in der Handelsstadt Lüneburg. In diesen beiden 
Städten besaß sie seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts auch 


”) Müller, F. wv, Das Land der Abtei im alten Fürstentum Passau. 
Eine wirtschafts- u. kulturgesch. Studie. 183 S. (= Verhdligen d Hist. Ver. 
f. Niederbayern Bd. 57). 

°) Wentz, Gottir., Das offene Land u. die Hansestädte. Hans. Gesch.- 
bil. 48, 61—98. ` 


137 


je ein eigengebautes Herbergs- und Vorratshaus. Daneben wurden auh 
die Märkte in Braunschweig und Magdeburg besucht. Bier wurde 
in Salzwedel, Braunschweig, auch Gardelegen und Tangermünde er- 
handelt, Seefische in Lüneburg, Elbfische in den kleinen Elbstädten. 
Bemerkenswert ist einmal, daß die Preise für landwirtschaftliche Er- 
zeugnisse ganz unverhältnismäßig. niedrig waren im Vergleich zu 
denen der städtischen Marktwaren; ferner daß der Verkehr durch- 
gehends frei war. Es findet sich keine Spur von Ausübung eines 
Markt- oder Straßenzwangs, eines Bannmeilen- oder Stapelrechts, und 
die Zölle und Wegegelder waren ganz geringfügig. Gewiß läßt sich 
‚ diese Betrachtung nicht verallgemeinern, aber sie stimmt doch gut 
mit anderen Feststellungen überein: daß nämlich die „mittelalterlichen“ 
Stadt- und Zwangsrechte hauptsächlich erst später und zwar seit dem 
Fıstarken des Landesfürstentums ausgebildet worden sind. 


Fin kulturgeschichtliches Kleingemälde bietet Professor 
Abicht?) in Liegnitz mit seinen Auszügen aus dem mittelalterlichen 
Wirtschaftsbuch eines kleinen fürstlichen Haushalts, die er mit einem 
interessanten Kommentar begleitet. Es ging recht bescheiden zu im 
Haushalt eines solchen kleinen Fürsten; von „Hof“ läßt sich da kaum 
reden, denn eim wesentlicher Unterschied mit dem Haushalt eines 
größeren Grundbesitzers oder wohibenenden Kaufmanns. hat hier wohl 
kaum bestanden. 


Fine ebenso gründliche wie ec Schilderung ist dem 
Gast- und Herbergswesen gewidmet.) Die gewerbliche Ausübung 
der Gastlichkeit gegen ‚Bezahlung ist naturgemäß erst in entwickel- 
. teren Verhältnissen langsam in einem dem Verkehr entsprechenden 
Maße ausgebildet worden. Vordem mußte die in allen Frühzeiten sehr 
ernstgenommene allgemeine Pflicht der Gastfreundschaft, die später 
auch durch Satzungen erneuert wurde, aushelien; dazu kam der staat- 
liche Anspruch auf Gastung, den Könize und ihre Boten und Beamte 
genossen, sowie die weitgehende Gastlichkeit der Kirche. Pilger-, 
Armen- und Elendenherbergen sind von Privaten oder Städten viel- 
fach gestiftet worden. Tabernen nach römischem Muster, d. h. Schank- 
wirtschaften mit Krambetrieb, sind wahrscheinlich nach der Völker- 
Wanderung zuerst im Rheinland aufgekommen: ihre Existenz wird bis 
zum Ende des 8. Jahrhunderts zurückveriolgt. Neben dem bestän- 
digen Ausschank in der Taberne kommen in städischer Zeit periodisch 
vor: das freie Ausschenken von Eigengewäochs zu beliebigem Preis, 
wozu jeder Bürger berechtigt war, der Ausschank durch gewerbliche 
Zapfer und der monopolistische Ausschank von Bannwein und Grut- 
bier durch Grundherrschaften. 


2) Abicht, Max, Ein herzogl. Wirtschaftsbuch aus d. jahren 1372 u. 
1373. EH des Gesch.- u. Altertums-Vereins zu Liegnitz, Heft 9, (1922/23), 
223--3 

10) Kachel, Johanna, Herberge u. Gastwirtschaft in DL bis zum 17. 
Jahrh. Stuttgart, Kohlhammer, XII. 193 S. (= Beihefte z. Vierteljahrsschrift 
f. Soc.- u. Wirtschaftsgesch. 3). 


138 


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Die Tabernen kommen anfangs nur vereinzelt vor und sind 
recht primitiv eingerichtet. Mit dem Aufkommen der Städte, dem. zu- 
nehmenden Verkehr und der Abnahme der ireiwilligen Gastfreund- 
schaft aber werden die Wirtshäuser zahlreicher und entsprechen, 
wenigstens in den größeren Städten, mehr und mehr den Bedürfnissen 
und Bequemlichkeiten der. Gäste. Es werden Wirtsordn‘ngen erlassen 
und der Gastwirt, der die Konzession erhalten will, wird auf ihre 
Innehaltung und die Abgabe des Ungelds, der Getränkesteuer, ver- 
eidigt. Immerhin bestehen neben der privatgewerblichen Gastwirt- 
schaft, deren Wesen und Betrieb eingehend geschildert wird, -vielerlei 
korporative Veranstaltungen dieser Art: der Ausschank der Klöster 
und geistlichen Immunitäten, die städtischen Wein- und Bierhäuser 
oder Ratskeller, die Zunftstuben, Gewerbetrinkstuben und Gesellen- 
herbergen. 


Zusammenfassend erkennt man die seit dem Mittelalter ständig 
abnehmende Bedeutung des Herbergswesens, das eine organisierte. 
Fortsetzung der von alters üblichen freiwilligen Gastfreundschaft war, 
und bei dem Unterkunft und Verpflegung unentgeltlich, später (Ge- 
sellenherbergen) gegen geringes Entgelt gewährt wurden. Es ist in 
neuester Zeit in den Herbergen zur Heimat und den Jugendherbergen 
aufgelebt. Umgekehrt hat die als gewinnbringendes Gewerbe betrie- 
bene Gastwirtschaft eine aufsteigende Entwicklung, die mit den großen 
Fortschritten im Verkehrswesen und der Zunahme von Bevölkerung 
und Wohlstand in den letzten 100 Jahren eine rapide geworden ist. 

Die Arbeit stützt sich auf eine umfassende Ausnutzung ge- 
druckter Quellen und auf eine ansehnliche Literatur, im übrigen ist 


das ungedruckte Material des Essener Stadtarchivs benutzt. 


€) Gewerbegeschichte. 


Einen ausgezeichneten Beitrag zur Gewerbegeschichte gibt Dr. 
Horst Jecht”) in der Fortsetzung seiner im vorigen Jahresbericht 
(S. 156) bereits angezeigten Arbeit über die Oberlausitzer Tuch- 
macherei. Dieses Gewerbe hat auf der Grundlage einer starken Woll- 
erzeugung in den Städten der Oberlausitz, vor allem in Görlitz, im aus- 
gehenden Mittelalter eine hohe Blüte erreicht; J. kann, gestützt auf 
sorgfältige statistische Nachforschungen und Vergleiche, mit Fug iest- 
stellen, daß die Görlitzer Tuchweberei damals auf einer Stufe stand 
mit den wenigen anderen Mittelpunkten des Textilgewerbes, die be- 
reits im Mittelalter für einen ganz großen Absatzmarkt arbeiteten: 
der Florentiner und der 'Flandrischen Wollenindustrie, der Seiden- 
industrie von Genua und Venedig, der Ulmer und Augsburger Baum- 
wollweberei, und daß sie die Produktion der größten westdeutschen 
Weberstadt, Köln, weit übertraf. Das wirtschaftliche Schwergewicht 
lag in den großen Betrieben einzelner Meister, die schon stark den 
Charakter von kapitalistischen Unternehmungen trugen, indem in be- 


1) Jecht, H., Beiträge zur Gesch. d. ostdeutschen Waidhandels und 
Tuchmachergewerbes. II. Neues Lausitz: Mag. 100, 57—134. Görlitz 1924. 


139 


sonderen, von der Wohnung getrennten Werkstätten die ganze Tuch- 
bereitung vom Schlagen der Wolle bis zum Scheren des fertigen Stücks 
(mit Ausnahme des Walkens) durch eine große Zahl abhängiger Hilfs- 
kräfte unter weitgehender Arbeitszerlegung ausgeführt wurde, und 
der Meister selbst sich meist auf die Leitung beschränkte, ohne dauernd 
mit Hand anzulegen. AHerdings trat im 16. Jahrhundert ein völliger 
Umschwung ein, vornehmlich infolge des Vordringens der westeuro- 
päischen Konkurrenz mit ihrer fortgeschrittenen Technik der Verar- 
'beitung. Das Görlitzer Gewerbe sank damit auf den üblichen zunit- 
mäßigen Durchschnitt, die großen Betriebe verschwanden, die Zahi 
der Meister, die im Anfang des 16. Jahrhunderts etwa 250 betragen 
hatte, stieg jedoch und erreichte 1726 mit 489 ihren Höchststand. 

Auch der Handel zeigt große Schwankungen. Die Berechtigung 
zum Detailhandel, dem Gewandschnitt, war lange Zeit umstritten zwi- 
schen den Bürgerkaufleuten und den Tuchmachern, bis diese im 16. 
Jahrhundert siegten. Die Blütezeit des Gewerbes hat auch im 15. und 
Ip Jahrhundert für kurze Zeit einen einheimischen Großhandel ent- 
stehen lassen: reiche Kaufherren,.die sowohl den Wollhandel wie der 
Tuchexport betrieben. Im .17. Jahrhundert jedoch gewannen vorwie- 
gend Nürnberger Verleger den Absatz Oberlausitzer Tuche. 

Übrigens sind die Entwicklungsmomente von Gewerbe wie auch 
Handel in den einzelnen Städten des Landes durchaus verschieden, ia 
teilweise entgegengesetzt, und es zeigt auch diese sorgfältige Unter- 
suchung wiederum, daß die gewerblichen Verhältnisse außerordentlich 
vielgestaltig sind, und daß wir nicht einzelne Beispiele als typisch auf- 
fassen und ihre Bedeutung verallgemeinern können. 


' Auf das nächstwichtige Textilgewerbe der Oberlausitz, die 
Leinweberei, fallen gleichfalls bezeichnende Lichter. Die Verhält- 
nisse in den beiden Textilgewerben unterscheiden sich schon darin, daB 
der Tuchmacher die Wolle roh einkauft und sie durch Lohnarbeiterinnen 
verspinnen läßt, während der Leinweber meist erst das fertig ver- 
sponnene Garn einkauft. Da der Tuchmacher auch die übrigen Hilfs- 
tätigkeiten, wie Wolischlagen und kämmen, durch abhängige Arbeits- 
kraft besorgen läßt, so liegt da die Möglichkeit der Entwicklung zum 
Großgewerbe vor, die der Leinweberei ganz fehlt. Diese ist in der 
Oberlausitz lange Zeit fast ausschließlich Sache des ländlichen Haus- 
fleißes gewesen; das städtische Gewerbe hat sich erst seit der Mitte 
des 16. Jahrhunderts, dann aber sehr rasch entwickelt, und zwar in- 
folge der Verbindung mit fremden Verlegern. In Löbau”) entstand 
gegen Ende jenes Jahrhunderts eine Innung der Leinweber, die bald 
70, in ihren besten Zeiten 100 Meister umfaßte. Als Verleger treten 
auch hier zunächst Nürnberger auf, dann auch Zittauer und Hamburger. 
Seit 1704 aber gab es in Löbau selbst eine Handlunggssozietät, die 
den Vertrieb der Leinwand aus Stadt und Umgegend besorgte. „Das 
Emporkommen und der Bestand dieser ganzen: Leinenindustrie Nng 


2) Staudinger, H. O., Die Löbauer Leinenweberei u. d. eege 
handel. Neues Laus Mag. 100, 141—72. VÉ 


140 


zanz vom Absatz nach den amerikanischen Kolonien ab; die Kontinen- 
talsperre vernichtete den Leinwandhandel nach England und Spanien 
und die maschinelle le hat dann das Gewerbe nicht mehr 
hochkommen lassen. 

Aus den Innungsakten seiner Stadt, Mühlhausen in Thüringen, 
bringt E. Brinkmann’?) Beiträge zu der Geschichte der Schneider- 


Innung und der Bäcker-Zunft, die allerlei kulturgeschichtlich Be- 


merkenswertes enthalten. Aus den vorangestellten allgemeinen Dar- 
legungen sei erwähnt, daß 1599 70 v. H. der Stadtbevölkerung dem 
Handwerkerstande zugehörte. Ein Vergleich der aus jener Zeit er- 
brachten Zahlen mit denen von 1853 läßt erkennen, daß 1599 die 
Nahrungsgewerbe der Fleischer, Bäcker und Müller, ferner die Weber, 
Kürschner und Schmiede wesentlich zahlreicher waren als 1853, daß 
dagegen im letzteren Jahre die Schuhmacher, Schneider, Färber, 
Seiler, Tischler, Glaser weitaus stärker waren, abgesehen davon, daß 
natürlich die Zahl der Gewerbe sich inzwischen beträchtlich ver- 
mehrt hatte. 

Fine Monographie ist dem Nürnberger Bäckerhandwerk ge- 
widmet.) Die Organisation, Ratsvertretung, Meisterrecht, Gesellen- 
und Lehrlingswesen, sowie die Betriebswirtschaft des Handwerks 
werden sorgfältig untersucht, daneben wird der öffentlichen Regelung 


der Brottaxe, der „Raitung“, eine ausgiebige, mit vielen Zahlenan- 
gaben belegte Schilderung gewidmet. Die Zwangsbrottaxe ist erst 


1869, lange nachdem der Brotverkehr freigegeben war, aufgehoben 
und damit ein mehrhundertjähriger Streit zwischen Konsumenten- und 


Produzenteninteressen, zwischen Handwerk und Obrigkeit beendigt, 
die Preisregelung der freien Konkurrenz überlassen worden. 


In ein naturgemäß wenig beachtetes Gebiet der Gewerbege- 
schichte leuchtet Karl Bücher") mit einer kurzen Abhandlung hin- 
ein, indem er, meist nach Frankfurter Urkunden, über solche Hand- 
werke des 14. und 15. Jahrhunderts unterrichtet, die nicht zu voller 
Zunftverfassung gelangt, vielmehr der Bedarfsverschiebung zum Opfer 
gefallen sind, ehe sie ausgereift waren. Es sind dies: die Becherer 
(Hersteller von: Holzbechern), die Schilder oder Schildmacher, die 
Holzschuhmacher, die Schuhepper oder Altschuhmacher oder Ruysen 
und die Pergamenter. ` 


dl Geld- und: Zahlungswesen. 


Für das deutsche Geldwesen des Mittelalters fehlt noch eine um- 
iassende zusammenhängende Darstellung. In der Sammlung der von 
Georg von Schanz begründeten Wirtschafts- und Verwaltungsstudien 
ist nun eine umfangreiche Arbeit erschienen, die an der Geschichte 


1) Brinkmann, Ernst, Aus dem Zunitwesen d. Reichsstadt - Mühl- 
hausen. Mühlhaus. Geschichtsbll. 24, 100—24. 


4) Hammerbacher, G. J., Die Becken in d. Reichsstadt Nürnberg. 
E wirtsch.-geschichtl., gewerbe-polit. Zusfassg. Nürnberg, Koch, XII, 112 S. 


