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Jahrbuch
der
Jeit= und Kulturgeſchichte
1908
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Herders Jahrbücher
Jahrbuch
der
Zeit- und Kulturgefchichte
1908
äweiter Jahrgang
herausgegeben von
Dr Franz Schnürer
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Freiburg im Breisgau
jerderſche Derlagshandlung
1909
Berlin, Karlsruhe, Winden, Strafburg, Dien und St Louis, Mo.
Vorliegendes Jahrbuch ijt ein Seitenſtück zu dem im gleichen Verlage
erſchienenen
Jahrbuch der Naturwiſſenſchaften. 1908 —1909. 24. Jahrgang. Heraus⸗
gegeben von Dr Joſeph Plaßmann. Mit einem Bildnis von Dr Max
Wildermann und 27 Abbildungen. Lex.-80 (XII u. 462) Geb. in
Leinwand M 7.50.
Alle Rechte vorbehalten.
Duchdruckerei der Herder ſchen Verlagabandlung in Freiburg.
Vorwort.
in Werk herauszugeben, das ſich aus den Beiträgen einer Reihe von
Mitarbeitern zuſammenſetzt und das dennoch einen einheitlichen Cha-
rakter bewahren, in ſeinem Ganzen ein harmoniſch wirkendes Bild ergeben
ſoll, iſt keine leichte Sache. Das hat der Redakteur des hier vorliegenden
Unternehmens auch bei dieſem zweiten Jahrgange noch lebhaft verſpürt.
Erhöht wird die Schwierigkeit dadurch, daß, wie es in der Natur einer
ſolchen Jahresrückſchau liegt, die Herren Mitarbeiter erſt nach Abſchluß des
alten Jahres mit der Niederſchrift ihrer Beiträge beginnen können, das
fertige Buch aber möglichſt bald danach in die Welt geſandt werden ſoll. —
Ich habe ſchon im Vorwort zu dem vorigen, erſten Jahrgange dieſes Buches
darauf hingewieſen, daß ſich Doppelbehandlungen desſelben Gegenſtandes
— ich gedenke z. B. der ſog. „Wahrmund⸗Affäre“, die ihre Wellen in die
Gruppen „Kirchliches Leben“, „Politiſches Leben“ und „Unterrichts. und
Bildungsweſen“ hinein entſandte — und Überſchneidungen in einem der⸗
artigen Unternehmen nicht gut gänzlich vermeiden laſſen; in dieſem zweiten
Jahrgange habe ich mit doppelter Sorgfalt darauf geachtet, daß auch nach
dieſer Richtung hin ſich ein einheitliches Geſamtbild ergebe.
Im übrigen hat der zweite Jahrgang des „Jahrbuchs der Zeit⸗ und
Kulturgeſchichte“ mancherlei Ausgeſtaltungen und Veränderungen — die
hoffentlich als Verbeſſerungen aufgenommen werden — erfahren. So weiſt
der vierte Abſchnitt, der das ſoziale Leben und Geſchehen des Jahres dar-
ſtellt, diesmal ſechs Unterabteilungen auf, die ſich dadurch ergaben, daß das
Kapitel Soziale und wirtſchaftliche Fragen in zwei Teile: Volks⸗
wirtſchaft und Soziale Bewegung, zerlegt und das Unterrichts-
und Bildungsweſen Deutſchlands und des Auslandes von dem Ofter-
reichs getrennt und jedes für ſich behandelt wurde. — In den retroſpektiven
Betrachtungen über die einzelnen Wiſſenſchaftsbetriebe haben ſich gleichfalls
etliche Abänderungen ergeben: zur Bearbeitung des Kapitels Theologie,
das im vorigen Jahre der damalige Privatdozent an der Univerſität Wien,
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VI Vorwort.
Dr Ignaz Seipel, in aufopfernder Weiſe allein beſorgt hat, haben fid
diesmal die vier Privatdozenten der Wiener theologiſchen Fakultät unter
Dr Seipels Leitung zuſammengetan, um dieſes weite und wichtige Stoffgebiet
zu bewältigen, bei welchem zudem, einem vielfach kundgegebenen Wunſche
entſprechend, auch die akatholiſche theologiſche Literatur Berückſichtigung fand.
Das Kapitel Sprachwiſſenſchaft, das im Vorjahre nur die klaſſiſche und
germaniſche Philologie umſpannte, iſt durch zwei wichtige neue Rubriken:
Angliſtik und Romaniſtik! erweitert, die Germaniſtik iſt in die beiden Unter⸗
abſchnitte „Deutſche Philologie“ und „Literaturgeſchichte“ zerlegt worden,
von welchen der erſtere, die Deutſche Philologie, durch eine im Winter
1908/09 eingetretene Erkrankung des Bearbeiters Hofrat Profeſſor A. E.
Schönbach für 1908 leider zurückgeſtellt werden mußte. Doch gedenkt Hof-
rat Schönbach im nächſten Jahrgange ſeine Rückſchau über dieſes Gebiet
auf die beiden Berichtsjahre 1908 und 1909 auszudehnen. — Die Kapitel
Miſſionsweſen und Volkskunde ſind dagegen weggelaſſen worden —
erſteres, da dieſem Gegenſtande in dem vom gleichen Verlage heraus⸗
gegebenen „Kirchlichen Handbuch“ ein breiterer Raum zugemeſſen werden
konnte; die Volkskunde aber, da es ſich zeigte, daß ihr Inhalt zum Teil
mit dem anderer Abſchnitte (beſonders der ſprachlichen, literargeſchichtlichen
und kunſtwiſſenſchaftlichen) ſich deckte, zum Teil aber ſich beſſer in den
Rahmen des „Jahrbuchs der Naturwiſſenſchaften“ einfügte. — In dem
Abſchnitt über die Kunſt hat die Muſik eine Teilung erfahren in die
Kapitel „Kirchliche Muſik“ und „Oper und Konzert“; zugleich wurde dem
Kunſtabſchnitt ein neues Kapitel über die darſtellende Kunſt (Theaterweſen)
angegliedert. — Die Rubriken Chronik und Perſonalien, die ſich ja
aufs engſte berühren und in ihren einzelnen Angaben vielfach decken, wurden
diesmal in eine Rubrik verſchmolzen; die Totenſchau iſt nicht mehr,
wie im Vorjahre, chronikaliſch angeordnet, ſondern die Namen der Toten
des Jahres wurden, um dem praktiſchen Bedürfniſſe des leichteren Auf⸗
findens entgegenzukommen, in alphabetiſcher Reihenfolge verzeichnet.
Der erſte Jahrgang dieſes Unternehmens iſt von der Kritik faſt aus⸗
nahmslos ſympathiſch aufgenommen und als im großen und ganzen gelungen
und brauchbar begrüßt worden, wenn auch, wie es bei einem derartigen
Sammelwerke kaum anders zu erwarten ſtand, mancherlei Wünſche im
1 Die Bearbeitung des umſangreichen Stoffgebietes der romaniſchen Philologie hat,
nach dem in letzter Stunde bekannt gegebenen Rücktritt des in Ausſicht genommenen
Referenten, Herr Dr Rudolf Beer, Kuſtos der Hofbibliothek in Wien, erſt im Januar
1909 übernommen und in wenigen Wochen in dankenswerteſter Weiſe fertig geſtellt.
Vorwort. VII
einzelnen geäußert wurden. Ich habe, ſoweit ich dieſe für begründet hielt
und ſoweit es in meiner Macht lag (und ich gedenke hier wieder gern der
lebendigen und verſtändnisvollen Anteilnahme und Unterſtützung von ſeiten
des Verlegers), ihnen nachzukommen getrachtet: auch der ſtrenge Beurteiler
wird hoffentlich die mannigfachen Fortſchritte nicht überſehen, die das Jahr⸗
buch in feinem zweiten Gange aufweiſt. Beſonders haben die Herren Mit-
arbeiter des fünften Hauptſtückes „Wiſſenſchaften“ ſich bemüht, in ihren
Referaten nicht bloß eine Aneinanderreihung von Einzelbeſprechungen, ſondern
wirklich ein Bild von dem Wachstum und dem lebendigen Fortſchreiten der
einzelnen Disziplinen zu geben: eine Aufgabe, deren Bewältigung das manch⸗
mal recht ſpröde Material erhebliche Schwierigkeiten entgegenſetzte. Um ſo
höheren Dank bin ich den Herren Referenten dafür ſchuldig, daß ſie dieſe
oft undankbare Arbeit auf ſich genommen haben, und dieſem Danke möchte
ich zum Schluſſe des Vorwortes hier Ausdruck geben.
Wien, im Mai 1909.
F. Schnürer.
Derzeichnis der Beiträge und der Mitarbeiter.
Seite
Vorwort v
I. Einleitung.
Das Jahr 1908. Eine geſchichtsphiloſophiſche Betrachtung 1
Dr Richard v. Kralik.
II. ee N
1. Allgemeines : F 7
Redakteur Dr Peter Anton Kirſch.
2. Deutſchland 11
Redakteur Dr Peter Anton Kirſch.
3. Oſterreich 18
Univerfitätsprofeffor, Mitglied des österreichischen Herrenhaufes, Hofrat
Dr Franz M. Schindler.
4. Ausland 23
Redakteur Dr Peter Anton Kirſch.
III. n Leben.
1. Deutſchland : . 31
Redakteur Ernſt H. Kley.
2. Oſterreich⸗Ungarn 39
Dr Karl Gottfried Hugelmann.
3. Ausland } 52
Redakteur Dr Otto Dreſemann.
IV. Soziale und nns zungen,
1. Volkswirtſchaft : : 65
Redakteur Dr Hermann Sacher.
2. Soziale Bewegung 83
Univerſitätsprofeſſor Dr Anton Koch.
3. Unterrichts. und Bildungsweſen 101
A. Deutſchland und Ausland 8 . 101
Rektor a. D. und Redakteur E. M. Roloff.
B. Oſterreich : 124
Pädagogiumsdirektor Dr Rudolf Hornich.
4. Die Preſſe in Deutichland . : 132
Redakteur Tony Kellen.
5. Die deutſche Preſſe in Oſterreich 139
Chefredakteur Dr Friedrich Funder.
Verzeichnis der Beiträge und der Mitarbeiter.
V. Wiſſenſchaſten.
Theologie : . . : .
A. Bibelwiſſenſchaft 5
Privatdozent Dr Theodor Innitzer.
B. Kirchengeſchichte und Kirchenrecht
Privatdozent Dr Karl Hirſch.
C. Dogmatik und Apologetik
Privatdozent Dr Joſeph Lehner.
D. Praktiſche Theologie
Univerſitätsprofeſſor Dr Sonn Seipel.
Philoſophie ;
Univerſitätsprofeſſor Dr Joſeph Geyſer.
Geſchichte
Univerſitätsprofeſſor Dr Franz Kampers.
. Sprachwiſſenſchaft und Literaturgeſchichte
A. Klaſſiſche Philologie
K. k. Hofbibliotheksaſſiſtent Dr Josef Bick.
B. Deutſche Literaturgeſchichte
Dr Joſef Nadler.
C. Angliſtik
Privatdozent Dr Roman Dyboski.
D. Romaniſtik
K. k. Hofbibliorhelskuſtos Dr Rudolf Beer.
Rechtswiſſenſchaft :
Redakteur Dr Hermann Sacher.
VI. £iteratur.
„Lyrik und Epik : :
Dr Lorenz Krapp.
. Dramatiſche Literatur
Dr Joſeph Sprengler.
Proſaſchriften
Dr Anton Lohr.
. Bildende Kunſt
Univerſitätsprofeſſor Dr Franz Leitſchuh.
. Muſik 5 i : . : ;
A. Kirchliche Mufit ’
Stiftskapellmeiſter Dr Karl Weinmann.
B. Oper und Konzert :
Univerſitätsprofeſſor Dr Theodor rover.
Theaterweſen ; 5
Dr Sofeph Sprengler.
VIII. chronik
IX. Totenfdjau .
Regifter
VIL. Kunft.
I. Einleitung.
Das Jahr 1908.
Eine geſchichtsphiloſophiſche Betrachtung. Von Richard o. Kralik.
wicklung, die wir mindeſtens von den Zeiten der griechiſchen Heroen
an bis in die Gegenwart verfolgen können. Ihre Kennzeichen ſind
innere und äußere. Nach innen iſt ſie charakteriſiert durch das, was man
im beſten Sinne Humanismus nennen kann, nämlich durch eine Weltanſchauung,
die den Menſchen in die richtige Mitte zwiſchen Natur und Gottheit, zwiſchen
Tradition und Fortſchritt, zwiſchen Freiheit und Geſetzlichkeit ſtellt. Nach
außen iſt ſie charakteriſiert durch den Gegenſatz gegen die Barbarei der Natur⸗
völker ſowie gegen die Einſeitigkeiten der orientaliſchen Kulturen, gegen
Deſpotie oder Anarchismus, gegen ausgeartete Sinnlichkeit und Unſinnlich⸗
keit, gegen ausſchweifende Staats- und Religionsſyſteme.
Der einheitliche Charakter dieſer europäiſchen Ziviliſation, die einzigartig
auf aller Welt und in aller Zeit iſt, wird durch den Wechſel der Gene⸗
rationen, der Epochen, der Weltalter nicht unterbrochen. Die griechiſche
Kultur geht organiſch in die römiſche, dieſe in die chriſtliche und germaniſche
über, das ſog. Mittelalter geht ebenſo organiſch in verſchiedenen Phaſen, in
verſchiedenen Renaiſſancen durch die neuere Zeit der Reſtauration und Re⸗
generation in die neueſte Zeit mit allen ihren neuen und doch auch alten
Problemen über. Selbſt der ſtarke Einſchnitt des Chriſtentums iſt kein un-
vorbereiteter, er iſt keine Aufhebung der Tradition. Während und nach den
blutigen Prozeſſen der Chriſtenverfolgungen wird faſt die ganze antike Kultur
vom Chriſtentum rezipiert und dadurch als Teil der chriſtlichen Ziviliſation
anerkannt.
Das, was wir alſo heute als unſere moderne, als unſere europäiſche
Ziviliſation mit Recht ſo hochhalten, das rege ſoziale, politiſche Leben in
Staat und Gemeinde, in Vereinen und Verſammlungen, die bürgerliche
Freiheit, die Organiſation der Stände, die würdige Stellung der beiden Ge⸗
ſchlechter zueinander, die Geſetzlichkeit von Verwaltung und . ferner
Jahrbuch der Zeit⸗ und Kulturgeſchichte. II.
De europäiſche Ziviliſation ift eine zuſammenhängende, einheitliche Ent-
2 I. Einleitung.
der rege wiſſenſchaftliche Betrieb, das Schulweſen, die Univerfitäten und
Akademien, die höchſte künſtleriſche Regſamkeit nicht nur im Kunſtgewerbe,
worin ja auch minderwertige Kulturen exzellieren und uns zum Teil über⸗
treffen, ſondern in den hohen Künſten der Malerei, der Plaſtik, der Muſik,
der dramatiſchen Kunſt, des Städtebaues — all das iſt eine Folge der
ganzen Entwicklung abendländiſcher Ziviliſation, der Verſchmelzung antiker
griechiſch⸗römiſcher Kultur mit germaniſcher und chriſtlicher Kultur.
Der Zuſammenhang von altem und neuem Recht, von alter und neuer
Kunſt, von alter und neuer wiſſenſchaftlicher Forſchung iſt ja in all dem
einleuchtend. Aber am wichtigſten für den Geſchichtsphiloſophen iſt es, auch
die Kontinuität des antiken und des chriſtlichen Religionsweſens zu
erkennen. Es iſt wichtig zu zeigen, wie bei aller Verſchiedenheit im einzelnen
dennoch die Stellung des Menſchen der Gottheit, dem All, dem Mitmenſchen,
dem Staate, der Familie, der Gemeinde gegenüber in religiöſer Beziehung
eine beharrende harmoniſche, würdevolle, echt menſchliche Tendenz feſthält durch
alle Phaſen der abendländiſchen Kulturgeſchichte hindurch. Der hl. Paulus
ſelber hat dies betont.
Ich berühre einen Punkt, den gerade der Katholik noch beſſer und
leichter würdigen wird als jeder andere. Denn dieſe welthiſtoriſche Kultur-
einheit, auf welcher die katholiſche Entwicklung beruht, da fie in menjchen-
freundlichſter Weiſe die Zeitalter miteinander verknüpft, ift andern Stand⸗
punkten weniger verſtändlich, befremdlich, und hat daher von je einen Anlaß
zum Vorwurf gegen den Katholizismus gebildet. Gewiß mit Unrecht; denn
eben das iſt die weltgeſchichtliche Kulturleiſtung des katholiſchen Chriften-
tums geweſen.
Dieſe einheitliche Funktion der Religion im Organismus der abend⸗
ländiſchen Ziviliſation mußte deshalb betont werden, weil dieſe unſere
Ziviliſation den ganzen Umkreis ihrer wertvollen Errungenſchaften nur im
Bunde mit dieſer Religionsweiſe erobern konnte. Die helle, aufklärende,
menſchenwürdige und doch unbedingt autoritative Weiſe, mit der die antiken
Orakel und Prieſterkollegien, die antiken Kulte und Symbole der Religion
auf Staat und Geſellſchaft, auf Nation und Familie, auf Wiſſenſchaft und
Kunſt fördernd, anregend, erweckend, zum Höchſten reizend eingewirkt haben,
ſie wurde in gleich ziviliſatoriſcher Weiſe von der Kirche und ihrer ganzen
hierarchiſchen Organiſation übernommen, nur auf einer unendlich höheren
und ſichereren Stufe, zielbewußter und kontinuierlicher.
Man braucht nur dieſes ebenmäßige Fortſchreiten der abendländiſchen
Kultur unter dem Schutze der religiöſen Organiſationen bei Griechen,
Römern und chriſtlichen Völkern zu verfolgen und es zu vergleichen mit
den Entwicklungen der orientaliſchen, der ägyptiſchen, aſſyriſchen, babyloniſchen,
perſiſchen, islamitiſchen, indiſchen, chineſiſchen und japaniſchen Kultur, um
zu begreifen, was wir meinen. Gewiß, dieſe Orientalen haben große
Das Jahr 1908. 3
Momente in ihrer Kultur, wir haben ſelbſt wiederholt von ihnen gelernt,
aber es hat ihnen immer das eine gefehlt, was da not tut und was eben
die Ziviliſation ausmacht, nämlich das Harmoniſche, Zielbewußte, das freie,
fic) felber beſtimmende und ſich dem Geſetz freiwillig unterordnende Bewußt⸗
ſein — dies Unſagbare, kaum in eine Formel zu Faſſende, das doch wohl
jeder fühlt und ahnt, an dem jeder teilnimmt oder nicht teilnimmt.
Darum fällt auch, nebenbei bemerkt, die ſpezifiſch jüdiſche Kultur nicht ſo
ganz in den Bereich dieſer abendländiſchen Ziviliſation. Das jüdiſche Staats⸗
und Religionsweſen hat ſich ja, wie wir aus der Bibel wiſſen, in immer⸗
währenden Gegenſatz zu der religiöſen Offenbarung geſtellt, und gleicherweiſe
damit auch hiſtoriſch in Gegenſatz zur einheitlichen abendländiſchen Entwick⸗
lung. Die chriſtliche Kultur vereinigt, harmoniſiert die Offenbarung des
Alten und Neuen Teſtamentes mit der ganzen Kultur der Antike, die jüdiſche
Entwicklung proteſtiert zum Teil dagegen. Oder anders ausgedrückt: die
antike Kultur iſt faſt ohne Reſt in die chriſtliche Ziviliſation übergegangen;
es iſt von ihr ſonſt nichts lebendig übrig geblieben. Vom Judentum kann
man, um ſich ſo milde wie möglich auszudrücken, nicht ganz dasſelbe ſagen.
Warum ich das alles ausführe, indem ich verſuche, das Charakteriſtiſche
des Jahres 1908 herauszuheben und zu umſchreiben? Weil es eben dazu
dient, das Jahr 1908 in ſeinen weſentlichſten Erſcheinungen zu verſtehen.
Denn wenn ich all die bunten Ereigniſſe des Jahres auf allen Gebieten
der Politik und der Kultur überſchaue, ſo fällt mir nichts ſo bedeutſam
auf wie zwei Erſcheinungen, die geeignet ſind, das Weſen der abendländi⸗
ſchen Ziviliſation deutlicher darzulegen, als es ſonſt wohl geſchehen iſt.
Das eine, das innerlichere Phänomen iſt die klärende Wirkung,
welche vorjährige und heurige Ausſprüche des Papſttums im Laufe des
Jahres auf die ſog. moderniſtiſche Bewegung ausgeübt haben. Nichts war
nämlich geeigneter, die ſtändige Entwicklung der abendländiſchen Ziviliſation
zu gefährden, als das Weſen des Modernismus, das ich als eine allgemeine
Kulturerſcheinung am liebſten als Relativismus bezeichnen möchte.
Es iſt dieſelbe Kulturerſcheinung, die einſt als Sophiſtik die antike Kultur,
als Nominalismus die mittelalterliche Kultur bedrohte, es iſt der Zweifel
an einer feſten, hiſtoriſch gewordenen, logiſch berechtigten Kultur, an ihrem
abſoluten Wert andern gegenüber, an ihrer Dauer, an ihrem Zukunfts-
reichtum. Es iſt in weiterer Konſequenz der Zweifel an allen feſten Be⸗
griffen, höheren Ideen, an der Wahrheit und Wirklichkeit, an aller Wiſſen⸗
ſchaft, an aller Moral, an allem objektiven Recht, an allem Fortſchritt, an
allem Beſtand. Er hat ſeinen modernſten Ausdruck in der unbedingten
Vorausſetzungsloſigkeit Nietzſches gefunden, in dem Prinzip, morgen anders
zu denken als heute, weil das heutige Denken ebenſowenig fundiert iſt
wie das morgige, weil alles fließt, weil alles ins Gegenteil übergeht. Ver⸗
ſchiedene Symptome weiſen darauf hin, daß die päpſtliche Autorität als
1*
4 I. Einleitung.
höchſte geiſtige Wahrerin deſſen, was der Kern der europäiſchen Ziviliſation
iſt, eine große, rettende Wirkung mit dieſen ihren Ausſprüchen ausgeübt hat.
So unſcheinbar dieſe Wirkungen ſind, ſo ſehr ſie auch abgeleugnet oder
ignoriert oder mißdeutet werden mögen, ſie werden ſich zweifellos immer mehr
zum Heil und zur Förderung unſerer Kultur geltend machen. Sie werden,
von einem Kreiſe einſichtiger Katholiken in ihrer richtigen, nicht verzerrten
Bedeutung aufgefaßt, zuerſt allmählich die ganze katholiſche Welt beruhigen,
aufklären, befriedigen und ſodann von da aus mit der unkontrollierbaren
Macht alles Geiſtigen, alles Wahren, alles Sichergeſtellten auch den ganzen
übrigen Organismus unſerer Kultur heilſam beeinfluſſen. |
Und das zweite, äußerlichere Hauptphänomen dieſes Jahres ift die
energiſcheſte Aufrollung der orientaliſchen Frage, alſo das Problem
der abendländiſchen Ziviliſation im Verhältnis zu ihrem äußeren Gegenſatz,
dem Orientalismus. Nach dreißigjähriger Pauſe iſt die durch den
ruſſiſch⸗türkiſchen Krieg und die innertürkiſchen Wirren begonnene, durch
den Berliner Vertrag unterbrochene Aktion wieder ins Rollen gekommen.
Die Unabhängigkeitserklärung Bulgariens, die analogen Erklärungen bezüg⸗
lich Bosniens und der Herzegowina find nur äußere Symptome eines immer-
fort wirkenden elementaren Prozeſſes. Auf deſſen hiſtoriſche Entwicklung
will ich hier nicht näher eingehen, ſondern nur auf den geſchichtsphilo⸗
ſophiſchen Zuſammenhang.
Die abendländiſche Ziviliſation war, wie bereits erwähnt, allzeit in not⸗
wendigem Gegenſatz zur orientaliſchen. Schon Herodot erkennt auf der
erſten Seite ſeines Geſchichtswerkes dieſen Gegenſatz als die tiefe Be⸗
deutung aller weltgeſchichtlichen Konflikte. Das iſt nach ihm der Sinn der
Argonautenfahrt, der erſten Trojafahrt des Herakles, der Raubfahrt des
Paris, des Rachezugs der Panachaier, der zweiten Zerſtörung Trojas, der
folgenden Koloniſationskriege, des Aufſtandes der kleinaſiatiſchen Jonier, der
Perſerkriege, deren Nachwirkung auch in der nachherodotiſchen Zeit immer
wieder fühlbar wird, bis endlich Alexander der Große den größten Vorſtoß
europäiſcher Ziviliſation nach dem Orient bewirkt. Seine Nachfolger voll-
enden ſeine kriegeriſche Kulturarbeit, in ihrem weiteren Verlauf erfolgt die
kulturelle teilweiſe Helleniſierung bis Indien, China und Japan, denn auch
der äußerſte Oſten nimmt allmählich Spuren der abendländiſchen Kultur auf.
Auch die Römer übernehmen, nachdem ſie den Orientalismus in Karthago,
in Afrika überwunden haben, die Perſerkriege als Partherkriege. Sie werden
allmählich wieder zurückgedrängt, trotzdem ſie den politiſchen Schwerpunkt
nach Konſtantinopel verlegen. Die europäiſche Ziviliſation und das mit
ihr identiſche Chriſtentum zugleich erleidet die größte Einbuße durch den
Islam, die furchtbarſte Zuſammenfaſſung des ganzen Orientalismus. Ganz
Aſien, ganz Afrika, Spanien, dann Griechenland und das neue Rom gehen
an den Islam verloren. In Südfrankreich unter Karl Martell, von Wien
Das Jahr 1908. 5
aus unter Karl V. und unter Leopold I. wird fein Anſturm nur mit Mühe
abgewehrt. Unſühnbarer Krieg erbt ſich fort. Der Islam ſchließt grund-
ſätzlich keinen Frieden, nur Waffenſtillſtände, daher iſt das Chriſtentum
zum gleichen Prinzip gezwungen. Ein Lichtblick in dieſer traurigen Be⸗
drängnis der abendländiſchen Ziviliſation ſind die Kreuzzüge, die Entdeckungs⸗
fahrten nach Oſten und Weſten, die Miſſionen der Kirche in allen Weltteilen.
Hier zeigt es ſich, wie enge das innerlichſte mit dem äußerlichſten
Phänomen der europäiſchen Kultur zuſammenhängt. Immer iſt es das
Papſttum, das zu Kreuzzügen und zu Miſſionen mahnt. Das wachende
Prinzip der inneren Kultur ſorgt am bewußteſten für deren äußeren Schutz
und für deren äußere Ausbreitung. Wie viele Kreuzzüge haben die Päpſte
gepredigt, wie wenige ſind verwirklicht worden! Wie viele Miſſionen ſind
durch politiſche Zerfahrenheit, durch Eigennutz vereitelt worden!
Wenn alſo auch die beiden von mir herausgehobenen Phänomene nicht
in einer äußeren Beziehung ſtehen, ſie gehören doch innerlich zuſammen, und
nur wenn ſie ſich wieder einmal irgendwie inniger vereinigen, wird eine
zielbewußtere Löſung der fog. orientaliſchen Frage möglich fein.
Bei einem Rückblick über ein Jahr darf der Betrachter auch einen Blick
in die Zukunft wagen, denn was iſt die Zukunft anderes als die Bewährung
oder die Verwerfung unſerer Gedanken! Wir ſchicken unſere Gedanken
aus, daß ſich aus ihnen die Zukunft geſtalte. Was iſt ferner die Zukunft
anderes als die Möglichkeit, die Fehler der Vergangenheit au verbeſſern,
die Übel unſerer Gegenwart zu heilen!
Die Fehler der Vergangenheit habe ich bereits angedeutet. Sie beſtehen
in mangelhafter Verfolgung unſerer Aufgabe, die abendländiſche Ziviliſation
nach innen und nach außen ſiegreich auszugeſtalten. Und die Übel der
Gegenwart beſtehen wieder nur in den notwendigen Folgen jener ver⸗
gangenen Fehler. Der zweifache Fehler der Vergangenheit, der Fehler,
daß ſie die innere Einheit der abendländiſchen Ziviliſation verlor, und der
andere Fehler, daß ſie die Verteidigung und die Ausbreitung ihrer einheit⸗
lichen Kultur außer Augen ließ, entſpringt einer gemeinſamen Verſehlung,
einer Dekadenz unſeres Kulturideals. Und dieſer Doppelfehler hat unmittel-
bar oder mittelbar alle Übel und Mängel der Zeit zur Folge gehabt: den
Kampf zwiſchen Staat und Kirche, zwiſchen Zweifel und Glauben, die
Kirchentrennung und damit die Auflöſung der Kultureinheit, die Zerſtörung
der Kontinuität, die Verdunkelung des Weſens unſerer geſamten Kultur,
die Zerrüttung der Standesordnungen, der europäiſchen, chriſtlichen Am⸗
phiktyonie, die Einengung ihres Intereſſengebietes, die ungünſtigere ſoziale
Lage, die ſoziale Not. Und als Beweis, daß der Sieg unſerer Kultur
auch unſern Kulturgegnern zugute gekommen wäre, klagt uns die Verödung
der einſt ſo blühenden Stätten unſerer Kultur an, die Verwüſtung, die
Barbariſierung von Afrika und Aſien, wo nur mehr Ruinen von der
6 I. Einleitung.
einſtigen antik-chriſtlichen Kultur zeugen. Aber iſt es nicht eine noch ſtärkere
Anklage, daß wir faſt vor unſern Toren, auf dem Balkan, die Fortdauer
der orientaliſchen Barbarei, der Anarchie, der Unkultur dulden, daß wir
uns belügen, jene orientaliſche Kultur ſei beſſerungsfähig, ſei der chriſtlichen
Kultur an Fruchtbarkeit, an Entwicklungsfähigkeit vergleichbar? Nein, die
Logik der Tatſachen, die Natur der Verhältniſſe wird über ſolche ungeſchicht⸗
liche, unwiſſenſchaftliche Annahmen hinüberſchreiten. Das lehrt ſchon jetzt
das Gedeihen Bosniens, das lehrt ſchon jetzt die Anarchie in Mazedonien.
Ebenſo wie es Aufgabe der Chemie iſt, in den verſchiedenſten Körpern
durch Analyſe die ſich immer gleichbleibenden einfachen und urſprünglichen
Elemente aufzuweiſen, ebenſo iſt es Aufgabe der Geſchichtswiſſenſchaft, in
den verſchiedenſten Zeitaltern und Kulturphaſen, unter den mannigfaltigſten
Koſtümen und Dekorationen dieſelben einfachen und weſentlichen Elemente
zu erkennen, in ihrer Reinheit auszuſcheiden und nach ihrer Wirkſamkeit
zu beſtimmen. Wir müſſen erkennen, daß das, was wir im Jahre 1908
als Hauptarbeit zu leiſten hatten und auch noch in den nächſten Jahren
zu leiſten haben werden, dasſelbe iſt wie das, was Sokrates und Platon
gegen die Sophiſten, was Miltiades und Leonidas gegen die Perſer
leiſteten, was der deutſche Reichsfürſt Gottfried von Bouillon, was Kaiſer
Konrad und Kaiſer Friedrich Barbaroſſa gegen den Islam leiſteten, als
ſie die Donau herab über Wien nach dem Orient die chriſtlichen Waffen
führten. Wenn wir heute das Chriſtentum als den Kern abendländiſcher
Ziviliſation gegen die Sophiſten im Innern und gegen die Bekämpfer
draußen verteidigen und beſchützen, ſo ſetzen wir die Kulturarbeit des
rächenden Zeus gegen die Aphroditenwirtſchaft des Paris, die Kulturarbeit
des römiſchen Senats gegen die Geheimbünde der barbariſchen Baccha⸗
nalien und gegen die ſkeptiſche, alles untergrabende Scheinphiloſophie fort.
Deutſchland und Oſterreich, dieſe beiden Mächte ſind es vor allem, die
am Schluſſe des Jahres 1908 zuſammenſtehen in der Löſung der wich⸗
tigſten Aufgaben unſerer Ziviliſation nach außen und nach innen. Es
iſt gewiß kein Zufall, daß bei ihnen beides zuſammentrifft: die Einigkeit
nach außen auf dieſer Bahn und jene Eigentümlichkeit der inneren Organi-
ſation, daß nämlich in beiden Reichen die beiden ſtärkſten erhaltenden Ver⸗
bände der Kultur und Politik beſtehen, die, wenn ſie auch nicht konfeſſionell
ſind, doch ihre ganze ſoziale und ziviliſatoriſche Kraft aus den innerſten
Prinzipien des Chriſtentums, des Katholizismus ſchöpfen. Von dieſer Quelle
aus verbreiten ſie Leben und Segen auch bis in jene Teile des Kultur⸗
organismus, die vielleicht unmittelbar von dieſen Lebensquellen nichts wiſſen
und nichts ahnen, oder wenn ſie davon wiſſen, ſich vorläufig noch vor
ihnen ſcheuen.
II. Kirchliches Leben.
—
1. Aligemeines.
Don Dr p. N. Kirfch.
(Om abgelaufenen Jahre konnte der fünfzigfte Erinnerungstag an
den Empfang der heiligen Prieſterweihe des Heiligen Vaters
Pius X. unter herzlichſter Anteilnahme nicht nur der katholiſchen Welt
feſtlich begangen werden; denn auch die Herrſcher faſt aller größeren
Staaten des Erdkreiſes hatten dazu dem Träger der dreifachen Krone Gruß
und Glückwünſche übermitteln laſſen durch außerordentliche Miſſionen oder
wenigſtens durch Handſchreiben. Freudig konnte feſtgeſtellt werden, daß
hierbei der Kreis der Sympathiekundgebungen, welche Pius X. aus dieſem
Anlaſſe erfahren hat, nicht enger gezogen geweſen iſt, als dies bei den drei
Jubiläen der Fall war, welche Papſt Leo XIII. feiern konnte (1878 gol-
denes Prieſterjubiläum, 1893 goldenes Biſchofsjubiläum, 1902 ſilbernes
Papſtjubiläum). Auch das goldene Prieſterjubiläum Pius' X. iſt über den
Rahmen eines Familienfeſtes, begangen von der großen katholiſchen Völker-
familie, hinausgewachſen zu einer Weltfeier, wie ſie den Großen dieſer Erde
bereitet zu werden pflegt. Nicht weniger als gegen 400 Biſchöfe aus allen
Weltteilen, worunter 18 nicht bei der Kurie anſäſſige Kardinäle, waren nach
der Roma aeterna geeilt, um dem Oberhaupte der Kirche perſönlich ihre
Glückwünſche darzubringen. Tauſende und Abertauſende von Pilgern haben
die Reiſe nach Rom angetreten, um dem Vater der Chriſtenheit perſönlich
den Ausdruck der Liebe, Treue und Anhänglichkeit zu Füßen zu legen.
Den Anfang der ungefähr 70 größeren Pilgerzüge des Jahres, wovon
etwa die Hälfte von Italien geſtellt wurde, hat ein piemonteſiſcher mit
dem Kardinal und Erzbiſchof Richelmy von Turin an der Spitze gemacht,
welcher am 14. Febr. von Pius X. in feierlicher Audienz empfangen wurde.
Ein unvergängliches Denkmal hat fic) Pius X. zu feinem goldenen Prieſter⸗
jubiläum ſelbſt geſetzt, indem er am 4. Aug., dem 5. Jahrestage ſeiner
Erhebung auf den päpſtlichen Stuhl, eine Exhortatio ad clerum catho-
licum mit den Anfangsworten Haerent animo penitus erließ, worin er
8 II. Kirchliches Leben.
väterlich ernſt und liebevoll ſeine Gedanken über die Erneuerung des Klerus
in Chriſtus darlegt. Den Höhepunkt der Jubiläumsfeſtlichkeit bildete das
feierliche Pontifikalamt, welches der Papſt in St Peter am 16. Nov. zele-
brierte. Die Verlegung des Hauptfeſttages in die Mitte des November, während
der eigentliche Gedenktag der 18. Sept. war, hatte ſeinen Grund in äußeren
Umſtänden, beſonders darin, daß der Monat September für römiſche Feier ⸗
lichkeiten nicht geeignet iſt. Der 16. Nov. aber wurde gewählt, weil auch
er in engen Beziehungen zum Leben des gegenwärtigen Trägers der Tiara
ſteht, denn an einem 16. Nov. (1884) wurde er zum Biſchof konſekriert.
Die zahlreichen Reformgeſetze, welche während des fünfjährigen Ponti⸗
fikats Pius' X. zu verzeichnen ſind, wurden im Jahre 1908 durch ein
hochbedeutſames vermehrt, nämlich durch die Konſtitution Sapienti consilio
vom 29. Juli 1908, welche eine Neuorganiſation der römiſchen
Kurie anordnete und ſeit dem 3. Nov. ſamt den mit ihr verbundenen
Nebengeſetzen in Kraft getreten iſt. Die neue Kurialreform beruht nämlich
auf einem Komplex von drei zuſammengehörigen Geſetzen: Die päpſtliche
Konſtitution Sapienti consilio enthält die Grundlinien der neuen Gefamt-
verfaſſung 1. Zwei Nebengeſetze, vom Kardinalſtaatsſekretär im päpſtlichen
Auftrage unter dem gleichen Datum erlaſſen, enthalten die ſpezielle Aus⸗
geſtaltung und das Verfahren der beiden von Pius X. auf neuer Grundlage
wiederhergeſtellten Gerichtshöfe, der Rota und Segnatura, fowie Beamten-
ſtatuten, Geſchäftsanweiſungen für den Verkehr mit dem Publikum, Tax⸗
ordnungen uſw.? Seit den Tagen des Papſtes Sixtus V. (Konſtitution
Immensa vom 22. Jan. 1588) hat kein Papſt umfaſſendere Veränderungen
der päpſtlichen Kurie vorgenommen als Pius X. mit dieſer Reviſion und
Verbeſſerung der von Sixtus V. begründeten Organiſation. Hierdurch
wurde die Zahl der ſelbſtändigen Kardinalkongregationen von zwanzig auf
elf vermindert und jede Kongregation erhielt ein möglichſt gleich großes
Reſſort. Von beſonderer Wichtigkeit iſt die Neugründung einer Congre-
gatio de disciplina sacramentorum und die Trennung der Juſtiz - und
Verwaltungsgerichtsbarkeit. Den Beamten wurde unter Aufhebung der bis
jetzt üblichen Sporteln ein feſtes, auskömmliches Gehalt angewieſen, das
Taxweſen neu geordnet, der Geſchäftsgang weſentlich vereinfacht. Die Be⸗
deutung dieſes Werkes des Papſtes beſteht darin, daß er veraltete Inſtitu⸗
tionen abgeſchafft und die Fakultäten der noch beſtehenden den modernen
Verhältniſſen entſprechend geregelt und modifiziert hat. Die ganze Kurial-
reform des Papſtes darf und muß ſomit im Lichte der Geſchichte als eine
Tat erſten Ranges bezeichnet werden. Die Ernennung der Vorſteher und
Beamten der neugebildeten Kongregationen erfolgte durch Veröffentlichung im
Osservatore Romano am 21. Okt. und in den Acta Apostolicae Sedis b.
1 Veröffentlicht in den Acta Apostolicae Sedis, 1. Jahrg., I 7 ff.
2 Ebd. 20 ff. Ebd. 109 ff.
1. Allgemeines. 9
Durch die Konſtitution Sapienti consilio wurden auch die engliſchen,
ſchottiſchen, iriſchen ſowie die holländiſchen Kirchenprovinzen nebſt dem
Bistum Luxemburg der Jurisdiktion der Kongregation de Propaganda
Fide entzogen, werden alſo nicht mehr wie bisher als Miſſionsländer be⸗
trachtet, ſondern als ſelbſtändige hierarchiſche Geſtaltungen. Das gleiche
gilt künftig von den Kirchenprovinzen der Vereinigten Staaten von Nord-
amerika, des Dominion of Canada und Neufundlands.
Eine Reihe von Biſchöfen, deren Votum hinſichtlich der Kodiftzierung
des kanoniſchen Rechtes eingeholt wurde, wies auf die veraltete und mangel⸗
hafte bisherige Form der Veröffentlichung päpſtlicher Aktenſtücke
hin. Daher wurde durch eine päpſtliche Konſtitution Promulgandi vom
28. Sept. verordnet, daß mit Beginn des Jahres 1909 in der vatikaniſchen
Druckerei ein offizielles Publikationsorgan (Acta Apostolicae Sedis, Com-
mentarium officiale) für päpſtliche Akten hergeſtellt werde.
Nach Überwindung gar mannigfacher Schwierigkeiten konnte vom 8. bis
12. Febr. 1908 der 1500. Gedenktag des Todes des hl. Johannes
Chryſoſtomus (geſt. 14. Sept. 407), welcher durch Dekret der Riten⸗
kongregation vom 8. Juli zum Predigerpatron erhoben wurde, in Rom
feſtlich begangen werden. Den Höhepunkt der Feier bildete ein griechiſches
Pontifikalamt, welches unter Aſſiſtenz des Papſtes Pius X. im Beiſein
verſchiedener Mitglieder des Kardinalkollegs, des ſyriſchen Patriarchen von
Antiochien Ephrem III. Rahmani und einer großen Anzahl von orientaliſchen
Biſchöfen der griechiſch⸗katholiſche Patriarch von Antiochien Kyrillos VIII.
in der Beatifikationsaula von St Peter am 12. Febr. zelebrierte. Dieſe
feierliche Kundgebung der Vereinigung und Verbrüderung zwiſchen den beiden
großen Riten der katholiſchen Kirche war von geſchichtlicher Merkwürdigkeit.
Denn zum erſten Male war hier die Aſſiſtenz des Papſtes bei der griechiſchen
Liturgie feſtzuſtellen, was nicht einmal bei den Unionsverhandlungen auf
den beiden Konzilien von Lyon (1274) und Florenz (1439) der Fall ge⸗
weſen war. Bedeutungsvoll war die Anſprache, welche der Papſt am fol-
genden Tage in einer Privataudienz für das Komitee der Chryſoſtomusfeier
hielt, wobei er betonte, er ſei von dem Wunſche beſeelt, alles nur Mögliche
zu tun zur Zerſtreuung der Vorurteile, welche Urſache der verhängnisvollen
Trennung ſeien.
Der 19. internationale Euchariſtiſche Kongreß tagte in der
engliſchen Hauptſtadt vom 9. bis 13. Sept. Nach der Bedeutung der
geſchichtlichen Umſtände, nach der Zahl der Mitglieder, nach der Teil⸗
nahme des Epiſkopates betrachtet und gewertet, muß er als außerordent⸗
liches Ereignis bezeichnet werden. Den päpſtlichen Legaten Vincenzo Vannu-
telli umgaben ſechs Kardinäle, fünfzehn Erzbiſchöfe, achtzig Biſchöfe, zwanzig
Abte und 7500 Kongreßmitglieder geiſtlichen und weltlichen Standes. Daß
der Kongreß in London, dem Herzen des weltumſpannenden britiſchen Reiches
10 II. Kirchliches Leben.
abgehalten wurde, wo ſeit den Tagen einer Königin Eliſabeth (24. Juni
1559) die heilige Meſſe beſeitigt war, verlieh ihm beſondere Beachtung.
In der erſten lengliſchen) Abteilung nahmen die Themata der Vorträge
dogmatiſchen, liturgiſchen und ſtaatsrechtlichen Inhalts hauptſächlich Rück⸗
ſicht auf die Vergangenheit und die unmittelbare Gegenwart des katholiſchen
Englands. Von beſonderer Bedeutung war hier der Vortrag des Lord
Llandaff über die Königliche Deklaration gegen die Transſubſtantiation,
ein Thema von aktueller Bedeutung aus dem öffentlichen Rechtsleben des
engliſchen Volkes. Lord Llandaff war es, der bereits im Sommer 1901
im Oberhauſe die Abſchaffung dieſer königlichen Erklärung oder des Teſt⸗
eides beantragte, die den Träger der Krone zwingt, die heilige Meſſe als
„abergläubiſch und götzendieneriſch“ zu bezeichnen mit der ausdrücklichen Be⸗
merkung, daß er dieſe Erklärung in dem Sinne gebe, wie „ſie gewöhnlich
von engliſchen Proteſtanten verſtanden würde“. Llandaffs Vortrag befaßte
ſich des weiteren mit den ſeit jener Deklaration unternommenen Schritten.
In der zweiten (englifchen) und dritten (franzöſiſchen) Abteilung ſtanden
Fragen zur Behandlung, welche vornehmlich vom geſchichtlichen Standpunkte
aus die Verehrung des allerheiligſten Sakramentes nach den verſchiedenſten
Seiten hin zum Gegenſtande hatten. Die Kinderprozeſſion von 20 000 Teil.
nehmern im proteſtantiſchen London am 12. Sept. war ein entzückendes
Schauſpiel. Mit Spannung ſah man ſeit Beginn des Kongreſſes der großen
theophoriſchen Prozeſſion entgegen, welche am 13. Sept. den feier⸗
lichen Abſchluß der Beratungen bilden ſollte. Die Prozeſſion ſchien ge⸗
ſichert, aber die Protestant Alliance vermochte im letzten Augenblick den
Premierminiſter Mr. Aſquith einzuſchüchtern, welcher den Erzbiſchof Bourne
von Weſtminſter willen ließ: die Staatsregierung erwarte, daß die Pro-
zeſſion nicht ſtattfinden werde. Von rechtlicher und geſchichtlicher Bedeutung
iſt der Proteſt, welchen der Erzbiſchof hiergegen erhob 1. An Stelle der
ſakramentaliſchen Prozeſſion wurde dann eine Prozeſſion ohne den eucha⸗
riſtiſchen Heiland durch die um den Dom en Straßen unter un⸗
geheurer Beteiligung abgehalten.
Nach dem Vorbilde ſeines Vorgängers Leo XIII. hat auch Papſt
Pius X. während ſeines Jubiläumsjahres verſchiedene Seligſprechungen
vorgenommen; die beiden erſten, am 17. und 24. Mai, galten zwei Töch⸗
tern des katholiſchen Frankreichs, der Stifterin der Genoſſenſchaft der
Schweſtern von den chriſtlichen Schulen der Barmherzigkeit Maria Magda⸗
lena Poſtel (geſt. 16. Juli 1846) und der Gründerin der Kongregation
der Damen vom heiligſten Herzen Jeſu Magdalena Sophia Barat (geſt.
24. Mai 1865). Am 31. Mai wurde einem Italiener, dem Paſſioniſten⸗
Laienbruder Gabriel von der ſchmerzhaften Mutter (geſt. 1862), die Aus⸗
1 Daily Telegraph, 14. Sept., S. 9. Tablet 1908 II 464.
2. Deutſ chlund. 11
zeichnung der Seligſprechung zu teil. Am 13. Dez. wurden im Konſiſtorien⸗
ſaale des Vatikans unter dem Vorſitze des Papſtes und in Gegenwart ver⸗
ſchiedener Mitglieder des franzöſiſchen Epiſkopates in feierlicher Sitzung
der Ritenkongregation drei Seligſprechungsdekrete verleſen, nämlich für den
Stifter der Weltprieſterkongregation unter dem Namen Jeſus und Maria
Johannes Eudes, für den Protomärtyrer von China, den ſpaniſchen Domini ⸗
kaner Franz de Capillas, und 34 Märtyrer aus verſchiedenen Teilen von
Cochinchina, Tongking und China. Schließlich kam ein Dekret zur Ver⸗
leſung, durch welches die zur Seligſprechung der Jeanne d' Arc geltend ge⸗
machten Wunder approbiert wurden; die feierliche Seligſprechung ſoll am
18. April 1909 in St Peter erfolgen.
Zum Kapuzinergeneral wurde bei dem Generalkapitel vom 20. Mai
an Stelle des bisherigen Generalobern P. Bernhard von Andermatt, der
hierauf zum Titularbiſchof von Stauropolis ernannt wurde, der apoſtoliſche
Prediger P. Pacificus da Seggiano erwählt. Das Generalkapitel der
Paſſioniſten erkor ſich im Generalkapitel vom 25. Mai an Stelle des
bisherigen Generalpräſes P. Bernhard M. von Jeſu den Provinzialobern
von Piemont P. Jeremias. Von dem am 10. Okt. eröffneten General ⸗
kapitel der unbeſchuhten Karmeliter wurde P. Pius Maria Maier,
welcher bisher an der Spitze des Ordens ſtand, wiedergewählt.
Durch den am 20. Dez. erfolgten Tod des Kardinals und Erzbiſchofs
Lecot von Bordeaux iſt das Kardinalskolleg auf 55 Mitglieder,
worunter 22 nichtitalieniſche Purpurträger, zuſammengeſchmolzen. Im ab⸗
gelaufenen Jahre wurden in die Ewigkeit abgerufen ſieben Kardinäle:
Richard, Portanova, Caſali, Nocella, Mathieu, Caſanas, Lecot.
2. Deutfchiand.
Don Dr P. N. Kirſch.
Auch im verfloſſenen Jahre ſind im Anſchluſſe an den Erlaß der
Enzyklika Pascendi vom 8. Sept. 1907 für Deutſchland verſchiedene „Fälle“
zu verzeichnen. Um ihre Meinungsäußerung über dieſe päpſtliche Kund⸗
gebung waren von der Münchener „Internationalen Wochenſchrift“ neben
einer Anzahl von Proteſtanten auch verſchiedene katholiſche Theologie⸗
profeſſoren gebeten worden, darunter Profeſſor Albert Ehrhard (Straß
burg i. E.) und Profeſſor Joſeph Schnitzer (München). Erſterer veröffent⸗
lichte am 18. Jan. in genanntem Organe eine längere Abhandlung mit der
Überſchrift „Die neue Lage der katholiſchen Theologie“, welche, ſehr peſſimi⸗
ſtiſch gehalten, inhaltlich und formell zahlreiche Angriffspunkte bot. Die
Corrispondenza Romana nahm in einer deutſchen Ausgabe am 28. Jan.
12 II. Kirchliches Leben.
Stellung gegen dieſe Abhandlung; bei ihren Ausführungen wäre freilich ein
vorſichtigeres Abwägen der Ausdrücke zu wünſchen geweſen. Am 31. Jan.
erließ nun Profeſſor Ehrhard folgende Erklärung: „Als ich den Artikel...
abfaßte, glaubte ich nicht, daß er geeignet ſei, in weiteren katholiſchen Kreiſen
Beunruhigungen hervorzurufen. Um jeden Zweifel in Bezug auf meine
kirchliche Geſinnung auszuſchließen, ſpreche ich hiermit mein aufrichtiges
Bedauern aus, daß meine Ausführungen, die den Intereſſen der katholiſchen
Kirche in Deutſchland dienen wollten, zu Schlußfolgerungen veranlaßt haben,
zu denen ich mich nicht bekenne. Beſonders ſchmerzlich empfinde ich es, daß
eine Verletzung der Pietät gegen die ehrwürdige Perſon des Heiligen Vaters
darin erblickt wurde. Daß ich die von der Enzyklika verworfenen dog⸗
matiſchen Irrtümer des Modernismus zurückweiſe, geht aus dem Artikel
klar hervor. Ich ſtehe durchaus auf dem Boden des katholiſchen Dogmas
und der Anerkennung der kirchlichen Autorität und bin gewillt, unter allen
Umſtänden ein treuer Sohn der katholiſchen Kirche zu bleiben.“ Nach Mit⸗
teilung des Osservatore Romano (Nr 43) wurde dieſe Erklärung Ehrhards
„als genügend und zufriedenſtellend“ vom Vatikan betrachtet, jedoch habe
es der Papſt wegen des ſchwerwiegenden Falles nicht für ratſam gehalten,
ſeinen Entſchluß, Profeſſor Ehrhard aus der Prälatenliſte zu ftreichen, ric:
gängig zu machen. Zugleich wird die Hoffnung ausgeſprochen, Ehrhard
werde das päpſtliche Vertrauen wieder zu gewinnen ſuchen, um aufs neue
eine Ehrenſtelle bei der Kurie zu bekleiden.
Dem Profeſſor für Dogmengeſchichte und Pädagogik an der Münchener
Univerſität Schnitzer wurde durch den Papſt am 6. Febr. die Aus⸗
übung ſeiner geiſtlichen Amtsbefugniſſe unterſagt wegen ſeines Aufſatzes
„Die Enzyklika Pascendi und die katholiſche Theologie“ in Nr 5
(1. Febr.) der „Internationalen Wochenſchrift“. Als den Theologen ver-
ſchiedener Diözeſen der Beſuch ſeiner Vorleſungen von ihren biſchöflichen
Behörden verboten wurde, ſchloß Schnitzer ſein Kolleg am 7. Febr.
An demſelben Tage wandte ſich der Profeſſor für neuteſtamentliche Exegeſe
in der Münchener theologiſchen Fakultät Otto Bardenhewer bei ſeiner Vor⸗
leſung gegen die genannte Publikation Schnitzers ſowie gegen einen Artikel
desſelben in den „Süddeutſchen Monatsheften“ über Legendenſtudien; hier⸗
bei warnte er ſeine Zuhörer, ſich nicht irre machen zu laſſen durch den
Beifallsſturm, der dem Auftreten Schnitzers gefolgt ſei, und führte aus,
Schnitzer habe „nicht hiſtoriſche Beweiſe vorgebracht, ſondern Anekdoten und
öde Schimpfereien, ganz banale Gemeinplätze, wie ſie in jeder kirchenfeind⸗
lichen Zeitung täglich zu leſen“ ſeien. Infolge davon kam es zu wieder⸗
holten Demonſtrationen von liberalen Studenten gegen Profeſſor Barden⸗
hewer, die Münchener Ortsgruppe des Deutſchen Hochſchullehrertages ſandte
eine Sympathiekundgebung an Profeſſor Schnitzer, und genannte Studenten
ſchaft beſchloß eine Ehrung Schnitzers durch einen Fackelzug, welcher ſich
2. Deutſchland. 13
der Profeſſor jedoch durch Abreiſe von München entzog. Der akademiſche
Senat der Univerſität ſprach ſchließlich am 20. Febr. Profeſſor Barben-
hewer, ohne ihn gehört zu haben, eine ſcharfe Mißbilligung wegen „Ver⸗
letzung kollegialer Rückſichten“ gegen Schnitzer aus und bürdete ihm die
Verantwortlichkeit für die tumultuariſchen Szenen in den Räumen der Hoch-
ſchule auf. Bardenhewer antwortete dem Senate in ausführlicher Dar⸗
legung unter dem 24. Febr. (ſiehe „Köln. Volksztg.“ Nr 216) und wies
„mit beſonderem Nachdruck und nicht ohne innere Entrüſtung“ den Vorwurf
zurück, als hätte er Anlaß „zu Szenen gegeben, wie ſie ſeit Menſchen⸗
gedenken an deutſchen Univerſitäten unerhört waren“.
Profeſſor Schnitzer, welcher nach Einſtellung ſeiner Vorleſungen zu einer
Studienreiſe nach Japan beurlaubt war, kehrte bei Beginn des Winter⸗
ſemeſters zurück. Es wurde ihm jedoch nach einer von ihm veröffentlichten
Mitteilung vom Heiligen Stuhl das Verbot auferlegt, Vorleſungen oder
Vorträge über irgendwelche Disziplin abzuhalten oder ſonſtwie eine publi⸗
ziſtiſche Tätigkeit auszuüben. Schnitzer erklärte, dieſem Verbote zu ent⸗
ſprechen ſehe er ſich „bei aller dem Oberhaupte der Kirche gebührenden
Ehrfurcht“ außer ſtande. Demgegenüber ſoll der Münchener Nuntius einem
Berichterſtatter mitgeteilt haben, die Darlegung Schnitzers beruhe auf falſcher
Vorausſetzung. Der Papſt habe Schnitzer eine öffentliche Lehrtätigkeit nur
für theologiſche und ſolche wiſſenſchaftliche Gebiete verboten, die zur Theo⸗
logie nähere Sachbeziehung hätten. Auch ſolle dieſes Verbot nur bis zur
Ausſöhnung Schnitzers mit der Kirchenbehörde gelten. Der Konflikt, welcher
ſich aus der Wiederaufnahme der Schnitzerſchen Vorleſungen an der Uni⸗
verſität ergeben hätte, fand vorläufige Löſung durch Benutzung des dem
Profeſſor von der Regierung bewilligten Urlaubes für eine Studienreiſe.
Schon im Februar war bekannt geworden, daß in radikalen Dozenten⸗
kreiſen der Münchener Univerſität die Abſicht beſtehe, auf Entfernung
der theologiſchen Fakultäten aus dem Univerſitätsorganismus An-
trag zu ſtellen. Die Münchener Ortsgruppe des Deutſchen Hochſchullehrer⸗
tages ließ zwar erklären, daß ihr als ſolcher von derartigen Abſichten
nichts bekannt fei. Dennoch wurden dem zweiten Deutſchen Hod-
ſchullehrertag, der in der letzten Septemberwoche in Jena tagte und
von 60 Vertretern der ſog. „Profeſſorengewerkſchaft“ beſucht war, dies⸗
bezügliche Leitſätze vorgelegt. Ein Teil derſelben fand Annahme, wodurch
die Freiheit der Lehre innerhalb der durch die wiſſenſchaftliche Methode
ſelbſt gezogenen Schranken nach allen Seiten hin geſichert ſein ſolle unter
dem ausdrücklichen Zuſatze, daß Ausnahmen, nämlich Beſchränkung der
Forſchungs⸗ und Lehrfreiheit durch eine kirchliche Autorität, auch nicht
bei akademiſchen Lehrern der Theologie anzuerkennen ſeien. Die Beſchluß⸗
faſſung über den andern Teil der Leitſätze wurde auf eine nächſte Tagung
verſchoben. Dagegen herrſchte auf der Verſammlung der preußiſchen
14 . Kirchliches Leben.
Univerſitätsrektoren in Halle a. S., unter denen ſich zufällig in dieſem
Semeſter kein katholiſcher, wohl aber proteſtantiſche Theologen befanden,
völliges Einverſtändnis über die Sätze: 1. daß es im nationalen Intereſſe
wünſchenswert fei, die katholiſch⸗theologiſchen Fakultäten an den preußiſchen
Univerſitäten zu erhalten; 2. daß es nicht angezeigt ſei, von Univerſitäts
wegen zu den inneren Bewegungen im Katholizismus (aus Anlaß des neuen
Syllabus und der Modernismus⸗Enzyklika) Stellung zu nehmen.
Mit Beſorgnis mußten die Freunde der chriſtlichen Arbeiterbewegung
den in den letzten Monaten des Jahres aus Anlaß des im Auguſt in Zürich
ſtattgefundenen internationalen Gewerkſchaftskongreſſes wieder ſcharf
ſich zeigenden Gegenſatz zwiſchen den chriſtlichen Gewerkſchaften und den
katholiſchen Fachabteilungen (Berliner Richtung) gewahr werden. Un⸗
überlegte Außerungen von chriſtlichen Gewerkſchaftsführern gegen die Träger
der kirchlichen Autorität, welche von den Führern ſchließlich ſelbſt als „be⸗
dauerliche Vorgänge“ bezeichnet wurden, waren der Ausgangspunkt eines
in der Offentlichkeit ſich abſpielenden Meinungsſtreites der beiden Organi-
ſationen, an welchen nur die Gegner der Kirche ihre Freude haben konnten
und die katholiſchen Glaubensgenoſſen ein Argernis nehmen mußten. Hoffent-
lich trägt eine zu Weihnachten erſchienene Broſchüre „Ein Wort zum Frieden
in der Gewerkſchaftsfrage“ von P. Heinrich Peſch S. J. (Trier, Paulinus⸗
Druckerei) dazu bei, daß wenigſtens „die Form, in welcher fürderhin gegen⸗
ſätzliche Fragen zwiſchen den beiden Organiſationen erledigt werden, einen
friedlichen und ſachlichen Charakter habe“.
Lebhafte Auseinanderſetzungen knüpften ſich im Jahre 1907 (ſiehe dieſes
Jahrbuch I 19 f) an das Bekanntwerden des Planes über die Gründung
einer Laienorganiſation, welche auch durch eine Bittſchrift an den Papſt und
den deutſchen Epiſkopat eine Anderung der Indexbeſtimmungen anſtrebte.
Zur Abwehr gegen Mißverſtändniſſe und gegen Kritik im eigenen und
im gegneriſchen Lager erſchien nun Anfang Mai 1908 eine Schrift mit
dem Titel „Indexbewegung und Kulturgeſellſchaft“, herausgegeben von
Aſſeſſor ten Hompel in Verbindung mit Juſtizrat Hellraeth und Pro-
feſſor Plaßmann (Bonn, Georgi). Aus der Schrift, der als Leitſatz
das Wort Sentire cum ecclesia vorausgeſetzt war, ging hervor, was
Kenner der Perſonen und Verhältniſſe nie in Zweifel gezogen haben, daß
die beteiligten Kreiſe von den beſten Abſichten beſeelte Katholiken ſind,
wenn man auch über ihren urſprünglichen Plan und über den zu deſſen
Verwirklichung eingeſchlagenen Weg billigerweiſe verſchiedener und vielfach
abweichender Meinung ſein konnte. Der zweite Teil der Abhandlung ſtellte
die Notwendigkeit, die Grundlagen, den Zweck und die Mittel zur Gründung
einer Geſellſchaft für chriſtliche Kultur dar, einer Geſellſchaft, deren Ziel
ſein ſolle „die praktiſche Belebung und Durchdringung der Beſtrebungen
für Literatur, Wiſſenſchaft, Kunſt und Charitas mit chriſtlichen Ideen in
2. Deutſchland. 15
den gebildeten Kreiſen des katholiſchen Deutſchlands“. Wenn man auch der
Anſicht ſein konnte, in manchem Punkte wäre der Satzungsentwurf einer
klareren Faſſung und das Programm überhaupt einer feſteren Umſchreibung
und Abgrenzung fähig, ſo regte doch die Schrift in der Sache ſelbſt durch
eine Fülle von Material aus der Feder katholiſcher Kleriker und Laien,
aus päpſtlichen Enzykliken und biſchöflichen Hirtenbriefen zu ernſtem Nach⸗
denken an.
Der zu Fulda zur Konferenz verſammelte deutſche Epiſkopat mit
Ausnahme des bayriſchen und mit Einſchluß des Biſchofs von Luxemburg
erließ unter dem 12. Aug. einen kraftvollen Hirtenbrief gegen die immer
mehr um ſich greifende Unſittlichkeit, welcher am erſten Adventsſonntage von
allen Kanzeln zur Verleſung kam.
Die in der Woche nach Oſtern in Freiſing zur Beratung über bayriſche
kirchliche Angelegenheiten zuſammengetretenen bayriſchen Oberhirten
richteten gleichfalls ein gemeinſames Hirtenſchreiben an ihre Geiſtlichkeit,
welches nach Darlegung der Grundlagen, auf welche Jeſus Chriſtus ſeine
Kirche gegründet, Mahnungen hinſichtlich des Modernismus enthielt.
Die 55. Generalverſammlung der Katholiken Deutſchlands,
welche vom 16. bis zum 20. Aug. in Düſſeldorf tagte, war als beſonders
feierliche Kundgebung derſelben zum goldenen Prieſterjubiläum Pius X.
gedacht, und dieſer Gedanke iſt folgerichtig durchgeführt worden. Die öffent⸗
lichen Vorträge begannen mit einer Papſthuldigung des erſten Präſidenten Graf
Hans Praſchma. Im weiteren Verlauf behandelte Profeſſor Joſeph Mausbach
(Münſter) die bedeutendſte Papſtkundgebung der jüngſten Zeit, die Enzyklika
Pascendi. Dann folgte der ſchweizeriſche Ständerat Adalbert Wirz mit
ſeiner Rede über die weltgeſchichtliche Bedeutung des Papſttums. Dieſe
Gedanken faßte der Präſident der Tagung in ſeiner Schlußrede zuſammen
und gab der ganzen Kundgebung eine wirkungsvolle Krönung durch die
Reſolution über die ſog. römiſche Frage, welche ſonſt zu Anfang der Tagung
zur Annahme kam, diesmal aber zur Erhöhung ihrer Bedeutung an den
Schluß geſtellt war.
Die Übereinſtimmung aller Teilnehmer in den Grundanſchauungen, welche
die Tagung beherrſchten und nach der Anlage beherrſchen ſollten, ergab ſich
aus dem jubelnden Beifall, der ſich jedesmal erhob, wenn ein Redner dieſe
Grund- und Kerngedanken berührte: treue Anhänglichkeit an den Heiligen
Stuhl, an den Papſt, aber auch Treue zur weltlichen Autorität, zu Kaiſer
und Reich, an deſſen Größe mitzuarbeiten, vereint mit allen Gutgeſinnten
auch auf nichtkatholiſcher Seite, die Katholiken ernſtlich gewillt ſind. Und
in dieſer Bereitwilligkeit offenbarte ſich eine wahre Sehnſucht nach voller
Sicherung des konfeſſionellen Friedens, dem auch die Rede des Oberlandes⸗
gerichtsrats Wilhelm Marx (Düſſeldorf) über „Die Lage der Katholiken
Deutſchlands in der Gegenwart“ galt, worin er die Forderung nach voller
16 II. Kirchliches Leben.
Gleichberechtigung der deutſchen Katholiken nachdrücklich erneuerte. Der
Vortrag des holländiſchen Pfarrers Dr Janſſen bei der letzten öffentlichen
Verſammlung über die enge Verbindung von gläubigen Proteſtanten und
Katholiken in Holland mit ihrem ergreifenden Schluß, der Mahnung an
die gläubigen Proteſtanten Deutſchlands: „Wir beſchwören euch bei der
Liebe unſeres Herrn Jeſu Chriſti, reicht uns die Bruderhand!“ zeigte, daß
den deutſchen Katholiken die Wahrung des konfeſſionellen Friedens Herzens⸗
ſache iſt. Bewegten, freudigen Herzens konnte Kardinal und Erzbiſchof
Fiſcher (Köln) in der Schlußverſammlung hinweiſen auf das Bild katho⸗
liſcher Einheit, welches die impoſante Tagung bot. „Biſchöfe, Prieſter
und Laien, Männer jeden Standes und jeden Berufes, Adelige und Bürger
und zumal auch die katholiſchen Arbeiter, alles in friedlichem Verein, alles
getragen von dem hohen Gedanken, dem Gedanken des Glaubens und der
tatkräftigen Liebe zu unſerer heiligen Kirche.“
In die Generalverſammlung des Berichtsjahres hat auch ein Stück
Frauenfrage hineingeſpielt. Durch das neue Vereinsgeſetz vom 18. April
1908 haben „alle Reichsangehörige das Recht, zu Zwecken, die den Straf.
geſetzen nicht zuwiderlaufen, Vereine zu bilden und ſich zu verſammeln“.
Angeſichts der neuen Sachlage ſah ſich das Zentralkomitee vor die Frage
geſtellt, ob jetzt auch die Gewährung des Mitgliedsrechtes an die Frauen,
die bisher nur als Zuhörer der öffentlichen Verſammlungen zugelaſſen
wurden, ſich ermöglichen laſſe. Allerdings hatte man einzelne Damen als
ſachverſtändige Gutachterinnen bereits 1906 zu Eſſen und 1907 zu Würz⸗
burg in den Ausſchüſſen und geſchloſſenen Verſammlungen ſprechen laſſen.
Bei den Beratungen in Düſſeldorf ſtellte ſich heraus, daß die Frage durch
einſtimmigen Beſchluß der Generalverſammlung vorläufig nicht zu erledigen
ſei, wenn man auch darüber einig war, daß die jetzige Beteiligung der
Frauen durch Zuhören eine ungenügende fei. Demgemäß entſchied man ſich,
die Frage zur nochmaligen Beratung und Beiziehung von Vertretern der
Frauenorganiſationen an die ſtändige Leitung der Generalverſammlungen,
das Zentralkomitee, zurückzuverweiſen.
Erfreulich war der Bericht für das Vereinsjahr 1907/1908, welcher bei
der Generalverſammlung über den Stand des Volksvereins für das
katholiſche Deutfchland gegeben werden konnte. Er zählte Ende Juni
1907 insgeſamt 565 700 Mitglieder, Ende Juni 1908 rund 610 800 Mit⸗
glieder, der Zuwachs betrug alſo 45000 Mitglieder; das Rückgrat der
Vereinsarbeit bildeten 20000 Vertrauensmänner. Im Berichtsjahre ſetzte
der Volksverein neben ſeinen andern Arbeiten mit beſonderem Nachdrucke
zur Förderung der Jugend fürſorge ein.
Die 27. Generalverſammlung der Görres⸗Geſellſchaft wurde in der
Biſchofsſtadt Limburg a. d. L. vom 12. bis 14. Okt. abgehalten und mit einem
Vortrage des Vorſitzenden Freiherrn v. Hertling über das Thema „Der
2. Deutſchland. | 17
Skeptizismus in der modernen Welt und die Enzyklika Pascendi“ eröffnet.
Nach dem Geſchäftsberichte iſt ein Zuwachs von 585 neuen Mitgliedern gegen
600 im Jahre 1907 zu verzeichnen. Außerdem wurden 87 Teilnehmer ge⸗
wonnen. Binnen zwei Jahren betrug der Zuwachs nach Abzug der Toten.
ziffern 963 Mitglieder und 179 Teilnehmer. Die Geſamtmitgliederzahl be⸗
trug am 1. Okt. 4007 nebſt 922 Teilnehmern. Bis vor einigen Jahren war
das Programm der Verſammlungen nicht allzu reichhaltig. Von den vier
Sektionen waren nur drei tätig; eine derſelben, diejenige für Rechts. und
Sozialwiſſenſchaft, welche ſeit 1907 neues Leben erhielt, befand ſich zuweilen
in „ruhender Aktivität“. Jetzt bieten die fünf beſtehenden Sektionen Raum,
wie es in Limburg der Fall war, für gegen zwei Dutzend Vorträge. In
32jähriger Tätigkeit hat die Geſellſchaft gezeigt, daß ſie ein nicht zu unter⸗
ſchätzender Faktor im geiſtigen Leben Deutſchlands geworden iſt.
Auch der Verein vom hl. Karl Borromäus zur Verbreitung guter
Bücher kann im abgelaufenen Vereins jahre auf ein ſehr erfreuliches Wachstum
zurückblicken. Die Zahl von 139 555 Vereinsangehörigen im Jahre 1906,
welche in 3074 Vereinen zuſammengeſchloſſen waren, ſtieg bis zum 31. Dez.
1907 auf 151020 in 3265 Vereinen.
Der 13. Charitastag mit gleichzeitiger Generalverſammlung der
katholiſchen Mädchenſchutzvereine wurde vom 12. bis 14. Okt. in
Ravensburg (Württemberg) abgehalten. Auch dieſer Verband hat an Aus⸗
dehnung gewonnen; die Mitgliederzahl beträgt jetzt 4406. Zur Ausbildung
weltlicher Krankenpflegerinnen hat der Verband einen Verein ins Leben ge⸗
rufen, ſeit deſſen Beſtehen drei ſtaatliche Prüfungen ſtattgefunden haben,
denen ſich 16 Pflegerinnen unterzogen.
Der ſeit 1906 gegründeten Organiſation katholiſcher Jugend⸗
freunde mit ihrer Geſchäftsſtelle in Köln gehören jetzt 1100 Vereine mit
150 000 Mitgliedern an.
Ein von über 300 Hörern beſuchter 2. theologiſcher Hochſchul⸗
kurſus mit dem Thema „Jeſus Chriſtus“ wurde vom 13. bis 16. Okt.
in Freiburg i. Br. veranſtaltet 1.
Die 3. Generalverſammlung des katholiſchen Frauenbundes,
welcher 50 Zweigvereine und 205 angeſchloſſene Vereine mit 18 420 Mit-
gliedern zählt, tagte vom 25. bis 28. Okt. zu Münſter i. W. Den Be⸗
ratungsſtoff bildeten hauptſächlich Vorträge über das Kind (phyſiſcher, mo-
raliſcher, rechtlicher Schutz) und über den chriſtlichen Familiengedanken im
Gegenſatz zur modernen Mutterſchutzbewegung.
1 Dieſe Vorträge find im Druck erſchienen: „Jeſus Chriſtus“ (Freiburg Herder).
Jahrbuch der Zeit⸗ und Kulturgeſchichte. II. 2
18 II. Kirchliches Leben.
3. Oſterreich.
Don Dr Franz M. Schindler.
Die letzten drei Jahre können für Oſterreich bezüglich des religiös⸗
kirchlichen Lebens als die Periode der Abflauung der Los von ⸗Rom⸗
Bewegung einerſeits, der Sammlung der katholiſchen Kräfte anderſeits
bezeichnet werden.