15) Bücher, K., Untergegangene Handwerke. Zt. f. d. gesamte Staats- 
wissensch. Tübingen. 78, 435 A2. 


141 


des Denars den Entwicklungsgang des deutschen mittelalterlichen 
Geld- und Münzwesens fortlaufend zu schildern versucht. 16) Solche 
Zusammenfassung kann aber nur dann ihren Zweck erfüllen, wenn 
alle bis dahin erreichten Forschungsergebnisse verwendet werden, 
Dies ist hier leider nicht geschehen, die neuere Literatur (nach 1913) 
ist kaum berücksichtigt und vor allem ist Dopsch gar nicht beachtet, 
der doch eine ganz neue Auffassung der älteren Zeit bringt. Man 
müßte in einer um mehrere Jahre später erschienenen zusammen- 
fassenden Arbeit mindestens eine Stellungnahme dazu erwarten. 
Leider ist die vorliegende Arbeit dadurch schon alsbald überholt und 
es erübrigt sich hier nur noch, ihren Inhalt kurz anzudeuten. 

Die Darstellung behandelt hauptsächlich die Zeit von 800 bis 
1300, in der der Denar der alleinige Vertreter des geprägten Geldes 
gewesen ist, der neben der Barrenwährung seinen Platz im Zahlungs- 
verkehr behauptete. Nach der Ausbildung einer selbständigen Silber- 
währung mit dem Denar als allein geprägter Münze im Reiche Karls 
des Großen wird die Entwicklung des Geldwesens in Deutschland 
verfolgt: der Denar als zeitlich und örtlich beschränktes Geld des 
Marktverkehrs zur Zeit der Schatzpraxis (850—1050), seine Entwick- 
lung zum Umlaufsgeld unter Ausbildung der Barrenwährung (1050 bis 
1150), sodann die Umbildung des Denars zum Landesgeld als Unter- 
abteilung der Barrenwährung (1150—1280) und der Zerfall der Denar- 
währung (1280—1350). | 

Als im 14. Jahrhundert die Prägung großer Siibermänzen und 
Goldmünzen aufkam, verlor der Denar seine selbständige Stellung und 
wurde als Unterabteilung dieser Münzen, als Scheidemünze, in das 
Geldsystem eingeordnet. Doch war seine Bedeutung auch jetzt noch 
so groß, daß er entscheidend für die Ausgestaltung des Geldwesens 
in dieser Zeit blieb. Die politische Zersplitterung und die Schwäche 
der Reichsgewalt hat die als bitter notwendig erkannte einheitliche 
Ordnung des Geldwesens immer hinausgezögert, bis endlich nach vielen 
Anläufen die Reichsmünzordnung von 1559 sie brachte und der Denar 
als Reichmünze zu bestehen aufhörte. Er wurde seitdem nur unter- 
wertig als Scheidemünze geprägt, die ein ganz beschränktes Umlaufs- 
gebiet im Lokalverkehr des Territoriums, in dem sie geprägt wurde, 
hatte. 

Einer Quellensammlung erfreut sich nun auch die ältere Münz- 
geschichte, wie solche für die politische, die Rechts- und Verfassungs- 
geschichte schon vorhanden sind.) Die Urkunden sind, soweit sich 
erkennen läßt, mit großer Umsicht ausgewählt, die deutsche Münzge- 
schichte steht im Mittelpunkt, aber die Tatsache, daß die germanisch- 
romanische Welt eine große Einheit bildete, ist gleichfalls berück- 
sichtigt. Die Urkunden verteilen sich auf die Zeit vom 5. Jahrhundert 
bis 1509. Über den Inhalt und die Anordnung möge eine Übersicht der 


16) Born, E., Das Zeitalter d. Denars. Ein Beitrag zur Geld- u. Münz-. 
gesch. d. Mittelalters. Leipzig, Deichert. XVII, 490 S. ` 

17) Jesse, W., Quellenbuch zur Münz- u. Geldgesch. des Mittelalters. 
Halle, Riechmann. XX, 320 S. 


142 


Abschnitte unterrichten: 1. Münzwesen der Völkerwanderungsreiche, 
der germanischen Volksrechte, Merowinger, Angelsachsen; 2. Karo- 
linger; 3. Münzrecht der deutschen Könige; 4. deutsche Städte; 5. der 


deutsche Pfennig; 6. Frankreich, Italien, England, nordische Länder im 
11. bis 13. Jahrhundert; 7. Groschenmünze; 8. Goldmünzen seit dem ` 


13. Jahrhundert; 9. Deutschland im 14. und 15. Jahrhundert; 10. Frank- 
reich, Niederlande, England, Italien, nordische Länder im 14. und 15. 
Jahrhundert. . Diesen in der Zeitfolge geordneten Teilen schließen sich 
ergänzend einige begriffliche Übersichten an: 11. Münz-Vereinigungen 
und -Verträge in Deutschland und anderen Ländern; 12. Betrieb und 
Organisation der Münze, Hausgenossen und Technik; 13. Münzpro- 
bierungen und -Valvationen; 14. die Münze als Zahlungsmittel, Preise, 
Rechnungen: ‚15. die Münze in der Dichtung und wissenschaftlichen 
Literatur. Ein chronologisches Verzeichnis der Urkunden dient da- 
neben als Richtweiser. Die auf S. 281—312 zusammengestellten An- 
merkungen und Hinweise bieten neben den reichhaltigen Literatur- 
angaben auch geschichtliche Erläuterungen und schließlich vollenden 
16 Bildertafeln den reichen Lehrstoff des Buches. Dieses ist nach In- 
halt und Ausstattung eine hervorragende Leistung. 

In den italienischen Städten, wo die Formen der öffentlichen 
Kreditbeschaffung zuerst entwickelt wurden, findet sich vorzugsweise 
die sog. Buchschuld; in einigen lombardischen Städten, Mailand, 
Como, Novara, seit der Mitte des 13. Jahrhundert auch die Ausgabe 
einzelner Schuldscheine.'?) Diese Obligationen waren gesetzliche Zah- 
lungsmittel, die im. privaten Geschäftsverkehr, wie am Beispiel von 
Como gezeigt wird, nur unter Mitwirkung einer staatlichen Kom- 
mission umgesetzt werden konnten. In Verträgen konnte allerdings 
durch eine Klausel die Zahlung in: klingender Münze ausbedungen und 
die in Staatsschuldscheinen abgelehnt werden. Ein Zwangskurs für 


diese war auch in Mailand nicht durchzusetzen. Die regelmäßig vor- . 


gesehene Wiedereinlösung der Obligationen sollte in Como und Mai- 
land durch die Erhebung besonderer Steuern ermöglicht werden, in 
Novara wurden dazu bestimmte städtische Einkünfte angewiesen. 


e) Neuere Zeit. 


| In Fortsetzung ihrer schon vorher hier besprochenen Arbeiten 


untersucht Frl. v. Ranke Kölns binnendeutschen Verkehr im 16. und 
17. Jahrhundert.'?) Die Abhandlung betrachtet die Verkehrsbeziehungen 
Kölns mit dem Wesergebiet, Mitteldeutschland (Leipzig, Naumburg, 
Erfurt), Schlesien, Böhmen, Brandenburg, Westfalen. Es ist nicht er- 
sichtlich, warum das nachbarliche Westfalen, zudem getrennt von dem 
anschließenden Wesergebiet, hier an letzter Stelle behandelt wird; 
m. E. sollte man scheiden zwischen dem Nahverkehr, der sich vor- 
wiegend auf lokalen Märkten abspielt, und den weiterreichenden Be- 


18) Wackernagel, J., Städtische Schuldscheine als Zahlungsmittel 
im 13. Jahrh, Beihefte z. Viertelischr. f. Soc.- u. Wirtschaftsgesch. II, 3—32. 

1) Ranke, E v., Kölns binnendeutscher Verkehr im 16. u. 17. Jahrh. 
Hans. Geschichtsbibl. 49, 64—77. Vgl. Jahresberichte vorigen Jahrgang S. 157. 


143 


ziehungen, die durch den regelmäßigen Besuch der großen Messen, 
vornehmlich Frankfurt a. M. und Leipzig, unterhalten wurden. Man 
würde auch gern etwas über Warenmengen erfahren. Überhaupt 
könnte die Darstellung, die aus den reichen Quellen des Kölner Stadt- 
archivs schöpft, wohl wesentlich mehr bringen als diese knappen Auf- 
zählungen. Sie brechen ab mit der kurzen Feststellung, daß der 30- 
jährige Krieg in den Beziehungen zu Westfalen „einen Riß verur- 
sacht“ habe; aber das kann doch nur zeitweilig gewesen sein und 
wie war es nachher? Warum sind überhaupt Akten des .17. Jahr- 
hunderts so wenig benutzt und nur aus den ersten Jahrzehnten? 


Über die Geschichte der städtischen Verwaltung und Wirtschait 
sind zwar zahlreiche Untersuchungen angestellt worden, sie beschäf- 
tigen sich jedoch vorzugsweise mit den früheren Zeiten, in denen die 
Probleme des Werdens noch eine Rolle spielen und in denen die Stadt 
selbständige Vertreterin einer fortgeschrittenen Wirtschafts- und 
Finanzpolitik war. Seitdem der moderne Staat sie zu einem abhän- 
gigen Gliede seines umfassenderen Organismus gemacht hat, tritt das 
geschichtliche Interesse an den städtischen Einrichtungen naturgemäß 
zurück, zumal da auch die große Fülle des aus diesem Zeitraum auf- 
bewahrten urkundlichen Materials und dessen eintöniger Charakter von 
Untersuchungen abschreckte. Man wird es daher begrüßen können, 
daß ein bestimmter Anlaß Gelegenheit bot, die Wirtschaft einer grö- 
Beren Stadt in der Zeit des Absolutismus zu untersuchen.) Es han- 
delt sich um die Stadtwirtschaft Königsbergs von der ihr durch 
Friedrich Wilhelm]. aufgenötigten Vereinigung der bis dahin getrennten 
drei Städte (Altstadt, Kneiphof, Löbenicht) mit ihren Vorstädten 
zu einem Gemeinwesen, die 1724 vollzogen wurde und deren zwei- 
hundertjährigem Gedenken diese Schrift gilt, bis zur Einführung der 
Selbstverwaltung 1808. 


Der Verfasser hat mit entsagungsvollem Fleiße gewaltige 
Massen von Akten vornehmlich des Königsberger Stadtarchivs, sowie 
des dortigen Kaufmännischen Archivs und des Berliner Geh. Staats- 
archivs durchgearbeitet und im Einzelnen vieles zu Tage gefördert, was 
auch allgemein kulturgeschichtlichen Wert hat, so über die bäuer- 
lichen Verhältnisse auf den Kämmerei-Besitzungen oder über das 
Schulwesen. Aber er hat es unterlassen, aus der erdrückenden Masse 
des Einzelnen und großenteils nur lokalgeschichtlich Bemerkenswerten 
zusammenfassende Ergebnisse herauszuholen. So ist vor allem nicht 
eine Gesamtübersicht des städtischen Haushalts gegeben worden, was 
aus den Akten für beliebige Jahre sich hätte unschwer herstellen lassen 
und was erst eine greifbare Vorstellung von der städtischen Wirtschaft 
gegeben hätte. So können wir auch nicht entnehmen, in welchem 
Verhältnis etwa die Einnahmen aus Grundbesitz zu denen aus Ge- 
werbe und Handel standen. Es wird nur eine Übersicht über die ge- 
samten Einnahmen und Ausgaben (S. 176f.) und über die Aktiva und 


2) Meyhöfer, Max, Königsbergs Stadtwirtschaft seit 1724 bis zur 
Einführung d. Selbstverwaltg. Königsberg, Gräfe u. Unzer. 210 S. 1924. 


144 


Ce rege 


Passiva (S. 182) für eine Reihe von Jahren gegeben; aber auch diese 
vermögen kein klares Bild herzustellen von der finanzwirtschaftlichen 
Tätigkeit, den Etat zu balancieren. ` | 

Im einzelnen sei nur bemerkt, daß das, was auf S. 114f. vom 
preußischen Salzregal, gesagt wird, irrig ist: Das Monopol des Halle- 
schen Domänensalzes ist durch Friedrich Wilhelm I. in schroffster 
Weise durchgeführt worden und das fremde Seesalz war nur für den 
polnischen Handel erlaubt. 

Die Zeit des Merkantilismus weist eine große Reihe von Aben- 
teurern der ‚Wissenschaft auf, die ihr Glück zu machen suchten, indem 
sie ihre Ideen und Kenntnisse dem allmächtig gewordenen Staat an- 
boten, indem sie den Fürsten mit ihren Ratschlägen wahre Goldgruben 
zu eröffnen und den Stein der Weisen zu verschaffen versprachen. 
Zu diesen Adepten der werdenden Wirtschaftswissenschaft, deren be- 
deutendster in Deutschland J. J. Becher war, gehört auch der Königs- 
berger Theod. Ludw. Lau, der durch eine kleine Studie als „einer der 
interessantesten Wirtschaftsdenker der vorklassischen Zeit“ an das 
Tageslicht gezogen wird.) Nachdem er viel gereist und studiert, 
stand er im Anfang des 18. Jahrhunderts ein Jahrzehnt im Dienste des 
Herzogs von Kurland und führte danach als freier Denker und Schrift- 
steller ein ungeregeltes Leben. Seine seit 1717 erscheinenden Schriften 

behandeln das Finanz- und Steuerwesen, daneben findet sich der „Ent- 

wurf einer wohleingerichteten Polizey“ und „Politische Gedanken“, 
endlich (1738) der Entwurf zu einem „Welt-Magazin“, einem System 
der Wirtschaftswissenschaft, für die er anscheinend als erster Deut- 
scher die Bezeichnung „Nationalökonomie“ gebraucht. 

Werner Sombart hat in seinem Buche „die Juden und das Wirt- 
schaftsleben‘“ die These aufgestellt, daß den Juden eine überragende Be- 
deutung für den Entwicklungsgang des modernen Staates zuzumessen 
sei, weil sie im 16. bis 18. Jahrhundert die einflußreichsten Heeres- 
heferanten und leistungsfähigsten Geldgeber der Fürsten gewesen seien. 
Fine in Schanz’ Finanzarchiv veröffentlichte Arbeit??) stellt sich zur 
Aufgabe, zu untersuchen, wieweit das im Bayern des 18. Jahrhunderts 
den Tatsachen entspricht. Es werden darin zwei Fälle behandelt: die 
Schuldenverträge, die der bayrische Hof 1722 und in den folgenden 
Jahren mit‘ den Juden Noe Samuel Israel aus Sulzbach und Wolf 
Wertheimer aus Wien schloß, und die Behandlung dieser Schulden- 
sachen in den nachfolgenden Jahrzehnten. Beide zeigen indessen nur, 
wie leichtfertig und gewissenlos die Finanzwirtschaft dort — wie bei 
den zahllosen anderen Nachäffern des Sonnenkönigs im Zeitalter des 
absolutistischen Machtdünkels — war, wo man, um eine Hochzeit im 
fürstlichen Hause mit verschwenderischer Pracht feiern zu können, 
allerlei merkwürdige Abmachungen mit jüdischen Geldgebern einging 
und nachher hauptsächlich die Sorge hatte, die Wucherer wiederum 


21) Zielenziger, K., Theod. Ludw. Lau. Ein Beitrag z. deutschen 
Wirtschaftsgesch. Jahrb. f. Nationalökon. u. Statist. 122, 22——34. Jena. 
2) Sundheimer, P., Die jüdische Hochfinanz u. d. bayer. Staat im 


18 Jahrh. Finanzarchiv 41, 1—44. Stuttgart u. Berlin. 


0 145. 


zu prellen. Dieses gelang auch teilweise, da der Staat die Justiz und — 
die Geistlichkeit an der Hand hatte und der kontrahierende Privat- 
mann daher immer den kürzeren zog. Für die von Sombart aufge- 
worfene Frage haben diese wenig schönen Vorgänge keinerlei Be- 
deutung. 

Die Finanzkatastrophen, die der ästerreichische Staat vor mehr 
als einem Jahrhundert infolge seiner zahlreichen Kriege gegen Frank- 
reich — von den 24 Jahren von 1792—1815 waren 13 Kriegsjahre — 
erlitten hat, sind schon mehrfach dargestellt worden. Größere Be- 
achtung hat vor allem der offene Staatsbankerott von 1811 gefunden, 
wogegen der schon nach etwas über 5 Jahren wieder eintretende 
Staatsbankerott aus dem Grunde mehr zurücktritt, weil er ein ver- 
steckter war, weil die wesentlich günstigere allgemeine Lage des 
Staates es erlaubte, ihn durch eine Reihe von Maßnahmen so zu ver- 
hüllen, daß seine wahre Bedeutung kaum sogleich klar erfaßt wurde. ` 
Dieses Experiment ist aber eben um deswillen von besonderem-finanz- 
technischen Interesse. Es kam darauf an, die Durchführung des un- 
vermeidlich gewordenen teilweisen Staatsbankerotts für die von ihm 
Betroffenen möglichst wenig empfindlich zu machen, und es gelang 
dem Staate unter der Leitung des Finanzministers Grafen ‚Stadion, 
dureh die Gründung der priv. österreichischen Nationalbank, der spä- 
teren österreichisch-ungarischen Bank, und durch die Ausgabe von ge- 
deckten Banknoten sich aus allen Nöten heil herauszuziehen. Nach 
einem fehlgeschlagenen Versuch der allmählichen freiwilligen Ein- 
lösung des Papiergelds griff man zu einer eigentümlichen, als „ATTO- 
sierung“ bezeichneten Maßregel, die eine Anleihe in der Form der Zu- 
zahlung zu älteren entwerteten Obligationen darstellt, damit diese vom 
Staate wieder in ihrem vollen ursprünglichen Werte anerkannt werden. 
Diese Sanierung und ihre Wirkungen, zugleich mit einem Überblick 
über die Finanzgeschichte der ganzen Zeit und die Misere des Papier- 
geldes ist in einer sehr gründlichen und lichtvollen Abhandlung dar- 
gelegt und dabei vieles neu an das Licht gezogen oder richtig gestellt") 


f) Soziale Probleme. 


Das Buch des ehemaligen sozialdemokratischen Abgeordneten 
und jetzigen Hochschullehrers in Frankfurta. M., Max Quarck, über die 
erste deutsche Arbeiterbewegung”) ist die Neuauflage einer im Jahre 
1900 herausgegebenen Schrift, die hauptsächlich eine Auswahl von 
Originalproben aus der Zeitschrift der ersten größeren Organisation 
„Die Arbeiterverbrüderung‘“ gab. Es ist nun unter Heranziehung alles 
erreichbaren Quellenmaterials ein ganz neues Buch, eine ausführliche 
Darstellung der Geschichte der Arbeiterbewegung von 1848/49 daraus 
geworden. Der vierte Stand, dessen Bestrebungen in der französi- 
schen Revolution von 1848 schon sehr bestimmend in den Vorder- 
grund treten, war in Deutschland damals noch gering an Zahl, ohne 

22) Fischer, E., Der Staatsbankerott von 1816 u. die Sanierung der 
österr. Finanzen nach d. Napoleon. Kriegen. Zeitschr. f. Volkswirtschaft und 
Sozialpolitik. Wien. N. F. 4, 252—317. 


146 


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Klasserdewußtsein und ohne Organisation. Berlin war noch eine 
Handwerkerstadt, von deren 390000 Einwohnern etwa 200000 zum 
Handwerk gehörten, während die Zahl der industriellen Lohnarbeiter 
nur 14500 betrug. 

Im April 1848 entstanden die ersten selbständigen Arbeiter- 
vereine in Berlin, Köln, Frankfurt a. M., Breslau, und wurde ein Zen- 
tralkomitee für die Arbeiterbewegung in Berlin gebildet. Waren es 
in früheren Jahrhunderten Weber und Bergleute, so jetzt Schneider 
und Buchdrucker, die an der Spitze der um ihre Daseinsrechte 
kämpfenden Arbeiter stehen. 

Das geistige Rüstzeug mußten natürlich vorwiegend Akademiker 
liefern; die geistigen Führer Marx und Engels waren keine Arbeiter, 
im Berliner Zentralkomitee waren unter 7 Mitgliedern 3 Akademiker, 
in Breslau führte der schon 72jährige Universitätsprofessor Nees von 
Esenbeck, der Präsident des ersten deutschen Arbeiterkongresses in 
Berlin im August 1848. Die treibende Persönlichkeit in der deutschen 
Bewegung war aber der junge Schriftsetzer Stephan Born (1824 
1900), der als Vorsitzender des Zentralkomitees (seit 1. Oktober 1848 
in Leipzig) die eigentlichen Geschäfte führte und die Publizistik leitete. 
Auf dem Berliner Arbeiterkongreß im August 1848 wurde eine gesamt- 
deutsche Organisation, „die Arbeiterverbrüderung“, geschaffen, und 
seit Oktober erschien als ihr Organ die Zeitschrift „Verbrüderung“ 
unter Borns Leitung; aus ihren hier mitgeteilten Proben ist besonders 
interessant, wie sie die Frankfurter Nationalversammlung wegen ihrer 
reaktionären Haltung ‘im Februar 1849 leidenschaftlich verdammt. 
Born ist nach Teilnahme am Dresdener Maiaufstand in der Schweiz 
verschwunden, hat studiert und dann ein stilles Leben als .demo- 
kratischer Redakteur und Professor in Basel geführt. So war seine 


Tätigkeit zu kurz, um ihm ein Andenken zu sichern; in Deutschland 


aber fielen die Anfänge der Bewegung, ihre Organe und ihre Führer 
im Anfang der 50er Jahre der Reaktion zum Opfer. So schwach und 
kurzlebig diese Bestrebungen auch waren, als Beitrag zur Geschichte 
des tollen Jahres wie zur Theorie und Praxis des Marxismus ist dieses 
Buch von wesentlicher Bedeutung. | 

. Von einer anderen Richtung her wird das soziale Problem in 


einer hier vorliegenden kleinen selbständigen Schrift betrachtet, 


nämlich, wie es sich den vormärzlichen Vertretern der konservativen 
Idee darstellte”). Eine dreifache Einstellung wird unterschieden. 
Der in Hallerschen Gedanken wurzelnde Kreis des Berliner Politi- 
schen Wochenblatts (in den 30er Jahren) vertrat neben egoistisch- 
materialistischen Interessen auch altruistische Ideen, die auf eine pa- 
triarchale Ethik hinausgingen. Von da ausgehend hat Radowitz in 
den 40er Jahren seine höchst bedeutsamen, von seiner Zeit aber 


21 Quarck, Max, Die erste deutsche Arbeiterbewegung. Gesch. der 
Arbeiterverbrüderung 1848/49. Ein Beitrag zur Theorie u. Praxis d. Marxis- 
mus. Leipzig, Hirschfeld. VIII, 400 S. 

®) Goetting, H., Die sozialpolitische Idee in d. konservativen Kreisen 
der vormärzlichen Zeit. Berlin, Ohst. 70 S. l 


um 147 


leider gar nicht gewürdigten Vorschläge entwickelt, die dakin ab- 
zielten, dem Königtum einen sozialen Beruf zuzuweisen, wodurch es 
die arbeitenden Schichten für sich gewinnen und dem Radikalismus 
entreißen sollte Radowitz hat sich ferner lebhaft mit dem Problem 
beschäftigt, die Arbeiter am Unternehmergewinn zu beteiligen und 
dadurch das Proletariat zu beseitigen. Ein zweiter Kreis waren die 
Vorläufer der Christlich-Sozialen, die Vertreter der helfenden Nächsten- 
liebe, der christlichen Liebestätigkeit unter den Armen und Hülflosen. 
Da ist zu nennen der Freiherr v. Kottwitz, der das Problem der 
Arbeitslosenfürsorge tatkräftig angrii, Falk mit seinen. Be- 
strebungen der Rettung sittlich gefährdeter Kinder, Julius und 
Fliedner mit ihrer Gefangenenfürsorge, Amalie Sieveking als 
Begründerin der charitativen Frauenvereine, Freiherr v. Seld und 
andere Gründer der Mäßigkeitsvereine, ‘und vor allem Joh. Heinr. 
Wichern, der Gründer des Rauhen Hauses und der Inneren Mission. 
Die Zahl christlicher Vereine zur Abwehr sittlicher und leiblicher Not 
war schon 1843 unübersehbar angewachsen. Auch der Kampf um 
die Sonntagsruhe wurde von da aus bereits geführt. 

In dritter Linie kommt Victor Aimé Huber in Betracht, der 
geistige Urheber der Genossenschaftsbewegung, zugleich Vertreter . 
einer gesunden Wohnungsreform, neben Radowitz der konstruk- 
tivste Geist. im konservativen Lager. Beide fanden allerdings so 
gut wie kein Verständnis, die spätere Entwicklung aber hat ihren An- 
regungen und Plänen vielfach recht gegeben. 


C. Kapitel VIII. 
Kaai Kultur- und Geistesgeschichte. 


(Andreæ.) 


Das aufregendste Buch — aufregend allerdings oft auch im Sinne 
des zum Widerspruch reizenden — das uns die geisteswissenschaftlich 
gerichtete Kulturgeschichtsschreibung des Berichtsjahres bescherte, 
ist ohne Zweifel H. Cysarz’ „Deutsche Barockdich- 
tung“) Mit einer ungewöhnlichen, bisweilen nicht ohne Koketterie 
zur Schau gestellten, Gelehrsamkeit und Belesenheit, in genialem 
Wurfe, hinter dem freilich als größeres, unerreichtes Vorbild 
Friedrich Gundolfis Werk: „Shakespeare und der 
deutsche Geist“ steht und auf den vielleicht auch Nadlers ge- 
schichtsphilosophische Grundkonzeptionen nicht ohne Einfluß geblieben 
sind, wird das deutsche Literaturbarock eingereiht in den im euro- 
päischen Geisteszusammenhang gesehenen Gesamtablauf der deutschen 
Literaturgeschichte vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, wie das der 
Untertitel: „Renaissance-Barock-Rokoko“ andeutet. Das deutsche 
Literaturbarock wird abgesetzt gegen Renaissance und Klassik oder 


1) Leipzig. Haessel. 311 S. 
748 


vielleicht besser: gegen die beiden Zeitalter des Humanismus und der 
Humanität; denn in der deutschen Literatur, deren „wahre Renais- 
sance“ erst mit den Klassikern des 18. Jahrhunderts ersteht, kann im 
16ten nach C. von einer Renaissance nur in sehr bedingtem 
Sinne die Rede sein. Das 16. Jahrhundert, das „einen innern 
Menschen“ entdeckte, war eine „Epoche der Lebensformen“, 
das 17., eine „Epoche der Kunstformen“, hat den äußern Men- 
schen geprägt. Beide waren Vorbereiter, nicht Erfüller eines 
Ideals, das sich erst in der Lebensform der deutschen Klassik, 
dem „Ethos der Vollender“ losringt „aus einer Woge: religiöser, meta- 
physischer, aesthetischer, moralischer Konflikte.“ In diesem, nament- 
lich durch das Anfangs- und Schlußkapitel gebildeten, weiteren Rahmen 
behandelt C. als eigentliches Thema die geistesgeschichtliche Rolle, 
die dem literarischen Barock als „Pflegerin und Mittlerin der Auf- 
gaben und Fragen vom Zeitalter des Humanismus zu dem der Humani- 
tät“ zufiel. Aber, indem C. mit starker, schon von anderer Seite?) ge- 
rügter EFinseitigkeit das Barock geradezu definiert als den „in 
deutscher Neuzeit ersten, noch nicht. zur Synthesis vordringenden 
Widerstreit zwischen Altertum und Christentum“, vernachlässigt er 
gänzlich die neuerdings als so bedeutsam erkannten irrationalen Züge 
des Barock (vgl. dafür auch das in den Jahresberichten IV, 132f. be- 
sprochene Buch von W. Weisbach: „Der Barock als Kunst 


der Gegenreformation 1921“), für welche die moderne For- 


schung eine von Antike und Renaissance unberührte Entwicklungs- 
linie aufgewiesen hat, die vom Mittelalter über das Barock zu Sturm 
und Drang und Romantik führt. So trägt C. letzten Endes selbst das 
Meiste dazu bei, daß seine anspruchsvoll verkündete Behauptung das 
erste Gesamtbild des deutschen literarischen Barock gezeichnet 
zu haben, nicht standhält.e. Auf Einzelheiten hier noch näher einzu- 
gehen, erscheint unnötig, nachdem J. Körner?) in seiner vortrefflichen 
Besprechung dieses Buches bereits alles Notwendige gesagt hat. Es 
gibt wohl keinen Kritiker, der ohne Ärgernis an der Maniriertheit des 
C.’schen Stiles vorübergegangen wäre. Aber Referent möchte doch 
auf die starke und mitunter sehr glückliche sprachschöpferische Kraft 
C.'s hinweisen, die man ihm auch bei Ablehnung seines Stiles als Ganzes 
zu Gute halten sollte. Referent wehrt sich jedoch mit aller Entschieden- 
heit gegen die nicht gerechtfertigte Überheblichkeit, die mehrfach 
aus C.’s Polemik spricht. Gegenüber dem verdienstvollen Buche von 
Fr. Kammerer: „Zur Geschichte des Landschafts- 
gefühles im frühen 18 Jahrhundert“ (1909) war das ver- 
nichtende Urteil „völliger Unzulänglichkeit‘“ um so weniger am Platz, 
als C. über den in Frage stehenden Punkt schlechterdings nichts ge- 
sagt hat, was über K. hinauszukommen vermöchte — H. A. Korffs 
„Geistder Goethezeit“ ist in seinem ersten, bislang vorliegen- 
den Bande: „Sturm und Drang“ im voriährigen Literaturberichte 


2) Vgl. Josef Körner: Barocke Barockforschung in: Histor. Zeitschr. 
1926. Bd. CXXXIII, 455 ff. | 