Die antikirchliche Bewegung, die um die Wende des 19. und
20. Jahrhunderts beſonders hoch ging, hat es zwar auch im Jahre 1908
nicht an bemerkenswerten Vorſtößen fehlen laſſen; aber es mangelte ihr ſicht⸗
lich an Erfolg, und es gelang ihr nicht einmal, auch nur in engeren Kreiſen
die Aufmerkſamkeit dauernd an ſich zu feſſeln. Die ſtärkſten Vorſtöße knüpfen
ſich an den Namen des Kirchenrechtslehrers Wahrmund in Innsbruck Prag,
der bereits ſeit mehreren Jahren in Rede und Schrift als Wortführer anti⸗
chriſtlicher Beſtrebungen aufgetreten war. Über die Wirkung ſeiner im
Jahre 1908 veröffentlichten, an blasphemiſchen Ausfällen reichen Broſchüre
und die ſich daran knüpfende Bewegung an den Hochſchulen wird an anderer
Stelle berichtet !, hier fei nur erwähnt, daß es der fog. Freiſinn im An-
ſchluß an die „Wahrmund⸗Affäre“ nicht an zahlreichen Verſuchen fehlen
ließ, in Verbindung mit proteſtantiſchen Agitatoren im katholiſchen Volke
für den Abfall von der Kirche zu werben. Die erhofften Erfolge blieben
aber faſt gänzlich aus, zumal auch die ernſteren liberalen Kreiſe von einer
antikirchlichen Hetze nichts wiſſen wollen.
Man kann jetzt, nachdem ungefähr ein Jahrzehnt hindurch der Kampf
gegen die katholiſche Kirche unter dem Schlagwort „Los von Rom“ geführt
worden iſt, wohl eine Geſamtbilanz der Ergebniſſe dieſes Kampfes ziehen.
Die Zählung der tatſächlich von ihrer Kirche abgefallenen Katholiken ergibt
eine Ziffer von 40 000 bis 50 000; darunter iſt eine ſehr mäßige Zahl
akademiſch Gebildeter, die weitaus überwiegende Mehrzahl rekrutiert ſich
aus den haͤndarbeitenden Ständen, namentlich aus den ſozialiſtiſch organi⸗
ſierten Induſtriearbeitern. Nirgends iſt ein eigentlicher Maſſenaustritt er⸗
folgt, ſo ſehr man auch beſtrebt war, derartiges herbeizuführen. Männer
von irgendwie hervorragender Bedeutung, wenn man von einigen wenigen
Parlamentariern abfieht, find nicht abgefallen und Katholiken von ernſt
kirchlichem Leben überhaupt nicht, wenigſtens ſoweit man dies im großen
ganzen überſehen kann. Der Abfall beſchränkt ſich faſt durchaus auf
die Kreiſe derjenigen, welche ſich dem kirchlichen Leben bereits entfremdet
hatten; die Übertritte haben der Konfeſſion, welcher die Abgefallenen nun
angehören, wie man dies überall beobachtet, einen wirklichen Zuwachs recht⸗
1 Vgl. Abſchnitt IV, 3: „Unterrichts. und Bildungsweſen“.
3. Oſterreich. 19
gläubiger und bekenntnisfroher Anhänger nur höchſt ſelten gebracht. Eine
Anzahl von Katholiken, die an ihrer Kirche keine lebendige Freude gewonnen
hatten, iſt zum Proteſtantismus übergetreten, ohne ihrem neuen Bekenntnis
eine mehr und lebendiger betätigte Hingebung zu erweiſen als dem früheren.
Im ganzen haben die 23,8 Mill. Katholiken nur einen geringen Bruch⸗
teil verloren und die 0,5 Mill. Proteſtanten haben eine auch für ihre
Verhältniszahl nicht allzu hohe Schar von Anhängern gewonnen. Aber
auch dieſer gewiß nicht allzu große äußere Verluſt dort und der äußere
Gewinn hier iſt, religiös gewertet, doch ſicher nicht ein ſolcher, daß man mit
Recht ſagen könnte, er ſei proportioniert zu dem Aufwande dazu ſeitens
des proteſtantiſchen Deutſchland. Dabei braucht man nicht einmal an den
materiellen Aufwand zu denken, der ſicher nicht unbedeutend war; aber
man kann nicht ohne tiefen Schmerz denken an den in Oſterreich bisher
nicht erhörten Aufwand von Schmähungen gegen die katholiſche Kirche, an
die Verhetzung des Volkes, um es zum Abfalle von ſeinem ererbten Glauben
zu bewegen, an den Haß gegen die kirchlichen Inſtitutionen und ihre be-
rufenen Vertreter, um fie verächtlich zu machen, wie er dieſe Los⸗von⸗Rom⸗
Bewegung ſeitens der Emiſſäre des Proteſtantismus begleitet hat. Und
für dieſen Aufwand dieſer Erfolg! Der proteſtantiſche Teil Deutſchlands
hat wahrhaftig keinen Grund, jenen Männern Lorbeerkränze zu flechten,
die es in dieſe Bewegung hineingezogen haben. Wie nützlich hätte der
gleiche Aufwand an Geld und Kraft im Dienſte der religiöſen Volksbedürf⸗
niſſe der Heimat aufgeboten werden können! Wir wünſchen nicht, daß
jemals dort ein gleicher Kampf gegen irgend eine proteſtantiſche Konfeſſion
geführt werde oder geführt werden dürfe; aber daß das geſchähe unter
öffentlicher Förderung des katholiſchen Oſterreich — das auch nur entfernt
als möglich zu denken, würde jeder ſelbſt dort für Wahnſinn halten. Und
des proteſtantiſchen Teiles Deutſchlands haben es ſeine Führer für würdig
erachtet, das dem katholiſchen Oſterreich gegenüber zu tun! — Kann man
auch angeſichts des Verluſtes von etwa einem Halbhunderttauſend Katho⸗
liken nicht ſagen, das katholiſche Oſterreich habe den ihm aufgedrungenen
Los- von⸗Rom⸗Kampf glänzend beſtanden, fo darf man doch ruhig be-
haupten, daß es ihn gut beſtanden hat.
Die Arbeit der Sammlung und Organiſierung der katholiſchen Kräfte
wurde im Berichtsjahre auf faſt allen Punkten rüſtig und erfolgverheißend
fortgeſetzt.
Zunächſt verdienen Erwähnung die verhältnismäßig zahlreichen und gut
beſuchten Landes⸗Katholikentage dieſes Jahres. Solche fanden ſtatt
in Böhmen, und zwar für die tſchechoſlaviſchen Katholiken in Prag (29. Aug.
bis 1. Sept.), für die deutſchen Katholiken Böhmens in Rumburg (6. bis
8. Sept.), für Niederöſterreich in St Pölten (27. und 28. Sept.); für Oſt⸗
Schleſien wurde ein polniſcher Katholikentag in Teſchen, für Iſtrien ein
20
20 II. Kirchliches Leben.
Katholikenkongreß in Rovigno abgehalten. Für das Jahr 1909 beſchloß
das katholiſche Zentralkomitee bei der Delegiertenverſammlung in Mariazell
anläßlich der Krönung des dortigen Gnadenbildes die Abhaltung des 7. all-
gemeinen öſterreichiſchen Katholikentages in Wien (5.—8. Sept.). Von dieſen
Tagungen ſind für den Fortſchritt der katholiſchen Organiſation beſonders
die in Böhmen und Niederöſterreich abgehaltenen bemerkenswert. In Böhmen
(beide Tagungen wieſen je 9000 — 10000 Teilnehmer und Teilnehmerinnen
auf) konnte der deutſche Katholikentag von Rumburg durch Ausſchreitungen
des ärgſten Terrorismus von national radikaler und ſozialdemokratiſcher Seite
zwar in ſeinem äußeren Glanze beeinträchtigt werden, ohne daß jedoch da⸗
durch ſeine nachhaltige Wirkung gehemmt zu werden vermochte; die zu⸗
ſammenfaſſende Organiſation der chriſtlichen Frauen⸗ und Jugendvereine für
Deutſchböhmen wurde dort energiſch in die Hand genommen und nimmt
einen erfreulichen Fortgang, ebenſo die chriſtliche Gewerkſchaftsbewegung.
Der tſchechoſlaviſche Katholikentag in Prag wandte namentlich dem katho⸗
liſchen Preß⸗ und Volksbibliotheksweſen, dem Ausbau und der Zuſammen⸗
ſchließung der charitativen Vereine, der Gründung allgemeiner katholiſcher
Männer- und Frauenvereine feine Aufmerkſamkeit zu. Der niederöſterreichiſche
Katholikentag in St Pölten befaßte ſich beſonders mit der Organiſierung der
landwirtſchaftlichen Arbeiter und der männlichen und weiblichen Jugend über⸗
haupt. Hier konnte Baron Vittinghoff⸗Schell als ſtändiger Kommiſſär der
niederöſterreichiſchen Landes⸗Katholikentage von der eben abgeſchloſſenen Arbeit
der Zuſammenſchließung aller nichtpolitiſchen Vereine dieſes Landes in eine
niederöſterreichiſche Landesorganiſation berichten, der Hauptredakteur der
„Reichspoſt“ Dr Funder von der kurz vorher erfolgten Gründung des
Vereins katholiſcher Journaliſten Oſterreichs, der die Sammlung und Cini-
gung aller katholiſchen Publiziſten Oſterreichs zum Zwecke hat.
Dieſe Gründung darf als eine der Früchte der Wirkſamkeit des Pius⸗
vereins betrachtet werden, der feine Tätigkeit rüſtig und mutvoll fortſetzt !.
Das gleiche Lob iſt dem katholiſchen Schulverein zu ſpenden, deſſen
Leitung es gut verſteht, nicht alt zu werden und zu immer neuen Aufgaben
ſtets neue Kräfte an ſich zu ziehen. Die an Zahl kräftig zunehmenden
marianiſchen Kongregationen veranſtalteten in Innsbruck (28. bis
30. Aug.) einen Präſidestag, deſſen Beſchlüſſe über Ausgeſtaltung der Theo⸗
logen⸗ und Akademikerkongregationen beſonders wirkſam die Zukunft des
marianiſchen Kongregationsweſens beeinfluſſen werden.
Über die chriſtliche Arbeiterbewegung im Jahre 1908 orien⸗
tiert eine Mitteilung aus den leitenden Kreiſen derſelben, welche für die
Blätter beſtimmt iſt. „Seitdem vor fünf Jahren die chriſtliche Gewerk⸗
ſchaftsbewegung in Oſterreich eingeſetzt hat, geht es mit der chriſtlichen
1 Näheres |. Abſchnitt IV, 5: „Preſſe in Oſterreich“.
3. Oſterreich. 21
Arbeiterbewegung in erfreulicher Weiſe voran. Auch das abgelaufene Jahr
hat bedeutende Fortſchritte aufzuweiſen. Zeugnis dafür legten vor allem
die Fortſchritte in der Arbeiterpreſſe ab. Zu den beſtehenden elf Ge⸗
werkſchaftsblättern traten zwei neue: ‚Der chriſtliche Handelsangeftellte‘
und die „Metallarbeiter Zeitung!. „Der chriſtliche Textilarbeiter'“, der
früher nur alle drei Wochen erſchien, kommt jetzt alle 14 Tage heraus,
wie überhaupt der chriſtliche Textilarbeiterverband auch im Jahre 1907
wieder den größten Mitgliederzuwachs, etwa 6000 Mitglieder, aufzuweiſen
hat. Der Verband ,chriftlider Holzarbeiter“ und der Verband ‚chriftlicher
Handelshilfs., Transport- und Speditionsarbeiter“ hatten einen fo bedeu⸗
tenden Mitgliederzuwachs zu verzeichnen, daß auch ſie mit Beginn des
Jahres 1909 eigene Verbandsblätter herausgeben können. Neu gegründet
wurde der „Verband chriſtlicher Arbeiter und Arbeiterinnen der Papier⸗
und chemiſchen Induſtrie', der in naher Zukunft ebenfalls an die Heraus⸗
gabe eines eigenen Organes ſchreiten wird. Der Aufſchwung der Ge⸗
werkſchaftsbewegung blieb nicht ohne Einfluß auf die politiſche Arbeiter⸗
bewegung. Zeugnis dafür legt einerſeits die bedeutende Zunahme der
Auflage des politiſchen Zentralblattes, der „Chriſtlich⸗ſozialen Arbeiter-
zeitung‘, ab, die nun ſchon das 22. Tauſend erreicht hat. Die Entwicklung
der chriſtlichen Gewerkſchaften zeitigte die Notwendigkeit, fie aus dem „Reichs⸗
verband der chriſtlichen Arbeitervereine“ auszuſcheiden und in einer völlig
ſelbſtändigen neuen Zentralorganiſation zu vereinigen. Der im Sommer
1907 ſtattgehabte Reichsverbandstag faßte diesbezügliche Beſchlüſſe und der
Anfang 1909 zuſammentretende Gewerkſchaftskongreß wird die neue Ge⸗
werkſchaftszentrale ſchaffen. Nicht unerwähnt darf bleiben, daß die chriſt⸗
liche Jugendbewegung fic) trotz ihres kurzen Beſtandes in der Gewerkſchafts⸗
bewegung ſchon wohltätig fühlbar macht; nicht nur, daß ſie derſelben ſchon
an vielen Orten rührige, geſchulte Kräfte zugeführt hat, verdankt ſogar eine
Reihe von Gewerkſchaftsortsgruppen ihre Gründung den organiſierten jugend-
lichen Arbeitern, die als erſte die chriſtliche Gewerkſchaftsfahne aufpflanzten.“
Die Leo⸗Geſellſchaft, die führende Organiſation der öſterreichiſchen
Katholiken auf dem Gebiete der geiſtigen Arbeit, war im Laufe des Jahres
1908 weniger in der Lage, mit neuen Schriftwerken außer ihren periodiſchen
Zeitſchriften „Die Kultur“ und „Allgemeines Literaturblatt“ in die Offent⸗
lichkeit zu treten; eine Anzahl größerer Publikationen befindet ſich in Vor⸗
bereitung. Ihre hauptſächliche Tätigkeit entfaltete ſie in dieſem Jahre in der
Veranſtaltung von Vorträgen und Vortragskurſen. Vorträge wurden nament⸗
lich in Wien aus allen Wiſſenſchaftsgebieten regelmäßig jede Woche unter
zahlreicher Beteiligung, dazu faſt allwöchentlich je von den verſchiedenen Sek⸗
tionen der Geſellſchaft Fachvorträge abgehalten; ebenſo veranſtalteten lokale
Gruppen von Mitgliedern der Leo-Gefellichaft in andern Städten Vortrags⸗
abende. Unter der umſichtigen Leitung ihres Direktoriumsmitgliedes Prälat
22 II. Kirchliches Leben.
Dr Heinr. Swoboda und unterſtützt von der Regierung, hielt die Leo-
Geſellſchaft einen katechetiſch⸗pädagogiſchen Kurs in Wien ab, der in zwei
Abteilungen (für Religionslehrer an Mittelſchulen und für Religions.
lehrer an Volks und Bürgerſchulen) 14 Tage (1.— 14. März) dauerte, mit
einer ſehr gelungenen Lehrmittelausſtellung für den katholiſchen Religions.
unterricht verbunden war und als Leitgedanken die Behandlung des erzieh⸗
lichen Moments in der Tätigkeit des Religionslehrers hatte. Die ungefähr
600 Teilnehmer des Kurſes beteiligten ſich mit Ausdauer an den theoretifch-
praktiſchen Veranſtaltungen, und die Geſamtheit der Vorträge, die von her⸗
vorragenden Gelehrten und Praktikern gehalten wurden, bot eine ohne
Zweifel ſehr wertvolle Illuſtration zum Hauptthema des Kurſes. Im Herbſt
(1.—10. Okt.) wurde ein Inſtruktionskurs für kirchliche Kunſt in Wien
gehalten. Derſelbe war von vornherein auf eine beſchränkte Zahl von
Teilnehmern (50) angelegt und fand mit ſeinen fachmänniſchen Vorträgen,
Kunſtwanderungen und übungen deren allſeitigen Beifall. Von der Sektion
der Leo⸗Geſellſchaft für bildende Kunſt ging die Gründung einer „Oſter⸗
reichiſchen Geſellſchaft für chriſtliche Kunſt“ aus, welche zugleich die Auf⸗
gabe verfolgt, eine Vermittlungsſtelle zwiſchen Künſtlern und Beſtellern von
Erzeugniſſen chriſtlicher Kunſt für Kirche und Haus zu ſein. Die neue
Geſellſchaft für chriſtliche Kunſt iſt eben daran, ihre erſten Schritte in die
Offentlichkeit vorzubereiten. Sehr wirkſam hat ihr ein illuſtrierter „Führer
durch die chriſtliche Kunſt der Gegenwart“ den Weg gebahnt, welcher von
der Kunſtſektion der Leo-Gefellihaft herausgegeben und durch ganz Ofter-
reich hin verbreitet wurde. Ihre Generalverſammlung für 1908 hielt die
Leo⸗Geſellſchaft in Wien am 1. Dez. zugleich als Kaiſerhuldigungsfeier an⸗
läßlich des vollendeten 60. Regierungsjahres des Kaiſers Franz Joſeph J.
ab. Dieſem beſondern Charakter der Generalverſammlung trug Rechnung ein
Vortrag des greiſen Präſidenten der Geſellſchaft, Exz. Frhrn Joſ. v. Helfert,
des einzigen überlebenden unmittelbaren Zeugen der denkwürdigen Thron⸗
übernahme des Kaiſers in Olmütz am 2. Dez. 1848, über die Ereigniſſe bei
derſelben aus perſönlichen Erinnerungen.
Für den Oſterreicher bleibt das Jahr 1908 beſondern Gedenkens wert:
Der von allen verehrte Herrſcher, deſſen Untertanen ſein Jubiläumsjahr
durch zahlloſe Werke und Stiftungen der Barmherzigkeit verewigten, bekannte
ſich in der Huldigungsaudienz der Biſchöfe und des katholiſchen Klerus als
„treuen Sohn ſeiner Kirche“ — ein weithin gehörtes und verſtandenes
Bekenntnis, das ebenſo den vielgefeierten Kaiſer ehrt, wie es die öſter.
reichiſchen Katholiken mit Stolz und Freude erfüllt. Möge dieſes Bekenntnis
des katholiſchen Herrſchers den Katholiken Oſterreichs ein Programm für
die Zukunft ſein!
4. Ausland. 23
4. Ausland.
Don Dr Pp. A. Kirſch.
Die antiklerikalen Heb- und Wühlarbeiten in Italien fanden auch im
Berichtsjahre ihre Fortſetzung und äußerten ſich hauptſächlich im Kampfe
gegen den Religionsunterricht. Nach einem Miniſterialbeſchluß vom 2. Febr.
1908 haben die Gemeinden nur für den Religionsunterricht derjenigen
Schüler zu ſorgen, deren Eltern ihn erbitten. Der Unterricht ſolle von
geeigneten Perſönlichkeiten erteilt werden, die ihn freiwillig übernehmen.
Wenn jedoch die Mehrheit der Stadträte gegen Erteilung des Religions⸗
unterrichtes ſtimme, ſo könne ſolcher auf Veranlaſſung der Familienväter,
welche einen Antrag ſtellten, von qualifizierten Volksſchullehrern erteilt
werden. Dieſer Verordnung gegenüber legte der ſozialdemokratiſche Ab⸗
geordnete Biſſolati der Kammer einen Antrag vor, welcher auf völlige Wus-
ſchließung des Religionsunterrichtes aus den Schulen abzielte. Nach faſt
zehntägiger Debatte wurde dieſer Antrag mit 303 gegen 106 Stimmen ab-
gelehnt, der erwähnte Miniſterialbeſchluß aber gutgeheißen, welcher den
Forderungen der Radikalen und Sozialiſten weit entgegenkommt. Denn er
ſchützt vor allem die ſozialiſtiſchen Gemeinderatsmehrheiten gegen die bis⸗
herige Praxis, daß auf Verlangen von katholiſchen Familienvätern der vom
Gemeinderat aus den Gemeindeſchulen verwieſene Religionsunterricht durch
Staatsverordnung wiederhergeſtellt wurde.
Im vorjährigen Berichte konnte gemeldet werden, daß Papſt Pius X.
ein neues und einheitliches Programm zur Ordnung der Studien und
Disziplin in den italieniſchen Prieſterſeminarien erlaſſen habe. Um
deſſen gleichmäßige Durchführung in die Wege zu leiten, ließ Pius X. am
17. März durch die Congregatio Episcoporum et Regularium ein Statut
veröffentlichen, welches die Ausführungsbeſtimmungen zu dem Programm
enthielt, nach deren allgemeiner Durchführung wohl ein Wendepunkt in der
Prieſtererziehung Italiens verzeichnet werden dürfte.
Die moderniſtiſche Bewegung in Italien ſcheint durch Erlaß der
Enzyklika Pascendi im Abflauen begriffen zu ſein, wenn es auch am
Schluſſe einer am Oſtermontag unter dem Titel Lettere di un prete
modernista veröffentlichten Proteſtſchrift der römiſchen Moderniſten hieß,
gegenüber der ſcharfen Repreſſion des Vatikans bleibe den Moderniſten
nur die Methode des revolutionären Kampfes übrig; die dogmatiſche
Kirche müſſe vor der neuen Bewegung kapitulieren. Romolo Murri ſchien
Frieden mit der Kirche machen zu wollen, als ſeine Rivista di Cultura
am 26. März ihr Erſcheinen einſtellte. Er kündigte ſodann die Eröffnung
eines Studienhauſes an, von welchem der Osservatore Romano meinte, es
werde wohl „eine Oaſe in dem doktrinären und ſozialen Gebiete der Kirche
24 | II. Kirchliches Leben.
ſein, in welche deren dogmatiſche und disziplinäre Autorität nicht dringe
und nicht dringen dürfe, ein vorgeſchobener Poſten, wenn nicht eine Feſtung
des Modernismus“. Die Erfüllung der Bedingungen, unter welchen die
über ihn verhängte Suspenſion aufgehoben werden ſollte, lehnte Murri
Mitte Mai ab. Ende des Jahres erſtand die Rivista di Cultura wiederum
und wurde durch Dekret des Kardinalvikars Reſpighi vom 28. Dez. ſofort
verboten; dasſelbe Schickſal hat bereits am 8. Jan. die in Rom erſcheinende
Zeitſchrift Nova et Vetera getroffen.
Aufſehen erregte auch die am 23. Jan. erfolgte suspensio a divinis des
Florentiner Profeſſors und Herausgebers der Studi religiosi, Minocchi,
wegen moderniſtiſcher Anſchauungen auf altteſtamentlichem Forſchungsgebiete.
Dagegen ſoll das Ende Juli erfolgte Ausſcheiden des P. Bartoli, ehemaligen
belletriſtiſchen Mitarbeiters der Civiltà Cattolica, aus dem Jeſuitenorden
nach des Ausgetretenen eigener Erklärung mit Modernismus nichts zu tun
haben, wie er auch die Nachricht dementierte, daß er ein moderniſtiſches
Werk in Bearbeitung habe. Der moderniſtiſchen Bewegung gegenüber
machte ſich ein ebenſo bedauerlicher, hauptſächlich in Mailand und Florenz
auftretender, antimoderniſtiſcher Übereifer geltend, der alles, was nach „chriſt⸗
licher Demokratie“ irgendwie ausſah, mit Heftigkeit befehdete und Mailand
als die Hauptbrutſtätte des Modernismus hinzuſtellen ſuchte. Eine Bro⸗
ſchüre dieſer Gruppe unter dem Titel A proposito di modernismo e di
questioni connesse, welche ſich beſonders gegen die Wochenſchrift Tribuna
sociale und die Monatsſchrift Pensiero ed azione, gegen hochangeſehene
Geiſtliche und Seminarprofeſſoren, ja gegen den hochverdienten Mailänder
Kardinal und Erzbiſchof Ferrari richtete, veranlaßte den Kirchenfürſten in
ſeinem Faſtenhirtenbrief zu einem ſcharfen Proteſte.
Im Auftrage des Papſtes veröffentlichte der Kardinalſtaatsſekretär im
Osservatore Romano vom 26. Jan. ein Schreiben an den italieniſchen
Epiſkopat über den kirchlichen Denkmalſchutz. Einem ſtändigen Diözeſan⸗
kommiſſariate ſolle in jedem Sprengel die Überwachung der Denkmäler und
Urkunden obliegen und ſeine erſte Sorge ſolle die genaue Katalogiſierung
ſein; auch ſolle dem Klerus praktiſche Anleitung für deren Schutz zu teil
werden. |
Ein 1. römiſcher Diözeſankongreß der Jugendvereinigungen wurde
am 30. Dez. in Rom abgehalten. Die in der ewigen Stadt ſeltene Be⸗
teiligung von 600 bis 800 Mitgliedern ließ das Intereſſe erkennen, welches
man der Tagung in den bezüglichen Kreiſen entgegenbrachte. Als Be⸗
ratungsgegenſtände lagen derſelben vor: Fragen über Aktion, Organiſation
und Kultur.
Einen nationalen Katholikenkongreß, veranſtaltet von den
drei italieniſchen Vereinigungen Wahlbund, Volksverein, Wirtſchaftlich⸗ſoziale
Union, denen ſich der über ganz Italien verbreitete katholiſche Jünglingsverein
4. Ausland. 25
anſchloß, ſah Genua vom 28. bis zum 31. März in ſeinen Mauern unter
dem Präſidium von Dr Buffa, einem der rührigſten Vertreter der katholiſchen
Organiſation in Ligurien und Vertrauensmann des Volksvereins. Den
Anſtoß zur Abhaltung des Kongreſſes gab der Miniſterial⸗ bzw. Kammer⸗
beſchluß über den Religionsunterricht in den Elementarſchulen. Daher be⸗
handelten die auf der Tagesordnung ſtehenden Punkte vornehmlich den
chriſtlichen Unterricht und die chriſtliche Erziehung des Volkes. Gleichzeitig
wurde aber auch in einer beifällig aufgenommenen Reſolution der Wunſch
ausgeſprochen, die Katholiken Italiens möchten ſich, ſoweit es die ihnen
gezogenen Grenzen geſtatten, lebhaft am öffentlichen Leben beteiligen.
Vom 3. bis 6. Sept. wurde in Venedig der 2. Nationalkongreß
des Verbandes katholiſcher Lehrer und Lehrerinnen abgehalten,
welcher über 20000 Mitglieder zählt.
Um die zahlreichen katholiſchen Organiſationsformen in Italien aktionsfähig
zu machen, hat ſich am 23. Okt. unter dem Vorſitze der Unione economica
sociale zu Bergamo eine Lega fra i propagandisti cattolici d' Italia gebildet.
Sie bezweckt, unter den in der Propaganda tätigen Mitgliedern in möglichſt
zwangloſer und beweglicher Form engere perſönliche Fühlung herzuſtellen
und dadurch den Boden für gemeinſames, gedeihliches Wirken vorzubereiten.
Es iſt eine bekannte Tatſache, daß ſich die Katholiken in Frankreich durch
das Trennungsgeſetz vom 9. Dez. 1905 und ſeine Folgen haben überraſchen
laſſen. Trotz deutlicher, ſeit längerer Zeit vorhandener Anzeichen eines bevor.
ſtehenden Kampfes wurde eine Organiſation der Katholiken zur Vorbereitung
auf die Schwierigkeiten unterlaſſen, die kommen mußten und die gekommen
ſind, ſchlimmer, als man anzunehmen wagte. Hauptſorge war bisher ſchon
immer die finanzielle Unterhaltung der kirchlichen Verwaltung. Die Aus
gaben für den Gottesdienſt und vor allem für Unterhalt der Geiſtlichen
müſſen durch den Kultuspfennig beſtritten werden, und dieſer denier
iſt trotz manch rühmlicher Ausnahme kärglicher gefloſſen, als man an⸗
genommen hatte. Das äußere Bild kirchlichen Lebens konnte zwar bisher
faſt unverändert erhalten werden. Aber in letzter Zeit mehrten ſich die
Anzeichen, daß die Kirche Frankreichs in dieſer Beziehung ſchweren und in
ihren Folgen unüberſehbaren Gefahren entgegengeht. Der Gottesdienſt wird
eingeſchränkt werden müſſen, weil ſich ein drückender Prieſtermangel geltend
macht. Es fehlt vor allem der Prieſtererſatz. Wie ſchnell die Ereigniſſe der
letzten Jahre eingewirkt haben, zeigen zunächſt die Verhältniſſe in den Knaben⸗
ſeminarien. In einer Reihe von Didzefen iſt die Zahl der Schüler der Anſtalten
um mehr als die Hälfte geſunken, z. B. von 350 im Jahre 1906/1907 auf
135 im Jahre 1907/1908. Und das iſt die Lage in den beſſeren Gegenden.
Wie ſehr die Zahl der Prieſteramtskandidaten zurückging, zeigt die Tat⸗
ſache, daß die Zahl der Alumnen im Seminar von Albi von 240 auf 80,
die von Clermont-Ferrand von 200 auf 60, die von Tours von 60 auf
26 II. Kirchliches Leben.
45 uſw. ſich verminderte. Weder in der armen noch in der gutſituierten
Bevölkerung beſteht irgendwelche Neigung, ihre Söhne dem heute ſo dornen⸗
vollen Prieſterberufe zuzuführen. Das Vierteljahrhundert „laiziſierter“ Er-
ziehung hat feine Schuldigkeit getan. Man begreift daher den Schmerzens⸗
ruf des Biſchofs Sevin von Chalons in einem Hirtenſchreiben vom Juli
aus Anlaß eines Kongreſſes, der fic) mit dieſer Frage in feiner Biſchofs⸗
ſtadt beſchäftigte: „Nach den höheren Geſellſchaftsſchichten verläßt nun auch
die ländliche Bevölkerung das Heiligtum und gibt ihre Söhne nicht mehr
der Kirche. ... Gelingt es uns nicht, dieſe Wunde zu heilen, fo kommt
das Daſein der Diözeſe ſelbſt in Gefahr.“ Der Jubel der Kulturkämpfer,
es werde die Schließung der Kirchen in abſehbarer Zeit erfolgen müſſen,
weil keine Prieſter mehr zum Meſſeleſen vorhanden ſein würden, iſt ver⸗
früht. Es iſt aber nicht zu leugnen, daß hier ernſte Gefahr für den fran-
zöſiſchen Katholizismus vorliegt.
In der franzöſiſchen Kammer hatte zur Hebung der finanziellen Not
der Abgeordnete Abbé Lemire Ende des Jahres 1907, als das Devolutions⸗
geſetz (Geſetz über die Entfremdung des Kirchengutes) zur Beratung ſtand, um
die Folgen der völligen Verarmung wenigſtens zum Teil zu beſchwören,
den Antrag geſtellt, das Vermögen der früheren, für die Verſorgung
älterer Geiſtlichen dienenden Diözeſankaſſen den unter der „Trennung“ neu
zu errichtenden Hilfskaſſen für Geiſtliche zuzuweiſen. Dieſer Antrag wurde
angenommen; ſpäter ging der Senat noch darüber hinaus, indem er der
Konfiskation der Meſſeſtiftungen durch den Staat deren Zuweiſung an die
neuen Prieſterhilfskaſſen entgegenſtellte. Regierung und Abgeordnetenkammer
ſtimmten zu, und fo ſchien in etwa die Möglichkeit einer ausgiebigen Ver⸗
ſorgung zahlreicher ſonſt mittellos gewordener Prieſter gegeben. Den Ein⸗
wänden, welche ſich von katholiſcher Seite gegen dieſe Prieſterhilfs⸗
kaſſen (mutualites ecclesiastiques) erhoben, ſuchte der Erzbiſchof von
Rouen, Migr Fuzet, in einer kurzen Denkſchrift zu begegnen, und Abbe
Lemire wollte in Rom durch perſönliche Vorſtellungen von deren Unſchäd⸗
lichkeit überzeugen. Allein der Heilige Vater erklärte in einem Schreiben
an die franzöſiſchen Kardinäle vom 17. Mai, daß er ſeine Billigung
zur Bildung der fog. mutualités approuvées, der Hilfskaſſen, welche der
Genehmigung des Staates unterliegen, nicht geben könne. Damit wider⸗
ſprach er aber nicht der Schaffung freier Hilfsgenoſſenſchaften. Auf dieſe
päpſtliche Entſcheidung hin erklärte Mſgar Fuzet im Bulletin religieux
ſeiner Diözeſe: „Nach reiflicher Prüfung gibt der Papſt die Gründe be⸗
kannt, die ihm nicht geſtatten, die Billigung auszuſprechen. Dieſe Ent⸗
ſcheidung macht der darüber entſtandenen Debatte ein Ende. Getreu den
Überlieferungen der Kirche von Rouen und unſerer eigenen Überzeugung,
bekennen wir, daß der Papſt ‚Der Gebieter des Wortes und der Haltung‘
iſt. Wenn wir, ſolange die Fragen noch frei ſind, das unbeſtreitbare
4. Ausland. 27
Recht haben, unſere Meinung zu fagen und zu begründen, fo haben wir
nach Löſung dieſer Frage durch die höchſte Autorität die gebieteriſche
Pflicht, wieder mit dem hl. Auguſtinus zu ſprechen: Roma locuta est, causa
finita est. Dieſe ſchöne Selbſtzucht hält die Einheit der Kirche auf.
recht und macht ihre Stärke aus; es iſt unſer Ruhm, ihr unterworfen zu
ſein.“ Auch die vier franzöſiſchen Kardinäle betonten in einem vom 29. Mai
aus Bordeaux datierten Schreiben auf die Entſcheidung des Papſtes, daß
„ihre Antwort ein Bekenntnis abſoluten Gehorſams gegenüber dem Be⸗
fehlsworte des Statthalters Jeſu Chriſti“ ſei. f
Zur Löſung der mannigfachen Schwierigkeiten, in welchen ſich die Kirche
Frankreichs befindet, wurde eine Reihe von Kongreſſen abgehalten. Er⸗
wähnung verdient vor allem die Biſchofsverſammlung, welche am
31. März in Paris zuſammentrat unter dem Vorſitze des Erzbiſchofs von
Sens, Migr Ardin. Die ſechs Kirchenprovinzen Paris, Sens, Bourges,
Tours, Rennes und Rouen waren vertreten durch je einen Erzbiſchof und
einen Biſchof. Eingeleitet wurden die Beratungen, deren Ergebniſſe geheim
gehalten wurden, durch einen Gedächtnisgottesdienſt für den am 29. Jan.
1908 verſtorbenen Erzbiſchof von Paris, Kardinal Richard. Eine Biſchofs⸗
konferenz des Südweſtens hatte in Bordeaux bereits am 23. Jan. unter
dem Vorſitze des Erzbiſchofs von Bordeaux, Kardinals Lecot, ſtattgefunden, an
welcher die Erzbiſchöfe von Albi, Bordeaux, Toulouſe ſowie die Biſchöfe von
Carcaſſonne, Perpignan, Tarbes und Poitiers teilnahmen. Ein Diözeſan⸗
kongreß wurde in Lyon am 10. März eröffnet, welcher ſich hauptſächlich
mit der Frage der Organiſation der Katholiken beſchäftigte, über welche man
auch die Schilderung von der Lage und Organiſation der deutſchen Katholiken
durch den Straßburger Kanonikus Müller⸗Simonis entgegennahm. Eine wei⸗
tere Diözeſanverſammlung, die vierte, tagte vom 1. Juni an in Paris. Und
ſchließlich verdient noch der Katechismuskongreß, Ende Februar in Paris
abgehalten, beſondere Hervorhebung. Über 70 Diözeſen waren dabei ver-
treten, und die Zahl der Teilnehmer überſtieg 1200. Das Katechismus⸗
werk, nämlich die Erteilung von Unterricht in der Religionslehre für alle
durch freiwillige Katecheten, hat erfreuliche Fortſchritte zu verzeichnen; denn
im Jahre 1886 gab es 700 folder Katecheten, heute über 20000.
Über den Bibelkritiker Abbe Alfred Loiſy, welcher nach längerem
Schweigen Anfang Februar mit einem zweibändigen Werke über die
ſynoptiſchen Evangelien ſowie einer Schrift über das Dekret des Heiligen
Offiziums Lamentabili sane exitu und die Enzyklika Pascendi wieder auf
der Bildfläche erſchien, wurde durch Veröffentlichung eines Dekretes der
Inquiſition im Osservatore Romano vom 7. März die Excommunicatio
maior verhängt.
Die Ratholifenverfolgung in Weſtrußland wurde Anfang Januar
durch den Gouverneur von Wilna damit fortgeſetzt, daß er bis auf
28 II. Kirchliches Leben.
weiteres nicht nur katholiſche Prozeſſionen, ſondern auch beſonders feſtliche
Gottesdienſte unterſagte, die katholiſchen Kinderaſyle und ein Spital ſchließen,
allen Ordensgeiſtlichen Ausweiſungsbefehle zuſtellen ließ. Auf Allerhöchſten
Befehl wurde darauf im April das ganze Wilnaer katholiſche Konſiſtorium
dadurch aufgelöſt, daß die neun geiſtlichen Mitglieder desſelben „zeitweiſe“
ſuspendiert wurden unter Entziehung des Gehalts und der Kapiteleinkünfte.
Der Grund für die Maßregelung wurde in einer ſchriftlichen Erklärung
dieſer neun Geiſtlichen vom 4. Jan. gefunden, worin ſie auf die Unmög⸗
lichkeit der Kapitelwahl eines Eparchialvikars der katholiſchen Kirche (für
den von der Regierung eigenmächtig abgeſetzten Biſchof Baron von der Ropp.
Siehe dieſes Jahrbuch I 36) hinwieſen. Zugleich erhielt der General:
gouverneur vom Zaren die Ermächtigung, im Einverſtändnis mit dem
Miniſter des Innern die Art der Verwaltung des Kapitelsvermögens feſt⸗
zuſetzen. Da die ruſſiſche Regierung auf dieſem Wege nicht zum Ziele kam,
ließ ſie die Nachricht von einer freiwilligen Reſignation des Wilnaer
Oberhirten auf ſeinen Biſchofsſitz verbreiten. Dieſen Gerüchten trat Biſchof
Baron von der Ropp am 8. Juli mit folgender Erklärung im Kuryer
Litewski entgegen: „In letzter Zeit brachten viele Blätter die Nachricht,
daß ich auf den Wilnaer Biſchofsſitz verzichtet habe. Infolgedeſſen ſehe ich
mich gezwungen, folgende Berichtigung zu veröffentlichen: Gleich zu Beginn
der feindlichen Maßnahmen der Regierung gegen meine Perſon habe ich
die Verzichtleiſtung auf die Diözeſe in die Hände des Heiligen Vaters ge⸗
legt und werde mich nur ſeinem Wunſche fügen. Auch heute ſtehe ich auf
demſelben Standpunkt, zumal das muſterhafte Benehmen der Geiſtlichkeit
und die Tatſache, daß für das geiftige Wohl der Diözeſanen zur Genüge
geſorgt wird, mich zu einer Sinnesänderung nicht veranlaſſen kann. Da
nun von meiner geiſtlichen Behörde meine Demiſſion nicht verlangt worden
iſt, habe ich hierzu keinen Grund noch ein moraliſches Recht.“
Nach amtlichem Bericht wurde die ſeit dem Jahre 1905 verwaiſte Erz-
diözeſe Mohilew, die Metropole von Rußland, Anfang Juli durch Trans⸗
lation des Biſchofs von Plozk Mſgr Apollinaris Wnukowſki (geb. 24. Juli
1848, Biſchof ſeit 1904) wieder beſetzt. Derſelbe lehnte jedoch dieſe Würde
aus Geſundheitsrückſichten ab, und damit wurden erneute Verhandlungen
zwiſchen der päpſtlichen Kurie und der ruſſiſchen Regierung in dieſer An⸗
gelegenheit nötig.
Ende Juni faßte der orthodoxe Synod den Beſchluß, bei den Konſi⸗
ſtorien der Eparchien des Weſtens ſowie der Cholmer Eparchie etatsmäßige
Miſſionsgeiſtliche anzuſtellen, um der Verbreitung des Katholizismus wirk⸗
ſamer entgegentreten zu können. Dieſe Miſſionsgeiſtlichen ſollten in den
genannten Diözeſen Bekehrungspredigten und andachten abhalten, um die
von der Orthodoxie Abtrünnigen zurückzugewinnen, und in den einzelnen
Parochien Miſſionsanſtalten begründen. Die Witebskija Gubernskija
4. Ausland. 29
Wjedomosti, das amtliche Organ des Witebſker Gouvernements, veröffent-
lichte in Nr 130 einen äußerſt gehäſſigen Artikel gegen die zum Katholizismus
übergetretenen Weißruthenen aus der Feder des orthodoxen Biſchofs von
Plozk, worin er den Fluch über die Konvertiten ausſpricht: „Ich flehe vom
Himmel auf die Häupter der Weißruthenen, die in der orthodoxen Kirche
getauft, aber zur katholiſchen Kirche übergetreten ſind, alle Schickſalsſchläge
und jedes Unglück herab, wie es der Prophet den Abtrünnigen verheißt.“
Vollſte Aufmerkſamkeit von katholiſcher Seite verdiente der Ende Juli
in Kijew tagende orthodoxe Miſſionskongreß. Von demſelben war
die weltliche Berichterſtattung völlig ausgeſchloſſen. Einberufen war er vom
orthodoxen Synod, um die Kräfte der ruſſiſchen Kirche mobil zu machen
gegen die Geſetzesvorlagen, welche das Miniſterium des Innern in Sachen
der Gewiſſensfreiheit bei der Reichsduma eingebracht hatte. Die Regierung
ſollte zum Zurückziehen derſelben durch den Zar veranlaßt werden, weil
das Miniſterium des Innern ohne vorherige Verſtändigung mit dem Heiligen
Synod vorgegangen ſei; dieſer ſei mithin nicht in der Lage geweſen, bei
der geplanten Reform die Intereſſen der orthodoxen Kirche genügend zu
wahren. Auch ſollte die Stimme des Miſſionskongreſſes mithelfen, daß die
Dumamehrheit fic) entſchließe, der ruſſiſchen Kirche die „Wahrung ihres Beſitz⸗
ſtandes“ durch Polizeimaßregeln zu ſichern. Das durch das Oſtermanifeſt des
Zaren vom Jahre 1905 verliehene Recht des Austrittes aus der ortho⸗
doxen Kirche ſolle beſeitigt werden. Welche Intereſſen hierbei für die
katholiſche Kirche auf dem Spiele ſtehen, zeigen nachſtehende Ziffern: Im
Gouvernement Wilna hat nach dem offiziellen Bericht des Biſchofs Baron
von der Ropp die katholiſche Kirche bereits über 20000 neue Mitglieder
gewonnen, in den polniſchen Gouvernements Ljublin und Sjedlez über
200 000, in der Stadt Warſchau etwa 2000, im Gouvernement Minſk
ungefähr 8000, im Gouvernement Kijew gegen 1150. Auch in St Peters⸗
burg ſelbſt hat die katholiſche Kirche nicht unbedeutende Erfolge zu ver⸗
zeichnen. Genaue Ziffern laſſen ſich hier nicht geben, da von den vier
katholiſchen Gemeinden der Reſidenz nur von der Katharinenkirche eine
genaue Statiſtik der Konvertiten vorliegt. Danach ſind vom Mai 1905
bis Juli 1908 585 Orthodoxe zur katholiſchen Kirche übergetreten. Nach
den orthodoxen Angaben ſind ſeit Einführung des Toleranzukaſes in den
weſtlichen Provinzen 467 833 Orthodoxe katholiſch geworden (Warſchauer
Eparchie 6590, Wolynien 953, Grodno 5170, Kijew 1120 und in den
vier zum Bistum Wilna gehörigen Eparchien: Litauen 18 000, Minſk
13000, Podolien 3000, Cholm 120000). Das gemäßigte St Peters⸗
burger Blatt Slowo faßte den Eindruck, welchen der Kongreß machte, da⸗
hin zuſammen: Der Anfang der Verſammlung begann mit Worten der
Liebe und der Erinnerung an den Toleranzantrag; das Ende derſelben
beſtand in einer ganzen Reihe von Reſolutionen, die von Intoleranz, Haß
30 II. Kirchliches Leben
und Neid erfüllt ſind. Den Kampf verkünden ſie gegen alle Religionen,
namentlich gegen die katholiſche. Freunde werben ſie nicht, wohl aber
ſchreien ſie nach finanzieller Unterſtützung durch die Regierung. Und zum
Schluſſe kommt die Zeitung zu dem Ergebniſſe, daß die Miſſionäre von
Kijew zur Verkündigung des Wortes Gottes gar nicht fähig ſeien, oder wie
der bekannte, der Sympathie für den Katholizismus durchaus nicht ver⸗
dächtige Menſchikow in der Nowoje Wremja bemerkt: In der orthodoxen
Geiſtlichkeit liege das Feld für die orthodoxen Miſſionen; ftatt den Katho-
lizismus zu bekämpfen, ſollten wir gegen den Verluſt des Glaubens und
der guten Sitten unter den orthodoxen Geiſtlichen zu Felde ziehen.
Die antikatholiſche Haltung der Regierung Englands beim Verbote der
ſakramentalen Prozeſſion aus Anlaß des 19. internationalen Enchariſtiſchen
Kongreſſes in London richtete die allgemeine Aufmerkſamkeit wieder auf die
Emanzipationsbill vom 13. April 1829; mit verſchwindenden Ausnahmen
forderte die Geſamtpreſſe Abſchaffung der veralteten Strafgeſetze als dem
Geiſte der Duldſamkeit zuwider. Auch die mächtig einſetzende katholiſche
Aktion auf Beſeitigung der gottesläſterlichen Königlichen Deklaration (Teſteid)
bei der Regierungsübernahme ſcheint nach einer Erklärung des Miniſter⸗
präſidenten Mr Aſquith von Erfolg gekrönt zu werden.
Biſchof Edward Thomas O' Dwyer von Limerick (Irland) hat
in einer eigenen Broſchüre die Verteidigung des Kardinals Newman
gegen die Anklage des Modernismus unternommen. Daraufhin erhielt er
am 10. März ein päpſtliches Breve, worin u. a. ausgeführt wird: „Und
mag auch hie und da in feinen zahlreichen Werken der Schein eines Ab-
weichens von der überlieferten wiſſenſchaftlichen Methode der Theologen
vorliegen, ſo findet ſich doch nirgendwo etwas, was ſeinen Glauben ver⸗
dächtigen könnte. Es darf nicht wundernehmen, wie Du richtig hervorhebſt,
wenn Newmans Darſtellungsweiſe zu einer Zeit, in welcher die neue Häreſie
von ihrem Daſein noch kein Anzeichen gegeben, an einigen Stellen der be⸗
ſondern Vorſicht ermangelt, daß aber die Moderniſten dieſe Worte in ihrem
Sinne und im Widerſpruch mit dem Zuſammenhang zu unrecht verdrehen.“
Am 31. März brachte im engliſchen Unterhauſe der Staatsſekretär
für Irland die ſeit geraumer Zeit verſprochene und ſeit langen Jahren
ſehnlichſt erwartete Vorlage für die Errichtung einer katholiſchen Uni-
verſität in Irland (Dublin) ein, welche mit 307 gegen 24 Stimmen
Annahme fand. Von den 36 Mitgliedern des Senates der neuen Hoch⸗
ſchule müſſen aber mindeſtens 7 Proteſtanten ſein, während im Senat einer
gleichzeitig neu zu errichtenden proteſtantiſchen Univerſität in Belfaſt nur
ein Katholik zu ſitzen braucht. Paritätiſche Behandlung des durch und durch
katholiſchen Irlands kann hier nicht herausgeleſen werden.
III. Politiſches Leben.
1. Deutſchiand.
Don Ernft j. Kley.
on der politiſchen Wetterwarte aus geſehen mußte das Jahr 1907
für das Deutſche Reich zu den kritiſchen Terminen erſter Ordnung
gezählt werden. Die Kämpfe, die es brachte, ſind an dieſer Stelle
im vorigen Bande geſchildert worden. Immerhin, für viele war 1907 auch
ein Jahr großer Verheißungen; die Kräfte, die durch den Umſturz der
innerpolitiſchen Konſtellation ſtärker zur Geltung gekommen waren, mußten
nach Betätigung ringen, und ſie hatten ja auch wohl einen ausdrücklichen
Anſpruch auf Berückſichtigung erhalten durch den Mund des höchſten Be⸗
amten, des Fürſten Bülow ſelbſt. Iſt ihnen nun das Jahr 1908 zum
Jahre der Erfüllung geworden?
Ja und nein. Das Jahr 1908 hat dem Deutſchen Reiche ein neues,
einheitliches Vereinsgeſetz beſchert und damit formell eine der erſten
Forderungen des Liberalismus erfüllt. Doch iſt die Befriedigung, gelinde
ausgedrückt, keine ungemiſchte. Der Süden, der ja ſeit jeher liberaler
regiert wird als der Norden, hat, um ein einheitliches Reichsrecht zu er⸗
möglichen, vieles opfern müſſen, das er lieber behalten hätte; und er hat
es opfern müſſen dem Polizeigeiſte, dem Geiſte bureaukratiſcher Bevor⸗
mundung, von dem ſich Preußen ſo ſchwer loslöſen kann. Überdies iſt
das neue Reichsrecht durch mancherlei Ausnahmen durchlöchert, deren be⸗
denklichſte in dem ſog. Sprachenparagraphen verſchiedenes Recht ſchafft für
Staatsbürger deutſcher und nichtdeutſcher Zunge, verſchiedenes Recht für
die Nichtdeutſchen untereinander, verſchiedenes Recht endlich ſogar für die⸗
jenigen, auf die allein er gemünzt iſt, die Polen nämlich, je nachdem ſie
katholiſch oder proteſtantiſch ſind, je nachdem ſie einen gewiſſen Prozentſatz
der Bevölkerung des einzelnen Kreiſes ausmachen oder nicht. Vornehmlich
um dieſen Paragraphen tobte der Kampf; er war zu Gunſten des Geſetzes
entſchieden, als bis auf einige wenige Diſſidenten die linksliberalen Par⸗
teien ihren Widerſtand aufgaben und ſich dem kategoriſchen Imperativ der
39 III. Politiſches Leben.
preußiſchen Polenpolitik unterwarfen. Auch nach andern Richtungen hin
iſt das Vereinsgeſetz nicht ganz das liberale Geſetz, als das es angeprieſen
wurde; das zeigen zur Genüge die zahlreichen Klagen über feine Hand⸗
habung, die ſchon in der kurzen Zeit ſeines bisherigen Beſtehens vornehmlich
in Preußen laut geworden ſind.
Neben dem Vereinsgeſetz tritt die zweite poſitive Leiſtung des Jahres
1908, die Börſengeſetznovelle, politiſch ſtark zurück. Sie brachte der
Börſe und beſonders dem Terminhandel verſchiedene Erleichterungen, die
den einen gering, den andern wertvoll erſcheinen. Hier waren es die Kon⸗
ſervativen, die Selbſtverleugnung üben und ihren anfänglichen Widerſtand
der Blockpolitik zuliebe preisgeben mußten.
Die poſitiven Leiſtungen der neuen Reichstagsmehrheit ſind damit er⸗
ſchöpft, denn die Novelle zur Gewerbeordnung, die noch kurz vor
Jahresſchluß unter Dach gebracht wurde, bedeutete keine Blockaufgabe; das
Zentrum iſt an ihr auch hervorragend beteiligt. Die Novelle bringt weſent⸗
liche Fortſchritte in der Frage des geſetzlichen Arbeiterinnenſchutzes. Sozial-
politiſche Erörterungen knüpften ſich außerdem an das ſchwere Grubenunglück
auf der Zeche Radbod bei Hamm i. W., ferner an die durch den wirtſchaft⸗
lichen Niedergang brennend gewordenen Fragen der Fürſorge für die Arbeits-
loſen und der Maßregeln gegen Arbeitsloſigkeit. Einen unmittelbaren Erfolg
konnten dieſe Debatten ſelbſtverſtändlich nicht haben.
Der eben erwähnte Rückgang der wirtſchaftlichen Lage, der
ſich auch in manchen, doch verhältnismäßig zum Glück immer noch nicht
allzu umfangreichen Zuſammenbrüchen von gewerblichen Unternehmungen,
Geldinſtituten u. dgl. äußerte, darf auch in einem politiſchen Rückblick auf
das vergangene Jahr nicht überſehen werden. Es iſt nicht zu beſtreiten,
daß die ſchlechte Geſchäftslage die Schwierigkeiten vermehrt hat, die der
Löſung der Reichsfinanzreform und der trotz der finanziellen Be-
drängnis nicht länger aufzuſchiebenden Erhöhung der Beamtenbeſol⸗
dungen entgegenſtehen. Und damit ſind wir bei den Hauptaufgaben des
im Jahre 1907 gewählten Reichstags angelangt, Aufgaben, denen das
Jahr 1908 noch keine Erfüllung gebracht hat. Von Rechts wegen hätte
die Reform des Reichsfinanzweſens unbedingt ſchon vor einem Jahre in
Angriff genommen werden müſſen. Die Notwendigkeit und Dringlichkeit
einer Sanierung lag klar auf der Hand, und die Verſprechungen, die den
Beamten vor den Reichstagswahlen gemacht worden waren, harrten der
Einlöſung. Aber vor der Schwierigkeit der Aufgabe, bei deren Durchführung
die Gegenſätze zwiſchen links und rechts in der neuen Mehrheit hervortreten
mußten, ſcheute dieſe zurück, um jetzt, in der Tagung 1908/1909 vor — noch
größeren Schwierigkeiten zu ſtehen. Schreckte im Vorjahr die Ausſicht ab,
200—300 Mill. Mark neuer Steuern zuſammenbringen zu müſſen, jo ſieht
man ſich jetzt vor die Forderung geſtellt, deren ſogar 500 Mill. zu bewilligen.
1. Deutſchland. 33
Allerdings, dieſe Bedarfsrechnung des Nachfolgers des Frhrn v. Stengel,
des Reichsſchatzſekretärs Sydow, iſt nicht unangefochten. Die Finanzpolitiker
des Zentrums halten dafür, daß das Reich mit 300 bis 350 Mill. Mark
Mehreinnahmen auskommen könne und müſſe, und es ſcheint, daß man
auch in den Mehrheitsparteien dieſen Rettungsanker gern ergriffe. Es
fragt ſich nur, ob der Druck, den die Finanzminiſter der einzelnen Bundes⸗
ſtaaten unmittelbar und auch mittelbar auf dem Wege über ihre Landtage
auf die parlamentariſchen Führer ausüben, um die volle Bewilligung der
geforderten Summen zu erzielen, nicht zu ſtark fein wird. Bei einer Herab-
minderung auf 300 bis 350 Mill. müßten ſie nämlich auf das Geſchenk
verzichten, das ihnen das Reich in der Reform machen ſoll: auf den Nach⸗
laß der ſchuldigen Matrikularbeiträge an das Reich aus den letzten Etats;
Beiträge, die nach der lex Stengel ihnen nur geſtundet waren, die ſie aber
jetzt ganz erlaſſen haben möchten mit der Begründung, ohne große eigene
Steuererhöhungen ſeien ſie gar nicht in der Lage, dieſe fälligen Beträge an
die Reichskaſſe abzuführen.
Um dieſe Frage werden ſich die Verhandlungen in der Kommiſſion des
Reichstags wohl zunächſt drehen. Im übrigen liegt das Schwergewicht der
Entſcheidung in der Frage, ob der große Mehrbedarf des Reiches im
weſentlichen nur durch indirekte Steuern, Verbrauchsſteuern, oder zum Teil
auch durch direkte Beſteuerung bzw. durch eine Beſteuerung des Beſitzes
gedeckt werden ſoll. Die liberalen, namentlich die linksliberalen Parteien
glauben die Bewilligung neuer indirekter Steuern vor ihren Grundſätzen
und vor ihren Wählern nicht verantworten zu können, wenn nicht zugleich
der Beſitz mit einem angemeſſenen Betrage herangezogen wird. Grund⸗
ſätzlich ſteht auch das Zentrum auf dieſem Standpunkte. Nun iſt der ein⸗
fachſte Weg hierzu, nämlich eine Reichseinkommenſteuer, die ja auch eine alte
liberale Forderung iſt, verſperrt durch den kategoriſchen Widerſpruch ſowohl
der Rechten als auch der einzelſtaatlichen Regierungen, welche die Ein⸗
kommenſteuer, die das Rückgrat ihrer eigenen Finanzen iſt, auch nicht teil-
weiſe an das Reich abtreten wollen. Eine Reichseinkommenſteuer würde
die finanzielle Selbſtändigkeit der Einzelſtaaten vernichten und ſomit gegen
den bundesſtaatlichen Charakter des Reiches verſtoßen. Dasſelbe wird mehr
oder minder auch gegen eine Reichsvermögensſteuer eingewandt, obwohl man
ſchon, auch auf der Rechten, nach Mitteln und Wegen geſucht hat, um eine
Form der Vermögensbeſteuerung zu finden, die den bundesrechtlichen Be⸗
denken Rechnung trage. Auch andere Erſatzvorſchläge ſind gemacht worden,
z. B. eine Dividendenſteuer, eine Couponſteuer, aber einſtweilen hält die
Regierung an ihrem eigenen Vorſchlage der Nachlaßſteuer, die neben der
beſtehenden Erbſchaftsſteuer von allen Nachläſſen, alſo von der Maſſe, nicht
von den einzelnen Erbteilen erhoben werden ſoll, feſt. Die geſamte Land⸗
wirtſchaft und auch weite Kreiſe des gewerblichen e wehren ſich
Jahrbud der Zeit und keulturgeſchichte. II.
34 III. Politiſches Leben.
aber ſehr entſchieden gegen dieſe Steuer; das Zentrum und die Konſervativen
haben ſich gegen ſie erklärt, und es iſt noch nicht abzuſehen, was daraus
werden ſoll, wenn nicht doch noch in letzter Stunde die Konſervativen dem
Drucke nachgeben, den Regierung und Linke auf ſie ausüben. Ein Ausweg,
der vorgeſchlagen iſt, wäre die ſtärkere Beſteuerung des Beſitzes auf dem
Wege über die Einzelſtaaten, ſei es in der Form erhöhter Matrikular⸗
umlagen der letzteren an das Reich oder in Form einer beſondern Abgabe.
Auch hier fragt es ſich, ob die Regierungen ſowie die Linke darauf eingehen
werden.
Letztere verſichert einſtweilen, ohne Nachlaßſteuer oder Vermögensſteuer
ſei das übrige Steuerprogramm für ſie unannehmbar. Davon unabhängig
erheben ſich ohnehin ſtarke Bedenken gegen ſo ziemlich alle einzelnen Steuer⸗
vorſchläge. Die Elektrizitäts- und Gasſteuer, die Inſeratenſteuer und auch
die Weinſteuer werden meiſt ſchon als gefallen bezeichnet. Branntwein und
Tabak werden wohl höher beſteuert werden, aber vermutlich nicht in der
vorgeſchlagenen Weiſe, ſondern auf Grund neuer Entwürfe. Gegen die
Brauſteuer, die anfangs weniger umſtritten ſchien, mehrt ſich neuerdings
der Widerſtand der Intereſſenten. Kurz, das Steuerbukett des Herrn Sydow
iſt arg zerpflückt und zerzauſt worden. Gleichwohl wäre es voreilig, ſeinen
Plan gänzlich als geſcheitert anzuſehen. Man muß damit rechnen, daß trotz
der bergehohen Schwierigkeiten der ſehr begreifliche Wunſch, die durch den
Fürſten Bülow geſchaffene Parteikonſtellation, den ſog. Block, in dieſer
wichtigſten aller innerpolitiſchen Aufgaben nicht verſagen, ſondern ſeinen
Befähigungsnachweis erbringen zu laſſen, zu einem poſitiven Ergebnis
führen wird. Zu dieſem Zwecke wird man alle Hebel in Bewegung ſetzen,
um die widerſtrebenden Blockparteien zu einer Einigung zu vermögen. Der
wilde Eifer, mit dem man ſich aus den an ſich unbedeutendſten Anläſſen
um die Jahreswende auf das Zentrum ſtürzte, um dieſes als den Vater
aller Hinderniſſe, als den Urheber von allen möglichen Ränken wider den
Kanzler und ſeine Reichstagsmehrheit und als den einzigen Nutznießer eines
Verſagens der Blockmehrheit bei der Reichsfinanzreform erſcheinen zu laſſen,
dieſes ganze lärmende Getriebe hat keinen andern Zweck, als einer Mehr⸗
heitsverſtändigung über die neuen Steuern die Wege zu bereiten. Wohl
möchte man hie und da in beſonders verzweifelten Fällen auch das Zentrum
gern als Nothelfer in Reſerve haben, aber nur zu dem Zwecke, um ſchließ⸗
lich vor den Wählern die Verantwortung zum Teil auf das Zentrum mit-
abladen zu können. Aus dieſer Lage erklären ſich die Mahnungen der
Zentrumspreſſe zu würdiger Zurückhaltung, die natürlich eine vorſichtige
Mitarbeit, wie ſie die patriotiſche Pflicht erheiſcht, nicht ausſchließt.
Mehr läßt ſich in dieſem Augenblick über die gegenwärtige Haupt.
frage der inneren Politik des Deutſchen Reiches nicht ſagen. Welche Ent⸗
wicklung ſie ſelbſt nehmen, welche weitere Entwicklung aus ihr hervor⸗
1. Deutſchland. 35
gehen wird, ift völlig unſicher. Vielleicht, daß bei Erſcheinen dieſes Bandes
der Leſer ſchon klarer ſieht; vielleicht aber auch wird die Löſung des
Finanzproblems noch geraume Zeit in Anſpruch nehmen. Inzwiſchen iſt
Prophezeien müßig.
Im ganzen genommen wird man ſagen müſſen, daß das Jahr 1908
nur wenig von dem, was ſein Vorgänger verſprochen, erfüllt hat. Ein
Jahr der getäuſchten Erwartungen und der Unfruchtbarkeit iſt es daher
ſogar in einem Teile der liberalen Preſſe genannt worden. Andere nennen
es ein Jahr der Unſicherheit, und auch das iſt richtig. Vor allem im
Hinblick auf die internationale Lage, deren Rückwirkung ſich auch wirtſchaft⸗
lich und innerpolitiſch ſehr fühlbar macht. Ein ſehr großer Teil der inneren
Unſicherheit und Unzufriedenheit iſt auf das Unbefriedigende der auswärtigen
Lage zurückzuführen, auf die Mißerfolge der deutſchen Diplomatie. Dieſe
ſind ſchwerlich zu leugnen, wenn auch in der allgemeinen Erbitterung, die
durch einzelne Zwiſchenfälle noch geſteigert wurde, ſicherlich manche un-
gerechte Urteile mitunterlaufen. Auf dieſem Stimmungsuntergrunde be⸗
greift ſich die Erregung, die durch die Veröffentlichungen engliſcher und
amerikaniſcher Zeitungen über Außerungen Kaiſer Wilhelms hervor-
gerufen wurde. Zuerſt kam der Brief des Kaiſers an den engliſchen Miniſter
Lord Tweedmouth, der von den Times als ein Verſuch, auf das engliſche
Flottenbauprogramm Einfluß zu üben, hingeſtellt wurde. Die engliſche
Regierung betonte beſchwichtigend den rein privaten Charakter des Briefes,
der nach andern Mitteilungen wohl beſtimmt war, die engliſchen Vorurteile
über den deutſchen Flottenbau zu zerſtreuen. Doch wirkte der ungünſtige
Eindruck bei den ſpäteren Veröffentlichungen vielleicht noch nach. Es folgte
dann, wiederum auf dem Wege über England, die Mitteilung von einer
ſehr peſſimiſtiſchen oder kriegdrohenden Anſprache, die der Kaiſer am
29. Mai auf dem Truppenübungsplatze Döberitz gehalten haben ſollte.
Reichlich ſpät — erſt am 19. Juni — erfolgte ein offiziöſes Dementi, welches
den politiſchen Charakter der Außerungen beſtritt, namentlich auch in Ab-
rede ſtellte, daß der Kaiſer von „Einkreiſen“ oder „Umſtellen“ Deutſch⸗
lands geſprochen habe. Doch führte die offiziöſe Kundgebung ſelbſt eine
ſo ernſte Sprache, daß der objektive Eindruck der war: man will Feſtig⸗
keit und Ruhe zeigen, und das mit Recht, ſieht aber offenbar an amtlicher
Stelle ſelbſt die Lage nicht ohne Beſorgnis an.
Dazu kommt noch ein weiteres Moment der Unruhe: im politiſchen
Freundeskreiſe des Fürſten Bülow iſt man etwas arg nervös geworden
und wittert ſeit den Enthüllungen Hardens und dem ſteckengebliebenen
Eulenburgprozeß — das Verfahren wider den homoſexueller Vergehen an-
geklagten Fürſten Eulenburg wurde wegen Krankheit desſelben ſuspendiert —
überall „Kamarillen“. So kam die Kriſis vom November 1908. Ich ſprach
oben ſchon von der Erregung über gewiſſe Veröffentlichungen engliſcher und
3 s
36 III. Politiſches Leben.
amerikaniſcher Blätter. Eine derſelben, das Interview eines Mr Hale,
wurde unterdrückt, und als doch ein amerikaniſches Blatt mit einer Ent⸗
hüllung herauskam, wurde dieſe als Fälſchung erklärt. Dem war aber die
Veröffentlichung des Daily Telegraph vom 28. Okt. voraus-
gegangen, und ſie iſt die unmittelbare Urſache der genannten Kriſe. In
Form eines Interviews, einer Unterredung mit dem Kaiſer, waren in
dieſer Veröffentlichung, wie man ſpäter erfuhr, eine Anzahl Außerungen des
Kaiſers, die angeblich bei verſchiedenen Gelegenheiten gefallen waren, in an-
ſcheinend beſter Abſicht vereinigt oder bekanntgegeben worden, zu dem Zwecke
nämlich, um die öffentliche Meinung in England von der freundſchaftlichen
Geſinnung des Kaiſers für die Briten zu überzeugen. Der Inhalt war
nun aber derartig, daß ſelbſt in England Kopfſchütteln, in Deutſchland
aber helle Entrüſtung die Folge war. So wurden z. B. dem Kaiſer
Außerungen in den Mund gelegt, wonach das deutſche Volk in ſeiner
großen Mehrheit als englandfeindlich und nur der Kaiſer ſelbſt mit den
„beſten Elementen“ als englandfreundlich erſchien. Ferner war darin von
einem Feldzugsplan des Kaiſers gegen die Buren die Rede und von ruſſiſch⸗
franzöſiſchen Beſtrebungen, im Bunde mit Deutſchland in den Krieg mit den
Buren einzugreifen; einem Angebot, das Deutſchland nicht nur abgelehnt,
ſondern auch den Engländern ſchleunigſt verraten haben ſollte!
In die allgemeine Erregung fiel eine Erklärung der „Norddeutſchen
Allgemeinen Zeitung“, aus der hervorging, daß der Kaiſer in dieſem
Falle korrekt verfahren war: er hatte den Artikel des Engländers, der
alſo auch durchaus loyal vorgegangen iſt, indem er ſeine Arbeit dem
Kaiſer vorlegte, dem Kanzler zur Begutachtung übermittelt, dieſer aber
hatte in unverſtändlichem Leichtſinn den Artikel ungeleſen an das Aus⸗
wärtige Amt weitergegeben, wo man — in Abweſenheit des leitenden
Staatsſekretärs — die in dem Artikel angegebenen Tatſachen als richtig
anerkannte, zu einer politiſchen Beanſtandung ſich aber nicht veranlaßt
ſah. Wie ſollte man auch? Offenbar mußte man doch annehmen, daß
der Kaiſer die Veröffentlichung wünſchte, und wenn ſie nicht opportun
war, dann wäre es Sache des Reichskanzlers geweſen, den Kaiſer darauf
aufmerkſam zu machen, nicht aber die Sache eines untergeordneten Beamten.
Indem der Kanzler fein Entlaſſungsgeſuch einreichte, erkannte er dies tat-
ſächlich auch an. Der Kaiſer lehnte das Geſuch ab. Aber einſtimmig
erklärte die öffentliche Meinung, daß damit der Fall nicht erledigt ſein
könne. Auch der Reichskanzler mußte ſich eine bittere Kritik gefallen laſſen;
ſelbſt manche ſeiner bisherigen Getreuen forderten ſeinen Rücktritt. Später
freilich fanden dieſelben Leute wieder, daß Fürſt Bülow doch unentbehrlich
ſei und daß man ihn halten müſſe, nachdem er ſelbſt den Kampf gegen
das perſönliche Regiment aufgenommen. Inzwiſchen war nämlich der
Reichstag zuſammengetreten, hatte es zwar zu keiner einheitlichen Kund⸗
1. Deutſchland. 37
gebung gebracht, aber doch eine bis dahin noch nicht erhörte Kritik an den
Auswüchſen des perſönlichen Regiments geübt, und bei dieſer Gelegenheit
hatte Fürſt Bülow eine Rede gehalten, die in Ausſicht zu ſtellen ſchien,
daß er Garantien gegen die Wiederkehr ſolch unliebſamer Vorfälle erwirken
werde. Dann war auch der Kaiſer aus Donaueſchingen zurückgekehrt, wo
er ſich nach Anſicht der öffentlichen Meinung für dieſe ernſten Tage faſt zu
gut unterhalten hatte, bis der plötzliche Tod des Generals Grafen Hülſen⸗
Häſeler, des Chefs feines Militärkabinetts, an fröhlicher Tafel dem Aufenthalt
im fürſtlichen Schloſſe einen traurigen Abſchluß gab. Am 17. Nov. er⸗
folgte dann im Neuen Palais bei Potsdam die Audienz des Reichskanzlers
bei dem Kaiſer, über die ſofort folgende amtliche Mitteilung ausgegeben
wurde: „In der heutigen Audienz ſchilderte Reichskanzler Fürſt v. Bülow
die Stimmung des Volkes anläßlich der Veröffentlichung im Daily Tele-
graph und erläuterte ſeine Haltung in den Reichstagsdebatten. Der Kaiſer
nahm die Erklärungen mit großem Ernſte entgegen und gab ſeinen Willen
dahin kund: Unbeirrt durch die als ungerecht empfundenen Übertreibungen
erblicke er ſeine vornehmſte Aufgabe in der Sicherung der Stetigkeit der
Reichspolitik unter Wahrung der verfaſſungsmäßigen Verantwortlichkeiten.
Der Kaiſer billigte die Ausführungen des Reichskanzlers im Reichstag und
verſicherte den Fürſten Bülow ſeines fortdauernden Vertrauens.“ Dieſe
Kundgebung muß im Wortlaut feſtgehalten werden. Umſchreiben kann man
ſie nicht. Jedes Wort iſt ja natürlich ſorglich überlegt. So etwa, daß
möglichſt wenig geſagt wurde, und daß dieſes Wenige für die erregte
Offentlichkeit doch möglichſt viel bedeuten konnte. Der ruhige Beurteiler
mußte ſich ſagen: eine ſolche Erklärung kann viel und wenig bedeuten, jeden⸗
falls aber iſt ſie nur als ein Vorſatz zu bewerten; doch wäre es unbillig
zu zweifeln, daß es dem Kaiſer mit ſeinem Vorſatz Ernſt iſt, und man wird
loyal abzuwarten haben, ob ſich nun demgemäß die politiſche Praxis im
Deutſchen Reiche dem Ideal eines konſtitutionellen Staatsweſens künftig
nähert. Unter der „Wahrung der verfaſſungsmäßigen Verantwortlichkeiten“
war ja wohl in erſter Linie das Verſprechen zu verſtehen, ein perſönliches
Hervortreten „ohne miniſterielle Bekleidungsſtücke“, wie ſich Bismarck aus⸗
drückte, fürderhin zu meiden.
Nun hat man ſich allmählich beruhigt, um fo mehr als der Kaiſer ſeit⸗
dem ſichtlicher Zurückhaltung, ja Zurückgezogenheit ſich befleißigte. Manche
Leute wollten ſogar von niedergedrückter Stimmung, von „ ſeeliſcher De⸗
preſſion“ wiſſen, was wieder andere natürlich nicht abhielt, gleichwohl noch
von allerhand „Kamarillen“ zu träumen und von einem unheilbaren Bruche
zwiſchen Kaiſer und Kanzler. Man darf auf alle ſolche Erzählungen nicht
zuviel geben. Erſt die Zukunft kann zeigen, ob der 17. Nov. 1908 der
Anfang einer weiter gehenden politiſchen Entwicklung iſt oder ob er nur eine
flüchtige Epiſode zum Abſchluß brachte, und ob dieſe einen Stachel zurück⸗
38 III. Politiſches Leben.
gelaſſen hat oder nicht. Jedenfalls kann der Ausbau Deutſchlands zu einem
wahrhaft konſtitutionellen Staatsweſen nicht über Nacht erfolgen, auch nicht
lediglich durch geſetzliche Normen, wie man ſie jetzt — hoffentlich erfolg⸗
reich — für die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers ſchaffen möchte, ſon⸗
dern dazu bedarf es langer und ſtetiger Arbeit und namentlich eines Reichs⸗
tages, der ſeine Stellung wahrzunehmen und ſich als unabhängiger Faktor
unſeres Verfaſſungslebens Geltung zu verſchaffen weiß. Leider haben gerade
die liberalen Parteien des Reichstags ihre Aufgabe ſchlecht begriffen, als
ſie, nur allein von Zentrumsſcheu und von engſtem Parteikalkül beherrſcht,
in den kritiſchen Dezembertagen von 1906 dem Angriff auf einen Reichstag,
der wirklich unabhängig war, ſich anſchloſſen.