149 


(S. 178f.) angezeigt worden. Im Berichtsiahre 1924 veröffentlichte 
derselbe Verfasser aus den Vorstudien zu diesem größeren Werk unter 
dem Titel: „Humanismus und Romantik“) 5 Vorträge, die er 
bereits 1922 als „Lehrgang“ im freien deutschen Hochstift zu Frank- 
furt a. M gehalten hatte. Wissenschaftliche Praetensionen sind an diese 
Veröffentlichung nicht geknüpft. Als gedrängte Zusammenfassung der 
Grundgedanken des „Geistes der Goethezeit“ ist sie zu einer Ein- 
führung in die Lektüre dieses Werkes bestimmt und um so dankbarer 
zu begrüßen, als sie dem Leser schon jetzt eine Vorstellung von den 
noch ausstehenden Bänden: „Klassik“ und „Romantik“ vermittelt. — 
Der gutgemeinte, heimattrunkene Versuch E. Jenals,’) den Grau- 
bündner Dichter von Salis-Seewis unter Eingliederung in die 
schweizerische Geistesbewegung des 18 Jahrhun- 
derts neu zu „deuten“, darf an dieser Stelle nur genannt werden 
als ein wohl nicht allein dastehendes Beispiel für die Verwirrung, 
welche die moderne Literaturwissenschaft in naiven Gemütern anzu- 
richten vermag. Johann Gaudenz von -Salis-Seewis in allen. Ehren! 
Aber hätte sich seine Größe zweiten Ranges nicht etwas einfacher und 
auch zweckentsprechender abmachen lassen als mit „Mythos“, „Heros“, 
„Eros“, „Gestalt“, „Ganzheit“ u. dgl.? - 

Die Entstehungsgeschichte deutschen Nationalgefühls in den Elb- 
herzogtümern hat in dem Buche des Kieler Universitätsprofessors O. 
Brandt: „Politik und Geistesleben in Schleswig- 
Holsteinumdie Wende des 18. und 19. Jahrhunderts“) 
eine sehr beachtenswerte, das politische Leben geistesgeschichtlich 
breit unterbauende und um dieFreilegung der vielfach verflochtenen all- 
gemein- und provinzial-geschichtlichen Motive dieses Vorganges ener- 
gisch bemühte Darstellung gefunden. Entgegen der bisher geltenden 
Annahme, daß von dem Erwachen eines deutschen Nationalgefühles in 
den Herzogtümern frühestens seit dem Auftreten Dahlmanns (1815) die 
Rede sein könne, führt B. auf Grund von fast unbekannten, unge- 
:druckten Quellen’®), die er in mehrjähriger Durchforschung erschloß, den 
Beweis, daß die Geburtsstunde dieses Nationalgefühls schon in die 
Zeit vor den Befreiungskriegen fällt. Es entsteht um die Jahrhundert- 
wende während der Kämpfe, die die schleswig-holsteinische Ritter- 
schaft zur Aufrechterhaltung ihrer ständischen Rechte gegen die unifi- ` 
zierenden zentralistischen Bestrebungen des aufgeklärten dänischen 
‚Absolutisten Friedrich VI. ausficht und es erwächst aus dem Kreise der 
Menschen, die sich namentlich unter dem Erlebnis der von ihnen ab- 


3) Leipzig. J. J. Weber. 141 S. | 

*) Johann Gaudenz von Salis-Seewis u. d. eidgenössische Wiedergeburt. 
Chur. Schuler. 123 S. 

5) Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart, Berlin, Leipzig. XV, 448 S. mit 
12 Portraittafeln. | 

53) Weitere ungedruckte Quellen für das Brandtsche Thema dürften 
noch in dem Primkenauer Archive liegen, dessen Bestände neuerdings durch 
E. Graber verzeichnet wurden. Vgl.: Die Inventare d. nichtstaatlichen Ar- 
chive Schlesiens. Kreis Sprottau. [Codex diplomaticus Silesiae Bd. XXXII 
Breslau 1925, S. 107 ff. 


150 


—— | a u 


xelehnten französischen Revolution um denFührer der ritterschaftlichen 
Bewegung, den Emkendorfer Grafen F. Reventlow.und seine Gemahlin, 
zunächst auf der religiösen Grundlage einer mit pietistischen.. Ele- 
menten durchsetzten Orthodoxie zusammenfindet. B. darf das Ver- 
dienst für sich in Anspruch nehmen, uns das Wesen und Wirken dieses 
antirationalistischen Kreises durch seine lebendige, die Zusammenhänge 


der Emkendorfer mit der innerdeutschen geistigen Bewegung um 1800 
geschickt herausarbeitende Schilderung zum ersten Male deutlich 
sichtbar und damit unsere bisherige Ansicht von der schleswig-hol- 


steinischen Geisteskultur dieser Zeit — die vornehmlich, auf Hans 
Schulzs Veröffentlichungen aus den. Papieren des ratifnalistischen 
Kreises Friedrich Christians zu Schleswig-Holstein beruhte — 
wesentlich bereichert zu haben. Wie die deutsche Romantik 
ihre mittelalterlich-ständischen Ideale auf dem Grunde religi- 
öser Erneuerung zu verwirklichen bestrebt war, so steht auch 
der Ständekampf der unter Emkendorfs Führung streitenden 
Ritterschaft auf religiöser Grundlage und ist zugleich der Kampf einer 


antirationalistischen gegen eine rationalistische „Grundanschauung“. 


Dadurch aber, daß die Offensive der zentralistisch-absolutistischen Be- 


strebungen des politischen Rationalismus Friedrichs VI. zusammenfiel 


mit dem Verlangen, in den Herzogtümern der dänischen Nationalität 
ireie Bahn zu schaffen, kam mit der Besinnung der schleswig-hol- 
steinischen Ritterschaft auf ihren deutschen Ursprung in diesen um 


materielle Interessen sich drehenden aber geistig-religiös beflügelten 


Ständekampf ein neues ideelles Motiv. Das gab diesem Ständekampie 


einen Schwung und eine Anziehungskraft, die dann weiter unter dem 
Erlebnis der Befreiungskriege, den Zusammenschluß der älteren kon- 


servativ-ständischen Richtung mit der neuen liberal-demokratischen 


der Dahlmann, Welcker, Lornsen u. s. w. und damit wiederum das 


Durchhalten der deutschen nationalen Bewegung in Schleswig-Holstein 


_ ermöglichten. Ze 


Von dem Grundgedanken ausgehend, daß sich in den Gestalten 


KR Wagners und Fr. Nietzsches „ein wesentlicher Teil der 
Geistesgeschichte des 19 Jahrhunderts symbolhaft 


zusammenballt“, hat K. Hildebrandt seine Darstellung der 
Freund- und Feindschaftsgeschichte dieser beiden Männer, die 
in .der Wagner- und Nietzscheliteratur bisher meist iso- 
bert und einseitig behandelt wurde, in den größeren geistes- 


geschichtlichen. Zusammenhang ihres gemeinsamen (Gegensatzes 


zu ihrem: Zeitalter gestellt.‘) Mit seiner aufs „Mpythische“ 


‘gerichteten Betrachtungsweise, „die der geschichtlichen nicht entgegen- 


gesetzt ist, aber aus deren Wissen heraushebt, was ihr ewig-bedeut- 
sam erscheint“, berührt‘ sich H. mit dem 1919 erschienenen Nietzsche- 
buche E. Bertrams, das den Untertitel: „Versuch einer Mythologie“ 


6) Wagner u. Nietzsche. Ihr Kampf gegen das 19. Jahrhundert. 
Breslau. Hirt. 513 S. — Vgl. auch Hildebrandts Artikel: Fr. Nietzsche. In: 


Mitteldeutsche Lebensbilder, Bd. I, Magdeburg 1926. 


151 


l 
trägt, das, wie das H sche, seine Antriebe und Haltung aus der gei- 
stigen Gemeinschaft des Georgekreises empfing und für die letzten Ein- 
sichten. in den gemeinsamen Helden dem Nietzschebilde der Gedichte 
Stefan Georges zu Heist verpflichtet ist. Wenn aber B.’s Buch ohne 
Rücksicht auf Biographie und Chronologie sich episch-Iyrisch um ein- 
zelne „bildhafte Gedanken“ gruppiert, so folgt der dialektisch-drama- 
“ tische Aufbau der Darstellung H.'s durchaus dem chronoiogischen Ab- 
lauf von W.’s und N.’s Lebensgeschichten. Im Gegensatz zu manchen 
Geschichtskonstruktionen unserer modernen Geisteshistoriker hat man 
bei H. nie das Gefühl, daß der Stoff nur widerstrebend sich der Form 
der Darstellung fügt. Er verteilt sich nicht nur ohne Zwang auf die 
drei großen durch das Thema gegebenen Hauptteile: „W.’s Kampf gegen: 
sein Zeitalter“, — „W. und N. im Bunde‘, — „N. im Kampfe gegen W. 
und das 19. Jahrhundert“ —, sondern gliedert sich auch organisch in 
den einzelnen Kapiteln. Mit Ausnahme des vorletzten deckt sich jedes 
Kapitel mit einein Lebensabschnitt im Sinne einer Entwicklungsepoche 
und wird von einem zentralen, für diese Epoche symbolischen Erleb- 
nis aus durchleuchtet und zu geschlossenem Ganzen gestaltet. Das 
vorletzte Kapitel bereitet dann in zusammenfassender kritischer Prü- 
fung der Unzulänglichkeiten von N.'s Freunden auf die Katastrophe des 
Schlußkapitels: die „Hybris“ in der Selbstvergöttlichung dieses ver- 
einsamten Ich eindringlich vor. Der Großzügigkeit dieses Aufbaues ent- 
spricht die Großzügigkeit der Gestaltung der Handlung, durch wenige 
aber kräftig herausgearbeitete und vielseitig gewendete Antithesen. Von 
Haus und ihrer „ethischen Substanz“ nach Gegensätze finden sich W. — 
der Stiefsohn des Schauspielers und Theatermann — und N. — 
der Pastorensohn und „Prediger von Geblüt“ —- in ihrem gemein- 
samen Gegensatz gegen die Seelen- und Gottlosigkeit der materiali- 
stischen Zivilisation der 70er und 80er Jahre. Sie finden sich auf dem 
gemeinsamen Boden der Begeisterung für Schopenhauer, die Musik 
und die Griechen und sie finden sich in einer Zeit, wo der von N. als 
Heros verehrte Meister dem Theater entfremdet in der „geistigen, ab- 
gesonderten Luft von Tribschen“ lebt. Sie wirken zusammen, so- 
lange der von der „lebendigen Gegenwart“ des großen Mannes ge- 
nährte Freundschaftsrausch anhält, und die Gegensätze verschleiert. 
Sie trennen sich aber, als W. mit der Begründung des Bayreuther 
Festspiel- „Unternehmens“, der Laufbahn des Theatermannes zurück- 
gegeben, seinen Kompromiss mit dem Zeitalter schließt. Der Dar- 
stellung des nun einsetzenden Kampfes N.'s gegen Wagner und das 
19. Jahrhundert weiß H. durch immer neue Wendungen seiner Anti- 
thesen nie erschlaffende dramatische Spannungen zu geben. Da wer- 
den z. B. „Parsifal“ und „Zarathustra“ als zwei symbolische Ziele der 
„erlösungsreligion“ und der „Erfüllungsreligion‘“ einander gegenüber- 
gestellt, oder H. deutet kühn aber mit tiefer Einsicht in die Welt 
N scher Antikenverehrung die Polemik N.’s contra Wagner als.,Agon‘“, 
als Wettkampf im Sinne der Griechen. Den Wagner-Enthusiasten 
wird dies Buch nicht erfreuen. Denn H., der in seinem sicheren und 
noblen Gerechtigkeitsgefühl den Blick für die Größe Wis ebensowenig 


152 


verliert wie den für die Grenzen N.'s, läßt doch keinen Zweifel darüber, 
daß nur das reinere Wollen der sich bis zu den letzten tragischen Kon- 
sequenzen selbstgetreuen Größe N.'s für ihn das vorbildliche sein kann. 
Sein Buch aber schließt er mit den Sätzen: „Heute ist N. das mythische 
Bild deutscher unseliger Einsamkeit. Ob er für die Nation einmal das 
werden wird, was er ist, das deutsche Vorbild der Selbstbesinnung und 
Umkehr, ist noch nicht abzusehen.“ 

Der erste Band von W. Waetzoldt's: „Deutsche Kunst- 
historiker“ (vgl. Jahresber. IV, 129 ff.), in dem die erste Epoche 
deutscher Kunstgeschichtsschreibung (16. bis 18. Jhdt.) zur Darstellung 
gelangt war — einer „in ihren Maßstäben, Methoden und Meinungen 
literarisch-ästhetischen“ Epoche — hatte geschlossen mit K. F. v. Ru- 
mohr, dem ersten Schrittmacher der historisch-fachmännischen Denk- 
weisen, welche die im vorliegenden Bande”) behandelte zweite Epoche, 
das 19. Jahrhundert, beherrschten. Diese zweite Epoche darf heute, 
wo wir „mitten im Übergange von den bisherigen stoffordnenden zu 
neuen formausdeutenden Arbeitsverfahren, von Tatsachenforschung zur 
Begriffsforschung, von europäischen zu weltwissenschaftlichen Per- 
Spektiven" stehen, als abgeschlossen gelten und W. beabsichtigt nicht 
seine Darstellung über den für ihn mit Hermann Grimm und Karl Justi 
erreichten Abschluß hinauszuführen. Da aber — wie er es einmal 
sehr hübsch ausdrückt — keine der kunstgeschichtlichen Ideen der 
führenden Forschergenerationen des 19. Jahrhunderts im Mannesstamme 
erloschen ist, so ergaben sich Anlässe genug, auf die Fortpflanzung | 
dieser Ideen in unsere Zeit hinzuweisen. Wie der erste, so bringt auch 
der zweite Band eine Porträtgalerie der für die Wandlungsgeschichte 
der kunstgeschichtlichen Ideen repräsentativen Persönlichkeiten. Nur 
ist die Zahl der Portraits, dem immer mehr sich einengenden Kreise 
der Kunstliebhaberei zur kunsthistorsichen Fachwissenschaft entspre- 
chend, auf weniger als die Hälfte der im ersten Bande vereinten her- 
-` abegsunken. Stärker als im ersten Bande war W. für die kunsthisto- 
rischen Portraits aus dem‘ 19. Jahrhundert auf ungedruckte Quellen 
(Personalakten, Nachlässe etc.) angewiesen; über die Benutzung der 
gedruckten gibt seine umfangreiche, ausgezeichnet unterrichtende 
Bibliographie Rechenschaft. Auf die Aufnahme von „Assistenzfiguren“ 
~ wurde grundsätzlich verzichtet, doch erscheinen sie gelegentlich in der 
Aura der originalen, Richtungen schaffenden, Persönlichkeiten, denen 
die 11 Portraits der Darstellung gelten. Diese schreitet fort, dem 
großen Zuge der deutschen Geistesgeschichte im 19. Jahrhundert fol- 
gend, von den noch unter „romantischen Gestirnen“ aufwachsenden 
„Kenrern“: Passavant und Waagen über Hothos und Schnaases der 
Hegelzeit entstammende geschichtsphilosophische Methoden zu dem 
Positivismus der Koloff, Springer und Semper, deren Positivismus 
wiederum nach den jeweiligen Berufsstandorten: Museum, Universi- 
tätsseminar, Werkstatt feinfühlig und überzeugend gegeneinander ab- 
gestuit wird. In den beiden letzten Kapiteln treten sich die „namen- 