Nur noch einiges aus den Einzelſtaaten. In den meiſten drohen
beträchtliche Steuererhöhungen oder find ſchon im Werke, teils im Zuſammen⸗
hang mit der Aufbeſſerung der Beamten und Lehrer — die in Bayern ſchon
erfolgt ijt —, teils wegen der erhöhten Anforderungen des Reiches. Sachſen
wurde durch den Wahlrechtskampf in Atem gehalten; ein Mehrſtimmen⸗
wahlrecht ſcheint ſchließlich dabei herauszukommen. Man ſagt, daß etwas
Ahnliches für Preußen geplant ſei, hier liegt aber eine Reform — mag
ſie nun dieſen Namen verdienen oder nicht — ſicher noch in weitem Felde.
Und das um ſo mehr, als bei den Landtagswahlen vom Juni 1908 gerade
die Konſervativen, die Gegner jeder durchgreifenden Anderung des Drei-
klaſſenwahlrechts, neben dem Zentrum, das ſeinerſeits mit einer halben
Reform nicht zufrieden ſein kann, am beſten, die Nationalliberalen aber,
die Hauptanhänger eines Mehrſtimmenwahlrechts, am ſchlechteſten abſchnitten.
Der Anſturm auf die „konſervativ⸗klerikale“ Mehrheit des preußiſchen Ab⸗
geordnetenhauſes iſt jedenfalls kläglich geſcheitert, und es iſt auch nicht
gerade tröſtlich für den Liberalismus, daß zum erſtenmal Sozialdemokraten
in das „Dreiklaſſenhaus“ einzogen. Die letzte Tat des alten Hauſes vor
den Wahlen war übrigens nicht gerade rühmlich; es war die Annahme
der Enteignungsvorlage, dieſes verhängnisvollſten der antipolniſchen Aus⸗
nahmegeſetze. Eine Anzahl echt konſervativer Männer im Herrenhauſe hatte
aufrecht bei ihrer Ablehnung beharrt, die andern aber hatten ſich gefügt.
In Bayern iſt für die größeren Gemeinden die Verhältniswahl ein⸗
geführt worden. Es war klar, daß die bisherige Vorherrſchaft der Liberalen
in den meiſten Städten bei dieſem eine gerechte Verteilung der Mandate
bewirkenden Wahlrecht auf die Dauer ſich nicht halten kann. In der Tat
riſſen ſchon die erſten Wahlen in die liberalen Hochburgen empfindliche
Breſchen. Den Vorteil davon haben zumeiſt die Sozialdemokraten, aber
auch das Zentrum errang verſchiedene wertvolle Erfolge, und wo es ſchon
im Beſitze der Mehrheit war, da hat es ſich im Gegenſatz zu den Liberalen
ſehr gut behauptet. In und vor ernſten Kämpfen ſtehen Württemberg
und Baden. Im Schwabenlande iſt der Kampf um die Volksſchule in
2. Ofterreid-Ungarn. 39
vollem Gange 1. Baden fteht vor Neuwahlen, und die Frage, um die ſich
alles dreht, iſt die: Wird der „Kleinblock“ der liberalen Parteien und vor
allem der „Großblock“ derſelben mit der Sozialdemokratie erneuert werden
oder nicht? Zentrum und Konſervative rüſten ſich zum Generalangriff auf
die Stellungen dieſer die badiſche Zweite Kammer bisher beherrſchenden
Koalition.
Es gibt keinen Rückblick ohne Ausblick, und ein Jahr iſt in der Ge⸗
ſchichte eines Volkes eine kurze Spanne Zeit, die ſich nicht für ſich allein
ins Auge faſſen läßt. Und das Jahr 1908 ganz beſonders, denn es weiſt
alle Züge einer Übergangszeit auf. Immer wieder muß man an das Vor⸗
jahr anknüpfen, muß an das kommende denken. Alles iſt in Fluß, alles
in Gärung. Was wird aus dem Unfertigen werden, was das Jahr 1909
uns bringen? Gebe es uns vor allem, ſo Gott will, den Frieden, den
Frieden daheim und mit andern Völkern. Doch ſollte es uns anders be⸗
ſchieden ſein, dann möge es uns ſtark finden in Einigkeit und Treue.
2. Oſterreich⸗ Ungarn.
Don Dr Kari Gottfried Hugelmann.
Das Jahr 1908 ſtand, worauf wir ſchon am Schluſſe der letzten Jahres⸗
überſicht hindeuteten, im Zeichen des 60jährigen Regierungsjubiläums des
Kaiſers Franz Joſeph I., eines Jubiläums, welches zu feiern noch keinem
Habsburger beſchieden war. Wer ſich ins Bewußtſein zu rufen vermag,
welche weit über die bloße Macht des monarchiſchen Gedankens hinaus⸗
reichende Bedeutung dem Haufe Habsburg für die Verwirklichung des öſter⸗
reichiſchen Staatsgedankens zukommt, der wird von vornherein begreifen, daß
ein ſolches Feſt auf alle patriotiſchen Kreiſe Oſterreichs mit dem Gewicht
hiſtoriſcher Imponderabilien wirken mußte. Und wenn man ſich vollends
vergegenwärtigt, was an welterſchütterndem Geſchehen das Leben des Herr⸗
ſchers umfaßt, der in den Stürmen des zuſammenbrechenden abſolutiſtiſchen
Regimes und im Kampfe mit einer revolutionären Konſtituante als achtzehn⸗
jähriger Jüngling ſeine Regierung begann und nunmehr als Greis die
Huldigung des aus allgemeiner Volkswahl hervorgegangenen Abgeordneten⸗
hauſes empfängt, — des Herrſchers, der einſt, den Jahrhunderte alten groß⸗
deutſchen Traditionen ſeines Hauſes folgend, den Fürſtentag von Frankfurt
berief und nun in ſeinem Jubeljahr, nachdem er im Krieg des Jahres 1866
der unerbittlichen hiſtoriſchen Notwendigkeit ihren Tribut entrichtet, ſich von
den zur Beglückwünſchung herbeigeeilten Bundesfürſten des neuen Deutſchen
1 Vol, Abſchnitt IV, 3: „Unterrichts ⸗ und Bildungsweſen“.
40 III. Politiſches Leben.
Reiches unter Führung des Hohenzollernkaiſers als treuen Verbündeten um⸗
ringt ſieht: wer dies erwägt, der muß ſich, ſei er ſelbſt ein prinzipieller
Gegner der monarchiſchen Staatsform, faſt mit Ehrfurcht erfüllt und vom
Pulsſchlag der Weltgeſchichte berührt fühlen. Im Lichte dieſer Gedanken⸗
gänge erhalten die großartigen Huldigungen, zu denen ſich trotz mancher
Hemmungen ſchließlich doch alle Faktoren des mit fo vielen ungelöſten
Problemen ringenden Reiches und mit ihnen das Ausland vereinten, ſo
ſehr ihnen auch die der Perſon geltende Liebe und Verehrung einen eigenen
Zauber verleihen, politiſches Gewicht und hiſtoriſche Bedeutung.
Nur die wichtigſten Kundgebungen dieſer Art können hier kurz vermerkt
werden. Eröffnet wurde der Reigen der Glückwünſche bedeutungsvoll durch
den einzigartigen Beſuch der deutſchen Bundesfürſten, welche ſich am 7. Mai
unter der Führung des Deutſchen Kaiſers um den greiſen Jubilar in der
alten Kaiſerſtadt an der Donau verſammelten. Am 21. Mai folgte die
große von der Gemeinde Wien veranſtaltete Huldigung der Schuljugend im
Schönbrunner Schloßpark, an welcher ſich gegen 80 000 Kinder beteiligten;
hier ſprach der Monarch, nach deſſen hochherzigen Intentionen als ſinnigſte
Jubiläumsfeier eine großzügige Wohltätigkeitsaktion „für das Kind“ ein⸗
geleitet worden war, das ſchlichte und innige Wort: „Die Kinder ſind für
mich das Schönſte und Liebſte. Je älter ich werde, deſto mehr liebe ich
die Kinder.“ Nachdem am 30. Mai die geſamte Generalität des gemein⸗
ſamen Heeres und der Marine, der in der Brandung aufrecht ſtehenden
Säulen des Geſamtreichs, ſowie der beiden Landwehren unter Führung des
Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand dem oberſten Kriegsherrn ge⸗
huldigt, ging am 12. Juni, vor dem Kaiſer defilierend, der große, von den
erleſenſten modernen Künſtlern Oſterreichs arrangierte Jubiläumsfeſtzug über
die Wiener Ringſtraße, eine der mächtigſten Schöpfungen aus der Regierungs⸗
zeit des Kaiſers Franz Joſeph. Keine hiſtoriſch empfindende Natur konnte
ſich einer ſtarken Bewegung erwehren, als die erſte Gruppe des hiſtoriſchen
Teiles, in dem bedeutende Epiſoden der öſterreichiſchen Geſchichte, großen⸗
teils von den Nachkommen der daran beteiligten Adelsgeſchlechter, dargeſtellt
wurden, in ſchlichter Einfachheit heranritt: der Einzug Rudolfs von Habs⸗
burg; und als kraftvolle Bejahung des öſterreichiſchen Staatsgedankens
wirkte das farbenprächtige Bild der letzten, der Nationalitätengruppe, in
der die Vertreter der verſchiedenſten Völker bis zu den im glänzenden Waffen⸗
ſchmuck prangenden Bergbewohnern Süddalmatiens einherzogen, vom freund-
lichen Zuruf der Wiener begrüßt.
Nachdem der Kaiſer in Iſchl den Beſuch des Königs von England,
dann in Budapeſt, ſeiner zweiten Reſidenzſtadt, den des Königs von Spanien
und des Königs (damals noch Fürſten) von Bulgarien und ſchließlich in
Wien den des Königs von Griechenland und des Kronprinzen von Rumänien
empfangen hatte, rückte der denkwürdige Tag ſelbſt, der 2. Dez., und mit
2. Oſterreich⸗ Ungarn. 41
ihm die offizielle Feier heran. Nacheinander brachten ihre Huldigung dar:
am 26. Nov., an welchem Tag auch die bosniſchen Katholiken als letzte
einer Reihe von Huldigungsdeputationen aus den annektierten Reichslanden
vor ihrem neuen Landesherrn erſchienen, die Geiſtlichkeit aller in Oſterreich
anerkannten Konfeſſionen, am 27. der öſterreichiſche Adel, am 28. die öſter⸗
reichiſche Staatsbeamtenſchaft unter Führung des Miniſterpräſidenten, am
29. das ungariſche Miniſterium, am 30. die Wiener Gemeindevertretung,
die Landesvertretungen der 17 öſterreichiſchen Kronländer und beide Häuſer
des öſterreichiſchen Reichsrats, ſchließlich am 2. Dez. ſelbſt der Kriegsminiſter
mit den beiden Landesverteidigungsminiſtern und dem Chef der Marineſektion
namens der bewaffneten Macht und das geſamte Erzhaus. Die Reden, mit
welchen der Monarch bei dieſen Anläſſen die Huldigung erwiderte, erhoben
ſich hoch über den herkömmlichen Stil höfiſcher Gelegenheitsreden zu pro⸗
grammatiſch politiſcher Bedeutung. Nach außen erreichten mit einer über⸗
wältigenden Illumination Wiens am Abend des 1. und mit einem feier⸗
lichen Gottesdienſt in der altehrwürdigen Stephanskirche am Vormittag des
2. Dez. die Feſtlichkeiten ihren Höhepunkt, deren imponierenden Eindruck
ſelbſt die ſchmerzlichen Prager Ereigniſſe (auf welche wir noch zurückkommen
werden) nicht zu zerſtören vermochten. Vor Ablauf des Jahres brachten
auch noch Gäſte aus dem Norden, das ſchwediſche Königspaar, dem Jubel⸗
kaiſer perſönlich ihre Glückwünſche dar.
Es iſt eine eindrucksvolle geſchichtliche Fügung, daß der Abend einer
60jährigen Regierung, die an Fortſchritt und Erfolgen, aber auch an
politiſchen Wechſelfällen nicht arm, an bitterſtem perſönlichen Leid überreich
iſt, in der es gewiß auch an Mißgriffen nicht gefehlt hat, die aber vom
erſten Tag an geadelt war durch ein nie erlahmendes Pflichtgefühl und
einen nie ſchwankenden Glauben an die Erfüllung ihrer hiſtoriſchen Miſſion:
daß der Abend dieſer Regierungszeit zuſammenfällt mit Oſterreichs Erſtarken
in der inneren und mit ſeinem Erwachen in der äußeren Politik. Nicht
im Überſchwang der Jugend, als Erfolg der Revolution hat Kaiſer Franz
Joſeph den Ausbau des konſtitutionellen Staates durchgeführt, ſondern
als reife Frucht unabweislicher politiſcher Notwendigkeit, der Rechnung ge-
tragen zu haben, ſeine größte hiſtoriſche Tat bleibt. Auch nicht in glanz⸗
vollen Eroberungskriegen, ſondern ſchrittweiſe, ebenfalls nur dem Gebot
politiſcher Notwendigkeit folgend, hat Oſterreich während der Regierung
Franz Joſephs I. eine bedeutſame Etappe in der Löſung der orientaliſchen
Frage, ſeiner eigentlichſten hiſtoriſchen Miſſion, erreicht. Bevor wir uns
dieſem großen Ereignis der äußeren Politik zuwenden, welches dem Jahre
1908 ſein hiſtoriſches Gepräge verleiht, ſoll mit möglichſter Kürze dargelegt
werden, wie ſich das große innerpolitiſche Ereignis des Jahres 1907, die
Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts in Oſterreich, im Jahre
1908 wirkſam erwies.
42 | IH. Politiſches Leben.
Diejenigen, welche in naiver Weiſe im allgemeinen gleichen Wahlrecht ein
Zaubermittel ſahen, das die politiſchen Schwierigkeiten aus der Welt ſchaffen
werde, ſind über die innere Politik des Berichtsjahres, das man geradezu
ein Kriſenjahr genannt hat, arg enttäuſcht; andere wieder vermeinen, unſeres
Erachtens mit beſſerem Grund, gerade in der Tatſache, daß alle dieſe Kriſen
trotz ſchwerer Fehler der Regierung das Parlament bisher nicht lahmgelegt
haben, eine Bewährung der Wahlreform erblicken zu dürfen. Allerdings
führten dieſe Kriſen zum Sturze des parlamentariſchen Miniſteriums, welchem
die Perſon des Minifterpräfidenten Frhrn v. Beck das Gepräge gegeben hatte,
deſſen große Verdienſte um den Staat — die Durchbringung der Wahlreform
und die parlamentariſche Erledigung des Ausgleichs — trotz der gehäuften Fehler
des letzten Jahres mit goldenen Lettern in der Geſchichte Oſterreichs verzeichnet
bleiben. Schon in der Delegationstagung vom Januar bis in den März und
dann während der bis in den Juli währenden Reichsratstagung hatte es
der ungewöhnlichen diplomatischen und parlamentariſch⸗taktiſchen Begabung
des Kabinettschefs bedurft, um den drohenden Konflikt zwiſchen der öſter⸗
reichiſchen und der ungariſchen Delegation zu unterdrücken und die Arbeits-
kraft des Abgeordnetenhauſes, das vom wiederaufflammenden Sprachenſtreit
in Böhmen und von der „Wahrmund⸗Affäre“ wie im Fieber geſchüttelt wurde,
zur Erledigung nicht nur des Budgets (an ſich ein Fortſchritt gegen frühere
Jahre), ſondern auch einer Reihe anderer Geſetze (vor allem des zum großen
Teil von dem chriſtlich⸗ſozialen Abgeordneten Dr Pattai ausgearbeiteten,
juriſtiſch und ſozialpolitiſch hochbedeutſamen Automobil ⸗Haftpflichtgeſetzes)
zuſammenzufaſſen. Während der Parlamentsferien vollends ergaben ſich
nationale Zwiſchenfälle, die ſtellenweiſe zu heftigen Straßenunruhen führten,
bis im Herbſt die nach der Obſtruktion der Deutſchen verfügte Vertagung
des böhmiſchen Landtags den Anſtoß zur Demiſſion der tſchechiſchen Miniſter
und in weiterer Folge des ganzen Kabinetts gab, welches ſich im ent:
ſcheidenden Moment nahezu von allen Parteien verlaſſen ſah. Zu dieſem
unrühmlichen Ende einer ſo glänzend begonnenen Miniſterpräſidentſchaft
drängte teilweiſe die Natur der Dinge: das Kabinett Beck beruhte auf dem
durch die vielgeſtaltige politiſche, ſoziale und nationale Parteigliederung
beſonders nahegelegten Gedanken, zum mindeſten alle jene großen Parteien,
die auf dem Boden der individualiſtiſchen Geſellſchaftsordnung (im weiteſten
Sinne) ſtehen, zur Durchführung der ſtaatlichen Probleme ohne Schaffung
einer einheitlichen programmatiſchen Baſis zu „koalieren“ und ihnen durch
Aufnahme ihrer Vertreter ins Miniſterium die Einhaltung einer „mittleren
Linie“ in der laufenden Verwaltung des Staates zu ſichern. Dieſes
Syſtem erwies ſich als tragfähig, ſolange die Regierung das Parlament
mit gewaltigen, alle Augenblicksintereſſen in den Hintergrund drängenden
Problemen, wie Wahlreform und Ausgleich, zu beſchäftigen vermochte, es
verſagte aber in dem Augenblick, als ein ſolches Problem fehlte und die
2. Oſterreich⸗Ungarn. 43
Regierung für die zur parlamentariſchen Vertrauensfrage gewordene Steuer-
und Rekrutenbewilligung jeder Partei einen Gegenwert bieten ſollte, ver-
möge ihrer Zuſammenſetzung aber keinen bieten konnte. Es darf auch nicht
verſchwiegen werden, daß die Politik des Frhrn v. Beck, während fie die
widerſtrebenden Parteien verſöhnen wollte, alle verbitterte, zumal mangels
einer ſichtbaren großen Aufgabe die Erhaltung des Miniſteriums als Selbſt⸗
zweck erſchien. Frhr v. Beck ſcheiterte an der techniſchen Unmöglichkeit, das
nächſte von ihm angekündigte Reformwerk, die Alters- und Invaliditäts-
verſicherung der Arbeiter, ſofort dem Abgeordnetenhauſe vorzulegen; als
ſchließlich am 3. Nov., wie angekündigt, noch vor Wiederaufnahme der
Sitzungen das legislatoriſche Rieſenwerk, welches vor allem unter dem
Einfluß der chriſtlich⸗ſozialen Partei über den Rahmen und die Bedeutung
eines Arbeiter ſchutzgeſetzes (auch im weiteſten Sinne) hinausgewachſen
war und einen Ruhmestitel des ſcheidenden Kabinetts bildet, dem Ab-
geordnetenhauſe zuging, war es zu ſpät; den ſeit Monaten aufgehäuften
Konfliktsſtoff zu bannen, gelang ſelbſt der Geſchicklichkeit des Minifter-
präfidenten nicht mehr.
An der erſten der oben angedeuteten Kriſen, die in der Delegation ent-
ſtand, kann der Regierungspolitik keine Schuld beigemeſſen werden. Der
Meinungsdiſſens zwiſchen den beiden Delegationen bezog ſich darauf, daß
die öſterreichiſche eine Erhöhung des Heeresbudgets behufs Regulierung der
Offiziersgagen und der Mannſchaftslöhnung anſtrebte, in der ungariſchen
jedoch Stimmen laut wurden, daß dieſe Frage unter jene Angelegenheiten
falle, bezüglich deren bei der Bildung des Miniſteriums Wekerle der status
quo vereinbart wurde (das fog. „Paktum“ mit der Krone) 1. Die öſter⸗
reichiſche Delegation bewilligte ſchließlich das gemeinſame Budget ohne die
Erhöhung gegen bindende Verſprechen der gemeinſamen Miniſter, für die
Frhr v. Beck gewiſſermaßen die politiſche Garantie übernahm. Obwohl
dieſe Verſprechungen nicht im vollen Umfang eingehalten wurden, kam es
bei der neuerlichen Tagung der Delegationen im Oktober doch zu konformen
Beſchlüſſen bezüglich der von Oſterreich angeregten Regulierung, und den
gemeinſamen Miniſtern wurden in der öſterreichiſchen Delegation mit Mid.
ſicht auf die unterdeſſen eingetretenen äußeren Verwicklungen keine Schwierig⸗
keiten bereitet. Dagegen hielt man ſich, insbeſondere ſeitens der mächtigen
chriſtlich⸗ſozialen Partei, deren im Volke wurzelnde Kraft ſich bei den wich⸗
tigſten Landtagswahlen des Jahres, jenen zum niederöſterreichiſchen Landtag
auf Grund des neuen Wahlrechts 2, neuerdings glänzend bewährte, an den
öſterreichiſchen Miniſterpräſidenten: ein nach der Sachlage begreifliches, aber
unſeres Erachtens politiſch trotz allem nicht ganz konſequentes Vorgehen. —
Stellt ſich die Delegationskriſe als eine Erſcheinungsform der in der
1 gl. dieſes Jahrbuch I 75. 2 Vgl. ebd. I 71.
44 III. Politiſches Leben.
dualiſtiſchen Staatsform im Keime gegebenen Reichskriſe dar, ſo hat die
„Wahrmund⸗Affäre“ ! nur durch die Entſchlußloſigkeit der Regierung einen
kriſenhaften Charakter angenommen. Ebenſo ſchwankend wie in dieſer An⸗
gelegenheit war die Haltung der Regierung und insbeſondere die ihres Chefs
auch gegenüber den ſich immer mehr häufenden nationalen Streitfällen. Wollte
man einmal die einzelnen konkreten Streitfälle im Verwaltungswege aus⸗
gleichen, ſo verſprach man im nächſten Moment, um eine Galgenfriſt zu
gewinnen, die Einbringung eines zwar auf Böhmen beſchränkten, aber eine
generelle Regelung enthaltenden und damit den ganzen Komplex der nationalen
Probleme in ihrer ungeheuren Breite und Tiefe aufrollenden Reichsgeſetzes,
ein Verſprechen, deſſen Erfüllung dann wieder von Monat zu Monat hinaus-
geſchoben wurde. Doch müſſen wir hier mit Rückſicht auf die grundlegende
Bedeutung der nationalen Frage für die öſterreichiſche Politik etwas weiter
ausholen.
Wir haben der Monarchie bereits in der letzten Jahresüberſicht die Auf.
gabe vindiziert, den Widerſtreit der Völker Europas in ihrem Innern zu
löſen und ihre Kräfte zuſammenzufaſſen; darauf weiſen ſie ihre geographiſche
Lage, die ethnographiſche Gliederung Europas und die höchſten Kultur⸗
intereſſen der ariſchen Völker. In dem Maße nun, in dem jene Völker,
welche auf einer relativ niedrigen Kulturſtufe in den ſtaatlichen Verband
eintraten, höhere Entwicklungsſtufen erklimmen, wird es ſchwieriger, zwiſchen
ihren politiſchen und kulturellen Expanſionsbedürfniſſen einerſeits und den
hiſtoriſch fundierten Anſprüchen ſowie den materiellen Bedürfniſſen der älteren
Kulturvölker anderſeits einen Ausgleich herzuſtellen, welcher den Beſtand
des Staates im Intereſſe aller ſeiner Völker verankert. Die Schwierigkeiten
ergeben ſich keineswegs ausſchließlich zwiſchen Deutſchen und Slawen, ſondern
beiſpielsweiſe auch zwiſchen Südſlawen und Italienern, zwiſchen Polen und
Ruthenen ?, und auf die Heftigkeit und Verbitterung des Kampfes zwiſchen
den letztgenannten Völkern ließ die Ermordung des Statthalters von Galizien
Grafen Potocki durch den rutheniſchen Studenten Myroslaw Siczynski (den
Schwager eines rutheniſchen Reichsratsabgeordneten) am 12. April ein er⸗
ſchreckendes Licht fallen. Trotz alledem liegt der Angelpunkt der nationalen
Frage in dem Verhältnis zwiſchen den Deutſchen, denen opfervolle Arbeit
1 Bgl. Abſchnitt IV, 3: „Unterrichts⸗ und Bildungsweſen“.
2 Der Streit zwiſchen Deutſchen und Italienern, welcher ſich hauptſächlich um die
Errichtung einer italieniſchen Hochſchule dreht, hat ganz ſpezielle Wurzeln. Er iſt als
ein Gegenſatz zwiſchen den beiden höchſtentwickelten Kulturvölkern des Staates an ſich
und ganz beſonders wegen der ungünſtigen Wirkung auf das Verhältnis zu Italien
tief bedauerlich. Zu einer ähnlichen politiſchen Bedeutung aber wie etwa der deutſch⸗
tſchechiſche Streit iſt er nie gelangt, wenn auch die Verbitterung in den letzten November ⸗
tagen ſo weit führte, daß italieniſche Studenten in den Räumen der Wiener Univerſität
Schußwaffen gebrauchten.
2. Oſterreich · Ungarn. 45
am Aufbau des öſterreichiſchen Staates gerechten Anſpruch auf beſondere
Berückſichtigung ihrer Intereſſen gäbe, — und den Tſchechen, welche in den
letzten Dezennien, nicht zuletzt durch Schöpfen aus der unverſieglichen Quelle
deutſcher Kulturarbeit, aber auch durch hohe nationale Tatkraft eine erſtaun⸗
liche kulturelle Entwicklung durchgemacht haben und, in einer Periode ſtarker
Volksvermehrung begriffen, alljährlich überſchüſſige Volkskräfte in das ge⸗
ſchloſſene deutſche Sprachgebiet vorſchieben, wo man nun von den deutſchen
Gemeinden verlangt, daß ſie durch Erhaltung von tſchechiſchen Schulen u. dgl.
felbft ihren nationalen Charakter untergraben. — Es kann nicht überraſchen,
daß dieſe tiefen Gegenſätze in politiſchen Programmen und juriſtiſchen Formu⸗
lierungen ſcharfen Ausdruck gefunden haben. Die Deutſchen ſuchen den
Schwerpunkt des ſtaatlichen Lebens im Reichsrat, in dem inſtinktiven
Bewußtſein, daß hier, wo unter den ſich kreuzenden Intereſſen aller Völker
und Klaſſen die hiſtoriſchen Lebensnotwendigkeiten des Geſamtſtaats ſich
ſtärker geltend machen, über ihre Intereſſen unmöglich zur Tagesordnung
übergegangen werden kann. Die Tſchechen aber ſehen für die geſetzliche
Regelung der Sprachenfrage und andere wichtige Belange die Landtage
als kompetent an und berufen ſich auf ein hiſtoriſch wenig fundiertes
„böhmiſches Staatsrecht“, welches die Sudetenländer zu einem relativ felb-
ſtändigen Staatskörper zuſammenfaſſen ſoll und, in die Wirklichkeit um⸗
geſetzt, zur Tſchechiſierung deutſcher Gebiete wenigſtens eine Handhabe bieten
würde. Zudem tritt eine verſchiedene Auslegung des von den Deutſchliberalen
im Jahre 1867 geſchaffenen Staatsgrundgeſetzes über die allgemeinen Rechte
der Staatsbürger immer mehr in den Vordergrund, auf welches ſich die
Tſchechen berufen, obwohl ſie die Verfaſſung als Anhänger des böhmiſchen
Staatsrechts nicht anerkennen. Während die Deutſchen die vielberufene Be⸗
ſtimmung des Artikels 19, daß die „landesüblichen“ Sprachen in Amt und
Gericht gleichberechtigt ſind, dahin interpretieren, daß damit die im Sprengel
des betreffenden Amtes oder Gerichtes landesüblichen Sprachen gemeint ſind,
verlangen die Tſchechen, daß auch jene Gerichte in Böhmen, in deren Sprengel
nur oder faſt nur Deutſche wohnen, tſchechiſch amtieren, und dieſem Stand-
punkt, der in der Praxis geradezu zur Erwürgung der Deutſchen führen kann,
trägt auch die Stremayrſche Verordnung vom Jahre 1880 ſowie die — aller⸗
dings nicht widerſpruchsfreie — Judikatur der höchſten Gerichte Rechnung.
Die akute nationale Kriſe brach nun dadurch aus, daß die deutſchen Ge⸗
richte erſter Inſtanz, bei denen gehäufte und mutwillige, nachgewieſener⸗
maßen ſogar fingierte Klagen in tſchechiſcher Sprache eingebracht wurden,
dieſe Klagen zurückwieſen, indem ſie die Verordnung des Jahres 1880 als
den geſetzlichen Beſtimmungen widerſprechend für wirkungslos erklärten,
während das Prager Oberlandesgericht konſequent den tſchechiſchen Stand⸗
punkt in ſeinen Entſcheidungen zur Geltung brachte. Eine gefährliche Zu⸗
ſpitzung erfuhr der Konflikt, als in einzelnen Fällen, in denen nach den
46 III. Politiſches Leben.
Prozeßgeſetzen ein Rechtszug an das Oberlandesgericht ausgeſchloſſen iſt,
verſucht wurde, die unterſtehenden Gerichte im Wege der Juſtizaufſicht zu
andern Entſcheidungen zu zwingen, was bei den Deutſchen als Eingriff in
die Unabhängigkeit der Rechtſprechung Entrüſtung hervorrief. Die oben
gekennzeichnete ſchwankende Haltung der Regierung machte die Sache natür⸗
lich nicht beſſer. Es kam, wie erwähnt, zu nationalen Straßenexzeſſen, denen
gegenüber die Regierung völlig verſagte, und ſchließlich in dem inmitten
der fieberhaften nationalen Erregung einberufenen böhmiſchen Landtag, der
über eine den demokratiſchen Forderungen teilweiſe Rechnung tragende, den
Einfluß der Deutſchen aber noch mehr ſchwächende Wahlreform beraten
ſollte, zur Obſtruktion der Deutſchen, welche eine ihrer Volkszahl ent⸗
ſprechende Vertretung im Landesdienſt, die Beſetzung der Richter. und Be⸗
amtenſtellen im deutſchen Sprachgebiet mit Deutſchen und die nationale
Zweiteilung als Exiſtenzminimum gerechterweiſe verlangen.
Die Vertagung des böhmiſchen Landtags führte, wie ſchon früher er⸗
wähnt, zur Demiſſion des Miniſteriums Beck, welche am 7. Nov. von der
Krone angenommen wurde. Nachdem der Verſuch, ein neues Koalitions⸗
miniſterium zu bilden, in einer die ganze Nacht hindurch währenden Kon⸗
ferenz der Parteiführer am 13. Nov. geſcheitert war, wurde am 15. unter
Beiziehung eines deutſchen, eines polniſchen und eines tſchechiſchen „Lands⸗
mannminiſters“ unter dem Vorſitze des Frhrn v. Bienerth ein Beamten⸗
miniſterium gebildet, das ſich — ein trauriges Zuſammentreffen — am 2. Dez.
genötigt ſah, zur Unterdrückung der gegen die Deutſchen gerichteten äußerſt
bedrohlichen und geradezu ſtaatsfeindlichen Exzeſſe über Prag für einige Tage
das Standrecht zu verhängen. In dieſer kritiſchen Situation, die das alte
Kurienparlament zweifellos lahmgelegt hätte, hat fic) nun das neue Ab⸗
geordnetenhaus glänzend bewährt; es wurden nicht nur trotz der frivolen
Obſtruktionsverſuche der von Serbien beeinflußten tſchechiſch⸗radikalen Partei⸗
gruppe die Staatsnotwendigkeiten, Budgetproviſorium und Ermächtigungs⸗
geſetz bezüglich der Handelsverträge mit den Balkanſtaaten, erledigt und das
Geſetz über die Annexion Bosniens und der Hercegovina nach einer groß⸗
zügigen Debatte an einen Ausſchuß verwieſen, ſondern ebenſo auch nach
Verabſchiedung kleinerer, aber hocherfreulicher ſozialpolitiſcher Geſetze (Verbot
der Nachtarbeit der Frauen, Verbot des weißen Phosphors), die vom Herren⸗
haus zweifellos ebenfalls werden angenommen werden, das koloſſale Geſetz
über die Sozialverſicherung, eine wahre legislatoriſche Großtat. So endete
das bewegte Jahr, wenn es auch noch nicht die erhoffte Vollendung des
großen ſozialen Reformwerks brachte, doch auch auf dem Gebiet der inneren
Politik mit einem nicht zu unterſchätzenden, in die Zukunft weiſenden Erfolg.
Schon in den bisherigen Darlegungen hat zu wiederholtenmalen das
große Ereignis angeklungen, welches gegenwärtig die europäiſche Politik
beherrſcht: die Annexion Bosniens und der Hercegovina. Wir
2. Öfterreich- Ungarn. 47
können nun auch bezüglich der äußeren Politik an unſere vorjährigen Dar-
legungen anknüpfen: indem die Monarchie den Widerſtreit der Völker
Europas in ihrem Innern löſt und ihre Kräfte zuſammenfaßt, iſt es im
ganzen Staatenſyſtem Europas ihre Miſſion, in ihrer zentralen Lage der
mächtigſte Garant des europäiſchen Gleichgewichts und der Bannerträger
der europäiſchen chriſtlichen Kultur im nahen Orient als führende Balkan⸗
macht zu ſein. Und ſo bildet die Löſung der ſog. „orientaliſchen Frage“,
dem oberflächlichen Beobachter nicht immer ſichtbar, den eigentlichen Angel ⸗
punkt der öſterreichiſchen Geſchichte, wenngleich die Habsburger⸗Monarchie
ſelbſt hier den oben gekennzeichneten konſervativen, zuwartenden, den Be⸗
dingungen der hiſtoriſchen Entwicklung ſich anſchmiegenden Zug ihrer Politik
nicht verleugnete. Aus dieſen Vorausſetzungen ergeben ſich die überaus ein-
fachen Grundlinien der öſterreichiſch⸗ungariſchen Politik im letzten Menſchen⸗
alter. Sie hat im unentwegten Feſthalten am Dreibunde das europäiſche
Gleichgewicht, wenn der Vergleich geftattet iſt, zu einem ſtabilen gemacht.
Sie hat ſich auf dem Balkan in der Periode nach den letzten ſtaatlichen
Neubildungen, in denen ein gewaltſamer Schritt die organiſche Entwicklung
hätte ſtören müſſen, damit begnügt, eine ihren Intereſſen präjudizierende
Veränderung des status quo auszuſchließen, ſie hat die Konſolidierung der
Balkanſtaaten nach Kräften gefördert und ihre eigene Stellung am beſten
dadurch zu ſichern geglaubt, daß ſie zu dem tüchtigſten der jungen Staaten,
zu Rumänien, in freundſchaftliche Beziehungen trat. Sie hat, ohne die ihr
im Berliner Vertrag eingeräumten Rechte voll auszunützen, ſich für ver⸗
pflichtet gehalten, auf die von ihr kraft dieſes Vertrages okkupierten und
mit der Gewalt der Waffen behaupteten, mit dem Blut ihrer Söhne ge-
tränkten Länder durch eine mächtige Kulturarbeit einen moraliſchen Rechts-
titel zu erwerben. Zur Sicherung dieſer Politik des Friedens diente ins⸗
beſondere das Abkommen von Mürzſteg, welches im Jahre 1903 (3. Okt.)
mit Rußland geſchloſſen wurde und den Zweck verfolgte, ein ſtändiges Ein⸗
vernehmen beider Mächte in den ſich ergebenden Streitfragen unter den
Balkanſtaaten zu ſichern und eine gemeinſame Reformaktion zu Gunſten der
chriſtlichen Völker in Mazedonien ohne deſſen Lostrennung von der Türkei
zu ermöglichen. Vielleicht zu große Reſerve, aber gewiß nicht zügelloſe
aggreſſive Tendenzen kann man einer Politik vorwerfen, welche ſelbſt nach
der Seeſchlacht von Tſuſchima am Mürzſteger Abkommen gewiſſenhaft feſt⸗
hielt, nachdem ſie ſich ſchon früher vom Protektorat über Kreta zurück⸗
gezogen hatte.
Schließlich wurde Oſterreich⸗Ungarn durch die hiſtoriſche Entwicklung
geradezu gezwungen, aus der geſchilderten Reſerve herauszutreten, und es
ft das Verdienſt des Miniſters Frhrn v. Aehrenthal, im letzten Moment
eine beſonnene, aber doch aktive Balkanpolitik inauguriert zu haben. Zu⸗
nächſt wurde die Monarchie mit der Erfüllung ihrer kulturellen Aufgabe in
48 III. Politiſches Leben.
Bosnien und der Hercegovina mit innerer Notwendigkeit auf eine Sicherung
wirtſchaftlicher Poſitionen in der europäiſchen Türkei hingewieſen, welchem
Bedürfnis das in der Frühjahrstagung der Delegationen angekündigte, durch
die ſpäteren Ereigniſſe in den Hintergrund gedrängte, aber keineswegs auf-
gegebene Projekt der Sandſchakbahn, das mit der direkten Verbindung aus
dem Herzen Europas bis an den Piräus unberechenbare Perſpektiven eröffnet,
Rechnung getragen werden ſollte. Die Erregung, die dieſes Projekt in Europa
hervorrief, bewies, wie ſehr man ſich entwöhnt hatte, die Monarchie in ihrer
unmittelbaren Intereſſenſphäre eine aktive Rolle ſpielen zu ſehen; die nächſte
Folge war das zwiſchen Rußland und England mit Außerachtlaſſung des
Mürzſteger Abkommens geſchloſſene, bezüglich Mazedoniens weit über letz⸗
teres hinausgehende Übereinkommen von Reval. Dieſes wurde allerdings
durch den unerwarteten Umſturz in der Türkei, die Einführung der Kon⸗
ſtitution, gegenſtandslos; und Oſterreich hat einen neuerlichen Beweis ſeiner
zuwartenden, allen Entwicklungsmöglichkeiten freien Spielraum laſſenden
Politik gegeben, indem es die auf Grund des Mürzſteger Abkommens in
Mazedonien wirkenden Reformorgane abberief. Anderſeits ergab ſich für
Dfterreich-Ungarn durch die Einführung der Konſtitution in der Türkei die
Alternative, entweder die Verbindung der beiden okkupierten türkiſchen Pro-
vinzen mit der Monarchie auf eine dauernde ſtaatsrechtliche Grundlage zu
ſtellen oder ſie der Türkei zurückzugeben. Die Monarchie hat ſich, in ge⸗
ſundem Selbſterhaltungstriebe die Konſequenzen aus ihrer ganzen Geſchichte
ziehend, gegen die letztere Eventualität entſchloſſen, die nur der verbohrteſte
Doktrinarismus zu behaupten vermag. Ein tiefes Geheimnis umgab die
vorbereitenden Beratungen der gemeinſamen, der ungariſchen und der öfter-
reichiſchen Regierung, welch letztere — vielleicht eben infolge dieſer In⸗
anſpruchnahme — der inneröſterreichiſchen Politik weniger Aufmerkſamkeit
zuwendete. Mit imponierender Sicherheit wurde der hiſtoriſche Akt voll.
zogen: am 4. Okt. kehrten plötzlich die nach Wien berufenen, bei den Groß⸗
mächten beglaubigten Botſchafter auf ihre Poſten mit den kaiſerlichen Hand-
ſchreiben zurück, welche den Souveränen von der bevorſtehenden Annexion
Mitteilung machten; und bereits am 7. Okt. erſchien das Manifeſt, in
welchem Franz Joſeph I. unter Hinweis auf die Beziehungen, welche in
der Vergangenheit zwiſchen den ungariſchen Königen und den okkupierten
Ländern beſtanden, aber geſtützt auf den ſtärkeren Rechtstitel einer 30jährigen
Kulturarbeit und der hiſtoriſchen Notwendigkeit die Souveränität auf dieſe
Länder erſtreckte und die nach der Pragmatiſchen Sanktion und den Haus-
geſetzen geltende Erbfolgeordnung auch für dieſe Länder proklamierte, denen
zugleich die Einführung verfaſſungsmäßiger Inſtitutionen und die volle reli⸗
giöſe Freiheit zugeſichert wurde. Die Delegationen, welche unmittelbar nach
dieſem großen Akt zuſammentraten, haben die Politik des Frhru v. Aehren⸗
thal mit ſeltener Einmütigkeit gebilligt, die nach der öſterreichiſchen und nach
2. Ofterreich-Ungarn. 49
der ungarischen Verfaſſung notwendigen Gefege wurden noch im Herbſt ein-
gebracht und befanden ſich am Schluſſe des Jahres in normaler parlamen-
tariſcher Behandlung.
Der Schritt Oſterreich⸗Ungarns, der bei einem großen Teile des zunächſt
betroffenen Volkes begeiſterte, bei der überwiegenden Mehrzahl (auch der
Mohammedaner) wenigſtens ſympathiſche Aufnahme, nirgends aber den ge⸗
ringſten Widerſtand fand, hat in ganz Europa ein ſtürmiſches Echo geweckt,
obwohl er doch nur die Konſequenz aus einer zur Reife gediehenen Ent-
wicklung zog. — Zunächſt wurde das freundnachbarliche Verhältnis mit der
Türkei, welches ſich während der Politik des status quo herausgebildet
hatte, empfindlich geſtört, trotzdem man verſuchte, mit der Zurückziehung der
öſterreichiſch-ungariſchen Truppen aus dem Sandſchak Novipafar, wo fie auf
Grund des Berliner Vertrags Garniſonen bezogen hatten, dem neuen kon⸗
ſtitutionellen Staate eine vollwertige Kompenſation zu bieten. Die öſter⸗
reichiſche Politik blieb auch darin ihren Traditionen treu, der natürlichen
Entwicklung nicht vorzugreifen, fie vielmehr, mag immerhin der pbilo-
ſophiſche Betrachter des geſchichtlichen Werdegangs ihre Notwendigkeit in-
tuitiv vorausſehen, an ſich herantreten zu laſſen und als realpolitiſches Ziel
nur die nächſte Entwicklungsſtufe ins Auge zu faſſen. Ob die Räumung des
Sandſchaks nicht ein Akt zu großer Entſagung war, läßt ſich bei der heutigen
Kenntnis der diplomatiſchen Vorgänge nicht entſcheiden; ihr nächſtes Ziel, die
Türkei zu verſöhnen, hat ſie jedenfalls, wie der andauernde, Oſterreichs wirt⸗
ſchaftliche Intereſſen ſchwer ſchädigende Boykott beweiſt, nicht erreicht. Der
Grund hiefür mag in der Verlegenheit der jungtürkiſchen Kreiſe zu ſuchen ſein,
denen von den Vertretern des alten Regimes die Schuld nicht nur an der
ungünſtigen Löſung der bosniſchen, ſondern auch an der ganz analogen der
bulgariſchen und kretiſchen Frage, der die Monarchie begreiflicherweiſe nur
wohlwollend gegenüberſtehen konnte, beigemeſſen wird, obwohl die Ver⸗
faſſungsänderung nur den äußeren Anſtoß gegeben hatte; er mag aber auch
tiefer liegen in dem inſtinktiven Bewußtſein, daß auch die Einführung der
Verfaſſung den jahrhundertelangen Prozeß der Verdrängung der osmaniſchen
Herrſchaft aus Enropa nicht aufzuhalten vermögen wird und ein endlicher
Kampf auf Leben und Tod unvermeidlich iſt.
Viel heftiger noch reagierte die öffentliche Meinung in den beiden felb-
ſtändigen ſerbiſchen Staaten, Serbien und Montenegro, gegen die Annexion,
was hiſtoriſch begreiflich und begründet iſt, da zwar nicht der geringſte
rechtliche Anſpruch dieſer Staaten, aber aufs empfindlichſte ihre ſtolzen Zu⸗
kunftshoffnungen getroffen wurden. Auch kann nicht geleugnet werden, daß
frühere Fehler der öſterreichiſchen Politik, welche zuerſt ſich allzu ſehr mit
den dynaſtiſchen Intereſſen des im Lande verhaßten Hauſes Obrenowitſch
identifizierte und dann nach deren ſchrecklichem Ende gegenüber der neuen,
der Mitſchuld am Morde verdächtigen Dynaſtie zu wenig n
Jahrbuch der Zeit- und Rulturgeſchichte. IL
50 III. Politiſches Leben.
beobachtete, die Autorität der Monarchie gewiß nicht ſtärken konnten. Der
Umſtand, daß ſich insbeſondere in Serbien die Regierung an die Spitze
der nationalen Bewegung geſtellt hat und gegen Oſterreich Ungarn eine
geradezu herausfordernde Haltung einnimmt, hat die öſterreichiſch⸗ungariſche
Regierung zur Ergreifung ernſter militäriſcher Maßnahmen gezwungen, um
die Lebensintereſſen des Reiches gegen jeden Angriff mit bewaffneter Macht
zu verteidigen.
Ermutigt wurde Serbien insbeſondere dadurch, daß nicht nur England
eine geradezu feindſelige, ſondern auch Italien eine nicht bundesfreundliche
und Rußland eine ausgeſprochen unfreundliche Haltung gegen die Monarchie
beobachteten, obwohl letzteres der Monarchie in wiederholten, nunmehr be⸗
kannt gewordenen Geheimverträgen in Bosnien und der Hercegovina freie
Hand gelaſſen hatte und, wie feſtzuſtehen ſcheint, ſowohl Iswolski als
Tittoni bei ihrer Zuſammenkunft mit Aehrenthal am Ende des heurigen
Sommers den bevorſtehenden Schritt zur Kenntnis genommen hatten.
Während Rußland und England verlangten, daß die endgültige Entſcheidung
über die Annexion von einer Konferenz der Signatarmächte des Berliner
Vertrags abhängig gemacht werde, war die Monarchie zwar von Anfang
an bereit, einer ſolchen Konferenz die vollzogene Tatſache ſozuſagen zur
völkerrechtlichen Legaliſierung zu unterbreiten, ſie mußte ſich aber dagegen
verwahren, daß die Tatſache ſelbſt, die ſie zwingenden Lebensintereſſen
Rechnung tragend vollzogen hatte, in Frage geſtellt werde. Die Situation
nahm einen äußerſt bedrohlichen Charakter an; erſt durch die Dumarede
Iswolskis vom 25. Dez., welche auf den Vorſchlag der Monarchie ein⸗
geht, die Konferenz nur nach einer vorher erfolgten materiellen Einigung
der Mächte über die Annexion zuſammentreten zu laſſen, und mit der Zu⸗
ſtimmung Englands zu dieſem Vorſchlag trat eine Milderung der Spannung
ein. Am meiſten verſtimmt hat in Oſterreich nach den gehäuften Freund⸗
ſchaftsbezeigungen der letzten Jahre die ſeindſelige, gehäſſige Haltung Eng⸗
lands bei dem erſten größeren politiſchen Schritt, der in Wahrung wich⸗
tiger Lebensintereſſen unternommen wurde. Das Eintreten für die Heilig⸗
keit internationaler Verträge ſteht gewiß jener Macht am wenigſten an,
die noch niemals einen Vertrag reſpektiert hat, der ihr unbequem war.
Überdies muß, wenn man auch zugeben kann, daß die Verwandlung der
Okkupation in eine Annexion über das der Monarchie im Berliner Vertrage
eingeräumte Mandat dem Wortlaute nach hinausreicht, anderſeits betont
werden, daß die Monarchie, indem fie einen unter geänderter Sad)
lage von den höchſten Gründen der Selbſterhaltung ihr diktierten Schritt
tat, gleichzeitig aus freiem Antrieb Kompenſationen geboten hat. Es wider⸗
ſpricht aber der Natur des Völkerrechts, ſeinen Verträgen einen ſo abſolut
bindenden Charakter beizulegen, daß auch in dieſem eingeſchränkten Maße
die clausula rebus sic stantibus nicht ſtatthaben ſollte.
2. Oſterreich⸗ Ungarn. 51
In zwei Richtungen eröffnet die Betrachtung der Annexion Bosniens
und der Hercegovina und der ſich daran ſchließenden politiſchen Ereigniſſe
große und erfreuliche Perſpektiven für die Zukunft. „Mit der Uhr in der
Hand“ kann man heute auf den Augenblick warten, in dem ſich die Ver⸗
einigung der beiden Länder mit Kroatien und Slawonien und Dalmatien
mit unaufhaltſamer Notwendigkeit vollziehen wird. Dieſes großkroatiſche
Königreich mit der Hauptſtadt Agram aufzunehmen, wird aber der ungariſchen
Reichshälfte unmöglich ſein, es wird der Dritte im Bunde werden, an die
Stelle des Dualismus, einer für die Dauer unmöglichen Staatsform, wird
der Trialismus treten !, wie (der chriſtlich⸗ſoziale Abgeordnete) Prinz Alois
Liechtenſtein im öſterreichiſchen Abgeordnetenhauſe mit einer im Intereſſe des
deutſchen Volkes weitſchauenden Vorausſicht unter dem Jubel der Südſlawen
verkündet hat. Dieſes großkroatiſche Königreich im Rahmen Oſterreichs wird
dem hochbegabten ſüdſlawiſchen Stamm ein individuelles politiſches und
kulturelles Leben verbürgen, es wird zwar nicht die ſtolzen Hohenſtaufen⸗
Pläne einer deutſchen Herrſchaft im Balkan verwirklichen, wohl aber ver⸗
hindern, daß mit der Verlegung des ſüdſlawiſchen Schwerpunkts von
Agram nach Belgrad der Balkan zu einer Provinz eines panſlawiſtiſchen
Rieſenreiches wird, und fo das Gleichgewicht Europas dauernd befeſtigen.
Die zweite hocherfreuliche Tatſache iſt, daß ſich in den vergangenen
ſchweren Tagen das Bündnis zwiſchen Oſterreich und dem Deutſchen
Reich als unerſchütterlich erwieſen hat. Es iſt eben aufgebaut nicht auf
augenblicklichen Bedürfniſſen diplomatiſcher Konſtellationen, ſondern auf den
tiefſten Lebensintereſſen beider Staaten, was gewiß auch die flawiſchen
Völker Oſterreichs in dem Maße mehr würdigen werden, als die inner-
öſterreichiſchen nationalen Fragen ihrer Löſung entgegengehen; dieſe Er-
kenntnis unter den ihr politiſch und wirtſchaftlich naheſtehenden ſlawiſchen
Gruppen zu fördern, iſt die chriſtlich⸗ſoziale Partei am meiſten berufen und
befähigt. Das Bündnis ruht auf ſo ſtarken, in einer tauſendjährigen ge⸗
meinſamen Geſchichte wurzelnden Imponderabilien, daß Intrige und Kurz
ſichtigkeit daran zu Schanden werden müſſen. An die ihm in Friedrichsruh
huldigenden deutſchnationalen Studenten hat der eiſerne Kanzler, der Schöpfer
des Dreibundes, in einer hoch bedeutſamen, viel zu wenig bekannten Rede
die Worte gerichtet: „Es iſt eine eigentümliche Fügung des Schickſals und der
göttlichen Vorſehung, daß dieſes große gewaltige Gebiet von ganz Zentral-
Europa ... ſich, nachdem es durch Schickſalsfügungen und viele Kämpfe ge⸗
1 Wir haben bei der Überfülle des Stoffes davon abgeſehen, die politiſchen Ver⸗
hältniſſe in den Ländern der Stephanskrone näher zu betrachten. Sie laſſen ſich kurz
dahin charakteriſieren, daß ſich das Miniſterium Wekerle, welches eine hinter den Erwar⸗
tungen weit zurückbleibende Wahlreformvorlage eingebracht hat, fortfriſtet; der kroatiſche
Landtag wurde das ganze Jahr hindurch nicht einberufen (vgl. dieſes Jahrbuch I 77).
Wenn nicht alle Anzeichen trügen, ſtehen im Jahre 1909 wichtige Ereigniſſe bevor.
4 ea
52 III. Politiſches Leben.
trennt und zerriſſen war, doch ſchließlich heutzutage wieder zuſammengefunden
hat.... Daß in dieſer Verbindung ein Beweis von imponderabeln Ver⸗
bänden und Beziehungen dieſer ganzen großen Ländermaſſe gegeben iſt, iſt meine
Überzeugung.” Ob für Italien dieſe Imponderabilien ſich ſtark genug erweiſen
werden, über den Anreiz augenblicklicher wirklicher oder vermeintlicher Inter⸗
eſſen, über die Stimmungen und Verſtimmungen eines leicht erregbaren
Volkes die Oberhand zu behaupten, mag heute fraglich ſcheinen; das Bündnis
zwiſchen dem Deutſchen Reich und Oſterreich- Ungarn aber, das England
durch ſeine Politik zu ſprengen wähnte, ſteht heute ſo feſt denn je, ein un⸗
erſchütterlicher Fels, wie in den Tagen von Algeciras. In dieſem Zu⸗
ſammenhang kehren wir zum Schluſſe zu dem erhebenden Ereignis zurück,
welches wir am Beginn dieſer Rückſchau berührt haben, zu dem Beſuch der
deutſchen Bundesfürſten, der erſt im Licht der ſpäteren politiſchen Ereigniſſe
zur Höhe ſeiner hiſtoriſchen Bedeutung hinanwächſt. Mächtig erklangen an
jenem denkwürdigen 7. Mai, an dem die Städte längs des deutſchen Rheins
beflaggten, an dem Schleswig⸗Holſtein dankbaren Herzens Franz Joſeph J.
huldigend grüßte, die Stimmen der Vergangenheit, und wie vernehmlich
mag fie der für hiſtoriſche Stimmungen fo empfängliche Deutſche Kaiſer
vernommen haben, als an dieſem wunderſchönen Frühlingsabend auf der
Fahrt in das kaiſerlich⸗ vornehme Schönbrunner Schloß, in dem einſt, nach
der Schlacht von Aſpern, Napoleon geweilt, ſein Blick auf jene Höhen
ſchweifte, von denen im Jahre 1683 das Eutſatzheer zum Kampfe mit den
Türken niederſtieg! Aber es klangen mit ihnen zuſammen die Stimmen einer
zukunftsfreudigen Gegenwart, die ſich bewußt iſt, daß das Bündnis den
tiefſten Lebensnotwendigkeiten beider Staaten entſpricht. Wenn der greiſe
Herrſcher Oſterreich- Ungarns tiefbewegt an jenem Tag in feiner Dankesrede,
die in die Bitte an die göttliche Vorſehung ausklang, „fie möge alle deut-
ſchen Bundesfürſten für alle Zeiten in ihren gnädigen Schutz nehmen“, der
Überzeugung Ausdruck gab, daß das „enge und unerſchütterliche Bundes⸗
verhältnis ... ſeine Aufgabe bis in die fernſte Zukunft voll erfüllen wird“,
ſo hat dieſe Überzeugung in den jüngſtverfloſſenen politiſchen Ereigniſſen ihre
kraftvolle Bewährung gefunden.
3. Ausland.
Don Dr d. Dreſemann.
Das Jahr 1908 ſah zunächſt in denjenigen Beziehungen, welche für
die Spannung der internationalen Lage äußerlich an erſter Stelle in Be⸗
tracht kamen, keine Veränderung. Nach wie vor blieb Marokko Streit-
gegenſtand zwiſchen Frankreich und Deutſchland. Allerdings bemühte ſich
die deutſche Diplomatie, den kriegeriſchen Tatſachen, durch welche Frank-
3. Ausland. 53
reich feinen Einfluß und fein Bleiben im ſcherifiſchen Reiche zu befeftigen
ſuchte, unter Berufung auf die Erklärungen der franzöſiſchen Regierung zur
Sache die harmloſe Seite abzugewinnen. Sie ſtieß damit bei der öffent⸗
lichen Meinung, beſonders ſeit der General d' Amade feinen „Beruhigungs“
krieg begonnen, wiederholt auf ſtarken Widerſpruch. Nach und nach
gewann der energiſche Bruder des Sultans Abdu'l-Aſis, Muley Hafid,
mehr Boden in Marokko, ſo daß er ſchließlich in Fes einziehen konnte.
Die militäriſche und koloniale Partei in Frankreich hatte zwar ſtark
darauf gedrängt, daß die franzöſiſchen Truppen in Marokko, unbekümmert
um die Akte von Algeciras und gedeckt durch die 1904 zu allem ge⸗
ſicherte Zuſtimmung Englands, die Herrſchaft des franzöſiſchen Schütz
lings und Werkzeugs Abdu'l⸗Aſis unter allen Umſtänden aufrecht halten
ſollten. Das wäre aber ohne einen das ganze Land in Flammen ſetzenden
Krieg nicht möglich geweſen, und ſo verſtand ſich die franzöſiſche Re⸗
gierung, die auch bei dieſer Angelegenheit wie bei ihrer übrigen Marokko⸗
politik die Mitwirkung Spaniens als Aushängeſchild benutzte, nach langem
Zögern endlich doch zur Anerkennung des ſiegreichen Prätendenten, um nicht
dauernd in einer ganz ſchiefen Stellung zu Marokko zu verharren. Wie ſchwer
aber dieſe Anerkennung fiel, zeigte ſich an den zahlreichen Angriffen, welche
die franzöſiſche Preſſe, in England ſekundiert, vor ihrer Vollziehung gegen
Deutſchland richtete, das Muley Hafids Anerkennung als einen ebenſo
zwingenden wie nützlichen Schritt empfahl. Hiermit ſollte Deutſchland die
Zurückhaltung verlaſſen haben, die es dem franzöſiſchen Vorgehen gegen-
über angenommen hatte; doch gab es ſeiner Entſchloſſenheit, ſich mit Frank⸗
reich zu verſtändigen, bei dem Zwiſchenfall von Caſablanca entſchiedenen
Ausdruck, indem es eine ſchwere Verletzung der Autorität ſeiner Beamten
durch franzöſiſche Soldaten nach franzöſiſchem Wunſche dem Haager Schieds-
gericht zur Entſcheidung unterbreitete. Der Zwiſchenfall würde vermieden
worden ſein, wenn Frankreich es unterlaſſen hätte, Abteilungen ſeiner
Fremdenlegion, die fic) größtenteils aus Deutſchen rekrutiert, auf maroffa-
niſchem Gebiete zu verwenden, wo ihm keine Landeshoheit zuſteht, wo es
alſo auch fremde Staatsangehörige nicht wider deren Willen bei ſeinen
Fahnen halten und ſie nicht hindern kann, ſich den berufenen Vertretern
der Staatshoheit ihrer Heimat zur Verfügung zu ſtellen. Dieſer deutſchen
Auffaſſung ſteht die franzöſiſche gegenüber, die Marokko als Feindes⸗
land und den franzöſiſchen Kommandeur als Gebieter daſelbſt anſieht,
woraus natürlich folgen mußte, daß den dortigen Vertretern fremder
Mächte keinerlei Rechtsbefugniſſe mehr zur Seite ſtünden und nichts übrig
bliebe, als heimzukehren. Das Haager Schiedsgericht ſoll, wie geſagt, in
dieſer Angelegenheit entſcheiden. Inzwiſchen ſchwellen die Koſten der fran⸗
zöſiſchen Expedition in Marokko fo an, daß gar keine Ausſicht auf deren Erſatz
durch den Sultan beſteht. Frankreich aber verlangt dieſen Erſatz und ſcheint
54 III. Politiſches Leben.
ſich einmal durch dauerndes Verbleiben in der Küſtengegend, mehr aber noch
durch dauernde Beſetzung von großen Gebietsteilen in Oſtmarokko ſchadlos
halten zu wollen. Die letztere wird als eine auch durch die Akte von
Algeciras nur Frankreich und Marokko anheimgegebene und dem Einſpruche
irgend welcher andern Mächte gänzlich entzogene Angelegenheit hingeſtellt.
Das hat zwar mit Rückſicht auf die unausbleiblichen Folgen für die Selb-
ſtändigkeit Marokkos in der deutſchen Preſſe zu Alarmrufen Veranlaſſung
gegeben, an der deutſchen Marokkopolitik jedoch nichts geändert, die ſich
augenſcheinlich von dem Entſchluſſe leiten ließ, keine Schritte zu tun, wenn der
wirtſchaftliche Grundſatz der offenen Tür gewahrt bliebe.
Die Schwierigkeiten in Marokko zu verewigen oder neue aufzuwerfen,
dazu war die Weltlage auch nicht angetan, deren kritiſcher Punkt ſich von dem
kleinen mohammedaniſchen Reiche nach dem großen verſchob, dank einer Reihe
von Umſtänden, die an der einen Stelle völlig überraſchend, ja verblüffend
wirkten, an der andern unter entſchloſſener Preisgabe der bisherigen Haltung
eifrig ausgebeutet wurden.
In der Türkei hat ſich ein grundſtürzender Umſchwung vollzogen,
und zwar unter Umſtänden, welche, rein äußerlich betrachtet, die Bewunde⸗
rung für feine Urheber namentlich in den parlamentariſch regierten Staats-
weſen herausforderten. Wenn der Beifall in England ganz beſonders ſtark
war, ſo hatte das neben dem doktrinären noch einen recht praktiſchen Grund,
nämlich denjenigen ſtarken politiſchen Intereſſes an beſagtem Umſchwung.
Die einen behaupten, England ſei von dieſem ebenſo überraſcht worden
wie andere Mächte, die andern wollen es ſich nicht ausreden laſſen, daß
eine gewiſſe Verabredung zwiſchen den jungtürkiſchen Revolutionären und
gewichtigen engliſchen Stellen beſtanden habe, waren doch ſchon ſeit langem
von London über Paris und die Schweiz Fäden des Verſtändniſſes mit
der ganz geheimen jungtürkiſchen Organiſation in der Türkei ſelbſt ge⸗
ſponnen worden. Dazu muß man folgendes ins Auge faſſen: der parla⸗
mentariſtiſche Gedanke iſt es, den England ſchon vorher in zwei Fällen als
Hebel benutzte, um ſeinen politiſchen Plänen hinderlich im Wege ſtehende
Kräfte möglichſt beiſeite zu ſchieben und ſich Einfluß zu ſichern. Einmal
glaubte England in den Nachwehen des ruſſiſch⸗japaniſchen Krieges, der
ſtarken inneren Gärung in Rußland, das Zeichen dafür zu erblicken, daß
es mit dem alten abſolutiſtiſchen Syſtem, das namentlich ſeiner Orientpolitik
ſo oft die Wege gekreuzt, zu Gunſten neuer, aus dem Volke erſtandener
Kräfte mehr und mehr zu Ende gehe. Es ſchien ihm von Vorteil, dieſen
Prozeß zu beſchleunigen; daher der Verſuch einer dumafreundlichen Flotten⸗
demonſtration. Die Rechnung war falſch; das alte ruſſiſche Syſtem brachte es
zwar nicht zu einer vollen Reaktion, aber es erſtarkte doch und ſammelte ſich
ſoweit wieder, daß es manches wichtige Zugeſtändnis aus der Zeit ſchwerer
Erſchütterung zurücknehmen und die hochfliegenden demokratiſchen Träume der
3. Ausland. 55
Linken zu nichte machen konnte. England aber hatte ſich bei den ruſſiſchen
Machthabern für einige Zeit kompromittiert, und es bedurfte längerer, un-
ausgeſetzter, geſchickter Arbeit feiner Diplomaten, um das Ziel einer engliſch⸗
ruſſiſchen Entente, das auf dem Wege über die Duma gewiſſermaßen im erſten
Anſturm hätte gewonnen werden ſollen, bei Zar und Regierung zu erreichen.
Die Zuſammenkunft, welche Eduard VII. mit Nikolaus II. trotz dem
ſtarken Widerſtreben des engliſchen Liberalismus ſuchte und im Juni zu
Reval zu ſtande brachte, renkte alles wieder ein, zunächſt auf Koſten der
Türkei und Perſiens; das eigentliche engliſche Ziel bei dieſem größten
Erfolge ſeiner Ententepolitik lag weiter. Der franzöſiſche Miniſter des
Auswärtigen, Pichon, legte vor der Kammer das engliſch⸗ruſſiſche Abkommen
über die beiderſeitige aſiatiſche Intereſſenſphäre dahin aus, daß Rußland
jetzt freie Hand in Europa, d. h. gegen die Türkei gegeben ſei. England
hatte feiner Feindſchaft gegen die Türkei durch die Abmachungen mit Ruß ⸗
land volle Genugtuung verſchafft, in Verfolg der ſchon mehrjährigen Tätigkeit
des in der Downing Street wohlbekannten, von Sofia aus arbeitenden
engliſchen Balkankomitees, das auf die Auflöſung der Türkei von innen
heraus, aus Mazedonien, hinwirkte. Dieſes ſollte unter einen chriſtlichen
Gouverneur geſtellt, finanziell und in Rechtspflege wie auch in gewiſſem
Sinne militäriſch durch Errichtung einer Art Wächtermiliz autonom geſtaltet
werden. Die Türkei wollte man als Machthaber ganz ausſchalten und damit
zugleich in politiſch⸗militäriſcher Hinſicht die Freundſchaft unwirkſam machen,
welche ſich zwiſchen Stambul und Berlin entwickelt hatte und auch auf die
übrige mohammedaniſche Welt nicht ohne Einfluß geblieben war.
Sah England die vollſtändige Niederdrückung der führenden moham⸗
medaniſchen Macht als Forderung ſeiner politiſchen Intereſſen an, ſo glaubte
es in Perſien, das in eine nördliche ruſſiſche und eine ſüdliche engliſche
Einflußſphäre geteilt worden war mit neutralem Zwiſchenſtreifen, das in
Rußland verunglückte parlamentariſche Experiment mit beſſerem Erfolge
erneuern zu können, indem es ſich Freund machte mit der demokratiſchen
Richtung unter den dortigen Mohammedanern. Auch dieſes Experiment
ſchlug fehl. Da kommt es nun plötzlich in Mazedonien zu einem Putſch für
die Einführung der Verfaſſung bzw. die Erneuerung der Eintagsverfaſſung
von 1876. Nicht beliebige politiſche Idealiſten ſind es, die den Umſturz
des alten abſolutiſtiſchen Regiments mit all ſeinen Mißſtänden ausrufen,
ſondern Offiziere der Armee, dieſes Inbegriffs des Türkentums und nach
allgemeiner Auffaſſung ſicherſten Schutzes des Sultans. Und dieſe Offiziere
riſſen die Armee mit ſich, dank ebenſo umfaſſender wie weitgreifender
Organiſation der Verſchwörung im Offizierskorps, deren Fäden, wie man
{pater erkannte, auf eine Art freimaureriſcher Organiſation in Saloniki zurück⸗
führten: die jungtürkiſche Neben- oder richtiger Überregierung, die von nun
an ſowohl in der inneren wie in der auswärtigen Politik die Zügel führte
56 III. Politiſches Leben.
und ſie auch nicht aus der Hand gab, als ihre eigenſte Schöpfung, das
neue Verfaſſungsleben, dies gebieteriſch verlangte.
Es muß anerkannt werden, daß die doch im Gebrauche der Macht un⸗
erfahrenen und, wie ſich ſpäter im einzelnen zeigte, mit hiſtoriſchen radi.
kalen Theorien vollgepfropften Jungtürken den Umſchwung in ſo unblutiger
Weiſe bewerkſtelligten; freilich ſanft gingen ſie dabei nicht vor, und beim
ſchnellen und gründlichen Aufräumen mit dem alten Syſtem und ſeinen
Männern lief manche Ungerechtigkeit mit unter, die den ſtillen Widerſtand
der vollſtändig überraſchten Alttürken ſtärkte. Der Sultan paßte ſich, ohne
Zweifel wider Willen, aber unter dem Drucke ſtarker Drohungen ſofort
dem neuen Zuſtande an, ließ ſich ein den Neuerern genehmes Kabinett auf-
drängen und tat, wie mit der Verkündigung der Verfaſſung, ſeinen Drängern
und Bedrängern auch ſonſt in allem den Willen. Man ließ ihn gar nicht
zu Atem kommen, kontrollierte ihn wie auch alle Regierungshandlungen
genau und aus der Nähe, unauffällig meiſt, aber darum nicht weniger
wirkſam, und brachte auch die begünſtigte Soldateska in die Verbannung,
die bei einem möglicherweiſe geplanten Staatsſtreich die Rolle der Koſaken
des Schahs von Perſien hätte ſpielen und die Reaktion unterſtützen können.
Im erſten Jubel über die gelungene Tat hatte die Botſchaft von der
allgemeinen Verbrüderung der ſämtlichen Ottomanen, d. h. aller Bewohner
des türkiſchen Reichs ohne Unterſchied der Sprache, Religion und des Stam⸗
mes, großen Erfolg. Aber die Jungtürken ſchienen alsbald diejenigen, die
der türkiſchen Herrſchaft bisher am unbequemſten geweſen waren, die bul⸗
gariſchen Revolutionäre, zu bevorzugen, und dadurch fühlten die Griechen
vor allen ſich verletzt. Die weiteren Vorgänge bei den Wahlen zum Parla-
ment trugen noch mehr zur Entfremdung bei.
Die Herrſchaft der Jungtürken und des parlamentariſtiſchen Gedankens
war jedoch nun einmal aufgerichtet. Merkwürdig, wie die Jungtürken
ſofort, als fie zur Herrſchaft gelangten, ſich vor Freundſchaft für Eng-
land nicht zu laſſen wußten, dasſelbe England, das ſein Balkankomitee
im Verein mit den bulgariſchen Revolutionären an der Zerſprengung der
Türkei arbeiten ließ, das Rußland freie Hand gegen die Türkei gegeben,
das Agypten ganz von der Türkei losgeriſſen und faktiſch annektiert und
noch vor gar nicht langer Zeit durch die gewaltſame Beanſpruchung des
Haſens von Akaba die Türkei moraliſch ſchwer geſchädigt und tief gedemütigt
hatte. War das Verhalten der neuen Machthaber aber der Dank hier⸗
für, oder hatten ſie für ihr englandfreundliches Verhalten andere ſchwer⸗
wiegende Gründe, die nicht offen zu Tage lagen? Das eine wurde bald
durch die Redſeligkeit eines Jungtürken bekannt, nämlich daß England dem
neuen Regiment amtlich volle Rückendeckung gegen jede Geſahr von außen
zugeſichert hatte. Damit waren nun freilich diejenigen ruſſiſchen Hoffnungen
hinfällig geworden, die ſich in der gleichen Richtung bewegt hatten wie
3. Ausland. 57
die Tätigkeit des engliſchen Balkankomitees und feiner bulgariſchen Organe,
aber der weitere Verlauf der Dinge zeitigte wieder die Möglichkeit einer
parallelen Befriedigung der ruſſiſchen und der engliſchen Intereſſen.
Der gemeinſame Gegenſatz zu Oſterreich gab den Anlaß, der vom öfter-
reichiſchen Standpunkte mit ſeinen Folgen ausführlicher an der betreffenden
Stelle erörtert iſt . Bei der Bekanntgabe des öſterreichiſchen Planes, eine
Bahn durch den Sandſchak Novipaſar zu bauen, machten die ſlawiſchen
Balkanſtaaten Serbien und Montenegro, mit Rußland, England und jetzt
auch der Dreibundsmacht Italien im Rücken, internationalen Aufruhr, und
die Umwandlung der Okkupation Bosniens in Annexion verſetzte ſie erſt
recht in ſtarke Erregung. Es war aber wiederum durchaus charakteriſtiſch
einerſeits für die politiſche Moral, der England folgt, anderſeits für den
Charakter der neuen jungtürkiſchen Regierung, daß dasſelbe England, das
ſich in Agypten feſtgeſetzt hat, den Jungtürken die tatſächlich nur rein
formale Umwandlung der Okkupation in Annexion als eine ſchwere Kränkung
der Türkei zu Gemüte führte und durch einen Theaterkoup ſeines Botſchafters
in Stambul auch richtig fertig brachte, die bereits dem Abſchluß nahen
freundlichen Ausgleichsverhandlungen zu hintertreiben. Rußland wurde er⸗
muntert, die ihm ſtammverwandten flawifden Staatsweſen des Balkans zu
einem Bündnis mit der neuen Türkei zu veranlaſſen; die Zuſtimmung der
letzteren nahm England auf ſich. Dieſes Bündnis würde ſeinem Charakter
nach durch die Stimmung der beiden Bosnien nächſtbenachbarten flawifchen
Staaten beſtimmt worden ſein, während allerdings Bulgarien darin ein
zweifelhaftes Element darſtellte, inſofern feine Intereſſen nach der Selb⸗
ſtändigkeitserklärung und Königsproklamation (5. Okt.) ihren eigenen Weg
gingen. Rußland ſeinerſeits faßte ein altes Ziel wieder ins Auge, und
zwar ein ſolches, gegen das gerade aber England viel einzuwenden hatte:
die freie Durchfahrt ruſſiſcher Kriegsſchiffe durch die türkiſchen Meerengen.