7) Leipzig. Seemann. 310 S. 
153 


lose“ nach Sachen und Aufgaben orentierte Kunstgeschichtsschreibung 
der F. Kugler und I. Burckhardt und die durch H. Grimm und K. Justi 
vertretene Biographik der großen Namen gegenüber, auchhier wieder 
mit einer an Wölfflins Kunst des Vergleichens geschulten Technik das 
Gegensätzliche und Besondere der Individualitäten auch innerhalb der 
gemeinsamen oder verwandten Richtungen herausarbeitend und 
betonend.. Dadurch aber, daß diese Repräsentanten deutscher 
Kunstwissenschaft niemals isoliert betrachtet, sondern beständig 
verglichen, konstrastiertt und ebenso zu der allgemeinen Geistes- 
geschichte der Zeit wie zu den besonderen Aufgaben der Kunst- 
geschichte in Beziehung gesetzt werden, gelingt es W. nicht nur 
sehr lebendig geschaute „literarische Bildnisse“ zu zeichnen, sondern 
auch seinem zweiten Ziele „eine Wandlungsgeschichte kunstgeschicht- 
‚licher Ideen“ zu geben, immer näher zu kommen. In seiner Anzeige 
des ersten Bandes (Jahresber. IV, 131) glaubte Referent für die Treff- 
sicherheit W.’scher Bildnis-Auswahl auf die Übung des mit der Epi- 
deixis der Skioptikon vertrauten akademischen Lehrers hinweisen zu 
dürfen. Gegenüber der ungewöhnlichen Fähigkeit Wis sich in die 
Denkweise der sozusagen berufsständischen Typen deutscher Kunst- 
historiker — z. B. eines Museumsmannes wie Koloff oder eines werk- 
tätigen Architekten wie Semper —einzufühlen, drängt sich noch stärker 
der Gedanke auf, daß diese Fähigkeit erst im beständigen Umgange 
des Ministerialbeamten mit Künstlern, die in den verschiedenartigsten 
Berufsaufgaben und -stellungen tätig sind, voll entwickelt werden 
konnte.‘ So sehr man nach einer Leistung wie den „deutschen Kunst- 
historikern“ bedauern muß, daß Wis Kraft nicht mehr ungeteilt der 
Forschung gehört, so wäre doch auf der andern Seite ein (bisweilen 
autobiographisch anmutendes) Portrait wie das des Kunstreierenten im 
Ministerium Franz Kugler kaum möglich geworden ohne die Einsichten, 
die W. durch die Amtsverwandtschaft der beiderseitigen Arbeitskreise 
vermittelt wurden. — Eine Ergänzung des W.’schen Buches bietet Franz 
Landsbergers Studie über H Wölfflin’). Sie sucht den 
dauernden Ertrag der wissenschaftlichen Leistung dieses für die von | 
W. nicht mehr behandelte dritte Epoche deutscher Kunst- 
geschichichtsschreibung so bedeutsamen Repräsentanten ge- 
sammelt ins Bewußtsein zu heben, indem sie sorgsam die einzelnen 
Werke Wölfflins kritisch analysiert und schrittweise vordringend den 
großen Entwicklungsgang verfolgt. 


Der Anzeige von Wes „Deutschen Kunsthistorikern‘“ sei die von 
A. Grisebachs Monographie über einen bildenden Künstler, den 
märkischen Architekten C. F. Schinkel?) angeschlossen, der in den 
mannigfachsten Beziehungen persönlicher, beruflicher, künstlerischer 
und allgemein geistiger Art zu den deutschen Kunsthistorikern des 
frühen 19. Jahrhunderts stand. Schriftstellerisch sehr reizvoll umreißt 
G. gleich in den ersten Sätzen Sch.’s Wirkungsweite, die in der Kunst- 


8) Berlin. E. Gottschalk. VII, 101 S. 8 
9) Leipzig. Inselverlag. [Deutsche Mes 207 S. 110 Abb. 


154 


geschichte wohl nur noch durch die freilich noch um vieles be- ` 
deutendere — weil zeitlosere — des Andrea Palladio übertroffen wird. 
G. zeigt uns Sch. in Berlin, dem Centrum seiner Einflußsphäre, wo der 
Künstler in der von ihm geschaffenen Bauakademie wohnt und ringsum 
auf seine bedeutendsten Bauten blickt, die eine Neugestaltung des Bau- 
charakters der preußischen Hauptstadt bewirkten und für die Bauge- 
` sinnung und den Baugeschmack in allen preussischen Landen norm- 
gebend wurden. Die Zeitgenossen haben in dem fast auf. jedem 
Arbeitsfelde bildender Künste tätigen Meister ein Universalgenie vom 
Range der Renaissancekünstler verehrt — ein Ruhmestitel, den G. unter 
Hinweis auf die Epigonennatur der damaligen Baukunst mit Recht ein- 
schränkt auf den eines lebensvollen Historismus — und noch 1912 hat 
der Kunstkritiker F. Stahl (Schinkelheft der Berliner Architekturwelt) 
die allerdings durch unsere gegenwärtige Architektur kaum bestätigte 
Prophezeihung gewagt: „Ruhm und Einfluß, den Sch. im Leben und 
noch 50 Jahre nach seinem Tode gehabt hat, so groß sie waren, sind 
nichts im Vergleich zu dem Ruhm, den er. noch haben wird.“ Dennoch 
fehlte es bisher an einem grundlegenden Schinkelwerk und auch G.s 
Darstellung kann —wie er selbst sagt— das Verlangen danach nicht völlig 
befriedigen. Insofern als eine wesentlich formengeschichtlich eingestellte 
Monographie, die überdies an die Raumökonomie eines Sammelunter- 
nehmens („Deutscher Meister“) gebunden war, nicht denSpielraum her- 
gibt für eine erschöpfende Behandlung des ganzen geistesgeschicht- 
lichen Problemkomplexes, den ein so vielseitige Künstlerpersönlichkeit 
wie Sch. auslöst, wird man G. zustimmen. Wenn aber eine solche Mo- 
nographie — wie das bei G. durchgehends der Fall ist— jedes wich- 
tige Problem richtig zu sehen und eine Möglichkeit zu seiner Lösung 
mindestens anzudeuten vermag, so wird man doch sagen müssen, daß 
sie „grundlegendes“ für den Weiterbau der Forschung geschaffen hat. 
Und das gilt nicht bloß von den engeren formgeschichtlichen Pro- 
blemen, — in Sonderheit dem der Raumgestaltung — deren sichere 
Handhabung bei einem Forscher wie G. ja nicht überrascht, sondern 
auch von den weiteren geistesgeschichtlichen: Verhältnis zur Religion, 
zur Dichtung, zur Geschichte, zu den Aufgaben der Gegenwart und vor 
allem zu den beiden geistigen Grundrichtungen des Jahrhunderts: Ro- 
mantik und Klassicismus. 

Auch an der Spitze der durch die modernen geistesgeschichtlich 
eingestellten Arbeiten immer mehr in den Hintergrund gedrängten kul- 
turhistorischen Darstellungen, die sich mit ihrer unproblematischen Ab- 
schilderung gesellschafts- und sittengeschichtlicher Verhältnisse an die 
Arbeitsweisen etwa G. Freytags oder G. Steinhausens anlehnen, steht 
in der Literatur unseres Berichtsjahres ein Buch über das Barock. 
Mit seinem zweibändigen Werke: „August der Starke“) kehrt 
der 74jährige C. Gurlitt, der mit Recht von sich sagen darf, er habe 
vor 40 Jahren als erster auf den Wert der heute so geschätzten, damals 
:so verachteten Barockkunst hingewiesen, noch einmal zu dem Zeitalter 


10) Dresden. Sibyllen-Verlag. Bd. I. 415 S., Bd. I. 359 S. 
. 155 


zurück, von dem seine verdienstvollen wissenschaftlichen Bemühungen 
ihren Ausgang nahmen. Diesmal allerdings nicht als Kunsthistoriker. 
sondern mit dem Verlangen durch seine Darstellung, die „weder 
Lebens- noch Landesgeschichte“ sein will, einmal Verständnis für einen 
„Vielgeschmähten“ zu wecken, sodann „festzustellen, auf welchen reli- 
giösen, sittlichen und volkswirtschaftlichen Grundlagen sich damals das 
Leben in einem deutschen Lande aufbaute.‘“ Breit, behaglich, lässig. 
aber doch auch wieder feurig und mit erstzünlicher Frische geschrieben. 
vermag diese Darstellung in der Tat dem Leser ein eindrucksvolles 
Bild von dem Leben zu vermitteln, das sich im Zeitalter August’s des 
Starken und von diesem intensiv und unmittelbar: beeinflußt, am Hofe 
und im Staate, im Volk und in der Kirche, in der Wirtschaft und der 
Kunst Kursachsens abspielte..e Der seit mehr als zwei Jahrzehnten 
von den sächsischen Historikern betriebene Rehabilitations- 
prozeß August des Starken ist durch dieses Buch zweifellos 
gefördert worden, so sehr uns auch G. für seine Behauptung, August 
habe in Polen kulturelle Güter geschaffen, die dem Deutschtum und dem 
deutschen Einfluß daselbst in hohem Maße zu Gute gekommen wären, 
den Beweis schuldig geblieben ist. 1922 hat P. Haake in seiner 
Schrift: „August der Starke im Urteil seiner Zeit und 
der Nachwelt“ (S. 120) in einigen wirtschafts- und sozialge- 
schichtlichen Hauptproblemen ein Arbeitsprogramm für eine Geschichte 
August des Starken umrissen. Misst man die O sche Leistung an den 
H schen Forderungen, so wird man nicht im Zweifel sein, daß die For- 
schungen über August den Starken noch wesentlich über G. hinaus- 
geführt werden können. Denn Oe Darstellung hat sich beinahe aus- 
schließlich nur auf gedruckte Quellen gestützt und ist daher namentlich 
in den wirtschaftsgeschichtlichen Teilen — wie er selbst weiß — oft 
recht bruchstückhaft geblieben. Im Hinblick auf diese Tatsache ist 
es doppelt zu bedauern, daß G. so gut wie gar keine Quellennachweise 
gegeben und dadurch die Fortsetzung der Studien über August den 
Starken unnötig erschwert hat. — Den von den anglo-amerikanischen 
Schriftstellern in der Regel etwas stiefmütterlich behandelten kul- 
turellen und zivilisatorischen Leistungen der 
Deutschamerikaner sucht im Rahmen einer Geschichte der 
deutschenEinwanderungR. Cronaus bereits 1904 erschie- 
nenes, nunmehr in zweiter, teilweise umgearbeiteter Auflage vorliegen 
des Buch: „Drei Jahrhunderte deutschen Lebens in 
Amerika‘) mit erfreulichem Eifer gerecht zu werden. Wenn auch 
die Darstellungskraft des Verfassers mit seinem Eifer nicht Schritt zu 
halten vermag, und seine Mitteilungen über die deutschamerikanischen 
Leistungen auf den einzelnen Gebieten von Kunst, Wissenschaft, Tech- 
nik u. dgl. meist in einer recht äußerlichen Registrierung von Per- 
sonen und Sachen stecken bleiben, so ist Ge Buch doch schon um 
seines reichen bibliographischen Apparates willen als Nachschlagewerk 
schätzbar. — H. Ostwalds: „Kultur- und Sittenge- 


11) Berlin. Dietrich Reimer. IX, 696 S. 
156. 


schichte Berlins?) ist ebenfalls kein Neuling auf dem Bücher- 
markt, sondern im wesentlichen nur eine neue Ausgabe seines 1921 
erschienenen Buches: „Die Berlinerin“,”) das nur hier und da 
stofflich aufgefüllt wurde, um dem umfassenderen Titel wenigstens 
notdürftig zu entsprechen. Auch an seiner nach sachlichen Gesichts- 
punkten erfolgten Stoffgliederung in den Kapiteln: Die Damen — Die 
Dienstboten — Die Berliner Bürgerin — Berliner Kinder — Kleinbürger 
und Proletariat — Höker und Hausierer — Die Halbwelt — hat sich 
nichts geändert. Dagegen wurde die Sittenschilderung innerhalb des 
einzelnen Kapitels jedesmal bis zur jüngsten Vergangenheit weiterge- 
führt. O.s Buch will kein gelehrtes Buch sein, wohl aber das eines 
kulturhistorisch und auch sozialpolitisch interessierten Literaten. Als 
solches darf es zunächst den heutzutage keineswegs selbstverständ- 
lichen Anspruch erheben, daß sein Wert nicht lediglich in seinem statt- 
hichen, übrigens auch gut reproduzierten und mit Sachkenntnis ausge- 
wählten Illustrationsmaterial beruht. Sodann zeichnet sich sein Text 
nicht nur durch eine von intensiver Sammelarbeit zeugende Tatsachen- 
fülle, sondern auch durch taktvolle Zurückhaltung aus, die ihn vor dem 
Abgleiten ins Sensationelle und Zweideutige auch an den Stellen be- 
‘ wahrte, wo die Versuchung dazu immerhin nahe lag. In einer Zeit, 
wo der Urenkel Schillers, A. v.Gleichen-Rußwurm, seine Feder 
zur Mitarbeit an einer „Sittengeschichte desIntimen“ (des 
Bades, des Hemdes, der Hose, des Abtrittes u. s. w.) hergibt, ist eine 
solche. Zurückhaltung mindestens erwähnenswert. Für einzelne sach- 
liche Ausstellungen an CO. e Buch sei anf die Besprechung von Joh. 
Schulze verwiesen.) | 
- Zur Geschichte der deutschen Universitäten im 
18. Tährhundert liegt eine Arbeit von W. Der sch) vor, die unter 
Benutzung von Akten des Marburger Staats- und des Marburger Uni- 
versitätsarchives von den Bemühungen der Landgrafen Friedrich II. 
und Wilhelm IX. von Hessen-Kassel. um die Hebung ihrer Landes- 
universität unterrichtet. Neue Lehrstühle wurden geschaffen und unter 
andern wissenschaftlichen Zelebritäten wurde auch Gottsched, der aber 
ablehnte, nach Marburg berufen. Ebenso wenig gedieh die aus dem 
Professorenkolleg stammende Anregung zur Begründung einer Aka- 
demie und einer Gelehrtenzeitung zur Verwirklichung. Zwei unver- 
öffentlichte Gottschedbriefe aus dem Jahre 1761 werden anhangsweise 
mitgeteilt. 


12) Berlin-Grunewald. Klemm. 660 S. Mit 584 Abbildungen, 8 farbigen 
Beilagen u. 12 Doppelbildern. — Inzwischen hat das Buch eine weitere neue 
Auflage erlebt, der auch ein Sach- u. Personenregister beigegeben ist. 

13) Berlin, Verlag für Kunstwissenschaft. Auch „Die Berlinerin“ ist schon 
eine neue Ausgabe von älteren Bearbeitungen desselben Themas durch Ost- 
y die 2 wechselnden . Verlegern unter wechselnden Titeln seit 1909 er- 
schienen sin 


Š EC Forschungen zur brandenb.-preuß. Geschichte. 1925. d XXXII. 
l 15) Beiträge z. Gesch. d. Univ. Marburg im Zeitalter der Aufklärung. 
Zeitschr. d. Ver. f. hess. Gesch. u. Landeskunde. Bd. LIV. S, 161 ff. st 


157 


Den Ausgangspunkt der beiden Bücher von G. Lüttger t") 
und W. Klein”) bilden die Umwälzungen, welche die Revolution von 
1918 im preußischen Unterrichts- und Theaterwesen her- 
vorrief. Diese haben beide Verfasser angeregt, gestützt auf ein um- 
fangreiches gedrucktes und archivalisches Quellenmaterial, die Vorge- 
schichte dieses gründlichen Bruches mit der Vergangenheit in ihrer be- 
deutsamsten Etappe: der Revolution von 1848 darzustellen. 
Da bei beiden Büchern der Kultusminister der Revolution Adelbert 
von Ladenberg und seine liberalen Räte im Mittelpunkt stehen 
und in beiden die Vorbereitung und der Leidensweg eines neuen, den 
Ereignissen Rechnung tragenden, Unterrichts- bezw. Theatergesetzes — 
beide fielen bekanntlich der Reaktion zum Opfer — den Hauptinhalt 
bilden, so besteht zwischen den Büchern Lüttgerts und Kleins ein bis 
auf die einzelnen Stationen dieses Leidensweges sich erstreckender 
höchst reizvoller Parallelismus. Wir erhalten infolgedessen eine außer- 
ordentlich reiche und vielseitige Anschauung von den Trägern und 
Tendenzen der damaligen preußischen Unterrichts- und Kunstpolitik, 
die hinsichtlich der Persönlichkeit des Kunstreferenten Franz Kugler 
aus Waetzoldts oben besprochenen „Deutschen Kunst- 
historikern“ noch eine weitere Ergänzung erfährt. 

Es ist zwar an dieser Stelle schon mehr als einmal darauf hin- 
gewiesen worden, in welch hohem Maße K. Büchers Persönlichkeit 
und Werk wegweisend und richtunggebend auf die zeitungs- 
kundliche Forschung gewirkt haben, die sich in unsern für die 
journalistische Berufsvorbildung geschaffenen akademischen Insti- 
tuten immer mehr über die unmittelbar praktischen Ziele hin- 
aus zu einem eigenen Wissensgebiete entwickelt Aber mit jeder 
wertvolleren neuen Arbeit, die aus diesen Studienkreisen hervorgeht, 
drängt sich dieser Eindruck von Neuem wieder auf. Auch die selb- 
ständige, auf einem stattlichen und fast unberührten Material beruhende 
Untersuchung des Leipziger Stadtamtsrates und Privatdozenten W. 
Schöne,'") welche de Beziehungen zwischen der period- 
dischen Presse und der Statistik (Staatskunde im älteren . 
Sprachgebrauch) darzulegen bemüht ist, wäre ohne Büchers methodi- 
sches Vorbild kaum denkbar. Allerdings möchte man mutmassen, B. 
hätte bei der Herausarbeitung der für die Entstehung der Statistik 
zentralen Milieus: Venedig und Amsterdam vielleicht ge- 
wünscht, daß die wirtschaftlichen Bedürfnisse (Banken-Nachrichten- 
wesen) als wesentliche Entwicklungsfaktoren der periodischen Presse 
stärker hervorgehoben worden wären. Das meist recht scharfsinnig 
verfolgte Ziel dieser Arbeit war einmal, die staatswissen- 
schaftliche Seite der periodischen Presse zu beleuch- 


16) Preußens Unterrichtskämpfe in der Bewegung von 1848. Berlin, 
Trowitzsch. 325S. 

7) Der preußische Staat u. das Theater im Jahre 1848. Ein Beitr. Z. 
Gesch. d. Nationaltheateridee. [Schriften d. Gesellsch. f. Theatergesch. Bd. 
XXXIL] Berlin. Selbstverl. d. Gesellsch. f. Theatergesch. 256 S. 

18) Zeitungswesen u. Statistik. Jena. G. Fischer. 120 S. 


158 


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t 


ten, was bisher einigermassen verabsäumt wurde, sodann dem Wege 


nachzugehen, auf dem die periodische Presse auf die Ent- 


stehung und Entwicklung der Staatswissen- 
schaften und speziell der Statistik Einfluß gewann. Von 
ausschlaggebender Bedeutung war dabei das mit den staats- 
männischen Bildungsidealen des Barock ausgeweitete- Interesse 
der höheren Schichten an staatskundlichen Dingen. Es bildete 


die Voraussetzung für eine intensivere Berücksichtigung des 


Zeitungsswesens im Forschungs- und Lehrbetriebe der Univer- 
sitäten, aber auch im Gymnasialunterrichte. des 17. und 18. Jahrhun- 
derts. Man versteht es, daß ein so eifriger Vertreter moderner Zei- 
tungsforschung wie Sch. stolz darauf ist, diese „last völlig ver- 
schüttet gewesene akademische zeitungskund- 
liche Tradition“ wieder aufgedeckt zu haben. Obgleich sich 
hier und da noch schärfere Formulierungen, namentlich bei der Ab- 
grenzung der einzelnen Pressetypen denken ließen, — sie werden aller- 
dings ebenso sehr durch die Flüssigkeit dieser Grenzen, wie durch die 
vorläufig noch nicht genügend entwickelte historische Terminologie der 
jungen zeitungskundlichen Wissenschaft erschwert — muß man Sch. 
dankbar sein, daß er seine Ergebnisse bereits in der vorliegenden Form 


veröffentlichte. Denn seine neuen Problemstellungen sind so zahlreich, ` 


daß sich an ihrer Bearbeitung auch noch weitere Kräfte ‘mit Vorteil 
beteiligen können. — R. Lenzings Osnabrücker Pressege- 
schichte,')in der J. Möser, der Begründer und langjährige Leiter 
der „Osnabrückischen Anzeigen“ (Intelligenzblätter) und 
für das spätere Zeitungswesen der Bürgermeister J. C. B. Stüve die 
Hauptrolle spielen, bewegt sich ganz in den herkömmlichen „kultur- 
historischen“ Gleisen der Zeitungsgeschichtsschreibung älteren Stiles 
und läßt die Forschungsmethoden und Ergebnisse der modernen Zei- 
tungskunde zu ihrem Nachteile unbeachtet. Ein so fauler Witz wie auf 
S. 18 (Bombardier) hätte unter allen Umständen vermieden werden 
sollen. — Dankenswert ist de kurze chronologische Zu- 
sammenstellung (mit Tabelle) der ältesten heute noch 
bestehenden Zeitungen von J. Kleinpaul.?) 

| ‘In seinem feuilletonistisch aufgemachten, aber keineswegs an- 
spruchslosen Büchlein: „Der .gefesselte Biedermeier“) 
setzt H. H. Houben seine schon 1918 begonnene Sammlung von 
Zensurkuriositäten fort. Bezog sich das erste Bändchen mit dem etwas 
affektierten Titel: „Hier Zensur — wer dor t?“?) auf die Zeit 
von 1740—1815, so handelt es sich diesmal um die B u c h-, Zeitungs- 
und Theaterzensur des Restaurationszeitalters 


1) Von Möser bis Stüve. Ein Jahrhundert Osnabr. Pressegeschichte im 
Spiegel d. Bürgertumes. Osnabrück. Schöningh. 82 S. 

2) Preußische Jahrbücher. Bd. CXXVIII, S. 89—92. 
So SC Literatur, Kultur, Zensur in der guten alten Zeit. Leipzig. Haessel, 

22). Antworten von gestern auf heute. 1918. Leipzig. Brockhaus. 208 S.; 
1923? Leipzig, Haessel, 203 S. 


159 


(1815—30). Weitere Fortsetzungen werden in Aussicht gestellt. Von 
eigentlichen Quellenpublikationen unterscheiden sich H.’s Sammlungen 
dadurch, daß sie auf wortgetreuen Abdruck der Überlieferungen ver- 
zichten. Aber sie lehnen sich auch im Ton der Erzählung eng und oft 
glücklich an die historischen Vorlagen an und sind auch darin den 
Quellenpublikationen ähnlich, daß sie in der Regel die vielen kleinen 
drastischen oder pikanten Zensurhistörchen, die A. aus dem uner- 
schöpflichen Vorrat der Memoiren- und Anekdotenliteratur verschwen- 
derisch zum Besten gibt, für sich selber sprechen lassen. Solche 
Sammlungen mögen an sich ganz wirkungsvoll sein, zumal wenn sie 
etwas weniger als bei H. durch die Häufung analoger, sich oft bis aufs 
Haar gleichender Fälle in ihrer Wirkung beeinträchtigt werden. Sie 
mögen auch ausreichen, um weitere Kreise an das stofflich wenig er- 
freuliche, darstellerisch schwierige und wenig dankbare Thema heran- 
zuführen. Dem ernsthafter um die Klärung des Zensurproblems be- 
mühten Leser helfen dagegen diese von einem auffällig unstaatlichen 
Geiste geleiteten Blütenlesen von allerlei Zensorentorheiten nicht viel. 
Für ihn liegen die Schwierigkeiten weit weniger in der Stoffbeschaf- 
fung als in der Stofikritik, und für diese findet er in den aus dem 
Zeitzusammenhange gelösten und in die grundsätzlichen Erörterungen 
der Aufklärung, oder des Biedermeier nicht eintretenden Anekdoten 
H.'s keinen Aufschluß über die für diese Zeiten maßgebenden Kriterien. 
Denn die Zensur hat natürlich den gleichen Anspruch wie die Literatur, 
"aus den Grundtendenzen der jeweilig geistig-staatlichen Konstellation 
beurteilt zu werden. Bei einem so erprobten Editor wie H. sollte man 
das Fehlen eines Registers eigentlich nicht zu monieren brauchen. 

Die Ausbeute des Berichtsjahres an kulturgeschichtlich wert- 
vollen autobiographischen Zeugnissen ist ziemlich gering. Die (glück- 
licher Weise) nur in Auszügen veröffentlichten Bräutigamsbriefe 
(1788—91) des Göttinger Dozenten, späteren Helmstedter und Hallenser 
Jurisprudenz-Profesorss Johann Friedrich Schmelzer,”®) 
haben nur familiengeschichtliches Interesse und enthalten nichts, was 
unsere Anschauung von dieser kulturgeschichtlich so gut dokumen- 
tierten Zeit auch nur um eine Nüance bereicherte. — Auch was die 
sympathische Paula v. Bülow, geb. Gräfin v. Linden in 
ihren im Alter von 83 Jahren aus dem Gedächtnis (!) aufgezeichneten, 
für den Druck bestimmten Memoiren”) über ihre Erlebnisse als Di- 
plomatentochter, -Gattin und Oberhofmeisterin aus den verschiedenen 
höfischen Milieus ihres Lebensganges zu berichten weiß, erreicht nur 
das bei Schriftstellerinnen aus diesen Kreisen übliche Niveau. Der 
Vortrag ist redselig, die Milieu-Schilderung wenig differenziert, auf 
Selbstdarstellung in höherem Sinne wird verzichtet und ein persönlicher 
Stil ist nicht vorhanden. Erwähnenswert sind immerhin die in diesem 
Falle auf Tagebuchnotizen beruhenden ErinnerungenankKaiser 


23) Aus d Brautzeit eines dtsch. Gelehrten. Herausgeg. von A. Neebe- 
Halle (Saale.) Buchhandl. d. Waisenhauses. 41 S. 

2) Aus verklungenen Zeiten. Lebenserinnerungen 1833—1920. Hrsg. 
von J. Werner. Leipzig, Koehler. 213 S. Das Buch erschien 1925 in 2. Aufl. 


160 


Wilhelm L, von dem auch gegen 50, z. T. allerdings recht belanglose 
Briefe aus den Jahren 1872—87 mitgeteilt werden. Für Liebhaber von 
„rätselhaften Menschen“ sei angemerkt, daB sich Frau v. B. mit der 
Naundorff-Frage eingehender beschäftigt. — Die knapperen 
„Jugenderinnerungen“ des (1867 geborenen) Religionslehrers 
am Geraer Gymnasium Wilhelm Vollert?) sind gleichfalls nur 
Durchschnittsware. Oft genug wird in ihnen die Personencharak- 
teristik ersetzt durch eine gehäufte Nennung von Namen, die vielfach 
nur mit den Anfangsbuchstaben wiedergegeben werden. Doch be- 
gegnet man bei der Schilderung der Studienzeit des Verfassers in 
Leipzig und Erlangen einigen, das studentische wissen- 
schaftliche Vereinswesen der 80er Jahre kennzeichnenden 
Einzelzügen, die sich in andern akademischen Erinnerungen aus dieser 
Zeit nicht finden. — Weit höher als die bisher genannten ist die leider 
unvollendet gebliebene Autobiographie des 1920 verstorbenen Wiener 
Historikers A. Fournier”) zu bewerten, bei der allerdings der po- 
-litische Historiker umso weniger auf seine Kosten kommt, als diese noch 
vor der geplanten Schilderung von Ps politischer Betätigung als Par- 
lamentsmitglied abbricht. Für den Kulturhistoriker aber bedeutet auch 
die allein ausgeführte Jugendgeschichte: die Schilderung von Ps 
Wiener Schüler- und Studentenjahren unter O. Lorenz, Scherer und 
Sickel, seiner Tätigkeit als Archivar und junger Dozent eine will- 
kommene Quelle. Es war nicht die Geschichte einer abseitigen, welt- 
fremden Gelehrtenjugend, sondern sie verlief in engstem Zusammen- 
hange mit dem Leben und Treiben der Wiener Gesellschait nach 
1866, jenen für die Österreichische Zukunft so entscheidenden Zeiten. 
„Lebendig gesehen, persönlich gefärbt und gewissenhaft berichtet“, 
so urteilt der Herausgeber R. Olden im Nachworte über Ps Dar- 
stellung der „kleinen und großen Wiener Gesellschaft“ der 
60er und 70er Jahre; ein Urteil, das auch ‚bei einem Vergleiche mit 
andern Wiener. Gesellschaftsschilderungen von damals, z. B. der in 
L. Przibrams „Erinnerungen eines alten Oester- 
reichers“ (1912) sich als stichhaltig erweist. — Wieder nach 
Wien, aber in das Wien um 1900 führen die ausgesprochen 
Memoirencharakter tragenden „Erinnerungen einesalten 
Theaterdirektors“, des als Vorkämpfer gegen die Magyarisie- 
rung der ungarländischen Deutschen bekannten Volksschriitstellers 
A. Müller-Guttenbrunn.”) Sie behandeln ausschließlich die 
Geschichte der Gründung des Kaiser-Jubiläumsstadttheaters (heute 
Volksoper) und der ersten Jahre dieser Bühne, die von 1898—1903 
unter Leitung des Verfassers stand. Sie dürfen aber wegen der gesell- 
schaftlichen und politischen Strömungen, die in diese Geschichte 
hineinspielen, ein. über das bloß Theatergeschichtliche hinaus- 
reichendes Interesse beanspruchen. Denn dieses Theater war — ein 


` 2) einzig: Deutscher Verlag. 145 S. 
20) Erinnerungen. München. Drei Masken-Verlag. 1923. 321 S. 
2) Herausgeg. von Roderich Meinhardt. Leipzig, Staackmann. 237 S. 


u 161 


in der Theatergeschichte wohl ziemlich vereinzelter Fall — von vorn- 
herein als „Parteitheater‘ gegründet worden durch einen aus den Reihen 
der Christlich-Sozialen sich rekrutierenden Theaterverein, der beim 
Abschlusse des Pachtvertrages von M.-G. das Ehrenwort verlangte, 
„wissentlich keinen jüdischen Schauspieler zu engagieren und das 
Werk keines Juden zur Aufführung zu bringen“. Dieser Versuch auf 
exclusiv „christlich-germanischer Grundlage“ ein Theater aufzubauen, 
ist nicht nur an dem Boykott, den das literarisch interessierte Wiener 
Judentum über die neue Bühne verhängte, sondern ebenso sehr an 
dem unzureichenden Theaterbesuch durch die unliterarischen Klein- 
bürger der christlich-sozialen Partei gescheitert und nach dem finan- 
zielen Zusammbruche M.-G.s mußte der Theaterverein seine bis- 
herigen antisemitischen Grundsätze aufgeben. Gegen diesen Mangel 
an Überzeugungstreue, nicht aber gegen die Engherzigkeit des christ- 
lich-sozialen Parteistandpunktes richtet sich die Tendenz der Memoiren, 
die ihren Verfasser bei aller Subiektivität seines Standpunktes doch 
als einen fanatisch ehrlichen Idealisten zeigen. 