England wurde mißtrauiſch und in ſeiner Aktion auf dem Balkan lauer.
Aus der innerpolitiſchen Entwicklung der Türkei iſt als wichtiger Ab-
ſchnitt der am 17. Dez. erfolgte Zuſammentritt des neuen Parlaments zu
buchen, der ſogleich mit einem Konflikt begann, inſofern die Abgeordneten
den von der Verfaſſung geforderten Eid in der vorgeſchriebenen Form ver⸗
weigerten, weil der Sultan ſich nicht zur Wiederholung des ſchon geleiſteten
gleichen Eides vor ihren Augen verſtehen wollte. Die Antwort auf die
Thronrede verriet in der Schärfe ihrer Faſſung ein fo ſtarkes Gefühl parla-
mentariſcher Selbſtherrlichkeit, daß ſie den Sultan und Europa mit Be⸗
denken für die Zukunft wegen des beiderſeitigen Zuſammenarbeitens erfüllen
mußte. Vielleicht ſchöpfte der Herrſcher einige Hoffnung aus dem Umſtande,
daß ſich das parlamentariſche Jungtürkentum in zwei deutlich geſchiedene
1 Bgl. „Politiſches Leben in Oſterreich“ S. 46 ff.
58 III. Politiſches Leben.
Richtungen ſpaltete, die osmaniſch liberale, welche die Verbrüderung der
Nationalitäten aufrichtig verfolgte, und die Komiteepartei mit den einſeitig
türkiſchen Vorherrſchaftsgelüſten, die im Parlament bei ſeiner ſtarken
mohammedaniſchen Mehrheit eine Stütze hatten, ſowie mit ihrem Feſthalten
an der bisherigen geheimen Nebenregierung, welche die Liberalen entſchieden
bekämpften. Ob aber das Alttürkentum ſo ganz in den Hintergrund ge⸗
drängt war, daß es jede Kraft zu erneutem Aufraffen verloren hatte, oder
ob es nur betäubt war durch den erſten jungtürkiſchen Anſturm, der über
die Oberfläche, am Rande vorüberfegte, den Kern jedoch unerſchüttert
ließ, das war eine Doppelfrage, auf welche die erſten Anfänge des neuen
Parlaments noch keinerlei beſtimmte Antwort zu geben geſtatteten, ſo wenig
wie aus ihnen hervorging, daß nun für eine gemeinſame osmaniſche Politik
der verſchiedenen Elemente eine dauerhafte Grundlage geſchaffen ſei.
Das internationale politiſche Intereſſe erſchöpfte ſich zeitweilig an den
Beziehungen der verſchiedenen Mächte zur Türkei und an dem durch dieſe
Beziehungen geſchaffenen beſondern Verhältnis zueinander. Daneben aber
blieb die Spannung ungeſchwächt, welcher die Politik Englands gegen ⸗
über Deutſchland Nahrung gab. Dieſe bekanntlich ſehr ſtark unter dem
mächtigen Einfluß der öffentlichen Meinung ſtehende Politik ſah ſich
nach wie vor von den zahlreichen Vertretern des Gedankens vorwärts ge⸗
drängt, demzufolge England nun einmal durch den Aufſchwung Deutſch⸗
lands nicht nur in ſeiner meerbeherrſchenden Stellung, ſondern ſogar daheim
bedroht ſei, dermaßen, daß Deutſchland einen plötzlichen, ungeahnten Einfall
ins Land machen könne. Zu dieſen Geſpenſterſehern geſellte ſich ſogar
Lord Roberts, der ſich an die Spitze der Bewegung für die Schaffung
eines großen engliſchen Landheeres ſtellte. Verteidigung des Vaterlandes
ſollte deſſen erſte Aufgabe ſein, doch wollte man auch nicht auf die Er⸗
neuerung der Zeiten eines Marlborough und Wellington, auf das Ein-
greifen in kontinentale Kriege verzichten. Die liberale Regierung trat
wiederholt dem Peſſimismus derjenigen entgegen, die Deutſchland ſchwarze
Pläne zuſchrieben; ein Kabinettsmitglied machte ſogar eine Propagandareiſe
nach Deutſchland zu Gunſten einer beiderſeitigen Verſtändigung über die
Einſchränkung der für den Volkswohlſtand ſo nachteiligen Flottenrüſtungen;
den gleichen Gedanken ſoll König Eduard VII. bei ſeinem Zuſammentreffen
mit ſeinem Neffen in Kronberg dieſem gegenüber vertreten haben — ohne
ſichtbaren Erfolg. Dieſer Bereitwilligkeit zu einer wichtigen Vereinbarung
ſtanden vielfache Anzeichen gegenüber, daß Englands Politik die Ver⸗
einſamung Deutſchlands bezwecke; vor allem wurden die engliſchen Quer⸗
treibereien in Stambul gegen Oſterreich darauf zurückgeführt, daß Oſterreich
ſich Deutſchland nicht entfremden wolle. Wenn England ſich nach lange
währendem Gegenſatze ſo freundlich zu Rußland ſtellte und auch in Perſien
nicht ſo eingriff, wie die erſten Anläufe forderten, ſo hatte es dazu allen
3. Ausland. 59
Grund in den Gärungen, die in Indien auftraten, als Folge des Sieges
der Japaner über die große europäiſche Macht und des in den reichen und
gebildeten Kreiſen der Hindus erſtarkten Nationalbewußtſeins. Es bildete ſich
in Indien eine weit verzweigte Verſchwörung, die auch zu zahlreichen poli⸗
tiſchen Verbrechen führte, den Vizekönig ſelbſt bedrohte und England zu Gegen⸗
maßregeln ſcharfer Art zwang, die dem Liberalismus durchaus widerſtrebten.
In Agypten wollte England nicht gelten laſſen, was es den Jung⸗
türken in ſo ausgedehntem Maße gewährte. Auch dort fühlte ſich die jung⸗
ägyptiſche, nationaliſtiſche Partei für das parlamentariſche Leben reif, natür⸗
lich unter Errichtung der ägyptiſchen Selbſtherrlichkeit, die Englands Zwecken
direkt entgegen fein würde. Am andern Ende Afrikas, im Süden, ſah
England dagegen kein Hindernis, den verſchiedenen unter ſeiner Herrſchaft
ſtehenden Einzelſtaatsweſen einen engeren politiſchen Zuſammenſchluß zu ge⸗
ſtatten, nachdem den beiden früheren Burenrepubliken Selbſtregierung verliehen
und trotzdem daß im Kaplande durch Burenfreunde und Buren die Herr⸗
ſchaft derjenigen geſtürzt worden war, die mit einer auch anderwärts nicht
unbekannten Anmaßung ſich als die allein loyalen hingeſtellt hatten.
Im Innern begegnete das liberale Kabinett Englands trotz ſeiner ge⸗
waltigen Mehrheit im Unterhauſe unüberſteiglichen Schwierigkeiten, die um
ſo erbitternder wirkten, als ſie wichtige Programmpunkte der herrſchenden
Partei betrafen. War ſchon früher dem Oberhauſe durch Mitglieder des
Kabinetts der Krieg angeſagt worden, weil die Lords ſich auf den Umſturz
der neueren, unter dem letzten konſervativen Kabinett zu ſtande gekommenen
Schulgeſetzgebung nicht verſtanden, die den Bedürfniſſen der Konfeſſionen
entgegenkam, während der Liberalismus den konfeſſionellen Schulgedanken
durch feindſelige Finanzmaßnahmen zu ertöten ſuchte, fo wuchs die Kriegs⸗
ſtimmung erſt recht, als einem neuen Verſuche in ähnlicher Richtung ſchon
der Garaus gemacht war, ehe er noch zu voller Behandlung gelangte.
Die Regierung mußte ihn zurückziehen. Noch empfindlicher für die letztere
war die von oben herab ſummariſch ablehnende Haltung des Oberhauſes
in Sachen des Regierungsentwurfs zur Verminderung der Schanfftätten,
dem ein geſunder ſozialer Gedanke zu Grunde lag, der aber in den Beſitz
der Schankwirte und Großbrauer ſo ſcharf eingriff, daß die politiſche Oppo⸗
ſition bei dieſen im öffentlichen Leben recht einflußreichen Faktoren eine
bei den Nachwahlen ſehr wirkſame Unterſtützung erhielt. Die unioniſtiſche
Oppoſition ſuchte auch ſonſt mit Erfolg ihre Anhängerſchaft zu mehren.
Durch die große Wahlniederlage bei der Erneuerung des Parlaments ge⸗
nötigt, hielt ſie mit der Zollpolitik hinter dem Berge, wiewohl nicht zu
verkennen war, daß der Schutzzollgedanke ſich nach und nach doch weite
Bahn brach. Dafür machten ſich die Lords zu Anwälten des chauviniſtiſchen
Gedankens und überfpannten den Patriotismus durch Aufſtellung gewal⸗
tiger Forderungen hinſichtlich der Aufbietung von Landſtreitkräften zur
60 UI. Politiſches Leben.
Verteidigung des Vaterlandes. Ihre Stellung ſah die Regierung ferner
geſchwächt durch die Verſchlechterung des Verhältniſſes zu den Iren, die
neben ihren nationaliſtiſchen Beſchwerden ſich mit den Katholiken Englands
gekränkt fühlten durch die Ausgrabung veralteter Beſtimmungen, welche die
Rechte der katholiſchen Staatsbürger im Geiſte des intoleranten Proteſtan⸗
tismus einſchränken. Zur Zeit des Euchariſtiſchen Kongreſſes! zeigte die
Regierung in dieſer Hinſicht eine ſchwankende, ſchwächliche Haltung; ſie wich
vor der Erneuerung des No popery-Geſchreies zurück und verſcherzte ſich fo bet
den alsbald folgenden wichtigen Wahlen in Newceaſtle die Hilfe der Iren und
den Sieg. In ſozialer Beziehung wurde durch eingehende Verhandlungen das
Altersverſicherungsgeſetz vorbereitet, das mit 1909 in Kraft treten ſoll, mit
ſeinen Beſtimmungen aber eigentlich niemand recht befriedigt, da es den einen
nicht weit genug geht, vielmehr in vielen Punkten zu engherzig ſcheint, den
andern jedoch wegen der für ſeine Ausführung beanſpruchten Mittelweite die
Grenzen der Leiſtungsfähigkeit der Nation überſchreitet. In der Entwicklung
der Ausgaben für dieſe Verſicherung hoffen vor allem die Vertreter des
Schutzzollgedankens einen ſtarken Hebel für ihre Agitation zu gewinnen.
Die Regierung in Frankreich arbeitete weiter nach den kulturkämpfe⸗
riſchen Rezepten, die ſich als der beſte Kitt des Regierungsblocks erwieſen
hatten. Die kulturkämpferiſchen Gewalttaten wurden durch das fog. Devo-
lutionsgeſetz gekrönt, welches auch die Stiftungen und Vermächtniſſe an Kirchen
zum Zwecke der Fürbitte für die Verſtorbenen möglichſt ihrem Zwecke entziehen
ſollte und Rückforderungen der Erbberechtigten nur in beſchränktem Umfange
zuließ. Um dem „echt“ republikaniſchen Gedanken bei dem Nachwuchſe zu
vollem Durchbruch zu verhelfen, wurde eine neue Unterrichtsgeſetzgebung
vorbereitet, die den freien Unterricht, vor allem den in religiöſem Geiſte ge⸗
leiteten, ganz beſeitigen ſollte. Wohin damit geſteuert wurde, erſah die
Regierung ſchon längere Zeit aus der Umſturzpropaganda, welche zahlreiche
ſozialiſtiſch⸗ anarchiſtiſch geſinnte Lehrer vor ihren Schülern trieben. Das
hielt die Regierung jedoch auf dem Wege radikaler Bekämpfung jedes nicht⸗
offiziellen Unterrichts nicht auf, wohl aber taten ſich pflichtbewußte Familien⸗
väter durch ganz Frankreich zu einer Organiſation zuſammen, welche den
Schutz der Kindesſeele gegen den ordnungs- und glaubensfeindlichen Unter-
richt vieler öffentlicher Lehrer auf ihre Fahne ſchrieb und die einzelnen
Mitglieder für den gegebenen Fall zu den ihnen vom Gewiſſen eingegebenen
Prohibitivſchritten ermutigte. Daß die jetzige franzöſiſche Republik die be⸗
kannten drei Worte, vor allem die Freiheit, nur zur Selbſtverſpottung im
Wappen führt, ergab ſich weiter aus den Strafbeſtimmungen, die ent-
worfen wurden, um den Gewiſſenszwang des Schulmonopols des glaubens⸗
feindlichen Staates möglichſt ſtrenge zu geſtalten. Inzwiſchen wurde auf
1 Vgl. „Kirchliches Leben“ S. 9 f 30.
3. Ausland. 61
dem Gebiete notwendiger Reformen nichts geleiſtet. Die ſeit Jahren in
Beratung ſtehende gerechtere Verteilung der Steuern ſtockt noch immer,
die Verbeſſerung des Loſes altersinvalider Arbeiter desgleichen; die Haupt ⸗
ſache iſt, daß ſich das Kabinett Clemenceau am Ruder hält, und um dieſen
höchſten Staatszweck zu erreichen, erſchöpft ſich die innere Politik in ſorg⸗
fältiger Erhaltung der Mehrheitskombination, des Blocks, der auch ſeinem
Namen nach von Clemenceau erfunden worden iſt. In dieſer Kombination
hat ſich mit wachſender Deutlichkeit eine Verſchiebung vollzogen, inſofern
Clemenceau, der kluge Zeichendeuter, deren Schwerpunkt etwas nach rechts
verrückte und ſich dadurch mit dem entſchiedenen Sozialismus verfeindete. Zur
Zeit ſeines Vorgängers Combes ſpielte die äußerſte Linke eine Hauptrolle, und
deren Verluſt drängt ſie an die Seite von Combes, der im Radikalismus
noch ſtarken Anhang beſitzt und Clemenceau von links ebenſo aus dem
Sattel zu drängen ſucht, wie die Gemäßigten und Konſervativen das von
rechts her mit mehr oder weniger Geſchick beſorgen. Sechs Jahre ſitzt der
nicht ſo ſtark ſozialiſtiſch ſchillernde radikale Premierminiſter jetzt im Kabinett,
an deſſen Spitze er ſchon über fünf Jahre ſteht, für die dritte Republik
etwas nicht gerade Gewöhnliches. Seine Stärke wie auch ſeine Schwäche
iſt das Lavieren nach links hin, bei dem er ſich fortgeſetzt großer Folge⸗
widrigkeiten ſchuldig macht, indem er bald ſchroff als Polizeiminiſter auf⸗
tritt, bald wieder milde, verſöhnliche Saiten aufzieht, die auch den radikalen
Bourgeois mehr und mehr verblüffen. Unter dem Geſichtspunkte der aus⸗
wärtigen Politik, die ſchon im Zuſammenhange mit der marokkaniſchen An-
gelegenheit und der orientaliſchen Frage berührt wurde, iſt die Tätigkeit des
neuen Marineminiſters Picard ſehr bemerkenswert, die ſich unter Zuſtimmung
des Landes auf eine ſehr bedeutende Vermehrung der Kriegsflotte richtet und
das vierfache Milliardenbudget noch weiter ſtark erhöhen muß. Daneben
bildet die ſchwache Vermehrung der Bevölkerung und die dadurch herbei⸗
geführte Erſchwerung der Rekrutierung des Landheeres den Gegenſtand ſteter
Sorge der Behörden. Dieſe haben ihr Auge auf die Exoten geworfen und ſchon
Anläufe gemacht, um aus Algerien zu holen, was Frankreich verſagt. Die
Algerier aber zeigten ſich politiſch ſehr aufgeweckt und verlangten dafür poli⸗
tiſche Rechte. Man ſagt, daß die franzöſiſche Politik nicht zum wenigſten
auch deshalb die „friedliche Durchdringung“ Marokkos verfolge, um von dort
aus das Heer Frankreichs durch kriegstüchtige Elemente zu ergänzen.
Ritftungsfragen find es auch, was Italien ſtark beſchäftigt. Das
hängt mit den Beſtrebungen zuſammen, die ihre volle freie Entfaltung erſt
nach Auflöſung des Dreibundes nehmen könnten, Beſtrebungen, die deshalb
auf die letztere gerichtet ſind und ſelbſt in der italieniſchen Kammer ein
auffällig ſtarkes Echo fanden, als dort gewiſſe Vorkommniſſe in Ofterreich
zur Sprache gelangten, die wegen ihres rein inneren Charakters von der
Erörterung hätten ausgeſchloſſen fein müſſen. Als Italien noch keine Extra ⸗
62 III. Politiſches Leben.
touren mit Mächten tanzte, die dem Dreibund mehr oder weniger abgeneigt
ſind, wurde ihm von der Preſſe dieſer Mächte ſtets vorgehalten — und
der dreibundfeindliche Teil der italieniſchen Preſſe, bei dem auch das eine
oder andere katholiſche Blatt nicht fehlte, ſchloß ſich an —, daß Italien
ſein Verbleiben im Dreibund mit übertriebenen Koſten für ſeine Heeres⸗
rüſtung bezahlen müſſe; jetzt, wo die Tendenz mehr und mehr auf den
Austritt aus dem Dreibunde und den Anſchluß an die Weſtmächte und
Rußland geht, kommt die Regierung mit Rüſtungsvorſchlägen, welche
die vom Dreibund angeblich geforderten, angeblich unerſchwinglichen Auf-
wendungen weit hinter ſich laſſen, und nun iſt alles in Ordnung. Während
die Teilnahme am Dreibunde Italiens Anſehen und Machtſtellung mit
möglichſt geringen Mitteln ſicherte, legt ihm der angebahnte Anſchluß an
die Weſtmächte gewaltige neue Laſten auf — fünfzig Jahre nach den Ab⸗
machungen Cavours mit Napoleon III., die auf die Eroberung der „un⸗
erlöſten“ Lombardei hinausliefen. Eine innere wirtſchaftliche Stärkung
Italiens, die man dem Lande nur aufrichtig wünſchen kann, da es noch
ſehr große volkswirtſchaftliche Aufgaben, vor allem im gebirgigen Teile, im
Süden und auf Sizilien zu löſen hat, ergab ſich aus dem günſtigen Abſchluß
der Rechnung des Schatzminiſters. Da trat zu den erwähnten großen ſchon
ſo lange der Löſung harrenden Aufgaben eine neue infolge eines die ganze
Welt am Jahresſchluſſe erſchütternden Ereigniſſes, des Erdbebens von Meſſina
(28. Dez.). Chriſtliche Opferwilligkeit vereinigte alle Nationen in helfendem
Wetteifer bei Linderung der Not. Für die Geſinnung gewiſſer italieniſcher
Kreiſe war es bezeichnend, daß ſie auch bei dieſer Gelegenheit in unwahr⸗
hafter und ungerechter Weiſe ihrer politiſchen Vorliebe Genugtuung zu ver⸗
ſchaffen ſuchten, indem ſie die Verdienſte der einen prieſen, die der andern
verſchwiegen oder gar gehäſſig beleuchteten.
In Rußland dauerte das Regiment Stolypin fort, welches eine ge⸗
ſiebte Duma zu ſtande gebracht und mit dieſer zu gemeinſamer Arbeit ſich
vereinigt hatte, nachdem die Extremen von rechts und links viel Waſſer in
ihren Wein getan. Auffallend war allerdings die Oppoſition, welche die
Duma den erweiterten Flottenplänen der Regierung machte. Für die Re⸗
form des Landbeſitzes geſchah ein bedeutſamer weiterer Schritt. Gegen die
Revolutionäre und diejenigen, welche das erſtarkte Regiment für ſolche hielt,
wurde mit größter Strenge, wenn auch meiſt in der Stille, vorgegangen.
Auf die verrotteten inneren Verhältniſſe warf die Enthüllung neues Licht,
welche den Generalgouverneur von Moskau mit Räuberbanden in Ver⸗
bindung zeigte. Die Orientangelegenheiten brachten einen Neupanſlawismus
in Blüte, welcher der Leitung der auswärtigen Angelegenheiten, vertreten
durch Miniſter Iswolski, manche Schwierigkeit bereitete.
Auf der Pyrenäiſchen Halbinſel brachte der 1. Febr. ein blutiges
Ereignis: der König von Portugal, Carlos I., und ſein älteſter Sohn Ludwig
3. Ausland. 63
Philipp wurden von Verſchwörern auf offener Straße umgebracht, während
die Königin und der jüngere Prinz Manuel, der nunmehr König wurde,
den Kugeln der Mörder entgingen. Der Plan war, die ganze königliche
Familie zu vernichten und die Republik auszurufen. War die Stellung des
Königtums auch in monarchiſchen Kreiſen durch das an ſich von den beſten
Abſichten geleitete diktatoriſche Regiment des Miniſters Franco erſchüttert
worden, ſo fand der neue König nach dem Rücktritt Francos die beiden
ſtarken monarchiſchen Parteien in patriotiſcher Weiſe um ſich geeint. Leider
hielt dieſer Eifer nicht lange vor, und das Land . wieder in den
Jammer der alten Parteiungen zu verfallen.
Während die Schweiz nach innen wie nach außen ein verhältnismäßig
ruhiges Jahr hatte — bemerkenswert find u. a. die Bewegung für Tren⸗
nung von Staat und Kirche in einzelnen Kantonen und die politiſche Be⸗
wegung im Kanton Teſſin —, hatte der andere neutrale Staat, Belgien,
eine bewegte Zeit infolge der Schwierigkeiten, die der Angliederung des
Kongoſtaats als Kolonie ſich entgegenſtellten und für die nun bald ein
Vierteljahrhundert herrſchende katholiſche Partei manche Gefahren in ſich
bargen. Schließlich kam eine Einigung zwiſchen König, Kabinett und Kam⸗
mern zu ſtande, womit denn auch die Feindſeligkeiten Englands gegen den
Kongoſtaat ein wenigſtens vorläufiges Ende nahmen. Da im Innern die
liberale Partei abgewirtſchaftet hatte, wurde ein konſervatives Kabinett
Heemskerk berufen, dem zwar auch keine ſichere Parlamentsmehrheit zur
Verfügung ſtand, deſſen Geſchäftsführung aber keine Schwierigkeiten im
Parlament bereitet wurden. Heeresreform und Schulpflicht bildeten weitere
Gegenſtände des Tagesſtreits der Parteien und Parteifraktionen. Holland
hatte einen bis zu kriegeriſchem Charakter fic) zuſpitzenden Konflikt mit
Venezuela, der aber mit der Abreiſe des Präſidenten Caſtro ein jähes Ende
nahm. Für die nordiſchen Staats weſen von beruhigender Bedeutung
waren die von den beteiligten Großmächten getroffenen Abkommen betreffs
der Nordſee und Oſtſee, durch welche der Sicherung des Beſitzſtandes und
dem Frieden überhaupt gedient werden ſollte. Norwegen hatte an der Zu⸗
ſicherung der Neutralität wohl die ungetrübteſte Freude, da die Gefahr einer
Verletzung derſelben geringer erſcheint als anderswo. Vielfach betrachtete
man die betreffenden Abkommen mehr als einen Zeitvertreib diplomatiſcher
Auguren denn als Ereigniſſe von ernſter, weltgeſchichtlicher Bedeutung.
Die Vereinigten Staaten wurden von der Bewegung für die Wahl
eines neuen Präſidenten durchwühlt, welche im November zu Gunſten der
republikaniſchen Partei ſich entſchied: der bisherige Kriegsſekretär William
Howard Taft wurde zum Nachfolger Rooſevelts erhoben. Dieſer ſetzte ſich noch
zum Schluß ſeiner Amtsperiode durch ſeine wohlgemeinte moraliſierende Politik
in Gegenſatz zu den Abgeordneten des Volks. Die wirtſchaftliche Kriſis wurde
nach und nach verwunden, und nach außen trat die Union glänzend auf
64 III. Politiſches Leben.
durch die Weltreiſe ihres Geſchwaders, der man eine Spitze gegen Japan
zuſprechen zu müſſen glaubte, erſt recht, als die amerikaniſchen Schiffe in
Auſtralien als Bundesgenoſſen gegen dis gelbe Raſſe begrüßt wurden. Je⸗
doch brachte der feſtliche Empfang, den ſie in Japan ſelbſt fanden, und das
bald darauf erfolgte amerikaniſch⸗japaniſche Abkommen zur Sicherung des
gegenſeitigen Beſitzſtandes und der Integrität Chinas einen Umſchwung in
der allgemeinen Auffaſſung hervor. Daß Präſident Rooſevelt dieſes Ab⸗
kommen eine Entente nannte und damit der verlangten Erörterung und
zweifelhaften Zuſtimmung in dem geſetzgebenden Körper entzog, verbeſſerte
ebenfalls nicht ſein Verhältnis zu dieſem. In Südamerika ſpannte ſich
das Verhältnis zwiſchen Argentinien und Braſilien wieder aus Anlaß von
Eiferſüchteleien wegen Paraguays und Uruguays.
Japan war in jeder Weiſe auf ſeine innere Stärkung, nicht zum
wenigſten die finanzielle, bedacht und bereitete fortgeſetzt die Mittel vor,
die im Ernſtfalle für ſeine hochfliegenden Vorherrſchaftspläne in Wirkſamkeit
geſetzt werden müßten. China mußte japaniſchen Druck fühlen und ihm nach⸗
geben, als es durch Maßregelung eines japaniſchen Handelsſchiffes ſeine Macht
und ſeine Hoheitsrechte zum Bewußtſein bringen wollte. Nach allen andern
Richtungen ſieht Japan dagegen gar nicht ungern, daß China ſich möglichſt
ſelbſtändig zu machen ſucht, wird es doch ſtets ſeine Hand über dem Koloß
halten und ihn nach ſeiner Meinung lenken. Das wenigſtens iſt Japans
große Hoffnung und jedenfalls eiſerner Entſchluß. Japan hatte auch die
Fäden in der Hand, als das für China ſo überraſchende Doppelereignis
des Todes des Kaiſers Kuang Hſü und der Kaiſerinwitwe Tſe Hſi eintrat;
es wußte zuerſt davon, ſeinem Einfluſſe ſchreibt man es zu, daß die Thron⸗
folgefrage ruhig, und zwar durch Erhebung des Prinzen Pudſchi unter der
Regentſchaft des Prinzen Tſchun, des Sühneprinzen, gelöſt wurde, und daß
einige Zeit nachher derjenige Staatsmann, der den Wahlſpruch „China für
die Chineſen“ in einer mehr China als Japan nützlichen Weiſe a“ durch;
führen können, Juanſchikai, kaltgeſtellt wurde.
Ein Zankapfel zwiſchen England und Rußland drohte Perſien zu
werden, wo erſteres ſeinen Einfluß mit Hilfe der Verfaſſungspartei zu be⸗
feſtigen ſuchte. Da der Schah das Parlament ſprengte und trotz vielfachen
Eides auf die Verfaſſung ſein abſolutes Regiment wieder einführte, brachen
revolutionäre Aufſtände in der Nachbarſchaft Rußlands aus, die aber ebenſo⸗
wenig wie die engliſch-ruſſiſchen Vorſtellungen den Schah bewogen, die
Verfaſſung wieder in Kraft zu ſetzen. Man wollte nicht glauben, daß
Rußland an letzterer Intereſſe habe, trotz ſeiner gemeinſamen Vorſtellungen
mit England, erwartete vielmehr, daß es eines Tages durch Okkupation
dauernd Ordnung ſchaffen werde.
IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
1. Dolkswirtſchaft.
Von Dr 9. Sacher.
emeine Lage. — Depreffion, Teuerung, Steuern! Mit diefen drei
Worten iſt das Wirtſchaftsleben des Jahres 1908 gekennzeichnet.
Etwa mit dem Jahre 1905 hatte allenthalben eine günſtige Kon-
junktur eingeſetzt. Aber ſchon Ende 1906 trat vereinzelt infolge der ge⸗
waltigen Anſpannung aller wirtſchaftlichen Kräfte eine gewiſſe Erſchöpfung
ein, die ſich namentlich in einer Verſteifung des Geldmarktes kundtat.
Der Kapitalmangel erfuhr eine weſentliche Verſchärfung, als im Herbſt
1907 in Amerika eine äußerſt ſchwere Geld- und Kreditkriſis ausbrach,
welche auch das Wirtſchaftsleben Europas, namentlich Deutſchlands und
Englands, ſtark beeinflußte. Wenn hier ein Zuſammenbruch, eine Kata-
ſtrophe von elementarer Gewalt ausblieb, ſo liegt das wohl nicht zuletzt
an der im elektriſchen Zeitalter ermöglichten ſchnellen und infolge des
internationalen Wirkungskreiſes der Großbanken auch gründlichen Auf-
klärung über die wirtſchaftlichen Vorgänge der einzelnen Länder und der
im großen Ganzen geſunden Grundlage der deutſchen Volkswirtſchaft. Nicht
die Kriſis mit ihren Rieſenverluſten an Volksvermögen wurde international,
wohl aber die wirtſchaftliche Stockung, damit natürlich eine langſame Ver⸗
ringerung der Produktion und für die Arbeiterkreiſe ein Mangel an Be⸗
ſchäftigung. Dieſe Anfang 1908 in Deutſchland vorhandene Situation hat
im Laufe des Jahres noch eine weſentliche Verſchärfung erfahren, als die
noch im Jahre 1907 gegebenen Aufträge aufgearbeitet waren. Nahezu alle
Gewerbs⸗ und Handelszweige erlitten eine Abſchwächung; der Grad der⸗
ſelben war verſchieden. Gelitten haben vor allem die kleinen, von den
kapitalſtarken und kartellmächtigen Rieſenunternehmungen abhängigen Be⸗
triebe. Am ungünſtigſten ſind die Verhältniſſe im Baugewerbe, das lang⸗
friſtigen Kredits bedarf, in der Eiſeninduſtrie, deren Wohl und Wehe von
der Geſtaltung der Bautätigkeit viel abhängt, in der auf den Maſſenkonſum
angewieſenen Textilinduſtrie, die infolge der Schwächung der e des
ö der Zeit- und Kulturgeſchichte. II.
66 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
Arbeiters und des Mittelſtandes ſehr leidet, und, aus der gleichen Urſache,
in der Kleider. und Wäſchekonfektion. Auch die Automobil- und Fahrrad.,
die Porzellan. und Glas., die Spielwareninduſtrie und andere dem Komfort
dienende Induſtriezweige weiſen einen ſtarken Rückgang auf. Die Zahl der
Arbeitsloſen wuchs in den letzten Monaten des Jahres ganz enorm. Die
nachteiligſte Einwirkung hat die amerikaniſche Kataſtrophe auf die deutſche
Seeſchiffahrt ausgeübt. Auch der Schiffbau liegt danieder. Faſt ganz un⸗
berührt von dem allgemeinen Rückgang blieb nur die Elektrizitätsinduſtrie,
hier zeigte ſich nur eine Verlangſamung des Fortſchritts. Ein glücklicher
Umſtand war es, daß die Landwirtſchaft eine im großen Ganzen gute Ernte
zu verzeichnen hatte und daß der deutſche Außenhandel von der Depreſſion
erheblich weniger betroffen wurde als der Export anderer Induſtrieſtaaten.
Die Lage des Geldmarktes erfuhr im Laufe des Jahres eine weſentliche
Beſſerung, der Zinsſatz ging ſtark herunter. In der zweiten Hälfte herrſchte
ſogar eine große Flüſſigkeit an Geldmitteln, aber nicht etwa weil eine
Kapitalsvermehrung eingetreten, ſondern weil der Geldmarkt nur ſehr be⸗
ſcheiden in Anſpruch genommen war, die Unternehmungsluſt noch fehlte
und aus weiſer Vorſicht nur kurzfriſtiger Kredit gewährt wurde. Auch das
Kursniveau der heimiſchen Staats- und Kommunalpapiere hob ſich, die
deutſchen Anleihen hatten ſogar, zum erſtenmal ſeit langen Jahren, einen
ſteigenden Kurs zu verzeichnen. Trotz aller wirtſchaftlichen Lethargie war
auch die Emiſſionstätigkeit im Jahre 1908 eine relativ enorme. Mehr als
drei Milliarden Mark neuer Effekten fanden beim Publikum Unterkunft.
Doch wird darin durchaus nicht ein Beweis für den Neuzufluß von Kapital,
das erſte Anzeichen für ein wirtſchaftliches Neuerwachen, erblickt, der größte
Teil der Emiſſionen ſei nicht mit neuem Kapital, ſondern mit Depoſiten⸗
geldern u. dgl. infolge des Sinkens des Zinsfußes erworben.
Oſterreich-Ungarn hatte ſich in der allgemeinen Depreſſion noch ver-
hältnismäßig gut behaupten können, bedenklicher wurde hier erſt die Lage
infolge der politiſchen Ereigniſſe im nahen Orient und der Boykottbewegung
gegen öſterreichiſche Erzeugniſſe 2. .
Wenn auch der Rückgang des Bedarfs einen Rückgang einzelner Waren⸗
preiſe zur Folge hatte, in den wichtigſten Haushaltungsbedürfniſſen, der
Kohle und den Lebensmitteln, hat der hohe Preisſtand ſich im weſentlichen
behauptet, fo daß die Teuerung der letzten Jahre auch neben der wirtſchaft⸗
lichen Depreſſion des Jahres 1908 einherſchreitet, infolge der Verſchlechte⸗
rung der Erwerbsverhätniſſe ſogar noch fühlbarer wurde. Über die Urſache
der Teuerung iſt ſchon viel geſchrieben und geſtritten worden. Trotz aller
Statiſtik und Marktberichte, aller Unterſuchungen und Enqueten iſt die Frage
aber nicht einheitlich gelöſt. Von den verſchiedenen Erwerbskreiſen mit zum
1 Vgl. Abſchnitt III, 2: „Politiſches Leben in Oſterreich“.
1. Volkswirtſchaft. 67
Teil gegenſätzlichen wirtſchaftlichen Intereſſen ſucht jeder den Nachweis feiner
Unſchuld zu liefern und gleichzeitig das Konto des andern zu belaſten. Ohne
Zweifel haben verſchiedene Faktoren zuſammengewirkt: Mißſtände im Zwiſchen⸗
handel, ſchlechte Ernten, der erhöhte Zollſchutz auf landwirtſchaftliche Erzeug⸗
niſſe, vor allem auch die Politik der Kartelle und der ſonſtigen Produzenten⸗
und Verkäuferorganiſationen.
Schwere Sorgen und große Aufgaben laſten auf Deutſchlands Volk
und ſeinen geſetzgeberiſchen Faktoren. Auf der einen Seite Maſſenheere,
wie ſie die Welt nie gekannt, Rieſenkriegsſchiffe, wie ſie der kühnſte Ge⸗
danke nie geahnt, auf der andern Seite aber auch Maſſenforderungen, die
ein finanzwirtſchaftliches Spezifikum unſerer Tage bilden. Die Hälfte der
ordentlichen Ausgaben des Deutſchen Reiches fällt auf Heer und Marine.
Wenn nicht altruiſtiſche und ethiſche Motive der Abrüſtungs und Friedens-
idee Wert und Bedeutung zu verleihen vermögen, finanzielle Erwägungen
müſſen den Nationen über kurz oder lang ein energiſches Halt gebieten, es
ſei denn, daß ſie ſich ſelbſt das Grab des nationalen Wohlſtandes graben
wollen. Die Reichsfinanzpolitik hat infolge Uberſpannung des Syſtems der
„Kreditwirtſchaft“ kläglich Fiasko gemacht, ein wohl zu beachtendes Mene⸗Tekel
auch für die heute mit Vorliebe kultivierte Anleihewirtſchaft der Kommunen.
Zur Beleuchtung der Reichsfinanzmiſere nur wenige Zahlen. Im Jahre
1873 hatte das Deutſche Reich keine Schulden, 1885 betrug deren Summe
551 Mill., 1893 waren es 1860 Mill., 1900: 2419 Mill., 1906: 3663 Mill.,
1907: 4003 Mill., 1908: 4400 Mill. Mark. Im Jahre 1913 wird, wenn
nicht neue Einnahmequellen gefunden werden, die fünfte Milliarde weit über⸗
ſchritten ſein, ſelbſt wenn bis dahin keine neuen Schulden mehr beſchloſſen
werden ſollten. Die fortdauernden Ausgaben haben ſich ſeit Mitte der
1870er Jahre verfünffacht, die Bevölkerung iſt dagegen nur um 50% ge-
wachſen. Das chroniſche Defizit der Reichskaſſe beträgt etwa 400 Mill.
Mark. Eine Sanierung der Reichsfinanzen iſt durchaus nicht in den
500 Mill. Mark neuer Steuern gewährleiſtet, welche die Volksvertretung
in der jetzigen Reichstagsſeſſion bewilligen ſoll. Weiſe Sparſamkeit im
Verein mit einer planmäßigen und zielbewußten, dem geiſtigen und wirt-
ſchaftlichen Wohl des Volkes dienenden Politik muß Platz greifen, wenn
die Finanzen und damit das Reich ſelbſt geſunden ſollen. Nur wenn dieſe
Garantie gegeben, wenn eine durchgreifende Reform an Haupt und Gliedern
vollzogen wird, wenn Deutſchlands Volk von ſchweren politiſchen Verwick⸗
lungen verſchont bleibt und wieder Vertrauen zu der Politik ſeiner Regierung
bekommt, kann es feinen Erben ein günſtiges Horoſkop ſtellen.
2. Land- und Forſtwirtſchaft. — Die deutſche Getreideernte war im
allgemeinen befriedigend, nur bei Hafer mäßig. Die Welternte iſt nach
vorläufigen Berichten bei Roggen und Weizen etwas kleiner, bei Gerſte, Hafer
und Mais etwas größer als der Durchſchnitt der Erntejahre 1903— 1907.
5.
68 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
Durch Froſt im Oktober litt in Deutſchland die Hackfruchternte (beſonders
Futterrüben). Mit Nachdruck wenden ſich die landwirtſchaftlichen Intereſſen⸗
vertretungen gegen die aus Anduftrie- und Handelskreiſen erhobene Behaup⸗
tung, daß die deutſche Landwirtſchaft ſeit der Umgeſtaltung der Zollverhält⸗
niſſe ſich eines roſigen Daſeins erfreue. Die Verſchuldung ſei immer noch
im Zunehmen begriffen, und die herrſchende Teuerung zwinge zu einem
Mehraufwand an Löhnen und ſonſtigen Produktionskoſten, der den aus der
neuen Zollpolitik erzielten Überſchuß bei weitem überſchreite. Erhöhtes
Intereſſe wird der Gewinnung des Stickſtoffs aus der Luft zugewandt.
In allen Gegenden Deutſchlands wurden Düngungsverſuche angeſtellt, die
dartun, daß in der Tat der Kalkſtickſtoff oder Stickſtoffkalk ein Erſatz für
den Chileſalpeter iſt bzw. werden kann. Man hofft auch die deutſchen
Waſſerkräfte ausnutzen zu können, damit die Landwirtſchaft frachtlich billiger
fahre. In Bayern und Württemberg ſind Beſtrebungen zur Einführung
von Landwirtſchaftskammern im Gange. Nachdem in Preußen bereits in
den „Konferenzen der Vorſtände der preußiſchen Landwirtſchaftskammern“
eine Verbindung der einzelnen Kammern hergeſtellt iſt, dürfte nach Er⸗
richtung von Kammern in den einzelnen Bundesſtaaten der bereits er⸗
örterten Frage der Errichtung einer „Reichslandwirtſchaftskammer“ näher.
getreten werden. Das Institut international permanent d' agriculture
(die ſog. Weltagrarkammer) in Rom wurde am 23. Mai eröffnet. In
erſter Linie wird die Nachrichtenſammlung und »verbreitung gepflegt werden.
Neben der Generalverſammlung iſt ein permanentes Komitee gebildet, beide
arbeiten nach den Beſtimmungen der internationalen Konvention von 1905. —
Ein neues Weingeſetz iſt im Deutſchen Reich in Vorbereitung. Der
Zuckerwaſſerzuſatz ſoll geregelt und eine reichseinheitliche Keller, und Buch⸗
kontrolle eingeführt werden. Wie das Geſetz ausſehen wird, darüber kann
heute noch nichts Beſtimmtes geſagt werden. — Die Schweiz tritt dem Ge⸗
danken eines Getreidemonopols näher und iſt mit der Ausarbeitung
des Projekts bereits beſchäftigt. Unter dem Namen „Vereinigte Mühlen des
Trentino G. m. b. H.“ wurde in Trient auf die Dauer von 30 Jahren ein
Mühlenſyndikat zum Zwecke der Förderung der Intereſſen der dor⸗
tigen Mühleninduſtrie gegründet. Die Mittel ſind: 1) Kontingentierung
der Vermahlung, 2) gemeinſamer Fruchteinkauf, 3) gemeinſamer Mehl⸗
verkauf durch die Verkaufszentrale und Feſtſetzung einheitlicher Verkaufs⸗
und Zahlungsbedingungen.
In der Forſtwirtſchaft Bayerns hat eine Denkſchrift des Reichs-
rats Grafen Toerring einen Umſchwung eingeleitet. Graf Toerring wies
nach, daß die bayriſchen Staatsforſte (mehr als ein Drittel der 2,5 Mill. ha
Waldfläche) zu viel Altholz hätten und dasſelbe ohne Schädigung des Be⸗
ſtandes raſcher als bisher genutzt werden könne. Unter völliger Erhaltung
des derzeitigen Waldgebiets und unter Garantie „einer pfleglichen und im
\
1. Volkswirtſchaft. 69
guten Sinne konſervativen Forſtwirtſchaft“ berechnet der Graf den Rein⸗
erlös der zukünftigen außerordentlichen Nutzung der Altholzbeſtände für
30 Jahre auf jährlich 14 Mill. Mark und die dauernde ordentliche Mehr⸗
einnahme bei einer Verminderung der Umtriebszeit (Steigerung der Nutzung
um etwas mehr als ein Feſtmeter auf den Hektar) auf jährlich 6—7 Mill.
Mark. Der Münchner Profeſſor Max Endres wies übrigens ſchon in ſeiner
Rektoratsrede vom 23. Nov. 1907 über die „Leiſtungsfähigkeit der Forſt⸗
wirtſchaft“ darauf hin, daß nicht nur Bayern, ſondern auch die übrigen
deutſchen Staatsforſte einer ergiebigeren Ausnutzung zugeführt werden
könnten, der Ausnutzungsſatz ließe ſich überall um einen obm auf den ha
ſteigern, „ohne das oberſte Geſetz jeder forſtlichen Tätigkeit, die Wahrung
der Nachhaltigkeit, zu verletzen“. Der in dieſem Fall den Staatskaſſen
jährlich zufallende höhere Reinertrag wird von Endres auf 55 bis 60 Mill.
Mark berechnet, eine immerhin beachtenswerte Summe für den Haushalt
der deutſchen Staaten in einer Zeit, wo die Steuerſchraube eine faſt un⸗
unterbrochene Anſpannung erfahren muß und der deutſche Holzkonſum mit
etwa 40% ſeines Bedarfs (über 300 Mill. Mark) auf das Ausland an-
gewieſen iſt.
Die Jagdverpachtung in den fistalifden Forſten wurde im Berichts⸗
jahr in Preußen aufgerollt; es würden dadurch der Staatskaſſe beträchtliche
Mehreinnahmen zufallen. Der weſentlichſte Einwand der Gegner, daß da⸗
durch der Forſtperſonalerſatz ungünſtig beeinflußt würde, wird von der
andern Seite wieder zu entkräften geſucht. Eine objektive Klarlegung der
Verhältniſſe mit Rückſicht auf Staatsfinanzen, Forſtwirtſchaft, Wildſtand
und Wildſchaden wäre dringend erforderlich.
Da die Vereinigten Staaten von Amerika heute noch faſt allgemein als
ein Land mit unerſchöpflichen Naturreichtümern gelten, darf wohl auch kurz
darauf hingewieſen werden, daß Präſident Rooſevelt im Jahr 1908 die
Gouverneure ſämtlicher Staaten und Territorien zu einem Kongreß zu⸗
ſammenberief, der ſich mit der Erhaltung der Naturſchätze der Union be⸗
ſchäftigte. Die wichtigſte Frage dabei war die drohende Erſchöpfung des
amerikaniſchen Waldbeſtandes. Der Holzverbrauch ſei ſeit Jahren drei⸗
bis viermal ſo hoch wie der Nachwuchs, in etwa 15 Jahren würde der
geſamte Beſtand erſchöpft ſein. Durch Forſtreſervationen, Forſtpflege und
Wiederaufforſtung ſoll dieſer für das Wirtſchaftsleben der Union nicht zu
unterſchätzenden Gefahr entgegengetreten werden. Aber auch der Beſtand
an Kohle, Petroleum, Eiſenerz, Kupfer u. dgl. zwingt, wie die Verhand-
lungen der Konferenz zeigen, zu Maßnahmen gegen den herrſchenden Raub-
bau und zu einer haushälteriſchen Politik. Auch die Dezemberbotſchaft an
den Kongreß wies auf die drohenden Gefahren mit Nachdruck hin.
3. Bergbau, Induſtrie und Gewerbe. — Hier ſteht, wie ſchon ſeit Jahren,
auch 1908 die Kartellfrage im Vordergrund des allgemeinen Intereſſes.
70 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
Drei Syndikate find es, welche die Aufmerkſamkeit der großen Offent⸗
lichkeit vorwiegend auf ſich gezogen haben, das Rheiniſch⸗Weſtfäliſche
Kohlenſyndikat, der Stahlwerksverband und das Roheiſenſyndikat. Letzt.
genanntes hat ſich allerdings Ende September aufgelöſt. Infolge ſeiner
hohen Preispolitik und des ſchlechten Abſatzes hatten ſich gewaltige Lager-
beſtände angehäuft. Der allzu ſtraff geſpannte Bogen ſprang, und ein ganz
enormer Preisſturz war die Folge. Um ſo feſter hielten zuſammen, trotzdem
auch ſie gegen Ende des Jahres die allgemeine Depreſſion fühlten, das
Kohlenſyndikat und der Stahlwerksverband. Es iſt doch ohne Zweifel ein
für die deutſche Volkswirtſchaft bedenklicher Zuſtand, wenn die inländiſche
Produktion und der Hausbedarf unter der Preispolitik des Kohlenſyndikats
aufs ſchwerſte leiden, während das Ausland die wertvollen deutſchen Boden-
ſchätze etwa zur Hälfte der Inlandspreiſe erhält, oder wenn der Stahlwerk.
verband Halbzeug nach dem Ausland zu niedrigen Sätzen abgibt, im Inland
aber den mittleren und kleineren Werken den Lebensfaden abzuſchneiden
ſucht, wenn man z. B. für Schienen, die außerhalb des Stahlwerkverbandes
nicht hergeſtellt werden, von den preußiſchen Bahnen die höchſten Preiſe
fordert, in Stabeiſen aber wegen des Wettbewerbes der außenſtehenden
Werke, denen man die Aufnahme verweigert und die man zu Grunde richten
will, geradezu ſchleudert. — Die Betriebskonzentration hat auch im Jahre
1908 unter den Bergwerksgeſellſchaften Rheinland⸗Weſtfalens ſtarke Fort ⸗
ſchritte gemacht. Über die Hälfte der Felder des Oberbergamtsbezirkes
Dortmund, nämlich 1961 Mill. qm, befinden ſich in den Händen der zehn
größten Betriebsgeſellſchaften, davon kommen 987 Mill. qm auf Familien-
beſitz (Thyſſen, Haniel, Funke, Stinnes, Krupp), auf den preußiſchen Berg⸗
fiskus nur 305 Mill. qm.
Die Vereinigung von Kapital und Kartellmacht hat namentlich in der
deutſchen Montaninduſtrie zu Verſuchen geführt, die verſchiedenen aufeinander
folgenden Produktionsſtadien von der Gewinnung des Brenn- und Rohſtoffes
bis zum fertigen Fabrikat — alſo Kohlenzeche, Hütten- und Hochofenbetrieb,
Walzwerk, Fertiginduſtriezweige — unter einheitliche Leitung zu bringen.
Ob damit eine vollſtändige Umformung unſerer geſamten Wirtſchaft im Sinn
der amerikaniſchen Truſts eingeleitet wird, läßt ſich zur Zeit noch nicht
erkennen. Der Umſtand, daß die wichtigſten und unentbehrlichſten Brenn⸗
und Rohſtoffe durch Verbände feſtgelegt und gebunden ſind, während die
fertigen Waren einem ſchrankenloſen Wettbewerb ausgeſetzt ſind, hat die
wirtſchaftliche Stockung beſonders verſchärft. Es ſei hier nur auf die große
Notlage der reinen Walzwerke hingewieſen. Dieſe ſchlimmen Mißſtände
haben auch zu ſcharfen Gegenſätzen innerhalb der Induſtrie, zu einem
ſchweren Kampf der Fertiginduſtrien („Bund der Induſtriellen“ und ſeiner
Zweigverbände) gegen die kartellierten Rohſtoff⸗ und Halbzeuginduſtrien
(„Zentralverband deutſcher Induſtrieller“) geführt. — Das Ergebnis der
1. Volkswirtſchaft. 71
großen Kartellenquete darf wohl als negativ bezeichnet werden. Eine recht⸗
liche Regelung des Kartellweſens ſteht für die nächſte Zukunft nicht in
Ausſicht. Die Regierung fürchtet Einwirkungen, die nicht nur die Kar-
telle, ſondern das geſamte Wirtſchaftsleben treffen würden. Als ob die
Politik der Kartelle das geſamte nationale Erwerbsleben nicht nachteilig
beeinflußte! Wo ein Wille iſt, da iſt auch ein Weg. Von einer guten
Kartellgeſetzgebung, die unter anderem auch dem Staat einen Einfluß bei
der Preisbeſtimmung zugeſtehen müßte, ſowie einer geeigneten Tarif (Aus-
nahmetarife, Tariferhöhungen) und Zollpolitik (Kohlenausfuhrzölle, Auf⸗
hebung des Einfuhrzolls auf Roheiſen und Halbzeug, Schrott u. dgl.) ließe
ſich doch wohl ein gewiſſer Erfolg erwarten. Beachtung verdient auch der
Vorſchlag, ähnlich wie im Getreide und Mehlverkehr, Einfuhrſcheine bei
der Ausfuhr von Eiſenwaren auszuſtellen, auf die eine gleichartige Menge
Eiſen zollfrei wieder eingeführt werden könnte. Verſchiedentlich wird auch
ein durch Mithilfe des Staates (Garantie der Obligationen u. dgl.) ge⸗
ſchaffenes gemeinſames Stahlwerk für die ſchwer bedrohten reinen Werke
des Siegerlands angeregt. Die Regierung verhält ſich zu allen dieſen Er⸗
wägungen zum mindeſten ſehr kühl, von mancher Seite wird ſie ſogar der
Begünſtigung der kartellierten Induſtriezweige beſchuldigt. Die heutige
Tarifpolitik der deutſchen Staatsbahnen und die Kohlenpreiſe der fiska⸗
liſchen Gruben find allerdings mehr den Wünſchen der kartellierten Pro⸗
duzenten als den Bedürfniſſen der Konſumenten angepaßt.
Hinſichtlich des Handwerks vgl. „Soziales Leben“ (S. 89 ff).
4. Handel und Verkehr. — Handelsverträge ſchloß das Deutſche Reich
im Jahre 1908 mit Bolivia, Liberia, Haiti, San Salvador und Portugal.
Von größerer Bedeutung iſt nur der letztgenannte, der erſt nach jahrelangem
Bemühen zu ſtande kam, ſoweit Einzelheiten über den bei Jahresſchluß noch
nicht veröffentlichten Vertrag bekannt wurden, den Erwartungen der Inter⸗
eſſentenkreiſe aber nicht entſpricht. Ein deutſch⸗däniſcher Handelsvertrag iſt, weil
man ſich in einzelnen landwirtſchaftlichen und veterinärpolizeilichen Fragen
nicht einigen konnte, noch nicht zum Abſchluß gelangt. Von der Anbahnung
vertraglicher Beziehungen zu Kanada und Spanien, die im Intereſſe der
deutſchen Volkswirtſchaft dringend nötig wären, verlautet nichts. Und noch
viel bedauerlicher iſt die Tatſache, daß das Deutſche Reich mit den beiden
Ländern, mit denen es, von Oſterreich⸗Ungarn abgeſehen, die meiſten Handels-
beziehungen pflegt, mit England und der amerikaniſchen Union, nicht in ein
dauerndes Vertragsverhältnis zu treten in der Lage iſt. Die ſtändigen
Proviſorien laſten ſchwer auf Deutſchlands Handel und Induſtrie. — Zur
Erleichterung des deutſch⸗franzöſiſchen Wirtſchaftsverkehrs wurde Ende März
in Frankfurt a. M. ein „Deutſch⸗franzöſiſcher Wirtſchaftsverein“ gegründet;
ſeine Tätigkeit ſoll ſich durchaus auf praktiſche Arbeiten des wirtſchaftlichen
und wirtſchaftspolitiſchen Gebiets beſchränken. Franzöſiſcherſeits wurde gleich⸗
12 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
zeitig das Comité Commercial Franco-Allemand ins Leben gerufen. Einem
den beiden Vereinigungen gemeinſamen Oberausſchuß liegt die Beratung
aller Vorſchläge und Anregungen ob.
In Oſterreich gelangte im Februar 1908 nach zweijährigem Zollkrieg
der Handelsvertrag mit Serbien zum Abſchluß. Er trat proviſoriſch durch
Verfügung des Geſamtminiſteriums zuerſt bis 31. Dez. 1908, dann bis
31. März 1909 in Kraft. Man hoffte inzwiſchen Zeit zur Beilegung der
politiſchen Wirren zu gewinnen, da während derſelben eine Annahme des
Vertrags im Reichsrat ausgeſchloſſen iſt.
Die Freihandelsidee hat in den letzten Jahrzehnten immer mehr
ihrer wiſſenſchaftlichen Anwälte verloren. Bekannt iſt ja, daß Großbritannien
das einzige Land iſt, wo ſeit mehr als einem halben Jahrhundert eine auf
freihändleriſcher Grundlage — und zwar infolge der Eigenart der Stellung
des Landes im internationalen Wirtſchaftsleben mit Recht — aufgebaute
Handelspolitik in Geltung iſt, daß ſich aber auch hier infolge der ver.
änderten Verhältniſſe ſtarke Gegenſtrömungen bemerkbar machen und daß
mit dem Augenblick, wo die Unioniſten ans Ruder kommen, worauf bei
der nächſten Wahl gerechnet wird, der Schutzzoll auch in England Trumpf
werden wird. Sehr beachtenswert iſt nun, daß im Auguſt des Jahres 1908
in London ein internationaler Freihandelskongreß zuſammentrat, ſeit langen
Jahren wieder die erſte größere derartige Kundgebung. Die Urſache für
das geringe Intereſſe der Londoner Kreiſe wurde von den Freihandels-
apoſteln in der Überſättigung der Bevölkerung durch die zahlreichen Kon⸗
greſſe und Veranſtaltungen erblickt. Ob Freihandel oder Schutzzoll, das iſt
eben nur eine Frage der Opportunität, eine Brot- und Magenfrage. Die
nach der Geſtaltung der einheimiſchen Erwerbs. und Abſatzverhältniſſe
wechſelnde Beurteilung des Problems in den Kreiſen der Landwirtſchaft
und Induſtrie iſt der deutlichſte Beweis dafür. Daß der Handel — und
zwar vorwiegend der Großhandel — in der Beurteilung der Frage einen
ruhenden Pol in der Erſcheinungen Flucht bildet, iſt von feinem Stand-
punkt aus durchaus verſtändlich. Leider aber ſuchen nicht nur auf dieſem
Gebiet Intereſſenpolitiker ihren Beſtrebungen mit Vorliebe ein wiſſenſchaft⸗
liches Gewand zu geben. Die zur Zeit herrſchende Hochſchutzzollpolitik
ſcheint noch nicht am Höhepunkt ihrer Entwicklung angelangt zu ſein.
Das zeigt z. B. das ſchrittweiſe Aufgeben des Zugeſtändniſſes der Meift-
begünſtigung. Dem Beiſpiel Kanadas, das zuerſt Vorzugszölle einführte,
find nicht nur andere engliſche Kolonien, ſondern auch verſchiedene ſüd⸗
amerikaniſche Staaten gefolgt, und ſelbſt Frankreich verſucht auf Umwegen
die Meiſtbegünſtigungsklauſel unwirkſam zu machen, indem es für die
Produkte ſeiner namentlich aufgeführten Weinbaugebiete Zollbegünſtigungen
vereinbart. An der derzeitigen Strömung wird vorläufig auch die viel
beachtete, kurz vor Jahresſchluß im Century Magazine erſchienene Außerung
1, Volkswirtſchaft. 13
des bekannten amerikaniſchen Stahlkönigs Carnegie nicht viel ändern, der
dem amerikaniſchen Kongreß die Beſeitigung des Schutzzolls empfiehlt, weil
die amerikaniſche Induſtrie keine Konkurrenz mehr zu fürchten habe.
Der Warenboykott findet feit einigen Jahren auch im internationalen
Handelsverkehr Anwendung, er ſoll hier den nationalpolitiſchen Beſtrebungen
eines Volkes erhöhten Nachdruck verleihen. Daß der infolge der politiſchen
Umgeſtaltungen im nahen Orient namentlich von der Türkei über öſter⸗
reichiſche Waren verhängte Boykott in Oſterreich Handel und Induſtrie ſchwere
Wunden ſchlug, iſt ſchon oben erwähnt. Auch der Boykott amerikaniſcher
Waren ſeitens Chinas im Jahr 1906 iſt noch in allgemeiner Erinnerung.
Eine Boykottbewegung inſzenieren können vor allem Fabrikate beziehende
Länder, ſie finden für ihre Bedürfniſſe leicht andere Bezugsquellen. Fremde
Rohſtoffe verarbeitende Länder werden im Intereſſe ihrer Induſtrie zurück⸗
haltender ſein müſſen. Politiſch bedeutungsvoll iſt, daß ein ſo feſtes Zu⸗
ſammenhalten und eine energiſche Entſchloſſenheit gerade bei Völkern in
Erſcheinung tritt, wo ſie wegen ihrer politiſchen Unreife und kulturellen
Rückſtändigkeit nicht vermutet wird. Auch bei Völkern auf verwandter oder
gleich hoher Kultur- und Wirtſchaftsſtufe foll der Boykott in der letzten Zeit
beſtehende politiſche Spannungen vertiefen; es ſei nur auf die in den jüng⸗
ſten Monaten eingeleitete Boykottierung reichsdeutſcher Erzeugniſſe durch die
Tſchechen und die namentlich von alldeutſcher Seite geſchürte reichsdeutſche
Bewegung gegen das Pilſener Bier hingewieſen. Wenn auch der Boykott
hier nur in beſchränkterer Ausdehnung zur Anwendung gelangt, weil die
Kulturnationen ein äußerſt vielmaſchiges Netz von Beziehungen verbindet,
ſo rufen doch ſchon derartige Einzelmaßnahmen ſchwere Schäden des wirt⸗
ſchaftlichen Lebens hüben wie drüben hervor.
Meinungsverſchiedenheiten über die Geſtaltung der deutſchen Zollgeſetz⸗
gebung führten Ende 1908 in der Schweiz zu einer von den Schweizer
Müllern in Szene geſetzten Boykottbewegung gegen das deutſche Mehl. Man
iſt der Anſicht, daß die deutſche Einfuhrſcheinordnung eine Prämie für
Weizenmehl erſter Ausbeuteklaſſe in ſich ſchließt, was deutſcherſeits beſtritten
wird. Auf ſchiedsgerichtlichem Wege ſoll dieſer deutſch⸗ſchweizeriſche Mehl⸗
ſtreit geſchlichtet werden.
Seit etwas mehr als einem Jahrzehnt iſt infolge der ſtändigen Er⸗
weiterung der Anbaufläche und der ſtets guten Ernte der Kaffeepreis um
die Hälfte gefallen. Zur Beſeitigung dieſes die Kaffeepflanzer ſchwer
ſchädigenden Zuſtandes ſchloſſen Anfang 1906 die drei braſilianiſchen Haupt⸗
faffeeftaaten (Sao Paulo, Rio de Janeiro, Minas Geraes) einen Vertrag
(Convenio von Taubate), in dem fie ſich verpflichteten, für die nächſten
ſechs Jahre auf den Inlandsmärkten einen Minimalpreis für Kaffee zu
garantieren. Ein Teil der Kaffeeproduktion wurde ſtaatlicherſeits angekauft
und bis zum Eintritt günſtigerer Preisverhältniſſe aufgeſpeichert. Trotzdem
74 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
auf dieſe Weiſe ſchließlich dem Markt etwa 8,5 Mill. Sad (à 60 kg) ent-
zogen wurden, trat der erhoffte Erfolg nicht ein. Im Gegenteil, es ent-
ſtanden trotz der Garantieleiſtung der braſilianiſchen Zentralregierung große
finanzielle Schwierigkeiten, da die auf den eingelagerten Kaffee gewährten
Darlehen (über 300 Mill. Mark) kurzfriſtig find, jo daß Ende 1908 der
Zuſammenbruch der ſog. Kaffeevaloriſation und damit eine ſchwere
finanzielle Gefahr für die beteiligten Staaten drohte. Schon im Auguſt
1908 wurde der Verluſt auf mehr als 100 Mill. Mark geſchätzt. Da der
Kaffee in großen Mengen gehandelt wird, dürften die wirtſchaftlichen Kräfte
Braſiliens zur Durchführung einer ſolchen Politik kaum ausreichend ſein.
Intereſſant iſt die braſilianiſche Kaffeevaloriſation namentlich als Beitrag
zur Frage der Stellung des Staates zum Kartellweſen. Während ſonſt der
Geſetzgeber zum Schutz gegen Ringbildung und Kartelle angerufen wird,
ſucht hier der Staat durch Abſatzregulierung Einfluß auf die Preisgeſtaltung
zu Gunſten der Erzeuger zu gewinnen. Dabei iſt allerdings die gewagte,
große Summen des Volksvermögens gefährdende Spekulation ſcharf zu miß⸗
billigen. Grundſätzlich braucht eine kartellfördernde Wirtſchaftspolitik nicht
verurteilt zu werden, ſie kann im Intereſſe des nationalen Erwerbslebens
’ ebenfo geboten fein wie eine Kartellſchutzgeſetzgebung.
Der Zuckerinduſtrie gebührt in der Volkswirtſchaft Deutſchlands
wie Oſterreichs eine hervorragende Stellung. In beiden Ländern gilt es,
die den heimiſchen Konſum ſehr beträchtlich überſchreitende Erzeugung
zu exportieren. Infolge der Eigenartigkeit der Zuckerſteuergeſetzgebung
waren aus den bei der Ausfuhr zu leiſtenden Steuerrückvergütungen in-
direkte, {pater mit Rückſicht auf die Konkurrenz anderer Länder auf dem
Weltmarkt ſogar direkte Ausfuhrprämien geworden und dadurch ſchwere
Mißſtände für die Staatsfinanzen entſtanden. Nach etwa 40jährigen Be⸗
mühungen zur internationalen Beſeitigung der Zuckerprämien kam zwiſchen
Großbritannien, dem bedeutendſten Zuckereinfuhrland, und den europäiſchen
wichtigeren Exportſtaaten mit Ausnahme Rußlands die Zuckerkonvention
vom 5. März 1902 zu ſtande (in Kraft ſeit 1. Sept. 1903). Die Zucker
produzierenden Vertragsſtaaten unterſagten alle Ausfuhrvergütungen, während
England die Einfuhr prämiierten Zuckers mit einem prohibitiven Zuſchlags⸗
zoll belegte. Großbritannien, das ja aus dem infolge der Prämienpolitik
der europäiſchen Rübenzuckerſtaaten äußerſt niedrigen Weltmarktpreis nur
ſeinen Vorteil zog, hatte ſich 1902 zu dieſem Vertrag entſchloſſen, weil die
Rohrzuckerinduſtrie der engliſchen Kolonien bei den niedrigen Preiſen nicht
konkurrieren konnte, ja in ihrer Exiſtenz bedroht war und damals durch die
engliſche Politik ein imperialiſtiſcher Zug ging. Als nun die bis 1. Sept.
1908 geſchloſſene Konvention auf weitere fünf Jahre verlängert werden ſollte,
kam das erſt nach manchen Gefährniſſen zu ſtande. In England iſt in der
Zwiſchenzeit an Stelle der konſervativen Regierung ein liberales Miniſterium
1. Volkswirtſchaft. 75
getreten, bei dem die Intereſſen der inländiſchen Konſumenten die der ko⸗
lonialen Rohrzuckerinduſtrie, die ſich übrigens unter der Konvention ſehr
gekräftigt hatte, überwiegen. Die Konvention erhielt deshalb einen Zuſatz,
der England von der Verpflichtung, Prämienzucker mit einer beſondern
Steuer zu belegen, befreit. Für die übrigen Vertragsſtaaten, die Ausfuhr⸗
länder, wurde dieſer Paſſus nur dadurch annehmbar, daß Rußland der
Konvention beitrat und ſeinen für die Ausfuhr beſtimmten (eine Prämie
genießenden) Zucker kontingentierte (1. Sept. 1907—1913: 10 Mill. Tonnen).
Man hofft nun, daß die relativ geringe ruſſiſche Konkurrenz auf dem Londoner
Markt die Ausfuhr Deutſchlands und Oſterreichs nicht bedrohen und auch
den Preisſtand nicht nachteilig beeinfluffen wird. Aber ſchon Ende 1908
waren die Ausſichten für den Zuckerexport der beiden Länder durchaus nicht
günſtig. Rußland ſuchte ſchon zwei Monate nach dem Inkrafttreten des neuen
Vertrages ſein Kontingent zu erhöhen. Als noch gefährlichere Konkurrenten
auf dem Londoner Markt treten aber Kuba und ſogar die amerikaniſche
Union auf, die bis vor wenigen Jahren ein Konſument deutſchen Zuckers war.
Im Eiſenbahnweſen Deutſchlands iſt der wichtigſte Vorgang des
Jahres 1908 das Zuſtandekommen der Güterwagengemeinſchaft
(Bildung des „Deutſchen Staatsbahnwagenverbandes“). Sie tritt am 1. April
1909 in Kraft. Ihr Ziel iſt die gemeinſame Benützung des deutſchen Giiter-
wagenparks, immerhin ein namhafter Fortſchritt im deutſchen Eiſenbahn⸗
weſen, ſowohl zu Gunſten der Erleichterung und Beſchleunigung des Ver⸗
kehrs als auch im Intereſſe des Betriebs durch die Herabſetzung der
Leerkilometer um mehr als 200 Mill. Achskilometer jährlich. Die Ge⸗
ſchäftsführung obliegt dem preußiſchen Eiſenbahnzentralamt in Berlin, die
außerpreußiſchen Staatsbahnen ordnen dahin eine Anzahl Beamte ab. Die
Güterwagengemeinſchaft, ein Ausbau des ſeit 1880 beſtehenden „Preußiſchen
Staatsbahnwagenverbandes“, der Preußen, Oldenburg, die Reichsbahnen uſw.
umfaßte, iſt das Endergebnis langjähriger Verhandlungen zwiſchen den deut-
ſchen Bahnverwaltungen. Die günſtigſten finanziellen Ergebniſſe hat bekannt⸗
lich Preußen zu verzeichnen, der Grund liegt in ſeinem ausgedehnten Bahn⸗
netz, in der Organiſation des Umlaufs der Betriebsmittel und deren
Ausnützung im Verkehrs- und fiskaliſchen Intereſſe. Bei den Mittelſtaaten
tritt der einträgliche Fern⸗ und Durchgangsverkehr gegenüber dem hinſichtlich
der Anlagekoſten wenig rentabeln Naheverkehr weit zurück. Dazu kommt,
daß infolge des Wettſtreits und des Beſtrebens nach Steigerung der Ein⸗
nahmen der Perſonendurchgangs⸗ und namentlich der Güterverkehr von
fremden Bahnen möglichſt abgelenkt wird. So wird z. B. Württemberg
im badiſch⸗bayriſchen Verkehr, Sachſen im Verkehr zwiſchen dem preußiſchen
Oſten und Weſten mit Vorliebe ausgeſchaltet. Im Intereſſe der finanziellen
Geſundung des Etats der einzelnen Staatsbahnen, des Baus wichtiger
Verbindungsbahnen, welche mehrere Staaten durchſchneiden, überhaupt der
76 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
Vervollkommnung und Zentraliſation des deutſchen Verkehrsweſens wird
deshalb verſchiedentlich ein Übergang der Bahnen der einzelnen Bundes⸗
ſtaaten an das Reich oder wenigſtens eine Reichseiſenbahngemeinſchaft im
Sinne der preußiſch⸗heſſiſchen Eiſenbahngemeinſchaft gewünſcht. Hinſichtlich
der Idee eines Reichseiſenbahnſyſtems ſind heute die Preußen die „größten
Partikulariſten“. Der Gedanke einer Reichseiſenbahngemeinſchaft ſtieß auf
den Widerſpruch mehrerer Landtage, die dann ihre Stellung und ihren
Einfluß ſehr vermindert ſahen. Der Vorſchlag Württembergs, eine Be⸗
triebsmittelgemeinſchaft zu ſchaffen, ſcheiterte gleichfalls, nicht zuletzt am
Widerſtand Bayerns. Zu ſtande kam nur eine Tarifgemeinſchaft (einheit-
liche Perſonen⸗ und Gütertarife), die am 1. Mai 1907 in Kraft trat und
wegen der Art ihrer Durchführung auf eine vollauf berechtigte Kritik ſtieß,
ſowie, auf Bayerns Vorſchlag hin, die Güterwagengemeinſchaft. Ob damit
der Grundſtein für eine weitere Zentraliſierung gelegt iſt, bleibt abzuwarten.
Der Gedanke der Erſetzung der Dampfkraft durch elektriſche Kraft
hat im Berichtsjahr namentlich dort, wo die elektriſche Energie aus den
reichen natürlichen Waſſerkräften geholt werden kann, viel an Raum ge-
wonnen. In Bayern iſt man daran, den elektriſchen Betrieb auf ver⸗
ſchiedenen Staatsbahnſtrecken einzuführen, in Baden iſt dieſer bereits im
Staatshaushalt für eine Strecke (Wieſentalbahn) vorgeſehen. Im preußiſchen
Eiſenbahnbetrieb wurden 1908 die elektriſchen Triebwagen (Akkumulatoren⸗
Doppelwagen) eingeführt. Ende 1908 befuhren ſchon 57 Wagen 1200 km,
für weitere 1200 km iſt der gleiche Betrieb in Ausſicht genommen. Man
erwartet von der Einführung der Triebwagen eine vollſtändige Umwälzung
im Kleinverkehr der Haupt⸗ und Nebenbahnen. Auf den Nebenbahnen ſoll
an Stelle der langſamen, oft noch gemiſchten Züge ein ſtraßenbahnartiger
Perſonenverkehr treten, auf den Hauptbahnen der Nahverkehr zwiſchen den
durchgehenden Hauptzügen beſſer gepflegt werden. Dazu find die Trieb-
wagen noch wirtſchaftlich rationeller als die Dampfzüge und bieten auch
den Fahrgäſten manche Vorteile (rauch, ruß-, ftoßfrei).
Die Bahnen der Rheinpfalz, das letzte deutſche Privateiſenbahn.
netz (872 km), gingen mit Abſchluß des Jahres in den Beſitz des bayriſchen
Staates über gegen einen Kaufpreis von 254,42 Mill. Mark (161,95 Mill.
Mark übernommene Anleiherechte und 92,47 Mill. Mark den Aktionären
überlaſſene 3½% Bayriſche Eiſenbahnſchuldverſchreibungen).
Aus der außerdeutſchen Eiſenbahnpolitik iſt die fortſchreitende Ve r-
ſtaatlichung der Bahnen in den Ländern mit Privatbahnſyſtem oder ge-
miſchtem Syſtem zu erwähnen. Oſterreich hat, nachdem es ſchon 1906 das
älteſte, größte und verkehrsreichſte öſterreichiſche Privatunternehmen, die
Kaiſer Ferdinands⸗Nordbahn (1317 km), erworben, im Berichtsjahr noch
die Böhmiſche Nordbahn (348 km) angekauft (Geſetz vom 2. Aug. 1908) und
die Verhandlungen wegen der Verſtaatlichung von drei weiteren Bahnen, der
1. Volkswirtſchaft. 77
Nordweſtbahn (932 km), der Südnorddeutſchen Verbindungsbahn (280 km)
und der Staatseiſenbahngeſellſchaft (1363 km), zum Abſchluß gebracht (Ver⸗
trag vom 21. Okt. 1908). Als größere Privatbahn bleibt eigentlich nur die
Südbahn (1533 km) beſtehen, deren Verſtaatlichung infolge ihrer ſchlechten
Finanzlage jedoch auch nur eine Frage der Zeit iſt. In der Schweiz wird
mit dem bevorſtehenden Übergang der Gotthardbahn in die Hände der Eid⸗
genoſſenſchaft (1. Mai 1909) die im Jahre 1902 (Geſetz vom 15. Okt. 1897)
einſetzende Verſtaatlichung der fünf Hauptbahnen ihren Abſchluß erreicht
haben. In Frankreich, wo bisher 36 000 km Privatbahnen kaum 3000 km
Staatsbahnen gegenüberſtanden, wurde mit der Verſtaatlichung der Weſtbahn
(5900 km) die halbhundertjährige Eiſenbahnpolitik durchbrochen (Geſetz vom
13. Juni 1908).
Seit dem 1. Juli 1908 iſt die drahtloſe Telegraphie (Funken⸗
telegraphie) als Zweig der amtlichen Telegraphie des Deutſchen Reiches in
den Dienſt des öffentlichen Verkehrs getreten. Funkentelegramme können
zwiſchen Küſtenſtationen und Schiffen in See ſowie zwiſchen zwei Schiffen
in See gewechſelt werden.
5. Geld-, Bank, und Börſenweſen. — Die deutſche Geld⸗ und Bank⸗
politik ſucht für die Zukunft eine Geldſpannung und Zinsteuerung, wie
ſie das Jahr 1907 gebracht, vor allem durch zwei Mittel zu vermeiden:
durch eine möglichſt weitgehende Einführung und Propaganda für den Über⸗
weifungs- und Scheckverkehr und durch eine Reform der Bankgeſetzgebung.
Man geht von der richtigen Vorausſetzung aus, daß bei einer weiteren
Ausbreitung der bargelderſparenden Zahlungsmethoden und der Reduzie⸗
rung der im Umlauf befindlichen Geldmenge jährlich viele Millionen an
Zinsverluſt geſpart, und daß dann bei Zeiten ſtarker Inanſpruchnahme
des Geldmarkts die Goldbeſtände der Reichsbank nicht ſo ſehr vermindert
würden, niedrige Diskontſätze möglich wären und für die Produktion mehr
Kapital zur Verfügung geſtellt werden könnte. Der Scheck, dem in Eng⸗
land und Amerika eine ganz enorme Bedeutung zukommt, hatte zwar ſeit
den 1880er Jahren namentlich durch die Bemühungen der Reichsbank
einige Förderung erfahren, eine weitere Ausdehnung des Scheckverkehrs
ſcheiterte aber an dem Mangel einer rechtlichen Regelung der Materie. Das
Scheckgeſetz vom 11. März 1908 beſeitigte dieſen Mangel. Immerhin wird
es noch manche Zeit dauern, bis die in einem großen Teil der Bevölkerung
vorhandene Vorliebe für Goldmünzen überwunden ſein und dem Inſtitut
auch außerhalb des Großverkehrs das nötige Vertrauen entgegengebracht
werden wird. Eine dankenswerte Maßnahme, welche auf das wachſende
Verſtändnis für den Scheckverkehr von großem Einfluß ſein dürfte, war es,
daß kurz nach dem Erlaß auch der Poſtüberweiſungs⸗ und Poſtſcheck—
verkehr im Deutſchen Reich eingeführt wurde. Er tritt am 1. Jan. 1909
in Kraft. Dieſe neue poſtaliſche Einrichtung dürfte — das zeigt klar und
78 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
deutlich das Vorbild Oſterreichs, wo ſie, allerdings verbunden mit der Poſt⸗
ſparkaſſe, ſchon ſeit 25 Jahren beſteht — durch die müheloſe und billige
Übertragung von Geldbeträgen von Ort zu Ort äußerft fördernd auf das
Beſtreben einer Erſparnis und Konzentrierung der Umlaufsmittel wirken und
wird den Scheckverkehr auch in ländliche Bezirke verpflanzen. Die Anlegung
der bei den neun Poſtſcheckämtern zur Anſammlung kommenden Gelder iſt
Sache der Reichsbank. Beanſtandet wird insbeſondere, daß — im Gegenſatz
zu der öſterreichiſchen Einrichtung —, um dem Verdacht eines Wettbewerbs
mit den Sparkaſſen und den genoſſenſchaftlichen Kreditinſtituten entgegen⸗
zutreten, die Einlagen nicht verzinſt werden, und ferner, daß bei umſatzreichen
Kontos eine Zuſchlagsgebühr von 7 Pfennig für jede weitere Buchung er⸗
hoben wird. |
Neben der Förderung des Scheckverkehrs find aber noch verſchiedene
jog. kleine Mittel zur Anwendung gelangt. So können jetzt z. B. Zins⸗
ſcheine der Reichsſchuld und der preußiſchen Staatsſchuld in Preußen bei
allen hauptamtlich verwalteten Staatskaſſen (außer der Eiſenbahn) und bei
den durch die Gemeinden zur Hebung gelangenden direkten Staatsſteuern
ſtatt baren Geldes in Zahlung gegeben werden. Vom Reich und ver⸗
ſchiedenen Bundesſtaaten wurde ferner der Anſchluß an den Giroverkehr
der Reichsbank den Behörden und Verwaltungsſtellen zur Pflicht gemacht,
die Überweiſung der Dienſtbezüge an die Beamten im Girowege für zuläſſig
erklärt und auf die Gemeinden und Kommunalverbände in ähnlichem Sinn
einzuwirken geſucht.
Ein zweites Mittel zur Sanierung des Geldmarkts wird, wie ſchon er⸗
wähnt, in der Reform der Bankgeſetzgebung erblickt. Mit dem Jahr 1911
läuft das der Reichsbank erteilte Privileg ab. Die Bankgeſetznovelle ſoll
nun auch Abhilfe ſchaffen gegen die beſtehenden Unzuträglichkeiten, nament-
lich gegen den hohen Bankdiskont. Am 1. Mai trat in Berlin eine von
der Reichsregierung berufene Bankenquetekommiſſion zuſammen
(23 Mitglieder, 180 Sachverſtändige). Der ihr vorgelegte Fragebogen zer⸗
fällt in zwei Hauptteile: die die Reichsbank und die das Depoſitenweſen be⸗
treffenden Fragen. Abgeſchloſſen wurde im Jahre 1908 nur die Unter.
ſuchung über die Geſtaltung der Reichsbank, über die Fragen, ob ſich eine
Erhöhung des Grundkapitals, eine ſolche des ſteuerfreien Notenkontingents,
eine Verſtärkung des Barvorrats aus dem Inlandverkehr empfiehlt, wie ſich
dem Goldabfluß ins Ausland entgegenwirken und der Goldbezug fördern
läßt u. a. Die Verhandlungen ſollen die Grundlage für den von der Re-
gierung auszuarbeitenden Entwurf zur Novelle bilden. Die bevorſtehende
Reform wird mit Recht nicht an den Grundfeſten der Reichsbank rütteln.
Was ſie will, das ſind im Grunde nur unweſentliche Anderungen, die eine
beſſere Anpaſſung an die Zeitbedürfniſſe erſtreben. Nichts wäre verſehlter,
als der Reichsbank und ihrer Organiſation irgend eine Schuld an der letzten
1. Volkswirtſchaft. 79
Geldkalamität zuſchieben zu wollen. Die Reichsbank hat ſich im Gegenteil
dank ihrer verfaſſungsrechtlichen Grundlage und ihrer geſunden Finanzpolitik
als ein für die deutſche Volkswirtſchaft äußerſt ſegensreiches Inſtitut erwieſen.
In Oſterreich⸗Ungarn iſt der lebhaft entbrannte Kampf um die Er-
neuerung des Bankprivilegs noch nicht zum Abſchluß gelangt.
Ein nicht zu unterſchätzender Vorgang war die Auflöſung der Intereſſen⸗
gemeinſchaft Dresdener Bank⸗Schaaffhauſenſcher Bankverein. Am 1. Jan.
1903, in einer Zeit der Hochkonjunktur gegründet, löſte ſie ſich Ende 1908
wieder auf, weil die eheliche Liebe und Zuneigung ſchwand, als das Riſiko,
die infolge des Konjunkturrückgangs erlittenen Verluſte, gemeinſam getragen
werden ſollte. Die Form der Intereſſengemeinſchaft, die in den letzten
Jahren bei Konzentrationsbeſtrebungen vielfach vor der vollſtändigen Ver⸗
ſchmelzung, der Fuſion, bevorzugt wurde, hat ſich auch ſonſt nicht überall
bewährt; verſchiedene andere derartige Bildungen haben ſich im Jahre 1908
gleichfalls aufgelöſt.
Das Jahr 1908 brachte auch eine weſentliche Umgeſtaltung des deutſchen
Börſenrechts!.
6. Finanzweſen. — Über der Geſtaltung der deutſchen Reichsfinanz⸗
reform ſchwebt noch das Dunkel 2. Die verſchiedenen Steuervorlagen be⸗
ſchäftigen die Reichstagskommiſſion. Bayern, zur Zeit der einzige größere
deutſche Staat ohne allgemeine Einkommenſteuer, iſt daran, ſein altes Er⸗
tragsſteuerſyſtem zu beſeitigen. In Baden trat am 1. Jan. 1908 die neue
Vermögensſteuer in Kraft (Geſetz vom 28. Sept. 1906). Die Steuer ſchuf
einen Rechtszuſtand, wie ihn jetzt kein anderer deutſcher Staat kennt. Die
Vermögensſteuer tritt nicht als Ergänzungsſteuer, ſondern als eine felb-
ſtändige, die Rentabilität des Vermögens berückſichtigende Steuer neben die
Einkommenſteuer. Durch dieſe Umgeſtaltung wurde auch die Gemeinde⸗
beſteuerung berührt, bei der jedoch im Gegenſatz zur ſtaatlichen Vermögens⸗
ſteuer ein Schuldenabzug nicht ſtattfindet, was zu einer lebhaften Proteſt⸗
bewegung der Hausbeſitzerkreiſe führte. Die Geſetzgeber gingen bei dieſer
Beſtimmung von dem Gedanken aus, daß heute der Schwerpunkt des Ge⸗
meindeverbandes auf wirtſchaftlichem Gebiet liege, daß die kommunalen
Einrichtungen, für deren Schaffung die Städte die größten Aufwendungen
zu machen haben, vornehmlich dem Grund- und Hausbeſitz ſowie dem Ge⸗
werbebetrieb zu gute kommen, deren Ertragsfähigkeit bzw. Wert erhöhen, und
daß daher für die Beſteuerung nicht die individuelle Leiſtungsfähigkeit,
ſondern das Intereſſe an den Einrichtungen der Gemeinde maßgebend ſei.
Auch die in Bayern gleichzeitig mit der ſtaatlichen Steuerreform geplante
Umgeſtaltung des Gemeindefinanzweſens iſt von dieſem Gedanken beherrſcht.
1 Bol. Abſchnitt V, 6: „Rechtswiſſenſchaft“.
2 Vgl. Abſchnitt III, 1: „Politiſches Leben in Deutſchland“.
80 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
7. Kommunalweſen. Das Jahr 1908 ſah die Jahrhundertfeier des
Erlaſſes der erſten preußiſchen (und damit der erſten deutſchen) Städte ⸗
ordnung. Auf die großartige Entwicklung, welche die deutſchen Städte
unter der Ara der Selbſtverwaltung genommen haben, kann hier nur
hingewieſen werden. Bei der Feier im Berliner Rathaus (21. Nov.) führte
Bürgermeiſter Dr Reicke aus, daß die ſchöpferiſche Wirkung der Städte⸗
ordnung auf zwei grundlegenden Gedanken beruhe: der eine ſei der Kampf
gegen die Bureaukratie, der andere die Heranziehung des Laienelements,
des „Bürgers“, im Gegenſatz zum Beamten, zu der Verwaltung. Abgeſehen
von den vielſeitigen Aufgaben kommunaler Sozialpolitik! ſtehen zur Zeit
finanzwirtſchaftliche Fragen im Vordergrund. Ein ſchweres Ringen
vollzieht ſich innerhalb der Stadtverwaltungen zwiſchen Wollen und Können.
Auf der einen Seite eine Unſumme kultureller, wirtſchaftlicher, ſozialer,
hygieniſcher, künſtleriſcher Aufgaben und Probleme, auf der andern Seite
unzureichende finanzielle Mittel. Die ſtaatlich übrigens ſehr beſchränkte
indirekte Beſteuerung ſtößt auf den Widerſpruch des ſozialen Zeitgeiſtes.
Bei der direkten Steuererhebung zwingt der ſich unter vielen Städten
(z. B. Berlin und ſeinen Vororten) abſpielende Kampf um den Zuzug
ſteuerkräftiger Elemente nicht ſelten zu niedrigen Sätzen. Als einziges
Mittel bleibt dann nur die Aufnahme von Anleiheſchulden übrig, deren
Verzinſung und allmähliche Tilgung auf die Steuerpflichtigen weniger
drückend wirkt als eine große Steuerlaſt. Aber auch für die Kommunen
gilt der von dieſen infolge der Ungunſt der Verhältniſſe leider nicht immer
beachtete Grundſatz, daß im allgemeinen der Kredit nur in Anſpruch ge⸗
nommen werden darf für Anlagen, die dauernde, der Zukunft zu gute
kommende Werte ſchaffen. Für den 31. März 1907 wurden (nach Mohl
in „Mitteilungen der Zentralſtelle des deutſchen Städtetages“) die Anleihe⸗
ſchulden aller deutſchen Städte über 25000 Einwohner auf 3,8 Milliarden
Mark berechnet, denen allerdings im kommunalen Grundbeſitz, den gewerb-
lichen Gemeindebetrieben und dem ſonſtigen ſtädtiſchen Eigentum noch ein
weit höherer Gegenwert gegenüber ſteht. Immerhin bleibt es aber eine
bedenkliche Erſcheinung, wenn von fachkundiger Seite (Deutſcher Städtetag,
München, 6./7. Juli) ausgeführt wird, daß die Anleihen der deutſchen Städte
über 10000 Einwohner auch in den kommenden Jahren jährlich 300 Mill.
Mark überſteigen werden. Einzelne Vorſchläge, um neue Wege zur Deckung
des Kreditbedarfs der deutſchen Städte zu finden, ſind zur Zeit noch nicht
ſpruchreif. Auf dem Preußiſchen Städtetag (Königsberg i. Pr., 5. /6. Okt.)
ſtand die Eingemeindungsfrage zur Diskuſſion. Die Städte wollen
grundſätzlich die von ihnen wirtſchaftlich vollſtändig abhängigen Vororte in
den Kreis des ſtädtiſchen Weichbildes gezogen wiſſen, weil es den Grund-
1 Vgl. Abſchnitt IV, 2: „Soziale Bewegung“.
1. Volkswirtſchaft. 81
prinzipien der Okonomie und der Gerechtigkeit entſpreche, daß alle, die
innerhalb der ſtädtiſchen Lebensgemeinſchaft leben, auch innerhalb der recht-
lichen Stadtgrenze wohnen. Demgegenüber ſehen die Landkreiſe in ihrer
Eigenſchaft als Kommunalverbände in der Eingemeindung von Vororten
eine Schwächung ihrer wirtſchaftlichen Leiſtungsfähigkeit und verlangen zum
mindeſten eine Vermögensentſchädigung.
8. Kolonialweſen. — In der deutſchen Kolonialpolitik iſt ein weſent⸗
licher Umſchwung zu verzeichnen. Wohl das bedeutendſte Reſultat der im
Jahre 1907 nach Oſtafrika unternommenen Reiſe Dernburgs iſt fein Ein-
treten für eine negererhaltende Politik, die Erkenntnis, daß für die beſte
der deutſchen Kolonien die billige Eingebornenkultur wichtiger ſei als die
ſtändig notleidende teure Plantagenkultur, ein Ergebnis, das allerdings den
Zorn des kolonialen Herrentums lebhaft entfachte. Auf der Reiſe nach
Deutſch⸗Südweſtafrika im Jahre 1908 iſt der Staatsſekretär des Reichs⸗
kolonialamts hinſichtlich dieſer Kolonie gleichfalls zu der Erkenntnis gekommen,
daß auch hier das Wertvollſte die Bevölkerung iſt, daß es eine der größten
Kulturwidrigkeiten iſt, in der Verdrängung und Ausrottung der Eingebornen
das Heil zu erblicken, daß die Eingebornenpolitik und die Bodenfrage die
wichtigſten Probleme aller Kolonialwirtſchaft ſind. Die Bewertung Deutſch⸗
Südweſtafrikas als Siedelungsland für eine größere deutſche Abwanderung
hat eine Reduktion erfahren. Dernburg iſt, wie andere ſchon längſt, zu
der Einſicht gelangt, daß die mit Aufwendung großer ſtaatlicher Mittel ge⸗
förderte Anlage kleiner Farmen ein Fehler war, daß nur in einzelnen relativ
beſonders fruchtbaren Gegenden 3000 ha für eine Farm genügen, im übrigen
5000 — 10000 ha, im Süden 20 000 ha erforderlich find und jede Farm
ein Anlagekapital von 35000 bis 55000 Mark nötig hat. Der Staats.
ſekretär ſetzt ſeine Hoffnungen jetzt auf den Bergbau (Kupfer). Ob die
Diamantfunde bei Lüderitzbucht eine neue Ara für dieſe Kolonie einleiten
werden, ſcheint vorerſt noch fraglich. Das Geſamtgewicht der in den
letzten vier Monaten des Jahres 1908 gefundenen Diamanten beträgt
40000 Karat, ihr Geſamtwert 1,11 Mill. Mark. Für die weitere fried⸗
liche Erſchließung des ſüdafrikaniſchen Schutzgebiets von großer Bedeutung
dürften vielleicht die Schutzverträge werden, welche Hauptmann Franke, der
berühmte Sieger von Omaruru, mit den Ovambos, den Bewohnern des
nördlichen Teils der Kolonie, abgeſchloſſen hat. Die Ovambos, die bisher
nur nominell unter deutſcher Oberherrſchaft ſtanden, bilden mit ihren
100 000 — 150 000 Köpfen eine äußerſt wertvolle, für den wirtſchaftlichen
Fortſchritt der Kolonie faſt unentbehrliche Arbeitskraft. Ob die eingegangenen
Verträge von den Ovambos auch gehalten werden, wird zu einem gewiſſen
Teil auch von der Politik der Verwaltungsorgane abhängen. Das teure
Lehrgeld, die großen Opfer an Gut und Blut, iſt hoffentlich nicht umſonſt
gezahlt worden. Daß die wirtſchaftliche Entwicklung der a Kolonien
Jahrbuch der Seite und Rulturgeſchichte. IL
82 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
Fortſchritte macht, zeigt der Rückgang der Reichszuſchüſſe. Um die Kolonial⸗
finanzen von denen des Reichs zu trennen, gleichzeitig allerdings auch um
den Markt von den Reichs und Staatsanleihen zu entlaſten, wurde im Jahre
1908 ein neuer Anleihetyp in einer amortiſierbaren Kolonialanleihe
(30 Mill. Mark für Bahnbauten) geſchaffen. Für den deutſch.afrikaniſchen
Bahnbau brachte das Jahr 1908 einen anſehnlichen Fortſchritt. Der Zu⸗
wachs an Betriebslänge betrug 236 km (13,5%), an Bau- und Betriebs⸗
länge zuſammen 1440 km (68,5% . Ende 1908 waren in Deutſch⸗Afrika
1988 km im Betrieb, 1552 km im Bau. Die feit einiger Zeit unter.
nommenen Verſuche, die tropiſch⸗afrikaniſchen Beſitzungen, namentlich das
Hinterland, zu Rohſtofflieferanten (Baumwolle, Kautſchuk u. dgl.) für die
deutſche Induſtrie heranzubilden, haben ſowohl der Quantität wie der
Qualität nach beſonders in den letzten Jahren gute Ergebniſſe geliefert.
In Südweſtafrika werden mit der Wollſchafzucht in größerem Maßſtabe
Verſuche gemacht, in der Hoffnung, dadurch ſpäter die deutſche Woll⸗
induſtrie hinſichtlich des Rohmaterials vom ausländiſchen Markt unabhängiger
zu machen. Zur wirkſameren Bekämpfung der Schlafkrankheit in den
beiderſeitigen Beſitzungen Oſtafrikas wurde ein beutjch-englifches Abkommen
geſchloſſen (27. Okt.). Für die Ausbildung der deutſchen Kolonialbeamten
wurde in Hamburg das Kolonialinſtitut, eine Art Hochſchule, errichtet
(eröffnet 20. Okt.). Der durch kaiſerlichen Erlaß vom 10. Okt. 1890 ge⸗
ſchaffene Kolonialrat, der aus Delegierten der Kolonialgeſellſchaften
und aus vom Reichskanzler berufenen Sachverſtändigen beſtand und gut⸗
achtlich bei kolonialen Vorlagen und Fragen gehört wurde, wurde am
17. Febr. 1908 wieder aufgehoben. An ſeine Stelle traten Sachverſtändigen⸗
Kommiſſionen, welche das Reichskolonialamt bei der Verwaltung der Schutz ⸗
gebiete in beratender Weiſe unterſtützen ſollen. Nicht ohne eine gewiſſe
Bedeutung, vielleicht nicht nur in kolonialwirtſchaftlicher Hinſicht, iſt die
ſich ſeit einiger Zeit vollziehende Anknüpfung freundſchaftlicher Beziehungen
zwiſchen den deutſchen und franzöſiſchen Kolonialkreiſen.
9. Literatur. — Berechtigtes Aufſehen rief Jul. Wolfs „National-
ökonomie als exakte Wiſſenſchaft“ (Leipzig, Deichert) hervor. Es iſt der
erſte Verſuch, ein vollſtändiges nationalökonomiſches Syſtem auf rein mathe-
matiſch exakter Methode zu geben. Das Werk bringt eine lange Reihe neuer
wiſſenſchaftlicher Ergebniſſe. Als oberſten Grundſatz ſtellt Wolf das ökono⸗
miſche Prinzip auf. Dieſes ſtellt die Volkswirtſchaft „jenſeits von Gut und
Böſe, das will ſagen, jenſeits der ſittlichen Norm, mag dieſelbe egoiſtiſchen
oder altruiſtiſchen Inhalts ſein“. Dabei wird jedoch die Möglichkeit einer
Einwirkung auf den „Mechanismus“ infolge ſittlicher und anderer Er⸗
wägungen nicht ausgeſchloſſen, nur ſeien „dieſe Eingriffe und das Prinzip,
aus dem ſie entſtehen, als dem die Volkswirtſchaft regelnden Prinzip weſens⸗
fremde Tatbeſtände zu erkennen“. Auch in Kreiſen, welche Wolf nicht in
2. Soziale Bewegung. 83
allen feinen Ausführungen glauben folgen zu können, verdient das Werk
die größte Beachtung. Wolf iſt der Antipode von Guſt. Schmoller,
dem bekannteſten und einflußreichſten Führer der hiſtoriſch⸗ethiſchen Schule.
Von deſſen „Grundriß der allgemeinen Volkswirtſchaftslehre“ (Leipzig, Duncker
u. Humblot) erſchien (ſechs Jahre nach der Ausgabe der erſten Auflage) das
7. bis 10. Tauſend. Die Neuauflage iſt weſentlich ausgebaut und um-
gearbeitet, die Darſtellung abgerundeter und klarer gemacht, namentlich hin.
ſichtlich der Entwicklung der Unternehmungsform, der hiſtoriſchen und ver-
gleichenden Finanzſtatiſtik, des Weſens der Territorial- und Volkswirtſchaft.
Schmoller beging am 24. Juni feinen 70. Geburtstag. Als Ehrengabe
brachten ihm 40 Frennde und Schüler ein von einheitlichen Ideen getra-
genes Sammelwerk dar: „Die Entwicklung der Volkswirtſchaft im 19. Jahr⸗
hundert“ (ebd.), das ein reiches Material zur Beurteilung der Verände⸗
rungen in der deutſchen Volkswirtſchaft und ihrer Lehre enthält. Wer den
„Conrad“ ſtudiert hat und nach ſchwererer Speiſe verlangt, greift mit Vor⸗
liebe zu E. v. Philippovichs „Grundriſſen“ (Tübingen, Mohr), die als
bewährte Erzieher zum logiſch⸗methodiſchen Erfaſſen der wirtſchaftlichen Tat-
ſachen und Probleme gelten. Kurz vor Jahresſchluß erſchien der 1. Teil
von deſſen „Volkswirtſchaftspolitik“ nominell in vierter Auflage (ebd.), tat-
ſächlich aber — inhaltlich ſowohl wie mit Rückſicht auf die Gruppierung —
ein vollſtändig neues Werk, ausgezeichnet durch klare Syſtematik und ſcharfe
Begriffsbildung. Philippovich kommt zu dem auch am Schluß eines wirt ⸗
ſchaftspolitiſchen Referats beachtenswerten Ergebnis, daß die letzte Entſchei⸗
dung über den Erfolg wirtſchaftspolitiſcher Beſtrebungen nicht bei wirtſchaft⸗
lichen, materiellen Tatſachen, ſondern bei ſolchen des geiſtigen Lebens liegt.
Auch auf das Standard Work der Görres-Geſellſchaft, das „Staatslexikon“
(Freiburg, Herder), darf hier wohl hingewieſen werden. Daß dieſes Werk
zur Zeit in neuer Bearbeitung und umfaſſender Erweiterung in dritter Auf.
lage erſcheint, zeigt von dem wachſenden Verſtändnis für die in ihm beban-
delten Fragen und Probleme in den Kreiſen, denen es in erſter Linie dienen
will, wohl aber auch für die Qualität des Gebotenen. Gleichzeitig mit dem
„Staatslexikon“ erſcheint das große deutſche „Handwörterbuch der Staats⸗
wiſſenſchaften“ (Fiſcher, Jena) in neuer (dritter) Auflage.
2. Soziale Bewegung.
Don Prof. Dr Anton Kod).
Die fog. foziale Frage ift nicht identisch mit der fog. Arbeiterfrage,
aber unter den verſchiedenen Teilfragen oder Einzelheiten, welche die joziale
Frage der Gegenwart ausmachen, beanſprucht ſie ein ganz beſonderes
Intereſſe.
6 *
84 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
1. Die Arbeiterfürſorge. — Wenn wir zuerſt nach den neuen fozial-
politiſchen Geſetzen Ausſchau halten, ſo ſind im Deutſchen Reich die
letzten Jahre ſozialpolitiſch magere geweſen. Ein Entwurf des neuen
Arbeitsverſicherungsgeſetzes ſoll im Januar 1909 veröffentlicht
werden. Durch die Annahme des Zehnſtundentages für Fabrikarbeiterinnen
iſt ein altes Verſprechen eingelöſt worden. Das Arbeitskammergeſetz liegt
im Entwurf dem Reichstage vor; ſeine Veränderung gegenüber der erſten
Faſſung kann in manchen Beziehungen als Fortſchritt gelten. Sehr zu be⸗
grüßen ift die fortſchreitende Einrichtung von Jugendgerichten t. Die
abweiſende Haltung der Regierung gegenüber einem Reichsberggeſetz und
der Schaffung von Arbeiterkontrolleuren muß beklagt und die Forderung
der Arbeiter nachdrücklich unterſtützt werden. |
Auch Oſterreich fteht vor großen Reformen feiner Arbeiter- bzw.
Sozialverſicherung. Hier iſt eine viel weitergehende Initiative als im
Deutſchen Reich vorhanden. Die Krankenverſicherung ſoll auch auf die
Heimarbeiter, die land- und forſtwirtſchaftlichen Arbeiter, die kaufmänni⸗
ſchen und die Hausangeſtellten ausgedehnt, die Unterſtützungsdauer auf
20 Wochen verlängert werden. Die Unfallverſicherung wird dadurch ent-
laſtet, daß den Krankenkaſſen die Heilung der durch Unfall Verletzten über-
tragen wird. Bei der Invalidenverſicherung wird das Bezugsrecht der
Altersrente auf 65 Jahre herabgeſetzt, die Staatszuſchüſſe werden nicht un⸗
beträchtlich erhöht. Während im Deutſchen Reich die Privatbeamten-
verſicherung noch in weitem Felde liegt, tritt in Oſterreich eine ſtaatliche
Penfions und Hinterbliebenenverſicherung für Privatbeamte ſchon am 1. Jan.
1909 in Kraft. Auf dem Gebiet des Arbeiterſchutzes finden Vorarbeiten
zum Erlaß eines Kinderſchutzgeſetzes nach dem Muſter des reichsdeutſchen
Geſetzes ſtatt. Dem öſterreichiſchen Abgeordnetenhauſe liegt ein Geſetz
entwurf vor, der eine Regelung der Arbeitszeiten im Handelsgewerbe be-
zweckt; ferner ſind parlamentariſche Unterſuchungen über die Arbeitszeit im
Bergbau eingeleitet worden, um die Einführung des Achtſtundentages und
die Ausdehnung der Sonntagsruhe vorzubereiten. Durch einen neuen Geſetz⸗
entwurf ſoll die Gewerbeinſpektion durch Einſtellung von Arzten und fach⸗
kundigen Arbeitern als Aſſiſtenten verbeſſert werden.
In Frankreich ſteht die ſeit Jahren immer wieder verſchobene Alters.
verſicherung jetzt im Vordergrund. Ein Senatsvorſchlag ſieht eine erhebliche
Erweiterung des Kreiſes der Verſicherungspflichtigen über die von der Re⸗
gierung in Ausſicht genommenen gewerblichen Arbeiter vor und will die
Bezugsgrenze auf das 65. Lebensjahr feſtſetzen. Ferner iſt dem Parlament
ein Geſetzentwurf zum Schutz der jugendlichen Arbeiter und Arbeiterinnen
in Fabriken vorgelegt worden. Über die Heimarbeit werden Erhebungen
1 Vgl. Abſchnitt V, 8: „Rechtswiſſenſchaft“.
2. Soziale Bewegung. 85
angeftellt, die Material für eine Schutzgeſetzgebung liefern ſollen. Durch
Geſetz vom Juli 1908 ſind Arbeitsräte geſchaffen worden, die mit den ge⸗
planten Arbeitskammern im Deutſchen Reich Ahnlichkeit haben.
In Italien ſoll das beſtehende Unfallverſicherungsgeſetz reformiert
werden. Ein nicht unbedeutender Fortſchritt iſt die der Deputiertenkammer
im Entwurf vorliegende Mutterſchaftsverſicherung, die für alle Arbeiterinnen
von 15 bis 50 Jahren obligatoriſch eingeführt werden ſoll. Durch Geſetz
vom 22. März 1908 iſt die Nachtarbeit in Bäckereien, d. h. jede Arbeit
in dieſen Betrieben zwiſchen 9 Uhr abends und 4 Uhr morgens verboten.
Nicht ohne Intereſſe iſt der vom Miniſterium für Ackerbau und Induſtrie
geplante Geſetzentwurf, Zwangsſchiedsgerichte für die im öffentlichen Intereſſe
arbeitenden Gewerbe, wie Krankenpflege, Waſſerverſorgung, Straßenbeleuch⸗
tung, öffentliche Verkehrsmittel, zu ſchaffen. Veranlaſſung dazu haben die
häufigen Streiks gerade dieſer Gewerbe in dem Königreich gegeben.
In England gelangte ein Altersrentengeſetz! zur Annahme, das
allen über 70 Jahre alten Arbeitern, die 20 Jahre in England eng⸗
liſche Untertanen geweſen ſind und nicht über 650 Mark Jahreseinkommen
beziehen, eine Altersrente ſichert. Die Ausgaben des Staates (die Arbeiter
zahlen ſelber keine Beiträge) belaufen ſich auf jährlich 135 Mill. Mark.
Ein bedeutender Fortſchritt des engliſchen Bergarbeiterſchutzes iſt die An⸗
nahme des Achtſtundentages für Bergleute. Das feit 1908 in Kraft ge-
tretene Schulſpeiſegeſetz berechtigt die Gemeinden, eine Ortsſteuer zu erheben,
um Mittel zur Schulſpeiſung zu gewinnen. Ferner hat die Regierung ein
umfaſſendes Kinderſchutzgeſetz eingebracht, das teils die beſtehenden Vor⸗
ſchriften zuſammenfaßt, teils neue Schutzmaßregeln trifft. Mit anerkennens⸗
werter Energie wird der Heimarbeiterſchutz gefördert. Ein vom Unterhauſe
eingeſetzter Ausſchuß ſchlägt eine geſetzliche Regelung der Löhne, die Schaffung
von Lohnämtern, die Anzeige- und Eintragepflicht der Arbeitgeber und noch
eine Reihe weniger bedeutſamer Vorſchriften vor. Endlich iſt eine Ver⸗
beſſerung der Arbeiterſchutzgeſetzgebung in Ausſicht genommen.
In Auſtralien tritt am 1. Jan. 1909 ein Alterspenſionsgeſetz in
Kraft. Die Altersgrenze zum Bezug der Penſion iſt für Männer 65, für
Frauen 60 Jahre. Das Ausmaß der Penſion beträgt 10 Mark in der
Woche. Von dem Anrecht ſind ſolche Perſonen ausgeſchloſſen, die in den
5 Jahren vor der Geltendmachung des Anſpruchs ihre Ehefrau bzw. ihren
Gatten verlaſſen haben oder ein Vermögen von mehr als 6000 Mark be⸗
ſitzen. Bedingung iſt, daß die Bewerber wenigſtens 25 Jahre in Auſtralien
anſäſſig waren. Eine Invalidenrente erhalten die Perſonen, die nach dem
16. Lebensjahr einen Unfall erlitten und dadurch erwerbsunfähig wurden.
Die Koſten trägt der auſtraliſche Staatenbund. Ahnliche Geſetze beſtanden
1 Sql. Abſchnitt III, 3: „Politiſches Leben“ S. 60.
86 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
bisher in den Bundesſtaaten Neu⸗Südwales und Viktoria. — So gehört
denn das Jahr 1908, wenn wir die genannten Staaten zuſammenfaſſen,
zu den inhaltsreicheren in der Entwicklungsgeſchichte der ſozialpolitiſchen
Geſetzgebung und legt in gewiſſer Hinſicht dafür Zeugnis ab, daß der
Ausbau der ſozialen Geſetzgebung den Inhalt des 20. Jahrhunderts
bilden foll.
Außer den geſetzgeberiſchen Faktoren hat auch die Wiſſenſchaft zur
Förderung der Arbeiterfürſorge wertvolle Beiträge geliefert. H. Herkners
bekanntes Werk „Die Arbeiterfrage“ (Berlin, Guttentag) iſt erfreulicherweiſe
in fünfter Auflage erſchienen. Von L. Garriguets großangelegtem
Traité de Sociologie d' après les principes de la théologie catholique
iſt der zweite Band (Régime du travail. Paris, Bloud et Cie.) erſchienen,
in dem alle auf das Thema ſich beziehenden Fragen zur Behandlung kommen.
Beide Bände (I: Régime de la propriété) bilden einen willkommenen
Kommentar zur Enzyklika Leos XIII. Rerum novarum. Eine kleine, aber
praktiſch wertvolle Gabe ift die Broſchüre von Dante Munerati, Pel
meglioramento economico- sociale del proletario (Roma 1908), nach den
Grundſätzen derſelben Enzyklika die ſoziale Kriſis behandelnd (Sonderabdruck
aus der Rivista internazionale di scienze sociali).
Einen wertvollen Bauſtein für eine große künftige Geſchichte der Arbeiter-
bewegung hat M. Gafteiger in feinem Buche „Die chriſtliche Arbeiter.
bewegung in Süddeutſchland“ (München, Verband ſüdd. kathol. Arbeiter ⸗
vereine) geliefert. Bis ins einzelnſte wird die Entwicklung der katholiſchen
und evangeliſchen Arbeitervereine in Süddeutſchland dargeſtellt und möglichſt
objektiv über die verſchiedenen Richtungen, die in ihnen zum Ausdrucke
kommen, und über die Verſuche, ſie mit den gewerkſchaftlichen Organiſationen
in Verbindung zu bringen, berichtet. — Max Röders „Chriſtlicher Arbeiter⸗
katechismus“, ein Agitationshandbuch für die chriſtliche Arbeiterſchaft, iſt in
zweiter Auflage erſchienen (Heiligenſtadt, Cordier). In der ausgezeichneten
Propagandaſchrift für „Die chriſtlichen Gewerkſchaften“ (M.⸗Gladbach, Weſt⸗
deutſche Arbeiterzeitung) werden deren Werdegang, Grundſätze, Organiſation
und Bedeutung geſchildert. Sie wendet ſich nicht nur an die beteiligten
Arbeiter, ſondern auch an weitere Kreiſe. Beſonders eingehend iſt das
Programm der chriſtlichen Gewerkſchaften behandelt und das Verhältnis zu
den katholiſchen Organiſationen bzw. Fachabteilungen der Berliner Richtung
dargeſtellt. Die ruhige und ſachliche Behandlungsweiſe wird allenthalben
Anklang finden 1. Das Büchlein von R. Pape (Die Arbeiterfrage für
1 Zu dem Streite zwiſchen den chriſtlichen (interkonfeſſionellen) Gewerkſchaften und
katholiſchen Organiſationen vgl. die anonymen Aufſätze: Der heutige Stand gewerk⸗
ſchaftlicher Organiſationen, in Hiſtor.⸗polit. Blätter CXLI (1908) 354 ff; Von den
chriſtlichen Gewerkſchaften, ebd. CXLII (1908) 600 ff; ferner H. Peſch, Kirchliche Au⸗
torität u. wirtſchaftliche Organiſation, in Stimmen aus Maria⸗Laach LX XV 410—424.
2. Soziale Bewegung. 87
Arbeitgeber und Arbeitnehmer, in Hillgers „Illuſtrierte Volksbücher“ XIC,
Berlin-Leipzig) läßt eine klare Orientierung über die Arbeiterfrage allzuſehr
vermiſſen und wird am wenigſten der Gewerkſchaftsbewegung gerecht.
Als naturgemäße Gegenorganiſationen gegenüber der in den Gewerk,
ſchaften organiſierten Arbeiterſchaft haben die Arbeitgeberverbände
das ſtärkſte Intereſſe. Die Oktober Nummer der „Arbeiterbibliothek“
(M.⸗Gladbach, Weſtdeutſche Arbeiterzeitung), die Geſchichte, Stand und
Organiſation der Arbeitgeberverbände ſowie die Tätigkeit und Stellung⸗
nahme der Verbände im einzelnen einer objektiv kritiſchen Beleuchtung unter-
wirft, iſt daher als ſehr zeitgemäß beſonders willkommen und verdient all⸗
gemeine Beachtung.
Das Problem der periodiſchen Arbeitsloſigkeit und ihrer Bekämpfung
gehört wohl zu den ſchwierigſten der ganzen Soziologie. Wie immer Staat
und Gemeinde die Sache organiſieren mögen, für eine große Zahl von
Beſchäftigungsloſen werden paſſende öffentliche Arbeiten nicht ausfindig
gemacht werden können; immer werden große Bruchteile gerade der ſog.
gelernten Arbeiter mindeſtens zeitweiſe erwerbslos bleiben. Wie weit eine
öffentlich- rechtliche Arbeitsloſenverſicherung Abhilfe verhieße, läßt ſich
nach den ſpärlichen Erfahrungen, die man — vornehmlich in der Schweiz —
mit ihr gemacht hat, noch nicht überſehen. Hie und da hat die Selbſthilfe
in der Form der Verſicherung auf genoſſen⸗ oder gewerkſchaftlicher Grund⸗
lage ganz Nützliches geleiſtet. Auch kann und muß durch gute Organiſation
des Arbeitsnachweiſes 1 und durch nach einem beſtimmten Plan angeordnete
Notſtandsarbeiten der Arbeitsloſigkeit möglichſt entgegengewirkt werden.
Aber dieſe Maßnahmen reichen beſonders dann, wenn die Not, zumal in⸗
folge von Wirtſchaftskriſen, einen größeren Umfang annimmt, nicht aus;
es bleiben, wie ſchon bemerkt, noch immer Arbeitsloſe übrig, für die eine
geeignete Beſchäftigung nicht beſchafft werden kann, und für dieſe gibt es,
ſollen fie nicht der Armenpflege zur Laft fallen, nur ein Mittel, um fie
und ihre Familien vor der Not zu ſchützen: die Verſicherung gegen
die Folgen der Arbeitsloſigkeit. Über die zweckmäßigſte Organi⸗
ſation einer ſolchen Verſicherung gehen die Anſichten noch weit auseinander.
Doch beſteht in den Kreiſen der Sozialpolitiker ſo ziemlich darüber Einig⸗
keit, daß in erſter Linie die Gemeinden, namentlich die größeren Stadt⸗
verwaltungen, bei der Löſung dieſes Problems mitwirken müſſen. Einen
der neueſten Verſuche hat die Stadt Straßburg i. E. gemacht, indem Ende
1906 zunächſt verſuchsweiſe 5000 Mark (ebenſo für 1908) bewilligt wurden,
um die Verſicherung gegen die Arbeitsloſigkeit zu begünſtigen. Zugleich
Soeben iſt von demſelben Autor die Schrift erſchienen: Ein Wort zum Frieden in
der Gewerkſchaftsfrage. Trier 1909, Paulinus⸗Druckerei. 48 S.
1 gl. J. Lorenz, Die Organifation des Arbeitsnachweiſes in der Schweiz,
in der Monatsſchrift für chriſtliche Sozialreform 1908, 223 ff 257 ff 351 ff.
88 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
wurde eine Ordnung der Arbeitsloſenverſicherung aufgeſtellt, die am 1. Jan.
1907 in Kraft trat. Nach dem von dem Straßburger Beigeordneten
Dominicus verfaßten Bericht ſtellten ſämtliche Gewerkſchaften und Vereine
den Antrag auf Zulaſſung zu der ſtädtiſchen Arbeitsloſenverſicherung. Der
Bericht kommt zu dem Schluß, daß die Hauptbedenken, die gewöhnlich gegen
eine Arbeitsloſenverſicherung geltend gemacht werden (die Schwierigkeiten
der Kontrolle des Grundes, der Dauer und der Beendigung der Arbeits-
loſigkeit) ſich im erſten Jahre des Beſtehens der Einrichtung als nicht
ſtichhaltig erwieſen haben. Die Straßburger Einrichtung hat ſich alſo be⸗
währt; aber ſie kommt nur ſolchen Arbeitsloſen zugute, die Mitglieder von
Verbänden mit Arbeitsloſenunterſtützung ſind. Allerdings iſt für ſie die
Verſicherung bzw. Geldunterſtützung am notwendigſten, weil ihnen am
ſchwerſten im Falle der Arbeitsloſigkeit paſſende Berufsarbeit zu beſchaffen
iſt. Den Ungelernten und Unorganiſierten dagegen können die Kommunen
eher durch Notſtandsarbeiten Hilfe bieten.
Eine ähnliche Einrichtung wie in Straßburg beſteht in München ſchon
ſeit dem Jahre 1906. Hier iſt man ſogar einen Schritt weiter gegangen,
indem die Zuſchüſſe nicht nur den Arbeitsloſen, die von gewerblichen oder
kaufmänniſchen Berufsvereinigungen eine Unterſtützung beziehen, ſondern
auch ſolchen gewährt werden, die im Falle der Arbeitsloſigkeit auf Einlagen
bei einer Sparkaſſe zurückgreifen können. Eine eigentliche Verſicherung
der Arbeitsloſen mit freiwilliger Beteiligung iſt ſeit einer Reihe von Jahren
in Köln eingerichtet. Im letzten Geſchäftsjahr 1907/1908 waren bei dieſer
Verſicherungskaſſe 1505 Arbeiter (1106 gelernte und 399 ungelernte) ver⸗
ſichert. Denn wie die Reichstagsverhandlungen (in Berlin 1908) über die
Maßnahmen gegen die Arbeitsloſigkeit wieder gezeigt haben, iſt vorderhand
an eine reichsgeſetzliche Regelung leider nicht zu denken.
Bekanntlich haben die Sozialdemokraten 1890 als Maximal- oder Normal-
arbeitszeit noch ſelber einen zehnſtündigen Arbeitstag verlangt; im Jahre
1894 gingen ſie auf einen Neunſtundentag über, und eigentlich erſt 1896
iſt der Achtſtundentag zur offiziellen Forderung der Partei geworden. Nun
hat der Parteitag der Sozialdemokratie in Nürnberg am 18. Sept. 1908
einen Antrag angenommen, den Parteivorſtand zu beauftragen, zuſammen
mit der Generalkommiſſion der Gewerkſchaften vor Beginn der (deutichen)
Reichstagsverhandlungen über die jog. große Gewerbenovelle eine umfaſſende
Agitation zu Gunſten der Erringung des geſetzlichen Neunſtundentages für
Männer und Frauen einzuleiten mit Ubergangsbeſtimmungen zur allmählichen
Einführung des Achtſtundentages. Die Novelle zur Gewerbeordnung, wie
ſie der deutſche Reichstag vor Weihnachten verabſchiedete, hat die Zuſtimmung
des Bundesrates gefunden. Damit tritt der Zehnſtundentag und die elf-
ſtündige Nachtruhe für Arbeiterinnen in Betrieben mit mehr als zehn Ar⸗
beitern vom 1. Jan. 1910 in Kraft.
2. Soziale Bewegung. 89
Unter den ſozialen Problemen der Gegenwart fteht die Fürſorge für
die Jugend im Vordergrund. Die Wichtigkeit dieſer Aufgabe hat die
Sozialdemokratie vollauf erkannt und ſich planmäßig an die Gründung und
Förderung jugendlicher Organiſationen erfolgreich herangemacht. Mit der
Entlaſſung aus der Volksſchule bricht für die große Mehrheit unſerer Jugend
eine geordnete, alle umfaſſende Fürſorge plötzlich ab, und doch iſt gerade
die ſchulentlaſſene Jugend noch in jeder Hinſicht der Erziehung, Leitung
und Führung bedürftig. Staat und Gemeinde, Kirche und private Wohl⸗
fahrtspflege ſehen ſich ſo auch auf dieſem Gebiete vor große, ja ſchwierige
Aufgaben geſtellt. Vieles iſt ſchon geſchehen, zumal im Jugendvereinsweſen
auf konfeſſioneller Grundlage, aber manches bleibt noch nachzuholen. Mit
Freuden ſind daher Aug. Piepers Werk „Jugendfürſorge und Jugend⸗
vereine“, ein vollſtändiges Handbuch der Jugendfürſorge (M.⸗Gladbach,
Volksvereins⸗Verlag), das eine umfaſſende und grundlegende Darſtellung der
geſamten Fürſorge für die männliche Jugend bietet, und das Schriftchen von
Amalie Lauer, „Gewerblicher Kinderſchutz“ betitelt (ebd.), zu begrüßen,
das über die Entſtehung der induſtriellen Kinderarbeit, ihren Umfang, ihre
Verbreitung, ſchädliche Wirkung, die bisherigen geſetzlichen Schutzmaßregeln,
deren Mängel und die notwendige Fortbildung des gewerblichen Kinder⸗
ſchutzes vorzüglich orientiert. Der Jugendfürſorge ſind auch zwei Bändchen
der Sammlung Teubner (Leipzig) „Aus Natur und Geiſteswelt“ gewidmet.
Sie ſtammen aus der Feder des Direktors des Hamburger Waiſenhauſes,
Dr Joh. Peterſen. Das eine Bändchen behandelt die „Offentliche Für.
ſorge für die hilfsbedürftige Jugend“, das andere die für „Die ſittlich ge⸗
fährdete und die gewerblich tätige Jugend“. Beide Büchlein ſind aus der
Praxis geſchöpft und bieten hinreichendes ſtatiſtiſches Material; infolge ihres
wiſſenſchaftlichen und nicht zuletzt praktiſchen Charakters werden ſie allen
Intereſſenten willkommen ſein.
2. Die Handwerkerfrage. — Es kann nicht energiſch genug gegen die
immer wieder aufgeſtellte Behauptung, daß das Handwerk von der Kon⸗
kurrenz der Großinduſtrie vernichtet werde und untergehe, Proteſt erhoben
werden. In einigen Handwerksbetrieben hat ja allerdings der Großbetrieb
Teile des ehemaligen handwerksmäßigen Produktionsgebietes erobert, es iſt
ihm aber nicht gelungen und wird ihm niemals gelingen, das Handwerk
gänzlich zu verdrängen. Das Handwerk hat auch heute noch einen goldenen
Boden, und der Segen wird um ſo mehr bei dem ehrbaren Handwerk
bleiben, je tüchtiger und arbeitsreicher der Nachwuchs iſt, den man ihm
zuführt. Daß dem fo ift, hat der Deutſche Handwerks und
Gewerbekammertag, der Ende Auguſt zum neuntenmal (diesmal
in Breslau) zuſammentrat, deutlich bewieſen. Gegenüber der in den ver⸗
gangenen Jahrzehnten vorhandenen großen und allgemeinen Hoffnungs⸗
loſigkeit, als ob das Handwerk im Sinken und Vergehen begriffen ſei,
90 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
wurde wieder ein größeres Vertrauen und trotz der augenblicklich auch für
die Handwerksberufe ungünſtigen Zeit ein beſſerer Mut in den Handwerks.
kreiſen konſtatiert. Vor allen Dingen wird, fo ſagte man, jetzt im Hand-
werkerſtand wieder weit mehr auf die Selbſthilfe vertraut, während man
vordem eine Beſſerung in der wirtſchaftlichen und ſozialen Stellung des
Handwerks nur durch die Geſetzgebung erreichen zu können meinte. Auch
wurde zugegeben, daß das Zurückweichen des Handwerks teilweiſe eigene
Schuld der Handwerker iſt, denn es fehle an kaufmänniſchem Geiſt und oft
auch an der techniſchen Ausbildung.
Das Geſetz über den kleinen Befähigungsnachweis wurde als
befriedigender Fortſchritt angeſehen. Nach der Novelle zur Reichsgewerbe⸗
ordnung vom 30. Mai (1908) wird vom 1. Okt. an die Befugnis zur An⸗
leitung von Lehrlingen in Handwerksbetrieben nur noch ſolchen Perſonen
zugeſtanden, die die Meiſterprüfung beſtanden haben. Haben ſolche Per-
ſonen die Meiſterprüfung nicht für dasjenige Gewerbe oder denjenigen
Zweig des Gewerbes beſtanden, in denen die Anleitung der Lehrlinge er-
folgen ſoll, ſo haben ſie die Befugnis dann, wenn ſie in dieſem Gewerbe
entweder die Lehrzeit beendet und die Geſellenprüfung abgelegt oder fünf
Jahre hindurch perſönlich das Handwerk ſelbſtändig ausgeübt haben oder
während einer gleich langen Zeit als Werkmeiſter oder in ähnlicher Stellung
tätig geweſen ſind. Jeder Lehrling hat nach Ablauf der Lehrzeit die Ge⸗
ſellenprüfung abzulegen. Zur Meiſterprüfung werden nur Perſonen zu⸗
gelaſſen, die eine Geſellenprüfung beſtanden haben. Es iſt nicht nötig, daß
der Geſelle feine Gefellenpriifung in dem Handwerk abgelegt hat, in dem
er ſeine Meiſterprüfung ablegen will. Ausnahmen betreffs der Geſellen⸗
und Meiſterprüfung ſind für ältere Handwerker zuläſſig. Auch für die
Übergangszeit gelten Ausnahmebeſtimmungen.
Staat und Gemeinden haben es ſchon längſt als ihre beſondere Pflicht
anerkannt, den Handwerkerſtand in ſeiner Exiſtenzfähigkeit zu ſtärken, und
ſind aus dieſem Grunde dazu übergegangen, bei öffentlichen Vergebungen
von Arbeiten und Lieferungen die Handwerker angemeſſen zu berückſichtigen.
Allein die Grundſätze, nach denen bei der Vergebung ſolcher Arbeiten und
Lieferungen verfahren wird, ſind nicht immer derart, daß ſie als einwandfrei
und muſtergültig bezeichnet werden könnten. Die bekannten „Submiſſions⸗
blüten“ ſind ein Beweis dafür. Um wenigſtens die ſchlimmſten Auswüchſe
zu beſeitigen, ſind von den beteiligten Kreiſen Vorſchläge gemacht worden.
Die Hauptübel beim Submiſſionsweſen liegen in der mangelhaften Be.
ſchreibung der verlangten Arbeit, in der Vergebung an einen General:
unternehmer und im Zuſchlag an den Mindeſtfordernden. Der von der
Durchführung des Mittelpreis verfahrens (z. B. in Mannheim und
Ludwigshafen) erhoffte Erfolg trat nicht in dem gewünſchten Umfange ein.
Die Zuſchlagserteilung nach dem Mittelpreiſe brachte lediglich eine Ver⸗
2. Soziale Bewegung. 91
ſchiebung der Preiſe nach oben mit ſich. Der Wunſch einer Lofalifierung
der Bewerbungen, d. h. der alleinigen Berückſichtigung der ortsanſäſſigen
Gewerbetreibenden bei Submiſſionen iſt berechtigt. Jedoch kann man von
einer Gemeinde nicht verlangen, daß fie grundſätzlich und unter allen Um⸗
ſtänden alle Arbeiten an einheimiſche Handwerker vergebe. Das könnte auf
die Dauer die berechtigten Intereſſen der Gemeinde gefährden, wogegen
ein Wettbewerb von auswärts auf das heimiſche Gewerbe fördernd wirken
kann. So wichtig beim Submiſſionsweſen die Streik und Lohnklauſel
iſt, ſo kann man es doch nicht als angängig bezeichnen, daß die Streik⸗
klauſel von vornherein in die Submiſſionsbedingungen aufgenommen wird.
Denn Staat und Gemeinde dürfen nicht ohne weiteres zu Gunſten einer
Berufsklaſſe Stellung nehmen, fo daß daraus einer andern Nachteile ent:
ſtehen. Es iſt aber ſonnenklar, daß die Arbeitgeber von der Streikklauſel
entſchieden Vorteil haben, die Arbeitnehmer durch ſie benachteiligt ſind. Die
Lohnklauſel hat den Zweck, auf das Verhältnis zwiſchen Submittenten und
deren Arbeiter Einfluß zu gewinnen. Staat und Gemeinde können ſo den
Arbeitern ſolcher Privatunternehmer, die für Staat und Gemeinde Arbeiten
übernehmen, ihren Schutz angedeihen laſſen bzw. ſich einen Einfluß auf
eine gute Geſtaltung des Arbeitsverhältniſſes (Arbeitszeit, Löhne, Behand⸗
lung der Arbeiter) ſichern.
Auf dem Gebiete der Gewerbeförderung hat Bayern einen Schritt unter-
nommen, der auch für andere Staaten von aktuellem Intereſſe fein dürfte,
nämlich einen ſog. Gewerbeinſpektor als ſtaatlichen Berater des Hand-
werkes beſtellt. Eine ſeiner wichtigſten Funktionen bildet die Beratung und
Belehrung der Handwerker.
3. Die Agrarfrage. — Die großartige Schau, welche die Deutſche
Landwirtſchaftsgeſellſchaft auf ihrer Ausſtellung vom 25. bis
30. Juni in Stuttgart⸗Cannſtatt geboten, hat gezeigt, daß auch die Land-
wirtſchaft große Fortſchritte aufweiſt und beſonders ſich die Technik zu nutze
gemacht hat. Nicht nur die Arme und die geſunden Fäuſte arbeiten hier,
ſondern auch der Geiſt. Es wäre großes Unrecht, zu ſagen, daß nur das
Gewerbe vorwärts gegangen und die Landwirtſchaft ſtehen geblieben ſei.
Die Cannſtatter Ausſtellung hat das Gegenteil jedem gezeigt, der ſehen
will. Welche hohe Bedeutung der Bauernſtand, „der Jungbrunnen der
phyſiſchen und ſittlichen Volkskraft“, hat, erſieht man aus dem wertvollen
„Abriß der Agrarfrage“ von F. Hitze (M.⸗Gladbach, Volksvereins⸗Verlag).
Die Umbildung, die die (deutſche) Landwirtſchaft im 19. Jahrhundert
techniſch und wirtſchaftlich durchzumachen hatte, hat allmählich ganz natur⸗
gemäß auch das landwirtſchaftliche Arbeits verhältnis erfaßt. Man
ſpricht nicht mit Unrecht von „Leutenot“, „Landflucht“, „Arbeitermangel“.
Sicherlich reichen weder die Genußſucht noch auch der lockend hohe Ver⸗
dienſt der Induſtrie zur Erklärung der überſtarken Abwanderung von
92 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
Arbeitskräften vom platten Lande und von landwirtſchaftlicher Beſchäf⸗
tigung aus. Hans Wohlmannſtetter hat unſeres Erachtens in dem
Aufſatz „Die Gründe der heutigen Landflucht“ (in Soziale Kultur 1908,
641 ff) den Beweis erbracht, daß der Landarbeitermangel hauptſächlich durch
die Unſicherheit der Beſchäftigung in der Landwirtſchaft veranlaßt werde.
Vielleicht kann die Landwirtſchaft ihre Arbeiter auch dadurch halten, daß ſie
an Stelle der Naturalbeiträge (freie Koſt und Wohnung) volle Lohnzahlung
in barem Gelde treten läßt, namentlich bei verheirateten Knechten und Tag⸗
löhnern, ferner die Arbeitszeit kürzt bzw. ebenſo wie die Induſtrie ſog. Über-
ſtunden beſonders belohnt. Bei der herrſchenden Leutenot kann man ſich jetzt
auch durch große Elektrizitätswerke mit Überlandzentralen zu helfen ſuchen.
Ein wirkſames Mittel dürfte die weitere Ausgeſtaltung der „Wohlfahrts-
pflege auf dem Lande“ ſein (vgl. Soziale Kultur 1908, 667 ff) wie auch
die da und dort eingeführte Erteilung von landwirtſchaftlichem Unterricht
an Soldaten.
Bei dem nach Hunderten von Millionen zählenden Verluſt an National-
vermögen, der jährlich durch Brände infolge Unachtſamkeit im Umgange mit
Feuer und Licht verurſacht wird, ſollte die Belehrung des Volkes über die
Verhütung der gewöhnlichen Feuersgefahren und ein verſtändiges Verhalten
bei Feuerausbruch eine allgemeine werden (vgl. J. Jung und R. Fried,
Feuer und Licht. München, Jung). Eine bedauerliche Tatſache iſt, daß der
Bauernſtand im allgemeinen am meiſten auf dem Gerichte vertreten iſt.
Das Beiſpiel eines Raiffeiſen⸗Dorfes Deutſchlands, bei allen Streitigkeiten
den Streitfall unter Strafe von 5 Mark einem Schiedsgericht zu unter-
breiten, verdient allgemeine Nachahmung.
4. Handelsſtandfrage. — Erfreulicherweiſe gewinnt der Verband
katholiſcher kaufmänniſcher Vereinigungen Deutſchlands,
der 230 Vereine mit rund 25000 Mitgliedern umfaßt, wegen der in ihm
geübten Tätigkeit immer mehr an Bedeutung. Fortwährend erfolgen Neu⸗
gründungen von Vereinigungen, die ſich dem Verband anſchließen; inner⸗
halb der Vereine herrſcht reges Leben. Prinzipale und Angeſtellte wirken
einträchtig zuſammen zur wirtſchaftlichen und ſozialen Hebung des Kaufmanns⸗
ſtandes, wobei die Pflege der katholiſchen Ideale nicht außer acht gelaſſen
wird. Auf dem Kongreß in Trier (5.—10. Aug.) wurde der Beſchluß ge-
faßt, daß Kaufleute, ſelbſtändige und angeſtellte, aus Orten, wo kein
katholiſcher kaufmänniſcher Verein beſteht, als Einzelmitglieder, denen die-
ſelben Rechte und Vergünſtigungen zuſtehen wie den Mitgliedern der ein⸗
zelnen Vereine, gegen einen Jahresbeitrag von 6 Mark ſich dem Verbande
anſchließen können.
Am 27. Juli hielt der Deutſche Zentralverband für Handel
und Gewerbe, die größte Organiſation zur Wahrung der Intereſſen der
Kleinhandel⸗ und Gewerbetreibenden, unter ſehr ſtarker Beteiligung in
2. Soziale Bewegung. 93
Bremen feine 21. Hauptverſammlung ab, die zum erſtenmal zugleich mit
der 6. Hauptverſammlung des deutſchen Rabattſparvereins verbunden
war. Dieſer Verein zählt in 262 Zweigvereinen 50 423 Mitglieder.
Einer der Hauptpunkte der Tagesordnung war die Beſprechung des Geſetz⸗
entwurfes über den unlauteren Wettbewerb. Als unlauterer Wett⸗
bewerb, ſo wurde ausgeführt, müſſe jede Anwendung von Mitteln bezeichnet
werden, die einem reellen Kaufmann verwerflich erſcheinen. „In klarer
deutſcher Sprache“ müßte das Geſetz lauten: „Unlauterer Wettbewerb iſt
jede Spekulation auf die Dummheit des Publikums.“ Der neue Geſetz⸗
entwurf ſei für die beteiligten Kreiſe wertlos. Sehr temperamentvoll wurde
die Frage der Sonntagsruhe erörtert. Die Verſammlung nahm eine
Reſolution an, die ſich für Beibehaltung der jetzt beſtehenden Erlaubnis
zu fünfſtündiger Sonntagsarbeit ausſpricht und den Schluß der Beſchäf⸗
tigungszeit an Sonn- und Feiertagen — mit Einſchluß der Gewerbe⸗
betriebe — auf 2 Uhr feſtgeſetzt wiſſen will.
Die Beſtrebungen, die Sonntagsruhe für die Detailgeſchäfte noch weiter
als bisher auszudehnen, haben namentlich in Klein- und Landſtädten große
Beunruhigung hervorgerufen. Denn es iſt zweifellos, daß dieſen Geſchäften
die ländliche Kundſchaft genommen wird, ſobald der Einkauf am Sonntag⸗
nachmittag unmöglich gemacht wird. Eine neue Beeinträchtigung der kleinen
Geſchäfte wollen Mittelſtandspolitiker durch den Käuferbund befürchten.
Denn, ſo ſagen ſie, nur große und leiſtungsfähige Firmen werden den
Wünſchen des Käuferbundes zu Gunſten der Angeſtellten entſprechen können;
nur ſie erhalten daher auch durch die weiße Liſte eine neue Reklame zum
Schaden der übrigen Geſchäfte. Indeſſen ſind die Wünſche des Käufer⸗
bundes nicht derart, daß ſie überhaupt von kleinen Geſchäften nicht erfüllt
werden könnten. Ferner darf nicht überſehen werden, daß der Bund durch
ſeine Erziehung des Publikums zur Konſumentenmoral gerade den kleinen
Geſchäften wirtſchaftliche Vorteile, z. B. pünktliche Bezahlung der Rech⸗
nungen, in Ausſicht ſtellt (vgl. H. Koch, Konſumentenmoral und Käufer⸗
bund, in Soziale Kultur 1908, 225 ff). Einen lehrreichen Beitrag zur
Frage des Wandergewerbes hat Joſeph Kremer durch den Aufſatz
„Das Hauſiergewerbe auf dem Hunsrück“ (in Soziale Kultur 1908, 294
bis 306) geliefert.
5. Wohnungsfrage. — Auf dem 9. Verbandstag Deutſcher Mietervereine
in Stuttgart (am 2. bis 4. Okt.) hielt der Nationalökonom Profeſſor Dr K. J.
Fuchs (Tübingen) einen Vortrag über „Wohnungsweſen in Deutſchland und
England“. Er führte u. a. aus: Es ſei feſtzuſtellen, daß die Wohnungsreform
in Deutſchland ſicher, wenn auch langſam, marſchiere. Die angewendeten
Mittel ſeien gewiß von Wichtigkeit, aber immerhin nur von ſekundärer Be⸗
deutung. Es handle ſich um mehr: um die ganze Anlage unſerer Städte,
um die richtige Erfüllung der ganz neuen oder veränderten Aufgaben, vor
94 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
die die moderne wirtſchaftliche Entwicklung die ſtädtiſche Anſiedelung geſtellt
hat, um die Folgeerſcheinungen der Trennung von Wohn- und Arbeitsſtätte,
um die veränderte ſoziale Schichtung der ſtädtiſchen Bevölkerung und endlich
um das Hinausgreifen der Städte über die früheren kommunalen Grenzen.
In England beſtehe die Wohnungsfrage als wirtſchaftliches und ſoziales
Problem faſt nur für die ungelernten Arbeiter, in Deutſchland dagegen
berühre ſie, von einer dünnen Oberſchichte abgeſehen, faſt alle Klaſſen der
Bevölkerung. Die Haupturſache davon liege in der Vorherrſchaft, die in
Deutſchland die „Mietskaſerne“ erlangt habe. Dieſe Mietskaſerne, ſo wie
ſie heute ſei, ſtelle ſich unzweifelhaft als die hygieniſch ſchädlichſte und
niedrigſte Wohnform dar. Wenn an den gewordenen Verhältniſſen für
jetzt auch nichts mehr geändert werden könne, ſo müſſe die Mietskaſerne
jedenfalls bei dem weiteren Ausbau der Städte aufs nachdrücklichſte be⸗
kämpft werden. Dies könne geſchehen durch entſprechende Reformen auf
dem Gebiet des Realkredits, durch eine großzügige ſtaatliche und ſtädtiſche
Verkehrspolitik, vor allem aber durch eine entſchiedene Bekämpfung des
Hochbaues in den Bebauungsplänen und in den Bauordnungen. Eine weit-
gehende Verbeſſerung habe die neue badiſche Bauordnung bereits gebracht;
auch das neue württembergiſche Geſetz ſei von dem durchaus richtigen Geiſt
der Erſchwerung des Hochbaues getragen, der Regierungsentwurf noch mehr
als die Form, welche die Vorlage in der Zweiten Kammer erhalten habe
und der die Erſte Kammer hoffentlich nicht zuſtimmen werde. Eine der
wichtigſten Aufgaben der Mietervereine bei dem gegenwärtigen Stande der
Wohnungsreform ſei, daß die Kenntnis und das Verſtändnis für die großen
Nachteile und Schäden ungeſunder und unzweckmäßiger Wohnungen in die
weiteſten Volkskreiſe hineingetragen werde; dann werde auch die Bewegung,
die jetzt bereits eingeſetzt habe, nicht bloß den wohlhabenden Klaſſen, ſondern
der großen Maſſe der Bevölkerung, einſchließlich der Arbeiterſchaft, zu gute
kommen. Allerdings werde ſich das Ideal, die Gartenſtadt, in unſerer
jetzigen Generation für die großen Maſſen nicht mehr verwirklichen laſſen.
Aber immerhin ſei zu erhoffen, daß jetzt ſchon gewiſſe Mittel⸗ und Übergangs-
formen zu dieſem Ideal geſchaffen werden, in denen wenigſtens die Haupt⸗
nachteile der Maſſenmietsquartiere vermieden werden, nämlich in den niederen
Etagenhäuſern mit nicht mehr als drei Stockwerken und einer Wohnung auf
der Etage (vgl. H. A. Kroſe, Das Gartenſtadtprojekt, in Stimmen aus
Maria⸗Laach LXX 259 ff 400 ff).
Drei Reſolutionen gelangten zur einſtimmigen Annahme. Die erſte
fordert eine Einwirkung auf die Staatsregierungen und die ſtädtiſchen Be⸗
hörden, daß ſie im Intereſſe der Hygiene und Sittlichkeit ihren Beamten
das Wohnen in benachbarten Gemeinden geſtatten. Die zweite Reſolution
bezeichnet als Ziel der Wohnungsreform die fortſchreitende Verdrängung
des ungeſunden Mietskaſernenſyſtems zu Gunſten des kleinen Hauſes, ins⸗
2. Soziale Bewegung. 95
beſondere des Einfamilienhauſes. Die dritte gibt der Hoffnung Ausdruck,
daß die württembergiſche Erſte Kammer die ihr zurzeit vorliegende neue
Bauordnung nach den Grundſätzen einer geſunden Wohnungsreform, be⸗
ſonders was die Weiträumigkeit, die Gebäudehöhe und die Geſchoßzahl
betrifft, verbeſſern werde.
Sehr beachtenswert iſt der Nachweis von Hans Roſt (Die heutige
Lage des Hausbeſitzers, in Hiſtor.⸗polit. Blätter CXLII [1908] 483 ff), daß
der Hausbeſitzerſtand ungeachtet der vielfach herrſchenden Anſicht vom Gegen⸗
teil in unſern größeren Städten ſich nicht ſelten in ſehr ſchwieriger Lage
befindet.
Die Saat der ſog. Bodenreformer, die ſeit einer Reihe von Jahren
die Beſteuerung des unverdienten Wertzuwachſes fordern, iſt nunmehr auf⸗
gegangen. In Bayern befindet ſich die Wertzuwachsſteuer unter den Gegen-
ſtänden der Steuerreform. In Baden hat die Regierung die Einbringung
eines Geſetzentwurfs wegen Einführung dieſer Steuer verſprochen. F. K.
Freudenberg (Die Wertzuwachsſteuer in Baden. Karlsruhe, Braun) er-
örtert in Theorie und Praxis die Bedingungen und die Art und Weiſe
einer Wertzuwachsſteuer!, ſpeziell in Baden. Er bejaht mit Recht die Not⸗
wendigkeit dieſer Steuer, weiſt auf die hier erforderliche Vorſicht bei der
Einführung hin und nimmt Stellung zur Frage der rückwirkenden Kraft
der Steuer und ihrer Überwälzung. Von der richtigen Löſung der Wohnungs⸗
frage hängt nicht nur das wirtſchaftliche Gedeihen eines Volkes ab, ſondern
auch auf die Volksgeſundheit und die Volksſittlichkeit hat die Geſtaltung des
Wohnungsweſens einen tiefgreifenden Einfluß. Die kleine, aber köſtliche
Gabe von Franz von der Mühle (Ein ſchmuckes Heim. Eſſen a. Ruhr,
Fredebeul u. Koenen), die den bekannten Ausſpruch des Kardinals Manning
„Ein Mann ohne Heim iſt ein Mann ohne Halt“ als Motto gewählt, er⸗
bringt dafür den ſchlagendſten Beweis, indem ſie zugleich dartut, daß der
größte Feind des „ſchmucken Heims“ der Alkohol tft ?.
6. Die Anti⸗Alkoholbewegung. — Daß Kirche, Staat und Vereine redlich
beſtrebt ſind, zur Verhütung des Alkoholmißbrauchs das ihrige beizutragen,
iſt aus der Abhandlung „Der Alkoholismus und ſeine Bekämpfung in
Württemberg“ deutlich zu erſehen (Württembergiſche Jahrbücher für Statiſtik
und Landeskunde 1908, I). In drei großen Abſchnitten behandelt der Ver⸗
faffer, Finanzrat Dr Früdinger, den Alkoholverbrauch, den Alkohol⸗
1 gl. A. Weber, Boden und Wohnung (Leipzig, Duncker u. Humblot); J. Lorenz,
Zur ſtädtiſchen Bodenfrage, in Monatsſchrift für chriſtliche Sozialreform 1908, 660 ff
722 fl.
» Joſeph Pieters (Das Arbeiterheim, in Revue sociale catholique, Löwen 1908,
Auguſt⸗Nummer) tritt für eine freundliche Ausgeſtaltung des Arbeiterheims ein, die als
eine ebenſo moraliſche wie chriſtliche Aufgabe bezeichnet wird. Vgl. Monatsſchrift für
chriſtliche Sozialreform 1908, 634 ff.
96 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
mißbrauch und ſeine Folgen, endlich die Beſtrebungen zur Bekämpfung des
Alkoholismus in Württemberg. Der Geſamtverbrauch geiſtiger Getränke
ergibt einen Geldaufwand von 74 Mark 22 Pf. auf den Kopf der Be⸗
völkerung und auf eine Haushaltung rund 340 Mark. Dazu kommen
noch die verhängnisvollen Wirkungen des Alkoholmißbrauchs. Es
wird der Alkoholismus als Krankheits. und Sterblichkeitsurſache (Säufer-
wahnſinn, Geiſteskrankheiten, Schwachſinn und Epilepfie infolge der Trunk⸗
ſucht der Eltern, Selbſtmordfälle), ſeine Beteiligung an Unglücksfällen, ſein
Einfluß auf die Kriminalität und die Verarmung ſtatiſtiſch dargetan. Die
Trunkſucht ſtellt eine ſo ernſte Krankheit des Volkskörpers dar, daß ſich
der Staat der Aufgabe nicht entziehen kann und darf, auch ſeinerſeits mit
den ihm zu Gebote ſtehenden Mitteln zu ihrer Bekämpfung mitzuwirken.