162 


Abels, H. 41”. 
Abert, H 9% ` 
Abicht, M. 138°. 
Adelheim, G. 337.. 
Aeschbacher, P. 24? 22, 
Allen, P. S. 65% 
Andràssy, Graf. 111 n 


v. : Arnswaldt, 
28 46, a 35 8a 

Asquith, H H 127%. 

Astrain, A. 885. 


Baasch, E. 105®., 
Bächthold, H. 126 °. 
- Baethgen, F. 45°. 
Bailleu, P. 933. 
Baron, H. 73%. 
Bastgen. 401. 
Batzer, E. 59%, 


Baumeister 33 e 

Baumgarten, O. 
115 ??. 

Baumgarten, P. M. 
16 23 


Becker, E. E. 27°, 
Becker, O. 
v. Below, G. 134°. 
Bergsträsser, L. 106 °*. 
Beyerle, F. 47. 

Bibl, V. 104 *. 

Binder J. 72%. 

Blos, W. 108%, 

v. Böhm, G. 103 *. 
Böhme, P. W. 24°”, 
Böhmer, H. 68 *., 
Böhmer, A. 67%. 

- Bonhoff, F. 23”. 
Borck, F. 40%., 7” 
Borkenhagen, H. 105°. 
Born, E. 14218 
Bornhak, C. 
Bossert, G. 74°, 
Botzenhart, E. 9523, 
Bouard, A. de, 171. 


103 *, 
145, 


Brandeleoni, F. 14°. 
Brandenburg, E. 125°. 
Brandi, K. 14*. 

150°. 


Brandt, O. 


W. K. 


1092.5, 112%, 


11216, 116 ”, 


Autorenregister. 


Braunsberger, e en 
Brein, J. A. 
Brenneke, A. Sue 
Bretholz, B. 80°. 


Breymann, H 203, 33%. 


Breysig, K. 4°. 
Brinkmann, E. 141%. 
Brinkmann, H. 10”. 
Briquet, C. M. 187. 
Buchwald, G. 67 *- , 
Buddecke, W. 86”. 
Bücher, K. 141”. 
Büchi, A. 65%. 
Bühler, L. 42. 
v. Bülow, P. 1607. 
Burdach, K. 9°, 
Burger, C. P. 19”. 
Butte, H 23°, ` 
Cahannes, G. 89%, 
v. Calker, F. 1138, 
Carusi, C. 18% 8. 
Caspar, E. 167, 
47 s6 
Castelmur, A.v. 
Chavan, A. 74% 
Churchill, W. 127 ®, 
Clauss, H. 82”. 


53 31 


Constantinescu-Bagdat, E. 


66 *, 
Cronau, R. 1564. 
Czysarz, H. 1481. 
Czypionka, V. 52. 


Dehio, L. 2#. 

v. Delbrück, C. 1287. 

Dersch, W. 1°, 157”. 

Deutsch, O. E. 315. 

Doeberl, A. 94°. 

Doeberl, M. ‚94°, 114°. 

Dölgen, F. 13°. 

Dopsch, A. 12%, 
131. 

Droysen, J. G. 967., 

Drüner, H. 95+. 

v. Dungern, O. 22°. 


Eckhardt, K. A. 49°. 
Eder, P. 2, ` 

Eells, H. 73%. 
Ehrenzeller, W. 74 ™. 


43 2 


39°, 


Ehses, St. 8735—39. 
Eichholzer, E. bai 
Eichmann, E 51%. 
Elster, A. 23%, 

Erben, W. 15°, 

Ernst, R. 37”. 

van der. Essen, L. 80°67- 
Evans, A.P. 578. 


Fabricius, CL 14°, 
Fässer, J. Chr. 76. 
Fendrich, A. 108 ®. 
Ficker, J. 73%. 


Fink, G. 33%”. 


Fischer, E. 146°. 
Fischer, H. 62 nm 
Fischer, K. R. 26 
Fischer, P. 31, 
Fliche, A. 4411 12. 


Foerster, H. 51°. 
Forsthoff 61 1°, 807. 
Fournier, A. 161°. 
Frahm, A. 107%. 
Frantz G. 126°. 
Freisen 51”. 

Fretz, D. 65%. 
Freyer, W. 33°, 
Friedensburg, W. 85°. 
Früs, A. 102, ` 
Fuhrmann, E 39%. 


v.d. Gabelentz-Linsingen, 
1 


H. . 
Ganshof, F. L. 40°. 
Gardthausen, V. 147, 36%. 
v. Gebhardt, P. 215, 32%, 
Gewerstock, O. 67 *. 
v. Geyso, F. 822, 
v. Gierke, J. 967. 
Gillis, F. M. 44°. 
Göller, E. 55%. 
Goetting, H. 147°. 
Gogarten, F. 68*, 71 ®t. 
Goldmann, E. 48°. 
Gothein, E. 77+. . 
Gougaud, L. 41". 
Graber, E. 150 %- 


| Gradi, L. 537. 


Gradenwitz, O. 1167, 
H. 111 #, 


11* 


Granfelt, 
163 


Grisebach, A. 154°. 
Grossmann, K. 328, 
Grotefend, O. 36%. 
Gruson, E. 26%, 
Günter, H. 7°. 
Güterbock, F. 46 29. %. 
Gurlitt, C. 91*, 155 '°, 


Häring, J. 106 5. 
Haller, J. 120°. 


Hammerbacher, G. J. 


141 19. 
Hammer, Ph. 397. 
Hampe, K. 46 °°. 
- Hankamer, P. 87°. 
Harsay, A. 54%, ` 
Harms, P. 111 10 1193, 
Harnack, A. v. 40 4, 97 ?°, 
Hartung, F. 115, 
Hashagen, F. 56°, 62°, 
Haskins, Ch. 16, 
Hausmann, C. 130%, 
Haymann, F. 96%, 
Heckel, J. 601% 17. 
Heckel, R. v. 16%”. 
Hefele, F. gou 
Hein, M. 85%. ` 
Heinze, E. 51. 
Hellmann, S. 38?. 
Hermann, H. J. 17°. 
Hermelink, H. 71%. 
Herre, P. 124”. 


Herrmann, F. 27%, 305! 5. 


Herzberg, H. 84%. 
Herzfeld, H. 1107. 
Heskel, A. 83°, 
Hessel, A. 46 20 | 
Heyderhoff, J. 99 9 
Hildebrandt, K. 151 6, 
Hjelholt, H. 102 4, 


Hofmeister, A. 28%, 43?, 


45 20 
Hölzle, E. 107%, 
Hohlfeld, J. 23°, 
. 118°. 
Holborn, H. 1108. °- 
Holl, K. 70 5°-#. 
Hollnsteiner, J. 52°. 
Holtzmann, W. 44 *, 
Hommel, H. 757. 
Honselmann, K. 167. 
Hoogeweg, H. 27%. 
Houben, H. H. 

15921. 22. 
Hübner, R. 96 °°, 
Hüffer, H. 52%, 
Hümpfner, W. 40°. 
Hugelmann, K. G. 48°. 
Hupp, O. 34 


164 


118%, 


115, 


Illig, U. 45°. 


Jäckh, E. 123: a 

Jahn, Fr. L. 96 H 
Jaksch 28 *. 

Jecht, H. EEN 
Jecht, R. 1515, 86 ®-. 3t 
Jecklin, F. 65 e, 84°, 
Jenals, E. 150 *. 
Jesse, W. 1427. 
Joachim, E. 627. 
Jordan, J. 645. 
Juncker, J. 48°. 


Kabisch, E. 129%, 


Kachel, J. 138 *. 

Kägi, W. 66. 

Kalkoff, P. 58 a 
75 76 


Kallen, G. 51, 
Kampers, F. 38* 5.. 
Karge, P.’ 61”. 


Katterbach, B. 1618. 1°. 20. 


Kaufmann, M. 457. 
Kehr, P. 1°, 463% 3. 
Keil 7578, 


28%, 
Kelleter, H. 25. 
Kern, F. 127”. ` 
Keyser, E 54. 
Kienast, W. 42%. 
Kirn, P. 167. 
Kisch, G. 487. 
Kleemann, S. 28°. 
Klein, W. 158. 
Klemm, M. 117%. 
Kletler, P. 135+. 
Klinkenborg, M. 2%”. 
v. Klocke, F. 

35 8, 
Knetsch, C. 27%, 37°. 
Knodt, H. 3588. 
Koch, J. 92. 


Kochendörffer, H. 2+. +. 


Kögler, H. 747. 

Köhler, W. 747. 
Koerner, B. 24%, 
Körner, J. 149?. 
Kötzschke, R. 38t, 133?. 
Kolb 637”. 

Kollmann, J. 81°. 


,| Koppel, E. 102”. 


Korff, H. A. 150°. 
Kossinna, G. 39°. 
Krauske, O. 91°. 
Krick, H. L. 315, 
Krusch, B. 48%, 
Kühn, J. 567, i06 ss. 


63 SÉ 


Kekule v. Stradonitz, St. 


30%, 31%, 


Küntzel, G. Sg 25 107%, 


Kuhn, H. 62 
Kutscha, A. e 23, 


Landsberger, F. 154°. 
Langendorf, P. 83”. 
Laue, M. 1?. 

Lees, B. A. 45238. 
Leib, B. 457. 

Lenz, M. 93 d 
Lenzing, R. 159 .. 
Lepsius, J. 122°. 
Leube, H. 77°. 
Leuze, O. 1°, 64°, 
Levison, W. 15.4. 
Lindsay, W. M. 18+. 
Linnebach, K. 110°. 
Lintzel, M. 507. 
Linvald, A. 95*# ` 
Lippert, W. 2%, 
Löffler 1812. 

Loesch, H. v. 49 1, 
Loewe, V. 90%. 
Lohmeyer, E. 867. 
Lord, R. H. 100%. 
Lot, F. 41 *, 

Lowe, E. A. 189.3. 
Loy, F. 8573, | 
Lüdicke, R. 32 en. 
Lüttgert, G. 
Luppa, J. 23”. 
Luther, J. K. 1°. 


Macco, H. F. App 
Mahn, P. 117°. ` 
Manaresi, C. 15", 
Mannheim, K. 5^. 
Mayer, E. 49", 
Mayer, G. 99 32. 33. 


Meinecke, F. 9615, 106 5. 


Meininghaus, A. 54%. 
Meisner, H. O. 1224, 
Mensi, F. 136. 
Meyer, K. 53%. 
Meyer, A. O. 123°. 
Meyer, W. 298, 
Meyhöfer, M. 144°. 
Möllenberg, W. Ap" 
Moeschler, F. 32 ®, 
Mollat, G. 16%. 


Mommsen, W. 116%. 
Müller, E. 46”. 
Müller, G. 94, 


Müller, R. 40°. 


Müller, K. O. 49, 53%. 


Müller, F. v. 1377. 


Müller - Guttenbrunn, A. 


16177 
Münster, H. Graf. 28*. 


104 7, 158 10, 


Ze EST 


Müsebeck, E 2°. 
v. Musulin, R. 127°. 


Nadler, J. 96°. l 
Nélis, H. 19”. 
Niemann, A. 130%. 
Niesel, W. 69%, 
Niessen, J. 54 *. 
Nordmann, Th. 84. 
Norgate, K. 47>. 


Oman, C. 38°, - 
Oppermann, O. 49 sn 
'Orben, H. 48°, 

Ostwald, H 157-8. 


Pallas, K. 58°. 

Pannier, J. 74 e 
Patzelt, Eu de 
Pauksch, M. REI 
Pauls, V. 1°. 

v. Petersdorff, H o", 
Petzet, E. 17°. 
Peuckert, W.E. 86%. 
Pfeilsicker, W. 26%. 


Läpp. 


Philippi, F. 28 WC 41°. 

Piel, A. 63°. 

Pineau, J. B. 

Pochhammer, H. = ke 

Poewe, W. 1”. 

Quarck, M. 108%, La "Tt 

Rachfahl, F. 31, 78% 3, 
109 ê, 1224, 

Raddatz, G. 947. 

Rand, E. K. 19". 


v. Ranke, E. 143 2°. 
Raschdau, L. 112 *. 


Reinöhl, F. v. 1513, 
36 9, | 
Rentzmann, W. 33%, 
Rheude, L. 34%. 
Rickert, K. 6°. | 
Ritter, G. 109°, 126°. 


Rohmer, D. 91. 
Rolland, C. G. 45°, 
Roller, Th. 1065.. 
Rosen, G. 112”. 
Roterberg, E. 92°, 
Roth, A. 343.8. 
Rothenfelder 32 %8 


Bi H. 109+ 5, 116%, 
122 


Ruch, W. 47°. 
Ruider, H 103%, 
Rusche, F. 105, 


Sachsse, K. 647. 


‚ }Schiaparelli, L. 
i 19 17 


— 
Een 


Salis, F. 529, ` 
Salm-Salm, Fürst zu, 0913, 
Sante, G. W. %°. 
Sardou, V. 66”. 
Schäfer, D. 42?. 
Schäfer, R. 33%. 
Schell, O. 51%. 
Schellhass, K. 89 o 

14°, 18 


Schiff, O. 58°. 
Schiffer-Krämer, E. 
Schlecht, J. 41°. 
Schmeidler, B. 42°. 
Schmelzer, J.F. 160°. 
Schmidt, L. 50. 


Schmidt-Ewald, W. 857, 


Schmitz, H. 14°. 
Schnabel, E 92?. ` 
Schneidemühl, G. 23. 
Schneider, Fr. 100 38. 
Schnürer, G. 7°, 
Schöne, W. 158 H 
Scholl, R. 33 3, 
v.. Schoultz, S. 129 77, 
Schramm, P. F. 15%, 
43 ®. 7. 
Schröder, Edw. 50°°. 
Schünemann, K. 43°. 
Schulte, A. 50 ®. 
Schulthess, H. 3t e 
Schultz, W. 40°. 
Schultze; Joh. 101 E 
Schultze, V. 57°. 
Schwarz, G. 43°. \ 
Schwarz, W. 44”. 
Schwertfeger, B. 122°. 
Scriba, O. 76°. 
Senden, E. E. 27%. 
Seuberlich, E. 247. 


Seyler, G. A. 347. j 


Siebs, L. E. 35. 
Simson, P. 84%. 
Smend, J. 69°. 
Smith, P. 65. 
Sommer, H. 40%. 
Sommer, R. 22°. 
Spiegel, K. 811. 
Spielberg, W. 27°. - 
Spohr, O. 2146.7. 
Staehelin, W. R. 35%. 


Staudinger, H. O. 140 ?.| Wehrmann, M. 


Steinacker, H. 198, 
Stenzel, K. 4°. - 
Stern, A. 96?t 2?- 
Stern-Rubarth, E 98. 
Stieve, F.. 126 ?°, 127”. 


Stolberg-Wernigerode, O. 


Graf. 963° 


41°. 


Stolze, W. 59%, 100%, 
114 1, | 
Stowasser, O. H. 53 *. 


v. Strauch, J. 105 *. 
Strohl, H. 6955. 
Strunz, F. 76®. 
Stuhlfauth, CG 747, 
Stutz, U. 49°, GER 


Sundheimer, P. 145. 
Sutter, O. E. 108®, 
Tayler 40°. 


Theobald, L. 69%, 
Thilenius, G. 2379 
Tille, A. 23%, ` 
Tirpitz, A. v. 124”. 

Thimme, F. 1221% 8, 


Traub, F. 

Troeltsch, E: 53, 

Trützschler v.F alkenstein, 
O. 112% 

Tschirch, O. 94°, 

Turner, C. H. 18°. 


| Tyssen, J. 6°. 
Uhlhorn, F. 19%. 
| Ulmañn, H. 95 11 
Veit, A. L. 82%, 
Vigener, F. 101°. 


Villada, Z. 18°. ` 
Voelcker, H. 26 °°. 
Vömel, R. 80°. 

Voigt, O. 107, 
Vollert, W. 161 3, 
Volkmann, E. O. 129 5, 
Volz, H. 68%.. 

Volz, G. B. 917-8 


143°, 
Wackernagel, R. 65%. 
Wähler, M. 63”. 
Waetzoldt, W. 1537. 
Wahle, E. 39?. 
Waldau, W. 977. 
Walther, W. 56°. 
Wecken, Fr. 24”, 
Weinberger, W. 184. 
v. Wegerer, A. 126°. 
Weigel, H. 92°. 
46 SE 
Weimann, K. 53”, ` 
Werwach, F. 32 ®. 
Weiske, K. 32%, 
Weizsäcker, W. 595, 
Wels, K. H. 39, 
Wendorf, H. 55. 
Wenz,:G. 39°, 137 °. 


Wackernagel, J. 


165 


Wermke, E. 1. Wobbermin, G. 71®, Zachau, J. 23. 

Werner, Joh. 101 5. Wolf, G. Bb? Zedlitz-Trützschler, Graf. | 
Werunsky, E. 49°, Wolff, Th. 121 2. 121°. | 
Westphal, O. 1075.. |Wotschke, Th. 62 %*,] Zielenziger, K. 145°. | 
v. Wiese, R. 315. 85 25. 26. 

Weed A 87°. |Wünsch, G. 72®%, x 


Wild, H 
Willemer, J. J. 93°. 
Willmanns, E. 948. ` 


117 9 


Windelband, W 99%, 
| Winterfeld, L. v. 549. s. | 


Sachregister. 


Aachen, Kaiser- u. Königskrönungen50. 
Alexander, Nuntius 75 
Altertumskunde, german. 39. 
Archivwesen = 
Arndt, E. M. 
August d. Ste 91. 1551. 
Baden u. die Reichsgründung 103 f. 
Basel, Wappenbuch 35. Reformation 
65 


Bayern, Konkordatsverhandlg. 1806. 
94. Rheinbundverfassung 94. Bis- 
marck u. d. öffentl. Meinung in B. 

103 Ludwig II. 103. 

Berlin, Familiengeschichtl. Quellen 32. 

Bibliographie 1f. 

Bismarck 98 ft. 

Böhme, Jakob 86 f. 

Böhmen, Nationalitätenverhältnisse 59- 
DreiBigiähr. Krieg 80. 

a. Stadtverfassung 54. Buchdruck 


Brockhaus, Heinr. 97. 
Bucer, Martin 73. 75. 
v. Bülow, Paula 101. 
Byzantinische Urkunden 13f. 


Calenberg-Göttingen, Reformation 61. 
Calvin 73f 

Capitulare de villis 40. 

Chur, Bistum 53. 

Cleve, Kirchenordnungen 61. 


Comites Gothorum 50. 


Dahlmann 107. 

SE Beziehungen 1848 ff. 
102 

Danzig, Stadtrecht 54. D. u. Gustav 
Adolf 84. 

Datierung u. Beglaubigung in Urkun- 
den 14. 


166 


Deutsche Gesch. vom westfäl. Frieden 
bis 1786. 90 ff. Von 1786—1871 92 ft. 
Dte. Gesch. von 1871—1890. 109 ff. 
Von 1890—1918. 118 ff. 

Deutschenspiegel 49. ` 

Dienstmannenrecht, Kölner 49. 


‚Dorfgerichte im Mittelalter 53. 


Dortmund, Stadtverfassung 54. 
Dreißigjähr. Krieg 77 ff. 
Drübeck, Kloster 15. 


Echter v. Mespelbrunn, J. 99; 
Eigenkirchenwesen 51. 

Einhard 40. 

Elsaß-Lothringen, Bibliographie 1. 
Emsland, Christianisierung 41. 
Erasmus 65f. 

Erfurt, Buchgewerbe 63. 

Europa, Gesch. seit 1815 96. 
Exulantenfamilien 32. 


Familienforschung 22 ff. 

Fichte, J. G. 96. 

St. Florian, Stift 52. 

Frankenreich 40 ff. 

Franken im Gefüge d. dten. Reichs 
42. 

Frankfurt a/M., Bekenntnisstand 63. 

Friedrich L, Kaiser 46. 

Friedrich d. Weise, Kaiserwahl 58. 

Friedrich d. Große 91 f. 

Friedrich Wilhelm 1. 91. 

Frühzeit, mittelalt. 39 f. 


Gegenreformation 77 ff.  Landesge- 

schichte 79 ff | 
Geistesgeschichte, mittelalterl. 3f. 
Genealogie 20 ff. | 
Geld- u. Zahlungswesen 141 ff. 
Gerbert von Reims 15. 
Germanen 39f. 


| 


Geschichtsphilosophie 3 ff. 
Geschlechtsverbände, german, 49. 
Gewerbegeschichte 139 ff. 
Gotische Schrift 19. 

Gregor VII. Papst 43f. 


Grundbesitz, ländli, in d. Karolinger- 


zeit 41. 
Gruson, Familie 26. 


Hamburg 1814 ff. 105. 

Hanse 137. 

Hansestädte, Neutralisierung 94. 

Hardenberg, Fürst 95. 

Henkels, Familie 25. 

Heraldik 20 ff. 

Herberge u. Gastwirtschaft 138 f. 

Herzog u. Fürst 50. 

Hessen, Bibliographie 1 Dreißigiähr. 
Krieg 82. H. im J. 1848 105f. Uni- 
versit. Marburg 157. i 
v. Heydebreck, Familie 27. 

Hildesheim, Landeshoheit d. Bischöfe 
53. 

Hirsauer Reform 44. 

Historismus 5. 

Hoftage, deutsche 50. 

Hohenstaufen 45 ff. 

Humanismus 65 ff. 

. Hutten, U. v. 66 ff. 


Investiturstreit in Frankreich 44. 


‚Jahn, Fr. L. 96. 

Jenatsch, Georg 84. 

Johann Wilhelm, Kurfürst von d. Pfalz 
90. 


Johann, Erzherzog von Oesterreich 


97. 
Jüdische Hochfinanz 145 L 


Kaisermystik, abendländ. 38. 

Kaiserzeit, dte. 42 ff. 

Kammin, Bischöfe von, Siegel 36. Bis- 
tum 52. 

Kanonisches Recht 48. 

Karl d. Große 401. 

Karolingerzeit 40 ff. 

Ketteler, Bischof 101f. 

Kirchenverfassung mittelalterl. 514f. 

Koch-Gontard, Clotilde 97. 

Köln, Bischofswahlen 51. Verkehr$- 
gesch. 143 f: 

Königsberg, Stadtwirtschaft 144. 

Königswahlrecht 51 

Korbinian, d. heil., 41. 

Konstantinische Schenkung 15. 

Konstanze, Kaiserin 28. 

Kreuzzüge 441. 

Krieg 1870/71. 100. 

Kultur- u. Geistesgesch., neuere 148 ff. 


Landrecht, oesterr., 49. 
Lassalle, F. 991. 


- Lausanne, Bischöfe von, 52. 


Lex Baiuvariorum 48. 

Lex Salica 47. 

Liber diurnus 19. 

Literae formatae 14. 

Lothar HI., Siegel 36. 
Loyola, Ignatius 88. 

Ludwig d. Bayer, Kanzlei 15. 
Luther, Martin 67 ff. 


Magdeburg, Reiterstandbild 46. 

Mainz, Domkapitel 16. Domherren im 
16.—18. Jhd. 82. 

Merck, Familie 30. 

Metternich 98. 

Metzler, Familie 26. 

Ministerialität 53 7. 


Mittelalter, Geistesgeschichte 3ff. 
Kirche u. Kultur 7ff. Gesamtge. 
schichte 38Af.  Verfassungsgesch. 


47 ff. Wirtschaftsgesch. 131 ff. 
Monogramm 14. 
Morone, Kardinal 89. 
Mühlhausen i Th., Zunftwesen 141. 
Münz- u. Geldgesch. 141 ff. 


Napoleon 93. 

Nee Frankfurter 96f. 
107 

Neuere deutsche Gesch. 55 ff. ' 

Nidau, Grafen v., 24. 

Niebuhr, B..G. 95. 

Niederländ. Aufstand 78 f. 

Niedersachsen u. die fränk. Eroberung 
41. 

Nomina sacra 18. 

Nürnberg, Becken 141. 


Oberlausitz, Gewerbegesch. 139 f. 
Oeterreich, Illum, Handschriften 17. 
Verfass. gesch. 53. O. im 19. Jhd. 
104. Stäatsbankerott 146. | 
Ortenau, Reformation 59. 
Ostfriesland 1815 ff 105. 
Ostpreussen, Bibliographie 1. 
Kultur vor d. Reformation 62. Lei- 
stungen für d. Gesamtstaat 83. 
Oströmisches Reich 13f. 
Otto von Bamberg, Bischof 45 f. 
Öttonen 43. 


Palaeographie 17 ff. 

Papsturkunden 16. 

Paracelsus 76, 

Passau, Fürstent., Wirtschaft- u. Kul- 
turgesch. 137. 

Pfizer, P. A. 107. 

Polit. Parteien in Dtl. 106. 


167 


Pommern, Bibliographie 1. ` 

Preussen, Archivverwaltung 1f. Frie- 
drich d. Gr. 91f. Öffentl. Meinung 
vor 1806. 94. Friedrich Wilhelm IV. 
97f. Bismarck 98ff. Unterrichts- 
kämpfe 1848 104f. Dom- u. Koll.- 
stifter 60. Summepiscopat 60. 

Prokuratoren bei der Kurie 16. 


Ravensberg, Stadtrechte 49. 
Regensburger Annalen 45. 
Reichsarchiv. 2. ` | 
Reichsvikariatsrecht, Kursächs. 51. 
Reimer, G. A. 106. 

Reformation 55ff. Allgemeines 55 ff. 
Enzelne Ereignisse 59 ff. Ortsgesch. 
63 H Luther 67. ff. Kathol. Kirche 
75 ff. 

EE 9 65ff. 77 if. 


.11. f 
Reuss ä. L., Heinrich XXII. Fürst von, 
100 


Karoling. 


Rheinland, Protestantismus u, Kultur 


Riedesel zu Eisenbach, Familie 27. | 
Riga, Reformation 61. 


Sachsen-Thüringen, Bibliographie 1. 
Archivwesen 2. Friedrich d. Weise 
63. August d. Starke: 91. 

Sachsenspiegel 48. 

Säkularisationsgedanke 51. 

Salier 43 ff. 

Salm, Fürstentum 91. 

Sarazenenzug von 991 45. 

Schlesien u. d. dte. Reich 51. 

Schleswig-Holstein, Bibliographie 1. 
Archivwesen 2. Polit. u. Geistes- 
leben 150f. 

Schleswig-Holstein-Sonderburg, Her- 
zog Johann 83. 

Schürer v. Waldheim, Familie 26. 

Schwabenspiegel 49. ` 

Schweiz, Bibliographie 1. Älteste 
Schweizerbund 53 Epoche d. Re- 
format. 64 ff. 

v. Senden, Familie 27. 

Sendgericht 51. 


Siegel u. Petschaft 37. 

Soziale Probleme 146 ff. 
Spanheim, Ezechiel 90. 
Sphragistik 20 ff. 

Stadtrechte, holländ., 49. 
Stadtverfassung, mittelalterl. 54. 
Stahl, F. 1. 107 

Steiermark, Steuern 136. 

Stein, Freiherr vom 95f. 
Symbolik, luther., 56. 


Tageno, Tagebuch des 45. 
Territorialverfassung, mittelalterl. son 
Toleranz u. Offenbarung 56. R 
Trienter Konzil Sit 
Tuchmachergewerbe 139f., 


Ulfilas. 36. 
Ungarische Hilfsvölker 43. 
Urkundenlehre 13 ff. 


Varnhagen v. Ense 106. ` 
Verfassungsgesch. d. Mittelalters 47 ff. 
Verkehrgesch. d. Mittelalters 135 f. 
Victor II., Papst 44. 

Vorgeschichte d dien Volkes 39. 


Wasserzeichen 18. 

Weistümer 156. 

Weltchronik, sächs. 45. 

Weltkrieg 1914—18. 118 ff. 
Wernigerode im 30 jähr. Kriege 85. 


Westfalen, Adelsarchive 2 Städte- 


Wappen 34. . 
Westmächte u. dte Fürsten 421. 
Wilhelm I., Kaiser 101 f. 

Wilhelmine, Markgräfin von Bayreuth 


OI. 
Willemer, I. J. 93. 
Wiedertäufer in Nürnberg 57. 
Wimpina, Konrad 76. 
Wirtschaftsgesch. 131 ff. 
Wittenberg, Kalviner in, 85. 
Württemberg, Bibliographie 1. 


Zeitungswesen 158 f. 
Zwingli u. Luther 74f. 


Druck von Reinhard Meyer, Ratibor. 


168 


 — 


RSITY OF MICHIGA 


iii 


Jahrbücher für Kultur u. Geschichte 
der Slaven 


herausgegeben von 
Erdmann Hanisch 
Band 1 
Neue Folge: 


Band 1, 2 Holte 
Band 2, 3 Halte 


Br jo Holt bronch, RM 6,—, gnb, RM 8,— außer 
Band 2 Holt 2 . `. brosch, RM. 12,—, geb. RM, 14,— 


1927 ersclieinen 4 Hefte 


Östeuropäische Bibliogranhie 


herausgegeben von dem 
OÖsteuropa-Inatitut zu Breslau 


3, Jahrgang 1923 bronchiert RM, 30,—, geb, RM. 35,— 
4, Jahrgang 192% hrorrhiart RM 40,—, geb, RM. 45, 


Internat’ nal, Jahresberichte für 
Srziehungswissenschaft 


herauagogeban von 
Rudolf Lehmann 
Universitätsprofensor In Breslau | 
I, Jahrgang 1. Halbband brosch, RM, 8,—, geb, RM, 10,— 


2, Halbband brosch, RM. 6,—, geb, RM, 8,— 
2, Jahrgang ist Im Erschelnen 


= A ah E ae d ees, 
Priebatsch's Verlag, Breslau und Oppeln