In Beziehung auf das Verbot oder die Einſchränkung der Abgabe geiſtiger
Getränke exiſtiert in Deutſchland keinerlei reichsgeſetzliche Vorſchrift. Die
einzige einſchlägige Beſtimmung iſt im Reichsſtrafgeſetzbuch enthalten und
beſchränkt ſich darauf, die Übertretung der Polizeiſtunde unter Strafe zu
ſtellen. Die in Württemberg getroffenen Vorſchriften beziehen ſich auf die
„Regelung der Polizeiſtunde“, auf die „Beſchränkung der Abgabe von Ge⸗
tränken an jugendliche Perſonen“ ſowie auf das „Verbot der Abgabe von
Getränken bei Grundſtücksverſteigerungen“. Die ſtaatliche Beaufſichtigung
der Wirtſchaften erſtreckt ſich auf die „Regelung des Schankwirtſchaftsweſens
und des Kleinhandels mit geiſtigen Getränken“ (S8 33 35 der Reichsgewerbe⸗
ordnung) und auf diejenige des „Ankaufs und Verkaufs von geiſtigen Ge⸗
tränken im Umherziehen und auf Märkten“ (88 42a 56 56a 67 der Ge⸗
werbeordnung).
Endlich ſind noch die Maßnahmen zu erwähnen, die der Staat zur
Verhütung des Alkoholmißbrauchs in ſeinen eigenen Betrieben getroffen
hat. Dieſe beſchränken fic) in der Hauptſache auf das Eiſenbahn., Poſt⸗
und Telegraphenperſonal, das allerdings der Zahl nach weitaus den größten
Teil aller Staatsbedienſteten umfaßt. In dieſer Beziehung ſind zu nennen
die Beſtimmungen über die Verpflegung und Unterbringung des Perſonals:
Abgabe von Erfriſchungen, die je nach der Jahreszeit und Witterung in
Limonaden, warmem und kaltem Tee und Kaffee mit Milch uſw. beſtehen;
auch haben die Bahn und Kaſſenärzte die Verwaltung in dem Beſtreben,
dem Mißbrauch geiſtiger Getränke entgegenzuwirken, zu unterſtützen. Im
Zuſammenhang damit iſt noch zu erwähnen, daß feit 1905 auch die Mann⸗
ſchaften des Landheeres und der Marine über die Nachteile des mißbräuch⸗
lichen Alkoholgenuſſes aufgeklärt werden.
Bekanntlich bildet der Alkoholmißbrauch häufig die Urſache von Unfällen
im Gewerbebetrieb. Infolgedeſſen bewirkt er auch eine Belaſtung der Ver⸗
ſicherungsträger der Unfallverſicherung. Die Berufsgenoſſenſchaften haben
daher auch vom Geſichtspunkt der Unfallverhütung aus allen Anlaß, den
2. Soziale Bewegung. 97
Alkoholmißbrauch in den Bereich ihrer Unfallverhütungsvorſchriften zu
ziehen, und es ſind auch ſeitens der meiſten Berufsgenoſſenſchaften ent⸗
ſprechende Vorſchriften erlaſſen worden. Indirekt wirken dem Alkoholismus
bei den gewerblichen Arbeitern entgegen die mancherlei Wohltätigkeits⸗
anſtalten, die von den Arbeitgebern, insbeſondere in größeren Betrieben
und Fabriken, eingerichtet worden find (Speiſeanſtalten, Mädchenheime, Leſe⸗
zimmer, Herbergen u. dgl.).
Die Anti⸗Alkoholbewegung hat im Jahre 1908 eine ſehr erfreuliche Ent⸗
wicklung genommen. Am 14. bis 17. Sept. feierte der „Deutſche Verein
gegen den Mißbrauch geiſtiger Getränke“ ſein 25jähriges Jubiläum.
Der wiſſenſchaftliche KRurſus zum Studium des Alkoholismus
vom 19. bis 21. Okt. zu Köln in der ſtädtiſchen Handelshochſchule, ver⸗
anſtaltet vom Rheiniſchen Verband gegen den Mißbrauch geiſtiger Ge⸗
tränke, war von mehr als 250 Angehörigen aller Berufsſtände, beſonders
Verwaltungsbeamten, Bürgermeiſtern uſw., beſucht, ein gutes Zeichen dafür,
daß die große Bedeutung des Alkoholmißbrauchs in ſeiner Beziehung zur
Entlaſtung des Gemeindebudgets immer mehr erkannt wird und daß die
Gemeinden, ganz abgeſehen von ſittlichen Geſichtspunkten, auch aus rein
egoiſtiſchen Beweggründen ſich für die gegen den Mißbrauch des Alkohols
gerichteten Beſtrebungen intereſſieren. Mögen alle dieſe Beſtrebungen und
Bemühungen auch fernerhin von gutem Erfolge gekrönt ſein! Viele der⸗
ſelben, z. B. die Bekämpfung der ſog. Animierkneipen, die Regelung des
„Trinkgelderweſens“ und die Beſeitigung des „Kellnerinnenelendes“, tragen
wenigſtens indirekt zur Löſung der ſog. Frauenfrage bei (vgl. Soziale
Kultur 1908, 448 ff).
7. Die Frauenfrage. — Eine Einführung in den Gedankengehalt der
Frauenbewegung hat uns das Berichtsjahr aus der Feder einer ihrer be⸗
rufenſten und verdienteſten Führerinnen geſchenkt: Helene Lange ver-
öffentlichte eine Schrift über „Die Frauenbewegung in ihren modernen
Problemen“ (Leipzig, Quelle u. Meyer). In zwei grundlegenden Kapiteln
werden die wirtſchaftlichen Urſachen einerſeits, die geiſtigen Triebkräfte ander⸗
ſeits in ihrer Bedeutung für die Frauenbewegung gegeneinander abgewogen.
Darauf aufbauend erörtert die Verfaſſerin die vier Hauptprobleme der Be⸗
wegung: die Frauenbildungsfrage, die Stellung der Frauenbewegung zu
Familie und Ehe, Beruf und Mutterſchaft, die Frage der ſozialen und
politiſchen Stellung der Frau. Der Leſer erhält ſo einen Überblick über
den ganzen Komplex der Anſchauungen, die ſich in den praktiſchen Be⸗
ftrebungen der Frauenbewegung durchſetzen wollen, ſowie über den augenblick⸗
lichen Stand der Meinungen und Richtungen.
Es iſt anzuerkennen, und Helene Lange betont es nachdrücklichſt, erſtens
daß die wirtſchaftlichen Verhältniſſe die Notwendigkeit einer ernſthaften Be⸗
rufsbildung für die Mehrzahl der Mädchen mit ſich . und daß
Jahrbuch der Zett⸗ und Rulturgeſchichte. IL
98 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
zweitens an die geiſtig⸗ſittliche Leiſtung der Frau in der Familie, gerade
weil ſie heute freier von den Feſſeln materieller Arbeit im Hauſe iſt,
höhere, weitere und verfeinerte Anſprüche geſtellt werden. Eine generelle,
für alle erwerbsfähigen und aus der Volksſchule hervorgegangenen Frauen
gültige Entſcheidung laſſe ſich nicht treffen. Man werde vor allem die
Arbeiterinnen in prinzipiell ungelernten und die in prinzipiell gelernten
Berufen verſchieden behandeln müſſen. Wo die Induſtrie eines Ortes nur
ungelernte Frauenkräfte verwerten könne, da ſei augenſcheinlich eine gewerb⸗
liche Fortbildung „ſinnlos“. Ganz anders liege die Sache in den Berufen,
in denen die Frauen qualifizierte Arbeit leiſten. Hier müſſe ohne Frage der
obligatoriſche Fortbildungsunterricht in den Dienſt der gewerblichen Aus⸗
bildung geſtellt werden, denn dieſe Frauen dürfen in ihrer Ausbildung nicht
ungünſtiger geſtellt ſein als die Männer, wenn ihr Beruf ſich geſund entfalten
ſolle. Dagegen müſſe die hauswirtſchaftliche Bildung zurückſtehen; denn einer⸗
ſeits könne ſie in der Volksſchule vorweg genommen werden, wie z. B. zu
München in dem letzten achten Schuljahr es der Fall ſei, anderſeits beſitzen die
Frauen in dieſen qualifizierten Berufen, ſo dürfe wohl angenommen werden,
ſowohl die Einſicht als auch das Verantwortungsgefühl, um ſich vor der Heirat
in Kurſen die elementaren hauswirtſchaftlichen Kenntniſſe zu verſchaffen.
Die zweite Linie im Frauenbildungsweſen verbindet die höhere Mädchen⸗
ſchule mit dem mittleren Fachſchulweſen 1.
Seit Jahren ſind ſich die Anhängerinnen der Frauenbewegung darüber
klar, daß der heranwachſenden Jugend ſoziale Bildungsmöglichkeiten er-
öffnet werden müſſen. In einer kleinen, aber hervorragend ſachlichen Schrift
über „Soziale Frauenbildung“ (Leipzig, Teubner) hat Dr Alice Salomon
im erſten Abſchnitt den Verſuch gemacht, die Notwendigkeit einer fozial-
wiſſenſchaftlichen Unterweiſung darzulegen, und zwar insbeſondere für die
ſog. „Frauenſchule“, und einen Lehrplan für dieſe aufzuſtellen. Der noch
wichtigere zweite Abſchnitt handelt von der fachlichen „Ausbildung zur ſozialen
Hilfsarbeit“, zeigt die verſchiedenartigen Verſuche, eine fachliche Unterweiſung
für die Hilfstätigkeit zu ſchaffen, und macht Vorſchläge zur Einrichtung von
Fachſchulen für „ſoziale Arbeiter“. Wenn die „Frauenſchule“ die Mädchen
mit dem Glauben an eine ſoziale Verpflichtung erfüllen ſoll, ſo muß die
ſoziale Fachſchule, die gefordert wird, ihnen für die Ausübung dieſer
Pflichten die techniſchen und fachlichen Kenntniſſe vermitteln. Das ganze
Schriftchen dient dem Gedanken, die Frauen zur Erfüllung von Bürger⸗
pflichten heranzuziehen und fähig zu machen.
Direkt für die praktiſchen Bedürfniſſe der jungen Mädchenwelt hat
Eliſabeth Stoffels ihr „Bildungsfragen für das weibliche Geſchlecht“
1 Vgl. über die hier in Betracht kommenden Fragen den Abſchnitt „Unterrichts-
und Bildungsweſen“ S. 109— 112.
2. Soziale Bewegung. 99
betiteltes Büchlein (M.⸗Gladbach, Volksvereins⸗Verlag) geſchrieben, und zwar
unter dem Geſichtspunkt der Notwendigkeit, jedes junge Mädchen einerſeits
für die Stellung in der Familie als Hausfrau, Gattin und Mutter zu be⸗
fähigen (= wirtſchaftliche Ausbildung), anderſeits ihm die Möglichkeit zu
geben, nötigenfalls fein Brot zu verdienen (= erwerbsberufliche Aus-
bildung) 1.
Die Stellung der Frauenbewegung zu Ehe und Familie hat Helene
Lange (a. a. O.) einer eingehenden Erörterung unterzogen. Ihr Stand⸗
punkt iſt ein gemäßigt rationaliſtiſcher. Die lebenslängliche Monogamie
wird ernſtlich verteidigt. Aber die Lehre des Chriſtentums von dem Ver⸗
hältnis der Geſchlechter (Gal 3, 28) wird zu gering taxiert. Den urchriſt⸗
lichen Grundſatz una lex est de viris et feminis hat die Kirche Chriſti
zur Geltung gebracht. Unter ſtrenger Abweiſung der ſog. „neuen Ethik“,
wie fie gewiſſe Kreiſe der „Mutterſchutzbewegung“ vertreten, die eine mora-
liſche Sanktion für die ohne die Abſicht einer dauernden Lebensgemein⸗
ſchaft eingegangenen, jog. „freien Verhältniſſe“ verlangt, tritt die Verfaſſerin
für eine Verſtärkung der ſozialen Poſition der Frau ein. „Solange die
Familie noch wie heute der Träger der höchſten moraliſchen und wirt⸗
ſchaftlichen Verantwortung für die junge Generation iſt, muß die Frauen⸗
bewegung beſtrebt ſein, ſie zu erhalten und zu feſtigen. Sie muß als An⸗
walt der Frau und des Kindes aufs ſchärfſte dagegen proteſtieren, daß
jemand, der ſich zu ihr rechnet, das Recht in Anſpruch nimmt, um perſön⸗
licher Befriedigung, perſönlichen Genuſſes willen ſich der mit der Ehe ver⸗
bundenen Verantwortung zu entziehen. Ernſthaft diskutierbar wäre eine
ſolche ohne Rückſicht auf das Kind normierte Ehe nur, wenn ſie ſich an
die Bedingung einer ſozialiſtiſchen Geſellſchaftsordnung knüpfte, in der der
Staat Vater und Mutter von der Verantwortung für das Kind überhaupt
emanzipierte und dieſe Fürſorge auf ſich nähme. Das iſt eine utopiſtiſche
Vorſtellung, mit deren Kritik man ſich zunächſt kaum zu befaſſen braucht“
(S. 70 f). Die Frauenbewegung erhebe die Forderung, daß aus den geſetz⸗
lichen Inſtitutionen alle Spuren einer ſexuellen „Hörigkeit“ der Frau be⸗
ſeitigt werden, alle Beſtimmungen des Eherechts, durch die dem Manne
als Mann eine Macht über die Frau zugeſtanden wird, und alle Be⸗
ſtimmungen, durch die der Staat ſelbſt die doppelte Moral ſanktioniert.
Eine ſolche Sanktion der doppelten Moral finde die Frau in der Stellung
des Staates der Proſtitution gegenüber. Eine andere Quaſiſanktion liege
zweifellos in der heutigen Rechtsſtellung der unehelichen Mutter und ihres
Kindes, in der Mehrbelaſtung der Mutter gegenüber dem Vater. Vor allem
aber fordere die Frau, die dem Patriarchalismus innerlich entwachſen ſei,
eine Umgeſtaltung der Ehe, die ihrem Perſönlichkeitsgefühl gerecht werde.
Über Frauenſtudium vgl. Abſchnitt IV, 3: S. 121f.
7 85
100 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
Die Rechtsordnung in der Ehe müſſe dem Rechtsbewußtſein genügen und
dürfe ſich nicht als ein Mittel darſtellen, die ethiſche Entwicklung zurück⸗
zuhalten. Gegen dieſe Forderung verſtoße unſer deutſches Familienrecht,
indem es trotz der Konzeſſionen, die es der veränderten ökonomiſchen Struktur
der Hauswirtſchaft und des Familienlebens mache, doch im Prinzip am
Patriarchalismus feſthalte. .
Das energiſche Eintreten Helene Langes für die lebenslängliche Mono.
gamie iſt um ſo erfreulicher, als der „Mutterſchutzbund“ ganz andere
Zwecke verfolgt. Die Mutterſchutzbewegung hängt zuſammen mit der in
England entſtandenen „Föderation“ zur Bekämpfung der ſtaatlich reglemen-
tierten Proſtitution. Die ſchönſten Beſtrebungen können aber durch Maß⸗
loſigkeit in der Kritik und den Forderungen diskreditiert werden, und das
iſt der Fall bei der Mutterſchutzbewegung, die auf der naturaliſtiſchen, im
weſentlichen Fr. Nietzſche entnommenen Weltanſchauung beruht. Der Bund
will erſtens das erreichen, was in ſeinem Namen liegt, er will der Mutter,
vor allem der unehelichen, und ihrem Kinde Schutz bieten. Wer könnte und
ſollte ſolchen Beſtrebungen nicht von Herzen alles Gedeihen wünſchen?
Allein der Mutterſchutzbund ſtellt ſich in ſeinen Folgerungen auf den Boden
der „neuen Ethik“, d. h. der freien Liebe. Die Vertreter dieſer Ethik
erklären das „Sichausleben“ für jedes Individuum als berechtigt und ver⸗
langen infolgedeſſen eine Ehereform, die ſie zugleich als das Mittel an⸗
ſehen, die Sittlichkeit zu heben. Anderer Art ſind die Ziele der Mutter⸗
ſchaftsverſicherung (vgl. Aug. Buckley, Zur Frage der Mutterſchafts⸗
verſicherung. Regensburg, Manz).
Das wichtige und ſchwierige Problem Beruf und Ehe hat Helene
Lange (a. a. O.) mit objektiver Gründlichkeit behandelt. Die zwei radikalen
Löſungen, entweder prinzipielle Trennung von Beruf und Ehe oder abſolute
Vereinigung beider, werden abgelehnt als praktiſch undurchführbar. Speziell
wird die Forderung erhoben, daß nicht ein für allemal das Verbleiben der
verheirateten Lehrerin im öffentlichen Schuldienſt ausgeſchloſſen werde.
Die Entſcheidung ſollte wenigſtens von Fall zu Fall den Umſtänden ent⸗
ſprechend getroffen werden.
Reich an neuen Geſichtspunkten iſt die intereſſante Unterſuchung der
Stellung der Frau zum Staat. Mit Recht ſieht Helene Lange
(a. a. O. 97 ff) in der Tatſache, daß nahezu ein Drittel aller für die
nationale Güterproduktion in Deutſchland notwendigen Arbeitskräfte Frauen
ſind, den Hauptgrund, ſich ernſtlich mit der Frage des Stimmrechts der
Frau zu beſchäftigen. Heute greift der Staat immer mehr in den natür-
lichen Wirkungskreis der Frau über und verſtaatlicht ſo manches Stück
weiblicher Wirkſamkeit. Warum ſollte die Frau nicht ihre Meinung zu
der Geſetzgebung, die ihr eigenſtes Gebiet berührt, ſagen dürfen? Heute,
wo alles Intereſſen vertretung verlangt, warum ſoll die Frau allein von
3. Unterrichts. und Bildungsweſen. A. Deutſchland und Ausland. 101
derſelben ausgeſchloſſen ſein? Die Verfaſſerin iſt für die Schattenſeiten
des Frauenſtimmrechts nicht blind, allein wer ein Anhänger desſelben ſei,
dürfe prinzipiell nicht fragen, welcher Gebrauch von dieſem Rechte gemacht
werde. Die ruhige, ſachliche Begründung der Gleichſtellung von Mann und
Frau im ſtaatlichen Leben gehört zum Beſten, was für die ſo häufig er⸗
hobene Forderung geſagt worden iſt. (Vgl. A. D. Sertillanges, Féminisme
et Christianisme. Paris, Lecoffre.)
Zum Schluſſe ſei noch auf die erfreuliche Tatſache hingewieſen, daß
ſich jetzt auch die akademiſche Jugend mit der ſozialen Bewegung zu
beſchäftigen beginnt. Die einſchlägigen Fragen werden an anderer Stelle
näher erörtert 1. (Vgl. auch Die chriſtliche Frau 1908, 267 ff, und
Soziale Kultur 1908, 612 ff.)
3. Unterrichts⸗ und Blidungsweſen.
A. Deutſchland und Ausland.
Don Ernft N. Roloff.
Das Phraſenheldentum, das ſich in einer Übergangszeit, wie die unſrige
iſt, inmitten all der Kritik an den beſtehenden Verhältniſſen und all der
Reformvorſchläge aufdringlich breit zu machen pflegt, hat natürlich auch im
Jahre 1908 das Schulweſen nicht verſchont. Wer das Reformgeſchrei
unſerer neueſten Kraftpädagogen vernimmt, könnte faſt meinen, erſt ihnen
ſei die „Entdeckung“ der Kindesſeele gelungen, erſt ihrem Auftreten
das Erblühen eines „pädagogiſchen Frühlings“ in deutſchen Landen zu
danken, und alle pädagogiſche Arbeit der vergangenen Jahrhunderte ſei eitel
Schein und Selbſtbetrug geweſen. Und wie ſteht es in Wirklichkeit? —
Gerade durch das radikale Eingreifen dieſer Elemente iſt auf dem Gebiete
der Erziehung eine Verwirrung entſtanden, wie ſie größer vielleicht noch
niemals geweſen iſt. Nicht einmal von beſtimmten Schulen vermag man
in der modernen Pädagogik noch zu reden. Alles geht wild auseinander;
jeder will ſeine eigene Schule ſein. Es iſt ja ſo leicht, zumal in unſerem
nörgelnden Deutſchland, durch Hyperkritik den Nimbus des Propheten zu
erwerben. Aber die Pflicht aller Ernſtmeinenden ſollte es ſein, der minie⸗
renden Tätigkeit ſolcher Geiſter ein energiſches Halt zu gebieten und „ſich
nicht mehr trübſchäumenden Moſt als Edelwein verzapfen zu laſſen“. Hören
dieſe ſchreienden Disharmonien, dieſe einander jagenden pietätloſen Um⸗
ſturzverſuche auf pädagogiſchem Gebiete nicht baldigſt auf, jo beſteht aller⸗
dings die große Gefahr, daß wir ſelbſt das Gute an unſern Unterrichts-
1 Vogl. Abſchnitt IV, 3: „Unterrichts und Bildungsweſen“ S. 122 f.
102 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
verhältniſſen noch einbüßen, ohne auch nur Gleichwertiges dafür einzutauſchen.
Gewiß iſt manches, ja vieles reformbedürftig — wir werden das ſchon
ſehen, wenn wir jetzt im knappſten Rahmen unſere Wanderung durch die
drei großen Reiche der Volksſchulen, höheren Schulen und Hochſchulen an-
treten. Aber wir werden dabei auch beobachten, daß es aufwärts geht,
wie es immer vorangegangen iſt, und daß berufene Männer mit der auf
dieſem Gebiete ganz beſonders gebotenen Beſonnenheit, wie nur reiche Er-
fahrung ſie geben kann, am Werke ſind zu beſſern, wo immer es nötig
und möglich iſt. Daß jeder Beliebige ſich berufen fühlt, auf dem Gebiete
der Pädagogik als „Reformator“ das große Wort zu führen, müſſen
die Schule und ihre Organe ſich mit demſelben Nachdruck verbitten, mit
dem z. B. Juriſten und Mediziner unberufene Eingriffe in ihr Gebiet ab-
zulehnen pflegen.
Die Anklagen, die ſich ſeit Jahren gegen die Volks ſchule erheben,
werden — man möchte faſt ſagen — ſportlich betrieben und gehen neuer⸗
dings vor allem aus den Kreiſen der Fortbildungsſchulen hervor. Nach
dem Beiſpiele des preußiſchen Handelsminiſteriums, das 1904 und 1906
in etwa 30 gewerblichen Fortbildungsſchulen Aufnahmeprüfungen veran⸗
ſtaltete, hat nach den beſcheideneren Verſuchen von 1905 im Jahre 1908
der „Deutſche Verband für das kaufmänniſche Unterrichtsweſen“ für die
Oſteraufnahme in ſämtlichen deutſchen kaufmänniſchen Fortbildungsſchulen
Prüfungsaufgaben zuſammenſtellen laſſen. Wie die früheren, ſo hatten
auch die letztjährigen Examina recht unerfreuliche Reſultate, und bittere
Worte wurden gegen die Volksſchule laut. Man darf nun der Lehrerſchaft
die Anerkennung nicht vorenthalten, daß ſie die ihr entgegengeſchleuderten
Vorwürfe in ernſter Selbſtprüfung erwogen hat. Iſt man dabei auch in
allen weſentlichen Punkten zu einer Abweiſung der Klagen gelangt, ſo iſt
doch naturgemäß in weiten Kreiſen ein Argwohn gegen die Volksſchule ge⸗
blieben, der auch in den Verhandlungen des preußiſchen Abgeordneten⸗
hauſes vom 17. Febr. 1908 zum Ausdruck kam. Aber in dieſem Falle
mit Unrecht; denn es heißt gegen die Volksſchule, die ſich ihre Schüler
nicht auswählen darf, ſondern auch die dümmſten und faulſten aufzunehmen
hat, ungerecht ſein, wenn man ſie verantwortlich machen will für die un⸗
genügenden Leiſtungen bei derartigen Prüfungen. Zeigen doch gerade die
im allgemeinen ſehr günſtigen Erfolge, welche die Fortbildungsſchulen in
lächerlich wenigen Stunden erzielen, daß der Grund, den die Volksſchule
gelegt hat, gut war. Kämen dieſe Reſultate allein auf das Konto der
Fortbildungsſchulen, ſo müßte man wirklich, wie der Zentrumsabgeordnete
Keſternich, der Regierung den ironiſchen Rat geben, die „Volksſchulen zu
ſchließen und die allgemeine Schulpflicht auf den kurzen Beſuch der Fort⸗
bildungsſchulen zu beſchränken“. Richtig iſt ja zweifellos, daß die Volks⸗
ſchule mit manchen Stoffen belaſtet iſt, für deren erſprießliche Erledigung
3. Unterrichts⸗ und Bildungsweſen. A. Deutſchland und Ausland. 103
weder die zur Verfügung ſtehende Zeit noch auch die Faſſungskraft der
Schüler ausreicht; ſie ſollten der Fortbildungsſchule überwieſen werden,
in der die Gefahr einer rein mechaniſchen Aneignung geringer iſt. Recht
erfreulich iſt, daß nun auch das preußiſche Kultusminiſterium durch den
ſog. Reviſionserlaß vom 31. Jan. 1908 nachdrücklichſt für eine verſtändige
Stoffbeſchränkung eingetreten iſt. Im übrigen hängt natürlich auch in
der Volksſchule — wie in jeder Lehranſtalt — alles von der Perſönlich⸗
keit des Lehrers ab; qualis rex, talis grex: iſt er ein trockener Pedant,
ſo wird er auf die Maſſe des rein formalen Wiſſens den Hauptwert legen
und die Bedürfniſſe des praktiſchen Lebens ſo wenig berückſichtigen, daß er
ſelbſt die drei Grundelemente der Volksſchulbildung: Leſen, Schreiben
und Rechnen, hinter den Realien ſowie dem Turn- und Zeichenunterricht
zurücktreten läßt. Immerhin find wir aber wohl ſicher vor der humilia-
tion lamentable, die dem Journal des Débats im letzten Sommer ſolche
Pein bereitete, daß einmal 30% von unſern Rekruten ſich als Analpha⸗
beten entpuppen werden, wie in Frankreich im Herbſte 1907 geſchehen iſt;
Preußen hatte damals 0,02 %! 1
Daß im übrigen die Volksſchullehrer ſelber auf ſachliche Reformen be⸗
dacht ſind, auch wenn ihnen dadurch neue Mühen erwachſen, beweiſen die
mannigfachen Verſuche zur Umgeſtaltung des erften Elementar-
unterrichtes, die bereits ſeit 1904 an der Vorſchule des Werner⸗
Siemens⸗Realgymnaſiums in Schöneberg ⸗Berlin mit Erfolg praktiſch durch⸗
geführt werden. Seit Oſtern 1908 erprobt man ſie auch an der Übungs⸗
ſchule des Fröbel⸗Seminars in Raffel. Die Neuerung will kurz folgendes:
Leſen und Schreiben ſoll aus dem erſten Schuljahr gänzlich verbannt, das
Rechnen nur als Anſchauungsform beibehalten und die Zahl der wöchent⸗
lichen Unterrichtsſtunden auf zwölf beſchränkt werden. Dagegen ſollen aus
pädagogiſchen und hygieniſchen Gründen Zeichnen, Formen, Bauen, Kleben,
Turnen, Wandern und Spielen das Aktivitätsgefühl des Kindes als den
natürlichſten Bildungs⸗ und Erziehungsantrieb rege erhalten, mit deſſen
Hilfe man das in den Elementarfächern Verſäumte ſpäter leicht nachzuholen
hofft. Schneller kommt man mit dieſem „Werkunterricht“ ſicher nicht voran;
auch ſtellt er hohe Anforderungen an die Perſönlichkeit des Lehrers. Doch
ſcheint jetzt ſchon ſicher zu ſein, daß er frohe Jugend ſchafft — und das
iſt viel! Auch der ſächſiſche Lehrerverein erſtrebte 1908 die Einführung
dieſes Unterrichts und hatte ſchon die Erlaubnis der Leipziger Schul⸗
deputation zur Errichtung von Verſuchsklaſſen erlangt, als das Unter-
nehmen durch maßgebende Schulmänner vereitelt wurde. — Derſelbe Verein
war es auch, der im Berichtsjahre beim ſächſiſchen Kultusminiſterium die
Hinaufrückung des ſchulpflichtigen Alters um ein Jahr bean⸗
tragt und damit gewiß vielen aus der Seele geſprochen hat. Auch das
württembergiſche Medizinalkollegium befürwortete im Dezember 1908 einen
104 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
ſpäteren Schuleintritt. Denn die ſchulärztliche Unterſuchung, deren Nutzen
für die Geſundheit unſerer Schuljugend erſt bei einer ſolchen Gelegenheit
recht ans Licht tritt, hat teilweiſe erſchreckende Verhältniſſe aufgedeckt. So
waren 1908 z. B. in dem Berliner Vororte Johannestal von 78 Schul⸗
neulingen nur 5 völlig geſund, von 227 Knaben der letzten Gemeinde⸗
ſchulklaſſe bloß 27 und von 360 Mädchen ſogar nur 121 — Einen erfreu-
lichen Schutz für die ſeeliſche und leibliche Geſundheit der Schuljugend be⸗
deutet es ebenfalls, daß das bayriſche Kultusminiſterium 1908 ſo ener⸗
giſch gegen die unſittlichen Schriften und Abbildungen in den
Schaufenſtern, namentlich in den der Schule benachbarten, vorgegangen
iſt. Die Anſtaltsleiter aller Schulgattungen erhalten nicht bloß die Auf⸗
gabe, ſolche Auslagen zu kontrollieren, ſondern auch das Recht, den Kin⸗
dern das Kaufen in derartigen Läden zu verbieten, wenn deren Inhaber
auf andere Weiſe nicht zur Entfernung ihrer Schmutzwaren zu bewegen
ſind. Die preußiſche Regierung hält ſich in dieſer Hinſicht leider noch
zurück; dagegen ſind mehrere Städte Preußens, Anfang November z. B.
Köln, dieſem Beiſpiele bereits gefolgt, und auch das württembergiſche
Miniſterium hat am Ende des Jahres den Polizeiorganen ähnliche An⸗
weiſungen erteilt; zugleich auch ſtrenge Überwachung der Kinematographen
befohlen, die ja ebenfalls längſt eine ernſte Gefahr für unſere Jugend ge⸗
worden ſind. — In derſelben Richtung bewegt ſich die Anlage von Kinder⸗
leſehallen, die ſich unter Aufſicht einer Dame in Hamburg (mit 350 aus-
gewählten Jugendſchriften) und Mannheim (ſeit 1906; 400 Bände) bereits
trefflich bewährt haben und nunmehr auch nach Berlin, Breslau, Frank⸗
furt a. M., Bremen, Hannover und Köln verpflanzt werden ſollen. Sie
bewahren die Kinder nicht bloß vor vergiftender Lektüre, ſondern ſie bieten
der ſchlecht beaufſichtigten Großſtadtjugend vor allem auch ein Aſyl für die
gefährlichen Abendſtunden und bilden eine tüchtige Schutzwehr gegen die in
letzter Zeit zu einer wahren Epidemie gewordenen Detektivgeſchichten, die
in ihrer Wirkung den rein pornographiſchen Erzeugniſſen nicht viel nach⸗
ſtehen. Die nachweislich auf dieſe Bücher zurückzuführende Zahl von Ver⸗
brechen Jugendlicher wächſt, wennſchon die Wirkung des Fürſorgeerziehungs⸗
geſetzes, das im Deutſchen Reiche jährlich an 7000 deliktsfähige Jugendliche
vor Verbrechen bewahrt, die Zahlen der Statiſtik vermindert hat. Glück⸗
licherweiſe hat auch für die jungen Verbrecher das Jahr 1908 Gutes ge-
bracht durch Schaffung beſonderer Jugendgerichtshöfe 1. — Ob auch die
„Internationalen moralpädagogiſchen Kongreſſe“, deren erſter mit
1400 Teilnehmern aus aller Welt vom 25. bis 29. Sept. 1908 in den Räumen
der Londoner Univerſität tagte, zur Vertiefung und Ausdehnung der ſittlich⸗
religiöfen Erziehung und damit zu einer Verminderung der Kriminaliſtik
1 Vgl. Abſchnitt V, 6: „Rechtswiſſenſchaft“.
3. Unterrichts. und Bildungsweſen. A. Deutſchland und Ausland. 105
Jugendlicher führen werden, muß die Zukunft lehren. Schade, daß die Be⸗
teiligung gerade aus Deutſchland geringer war, als man im „Jahrhundert
des Kindes“ hätte erwarten ſollen. Beſonders zu beklagen iſt, daß die
deutſchen Katholiken nicht ſtark genug vertreten waren, um ihren Stand-
punkt in dieſem kunterbunten internationalen Milieu nachdrücklichſt geltend
machen zu können.
Verlaſſen wir jetzt das Gebiet der innerpädagogiſchen Fragen, um uns
dem äußern Organismus der Volksſchulen zuzuwenden, ſo ſehen wir, daß
im Jahre 1908 vor allem die Schulaufſichtsfrage im Mittelpunkte
der Verhandlungen ſtand. Sie ſpielte bei den diesjährigen preußiſchen
Landtagswahlen eine Hauptrolle, war in Nord und Süd wiederholt Gegen⸗
ſtand erregter Parlamentsdebatten und wird möglicherweiſe noch zu er⸗
bitterten Schulkämpfen führen. Daß die liberalen Körperſchaften des preu⸗
ßiſchen und ebenſo des deutſchen Lehrervereins in ihrem überreizten Standes⸗
bewußtſein auch auf den Verſammlungen des Jahres 1908 gegen jede Ver⸗
bindung von Kirche und Schule proteſtierten, läßt ſich ſchon wegen ihrer
Abneigung gegen das übernatürliche, geoffenbarte Chriſtentum nicht anders
erwarten. Erlaubte ſich doch zudem in dieſem Jahre die deutſche Lehrer-
verſammlung in Dortmund noch einen plumpen Angriff auf die katholiſche
Kirche, indem Profeſſor Paul Natorp am Schluſſe ſeiner ſtürmiſch applau⸗
dierten Feſtrede dem „deutſchen Katholizismus das Abwerfen des römiſchen
Joches“ zur Pflicht machte. Aber auch die 13. Generalverſammlung des
Katholiſchen Lehrerverbandes des Deutſchen Reiches, die in der Pfingſtwoche
in Breslau tagte, will nur ſolche Schulaufſichtsbeamten gelten laſſen, die
„theoretiſch vorgebildete und praktiſch erfahrene Fachmänner“ find und ihre
Tätigkeit in der Regel im Hauptamte ausüben; daß in die Schulaufſichts⸗
ämter die Lehrer zugelaſſen werden, wird als „eine gerechte und billige
Standes forderung“ derſelben bezeichnet. Zwar ſprach die Verſammlung
noch ausdrücklich aus, daß die „geſamte Schularbeit vom chriſtlich⸗konfeſſio⸗
nellen Geiſte durchdrungen fein müſſe“, und ſetzte als ſelbſtverſtändlich voraus,
„daß vor einer Neuordnung der Schulaufſicht das Recht der Kirche auf
Erteilung und Leitung des Religionsunterrichtes ſowie auf Überwachung
der geſamten religiös⸗ſittlichen Erziehung geſetzlich feſtgelegt oder in anderer
Weiſe hinreichend geſichert werde“; doch wird durch dieſes hocherfreuliche
Bekenntnis die ſchlichte Tatſache nicht verſchleiert, daß der größte Teil auch
der katholiſchen Lehrer Deutſchlands die Schulaufſicht in ihrer gegenwärtigen
Geſtalt geſchloſſen ablehnt. Hat ſich das Zentrum bisher auch für den be⸗
ſtehenden Modus ausgeſprochen, ſo darf man dennoch wohl auf eine Ver⸗
einigung der Meinung beider Gruppen hoffen; hat doch auch einer der
angeſehenſten Zentrumsführer, der bayriſche Kammerpräſident Oberſtudien⸗
rat Dr v. Orterer, auf der Generalverſammlung des „Bayrifch-patriotifchen
Bauernvereins“ bei Erwähnung der Schulaufſichtsfrage die Breslauer
106 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
Theſen „beachtenswerte Grundſätze“ genannt, nach denen die Löſung der
Frage zu ventilieren ſei. Ein ernſtes Zerwürfnis zwiſchen Zentrum und
katholiſcher Lehrerſchaft wäre nicht tief genug zu beklagen.
Wie die Verhältniſſe ſich in Preußen geſtalten werden, iſt vorläufig
noch ungewiß. Zwar hat der Kultusminiſter am 14. Jan. 1908 im Ab⸗
geordnetenhauſe erklärt, daß er an der „Verbindung zwiſchen Schule und
Kirche feſthalten werde“, eine Vorlage für die Dezentraliſation der Volks⸗
ſchulverwaltung ſchon in der gegenwärtigen Landtagsſeſſion einbringen wolle
und die allmähliche Umwandlung der nebenamtlichen Kreisſchulinſpektoren
in hauptamtliche für nötig halte. Die Einzelheiten find jedoch noch un-
bekannt. Ob die Mitteilung eines ungenannten preußiſchen Regierungsrates
im „Türmer“ (1908, Hft 9) zutreffend iſt, daß die Regierung an der Er⸗
haltung der geiſtlichen Ortsſchulaufſicht kein beſonderes Intereſſe mehr habe,
da ihr den Geiſtlichen gegenüber die Disziplinarmittel fehlten, und daß ſie
deshalb das Rektorat an ihre Stelle ſetzen möchte, darf bezweifelt werden.
Denn abgeſehen von dem auch in Breslau hervorgetretenen Streben nach
weitgehender Selbſtändigkeit des einzelnen Lehrers gegenüber den Rektoren,
könnte die Regierung ſchon wegen des noch immer tobenden Streites zwi⸗
ſchen Klaſſenlehrern und Schulleitern (vgl. dieſes Jahrbuch I 122) keinen
ungeeigneteren Zeitpunkt für eine derartige Umgeſtaltung wählen, als der
gegenwärtige iſt — ſelbſt wenn es ihr gelänge, den beſagten Kampf möglichſt
bald aus der Welt zu ſchaffen. Die vom Miniſter am 14. Jan. 1908 in
Ausſicht geſtellte neue Dienſtanweiſung an die Rektoren iſt Ende Dezember
erfolgt und beläßt dem Rektor im großen und ganzen ſeine Stellung des
„verantwortlichen Schulleiters und nächſten Vorgeſetzten der an ſeiner Schule
angeſtellten Lehrkräfte“. — Übrigens iſt auch durch das mit dem 1. April
1908 in Kraft getretene neue preußiſche Schulunterhaltungsgeſetz
mancherlei in den Ortsſchulbehörden verändert worden durch Erweiterung
der Befugniſſe der ſtädtiſchen Schuldeputationen, die jetzt in allen Städten
und Städtchen der Monarchie eingerichtet werden mußten. Das innere
Schulleben läßt das Geſetz dagegen unberührt, ſo daß von dem vernichtenden
Schlage, den es nach den Kaſſandrarufen der liberalen Lehrerpreſſe der
Volksſchule verſetzen ſollte, nichts zu ſpüren iſt.
Brennend wurde 1908 die Schulaufſichtsfrage vor allem in Oldenburg
und Württemberg. Der oldenburgiſche Volksſchulgeſetzentwurf
von dieſem Jahre beſeitigt die geiſtliche Ortsſchulinſpektion und überträgt die
Fachaufſicht den Kreisſchulinſpektoren. Die äußere Schulverwaltung liegt
der Gemeinde ob, die ſie durch den Schulvorſtand ausüben läßt. Zu
dieſem gehören der Bürgermeiſter, der Hauptgeiſtliche, ein Hauptlehrer und
zwei bis vier von der Gemeindevertretung zu wählende Gemeindebürger
von der Konfeſſion der Schule. Dem geiſtlichen Mitgliede des Schul⸗
vorſtandes verbleibt die Fachaufſicht über den Religionsunterricht. Doch
3. Unterrichts. und Bildungsweſen. A. Deutſchland und Ausland. 107
kann er vom Ortsſchulkollegium mit der „Betriebsleitung“ beauftragt werden
und fungiert dann als „Dezernent“. Bei mehrklaſſigen Anſtalten ſoll die
Aufficht möglichſt dem Hauptlehrer übertragen werden. Die Schulen bleiben
konfeſſionell. Sind dauernd mehr als 25 Schulkinder von einer andern
Konfeſſion vorhanden, ſo muß auf Antrag von deren Eltern eine eigene
Schule für ſie errichtet werden. Für die evangeliſchen und katholiſchen
Lehranſtalten ſind geſonderte Schulbehörden zu bilden. Gegen den Ent⸗
wurf dieſes „reaktionären“ Geſetzes proteſtierten Ende Oktober 700 pro⸗
teſtantiſche oldenburgiſche Volksſchullehrer und zeigten damit aufs neue,
daß es der liberalen Lehrerſchaft nicht bloß um Abſchaffung der geiſt⸗
lichen Schulaufſicht, ſondern um Ausſcheidung jedes kirchlichen Elementes
zu tun iſt.
Das trat noch deutlicher hervor in den radikalen Forderungen des
württembergiſchen Lehrervereins, der im letzten Sommer der Kirche jedes
Recht an der „rein bürgerlichen Anſtalt“ der Schule abſprach. Und doch
befürwortet auch der württembergiſche Volksſchulgeſetzentwurf
vom 12. Juni 1908 die Abſchaffung der geiſtlichen Schulaufſicht und
die Einführung bezirksamtlicher Bezirksſchulinſpektoren. Die Geſchäfte der
„äußeren Schulpflege“ läßt die aus einem Geiſtlichen und mehreren Lehrern
und Bürgern beſtehende Ortsſchulbehörde durch ihren Vertreter ausüben,
als welcher unter den obwaltenden Umſtänden durchweg der Geiſtliche in
Betracht kommen wird. „Die Leitung des Religionsunterrichtes (deſſen Um⸗
fang und Stellung den ſozialdemokratiſchen Angriffen gegenüber vom Land⸗
tage ſiegreich verteidigt wurde) in den Volksſchulen und Lehrerbildungs⸗
anſtalten einſchließlich der Beſtimmung der Katechismen und Religions-
handbücher kommt unbeſchadet des dem Staate zuſtehenden Oberaufſichts⸗
rechtes den Oberkirchenbehörden zu.“ Der „Katholiſche Lehrerverein“
Württembergs hat ſich im allgemeinen mit dieſen Beſtimmungen einverſtanden
erklärt; doch wünſcht er auch für die katholiſche Volksſchule eine Ober⸗
ſchulbehörde, die ſich nur mit Schulfragen zu befaſſen habe, wie es bei den
proteſtantiſchen Volksſchulen der Fall iſt. Der aus etwa 570 Lehrern,
90 Lehrerinnen, 1000 Geiſtlichen und vielen Laien beſtehende „Katholiſche
Schulverein“ hat ſich dagegen völlig auf den Boden der Denkſchrift geſtellt,
die Biſchof v. Keppler Anfang Dezember gegen dieſe Neuordnung der
Schulaufſicht dem Miniſterium überreichen ließ. Vorläufig haben ſeine
ernſten Bedenken an der Sachlage allerdings nichts ändern können. Sicher
iſt jedoch, daß jede weitere Radikaliſierung die Regierungsvorlage mindeſtens
in der Erſten Kammer zu Fall bringen wird. — Ganz ſchroff iſt nunmehr
Meiningen vorgegangen, das nach dem Vorgange von Koburg⸗Gotha
die Trennung von Kirche und Schule durchgeführt hat. — Über die um⸗
faſſende Volksſchulreform, die Sachſen gegenwärtig vorbereitet, läßt ſich
Genaueres noch nicht ſagen.
108 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
Neben der Schulaufſichtsfrage ſpielte die Gehaltsaufbeſſerung in
verſchiedenen deutſchen Staaten im Jahre 1908 eine große Rolle, und zwar
ganz beſonders auch bei den Wahlen zum preußiſchen Abgeordnetenhauſe.
Sollte doch das verfloſſene Jahr den preußiſchen Volksſchullehrern endlich
eine gründliche Verbeſſerung ihrer finanziellen Lage bringen. Doch als die
Beſoldungsvorlage im Herbſte bekannt gegeben wurde, machte ſich faſt all-
gemeine Enttäuſchung geltend, da die Volksſchullehrer mit dem Normalgehalte
von 1350 bis 3150 Mark (im Königreich Sachſen wurden 1908 feſtgeſetzt
1500-3000 Marf), erreichbar in 31 Dienſtjahren, die erhoffte Gleichſtellung
mit den Sekretären der allgemeinen Staatsverwaltung nicht erlangten. Daß
der Gehalt vieler Lehrer durch die neue Ordnung weſentlich erhöht wird,
iſt Tatſache; ebenſo ſicher iſt aber, daß nicht wenige leer ausgehen. —
Möchte nun doch wenigſtens der Lehrermangel, der ja eng mit der
Beſoldungsfrage zuſammenhängt, vermindert werden! Auf dem Lande hat er
ſchon zu großen Unzuträglichkeiten geführt, und er nahm bis jetzt ſtetig zu.
Es gibt z. B. in Pommern Präparandenanſtalten, die im Herbſte 1908 nur
17 Schüler aufnehmen konnten ſtatt der 70 vor einem Jahrzehnt. Dabei
zählt man allein in Preußen gegenwärtig an 3000 unbeſetzte Schulſtellen. —
Der Bedarf an Seminarlehrern iſt glücklicherweiſe gedeckt und wird das
auch wohl in Zukunft ſein, nachdem jetzt der Gehalt der ordentlichen Lehrer
am Seminar auf 2400 bis 4800 Mark (in 21 Dienſtjahren), der der Ober⸗
lehrer auf 3000 bis 5400 Mark (in 12 Dienſtjahren) feſtgeſetzt iſt. Da⸗
gegen ſind ihre Wünſche hinſichtlich eines geordneten Weges für ihre Vor⸗
bildung in Preußen bis jetzt unerfüllt geblieben. Und doch läge es im
allgemeinen Schulintereſſe, daß das Seminar aus ſeiner heutigen Zwitter⸗
ſtellung zwiſchen der Volksſchule und der höheren Schule befreit und von
wiſſenſchaftlich gebildeten Lehrern bedient würde. Die Theſen, die Profeſſor
Rein in Jena auf der Hauptverſammlung des „Vereins der Freunde Her⸗
bartiſcher Pädagogik“ über die Seminarreform aufgeſtellt hat, ſollten auch
außerhalb der thüringiſchen Staaten gehört werden. Ihre ſechs Abſchnitte
hier mitzuteilen, iſt aus Raummangel leider unmöglich.
Einer einheitlichen Regelung harrt auch das Fortbildung
ſchulweſen noch immer vergeblich. Zwar geht es rüſtig voran, wie
der überaus ſtark beſuchte 10. deutſche Fortbildungsſchultag in Braunſchweig
am 10. und 11. Okt. 1908 feſtſtellen konnte. Doch ſtanden die dortigen
Verhandlungen noch ganz unter dem Zeichen akademiſcher Erörterungen, ein
Beweis, daß zahlreiche grundſätzliche Fragen dieſer Schulart noch ungelöſt ſind.
Welche Unzuträglichkeiten ſich aus dem Fehlen einer landesgeſetzlichen Regelung
der Fortbildungsſchule in vielen Staaten (Preußen, Oldenburg, den beiden
Mecklenburg, Anhalt, Reuß ä. L., den beiden Lippe, Elſaß⸗Lothringen ꝛc.)
ergeben, beweiſt am beſten die Tatſache, daß manche Fabrikorte mit Pflicht⸗
fortbildungsſchule von jungen Arbeitern faſt vollſtändig entblößt werden,
3. Unterridhts- und Bildungsweſen. A. Deutſchland und Ausland. 109
wenn die Arbeitgeber die Strafgelder für das Schwänzen nicht übernehmen
wollen. Zwar geht das Obligatorium rüſtig voran; in Preußen ſind die
obligatoriſchen Schulen vom 1. Dez. 1903 bis 1. Dez. 1907 von 85%
auf 93% geſtiegen. Auch ländliche Fortbildungsſchulen werden immer mehr
gegründet, das weibliche Geſchlecht fortdauernd herangezogen — in Mei-
ningen wurde 1908 durch das neue Volksſchulgeſetz die zweijährige obliga⸗
toriſche Mädchenfortbildungsſchule eingeführt —, und doch war es möglich,
daß 1907 nur 13% von der 90% der geſamten Schulpflichtigen bildenden
Volksſchuljugend die Fortbildungsſchulen beſuchten. Erfreulich iſt es, daß
Anfang 1908 auch Hannover die erſten Schritte getan hat, um, wie 1904
Heſſen⸗Naſſau, auch den ländlichen Arbeitern den Beſuch dieſer Schulen zur
Pflicht zu machen. Die 1906 vom Bunde der deutſchen Frauenvereine an⸗
geregte Verpflichtung auch der Arbeiterinnen zum Beſuche der Fortbildungs⸗
ſchulen wird allem Anſchein nach demnächſt durch ein neues Reichsgeſetz
ſtatutariſch verfügt werden. — Eine ſegensreiche Einrichtung verſpricht die
im Oktober 1908 im Peſtalozzi⸗Fröbel⸗Hauſe zu Berlin gegründete ſoziale
Frauenſchule zu werden, die ihre Schülerinnen für beſoldete und unbeſol⸗
dete ſoziale Berufsarbeit ausbilden will. Sie konnte eröffnet werden mit
100 Jahresſchülerinnen und ebenſovielen Hofpitantinnen für einzelne Fächer.
Wenden wir uns jetzt den höheren Lehranſtalten zu, ſo beginnen
wir füglich mit den jüngſten von ihnen, deren Geburtstag in Preußen der
18. Aug. 1908 iſt. Es ſind die höheren Mädchenſchulen, deren
lange erwartete und noch länger geforderte Reform in Preußen zweifellos
ein Hauptereignis im deutſchen Unterrichtsweſen des Berichtsjahres iſt. Auf
dem Gebiete der eigentlichen fog. höheren Töchterſchulen ändert fie aller-
dings nur wenig. Sie ſanktioniert bloß die in größeren Städten ſchon
längſt beſtehende Einteilung dieſer Anſtalten in zehn Klaſſen — während die
ſtaatliche Regelung von 1894 an neun feſthielt — und geſtaltet auch den
Lehrplan nicht allzuſehr um; denn die Betonung der verſtandesbildenden
Momente im deutſchen und fremdſprachlichen Unterrichte, die amtliche Ein⸗
führung der in vielen gut organiſierten Schulen längſt erteilten Mathematik⸗
ſtunden auf der Oberſtufe und die Verſtärkung des naturwiſſenſchaftlichen
Unterrichts um 50% in den Klaſſen IV—II bedeutet verhältnismäßig wenig.
Direkt zu beklagen iſt die Vermehrung der Schulſtunden, die ſich früher auf
wöchentlich 30 beſchränkten, jetzt aber bereits in der Unter. (X — VIII) und
Mittelſtufe (VII— W 31, in der Oberſtufe (IV—I) ſogar 33 Stunden, ein-
ſchließlich den Handarbeitsunterricht, betragen. Einen wirklichen Fortſchritt
bedeutet dagegen die Verfügung, daß ſich an die oberſte Klaſſe der höheren
Mädchenſchule, die in der Regel mit dem 16. Lebensjahre abſolviert wird,
eine Lyzeum genannte „Frauenſchule“ mit gewöhnlich zweijährigem Kurſus
anſchließen fol, die neben wiſſenſchaftlichen Fächern haus- und volkswirt⸗
ſchaftliche, pädagogiſche und allerhand den praktiſchen Bedürfniſſen der Frau
110 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
entſprechende Unterweiſungen bietet. Bei der Ausgeſtaltung dieſer neuen
Schule läßt die miniſterielle Verfügung den örtlichen Umſtänden und Wün⸗
ſchen glücklicherweiſe weiten Spielraum. Auch iſt die Möglichkeit gegeben,
im Lyzeum — aber ohne jede Verſchmelzung des Unterrichts beider — mit
der Frauenſchule ein höheres Lehrerinnenſeminar zuſammenzufaſſen, das drei
wiſſenſchaftliche Fortbildungsklaſſen mit je einjährigem Kurſus enthält und
den Kandidatinnen alſo möglich macht, mit 20 Jahren die abſchließende
Lehramtsprüfung abzulegen, die ihnen nach Verlauf eines praktiſchen Jahres
die Berechtigung gibt, als „ordentliche Lehrerinnen“ an mittleren und
höheren Mädchenſchulen angeſtellt zu werden. Wo die Verhältniſſe es er⸗
fordern, kann auch jede dieſer beiden Lehranſtalten für ſich allein das Lyzeum
bilden. Zum Eintritt in dieſes berechtigt das Zeugnis über den erfolg⸗
reichen Beſuch der oberſten Klaſſe der höheren Mädchenſchule; eine beſondere
Prüfung wird nicht gefordert. — Der Zugang zur Univerfität erſolgt da⸗
gegen durch die der höheren Mädchenſchule angegliederte „Studienanſtalt“.
Dieſe gabelt ſich wieder in eine ſechsklaſſige Gymnaſialabteilung, die nach
Abſolvierung der 4. Klaſſe der höheren Mädchenſchule, alſo am Schluſſe
des 7. Schuljahres, beginnt (mit wöchentlich 36 Lateinſtunden und, von
der 4. Klaſſe ab, 32 griechiſchen Stunden), und in die fünfklaſſige Ober⸗
realſchulabteilung, die nach der 3. Mädchenſchulklaſſe einſetzt. Mechaniſche
Übereinftimmung mit den höheren Knabenſchulen iſt alſo vernünftigerweiſe
nicht beabſichtigt; doch gewährt die Studienanſtalt auf Grund der Abgangs⸗
prüfung dieſelben Berechtigungen wie die höheren Knabenlehranſtalten und
iſt auch mit dieſen den Provinzialſchulkollegien unterſtellt. Da gleichzeitig
mit dieſer Neuregelung die Lehrer am Lyzeum, die natürlich akademiſch ge-
bildet ſein müſſen, den Lehrern der höheren Knabenſchulen im Gehalt gleich⸗
geſetzt werden, wird es in Zukunft wohl nicht mehr an tüchtigen Lehr⸗
kräften fehlen. Möchten nun auch die Oberlehrerinnen, an denen gegen ⸗
wärtig großer Mangel iſt, gerechter beſoldet werden, als es mit ihrem
gegenwärtigen Endgehalte von 4000 Mark der Fall iſt; wird doch auch
für ſie in Zukunft der Weg zur Anſtellung wohl nur durch die Prüfung
pro facultate docendi gehen können, da das gegenwärtige Oberlehrerinnen⸗
examen von den Philologen nicht als voll gewertet wird.
ft auch der auf der bedeutungsvollen Berliner Januar⸗Konferenz von
1906 lebhaft befürwortete und ebenſo beſtechende wie undurchführbare Plan
nicht verwirklicht worden, daß nämlich die höhere Mädchenſchule eine ge⸗
ſchloſſene Einheit bilden folle, jo haben doch die Vertreter des Frauen-
ſtudiums allen Grund, mit der Reform in der Hauptſache zufrieden zu ſein;
und das ſind ſie größenteils auch, wie auf zahlreichen Konferenzen mehr
oder weniger zum Ausdruck kam. Auch wir freuen uns, trotzdem gewiſſe
Leute es fertig gebracht haben (vgl. Preußiſche Jahrbücher, Okt. 1908) zu
behaupten, daß dieſe Reform eine Errungenſchaft des Proteſtantismus ſei!
3. Unterrichts. und Bildungsweſen. A. Deutichland und Ausland. 111
Natürlich ſind manche Wünſche unerfüllt geblieben, und ſachliche wie un⸗
ſachliche Widerſacher ſind in ſteigender Zahl aufgetreten. In Berlin hat
ſich im November ſogar ein „Zentralverband zur Durchführung der preußi-
ſchen Mädchenſchulreform“ aus allen Parteien gebildet, der beſonders die
Berechtigungen der Oberſekundareife in Oberrealſchulen für die höheren
Mädchenſchulen fordert, auch der Frauenſchule Berechtigungen zugeſtanden
wiſſen will und den Einfluß der Frauen auf Unterricht und Leitung aus⸗
reichend geſichert ſehen möchte. In Württemberg iſt ja tatſächlich durch
die Beſtimmungen vom 1. März 1907 die Abgangsprüfung der zehnklaſſigen
Mädchenſchule der Einjährigenprüfung gleichgeſetzt worden. Uns will freilich
ſcheinen, daß weitere Berechtigungen weniger Sache des Kultusminiſteriums
als vielmehr die der einzelnen Verwaltungszweige ſind. — Am erfreulichſten
und weſentlichſten iſt an der ganzen Neuerung die nunmehr durchgeführte
Trennung der wiſſenſchaftlichen Ausbildung von der praktiſchen im Werde⸗
gang der „ordentlichen Lehrerin“. Nur ſollte dieſer der Zugang zum
akademiſchen Studium erleichtert werden, zu dem ſie nach den gegenwärtigen
Beſtimmungen ſpäter und ſchwerer gelangt als die Abiturientin der „Studien⸗
anſtalt“. — Alles in allem: es iſt viel erreicht, und der 18. Aug. 1908
wird in der Geſchichte der Frauenbildung einen Markſtein bilden, wenn.
ſchon den privaten Lehrerinnenſeminarien und Studienanſtalten das Recht
der Entlaſſungsprüfungen vorläufig noch nicht zugeſtanden wurde, was der
am 15. Febr. 1908 in Berlin gegründete „Bund deutſcher Privatmädchen-
ſchulen“ nach den Außerungen des Regierungsvertreters auf ſeiner erſten
Hauptverſammlung (9. und 10. Juni in Berlin) eigentlich erwarten durfte.
Für die immer noch heiß umſtrittene Frage der Koedukation bedeutet
die preußiſche Mädchenſchulreform natürlich keinen Fortſchritt; denn jetzt iſt
erſt recht nicht anzunehmen, daß Preußen ſeine Abneigung gegen ſie ſo bald
aufgeben ſollte. Auch ſonſt können die Anhänger der gemeinſamen Erziehung
nur mit geringer Genugtuung auf das Jahr 1908 zurückblicken. Zwar iſt
die Koedukation nun auch in Gotha geſtattet worden, und die Zahl der
Schülerinnen an höheren Knabenſchulen iſt gewachſen, in Baden z. B. um
56 (1907: 1053, 1908: 1109); aber ſelbſt in dieſem klaſſiſchen Lande der
deutſchen Koedukation wurde im Sommer 1908 vom Miniſter im Landtage
die Erklärung abgegeben, daß die gemeinſame Erziehung auf den badiſchen
höheren Schulen nur als ein Proviſorium, nicht als ein Prinzip zu be-
trachten ſei. Daß man in Deutſchland noch immer gute Erfahrungen mit
der Koedukation macht, wurde in Heſſen, wo übrigens die Mädchen nur
mit beſonderer Genehmigung der oberſten Schulbehörde zugelaſſen werden,
im September 1908 noch ausdrücklich beſtätigt; auch der 6. deutſche Ver⸗
bandstag für das kaufmänniſche Unterrichtsweſen (Anfang Oktober in Danzig)
ſtimmte für gemeinſame Erziehung. Eine andere Sprache reden nunmehr
aber einige Länder, in denen die Koedukation bereits eine alte Einrichtung
112 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
iſt, die alſo ein wirkliches Urteil über das Für und Wider haben, was bei
den jungen Erfahrungen in Deutſchland vorläufig ja ſchlechterdings noch
unmöglich iſt. In England, wo es rund 14 000 Lehranſtalten mit Roedu-
kation gibt, hat 1908 die Vertretung der engliſchen Lehrer und Lehrerinnen
ſelber den Antrag geſtellt, daß gegen das kombinierte Schulſyſtem agitiert
werde, da ſeine Nachteile die Vorteile weit überwögen. Außerdem mehren
ſich in England und Amerika die Fälle, daß Schüler ſich weigern, Schulen
für beide Geſchlechter zu beſuchen. Noch ſchmerzlicher mag es für viele
Koedukationsfanatiker ſein, daß ſelbſt in ihrem gelobten Lande Nordamerika
durch den Profeſſor Dr Jul. Sachs von der New Yorker Columbia-lini-
verſität im März 1908 auf einer ſozialpädagogiſchen Konferenz in Boſton
ſehr ernſte Bedenken gegen die gemeinſame Erziehung ausgeſprochen wurden,
da ſich jetzt ſchon in Amerika nachweiſen läßt, was wir im 1. Jahrgange
dieſes Jahrbuches (S. 129 f) als wahrſcheinliche Folge dieſes Syſtems ver-
muteten: daß nämlich gerade das weibliche Geſchlecht durch die Koedukation
vieles vom Beſten ſeines Weſens einbüßt, während bei den Schülern von
den vielgerühmten Vorteilen dieſer Erziehungsart wenig oder nichts zu merken
iſt (vgl. auch Profeſſor W. Münch, Eine neue amerikaniſche Stimme
über Koedukation, in der Allgem. Zeitung 1908, Nr 18). An dieſer Tat⸗
ſache ändert die Verteidigung der amerikaniſchen Schulverhältniſſe durch Frau
Dr Neena Hamilton Pringsheim in Nr 19 der „Allgem. Zeitung“ von 1908
nichts. Andere amerikaniſche Univerſitätsprofeſſoren, z. B. Stanley Hall und
Olmſtead, urteilen wie Jul. Sachs und machen die gemeinſame Erziehung
ſogar direkt verantwortlich für das in Amerika herrſchende Weiberregiment
in Familie und öffentlichem Leben. Es iſt recht erfreulich, daß ſolche
Stimmen gerade zu der Zeit über den Ozean zu uns dringen, wo unſere
radikalen Elemente allen Ernſtes die Forderung aufſtellen, daß der Lehr⸗
plan unſerer höheren Knabenſchulen im Intereſſe der Mädchen umzugeſtalten,
d. h. ſein Niveau herunterzuſchrauben ſei. Das hieße denn doch den Feminismus
unſerer Zeit auf die Spitze treiben!
Von den höheren Knabenlehranſtalten bilden in Preußen die allerunterſte
Stufe die Rektoratſchulen, die beſonders im Weſten der Monarchie
häufig find und kleineren Landſtädten die unteren und mittleren Gymnaſial⸗
klaſſen erſetzen ſollen. Der begreifliche Wunſch dieſer Schulen, den Pro-
vinzialſchulkollegien ſtatt wie bisher den Kreisſchulinſpektoren unterſtellt zu
ſein und ihre Zeugniſſe von den Gymnaſien anerkannt zu ſehen, blieb 1908
unerfüllt, da der Kultusminiſter den Gegenwunſch äußerte, daß bie Rektorat⸗
ſchulen in den Mittelſchulen (das ſind in Norddeutſchland ziemlich ungleich
geformte Anſtalten zwiſchen Volks- und höheren Schulen) aufgehen möchten,
denen er im letzten Jahre wegen ihrer geſchloſſenen, auf praktiſche Berufe
gerichteten Bildung eine gründliche Neuordnung zugeſagt hat, die längſt
hätte erfolgen können. Da mit dieſer Umgeſtaltung die Hauptaufgabe der
3. Unterrichts und Bildungsweſen. A. Deutſchlaud und Ausland. 113
Rektoratſchulen, den Übergang zu den mittleren Gymnaſialklaſſen zu bilden,
undurchführbar wäre, wird ſie abzulehnen ſein. Es wäre dringend zu
wünſchen, daß auch dieſen für die minder wohlhabenden Bürger, Bauern
und mittleren Beamten ſo wichtigen Lehranſtalten dieſelbe Anerkennung zu
teil würde, welche die höheren Mädchenſchulen ſoeben erhalten haben, zumal
da es weſentlich den Rektoratſchulen zuzuſchreiben iſt, wenn die Katholiken
im Weſten der preußiſchen Monarchie die Gymnaſien mehr beſuchen als
anderswo.
Aus dem Gebiete der neunklaſſigen höheren Schulen iſt eine
Neuerung von einſchneidender Bedeutung nicht zu melden. Das Bild iſt
ungefähr ſo geblieben, wie wir es im 1. Jahrgange dieſes Jahrbuches (S. 125 ff)
gezeichnet haben. Auch die neue Ordnung für die Kandidatenausbildung in
Preußen vom 15. März 1908 bringt im Grunde genommen nichts weſent⸗
lich Neues; doch ſoll gern anerkannt werden, daß fie die allgemein menſch⸗
lichen Anforderungen an die Kandidaten im Intereſſe einer allſeitig wür⸗
digen und tüchtigen Berufsbildung ſteigert und namentlich auch den prak⸗
tiſchen Charakter der Ausbildung ſtärker betont. — Beginnen wir zunächſt
mit einigen erfreulichen Notizen. In Preußen und Bayern iſt den Ober⸗
lehrern ſämtlicher höheren Schulen die wohlverdiente Gleichſtellung in Gehalt
und Rang mit den Richtern nun endlich zu teil geworden, die noch der
3. Verbandstag des „Vereinsverbandes akademiſch gebildeter Lehrer Deutſch⸗
lands“ in Braunſchweig (13.—15. April 1908) einſtimmig forderte: die
neuen Beſoldungsvorlagen, die in Bayern gleichzeitig mit der neuen Fach⸗
abteilung für das Mittelſchulweſen im Kultusminiſterium und mit der Um-
bildung des Oberſten Schulrats ſchon am 1. Jan. 1909 in Kraft treten
ſollen, ſetzen für die Oberlehrer einen Höchſtgehalt von 7200 Mark feſt.
Die ſo wünſchenswerte einheitliche Titulatur für ganz Deutſchland wird
allerdings noch auf ſich warten laſſen; denn das bayriſche Beſoldungsgeſetz
weiß nichts von neuen Titeln und behält auch die Bezeichnung Aſſiſtent
bei, die keine Ausſicht hat, ſich in Norddeutſchland zu verbreiten. — Freudig
zu begrüßen iſt, daß jetzt auch die Auslandsſchulen den Anſchluß an
die Dienſtaltersliſte der Oberlehrer Preußens geſucht und gefunden haben.
Es geht mit ihnen trefflich voran. Die zehn dieſer Anſtalten gewährte Be⸗
rechtigung, Zeugniſſe für die Befähigung zum einjährig⸗freiwilligen Militär-
dienſt auszuſtellen, werden nun auch von Lüttich und Madrid angeſtrebt.
Die hoffnungsvolle Erweiterung der deutſchen Schule in Teheran durch An⸗
gliederung eines perſiſchen Lehrerſeminars mit Internat wurde durch die
Revolution des letzten Sommers und durch allerhand Intrigen ſchwer ge⸗
hemmt. — Wie dieſe Schulen ſich aus den örtlichen Verhältniſſen heraus
eine eigenartige Organiſation geſchaffen haben, die noch einmal bebeutungs-
voll werden kann für die Lehranſtalten des Mutterlandes, ſo ſtellen unter
den letzteren die Landerziehungsheime einen ganz . Typus
Jahrduch der Beit- und Aulturgeſchichte. II.
114 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
dar. Sie wollen den in familienähnlichen Gruppen lebenden Schülern eine
ſich frei an die Oberrealſchulen anlehnende wiſſenſchaftliche Ausbildung (in
kleinen Klaſſen mit ſtarker Betonung des Kunſtunterrichts) vermitteln, wobei
Stählung des Körpers durch naturgemäße Lebensart, Feld- und Werkſtatt⸗
arbeit, Turnen, Spielen, Wandern ſtark in den Vordergrund treten. In
Deutſchland wurde das erſte Heim nach engliſchem Muſter von Dr H. Lietz
1898 in Ilſenburg a. H. gegründet, dem bald zahlreiche andere trotz ihres
ziemlich hohen Preiſes gefolgt ſind. Für manche Neuerungen ſind ſie ein
wertvoller Verſuchsboden geworden. So wurde z. B. 1908 in dem Land-
erziehungsheim in Schorndorf am Ammerſee, ganz unabhängig von gleich⸗
zeitigen Verſuchen ſolcher Art in Amerika (Los Angeles), eine Selbſtregierung
in der Schule eingeführt, indem Schülerkonferenzen eine gewiſſe disziplinäre
Polizeigewalt in Sachen der äußeren Ordnung und Wohlanſtändigkeit ein ⸗
geräumt wurde. Der Erfolg ſoll gut ſein. — Lebensfähig zeigt ſich auch
ein anderes modernes Schulgebilde, die Handelsrealſchulen in Frank.
furt a. M., Köln, Deſſau und Mannheim, die zu den übrigen Realſchul⸗
fächern in den beiden oberſten Klaſſen einen fachlichen Einſchlag hinzufügen.
Da nachweislich bis zu 70%, der Realſchulabiturienten ſich dem Handels-
ſtande widmen, ſo begehren auch zahlreiche andere Städte derartige Schulen.
Ihre Gründung wird weſentlich vereinfacht werden durch den allgemeinen
Lehrplan, den im letzten Herbſt in Danzig der 6. Kongreß des „Deutſchen
Verbandes für kaufmänniſches Unterrichtsweſen“ entworfen hat. — In den
ähnlich gearteten ſog. Handelsſchulklaſſen der Realſchulen von Koburg⸗Gotha
wurde von Michaelis 1908 ab das Esperanto als Unterrichtsfach eingeführt.
Wie ſehr der Zuſtrom zu den Oberrealſchulen anhält, hat ſich
namentlich ſeit deren Einrichtung in Bayern gezeigt. Hier haben beſonders
im letzten Jahre die Realanſtalten auf Koſten der Gymnaſien derartig zu-
genommen, daß z. B. jetzt ſchon die ſtärkſte humaniſtiſche Schule in Bayern,
das Thereſien⸗Gymnaſium in München, mit 826 Schülern von der Luitpold-
Kreisoberrealſchule mit 820 Schülern beinahe eingeholt iſt; vor drei Jahren
war das Zahlenverhältnis noch 555: 265. — Für die Gymnaſien be⸗
deutet dieſe Entlaſtung zweifellos ein Glück; denn ſie erhalten dadurch für
das humaniſtiſche Studium ein ausgewählteres Schülermaterial. Und da
nun ja niemand mehr zum Beſuche der humaniſtiſchen Lehranſtalten ge⸗
zwungen iſt, könnte eigentlich auch der Prozeß, den das Publikum dem
Gymnaſium macht, allmählich enden; das geſchieht aber nicht. Was das
Jahr 1908 an Klagen vorgebracht hat — vgl. z. B. die radikalen, einſeitig
unter Nietzſches Einfluß ſtehenden Ausführungen L. Hatvanys in „Wiſſen⸗
ſchaft des Nicht⸗Wiſſenswerten“ —, iſt auf den alten Ton geſtimmt:
das Gymnaſium wird eines ſorgloſen Verweilens auf toten, vom Ideen⸗
verkehr nicht mehr berührten Gleiſen beſchuldigt. Freund und Feind be⸗
mühen ſich darum in gleich verhängnisvoller Weiſe, das angefeindete Inſtitut
3. Unterrichts⸗ und Bildungsweſen. A. Deutſchland und Ausland. 115
auf andere Bahnen zu ſchieben. Aber zu ſeinem Unglück; denn das eine,
was ihm not iſt, die Ruhe, geht dabei verloren. Man wird ſo lange ein
Stück nach dem andern vom alten Beſtande abbröckeln laſſen, bis man eines
ſchönen Tages bemerkt, daß aus dem Gymnaſium eine — Reformſchule
geworden iſt. Und faſt ſcheint es wirklich ſo, daß dieſe ſchnell ſich aus⸗
breitenden Anſtalten — das Jahr 1908 ſchuf neue in Mülheim a. Ruhr,
Hameln, Frankfurt a. O., Görlitz, Lünen, Herne, Düren, Memel und
Oberſchöneweide bei Berlin — das Altgymnaſium immer mehr zurück⸗
drängen werden. Sollte deſſen Eigenart dagegen ganz verſchwinden, ſo
wäre das für unſer Schulweſen ein unerſetzlicher Verluſt. Darum verſuche
man nicht immer wieder von neuem, eine Allerweltsanſtalt aus ihm zu
machen; die kann und darf es nun einmal nicht ſein: ſeine Stärke liegt in
ſeiner alten Einſeitigkeit. Gegen den biologiſchen Unterricht wird es
ſich allerdings kaum verſchließen können. Daß im Gymnaſium eine ſtärkere
Betonung des Mathematiſch⸗Naturwiſſenſchaftlichen möglich iſt, zeigt die erſte
humaniſtiſche Schule des Quattrocento, die casa giocosa des Vittorino
da Feltre, der die Mathematik faſt in den Mittelpunkt ſeiner Schule rückte.
So beſchäftigt denn auch unter den neueſten ſpeziellen Reſormvorſchlägen
keine Unterrichtsfrage die Fachleute, Behörden und Gebildeten weiteſter
Kreiſe mehr als die mathematiſch⸗naturwiſſenſchaftliche. Zu ihr nahm auch
die 80. Verſammlung deutſcher Naturforſcher und Arzte in Köln Stellung
und befürwortete eine Trennung der Lehramts⸗Examenfächer in Mathematik
und Phyfik einerſeits und Chemie und Biologie anderſeits. In Bayern ift
dieſe Zweiteilung längſt vorhanden, in Sachſen iſt ſie am 1. Mai 1908
erfolgt, und auch in Preußen kann ſie nicht lange mehr verzögert werden.
Um hier den modernen Bedürfniſſen in etwas Rechnung zu tragen, wurde
1908 verſchiedenen preußiſchen Dozenten der Zoologie und Botanik Auftrag
erteilt, für die Lehramtskandidaten beſondere Vorleſungen über Biologie
abzuhalten. Die bayriſchen neunklaſſigen höheren Schulen haben bereits
7 Stunden naturwiſſenſchaftlichen Unterricht auf der Oberſtufe, die ſäch⸗
ſiſchen 6. Preußen hat für die beiden Primen der Gymnaſien und Real⸗
gymnaſien — in den Oberrealſchulen auch ſchon für Oberſekunda — je
2 Stunden biologiſchen Unterricht genehmigt (Miniſterialerlaß vom 19. März
1908), wenn Direktor und Lehrer ihn beantragen. Doch darf die Stunden⸗
zahl dadurch keineswegs eine Vermehrung erleiden. Anfang Oktober wurde
Biologie ſchon an 57 preußiſchen Vollanſtalten gelehrt (26 Gymnaſien,
12 Realgymnaſien und 19 Oberrealſchulen).
In enger Verbindung mit dieſer Angelegenheit ſteht die immer wieder⸗
holte Forderung der größeren Bewegungsfreiheit für die Schüler der
Oberſtufe des Gymnaſiums. In zweifacher Weiſe ſucht man ihr gerecht
zu werden: die einen befürworten für unſere Primaner Wahlfreiheit zwiſchen
zwei Kurſen, von denen der eine auf die ſprachlich⸗literariſchen Fächer, der
f ge
116 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
andere auf die mathematiſch⸗naturwiſſenſchaftlichen das Hauptgewicht legt;
andere wollen tüchtigen Schülern für eigene größere Ausarbeitungen als
Auszeichnung Befreiung von gewiſſen regelmäßigen Schulleiſtungen geben.
Der letzte Weg liegt dem Gymnaſium wohl am nächſten, doch gangbar
ſind beide und ſicher auch wünſchenswert, damit nicht einem großen Teile
von Schülern, die in Orten mit nur einem Gymnaſium als einziger höherer
Schule wohnen, die Wohltaten der neuen Reformen entzogen werden.
Hand in Hand mit dieſer freieren Bewegung des Unterrichts müßte
eine Neuregelung des Abiturientenexamens gehen, das nicht
mehr die Form des Nachwägens aller Schulpenſen behalten dürfte. Auch
Paulſen hat noch wenige Wochen vor ſeinem am 14. Aug. 1908 erfolgten
Tode dieſe Reform vertreten 1. Er meint, die Reifeprüfung ſollte mehr
„auf das Poſitive eingeſtellt werden“, ſtatt Lücken und Mängel aufzuſpüren;
auch müßte man die Prüfungsfächer beſchränken und dem Schüler eine ge⸗
wiſſe „Wahlfreiheit“ unter dieſen zugeſtehen. Die Prüfung ſelbſt ſollte
weſentlich in die Hände des Lehrerkollegiums, nicht des Schulrats, gelegt
werden. Was ſich dagegen ſagen läßt, hat Schulrat Paul Cauer freund⸗
ſchaftlichſt ausgeſprochen in ſeiner Broſchüre „Zur Reform der Reifeprüfung“
(Heidelberg, Winter). Jedenfalls könnte wenigſtens in manchen Stücken die
letztjährige Reform der Reifeprüfung in Oſterreich? für uns vorbildlich fein.
Daß die gewaltige Aufhäufung toten Gedächtnisſtoffes tunlichſt vermieden
werden muß, hat im Dezember 1908 auch die Berner Lehrerſchaft beantragt,
die das Abiturienteneramen nur noch als Prüfung über den allgemeinen
Stand der Abiturientenklaſſe fortbeſtehen laſſen möchte. — Eine Abſchaffung
des Schlußexamens, die jetzt von vielen leichtfertigerweiſe gefordert wird,
lehnt Paulſen entſchieden ab und bekundet damit aufs neue die Geſundheit
ſeines Urteils, das uns in einer Periode allgemeinſter Verwirrung ſo oft
die verloren gegangene Richtung wiedergab. Was er für eine vernünftige
Reform unſerer höheren Schulen geweſen iſt — neues Leben kam in die
preußiſche Schulpolitik erſt dann, als die Verwaltung die geiſtige Einwirkung
Paulſens zu ſchätzen begann —, macht ihn allein ſchon des Denkmals würdig,
zu dem die akademiſch gebildeten Lehrer Alldeutſchlands bereits namhafte Bei⸗
träge geſammelt haben. Noch dankbarer haben wir es aber empfunden, daß
Paulſen in den letzten Jahren ſo oft mit der Wucht ſeiner wiſſenſchaftlichen
Autorität und ſeiner ethiſch hohen Perſönlichkeit das deutſche Volksgewiſſen
aufgerüttelt, gegen die moraliſche Verwilderung proteſtiert und bittern Hohn
ausgegoſſen hat über die weibiſche Verzärtelung in Theorie und Praxis
1 Dieſer wichtige Aufſatz iſt mit ſieben andern bedeutungsvollen Außerungen Paulſens
zur Schulfrage zuſammengeſtellt in der Broſchüre „Richtlinien der jüngften Bewegung
im höheren Schulweſen“, Berlin, Reuther u. Reichard.
* Vgl. S. 129 f.
3. Unterrichts⸗ und Bildungsweſen. A. Deutſchland und Ausland. 117
unſerer Tage, die ſich vor Körperſtrafen ungezogener Schüler entſetzt und
nur genießen will, wo unſere Altvordern ernſt gearbeitet haben.
„Genießen iſt und macht gemein!“ — Dieſes hohe Wort Paulſens, das
wir im Kolleg wiederholt aus ſeinem Munde vernommen haben, ſollte auch
unſerer Mittelſchuljugend ſchon tief in die Seele geprägt werden; dann
würden in vielen Fällen ſelbſt die immer wiederholten Klagen wegen Uber⸗
bürdung (vgl. z. B. Monatsſchrift für höhere Schulen 1908, Nr 11,
S. 582 ff) verſtummen, und manche der ſo tief bedauerlichen und in den letzten
Jahren erſchreckend häufigen Schülerſelbſtmorde, die man unbeſehens
der Schule zur Laſt zu legen pflegt (vgl. Ludw. Gurlitt, Schüler-
ſelbſtmorde, Berlin, Concordia), während ſie doch vielfach, ebenſo wie die
Nervoſität, jo ganz, ganz andere Urſachen haben, blieben ungeſchehen. Ge⸗
nußſucht lockert auch die Disziplin. Möge der im Herbſt 1908 aus dem
badiſchen Städtchen Z. im Wieſental berichtete Fall vereinzelt bleiben, wo
ein Turnlehrer ſich nur durch ſchleunigſte Flucht vor dem Geſteinigtwerden
durch feine Schüler retten konnte, weil er einen renitenten Knaben verdienter
maßen gezüchtigt hatte. Die Autorität iſt gar leicht erſchüttert. Die hohe
Meinung von unſerer eigenen Trefflichkeit hat durch traurige Ereigniſſe des
letzten Jahres manch harten Stoß erlitten. Es iſt nicht alles, wie es ſein
ſollte. Lernen wir auch bei unſern Mittelſchülern die Zeichen der Zeit ver-
ſtehen. Nietzſche, deſſen Theorien ſich jetzt in die Praxis umzuſetzen beginnen,
hat auch manchen Schüler bereits genug verwirrt, um ihm nach des Philo-
ſophen eigenen Worten ein „Verhängnis“ zu werden. Es iſt nicht zu leugnen,
daß die Unſittlichkeit auch unter der Schuljugend zunimmt. Als Allheil⸗
mittel dagegen wird von vielen immer noch einzig und allein die ſexuelle
Aufklärung gehalten. Wie ſehr dieſe unausgeſetzt alle Schichten unſeres
Volkes beſchäftigt, beweiſt die eine Tatſache, daß auf ein vom Dürer⸗Bund
im März 1908 veranſtaltetes Preisausſchreiben über dieſe Frage nicht
weniger als 480 Abhandlungen eingelaufen ſind, von denen 30 preisgekrönt
werden konnten. Glücklicherweiſe hat in der Zwiſchenzeit F. W. Foerſters
Buch (vgl. dieſes Jahrbuch I 131) trotz des Angriffs Marcuſes auf feine
„mönchiſche Askeſe“ genügend Schule gemacht, um weite Kreiſe zu der Über-
zeugung gebracht zu haben, daß Aufklärung allein eher ſchadet als nützt,
wenn ihr eine kräftige Willenserziehung auf religiöſer Grundlage nicht vor⸗
gearbeitet hat. Das war auch Paulſens Meinung, und wir freuen uns
deshalb, daß ſeine fundamentalen Aufſätze über dieſe Frage nunmehr ge⸗
ſammelt vorliegen (Paulſen, Moderne Erziehung und geſchlechtliche Sitt-
lichkeit, Berlin, Reuther u. Reichard). Bedauerlich bleibt, daß unglaub⸗
licherweiſe gerade gewiſſe Frauenkreiſe beſonders aufklärungswütig ſind und
oft mit plumper Hand in dieſe zarte Materie hineingreifen. War es doch
auch auf der 9. Jahresverſammlung des „Deutſchen Vereins für Schulgeſund⸗
heitspflege“ (9.—11. Juni 1908 in Darmſtadt) eine Arztin, die in ſchroffem
118 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
Gegenſatze zu den Ausführungen erfahrener Schulmänner für den „direkt
aufklärenden Unterricht“ eintrat. Glücklicherweiſe wächſt unter den Päda⸗
gogen der Widerſtand gegen die Forderung nach klaſſenweiſer Behandlung
dieſes Gegenſtandes durch die Schule. Auch mit Profeſſor A. Forels Art,
dieſe Frage in öffentlichen Verſammlungen zu erörtern, können wir uns
keineswegs befreunden; ſie läuft auf „eine groß angelegte Vernichtung des
Schamgefühls“ hinaus.
Ein nicht zu unterſchätzender Bundesgenoſſe im Kampfe gegen die Lax⸗
heit kann die Pflege der Volks⸗ und Jugendſpiele fein, deren För⸗
derung ſich unter E. v. Schenckendorffs Leitung ein beſonderer Zentral-
ausſchuß ſeit 18 Jahren ernſtlich angelegen ſein läßt. Der von ihm
veranſtaltete 9. Kongreß fand vom 19. bis 21. Juni 1908 in Kiel ſtatt.
Auch die preußiſche Regierung war auf dieſem durch den Kultusminiſter
vertreten und hat — wohl unter dem Einfluß der vielerorts veranſtalteten
Feſtlichkeiten zur Erinnerung an den vor 100 Jahren begonnenen Neubau
Preußens — im letzten Jahre verſchiedentlich zur Gründung von Spiel⸗
vereinen angeregt und die Genehmigung erteilt, daß bei der Königlichen
Landesturnanſtalt in Berlin zwanzigtägige Fortbildungskurſe für Vorturner
der zur deutſchen Turnerſchaft gehörigen Vereine abgehalten werden. Der
Ruderſport hat ſich 1908 an weiteren 29 höheren Schulen (164) eingebürgert,
und die ſchulfreien obligatoriſchen Spielnachmittage ſind nunmehr verſchie⸗
dentlich (z. B. in Baden und Wiesbaden) eingeführt worden. Möchte nur
bei all dieſen an ſich heilſamen Beſtrebungen die Sportfexerei vermieden
werden, die der „Kunſtwart“ (1908, Nr 23) als „Pſeudo⸗Olympia“ im An-
ſchluß an die zum Teil ſo törichten Preßſtimmen über die olympiſchen Spiele
in London treffend geißelte. Jede einſeitige und übertriebene Betonung der
Körperausbildung, jede Ausartung von Spiel und Sport muß um ſo
energiſcher abgelehnt werden, als es einflußreiche Männer gibt, welche „die
Schule am liebſten zu einer Paläſtra der alten Griechen machen möchten”.
Daß zwiſchen den höheren Schulen und den Hochſchulen, zu denen
wir nun übergehen, die engſte Verbindung beſtehen ſollte, da beide ſo ſehr
aufeinander angewieſen ſind, müßte eigentlich ſelbſtverſtändlich ſein. Und doch
kümmern ſich beide in Wahrheit nur wenig um einander, und der Übergang
von der Schulbank zur Univerſität gleicht einem Sprunge über eine tiefe
Schlucht. Da dieſe in der Renaiſſancezeit nicht vorhanden war, hat man
ſie auch aus der Gegenwart hinausſchaffen wollen und verſucht, die Ober⸗
ſtufe unſerer humaniſtiſchen Schulen in ein von den unteren Klaſſen ab-
getrenntes Obergymnaſium umzugeſtalten, das ſich nach Art der amerikaniſchen
Colleges eng an die Univerſität anlehnen ſollte. Auch Paulſen befürwortete
dieſe Teilung des Gymnaſialkurſus in ſeinem Aufſatze „Der nationale
Charakter der höheren Schule Deutſchlands und die Grundtendenz der
jüngſten Schulreform“ (aufgenommen in die S. 116 erwähnte Sammlung
3. Unterrichts: und Bildungsweſen. A. Deutſchland und Ausland. 119
„Richtlinien ꝛc.“), und Hamburg wollte ſogar eine Univerſität gründen, mit
der nach amerikaniſchem Muſter ein College verbunden fein ſollte. Da man
jedoch in den Vereinigten Staaten ſelber immer mehr die Reformbedürftig⸗
keit dieſes Hochſchulſyſtems einfieht und feit etwa zehn Jahren ernſtlich be-
müht iſt, das höhere Schulweſen dem deutſchen ähnlicher zu geſtalten, wäre
es geradezu paradox, in Deutſchland jetzt noch das amerikaniſche Collegeſyſtem
einzuführen. Könnte doch auch die S. 115 ff beſprochene freiere Geſtaltung
der Gymnaſialoberſtufe den Übergang zur Univerſität bedeutend mildern.
Alles was im Berichtsjahre das vielgeſtaltige Leben der deutſchen Hod)
ſchulen am meiſten bewegte, kam zur Sprache auf dem „2. deutſchen
Hochſchullehrertage“, der unter ziemlich geringer Beteiligung vom
27. bis 29. Sept. 1908 in Jena tagte — teilweiſe freilich in einer Art,
die ſcharfe Ablehnung unſerſeits nötig macht. Da iſt zunächſt das Ver⸗
hältnis der alten Univerſitäten zu den friſch aufſtrebenden Techniſchen Hoch⸗
ſchulen, auf die z. B. erſt am 3. Nov. 1908 das Privatdozentengeſetz in
Preußen ausgedehnt wurde, immer noch nicht klar geregelt. Ob beide An⸗
ſtalten zu einer verſchmolzen oder ſelbſtändig nebeneinander gelaſſen werden
ſollen, iſt noch eine offene Frage, die auch der Hochſchullehrertag nicht be⸗
antwortet hat. Auch das Recht der Selbſtverwaltung der Univerſitäten galt
es zu wahren, das z. B. dadurch verletzt wurde, daß der preußiſche Kultus⸗
miniſter im Frühjahr 1908 den Kieler Nationalökonomen Profeſſor L. Bern⸗
hard an die Berliner Univerſität berief, ohne deren philoſophiſche Fakultät
anzuhören. Den vielen ernſten, aus Raummangel hier unmöglich näher zu
erörternden Fragen, die ſich mit dem akademiſchen Nachwuchs und deſſen
Ausleſe, namentlich auch unter dem Geſichtswinkel der Bedürfniſſe des
naturwiſſenſchaftlichen Unterrichts, verknüpfen, wurde größte Aufmerkſamkeit
zugewendet. Hatte dieſes Thema doch ſchon den erſten Hochſchullehrertag
in Salzburg beſchäftigt und dann im Sommer 1908 zu einem kleinen
Zeitungskriege (vgl. Beilage der Münchener Neueſten Nachrichten 1908,
Nr 36 66 87) zwiſchen den Profeſſoren L. Brentano und Fr. Eulen-
burg (vgl. deſſen Broſchüre „Der akademiſche Nachwuchs“, Leipzig, Teubner)
geführt. Der auf die „Fälle“ Schrörs, Günter, Wahrmund und Schnitzer
aufgebaute agitatoriſche Vortrag des Münchener Juriſten v. Amira über
„Die Stellung des akademiſchen Lehrers zur Freiheit in Forſchung und
Lehre“ geſtaltete ſich namentlich in der ſich anſchließenden dreiſtündigen
Diskuſſion, in die auch die ſattſam bekannten Profeſſoren Thümmel und
Wahrmund provokatoriſch eingriffen, zu einer regelrechten Hetze gegen die
katholiſch⸗theologiſchen Fakultäten. Das bei dieſer Gelegenheit wieder grell
hervortretende Protzen mit der „Vorurteilsloſigkeit“ jener Herren erhält
eine eigenartige Beleuchtung durch das Geſtändnis, das einer der „vorurteils-
loſeſten“ von ihnen, Profeſſor Haeckel in Jena, noch am Ende des Berichts⸗
jahres ablegen mußte — wennſchon mit vielen Ablenkungsverſuchen und
120 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
unter reichlichem Geſchimpfe, namentlich gegen den zur Steuer einer ſkrupel⸗
loſen Populariſierung atheiſtiſcher Moniſtenweisheit 1907 in Frankfurt a. M.
gegründeten „Keplerbund“ —, daß er nämlich tatſächlich ſeine Embryonen⸗
bilder gefälſcht habe in dem Sinne, wie Dr Braß ihm öffentlich vorgeworfen
hatte. Hätte man einem katholiſchen Gelehrten fold) eigenartigen „wiſſen⸗
ſchaftlichen Betrieb“ nachweiſen können, ſo würde ein Entrüſtungsſturm
ohnegleichen den Erdball von Pol zu Pol umbrauſt haben; ein Vertreter
der „Vorausſetzungsloſigkeit“ wird aber von den Seinen öffentlich in Schutz
genommen.
Daß auch ein nicht geringer Teil der Studentenſchaft mit den Aus⸗
führungen des Hochſchullehrertages harmoniert, beweiſen die bedauerlichen
Skandalſzenen an der Münchener Univerſität bei Gelegenheit des „Falles“
Schnitzer 1. Dennoch iſt dieſer Geiſt an den Hochſchulen noch nicht der
herrſchende. Das bezeugen die beiden auf S. 14 dieſes Jahrbuches mit-
geteilten Theſen, über die auf der diesjährigen Konferenz der preußiſchen
Univerſitäts⸗Rektoren in Halle a. S. volles Einvernehmen beſtand. Der
„2. deutſche Hochſchullehrertag“ repräſentierte eben nicht die Geſamtheit
der deutſchen Hochſchullehrer, ſondern war nur eine private Verſammlung,
die vorwiegend den extremen Univerſitätsliberalismus vertrat. Immerhin
wird das katholiſche Volk gut tun, dieſe antikatholiſche Kampforganiſation
feſt im Auge zu behalten, und zwar um ſo mehr, da der um das Univer⸗
ſitätsweſen fo ungewöhnlich verdiente Miniſterialdirektor Friedr. Althoff?
am 20. Okt. 1908 durch den Tod ſeinem reichen Wirkungsfelde entriſſen
worden iſt; denn dieſem wahrhaft „aufrechten“ Manne iſt es in erſter Linie
zu danken, daß nach den Kulturkampfszeiten Profeſſoren katholiſcher Welt⸗
anſchauung gegenüber der hochmütigen Geringſchätzung durch das liberale
Profeſſorentum in Preußen einigermaßen wieder zur Geltung kamen. Leicht
könnte jetzt ein Rückſchlag erfolgen.
Die mehr aus den Verhältniſſen hervorgegangene als einem einzelnen
Impulſe ihr Daſein verdankende Sitte des Profeſſorenaustauſches
zwiſchen Deutſchland und Amerika ſcheint eine ungeahnte Ausdehnung an⸗
nehmen zu wollen, da ihr Nutzen nunmehr von faſt allen Seiten anerkannt
wird. Die gegenwärtigen Austauſchprofeſſoren in Berlin ſind W. M. Davis
und F. Adler von der Harvard- bzw. Columbia⸗Univerſität. Daß auch die
mehr an den heimatlichen Boden gebundenen Juriſten ausgetauſcht würden,
befürwortet Profeſſor Rud. Leonhard (Internationale Wochenſchrift 1908,
Nr 27). Selbſt zwiſchen Frankreich und Spanien (Oviedo) hat ſich Ende 1908
ein Wechſel von akademiſchen Lehrkräften angebahnt; und zwiſchen Däne⸗
mark und Frankreich vollzieht ſich eine neue Form gegenſeitiger Unter-
1 Vgl. Abſchnitt II, 2: „Kirchliches Leben in Deutſchland“ S. 12 f.
* Die ihm zu Ehren am 11. Juni 1908 begründete „Wilhelmſtiftung für Gelehrte“
erhielt durch kaiſerl. Erlaß vom 21. Dez. 1908 den Namen „Friedrich⸗Althoff⸗Stiftung“.
3. Unterrichts⸗ und Bildungsweſen. A. Deutſchland und Ausland. 121
ſtützung in wiſſenſchaftlichen Dingen und Perſonen, indem eine aus däniſchen
und franzöſiſchen Gelehrten beſtehende Expedition ausgerüſtet wird, die in
Däniſch⸗Weſtindien Studien über die Ausbreitung des Ausſatzes machen
fol. — Das Jahr 1908 hat in Preußen den Austauſchgedanken ſogar auf
das Gebiet des Volksſchul⸗ und Mädchenſchulweſens ausgedehnt. Volks⸗
ſchullehrer ſollen zunächſt nur mit Frankreich, Lehrerinnen auch mit Eng⸗
land au pair ausgetauſcht werden; alle haben auf mindeſtens ſechs Monate
an einem Lehrerſeminar des Anstauſchlandes täglich zwei Konverſations⸗
ſtunden zu geben, aber keinen lehrplanmäßigen Unterricht, und erhalten am
Schluſſe ihres Dienſtes ein Zeugnis über die Dauer ihres Aufenthaltes und
über ihre Führung.
Der Zudrang zum Hochſchulſtudium hat auch 1908 wieder ſtark
zugenommen, ſo daß von neuem von dem Eintritt in einzelne Fakultäten
abgeraten werden mußte. So wurde 1908 u. a. in Bayern vor dem
juriſtiſchen Fache und dem höheren Lehramte vom Miniſterium gewarnt,
da dort z. B. Realiſten von 1899 erſt jetzt zur Anſtellung gelangen konnten.
Selbſt die bisher noch leidlich günſtig geſtellten bayriſchen Altphilologen
miiffen ſich auf eine demnächſtige Wartezeit von 10 bis 12 Jahren gefaßt
machen. 1908 ſtudierten auf den 21 deutſchen Univerſitäten — der größten
Zahl in allen Ländern Europas — 52019 (gegen 50899 im Jahre 1907)
Studenten, von denen 13884 allein auf Berlin kamen, das jetzt Paris mit
ſeinen 12 985 Studenten zum erſtenmal überflügelt hat und damit an die
Spitze der 125 europäiſchen Univerſitäten (mit 228 732 Studenten) getreten
ift. — Obwohl jedoch die Zahl der Studierenden ſchon jetzt weit größer
iſt als der Bedarf, hat auch das Studium der Frauen eine größere
Ausdehnung erfahren. Im Deutſchen Reiche ſtudierten im Sommerſemeſter
1908 376 (gegen 320 im Winterſemeſter) Frauen als voll Immatrikulierte,
2504 als Hörerinnen; an den Techniſchen Hochſchulen waren zu gleicher
Zeit 1332 eingeſchrieben. Im Winterſemeſter 1908/1909 ſteigerte ſich die
Zahl der voll immatrikulierten Studentinnen auf 1077, bei denen noch
immer das Studium der Medizin (318) vorherrſcht. Zu ihnen geſellen ſich
noch 1782 Hörerinnen. Daß den Frauen ſeit Herbſt 1908 auch auf den
preußiſchen Univerſitäten nach vorgeſchriebener Reifeprüfung die Zulaſſung
als vollberechtigte Studierende zugeſtanden iſt — freilich bleibt Ausſchluß
von einzelnen Vorleſungen möglich —, iſt bloß eine natürliche Folge der
preußiſchen Mädchenſchulreform. Ein Unterſchied den Studenten gegenüber
bleibt allein darin beſtehen, daß die Frauen ohne Reifezeugnis einer be⸗
ſondern Erlaubnis des Miniſteriums bedürfen, um als Hörerinnen zu⸗
gelaſſen zu werden. Bei Ausländerinnen iſt dieſe auf alle Fälle erforderlich,
und das mag für eine gewiſſe Sorte von nichtdeutſchen Studentinnen, die
keineswegs das Anſehen ihres Standes zu heben geeignet ſind, recht heilſam
ſein. Da Heſſen unmittelbar dem Beiſpiele Preußens folgte, ſind jetzt
122 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
Roſtock und Straßburg die einzigen deutſchen Univerſitäten, die den Frauen
das Bürgerrecht noch verweigern. — Der Ruf der chriſtlichen Studentin nach
angemeſſenem Anſchluß (vgl. z. B. Allgemeine Rundſchau 1908, Nr 48)
iſt in etwas gehört worden durch den Münchener katholiſchen Frauenbund,
der den chriſtlichen Studentinnen ein Heim in ſeinem Hauſe anbot; in andern
Städten wird dasſelbe geſchehen.
Im Korporationsweſen der deutſchen Studentenſchaft hat in letzter Zeit
nichts fo ſehr überraſcht wie das kraft ⸗ und planvolle Emporſtreben des
Freiſtudententums, das ſchon jetzt den Korporationen fühlbar Kon-
kurrenz zu machen beginnt. Genau ſo wie jene andere Erneuerung des
Studententums vor faſt 100 Jahren im Zeichen ihrer Zeit, dem kommenden
Freiheitskriege, ſtand, ſo verkörpert dieſe neueſte Wandlung die Ideen der
Gegenwart — die guten wie die böfen — uud erſcheint als eine natürliche
Reaktion gegen den auch in unſerer Studentenſchaft lächerliche Blüten
treibenden Kaſtengeiſt und gegen die zum Teil zu große Gebundenheit in
den alten Korporationen, in denen für eine individuelle Betätigung des
Einzelnen oft ſo wenig Raum bleibt, daß das ſtolze „Frei iſt der Burſch!“
nicht ſelten zur Illuſion wird. Wenn das Freiſtudententum ſich auch
Toleranz in jeder Hinſicht zum Prinzip gemacht hat und frühzeitiges Ein⸗
ſchwören auf einſeitige Parteimeinungen ablehnt, ſo ſcheint es doch vor⸗
läufig noch vorwiegend im Fahrwaſſer einer materiellen und intellektuellen
Diesſeitskultur zu ſchwimmen, und es bleibt abzuwarten, ob die in Frei-
burg i. Br. gegründete Abteilung für katholiſche Freiſtudenten, deren Kon-
ſtituierung Ende 1908 in Bonn von der Univerſitätsbehörde verboten wurde,
ſich in dieſem Milieu gedeihlich entwickeln kann. — Zu den ſchönſten Seiten
an unſerem Studententum gehören deſſen ſoziale Beſtrebungen, die
in interkonfeſſioneller Form ſeit längeren Jahren in den ſtudentiſchen Arbeiter⸗
kurſen, im katholiſchen Lager in Geſtalt fozial-charitativer Vereine (1903
Freiburg i. Br., 1903/1904 Bonn, 1906 Aachen und Heidelberg, 1906/1907
Berlin und München, 1908 Gießen, Straßburg und Tübingen) ihren Aus⸗
druck finden. In ähnlichem Sinne wirken in den katholiſch⸗theologiſchen
Anſtalten ſoziale Zirkel, die meiſtens von den dortigen akademiſchen Pius-
Vereinen ausgehen. Eine ſyſtematiſche Arbeit zur Hinlenkung der Studenten,
vor allem der katholiſchen, auf ſoziale Ziele geht ſeit 1907 aus von dem
zu dieſem Zwecke gegründeten „Sekretariat ſozialer Studenten⸗
arbeit“ in M.⸗Gladbach, das ſich allen innerſtudentiſchen und politiſchen
Fragen gegenüber völlig neutral verhält. Seine Haupttätigkeit beſtand im
Berichtsjahre in der Anregung zur Gründung von Ferienvereinigungen
(1908: 54), durch die der ſoziale Anſchauungsunterricht in der Heimat
organiſiert werden fol. Auch wurde die Abhaltung von Volksbildungs⸗
abenden und heimatlichen Arbeiterkurſen angeregt. Zur Maſſenverbreitung
wurden vier Flugblätter herausgegeben und vertrieben; in den Univerfitits-
3. Unterrichts. und Bildungsweſen. A. Deutſchland und Ausland. 123
ſtädten wurde die Anteilnahme an den Vinzenz⸗ Vereinen gefördert und ſchließ⸗
lich ein höchſt intereſſanter Verſuch ſozialer Gemeinſchaftsarbeit in den Ferien
gemacht. Über die Tätigkeit des Sekretariates berichten die eigens für dieſen
Zweck gegründeten „Sozialen Studentenblätter“. Der Leiter des Sekre⸗
tariates, der bekannte Vorkämpfer für ſoziales Studententum, Dr Karl
Sonnenſchein, veröffentlichte 1908 die wirkungsvolle Broſchüre „Kann
der moderne Student ſozial arbeiten?“ (M.⸗Gladbach, Volksvereinsverlag),
die über die ganze Bewegung trefflich orientiert.
Geräuſchlos wie die ſoziale Betätigung der Studenten geht auch die
Volkshochſchulbewegung in Deutſchland ihren Weg. Aber ſie ſchreitet
voran, wie namentlich der 3. Volkshochſchultag 1908 in Dresden feſtſtellen
konnte. Wir haben jetzt in Deutſchland in etwa 40 Städten die Anfänge
volkstümlicher Hochſchulkurſe. Leider fehlt uns jedoch noch der pädagogiſch
wichtige Unterbau, der den aus den breiten Volksmaſſen ſtammenden Hörern
die Möglichkeit bietet, das in den Kurſen Empfangene auch ſelbſtändig zu
verarbeiten. Nur mit einem ſolchen, an den ſich dann die Vortragsreihen
anzuſchließen hätten, wird es möglich ſein, eine ausdauernde Hörerſchaft
zuſammenzuhalten. — Mannigfach ſind auch die Beſtrebungen, die Volks⸗
bildung durch Bibliotheken zu heben und gute Bücher zum Gemeingut
des Volkes zu machen. Nur läßt hier die Auswahl oft zu wünſchen übrig.
Das gilt auch von den populärwiſſenſchaftlichen Wanderbibliotheken der
„Geſellſchaft für Verbreitung von Volksbildung“. Zwar konnte deren
38. Generalverſammlung (Anfang Oktober 1908 in Darmſtadt) mit Ge⸗
nugtuung berichten, daß fie 1907 für 164000 Mark nicht weniger als
130000 Bände gekauft habe; doch wurde auch von proteſtantiſcher Seite
die Tatſache lebhaft bedauert, daß die Geſellſchaft ſelbſt die Werke von
D. Fr. Strauß, Haeckel, Bölſche, Darwin, Ellen Key uſw. zu verbreiten
ſucht. Wird hierdurch ihr Wirken nicht einwandfrei, ſo gilt das in mindeſtens
gleich hohem Maße auch von der 1908 gegründeten Scherlſchen Leihbibliothek.
Freilich hält dieſe ſich von dem Schund frei, für den die etwa 8000 beut-
ſchen Kolportagebuchhandlungen mit Hilfe von rund 30 000 Kolporteuren
dem deutſchen Volke alljährlich an 50 Mill. Mark aus der Taſche locken;
auch iſt ihre Organiſation ſo geſchickt und „originell“, daß ſich ſelbſt der
„Kunſtwart“ durch ſie beſtechen ließ. Doch rät man vielfach zu vorſichtiger
Zurückhaltung, die den Katholiken ſchon wegen der vielen Bücher mit anti-
katholiſcher Tendenz geboten iſt. Auf unſerer Seite ſollte man ſich lieber
die Gründung allgemein zugänglicher Volksbibliotheken angelegen ſein laſſen,
wie ſie in Bayern der Preßverein (1907/1908 unterhielt bzw. unterſtützte
er 89 Volksbibliotheken mit rund 79 600 Bänden) und im übrigen Deutſch⸗
land der „Verein vom hl. Karl Borromäus“ eifrig betreibt. Letzterer hatte
nach privater Mitteilung der Vereinsleitung am 31. Dez. 1908 rund
165 000 Mitglieder (14000 mehr als 1907), die in 3500 Hilfsvereinen
124 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
organiſiert ſind. Jedem von dieſen iſt eine volkstümliche Bücherei an⸗
gegliedert; für dieſe 3500 Bibliotheken konnte der Verein Bücher im Werte
von 170000 Mark als Geſchenk abgeben, während die Büchergaben, die er
ſeinen Teilnehmern zur Begründung einer Hausbibliothek zukommen ließ,
einen Wert von etwa 520000 Mark repräfentierten.
Fürwahr, welche gewaltigen Summen ſind es, die alle Jahre von neuem
Staat und Vereine für Unterricht und Bildung unſeres Volkes opfern, und
welche Überfülle von geiſtiger Arbeitskraft iſt demſelben Ziele gewidmet!
Man ſollte meinen, ein Volk, für deſſen Veredelung ſo viel getan wird,
müßte wahrhaft glücklich ſein. Und doch iſt die bedauerliche Tatſache nicht
zu leugnen, daß die rechte Freude bei uns fehlt. Was im tiefſten Grunde
daran ſchuld iſt, haben wir hier nicht zu unterſuchen. Nur einen Wunſch
auszuſprechen ſei uns am Schluſſe unſeres Jahresberichtes geſtattet, daß
nämlich alle, denen die Sorge für die idealen Güter Deutſchlands anvertraut
iſt, das eine bei ihrer verantwortungsreichen Arbeit nicht aus dem Auge
verlieren möchten: mehr Freude zu ſchaffen für unſer Volk in Schule
und Haus — wahre, echte Freude!
B. Ofterreid).
Don Dr Rudolf Hornich.
Kaiſer Franz Joſeph hatte den Wunſch ausgeſprochen, fein Jubiläums-
jahr möge weniger durch feſtliche Veranſtaltungen, als durch gemeinnützige
und wohltätige Stiftungen gefeiert werden. Es iſt für das Zeitalter des
Kindes bezeichnend, daß der Rat der Krone bei der Erwägung, wie die
auf dieſen Wunſch zu erwartende patriotiſche Opferwilligkeit in fruchtbare
Bahnen gelenkt werden könne, den Beſchluß faßte, der Offentlichkeit eine
umfaſſende Fürſorgeaktion für das Kind zu empfehlen. Die Erwägungen,
welche für das Geſamtminiſterium dabei maßgebend waren, zeigen eine weiſe
Berechnung der Grenzen ſtaatlicher Wirkſamkeit. „Indem der Staat ſeine
Fürſorge dem Kinde zuwendet, ſorgt er für ſeine eigene Zukunft. Aber ſo
groß auch ſein Intereſſe am Schickſale des Kindes iſt, ſo wenig vermag er,
trotz der Fülle ſeiner Machtmittel, hier unmittelbar einzugreifen. Nirgends
iſt er mehr auf die freiwillige Mitarbeit und Hilfe der Geſellſchaft angewieſen
als bei der direkten Fürſorge für das Kind. Er kann nur Einrichtungen
ſchaffen; der Geiſt, der ſie belebt, muß aus den Tiefen des Volksgemütes
aufſteigen. Für das Alter, für im Lebenskampfe geſtählte Menſchen reicht
die Fürſorge der öffentlichen Anſtalten aus. Um aber die Jugend mit
liebender Sorgfalt zu umgeben, dazu bedarf es der freien Zuneigung hilfs⸗
bereiter Frauenherzen und der Umſicht erfahrener Männer, die Mitgefühl und
ſoziales Pflichtbewußtſein zu Liebeswerken treibt“ (Wiener Abendpoſt vom
15. Febr. 1908).
3. Unterrichts: und Bildungsweſen. B. Oſterreich. 125
Dieſe Aufforderung hat erfreulicherweiſe in der Bevölkerung lebhaftes
Echo gefunden, wie zahlreiche Stiftungen und viele Geldſpenden beweiſen,
über deren zweckentſprechende Verwendung erſt die Zukunft entſcheiden wird.
Es iſt zu hoffen, daß dieſe Spenden der Humanität durch Werke der Charitas
ergänzt, verklärt und geſichert werden, denn in dieſer wurzelt endlich „die
freie Zuneigung hilfsbereiter Frauenherzen“ und „das Mitgefühl und ſoziale
Pflichtbewußtſein erfahrener Männer“, die der Aufruf ſelbſt als Krönung
ſeines Werkes betrachtet.
Als eine Schöpfung des Jubiläumsjahres darf auch der Geſetzent⸗
wurf über die Fürſorgeerziehung betrachtet werden, welchen der
Juſtizminiſter Dr Klein am 11. Nov. 1908 dem Abgeordnetenhauſe über⸗
reichte. Dieſe Vorlage ſoll einen Wendepunkt in der Fürſorge für die ge⸗
fährdete Jugend bedeuten und die unerläßliche Ergänzung einer modernen
Reform des Jugendſtrafrechts, die von der Erkenntnis ausgeht, daß unter
Umſtänden von der Erziehung mehr zu erwarten iſt als von der Strafe.
Durch Zuſammenwirken von Staat, Land und Gemeinde und werktätige
Mithilfe der organiſierten Privattätigkeit ſoll mit zulänglichen Mitteln
ſyſtematiſch und umfaſſend der Gefahr begegnet werden, die aus der Ver⸗
wahrloſung der Jugend droht. Näheres über dieſe großangelegte Fürſorge⸗
aktion iſt an anderer Stelle geſagt!, hier fei nur der Wunſch ausgeſprochen,
daß bei der Einrichtung der Bezirksfürſorgeräte auch den wichtigſten ſozialen
Erziehungsfaktoren, der Kirche und der Schule, eine entſprechende — und
nicht nominelle — Vertretung zugeſtanden werde. Erfreulich iſt übrigens,
daß alle Anſtalten zum Schutze von verwaiſten, verlaſſenen, mißhandelten,
verwahrloſten oder mit Verwahrloſung bedrohten Kindern und Jugendlichen
der Aufſicht des Miniſters für Kultus und Unterricht unterſtellt werden
ſollen. Bei der Durchführung des Geſetzes wird wiederum in umfaſſendem
Maße auf die Mitarbeit der Geſellſchaft gerechnet. „Sie wird Anſtalten
zur vorläufigen Unterbringung bereitſtellen, Erziehungsanſtalten erweitern,
ausgeſtalten und neu errichten müſſen. Die Bevölkerung ſelbſt wird zur
Mitarbeit aufgerufen; aus ihren Kreiſen müſſen ſich die opferwilligen Männer
und Frauen finden, die berufen ſind, die Schutzaufſicht zu übernehmen über
Zöglinge in fremden Familien, in der Lehre oder auf Dienſtplätzen und über
ſolche, die vorläufig nur gegen Widerruf aus der Fürſorgeerziehung ent⸗
laſſen wurden.“ Dieſe Worte des amtlichen Motivenberichts zeigen, daß
ſich die Regierung der Wirkſamkeit und des Einfluſſes der ideellen Faktoren
in dieſer Frage wohlbewußt iſt. Möge der richtigen Erkenntnis auch die
rechte Tat folgen!
Durch das ganze Jubiläumsjahr tobte aber leider auch der Lärm
ſchwerer Kämpfe gerade an jenen Stätten, welche berufen wären, der
1 Bol Abſchnitt V, 6: „Rechtswiſſenſchaft“.
126 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
Sammlung und Einigung der verſchiedenen Seiten unſerer Kulturarbeit zu
dienen. Die auf dem 6. allgemeinen öſterreichiſchen Katholikentage (November
1907) von Dr Lueger gehaltene Rede von der Rückeroberung der Univer-
ſitäten für die chriſtliche Weltanſchauung ! und die darauf folgende Hoch⸗
ſchuldebatte im Abgeordnetenhauſe ſchienen nach den Worten eines hervor⸗
ragenden Parlamentariers Anlaß zu geben zu einer „Ouvertüre für fran⸗
zöſiſche Ereigniſſe, von der freiſinnigen Preſſe veranſtaltet, eine Generalprobe,
ob man es in Oſterreich mit einem Kulturkampf verſuchen dürfe“. Schon im
Januar 1908 erdröhnten zu dieſem Kampfe die erſten Kanonenſchläge. Am
18. Jan. hielt Profeſſor Ludwig Wahrmund, Kirdhenredtslehrer an der
Univerſität Innsbruck, ebenda einen populär⸗wiſſenſchaftlichen Vortrag über
„Katholiſche Weltanſchauung und freie Wiſſenſchaft“, den er in Salzburg wieder⸗
holte und in etwas abgeſchwächter Form drucken ließ (München, Lehmann).
Der Vortrag enthielt eine Reihe von Ausdrücken und Sätzen, die man als grobe
Beſchimpfung der katholiſchen Kirche, ihrer Glaubensſätze und religiöſen Ge⸗
bräuche bezeichnen muß. Als Beute feiner durch die ſeichteſte Aufklärungs-
literatur unternommenen Streifzüge bietet Profeſſor Wahrmund ſeinen Leſern
folgende Schlußſätze: „Blicken wir noch einmal zurück! Ein von der eigenen
Dogmatik für unverſtändlich erklärter und in den Augen der modernen
Welt einfach unmöglicher Gottesbegriff. Ein längſt veraltetes, allen
wiſſenſchaftlichen Errungenſchaften der Neuzeit hohnſprechendes Weltbild.
Ein vielfach abergläubiſcher, heidniſch⸗polytheiſtiſcher Kultus, eine rein
formale und äußerliche, in der Hoffnung auf Lohn und der Furcht vor
Strafe gipfelnde Moral. Das ſind die Ergebniſſe unſerer bisherigen Unter⸗
ſuchungen. Und all dies zuſammen nennt ſich katholiſche Weltanſchauung“
(S. 25).
Profeſſor Leopold Fond 8. J., der ſich der Mühe unterzog, Wahr-
munds unſauberes Machwerk auf ſeinen wiſſenſchaftlichen Gehalt zu prüfen
(Katholiſche Weltanſchauung und freie Wiſſenſchaft, Veröffentlichungen des
Akademikerhauſes Innsbruck, Nr 2), fällt über das wiſſenſchaftliche Arbeiten
Wahrmunds in dieſer Flugſchrift folgendes Urteil: „Blicken wir zurück!
Wir fanden eine Arbeit, die den Werken Hoensbroechs und Haeckels und
anderen gleich unzuverläſſigen Schriften von Feinden der Kirche ihre Kennt-
nis der katholiſchen Weltanſchauung entlehnt; eine Arbeit, die in ihrer
Darſtellung einſeitig iſt, ihre Beweisführung auf zahlreiche unrichtige An-
gaben ſtützt und ein objektiv unwahres Zerrbild von der katholiſchen Lehre
entwirft. Und alles dies zuſammen nennt ſich freie Wiſſenſchaft!“
Auch der Proteſtant Dr Viktor Naumann (Pilatus) hat in ſeiner
Schrift „Die zweite Wahrmund⸗Broſchüre“ (Graz, Styria) Wahrmund auf-
merkſam gemacht, daß er „einer der traurigſten Fälſcherarbeiten, die jemals
1 Vgl. dieſes Jahrbuch I 30 73.
3. Unterrichts⸗ und Bildungsweſen. B. Oſterreich. 127
geſchrieben wurden“, nämlich den Werken Hoensbroechs, Glauben geſchenkt,
er bedauert, daß Wahrmund, im hitzigen Streit befangen, „Menſchen und
Dinge nicht mehr objektiv werten könne“, und warnt ihn, „zu ſchmähen und
zu ſchelten, wo er beweiſen ſolle“.
Zunächſt wurde Wahrmunds Broſchüre am 2. März von der Preß⸗
behörde mit Beſchlag belegt, und der päpſtliche Nuntius in Wien erhielt
vom Miniſterpräſidenten die Zuſicherung, daß Wahrmund in Innsbruck
nicht mehr leſen werde. Dagegen erklärte der liberale Unterrichtsminiſter
Marchet im Budgetausſchuſſe, Wahrmund habe nur von dem ihm geſetzlich
zuſtehenden Rechte der freien wiſſenſchaftlichen Forſchung Gebrauch gemacht,
von einer Maßregelung desſelben könne und dürſe keine Rede ſein. — Die
Proteſtverſammlungen der katholiſchen Bevölkerung Oſterreichs hatten zur
Folge, daß Wahrmund noch im April einen Urlaub antrat und daß ſeine
Vorleſungen für das Sommerſemeſter infolge Fakultätsbeſchluſſes entfielen.
Die Angelegenheit ſchien damit auch für die Offentlichkeit erledigt, ſo daß
ſelbſt die deutſchfreiheitlichen Abgeordneten erklärten, die autonome Ent⸗
ſcheidung der Univerſität müſſe unter allen Umſtänden reſpektiert werden.
Um nun eine ſolche Beilegung des Streites zu verhindern, wurde die
akademiſche Jugend ins Treffen geſchickt. Eine Proteſterklärung der frei ⸗
ſinnigen Studentenſchaft Innsbrucks forderte Garantien für die Straflofig-
keit Wahrmunds und drohte im Falle eines ablehnenden Beſcheides mit
einem Generalſtreik der Studentenſchaft in Innsbruck, Graz, Prag und
Wien, in welchen Städten der Freiſinn ſeine Anhänger entſprechend vor⸗
bereitet und organiſiert hatte. Die Erklärungen der akademiſchen Senate,
welche beſchwichtigen ſollten, boten der Studentenſchaft Anlaß, die Ein⸗
haltung der feierlich gegebenen Verſprechen auf Schutz der Lehrfreiheit zu
fordern. In Innsbruck ließ ſich der Senat in Kompromißverhandlungen
mit der Studentenſchaft ein, bei denen er natürlich den kürzeren zog.
Der 16. Mai brachte an der Grazer Univerſität eine große Prügelei
zwiſchen der freiſinnigen Studentenſchaft und 200 Bauern, die als Gäſte
einer Promotion anwohnen wollten. Das Parlament ging über die dies⸗
bezüglichen freiſinnigen Dringlichkeitsanträge zur Tagesordnung über.
Unterdeſſen war Wahrmund von ſeinem Urlaub zurückgekehrt und hatte
als formalen Proteſt gegen den Fakultätsbeſchluß ſeine Vorleſungen am
1. Juni wieder aufgenommen, worauf der Statthalter am 2. Juni ſämt⸗
liche Vorleſungen an der Univerſität Innsbruck einſtellte. Darauf ant⸗
wortete die freiheitliche Studentenſchaft am 4. Juni mit dem Generalſtreik
der Hochſchulen.
Die Verſammlung der Rektoren ſämtlicher Hochſchulen, die für den
13. Juni ins Unterrichtsminiſterium berufen war, erklärte, durch die Ver⸗
ſicherungen des Unterrichtsminiſters über die Autonomie der Hochſchulen
zur vollen Überzeugung gelangt zu ſein, daß für die Studierenden jede
128 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
Grundlage dafür fehle, um zu dem durchaus unzuläſſigen Mittel des Streiks
zu greifen. Am 14. Juni wurde Profeſſor Wahrmund nach Wien beſchieden
und hier vor die Wahl geſtellt, ſich penſionieren zu laſſen oder feine Ver⸗
ſetzung anzuſtreben. Er erklärte ſich bereit, auf Innsbruck zu verzichten und
eine Lehrkanzel in Prag anzunehmen.
Die freiheitliche Studentenſchaft entſchloß ſich für die Fortſetzung des
Streiks, der erſt am 22. Juni eingeſtellt wurde. Eine Kundmachung des
Rektors v. Ebner an der Wiener Univerſität nannte das Vorgehen der
Studentenſchaft Oſterreichs „eine opferwillige und impoſante Kundgebung“
und rechtfertigte ſo nachträglich noch das ſcharfe Wort des Tadels, das der
Kaiſer gelegentlich der Grundſteinlegung zur niederöſterreichiſchen Landes⸗
findelanſtalt in Wien über den Skandal an den Hochſchulen und über die
Haltung der Rektoren ausgeſprochen hatte. Das Opfer, den Vorleſungen
ferne zu bleiben, fällt der akademiſchen Jugend bekanntlich nicht ſchwer,
und „impoſant“ war der finn- und zweckloſe Hochſchulſtreik wohl auch nur
für den Nichteingeweihten. Derartige Reden ſind aber wohl geeignet,
Dünkelhaftigkeit und Selbſtüberſchätzung im Kreiſe der Hochſchuljugend zu
nähren.
Wohin die planmäßige „Erziehung zur Freiheit von aller Autorität“
endlich führt, beweiſt die im Spätherbſt erſchienene Streitſchrift „Der öſter⸗
reichiſche Hochſchulkampf im Sommer 1908“, herausgegeben vom Vertrauens-
männerkomitee der freiheitlichen Studentenſchaft Wiens (Innsbruck, Edlinger).
Hier waltet keine Rückſicht mehr auf Gründe idealer Art. Nur die Taktik der
brutalen Gewalt wird im Stile der Sozialdemokratie empfohlen. „Das einzige
Mittel, die Maſſen der Städte ebenſo wie die ſchlafenden Bureaukraten
und redſeligen Parlamentarier aufmerkſam zu machen, iſt die Straße. Die
Straße, das iſt der heilige Boden, der ſeit jeher allen revolutionären Be⸗
wegungen die wirkungsvolle Reſonanz verliehen hat. Und jeder Kampf
gegen Rückſtändigkeiten iſt in ſeinem Weſen revolutionär. — Darum
muß er die revolutionäre Straße betreten.“ Am Schluſſe der Schrift aber
wird die Hoffnung ausgeſprochen, daß die großen Studentenmaſſen „nicht
außer acht laſſen werden, was ihre Rolle in dieſer und jeder kommenden
Geſellſchaftsordnung iſt, die Propheten und Lenker der Völker zu ſein!“
Zu dieſem Denkmal jugendlicher Selbſtüberhebung hat Profeſſor Friedrich
Jodl ein Vorwort geſchrieben, in welchem er „die wiſſenſchaftlichen Hoheits⸗
rechte“ der Univerſitäten proklamiert und einerſeits den Fortbeſtand und die
Wirkſamkeit der Kirche als die „merkwürdigſte und beſchämendſte Erſcheinung
in der Geiſtesgeſchichte des 19. Jahrhunderts“ bejammert, anderfeits dieſem
„tropiſchen Gewächs menſchlicher Wünſche und menſchlicher Einbildungs⸗
kraft“ einen ſichern Untergang prophezeit, wenn ſie ſich nicht mit dem
modernen Wiſſenſchaftsbetriebe des Unglaubens endlich ausſöhne. — Difficile
est, satiram non scribere.
3. Unterricht3- und Bildungsweſen. B. Oſterreich. 129
In geiſtvoller und höchſt gewandter Weiſe hat die Hochſchulkämpfe dieſes
Jahres in Oſterreich A. J. Peters beleuchtet in ſeiner Kampfſchrift
„Klerikale Weltauffaſſung und freie Forſchung. Ein offenes Wort an
Profeſſor Dr Karl Menger“ (Wien, Eichinger). Der Verfaſſer konſtatiert
als Fazit des Hochſchulſtreikes drei ſehr bedenkliche Tatſachen. „1. In der
freiheitlichen Studentenſchaft iſt die Achtung vor dem Autoritätsprinzip
gründlichſt erſchüttert. 2. Freiſinnige Hochſchullehrer haben ſich offen als
Schürer und Förderer der Rebellion der freiheitlichen Studenten gegen die
Autorität erwieſen. 3. Träger der ſtaatlichen Autorität haben vor der
Rebellion kapituliert.“ Der Verfaſſer iſt auch den Urſachen dieſer be⸗
ſchämenden Tatſachen nachgegangen, und dieſe Partien (S. 318 ff) zählen
zu den beachtenswerteſten des hochaktuellen Buches, einerſeits wegen ihres
Wahrheitsmutes, anderſeits wegen ihres Zurückgehens auf die letzten
treibenden Kräfte.
Es wäre intereſſant feſtzuſtellen, welchen Einfluß die Hochſchulkämpfe
dieſes Jahres auf das Anwachſen des Vereins zur Errichtung einer katho⸗
liſchen Univerſität in Salzburg geübt haben. Das Vereinsvermögen, das
gegen 3 Mill. Kronen beträgt, und die gegenwärtige politiſche Lage laſſen
die Eröffnung einer katholiſchen Univerſität für die nächſte Zeit noch nicht
erhoffen. Daher befremdet es nicht, daß ſich auch aus katholiſchen Kreiſen
Stimmen erheben, welche für eine andere Taktik im Hochſchulkampfe ſprechen.
So der anonyme Verfaſſer einer Flugſchrift „Zur Frage einer katholiſchen
Univerſität in Oſterreich“ (Linz, Zentraldruckerei). Der Verfaſſer glaubt,
daß durch das geplante Unternehmen dem Streben der Gegner nach Ent⸗
chriſtlichung der beſtehenden Univerſitäten nur Vorſchub geleiſtet würde, und
empfiehlt, „mit vereinten Kräften und mit weiſer Ausnützung aller Ver⸗
hältniſſe den glaubensfeindlichen Bann, in den unſere ſtaatlichen Univerſi⸗
täten zur Zeit verſtrickt ſind, zu brechen, den Katholiken ihre Rechte wieder⸗
zugeben, die Univerſitäten aus Bollwerken moderner Aufklärung wieder zu
Quellen echt wiſſenſchaftlichen Lebens umzugeſtalten, an denen jeder, der
aufrichtig die Wahrheit ſucht, ſie finden und in vollen Zügen ſchlürfen kann“.
Oſterreichs Mittelſchulen ſtanden im Jahre 1908 unter dem Zeichen
der Reform. Vom Miniſterium für Kultus und Unterricht war vom
21. bis 25. Jan. nach Wien eine Mittelſchul⸗Enquete einberufen worden,
an der neben den berufs⸗ und amtsmäßigen Vertretern der Pädagogik auch
eine Anzahl von Politikern, Induſtriellen und Frauenrechtlerinnen teil:
nahmen. Als nächſte Folge der hier verhandelten Fragen iſt ein Miniſterial⸗
erlaß über eine neue Maturitätsprüfungsordnung zu betrachten,
der das kaudiniſche Joch dieſer Prüfung etwas leichter paſſierbar geſtaltet.
Es war ein Gebot der Gerechtigkeit, die Befreiung der beſten Schüler
von der Prüfung in manchen Gegenſtänden aufzuheben und die Prüfung
für alle gleich zu geſtalten. Bei der Bearbeitung der e Themen
Jahrbuch der Zeit⸗ und Kulturgeſchichte. II.
130 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
dürfen den Kandidaten orientierende Bemerkungen gegeben werden und neben
dem griechiſchen darf auch das lateiniſche Lexikon Verwendung finden. Der
Kandidat erfährt jetzt die Noten feiner ſchriftlichen Leiſtungen, er hat in
gewiſſen Fällen die Wahl, in Latein oder Griechiſch geprüft zu werden,
ungünſtige ſchriftliche Leiſtungen ſchließen ihn nicht von der mündlichen
Prüfung aus uſw. Es wurde nicht bloß die Zahl der Prüfungsgegenſtände,
ſondern auch in einzelnen der Umfang des Prüfungsſtoffes vermindert. Den
Prüfungskommiſſionen wird wiederholt die Pflicht eingeſchärft, nicht auf das
fachliche Detailwiſſen, ſondern auf das Geſamtwiſſen des Kandidaten ihr
Urteil über ſeine geiſtige Reife zu gründen.
Ein zweiter Erlaß, der die Errichtung eines neuen Mittelſchultypus
anordnet, iſt ein erſter Verſuch, durch Reform⸗Realgymnaſien mit
Latein und ohne Griechiſch, aber mit einer modernen Sprache das Gymnaſium
wie die Realſchulen von jenen Schülern zu entlaften, welche keine Hochfdul-
bildung anſtreben. Die geringe Zahl der Anmeldungen für dieſen aus fozial-
politiſchen Gründen zu begrüßenden Mittelſchultypus beweiſt, daß das große
Publikum über Sinn und Bedeutung desſelben nicht genug aufgeklärt war,
vielleicht auch der Neuerung — wegen der nicht genug präzifierten Berech⸗
tigung der künftigen Abſolventen — Mißtrauen entgegenbrachte.
Eine ſchon ſeit geraumer Zeit angekündigte Reform der Lehrer
bildungsanſtalten iſt auch in dieſem Jahre noch nicht erfolgt, doch
ſteht zu erwarten, daß eine Erweiterung auf 5 Jahrgänge, von denen 4 der
allgemeinen und das letzte Jahr ausſchließlich der Berufsbildung der Lehramts⸗
kandidaten dienen ſoll, zur Durchführung gelangen wird.
Eine neugegründete „Oſterreichiſche Zeitſchrift für Lehrerbildung“ (Wien,
Tempsky) ſoll der Hebung und Vertiefung der Lehrerbildung und des ge⸗
ſamten öſterreichiſchen Volksſchulweſens dienen. Eine der wichtigſten Auf⸗
gaben wird für ſie die Löſung der Fragen nach der zweckentſprechendſten
Vorbildung der Seminarlehrer und nach der zeitgemäßen Fortbildung der
Lehrerſchaft ſein. Welch weites Feld ſich hierin der öffentlichen und privaten
Betätigung auftut, zeigt die höchſt erſprießliche Tätigkeit der pädagogiſchen
Sektion der Leo-Geſellſchaft unter dem Vorſitz von Hofrat Dr K. F.
v. Kummer, weiter die am Pädagogium in Wien beſtehende Landes⸗Lehrer⸗
akademie mit ein. und mehrjährigen Kurſen zur Fortbildung der Lehrer⸗
ſchaft, an welchen eine Reihe von Hoch-, Mittel- und Volksſchullehrern als
Dozenten wirken und damit ein ſchönes Beiſpiel für die Einheit des Lehr⸗
ſtandes geben. Die zu fruchtbaren Schulreformen notwendige hiſtoriſche
Beſinnung will die öſterreichiſche Gruppe der Geſellſchaft für deutſche
Erziehungs- und Schulgeſchichte fördern, welche unter Leitung des
Hofrats Dr Ferd. Maurer eine ſehr rege Tätigkeit entfaltet und bisher
9 Bände hiſtoriſcher Dokumente zur Schulgeſchichte publiziert hat. Die
rationale Seite der Pädagogik pflegt in erſter Linie das „Jahrbuch des
8. Unterrichts⸗ und Bildungsweſen. B. Oſterreich. 131
Vereins für chriſtliche Erziehungswiſſenſchaft“, das unter Redaktion des
Verfaſſers dieſer Zeilen bei Köſel in Kempten erſcheint. Im Gewirr der
Zeit- und Modeirrtümer, die das Gebiet des Erziehungsweſens gegenwärtig
zu überſchwemmen drohen, dient dieſes Jahrbuch der Beſinnung auf die
Prinzipien und zeigt, auf dem geſicherten Boden eines echten Idealismus
fußend, die Lebenskraft chriſtlicher Erziehungsweisheit. Eine einleitende
Abhandlung O. Willmanns iſt trotz ihrer Knappheit das Gehaltvollſte, was
über die Fundamentalbegriffe der Erziehungswiſſenſchaft im 19. Jahrhundert
geſchrieben worden iſt. Eine pädagogiſche Jahresrundſchau nimmt vom
Standpunkt der Willmannſchen Didaktik aus Stellung zu den verſchiedenſten
Zeit- und Streitfragen der Gegenwart, die das Gebiet des Erziehungs⸗ und
Bildungsweſens tangieren.
Im Stande der Volksſchullehrer Deutſch⸗Oſterreichs beginnt der
Freiſinn, der noch vor kurzem ausſchließlich dominiert hatte, nach und
nach einer beſſeren Erkenntnis zu weichen. Zwar ſteht die ſtärkſte Lehrer⸗
vereinigung, der Deutſch⸗öſterreichiſche Lehrerbund, noch durchaus
auf dem Boden des einſeitigſten und ſeichteſten Liberalismus und verfrachtet
in feinem Organe, der „Deutſch⸗öſterreichiſchen Lehrerzeitung“, faſt nur Auf⸗
kläricht unſauberſter Art, indeſſen iſt mit dieſem Verfahren der anſtändige
Teil der freiſinnigen Lehrerſchaft nicht einverſtanden. Das zeigt ſchon das
rapide Anwachſen der chriſtlich geſinnten Lehrerſchaft, die ſich im Katho⸗
liſchen Lehrerbund zuſammengefunden hat. Er zählt 6625 Mitglieder
in 25 Lehrervereinen, unter denen 19 aus Deutſchen beſtehen. Der Bund
verfügt über 8 Fachzeitſchriften, darunter über 4 deutſche. Bundesorgan
iſt „Die Pädagogiſche Warte“, die in Wien erſcheint. Die Katecheten
Deutſch⸗Oſterreichs beſitzen in den „Chriſtlich⸗pädagogiſchen Blättern“ ein
Organ für alle Fragen des Religionsunterrichts, das von Joh. Pichler
vortrefflich geleitet wird.
Die Forderungen des katholiſchen Schulprogramms vertritt der Katho⸗
liſche Schulverein für Oſterreich mit ſeinem verdienten Präſidenten
Dr Kaſpar Schwarz an der Spitze. Der Verein zählte im vergangenen
Jahre, dem 22. ſeines Beſtandes, 82 000 Mitglieder, durch deren Beiträge
in 6 Kronländern 36 Erziehungs- und Unterrichtsanſtalten erhalten wurden.
In weit über 1000 Verſammlungen ſucht er alljährlich das Gewiſſen des
chriſtlichen Volkes für die Schulfrage zu ſtärken.
Die kulturkämpferiſchen Beſtrebungen auf dem Gebiete des Jugend⸗
unterrichts haben ſich vor einigen Jahren im Verein Freie Schule ein
Zentrum geſchaffen. Der Verein wird von dem in Oſterreich zwar ver⸗
botenen, aber ſehr einflußreichen Logentum unterſtützt und von der jüdiſch⸗
freiſinnigen Preſſe begünſtigt. Die Mitglieder — im Jahre 1908: 20 000
in 120 Ortsgruppen — ſtellt der extremſte Freiſinn und die Sozial⸗
demokratie.
9 ®
132 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
Mit Beginn des Schuljahres 1908/1909 wurde auch mit der Umwand⸗
lung der gewerblichen Fortbildungsſchulen in Fachſchulen für die
einzelnen Gewerbe begonnen. Die Behörden und Vertretungskörper ver-
ſprechen ſich davon für die Zukunft der Gewerbe einen tüchtig geſchulten
Nachwuchs und fördern darum dieſe Reform in tunlichſter Weiſe. Der
Staat gewährt Subventionen, richtet Kurſe zur Heranbildung geeigneter
Lehrkräfte ein und ſtellt die Lehrmittel. Für die großen Koſten haben die
Gewerbetreibenden, das Land, die Gemeinde ſowie die Handels. und Ge⸗
werbekammern aufzukommen; die Genoſſenſchaften allein für 45%. Sehr
verſchieden ſind die Meinungen der Intereſſenten über die Wahl der
Lehrſtunden in dieſen Pflichtſchulen der Lehrlinge. Derzeit wird Sonntag⸗
vormittag und Montagabend durch je 2 Stunden, Mittwochabend durch
4 Stunden unterrichtet. Vielleicht dürfte es ſich empfehlen, die Unterrichts
zeit der Natur der einzelnen Betriebe anzupaſſen. Vorläufig iſt mit dem
Umſtande zu rechnen, daß dieſe fachlichen Fortbildungsſchulen noch keine
eigenen Gebäude beſitzen und nur in andern Schulen zu Gaſte ſind. Wir
hoffen, im nächſten Jahre von dieſem Reformwerk Erfreuliches berichten
zu können.
4. Die Preſſe in Deutſchland.
Don Tony Kellen.
Der große Aufſchwung, den das Zeitungsweſen in den letzten Jahr⸗
zehnten im Reich genommen, hielt zwar auch im Jahre 1908 an, war aber
nicht mehr von der gleichen Bedeutung wie in den Jahren der wirtſchaft⸗
lichen Hochkonjunktur. Namentlich bei den volkstümlichen Blättern und der
eigentlichen Arbeiterpreſſe war die Zunahme an Abonnenten und Inſeraten
geringer als in den vorhergehenden Jahren. Es iſt ja klar, daß in Zeiten
wirtſchaftlichen Stillſtandes auch das Zeitungsgewerbe unter der allgemeinen
Ungunſt der Verhältniſſe zu leiden hat. Immerhin iſt noch kein Rückgang,
ſondern nur eine geringere Zunahme als in den vorhergehenden Jahren zu
bemerken.
Wichtige neue Gründungen ſind auf dem Gebiete des Zeitungsweſens
nicht zu verzeichnen. Es iſt dies auch erklärlich, da für eine Zeitung im
großen Stil ſehr erhebliche Kapitalien und bedeutende Fachkräfte erforderlich
find. Dazu kommt, daß im ganzen Reiche bereits jeder irgendwie nennens⸗
werte Ort ſeine eigene Zeitung oder ſogar mehrere Blätter beſitzt, ſo daß
es für die an den großen Verkehrszentralen erſcheinenden Zeitungen durch-
aus nicht leicht iſt, eine große Abonnentenzahl in der Provinz zu finden.
In Berlin ſelbſt zeigt es ſich immer mehr, daß das Zeitungsweſen einen
ausgeſprochen kapitaliſtiſchen Charakter erhält. Es braucht nur auf die
4. Die Preffe in Deutſchland. 133
Unternehmen von Scherl, Moſſe und Ullſtein hingewieſen zu werden. Die
Macht dieſer Zeitungsmagnaten zwingt auch die andern Zeitungen zu einer
fortſchreitenden Zentraliſation. Nachdem vor einigen Jahren die demokratiſche
„Volkszeitung“ von Moſſe angekauft worden iſt und ſeither unter teilweiſer
Verwendung des Satzes des „Berliner Tageblatts“ hergeſtellt wird, gingen
die „Staatsbürger⸗Zeitung“ und das Stöckerſche „Reich“ eine ähnliche Ver⸗
bindung mit den „Berliner Neueſten Nachrichten“ und der „Deutſchen
Zeitung“ ein. Ferner verband ſich die einſt ſo angeſehene „National⸗
Zeitung“ mit der „Poſt“. Dieſe Blätter können ſich offenbar nur mehr
dadurch halten, daß fie ihre Redaktions- und Herſtellungskoſten verringern
und ſich miteinander verbinden. Solche Parteiorgane können trotzdem nicht
ſo viel an Stoff und Papier liefern wie die Blätter von Scherl, Moſſe
und Ullſtein, und ſo kann man mit Sicherheit vorausſehen, daß die haupt⸗
ſtädtiſche Preſſe bald ein Monopol weniger Kapitaliſten ſein wird. Die
Zeiten ſind eben vorbei, wo ein einzelner Journaliſt eine Zeitung begründen
und zugleich ein politiſches Programm verkörpern konnte.
Die „Berliner Morgenpoſt“ bezeichnet ſich mit über 350 000 Abonnenten
als Deutſchlands verbreitetſte Tageszeitung. Es iſt eines jener Blätter, die
vorzugsweiſe der Neugier und der Senſation dienen. Berliner Zeitungen
dieſer Art vermögen im Reiche aber nicht annähernd eine ſolche Verbreitung
zu erlangen wie Pariſer Neuigkeitsblätter in Frankreich; denn der Petit
Parisien hat eine Auflage von 1½ Mill. täglich, das Petit Journal von
etwa 1 Mill. Dazu kommen trotzdem noch Zeitungen mit ſehr hoher Auf⸗
lage in der Provinz, denn La Petite Gironde in Bordeaux druckt 250 000
Exemplare, La Depeche in Toulouſe 245000. Von den franzöſiſchen
Provinzzeitungen hat aber keine eine mehr als örtliche Bedeutung, während
in Deutſchland gerade in der Provinz Zeitungen wie „Kölniſche Volks-
zeitung“, „Kölniſche Zeitung“ und „Frankfurter Zeitung“ erſcheinen, die
in Bezug auf Nachrichtendienſt und Reichhaltigkeit von keinem Berliner
Blatt übertroffen werden.
In der Begründung der amtlichen Vorlage betreffend die Anzeigenſteuer
wird die Zahl der in Deutſchland erſcheinenden Zeitungen und Zeitſchriften
mit Anzeigen auf 3689 Tageszeitungen und mehr als einmal wöchentlich
erſcheinende Blätter und auf 4981 wöchentlich einmal oder in längeren
Zeitabſchnitten ausgegebene Blätter berechnet. Die Einnahmen dieſer Zeitungen
und Zeitſchriften aus ihrem Anzeigenteil wird auf 412 302 648 Mark im
Jahr geſchätzt. Hierbei darf allerdings nicht außer acht gelaſſen werden,
daß bei den meiſten Zeitungen ein erheblicher Teil der Herſtellungskoſten
durch die Einnahmen aus den Anzeigen gedeckt werden muß.
Eine erſchöpfende Statiſtik des deutſchen Zeitungsweſens be—
ſitzen wir noch immer nicht. Eine ſolche Arbeit könnte eben nur mit einer
erheblichen finanziellen Beihilfe des Vereins deutſcher Zeitungsverleger unter-
134 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
nommen werden. Da dieſer aber ſeine Tätigkeit auf rein praktiſche Fragen
beſchränkt, müſſen wir uns mit einzelnen ſtatiſtiſchen Ermittlungen begnügen.
Nach H. Keiters Handbuch der katholiſchen Preſſe (3. Aufl. Eſſen,
Fredebeul u. Koenen) iſt im Deutſchen Reich die Zahl der katholiſchen
politiſchen Zeitungen und kirchlich ⸗politiſchen Zeitſchriften von 186 im Jahre
1880 auf 520 im Jahre 1908 geſtiegen. Es erſchienen nämlich von den
katholiſchen Zeitungen in deutſcher Sprache:
A viermal dreimal zweimal einmal Summa
wöchentl. wöchentl. wöchentl. wöchentl. wöchentl. Blätter
1880 60 — 38 42 46 186
1890 94 — 48 55 75 272
1900 171 7 94 59 88 419
1908 255 18 102 65 60 500
Auf die einzelnen Länder verteilen ſich die katholiſchen Zeitungen jetzt
wie folgt:
1. Preußen 319, und zwar Rheinprovinz und Hohenzollern 174, Weft-
falen 92, Schleſien 17, Hannover 14, Heſſen⸗Naſſau 11, Brandenburg 4,
Oſtpreußen 3, Sachſen 2, Weſtpreußen und Poſen je 1; 2. Bayern 100;
3. Baden 41; 4. Württemberg 25; 5. Elſaß⸗Lothringen 11; 6. Groß⸗
herzogtum Heſſen 9; 7. Großherzogtum Oldenburg 2; 8. Großherzogtum
Braunſchweig 1; 9. Königreich Sachſen 1. Dazu kommen 3 franzöſiſche
Blätter in Elſaß⸗Lothringen, 2 franzöſiſche in Malmedy und 15 pol⸗
niſche.
Wirklich neu gegründet wurden ſeit 1900 nur 31 Zeitungen, die übrigen
find entweder fog. Ableger oder ältere Zeitungen in katholiſchen Gegenden,
die früher neutral waren und erſt neuerdings eine konfeſſionelle Färbung
angenommen haben.
Über die Verbreitung der katholiſchen Preſſe iſt es natürlich
ſchwer, durchaus genaue Angaben zu machen. In dem erwähnten neuen
Handbuch von Keiter hat mehr als die Hälfte der Verleger die Auflagen
ihrer Blätter angegeben. Dieſe beziffern ſich für die politiſchen Blätter im
Deutſchen Reich auf 1619000 Abonnenten (281 Blätter mit durchſchnitt⸗
lich 5762 Abonnenten). Dazu kommen 219 Blätter, deren Durchſchnitts⸗
auflage man wohl auf etwa 1500 ſchätzen darf. Dieſe 219 Blätter hätten
demnach etwa 328 500 Abonnenten, ſo daß ſich für ſämtliche politiſchen
Blätter katholiſcher Richtung eine Geſamtauflage von 1 947 500 Exemplaren
oder faſt 2 Mill. ergeben würde.
Was die proteſtantiſche Tagespreſſe ſowie die politiſchen und
- fozialpolitifchen Blätter betrifft, jo führt das „Verzeichnis der evangeliſchen
Preſſe“ (Hamburg, Schlößmann) im ganzen nur 26 mit einer Geſamtauflage
von 131290, darunter nur 11 Tagesblätter mit einem Leſerkreis von etwa
4. Die Preſſe in Deutſchland. 135
35000 an. Es iſt aber ſelbſtverſtändlich, daß hierbei nicht die zahlreichen
Zeitungen in Betracht gezogen ſind, die, ohne einen ausgeſprochen chriſtlichen
Charakter zu haben, doch im weſentlichen proteſtantiſche Anſchauungen und
Intereſſen vertreten. Außerdem find auch noch die zahlreichen General.
anzeiger und ähnliche Blätter zu berückſichtigen, die, ſelbſt wenn ſie in
Gegenden gemiſchter Konfeſſion erſcheinen, ſtets nach der proteſtantiſchen
Seite neigen.
Der auf dem ſozialdemokratiſchen Parteitag in Nürnberg erſtattete Bericht
über den Stand der ſozialdemokratiſchen Preſſe im Jahre 1907
wurde, was das Wachstum betrifft, als nicht günſtig bezeichnet. Ein ſozial⸗
demokratiſches Preßbureau, das eine eigene Korreſpondenz für die Partei-
blätter herausgibt, wurde im Juli 1908 errichtet.
Die Lage der polniſchen Preſſe wird mit wenigen Ausnahmen als
ſehr ungünſtig geſchildert. Die polniſchen Zeitungen haben einen Nachrichten⸗
dienſt, wie ihn die mittleren deutſchen Zeitungen ſchon vor 30 Jahren hatten.
Sie verfügen allerdings über geringe Mittel, da ſie nur wenig Anzeigen
haben. Trotzdem haben die Verleger polniſcher Zeitungen neuerdings be⸗
ſchloſſen, Anzeigen in deutſcher oder in deutſcher und polniſcher Sprache
nicht mehr aufzunehmen.
Über den Charakter der modernen Preſſe hat ſich Profeſſor
Dr Adolf Koch (Heidelberg) in einem bemerkenswerten Aufſatz in den
„Hochſchulnachrichten“ (1908, Nr 4) geäußert. Er weiſt dabei den Vorwurf
der Leichtfertigkeit und Lügenhaftigkeit zurück, der ſo vielfach gegen die
Preſſe erhoben wird, ſobald ein einzelner Irrtum in einer Zeitung enthalten
war. Anderſeits rügt er aber auch ſcharf die Pflege des Senſationellen
und Pikanten in den Zeitungen. Er erinnert daran, daß eine große
deutſche Zeitung für einen ausländiſchen Prozeß (vermutlich den Dreyfus⸗
Prozeß) mehr als 80000 Mark ausgegeben hat, dagegen eine Ausgabe von
400 Mark für eine regelmäßige Berichterſtattung aus dem oſtafrikaniſchen
Schutzgebiet zu hoch fand. — Schon in Bd! dieſes Jahrbuches habe ich be⸗
tont, daß öde politiſche Erörterungen und ſenſationelle Berichte ſo viel Raum
beanſpruchen, daß für ernſthafte Beiträge kein genügender Platz mehr übrig
bleibt. Daraus erklärt es ſich auch, daß ſich neuerdings immer öfter
(3. B. in den Grenzboten) Stimmen erheben, die ſich gegen die Lektüre
der Tageszeitungen oder wenigſtens für eine erhebliche Einſchränkung aus⸗
ſprechen.
Über den Schmutz in der Preſſe ift im preußiſchen Abgeordnetenhaus
(28. und 29. Jan. 1908) von den Vertretern mehrerer Parteien lebhaft
Klage geführt worden, und der Juſtizminiſter hat dabei erklärt, daß er die
Gerichtsbehörden darauf hingewieſen habe, daß bei Verhandlungen über
Sittlichkeitsverbrechen mehr als bisher die Offentlichkeit ausgeſchloſſen
werden müſſe.
136 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
Der 12. Internationale Preſſe⸗Kongreß hat im September
1908 in Berlin getagt. Er iſt dort mit Ehren empfangen worden, wie ſie
der deutſchen Preſſe bisher nie zu teil geworden ſind, aber leider nahmen
die Feſtlichkeiten und Vergnügungen einen zu breiten Raum ein. Ein
Berliner Blatt vermochte ſogar das Bankett im Zoologiſchen Garten als
den „Höhepunkt“ des Kongreſſes zu bezeichnen! Die Verhandlungen er⸗
gaben nichts Neues. Von den Entſchließungen ſei folgendes erwähnt:
„Der 12. Internationale Preſſe⸗Kongreß gibt dem Wunſche Ausdruck, daß
die Preſſe⸗Vereinigungen mehr und mehr die Verſicherungs einrichtungen
ausbauen. Er begrüßt die Idee der Gründung internationaler Verſicherungs⸗
einrichtungen für die Preſſe, die zum Ziele haben, das Werk der Penfions-
und Hinterbliebenenverſicherung über die Journaliſten aller Länder im Geiſte
internationaler Solidarität auszudehnen.“ Die Durchführung dieſes Wunſches
liegt leider noch in recht weiter Ferne. Sie wird auch zum Teil dadurch
überflüſſig werden, daß in Deutſchland mit der in Ausſicht genommenen
Privatbeamtenverſicherung auch die Zeitungsangeſtellten endlich einmal wenig⸗
ſtens gegen die größte Not geſchützt werden ſollen.
Die Organiſation der Journaliſten läßt noch immer ſehr zu
wünſchen übrig. Es beſteht zwar eine ganze Reihe einzelner Vereine und
Verbände, aber keine große, das ganze Reich umfaſſende Organiſation der
Redakteure. Ob es dem aus einem unbedeutenden Verein entſtandenen
„Bund deutſcher Redakteure“ gelingen wird, hierin Wandel zu ſchaffen,
bleibt vorerſt abzuwarten.
Da die Mißſtände, die durch die Abonnenten verſicherung ver⸗
urſacht werden, immer größer geworden ſind, haben auch die Regierungen
und das Aufſichtsamt für das Verſicherungsweſen ihnen ihre Aufmerkſamkeit
zugewandt, und Dr Nieberding, der Staatsſekretär des Reichsjuſtizamts,
hat am 1. Mai im Reichstag erklärt, es werde vorausſichtlich nichts anderes
übrig bleiben, als den Weg der Geſetzgebung zu beſchreiten, um ſolche
ſpekulative Manöver wie die Abonnentenverſicherung zu verhindern. In⸗
zwiſchen iſt auch beim Reichstag ein Antrag zu einem Geſetz eingegangen,
wonach jegliche Abonnentenverſicherung verboten ſein ſoll. Es iſt ſehr
wahrſcheinlich, daß der Reichstag dieſer Vorlage ſeine Zuſtimmung erteilen
wird. Dadurch würde ein wahrer Krebsſchaden des modernen Zeitungs-
gewerbes beſeitigt werden.
Nachdem 1906 der Abgeordnete Dr Burckhard (Reformpartei) in der
Steuerkommiſſion des Reichstags einen Antrag auf Einführung einer An⸗
zeigenſteuer geſtellt hatte, der aber damals wieder zurückgezogen wurde,
hat im November 1908 die Reichsregierung dem Reichstag unter andern
Steuerentwürfen, die zur Durchführung der Reichsfinanzreform dienen ſollen,
auch den Entwurf einer Anzeigenſteuer unterbreitet, deren Ertrag auf
33 Mill. Mark geſchätzt wird. Wenn auch hierin der Ertrag für die
4. Die Preſſe in Deutſchland. 137
Steuer auf Plakate und andere Reklamen durch Wort und Bild in öffent⸗
lichen Straßen, Plätzen und Räumen einbegriffen iſt, und wenn auch der
Entwurf vorſieht, daß die Steuer von dem Anzeigenden erhoben werden
ſoll, ſo würden doch in erſter Linie die Zeitungsunternehmen davon be⸗
troffen werden, und es unterliegt keinem Zweifel, daß eine ſolche Steuer das
Zeitungsgewerbe erheblich belaſten und erſchweren würde. Bei der großen
Konkurrenz, die ſchon jetzt unter den Zeitungen und Zeitſchriften herrſcht und
die vielfach in einem Wettlauf um Erlangung von Anzeigen und in einem
Unterbieten der Preiſe zum Ausdruck gelangt, wird es unausbleiblich ſein,
daß viele Verleger ſich bereit erklären werden, die Anzeigenſteuer ſelbſt zu
tragen. Dies wird hauptſächlich bei der mittleren und kleineren Preſſe der
Fall ſein, während große Zeitungsunternehmen die Steuer ohne Mühe auf
die Inſerenten abwälzen können. So werden die ſog. Inſeratenplantagen
dadurch kaum berührt, während die ausgeſprochen politiſche Preſſe in ihren
mittleren und kleinen Organen ſchwer geſchädigt wird. Und das entbehrt
nicht einer gewiſſen Ironie, denn gerade die politiſche Preſſe war es, die
— je nach ihrer Richtung — bald für größere Ausgaben für Heer und
Marine, bald für höhere Beſoldung der Beamten, bald für größere Auf⸗
wendungen zu ſozialpolitiſchen Zwecken eintrat, ſo daß, als die für dieſe
Zwecke nötigen Mittel beſchafft werden ſollten, die Regierung glaubte,
auch von der Preſſe beſondere Opfer fordern zu können. Sogar die Ab⸗
geordneten, die doch zumeiſt ihre Wahl der Unterſtützung durch die Preſſe
ihrer Richtung verdanken, haben ſich zum Teil für die Anzeigenſteuer erklärt,
während andere lediglich eine Abänderung in dem Sinne wünſchten, daß
wenigſtens die kleineren politiſchen Zeitungen nicht geſchädigt würden. Es
iſt allerdings anzunehmen, daß die ganze Anzeigenſteuer diesmal wieder
abgelehnt wird, aber es bleibt doch die Gefahr beſtehen, daß eine Anne
Vorlage ſpäter wiederkehrt.
Infolge der vielfachen Beſchwerden über die Anwendung des Zeugnis⸗
zwangs verfahrens gegen die Redakteure iſt in den Entwurf einer
neuen Strafprozeßordnung für das Deutſche Reich folgende Beſtimmung
aufgenommen worden:
8 49. Redakteure, Verleger und Drucker einer periodiſchen Druckſchrift, ſowie die
bei der techniſchen Herſtellung der Druckſchrift beſchäftigten Perſonen dürfen die Aus⸗
kunft über die Perſon des Verfaſſers oder Einſenders eines darin enthaltenen Artikels
ſtrafbaren Inhalts verweigern, ſofern rechtlich oder tatſächlich kein Hindernis beſteht,
wegen des Inhalts des Artikels die Beſtrafung eines Redakteurs der Druckſchrift als
Täter herbeizuführen. Dieſe Vorſchrift findet keine Anwendung, wenn der Inhalt des
Artikels den Tatbeſtand eines Verbrechens begründet.
Auf dem internationalen Kongreß für hiſtoriſche Wiſſenſchaften zu Berlin
(6.—12. Aug. 1908) hielt Profeſſor Spahn (Straßburg) in der Sektion
für politiſche Geſchichte einen Vortrag über „Die Preſſe als Quelle der
neueſten Geſchichte“. Er empfahl die Gründung eines Reichs⸗Zeitungs⸗
138 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
muſeums. Dieſes Muſeum ſolle alle Zeitungen aufnehmen, die von mehr
als lokaler Bedeutung ſind. Die Zeitungen müßten auch veranlaßt werden,
für Sammlungszwecke Exemplare auf widerſtandsfähigem Papier herzuſtellen.
Profeſſor Spahn hofft, daß die deutſchen Verleger, vielleicht unter Mit⸗
wirkung des Staates, dem deutſchen Volke ein ſtolzes Reichs⸗Zeitungs⸗
muſeum ſchenken werden. — Dieſe Anregung erſcheint durchaus beachtens⸗
wert, obgleich die materiellen Schwierigkeiten, die ſich der Verwirklichung
eines ſolchen Planes entgegenſtellen, ſehr groß ſind. Die Gründung eines
Zeitungsmuſeums hat übrigens bereits früher Dr Ludwig Salomon in
ſeiner „Geſchichte des deutſchen Zeitungsweſens“ befürwortet.
Noch nie hat eine ſo eifrige Tätigkeit zur Erforſchung der Geſchichte
des Zeitungsweſens geherrſcht wie in unſern Tagen. Außer den von
größeren Zeitungen aus Anlaß von Jubiläen herausgegebenen Feſtſchriften
erſcheinen von Zeit zu Zeit Werke, in denen einzelne Perioden oder Gruppen
von Zeitungen und Zeitſchriften behandelt werden, und dieſe Werke ſind um
ſo verdienſtvoller, als ſie naturgemäß nicht auf einen Maſſenabſatz rechnen
können. Biographien einzelner bemerkenswerter Journaliſten ſind in Deutſch⸗
land noch verhältnismäßig ſelten. Der Ruhm dieſer Männer der Feder
ſchwindet oft noch ſchneller als der der Schauspieler. Neuerdings iſt uns aber
ein gründliches Werk über einen deutſchen Zeitungsherausgeber des 18. Jahr-
hunderts geboten worden: „Heinrich Lindenborn, der Kölniſche Diogenes.
Sein Leben und ſeine Werke“, von Karl Beckmann (Bonn, Hanſtein).
Lindenborn (geb. 1706 in Köln, geſt. 1756 in Bonn) gab am Rhein ver⸗
ſchiedene ſatiriſche Blätter heraus, deren Inhalt Beckmann fiir die Literatur:
und Kulturgeſchichte zugänglich macht. — Ein anderes Werk aus der Ge⸗
ſchichte der Preſſe führt uns nach dem Oſten: „Die Breslauer politiſche
Preſſe von 1742—1861”, von Dr phil. Leonhard Müller (Breslau,
Goerlich u. Coch). Der Verfaſſer behandelt nicht bloß die äußere Geſchichte
der einzelnen Zeitungen, ſondern er hat auch ihren Inhalt durchforſcht, und
ſo iſt ſeine Arbeit nicht bloß ein Beitrag zur Geſchichte der Preſſe, ſondern
ſie enthält auch Material zur Entwicklung der öffentlichen Meinung und der
politiſchen Parteien. Derſelbe Verfaſſer behandelt in einer beſondern Schrift
„Die Publiziſtik und das katholiſche Leben in Breslau und Schleſien während
des 19. Jahrhunderts“ (Verlag der Schleſiſchen Volkszeitung in Breslau).
Nachdem Dr Rob. Brunhuber in Nr 320 der Sammlung Göſchen
(Leipzig) das Syſtem der Zeitungslehre dargeſtellt hat, behandelt er in einem
neuen Bändchen (Nr 400) derſelben Sammlung „Das deutſche Zeitungs-
weſen“. Er befolgt dabei nicht die geſchichtliche Entwicklung, ſondern lehnt
ſich an die ſyſtematiſche Darſtellung des früheren Bändchens an. — Auf
gründlichen Forſchungen beruht die Heidelberger Doktordiſſertation von
Herm. Bode, Die Anfänge wirtſchaftlicher Berichterſtattungen in der Preſſe
(Pforzheim, Gebr. Bode), eine volkswirtſchaftliche Studie als Beitrag zur
5. Die deutſche Preſſe in Oſterreich. 139
Geſchichte des Zeitungsweſens. — Eine ſehr gehaltvolle Abhandlung über
die Geſchichte des Berliner Zeitungsweſens hat J. Lazarus unter dem
Titel „Die Berliner Preſſe“ in den „Mitteilungen des Vereins für die
Geſchichte Berlins“ (1908, 6— 11) veröffentlicht. Er gibt darin zum erften-
mal einen zuſammenhängenden Überblick über die wichtigften ſeit dem 16. Jahr-
hundert bis auf unſere Tage in Berlin erſchienenen Zeitungen und trägt
mancherlei neue Einzelheiten darüber bei. — „Urheberrecht und Zeitungs⸗
inhalt“ behandelt Profeſſor Ernſt Röthlisberger (Bern) im 27. Heft
der „Abhandlungen zum ſchweizeriſchen Recht“ (Bern, Stämpfli u. Co.). Diefe
Frage iſt gerade in der neueſten Zeit ſo oft — und vielfach ganz einſeitig —
erörtert worden, daß genannte Darſtellung von ſeiten eines über den Parteien
ſtehenden Fachmannes dankbar begrüßt werden muß.
An Zeitungs jubiläen des Berichtsjahres find folgende zu verzeichnen:
die konſervative „Halleſche Zeitung“ feierte ihr 200jähriges Beſtehen und
veröffentlichte aus dieſem Anlaß außer einer umfangreichen Feſtnummer eine
Denkſchrift von Arth. Bierbach, Die Geſchichte der Halleſchen Zeitung,
Landeszeitung für die Provinz Sachſen, für Anhalt und Thüringen (Halle,
Thiele). Ferner gab die „Danziger Zeitung“ aus Anlaß ihres 50 jährigen
Beſtehens eine Feſtnummer heraus. Einer der beiden Beſitzer der Zeitung
war lange Jahre der freiſinnige Abgeordnete Heinrich Rickert (geſt. 1902).
Auch der demokratiſche „Nürnberger Anzeiger“ feierte ſein 50jähriges Be⸗
ſtehen. Er veröffentlichte bei dieſer Gelegenheit: „Fünfzig Jahre im Kampfe
für das Volk!“ (Nürnberg, Zeder), eine Sammlung der Artikel, Gedichte, Zu⸗
ſchriften und Gratulationen, welche anläßlich des Jubiläums erſchienen ſind.
Die 1798 von Cotta gegründete „Allgemeine Zeitung“ (München), einſt
das bedeutendſte deutſche Blatt, das auch wegen ſeiner täglichen Beilage
bekannt war, war in neueſter Zeit vollſtändig im Rückgang begriffen und
ſtellte zum 1. April 1908 ihr Erſcheinen als Tageszeitung ein, um nur
noch als Wochenſchrift weiter zu beſtehen.
5. Die deutſche Preffe in oſterreich.
Don Dr Friedrich Funder.
Wenn Robert Prutz recht hat, da er ſagt, „der Journalismus ſtelle ſich
als ein Selbſtgeſpräch dar, das die Zeit über ſich ſelber führe“, ſo hat ſich
die Seele Oſterreichs in den letzten Jahren und namentlich im Jahre 1908
erheblich gewandelt. Ihr Selbſtgeſpräch iſt reicher geworden an chriſtlichen
Ideen und Neigungen, und aus den Tiefen des Volkes quillt eine nicht
ungeſtüm vordrängende, aber ſtarke Erneuerung des Geiſtes. Die Zeit des
allgemeinen gleichen Wahlrechts hat dem katholiſchen Deutſch⸗Oſterreich auch
140 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
in der Preſſe neue Wege gewieſen, und wenn nur noch einige Jahre das
Tempo in der Entwicklung unſeres Zeitungsweſens dasſelbe bleibt und
ſtörende Zwiſchenfälle, übereilte Neugründungen und Zwiſte vermieden
werden, ſo gehen wir in Oſterreich doch endlich e Verhältniſſen
im Ausbau unſerer katholiſchen Preſſe entgegen.
Die katholiſche Tagespreſſe Deutſch⸗Oſterreichs erreichte mit Ende des
Jahres 1908 eine Geſamtauflage von 186 000 Exemplaren, die ſich auf
13 Tagesblätter verteilen; die 42 ein- bis dreimal wöchentlich erſcheinenden
politiſchen Blätter zählen eine Geſamtauflage von 312 000 Exemplaren.
Der Zuwachs gegen die Vorjahre kommt weſentlich den täglich erſcheinenden
Zeitungen zu ſtatten und dürfte insgeſamt 73 000 Exemplare betragen. Es
iſt damit ein erfreulicher Schritt nach vorwärts getan worden, um das
Miß verhältnis, das bisher in der Verbreitung von Tages- und Wochen-
preſſe beſtand, auszugleichen. Das Steigen der Tagespreſſe deutet nach der
öſterreichiſchen Bevölkerungsſtruktur auf eine Eroberung ſtädtiſchen Bodens
hin. Der erheblichſte Teil des hier errungenen Zuwachſes fällt der im
Herbſt 1907 in Wien gegründeten „Neuen Zeitung“ zu, die als billiges,
illuſtriertes Vierhellerblatt zur Bekämpfung der unſittlichen, durchaus in
jüdiſchen Händen befindlichen ſog. „Tratſchpreſſe“ geſchaffen, ſich aus den
anfänglichen Sorgen und Beſtandſchwierigkeiten unter einem neuen Kon⸗
ſortium raſch zu einer anſehnlichen Verbreitung emporſchwang. An der
Aufgabe, die ſich die „Neue Zeitung“ geſtellt hatte: die ärmeren, bisher
von einer ſchmutzigen Skandalpreſſe beeinflußten und zumeiſt indifferenten
Schichten für eine beſſere Koſt vorſichtig zu gewinnen und weniger durch
eine ausgeſprochene Tendenz als durch Abwehr des Schlechten zu wirken,
hat ſie bisher mit gutem Erfolg gearbeitet. Neben dieſem Blatte nehmen
an dem erreichten Zuwachs für die Tagespreſſe beſondern Anteil die „Reichs-
poſt“ in Wien, die „Kleine Zeitung“ in Graz, ein illuſtriertes Zweiheller⸗
blatt mit ähnlichen Aufgaben wie die „Neue Zeitung“, und nicht zuletzt
der „Tiroler Allgemeine Anzeiger“, der im Dezember 1907 ſein Erſcheinen
begann und innerhalb eines Jahres eine Auflage von 7200 Exemplaren
erreichte, in 1000 Gaſthöfen ſich Eingang verſchaffte und ſich durch ſeine
ausgezeichnete Redaktion und die muſtergültige Sammlung von Mitarbeitern
zu einem der beſten Kronlandsblätter erhob, die gegneriſchen Erſcheinungen
der Tiroler Tagespreſſe an Gediegenheit weit hinter ſich laſſend. Dieſe
Gründung inmitten der ſonſt ſo verworrenen Tiroler Parteiverhältniſſe iſt
eines der erfreulichſten Ergebniſſe publiziſtiſchen Schaffens in Deutſch⸗
Oſterreich.
Überbliden wir die einzelnen Kronländer, fo nehmen wir immer noch
ein Gebiet ſtarker Depreſſion in den Sudeten, namentlich in Schleſien und
Mähren, wahr, indeſſen in den deutſchen Alpenländern ein friſches Streben nach
vorwärts ſich bemerkbar macht. Vier Millionen Deutſche der Sudetenländer
5. Die deutſche Preſſe in Oſterreich. 141
Böhmen, Mähren und Schleſien beſitzen noch kein deutſches katholiſches
Tagblatt; zehn Wochenblätter, darunter nur eines für Schleſien, müſſen
für alle Bedürfniſſe auffommen. Vernünftigerweiſe geht man auch hier
jetzt daran, von unten her aufzubauen und durch Schaffung tüchtiger Wochen⸗
blätter und Schulung eines guten, landeskundigen journaliſtiſchen Nachwuchſes
die Vorbedingungen für eine reichere Gliederung des Preßweſens zu bereiten.
Die am ſtärkſten entwickelte Wochenpreſſe beſitzen, wenn von Wien und
Niederöſterreich abgeſehen wird, an deren größeren Zeitungsauflagen auch die
andern Kronländer als Abſatzgebiete ſtarken Anteil haben, Vorarlberg, Tirol
und Oberöſterreich, in denen auf je 10 bzw. 11 und 12 Einwohner ein abon⸗
niertes katholiſches Wochenblatt entfällt. Daneben kann ſich aber auch Steier-
mark mit feinem „Sonntagsboten“ in der Auflage von 25000 Exemplaren,
das kleine Salzburg mit ſeinem „Volksboten“ und deſſen Auflage von
10000 Exemplaren gut ſehen laſſen.
Auch in der Tagespreſſe ſtehen Tirol und Vorarlberg, wenn man
die Bevölkerungsziffern dieſer Länder in Verhältnis zieht, am meiſten neben
Niederöſterreich voran; aber wir beſitzen auch im „Grazer Volksblatt“ ein
zweimal täglich erſcheinendes Blatt, das ſein Gebiet in voller Ebenbürtigkeit
mit den gut ausgeſtatteten gegneriſchen Zeitungen verteidigt und mehrt, und
auch beim „Linzer Volksblatt“ und der „Salzburger Chronik“ iſt eine
raſche, ſehr lebendige Vorwärtsentwicklung zu verzeichnen, die ſich ſowohl
techniſch wie redaktionell ſo bemerkbar macht, daß z. B. die „Salzburger
Chronik“ gegen den Stand, den ſie noch vor zehn Jahren inne hatte, kaum
mehr wiederzuerkennen iſt.
Das Schwergewicht für die Abſchätzung, inwiefern das katholiſche Deutſch⸗
Oſterreich ſeine Stellung in der Preſſe geſtärkt hat, liegt freilich ohne Zweifel
in der Zentralpreſſe. Auf dem Katholikentage, der Ende September 1908
in St Pölten ſtattfand, durfte ich als Referent ſagen: „Die Preſſe iſt der
Sammelpunkt der Intelligenz eines Volkes. Alle Tagesfragen, alles, was
die Welt bewegt und erſchüttert, findet hier Erörterung. Jede wichtige
Frage wird hier gemodelt. Hier werden Talente bekannt gemacht und
gepflegt. Die Preſſe iſt für uns das Gymnaſion der Weiſen des Alter⸗
tums geworden, in dem geiſtige Schulen gegründet, Ideen durchgefochten,
Syſteme geformt und die Seelen der Staaten gebildet werden. Dazu
kommt, daß die freiſinnige Preſſe ſich bei uns geradezu zu einer Punzier⸗
werkſtätte der Bildung gemacht hat. Wer in Wiſſenſchaft, Kunſt, im Staate
etwas gelten will, muß ſich bei ihr abſtempeln laſſen. Und wer ſich nicht
rückſichtslos unterwirft, wird verhöhnt oder einfach aus dem Buche des
Lebens geſtrichen und totgeſchwiegen. So geht es dem Gelehrten, dem
Bildhauer, dem Schaufpieler und dem Erfinder — Kunſt, Muſik, Literatur,
unſere Hochſchulen —, alles wird ſo zu einer unumſchränkten Domäne des
Gegners, und die Preſſe iſt die ſtärkſte Schanze feines Beſitzes. Die Frei ⸗
142 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
heit des chriſtlichen Volksgeiſtes können wir nur mit denſelben Waffen ver⸗
teidigen, mit denen die Gegner uns angreifen. Nicht mit Gewalt können
wir die heutigen, vielfach ſo unbefriedigenden und verletzenden Zuſtände
ändern, ſondern durch Aufklärung und Gewinnung der Überzeugungen.“
Wenn dies von der Preſſe überhaupt gilt, ſo doch namentlich von der
Zentralpreſſe, die im Brennpunkte des ſchöngeiſtigen und politiſchen Lebens,
in der Reichshauptſtadt, wo die wichtigſten Entſcheidungen des ganzen öffent-
lichen Lebens fallen, für alle Kronländer zu wirken berufen iſt. Gerade
in Oſterreich, wo die Kronlandsgrenzen noch ſo ſtarke Trennungen dar⸗
ſtellen und bei der ſozialen und nationalen Mannigfaltigkeit erſt recht eine
ſichere Tribüne für eine den Reichsgedanken pflegende, das Einigende, die
chriſtlichen Elemente des ganzen Staates zuſammenfaſſende Macht notwendig
iſt, wächſt dieſer Beruf der Zentralpreſſe bis zur höchſten Verantwortlichkeit;
jeder Verluſt, jede Stagnation, die hier eintritt, drückt die Geſamtbilanz
des ganzen chriſtlichen Lebens in Oſterreich bedeutend herunter, und jedes
Fortſchreiten, das hier erzielt wird, iſt fruchtbar bis an die entfernteſten
Gemarkungen des vielgeſtaltigen Reiches. Und deshalb iſt es ſo erfreulich,
daß auf dem Gebiete der Zentralpreſſe viel erreicht worden iſt. Die „Reichs⸗
poſt“ iſt durch das ſelbſtloſe Zuſammenwirken einer Reihe eifriger Männer,
die ſich der Redaktion zur Seite ſtellten, ſtetig aus dem Rahmen eines im
beſcheidenſten Umfang erſcheinenden Kampfblattes zu einem der führenden
politiſchen Organe Oſterreichs geworden. Wenn die „Reichspoſt“ ſich auch
noch nicht mit der von einem ungeheuren Apparat getragenen, mit rieſigen
Geldmitteln ausgerüſteten „Neuen Freien Preſſe“ und ihrer publiziſtiſch
wahrhaft blendenden, rein journaliſtiſch genommen kaum irgendwo über⸗
troffenen Erſcheinung meſſen kann, fo hat man ſich doch ſchon in den wei-
teſten Kreiſen gewöhnt, die zwei Blätter als die beiden Antipoden Wiens
zu betrachten und anzuführen. Wiederholt trat dies in den parlamentariſchen
Debatten in Erſcheinung. Auch in ihrem außerpolitiſchen Teile verſchaffte
die „Reichspoſt“ ſich Gehör. Der Fachmann wird gewiß noch dies und
jenes entdecken, was an dem Blatte der Nachbeſſerung oder Ausfüllung
bedürfte, aber es ſind die bisher ermöglichten Fortſchritte ſo außerordentlich,
daß man hoffen darf, es werde auch dieſer Anſtieg noch gelingen, der ohne
Zweifel die Anſpannung aller Kräfte wert iſt.
Das „Vaterland“ tritt mit dem 1. Jan. 1909 in das 50. Jahr ſeines
Beſtandes; einer Partei im Abgeordnetenhauſe entbehrend, die wie im alten
Kurienparlamente ſich konſervativ im Sinne des „Vaterlandes“ nannte, iſt
ſeine Stellung ſicher keine leichte. Es hat aber mit Geſchick den taktiſchen
Bedürfniſſen ſeiner Lage zu entſprechen vermocht. Der früher wiederholt ſo
ſchmerzlich empfundene Zwieſpalt unter den öſterreichiſchen Katholiken iſt
damit in den Hintergrund getreten. Die in Bd I dieſes Jahrbuches erwähnte
Einführung täglicher Beilagen iſt im Jahre 1908 vom „Vaterland“ fallen
5. Die deutſche Preſſe in Oſterreich. a 143
gelaſſen worden, da ſich die Redaktion überzeugte, daß dieſe Einrichtung
dem Geſchmacke der Mehrheit ihres Publikums nicht entſpreche.
Es kann nicht von der Entwicklung der Zentralpreſſe Oſterreichs ge⸗
ſprochen werden, ohne daß man mit höchſter Anerkennung der Leiſtungen
des vor drei Jahren gegründeten Pius vereins gedächte. Dieſe beſtehen
vielleicht nicht ſo ſehr in ſeinen materiellen Zuwendungen für die Preſſe,
an denen ebenſo die Zentral- wie die Kronlandspreſſe Anteil erhält, als in
der agitatoriſchen Kraft dieſer großen Organiſation. Folgender Vergleich
möge zeigen, wie fleißig da gearbeitet wird. Es zählte der Piusverein
| am 31. Dez. 1907 am 31. Dez. 1908
Stifter 25 27
Gründer 28 28
Wohltäter 199 232
Mitglieder 32 461 48 090
Teilnehmer 42 940 57020
75 653 105 397
Ortsgruppen 402 690.
Freilich iſt aus einem Vergleich des Anwachſens der Zahl von Stiftern
und Gründern mit jener der andern Mitgliederkategorien erſichtlich, daß die
Anteilnahme der großen Beſitzenden des katholiſchen Oſterreich — und man
kann nicht behaupten, daß es ſolcher nur wenige gebe — in keinem Ber-
hältnis ſteht zu dem Eifer, mit dem ſich die weniger bemittelten Volks⸗
ſchichten dieſes Vereins angenommen haben, deſſen Aufgaben nach dem
feierlichen Worte Papſt Pius X. eine „ſchwere Verpflichtung“ für jeden
öſterreichiſchen Katholiken darſtellen. — Die täglich erſcheinende „Pius-
vereinskorreſpondenz“ wurde zu einem wichtigen Hilfsmittel für die öfter-
reichiſchen katholiſchen Redaktionen.
Noch muß ein Wort unſerer deutſchen katholiſchen Arbeiterpreſſe
gewidmet werden, in der ſich beiſpiellos viel Selbſtloſigkeit, Opfermut, un-
verdroſſene Beharrlichkeit und Tapferkeit vereinigt haben. Die einmal
wöchentlich erſcheinende „Chriſtlich⸗ſoziale Arbeiterzeitung“ (Wien) iſt binnen
acht Jahren von 6000 auf nunmehr 22 000 Exemplare gebracht worden.
Daneben erſcheinen noch Arbeiter⸗Wochenblätter in Oberöſterreich, Steiermark
und Vorarlberg. Der junge „Chriſtliche Gewerkſchafter“ zählt ſchon die
anſehnliche Auflage von 5200 Exemplaren, obwohl die Gründung mehrerer
gewerkſchaftlicher Fachblätter nebenher gegangen iſt. Die 14täglich erſcheinende
„Arbeiterjugend“ (Wien) errang eine Auflage von 1800 Exemplaren, bei dem
kurzen Beſtehen unſerer Jugendorganiſationen eine ganz ermutigende Leiſtung.
Für das Jahr 1909 wird es der öſterreichiſchen katholiſchen Preſſe, die
in Böhmen und Schleſien durch je ein Wochenblatt, in der Bukowina durch
ein Tagblatt vermehrt werden ſoll, namentlich obliegen, die Standesorgani⸗
144 IV. Soziale und wirtſchaftliche Fragen.
ſation der katholiſchen Journaliſten auszubauen. Einiges iſt dafür dank
dem unermüdlichen Betreiben des Chefredakteurs des „Grazer Volksblattes“
Karl Schwechler ſchon geſchehen: der Piusverein warf eine anſehnliche
Summe aus, die einen Beitrag von jährlich 60 Kronen zur Altersverſiche⸗
rung der katholiſchen Journaliſten ermöglicht. Das neue, am 1. Jan. 1909
in Kraft tretende öſterreichiſche Privatbeamtenverſicherungsgeſetz, das auch
die Journaliſten angeht, iſt leider eine ſozialpolitiſch ganz unbefriedigende
Arbeit, die für die Journaliſten vollſtändig wertlos iſt. Denn ein Geſetz,
das eine vierzigjährige Prämienzahlung bei einem aufreibenden Berufe wie
dem publiziſtiſchen für die Altersrenten, und für die Invalidenrenten den
Mangel eines anderweitigen Einkommens von über 600 Kronen voraus⸗
ſetzt, unterwirft den Journaliſtenſtand durch die von ihm verlangten hohen
Prämienzahlungen nur einer außerordentlich drückenden, ganz vergeblichen
Beſteuerung. Das Geſetz wird alſo nicht als eine Wohltat, ſondern als
ſchwere Benachteiligung des Standes empfunden. Um ſo nötiger iſt die
Schaffung einer Erſatzverſicherung unter humaneren Bedingungen. — Der
Piusverein ermöglichte auch die Aufſtellung von fünf Yournaliften-Reife-
ſtipendien im Betrage von je 500 Kronen, die im Sommer 1908 zum
erſtenmal zur Vergebung kamen.
Die Fortſchritte, die die erſten Jahre dieſes Jahrhunderts der öſter⸗
reichiſchen katholiſchen Preſſe gebracht haben, zeigen verhältnismäßig eine
ſtärkere Kurve des Anſteigens als in irgend einem andern Lande. Gebe
Gott, daß wir das Errungene feſthalten und treulich vermehren können!
In der deutſchen freiſinnigen Preſſe hat das Jahr 1908 wenig ver⸗
ändert, man wollte denn erwähnen, daß mehrere deutſchnationale Provinz⸗
tagesblätter, z. B. in Innsbruck und Salzburg, wegen der Intereſſeloſigkeit,
die in dieſer Parteirichtung gegenüber der Preſſe ſtark bemerkbar iſt, zu
beſtehen aufgehört haben.
V. Wiſſenſchaften.
1. Theologie.
A. Bibelwiffenfdyaft.
Don Dr Theodor Innitzer.
uf dem Gebiet der Bibelwiſſenſchaft beweiſen neue Zeitſchriften, neue
A Funde und Entdeckungen, erfolgreiche Fortführung ſchwebender Fragen
und Probleme, intereſſante Spezialarbeiten und praktiſche neue Lehr-
behelfe den regen wiſſenſchaftlichen Betrieb im abgelaufenen Jahre.
1. Vier periodiſche Schriften bibliſchen Charakters ſind erſtmals auf den
Plan getreten: die Neuteſtamentlichen Abhandlungen, herausg. von Pro-
feſſor A. Bludau; die Altteſtamentlichen Abhandlungen, herausg. von
Profeſſor J. Nikel; Bibliſche Zeitfragen gemeinverſtändlich erörtert, ein
Broſchürenzyklus, herausg. von Profeſſor J. Nikel und Profeſſor J. Rohr.
Dieſe drei Organe erſcheinen im Verlag Aſchendorff⸗Münſter; die beiden
erſten verfolgen rein wiſſenſchaftliche, das dritte hat populär ⸗wiſſenſchaftliche
Zwecke. Dazu kommen endlich die Veröffentlichungen des biblifch-patrifti-
ſchen Seminars zu Innsbruck (Rauch). Im Verein mit den rüſtig weiter
ſchaffenden bisherigen Zeitſchriften werden fie gewiß der katholiſchen Bibel-
wiſſenſchaft zu neuem Aufſchwunge verhelfen.
2. Weiter haben uns im Berichtsjahre die raſtloſen Bemühungen unſerer
archäologiſchen Schatzgräber im Orient wieder neue Funde vermittelt, fleißige
Forſcher fie entziffert und gedeutet. — In Paläſtina hat R. A. S. Maca-
liſter ſeine Ausgrabungen in Gezer für den Palestine Exploration Fund
fortgeſetzt. Sie führten zur Entdeckung eines Tunnels und einer Quelle
und zur Auffindung verſchiedener Gegenſtände, die auch auf bibliſche Stellen
erklärendes Licht werfen (vgl. Orientaliſche Literatur⸗Zeitung 1908, 434).
In Samaria-Sebaftijeh begannen im April 1908 die Ausgrabungen der
Harvard-Univerfität in Cambridge unter der Leitung Schumachers und
Profeſſor Lyons. In Jericho ſetzte Profeſſor E. Sellin ſeine Grabungen
für die Deutſche Orientgeſellſchaft fort. Erſtere Expedition machte Funde
aus der römiſchen (vgl. ebd. 1909, 84), letztere, wie Referent im März 1908
Jahrbuch der Zeit⸗ und Kulturgeſchichte. II. 10
146 V. Wiſſenſchaften.
zu ſehen Gelegenheit hatte, bedeutende Funde von der altfanaandijden bis
zur byzantiniſchen Zeit und legte die überaus ſtarken Umfaſſungsmauern,
die alte Zitadelle, Getreidemagazine, Backöfen, Gaſſenanlagen und Häuſer⸗
reſte des alten Jericho ſamt Inventar, Amphoren, Getreidemühlen, Eifen-
geräte u. a. bloß 1.
Von noch größerer Bedeutung für die Bibelkunde ſind die neueſten Funde
im Pharaonenlande. Gleichwie die vor drei Jahren in Aſſyrien aufgefundenen
Kontrakttafeln und die bei Nippur ausgegrabenen babyloniſchen Urkunden
wichtige Quellen für die älteſte Geſchichte der aſſyriſchen und babyloniſchen
Judenſchaft ſind, ſo bieten die ägyptiſchen Funde wertvolle Aufſchlüſſe über
die ägyptiſche Diaſpora der Juden. Iſt es doch über die Maßen intereſſant,
aus den von Rubenſohn 1907 gefundenen, von E. Sachau entzifferten
jüdiſch⸗aramäiſchen Papyri aus Elephantine zu erfahren, daß die Juden in
Südägypten, auf der genannten weltentlegenen Nilinſel, ähnlich wie die
aſſyriſchen Exulanten in Kannu, ein privilegiertes Jahweheiligtum beſaßen,
das 120 Jahre beſtand. Durch jene Papyri wird die jüdiſche egora von
Syene, von der die 1904 in Aſſuan gefundenen zehn aramäiſchen Papyri
berichten, als wirklicher Tempel erwiejen?. Für das Neue Teſtament iſt
neben Fragmenten der Acta Petri und Ioannis (ſowie Bruchſtücken der LXX)
das Fragment eines unkanoniſchen Evangeliums, das in Oxyrhynchos ge⸗
funden wurde, von direktem Werte s. Es enthält einen intereſſanten Beleg
zu Mk Kap. 7 und Mt Kap. 15, eine (apokryphe) Polemik Jeſu gegen
die nur äußerlichen Reinigungen der Phariſäer. Jene 45 Zeilen des Papyrus-
textes veranlaßten eine Reihe von Publikationen, z. B. von E. Preuſchen,
A. Harnack, H. Lietzmann, Th. Zahn, die das Fragment einem apokryphen
Evangelium zuweiſen. — Das vielbeſprochene Problem der Schlußperikope
des Markusevangeliums (16, 9—20) iſt in ein neues Stadium der Dis⸗
kuſſion gerückt durch das neuentdeckte ſog. Freerlogion, einen Beſtand⸗
teil der vom Amerikaner Ch. L. Freer 1907 in Kairo erworbenen vier
bibliſchen Unzialhandſchriften aus dem 4.—5. Jahrhundert, unterſucht und
herausg. von C. R. Gregory (Leipzig, Hinrichs), der auf deſſen Unecht⸗
1 Zur Literatur vgl. H. Greßmann, Die Ausgrabungen in Paläſtina und das
A. T. (Tübingen, Mohr); R. Kittel, Die orientaliſchen Ausgrabungen und die ältere
bibliſche Geſchichte (Leipzig, Hinrichs); Joh. Döller, Streiflichter zur Bibliſchen Ge⸗
ſchichte aus neueren Funden im Orient, in Chriſtl.⸗pädag. Blätter, Wien 1908, 316 ff.
2 Aus der reichhaltigen Literatur hierüber ſeien hervorgehoben: J. Nikel, Neue
Quellen zur älteſten Geſchichte der jüdiſchen Diaſpora, in Weidenauer Studien (Wien,
Opitz Nachf.); P. J. Hontheim 8. J., Elephantine⸗Papyri, in Bibliſche Zeitſchrift
1908, 245; Charles Wright, Light from Egyptian Papyri (London, William
& Norgate).
s B. P. Grenfell and A. S. Hunt, Fragment of an uncanonical Gospel from
Oxyrhynchos, Separatausgabe des 5. Bandes der Oxyrhynchos Papyri nr 840, London
1907, Egypt. Expl. Fund, Frowde.
1. Theologie. A. Bibelwiſſenſchaft. 147
heit erkennt. Die Bedeutung des Logions für den Markusſchluß behandelte
katholiſcherſeits Hugo Koch (Braunsberg) in der ſehr prompt das Aller⸗
neueſte verwertenden „Bibliſchen Zeitſchrift“ (1908, 266 ff); er bringt daraus
gewichtige Gründe zur Wertung der Echtheit bzw. Unechtheit des Markus⸗
ſchluſſes bei.
3. Aber auch in der Heimat harren vielleicht noch unbehobene Schätze des
Entdeckers, wie die Auffindung von neuen Fragmenten apokrypher Apoftel-
aften im Cod. Burchardi der Univerſitätsbibliothek in Würzburg und jene
eines hebräiſchen Paternoſter in der Düſſeldorfer Bibliothek zeigen 1. —
Indes nur wenige können dicke Folianten von Papyrus-, Inſchriften⸗ und
Oſtrakaſammlungen durcharbeiten, um ſie für das Studium der Heiligen
Schrift zu verwerten. Es war daher ein glücklicher Gedanke des Profeſſors
Ad. Deißmann, den Ertrag der neueſten Funde für das N. T. in einem
populär⸗wiſſenſchaftlichen Buche zu behandeln: „Licht vom Often” (Tübingen,
Mohr). Beſonders wertvoll ſind die folgenden Feſtſtellungen: Das N. T.
iſt ein Denkmal der ſpätgriechiſchen Umgangsſprache, die neuteſtamentliche
Gräzität darf alſo nicht mehr iſoliert werden 2; die Zahl der bibliſchen
Solözismen beträgt nur ein Prozent des Wortſchatzes; die Brieforiginalien
der Papyri klären über den unliterariſchen Charakter der meiſten neuteſtament⸗
lichen Briefe auf und ſtützen vielfach deren Echtheit; in kultur⸗ und religions⸗
hiſtoriſcher Beziehung decken die Texte lehrreiche Parallelen aus dem Kultur⸗
hintergrund und den heidniſchen Kulten auf, welche die techniſchen Ausdrücke
im N. T. beeinflußten (3. B. Chriſtus⸗ und Cäſarenkult u. a.). Ohne in
allem mit dem Verfaſſer gleicher Anſchauung zu ſein, kann der katholiſche
Bibliziſt in dem Werke einen neuen ehrlichen evangeliſchen Bundesgenoſſen
im Kampf um die Wahrheit der Heiligen Schrift begrüßen.
4. Welch hervorragenden Nutzen bibliſche Geographie und Archäologie
aus den neuen Forſchungen ziehen, beweiſen die Ergebniſſe der Reiſen Pro-
feſſor Alois Muſils, von deſſen Arabia Petraea (Wien, Hölder) nun
ſchon der 3. Band: „Ethnologiſcher Reiſebericht“, der vorzüglichſte Teil des
ganzen Werkes, vorliegt s. Es iſt eine Paralleldarſtellung der Archäologie
des A. und N. T. und ſchildert Land und Leute, Sitten und Bräuche,
Geſchichte und religiöſe Anſchauungen der Stämme mit der Unmittelbarkeit
des Selbſterlebten und dem Eindrude urkundlicher Zuverläſſigkeit. — Der von
1 De Bruy ne, Nouveaux Fragments des Actes de Pierre, Paul, Jean, André
et de l’Apocalypse d' Elie, in Revue Bénédictine XXV; A d. Schulte, Ein hebräifches
Baternofter in einem Miſſale des 9. Jahrh., in Bibliſche Zeitſchrift 1908; Herm.
Müller, Zu den neueſten Papyrusfragmenten, ebd.; Köberle, Die Papyri von
Affuan und das A. T., in Neue kirchl. Zeitſchrift XIX 173 ff (Leipzig, Deichert).
2 Bgl. dieſelben Folgerungen bei C. F. G. Heinrici, Der literariſche Charakter
der neuteſtamentl. Schriften (Leipzig, Hinrichs).
5 Boal. dieſes Jahrbuch I 174.
10°
148 V. Wiſſenſchaften.
Muſil im zweiten Bande feines Werkes beſchriebene alte, menſchenleere Felfen-
horſt ſüdlich vom Toten Meere, die Nabatäerſtadt Petra, hat 1908 gleich
zwei Beſchreiber gefunden: eine Reiſe dahin und einen Beſuch in der Gräber⸗
ſtadt ſchildert Ladislaus Szezepanſki S. J. (Nach Petra und zum
Sinai) in „Veröffentl. des bibl.⸗patr. Seminars Innsbruck“, 2; eine ſyſtema⸗
tiſch⸗wiſſenſchaftliche Beſchreibung der Stadt und ihrer Felsheiligtümer gibt
Profeſſor Guſtav Dalmann, Direktor des Deutſchen Archäolog. Inſtituts
in Jeruſalem (Petra und ſeine Felsheiligtümer, Leipzig, Hinrichs). Ergänzt
deſſen Spezialforſchung in manchen Punkten die Reſultate Muſils, ſo bieten
auch die Reiſeberichte Szezepanſkis viele wertvolle Fingerzeige, aus den
Verhältniſſen des heutigen Orients dem Milieu der Bibel und ihrem Ver⸗
ſtändnis näherzukommen. Außerdem iſt der zweite Teil ſeines Buches ein
beachtenswerter Kommentar zur Geſchichte des Auszugs der Israeliten. —
Der Verfaſſer der Topographie Jeruſalems, Karl Mommert, hat ſeine
Detailforſchung in der heiligen Stadt ſelbſt fortgeſetzt und als Frucht derſelben
die Monographie über „Siloah, Brunnen, Teich, Kanal zu Jeruſalem“
(Leipzig, Haberland) herausgegeben, worin er aufs neue darlegt, daß der
Marienbrunnen eine antike, wohl ſalomoniſche Waſſerleitung iſt, gleich dem
Kanal, der jenen mit dem Siloah, dem Badeteiche Salomons, verbindet.
5. Die eigentliche Signatur der Bibelwiſſenſchaft in der jüngſten Zeit
bildet die mit Delitzſchs erſtem Bibel⸗Babel⸗Vortrage inaugurierte Tendenz
möglichſter Populariſierung bibliſch⸗wiſſenſchaftlicher Fragen und Gewinnung
der Laienwelt für ein freundſchaftliches oder feindſeliges Intereſſe an den
Wahrheiten der Heiligen Schrift. Daß dieſes Intereſſe bereits vorhanden iſt,
beftätigte der Erfolg jener Beſtrebungen. Gegenüber der Agitation der un-
gläubigen Kritik ſah ſich die katholiſche Theologie veranlaßt, Mittel zur Abwehr
zu ergreifen, und das Berichtsjahr hat hierin bedeutende Erfolge aufzuweiſen.
So legt in der Broſchüre „Kirche und Bibelleſen“ (Paderborn, Schöningh)
Profeſſor Norbert Peters die grundſätzliche Stellung der katholiſchen Kirche
zum Bibelleſen in der Landesſprache vor, bekämpft die alten Vorurteile
dagegen und ruft zur Förderung der Bibellektüre auf. Den zweiten praktiſchen
Schritt zu dieſem Ziele hat Profeſſor Karl A. Leimbach getan, indem
er ſeit 1907 feine zeitgemäßen „Bibliſchen Volksbücher“ (Fuldaer Aktien⸗
druckerei) herausgibt und zunächſt ausgewählte Texte des A. T., da dieſes
heute im Vordergrund der Diskuſſion ſteht, dem allgemeineren Verſtändnis
zugänglich macht!. — Auf proteſtantiſch⸗konſervativer Seite finden Wahr⸗
heit, Einheit und inſpirierter Charakter der Bibel einen wackern Verteidiger
in dem Werke des Anglikaners John Urquhart, „Die Bücher der Bibel
oder wie man Bibel leſen ſoll“ (überſetzt von E. Spliedt, Stuttgart,
1 Bisher erſchienen: Iſaias Kap. 1— 12 (bereits in 2. Aufl.), 40—66, Oſee, Amos,
Michas und die übrigen kleinen Propheten, Pſalmen 1. Teil (1 — 75), zuf. 5 Hefte.
1. Theologie. A. Bibelwiſſenſchaft. 149
Kielmann, bisher 4 Bde über Geneſis und Exodus). Obwohl es ſich für
Katholiken wegen einiger übler Ausfälle nicht eignet, iſt ihm ob ſeines
apologetiſchen Zweckes unter den Proteſtanten Verbreitung zu wünſchen. —
Für die populäre Darſtellung bibliſcher Fragen arbeitet proteſtantiſcherſeits
bereits ein doppelter Zyklus von Broſchüren: „Die Bibliſchen Zeit. und
Streitfragen“ (herausg. von Fr. Kropatſcheck, Großlichterfelde⸗Berlin,
Runge) in konſervativer, die „Religionsgeſchichtlichen Volksbücher“ (herausg.
von Fr. Mich. Schiele, Halle a. S., Gebauer ⸗Schwetſchke) in liberaler
Richtung. Katholiſcherſeits ſtand dieſen bisher nichts ähnliches gegenüber.
Das Berichtsjahr brachte endlich die oben erwähnten „Bibliſchen Zeitfragen“;
die faſt ſämtlich bereits in 2., ja in 3. Auflage vorliegenden 12 Hefte der
1. Folge beweiſen die hohe Zweckmäßigkeit, deren Titel und Inhalt die
große Aktualität der auch ſehr billigen Broſchüren. Raummangels halber
müſſen wir uns hier mit den Aufſchriften der ausgezeichneten Einzelarbeiten
begnügen: 1. Alte und neue Angriffe auf das A. T. (Nikel). 2. Der Ur⸗
ſprung des altteſtamentlichen Gottesglaubens (Nikel). 3. Der Vernichtungs⸗
kampf gegen das bibliſche Chriſtusbild (Rohr). 4. Erſatzverſuche für das
bibliſche Chriſtusbild (Rohr). 5. Der Kanon des N. T. (Dauſch). 6. Die
Auferſtehung Jeſu Chriſti nach den Berichten des N. T. (Dentler). 7. Die
Apoſtelgeſchichte (Belſer). 8. Die Glaubwürdigkeit des A. T. im Lichte der
Inſpirationslehre und der Literarkritik (Nikel). 9. Chriſtus und Buddha
(Wecker). 10. Die Amarnazeit. Paläſtina und Agypten in der Zeit israe⸗
litiſcher Wanderung und Siedelung (Miketta). 11. Jeſus der Menſchenſohn
(Tillmann). 12. Griechentum und Judentum im letzten Jahrhundert vor
Chriſtus (Heiniſch).
6. Die hier behandelten Fragen weiſen uns weiterhin auf die ſchwebenden
bibliſchen Probleme überhaupt. Über die Bibel-Babel-Frage haben
wir zwar nicht katholiſcherſeits, wohl aber in Ernſt Sellins Schrift
„Die altteſtamentliche Religion im Rahmen der andern altorientaliſchen“
(Leipzig, Deichert) eine zuſammenfaſſende Darſtellung des ganzen Streites
mit dem abſchließenden Urteil: Israels Religion ſteht in engem Zu⸗
ſammenhang mit den Religionen Vorderaſiens, vor allem der babyloniſchen;
aber ſie greift auch weſentlich darüber hinaus und überwindet dieſen Zu⸗
ſammenhang durch ihre eigenartige höhere Entwicklung, deren Faktor be⸗
ſonders das Prophetentum iſt: „An den Propheten verſagt alle religions⸗
geſchichtliche Analogie!“
Mit der Bibel⸗Babel⸗Frage ift verknüpft der ganze Komplex der Pro⸗
bleme über Entſtehung und Werdegang des israelitiſchen Volkes, bibliſche Ur⸗
geſchichte, Entſtehung und Überlieferung der fünf Bücher Moſes', mit einem
Wort: die Pentateuchfrage. Über die neueſten Phaſen betreffs der
„Entſtehung des Volkes Israel“ orientiert ſehr gut Profeſſor K. Miketta
in den „Weidenauer Studien“ (Wien, Opitz). — Zur eigentlichen Pentateuch⸗
150 V. Wiſſenſchaften.
frage nimmt Profeſſor Alfons Schulz in ſeiner Unterſuchung der „Doppel⸗
berichte im Pentateuch“ (Bibliſche Studien XIII, 1. Hft) Stellung. Er ſucht
nachzuweiſen, daß deren Zurückführung auf den erſten und einzigen Verfaſſer
mit dem Inſpirationsbegriff unvereinbar ſei. Dagegen machen G. Hoberg
und andere katholiſche Gelehrte (vgl. Literariſcher Anzeiger 1908, 17 ff) geltend,
jene ſcheinbaren Doppelberichte ließen ſich auch anders erklären (als Gloſſen,
beabſichtigte Wiederholung u. a.). — Das von der Kritik für die Entſtehung
des Prieſterkodex gern benutzte Dunkel der Geſchichte Ezras einigermaßen
aufzuhellen, verſuchte mit Erfolg G. Klameth in dem Buche „Ezras Leben
und Wirken“ (Wien, Kirſch); für die Chronologie wichtig iſt beſonders die
Anſetzung der Reformtätigkeit Ezras hinter der des Nehemias, wodurch
manche Schwierigkeiten ſchwinden. — Die Probleme über den Urſprung
der Jahwe⸗Religion und des Polytheismus behandelt von echt katholiſchem
Standpunkt aus Fr. K. Kortleitner in dem Werke De Polytheismo
universo (Innsbruck, Wagner).
Die ſeinerzeit viel diskutierte Metrikfrage hat in Bezug auf die
prophetiſchen Schriften eine Bereicherung durch K. v. Orellis (prot.)
„Kommentar über die zwölf kleinen Propheten“ (München, Bed) erfahren.
Orelli erblickt das Weſen der hebräiſchen Dichtung im regelmäßigen Wechſel
von betonten und unbetonten Wörtern oder Silben. J. Hontheim 8. J.
hat das Hohelied neu überſetzt und nach dem Literalſinn erklärt (Bibliſche
Studien XIII, 4. Hft). Er weiſt bei dieſer Gelegenheit nach, daß es choriſche
Struktur zeigt und aus ſechs Liedern beſteht, dieſe wieder aus Strophen⸗
gruppen, jede Strophe aus drei bis vier Zeilen von je zwei Stichen. —
Weniger für die katholiſche als für die proteſtantiſche Bibelwiſſenſchaft ein
Problem iſt die fog. „Ebed⸗Jahwe Frage“ (Qf Kap. 40—55). Nach
J. Meinholds ebenſo radikaler als origineller und intereſſanter Schrift „Die
Weisheit Israels in Spruch, Sage und Dichtung“ (Leipzig, Quelle u. Meyer)
— einer populär religionsgeſchichtlichen Darlegung der Welt- und Gottes⸗
anſchauung der hebräiſchen Spruchweisheit und überhaupt des altteftament-
lichen Weisheitsgehaltes — „wird dieſes Rätſel immer ungelöſt bleiben“;
aber nur deshalb, fügen wir hinzu, weil die proteſtantiſche Schriftauslegung
eine direkt meſſianiſche Deutung des Ebed⸗Jahwe verabſcheut. Darum kann
auch dem ſonſt verdienten und beſonnenen Forſcher Profeſſor Sellin
(Das Rätſel des deutero-jefaianijden Buches, Leipzig, Deichert) die reſtloſe
Deutung des Ebed⸗Jahwe auf König Jojachin nicht gelingen, und er muß
die kollektiviſtiſche Beziehung auf das ganze Volk Israel zu Hilfe nehmen. —
Es war deshalb ſehr zweckmäßig, dieſen Strömungen gegenüber die katho⸗
liſche Auffaſſung über die jeſaianiſchen und überhaupt alle „Meſſianiſchen
Weisſagungen im A. T.“ aufs neue vorzuführen, wie es Ad. Schulte
(Paderborn, Schöningh) und in populär-⸗wiſſenſchaftlicher Darſtellung Profeſſor
K. A. Leimbach (Regensburg, Manz) taten. |
1. Theologie. A. Bibelwiſſenſchaft. 151
7. Lehrreiche Beiträge zur Geſchichte der Schriftauslegung bringen die
Publikationen der „Altteſtamentlichen Abhandlungen“ (Münſter, Aſchendorff).
P. Heiniſch behandelt im erſten Doppelheft den „Einfluß Philos auf die
ältefte chriſtliche Exegeſe“ (Barnabas, Juſtin, Klemens von Alexandria),
womit nach langer Zeit die Arbeit H. Kihns (1866) über die antiocheniſche
Exegetenſchule ein vorzügliches Seitenſtück findet, im vierten Heft die grie⸗
chiſche Philoſophie im Buche der Weisheit. — Joh. J. Klem. Waldis
hingegen weiſt in der Unterſuchung Hieronymi Graeca in Psalmos Frag-
menta (Hft 3) nach, daß die unter dieſem Namen gehenden Bruchſtücke nur
Stellen aus Pſalmenerklärungen griechiſcher Kirchenväter find. \
8. Die Lehrbücher der Geſchichte und Religion des A. T. haben einen
neuen Zuwachs erhalten in Profeſſor Michael Hetzenauers O. Cap. Theo-
logia Biblica (Freiburg, Herder). Hetzenauer führt die Anſichten der verjchie-
denen Exegeten vor, um fie vom konſervativen Standpunkt aus kritiſch zu unter ·
ſuchen. Beſonders ſcharf geht er mit den Moderniſten ins Gericht. — Eine
gute Orientierung über die Pentateuchliteratur und eine klare, überfichtliche
Inhaltsangabe der Schriften des A. T. gibt P. C. Röſch O. Cap. in ſeiner
„Inhaltsüberſicht und kurzgefaßten ſpeziellen Einleitung für das A. T.“
(1. Tl, Hiſtoriſche Schriften. Münſter, Aſchendorff). Ausführliches über den In ⸗
ſpirationsbegriff bietet K. Telch in ſeiner Introductio generalis in Script. S.
(Regensburg, Puſtet), die im übrigen allerdings den Anſprüchen an eine
brauchbare Einleitung nicht vollauf genügt. — Proteſtantiſcherſeits iſt zu
erwähnen die „Geſchichte des Reiches Gottes bis auf Jeſus Chriſtus“ von
Profeſſor Ed. König (Braunſchweig, Wollermann), die durchaus auf dem
Boden des Bibelglaubens ſteht.
9. Für das N. T. hat großes Intereſſe die Frage nach der Dauer der
öffentlichen Wirkſamkeit Jeſu Chriſti. Die Einjahrhypotheſe iſt heute
jo ziemlich abgetan, da die nicht zu beſtreitende Echtheit von Jo 6, 4 fie un ⸗
möglich macht. Schwieriger iſt die genaue Fixierung der mehrjährigen Wirk⸗
ſamkeit. Wilh. Homanner (Bibliſche Studien XIII, 3. Hft) nimmt eine
etwas mehr als dreijährige Tätigkeit Chriſti an, E. Mos ke (Kathol. Seel-
ſorger 1907 / 1908, Paderborn, Schöningh) eine mehrjährige, ohne daß ſich
ein ſtringenter Beweis für drei Jahre führen laſſe, P. Dauſch bezeichnet es
(Bibliſche Zeitſchrift VI 425 f) als „aller Weisheit Schluß“ in dieſer Frage:
Nur die zweijährige Wirkſamkeit kann wirklich bewieſen werden, eine mehr
als zweijährige iſt möglich. — In der vortrefflichen Homannerſchen Schrift
ſtoßen wir gleich auf ein zweites Problem, nämlich das der abſoluten
Chronologie verſchiedener wichtiger Daten der Heilsgeſchichte, z. B. des
Todestages Jeſu bezw. des damaligen Oſterfeſtes, oder ob der Tod Jeſu
ins Jahr 33 oder 30 zu ſetzen ſei, wie auch das Alter des Herrn ſtrittig
iſt. Hierher gehört die Studie Alfr. Mayers zu Lk 2, 2: „Die Schätzung
bei Chriſti Geburt“ (Veröffentl. des bibl.⸗patr. Seminars Innsbruck, 3;
152 V. Wiſſenſchaften.
Innsbruck, Rauch) mit dem Reſultat: Geburtsjahr Chriſti 5 oder 6 vor
der chriſtlichen Ara, der Zenſus unter Saturnin begonnen, unter Varus
fortgeſetzt, unter Quirinius beendet. — Zu gar auffallenden und ab-
weichenden Reſultaten kommt Profeſſor H. Kellner in der Schrift „Jeſus
von Nazareth und feine Apoſtel im Rahmen der Zeitgeſchichte“ (Regens-
burg, Puſtet) betreffs des Geburtsjahres Chriſti (751), der Bekehrung des
Paulus (ein Jahr nach dem Tode Chriſti), des Apoſtelkonzils (37), des
Martyriums Petri (55) und Pauli (57). Hätte Kellner recht, ſo würde
freilich unſere bisherige Chronologie umgeſtoßen; aber für die Prämiſſen
wären da vorerſt überzeugendere exegetiſche Beweiſe zu erbringen, als es
in ſeinem Buche geſchieht; bis dahin ſind die von ihm aufgeſtellten Theſen
unannehmbar. — Im Kampfe der Meinungen über die Galaterfrage
hat die nordgalatiſche Theorie im Jahre 1908 einen gewaltigen Vorſtoß zu
verzeichnen. Alf. Steinmann drängt in feiner Schrift „Der Leſer⸗
kreis des Galaterbriefes“ (Neuteſtamentliche Abhandlungen, 3. u. 4. Hft)
die Gründe der „Südgalater“ mit ſo ſiegreichen Waffen zurück, daß dieſe
wohl endgültig das Feld werden räumen müſſen. Das Buch iſt zugleich
ein Beitrag zur urchriſtlichen Miſſionsgeſchichte und berührt ſich inſofern
mit einem andern Problem, der Stellung Chriſti zur Heidenwelt. — Die uns
Katholiken ſelbſtverſtändliche, von proteſtantiſcher Seite jedoch in Zweifel
gezogene Tatſache, daß Chriſtus die Völkermiſſion gewollt und angebahnt
hat, behandelt Profeſſor Max Meinerg in der bibliſch⸗theologiſchen Unter.
ſuchung „Jeſus und die Heidenmiſſion“ (Neuteſtamentliche Abhandlungen,
1. u. 2. Hft). Er beweiſt in gediegener Darſtellung, daß der Heiland der Ur⸗
heber der Miſſion in univerſalem Sinne iſt 1. — Ein Problem, das langſam,
aber ſtetig ſeiner Löſung näherſtrebt, iſt die Vulgatafrage. Zunächſt fand das
Verhältnis der Vulgata zur Itala wieder einige Klärung. Pfarrer Joſeph
Denk (Bibliſche Zeitſchrift 225 ff) und H. J. Vogels in der Unterſuchung
über „St Auguſtins Schrift De Consensu Evangelistarum“ (Bibliſche
Studien XIII, 5. Hft) wieſen die Theſe Burkitts, die Itala St Auguſtins
ſei nichts anderes als die Vulgata des hl. Hieronymus, als eine textkritiſche
Unmöglichkeit nach, Vogels ſpeziell kam zum Ergebnis, daß der von Augu⸗
ſtinus verwendete altlateiniſche Text im 5. Jahrhundert durch einen Vulgata⸗
tert verdrängt wurde. — Einen andern ſchätzenswerten Beitrag liefert Joſ.
Michael Heer in der kritiſchen Ausgabe der Versio latina des Barnabas-
briefes (Freiburg, Herder), worin er auch deren Verhältnis zur altlateiniſchen
Bibel unterfucht, mit dem Ergebnis, daß die Überſetzung Zeuge einer alt-
lateiniſchen Bibel vorhieronymianiſchen Charakters und afrikaniſcher Herkunft
iſt. — Eine lehrreiche Studie zur Geſchichte der Vulgata im 16. Jahr-
1 Bol. zu 88 2 und 3 dieſer Schrift das 3. Hft der „Bibl. Zeit⸗ und Streitfragen“:
Friedr. Sieffert, Die Heidenbekehrung im A. T. und im Judentum (Berlin, Runge).
1. Theologie. B. Kirchengeſchichte und Kirchenrecht. 153
hundert und zur Textkritik derſelben veröffentlichte aus ungedruckten Quellen
P. Hildebrand Höpfl O. S. B.: „Kardinal Wilh. Sirlets Annotationen
zum N. T.“, eine Verteidigung der Vulgata gegen Valla und Erasmus
(Bibliſche Studien XIII, 2. Hft). — C. R. Gregory, der Herausgeber
der Prolegomena zu Tiſchendorf, hat auf dem Gebiete der Textkritik eine
einſchneidende Reform durchgeführt, zu der ihm ſämtliche Vertreter der katho⸗
liſchen und proteſtantiſchen Bibelwiſſenſchaft ihre Zuſtimmung gaben: die
einheitliche Umſignierung aller griechiſchen Bibelhandſchriften mit alleiniger
Anwendung der arabiſchen Zahlzeichen (Die griechiſchen Handſchriften des
N. T. Leipzig, Hinrichs).
10. Nun noch einige Einzelthemen. Johannes den Täufer ſchilderte
nach Schrift und Tradition, in Literatur und Kunſt Theodor Innitzer
(Johannes der Täufer. Wien, Mayer u. Co.); es iſt dies die erſte größere
katholiſche Johannesbiographie. — Profeſſor Belſer gab einen Kommentar
zum „ſchönſten und ſchwerſten“ Paulusbriefe heraus (Der Epheſerbrief des
Apoſtel Paulus überſetzt und erklärt. Freiburg, Herder), ähnlich dem vor⸗
jährigen über die Paſtoralbriefe. — Den vielerörterten Ausſpruch Jeſu vom
„Kamel und Nadelöhr“ unterſuchte kritiſch Georg Aicher (Neuteſtamentl.
Abhandl., 5. Hft) mit dem Reſultate: Mt 19, 24 iſt korrumpiert oder
mißverſtanden und hat wohl gelautet: Leichter iſt es, durch einen Raum
hineinzugehen ſo klein wie ein Nadelöhr, als ins Himmelreich einzugehen. —
„Das Verwandtſchaftsverhältnis zwiſchen dem 1. und 2. Briefe an die Ge⸗
meinde von Theſſalonich“ prüfte Kaplan Gruner in den „Weidenauer
Studien“; es ergibt ſich daraus nur die gemeinſame Autorſchaft, nicht aber
literariſche Abhängigkeit. — Zu „heterodoxen Reſultaten“, die immerhin
beachtenswert ſind, kommt Mader betreffs der „Apoſtel und Herrenbrüder“
(Bibliſche Zeitſchrift 393 ff). Er findet, der Herrenbruder Jakobus fei
nicht Apoſtel und Judas Thaddäus kein Herrenbruder u. a. — Im 3. Heft
ſeiner „Beiträge zur Einleitung ins N. T.“ (Leipzig, Hinrichs) weiſt Adolf
Harnack die Apoſtelgeſchichte als Werk eines Autors nach.
B. Kirchengeſchichte und Kirchenrecht.
Don Dr Karl Hieſch.
Seit Papſt Leo XIII. das Vatikaniſche Archiv der Geſchichtsforſchung
allgemein zugänglich gemacht hat, bildet die päpſtliche Diplomatik den
Gegenſtand eifriger Forſchung. Aus den Arbeiten des Jahres 1908 iſt
eine Schrift P. M. Baumgartens „Von der Apoſtoliſchen Kanzlei“ (Köln,
Bachem) hervorzuheben, welche das Ergebnis der „Unterſuchungen über die
päpftlichen Tabellionen und die Vizekanzler der Heiligen Römiſchen Kirche
154 V. Wiſſenſchaften.
im 13., 14. und 15. Jahrhundert“ der Offentlichkeit mitteilt. Der bekannte
fleißige Forſcher berichtet im erſten Teile ſeines Werkes über die Prüfung,
Vereidigung und Ernennung der Bewerber um das päpſtliche Notariat. Im
zweiten Teile bietet er eine allerdings noch unvollſtändige Liſte der Inhaber
des römiſchen Vizekanzleramtes.
An Quellenausgaben ſind zu verzeichnen: „Der Liber ordinarius
(Gottesdienſtordnung) der Eſſener Stiftskirche“, herausg. von Franz Arens
(Paderborn, Junfermann), der über die Stellung der Stiftsgeiſtlichen, das
Begräbnisweſen und die Oblationen Aufſchlüſſe gibt, und das Cartularium
vetus Campi Sancti Teutonicorum de Urbe, herausg. von P. M. Baum-
garten (Rom, Forzani), das vetus genannt wird, weil es nur die Zeit von
Martin V. bis zur Erhebung der im Titel bezeichneten deutſchen Bruderſchaft
zur Erzbruderſchaft unter Gregor XIII. umfaßt.
Eine emſige Pflege fand das Gebiet der Diözeſangeſchichte. Matth.
Höhler bietet eine „Geſchichte des Bistums Limburg“ (Limburg, Vereins-
druckerei) hauptſächlich auf Grund des im biſchöflichen Archiv zu Limburg
vorhandenen Aktenmaterials und mit beſonderer Rückſichtnahme auf das Leben
und Wirken des während des Kulturkampfes oft genannten dritten Biſchofs
P. J. Blum. — Herm. Lauers „Geſchichte der katholiſchen Kirche im Groß⸗
herzogtum Baden“ (Freiburg, Herder) iſt größtenteils eine Geſchichte des Erz
bistums Freiburg unter der Herrſchaft des badiſchen Staatskirchentums und
der parlamentariſchen Geſetzgebung. — Joh. Gg. Mayer beginnt eine
„Geſchichte des Bistums Chur“ (Stans, v. Matt). Die vorliegenden ſechs
Hefte enthalten die Geſchichte von der Römerzeit bis in das 14. Jahrhundert.
Der Verfaſſer hält den als Gründer des Bistums bezeichneten hl. Lucius für
eine geſchichtliche Perſönlichkeit. Bezüglich der aus dem Liber Pontificalis
ſtammenden Nachricht, nach welcher Lucius ein britiſcher König war und
nach ſeiner Bekehrung als Miſſionär in Rätien wirkte, tritt er der Meinung
Ad. Harnacks bei, der die Bemerkung des Papſtbuches auf eine Verwechſlung
mit dem König Lucius Abgar von Edeſſa (Britium) zurückführt.
Das Berichtsjahr brachte eine Reihe gediegener Einzeldarſtellungen.
Joh. M. Pfättiſch unterſucht „Die Rede Konſtantins d. Gr. an die Ver⸗
ſammlung der Heiligen“ (Freiburg, Herder) auf ihre in den letzten Jahren
aus inneren Gründen angegriffene Echtheit. Nach ſeinen Ausführungen iſt
die Rede vor dem Konzil von Nicäa von Konſtantin in lateiniſcher Sprache
abgefaßt, von einem literariſch gebildeten kaiſerlichen Kanzleibeamten in
das Griechiſche überſetzt und mit der platoniſchen Philoſophie entnommenen
Ausdrücken durchſetzt worden. Aus der Echtheit dieſer Rede ſchließt der
Verfaſſer auf die Echtheit der in der Vita von Euſebius enthaltenen, gleich⸗
falls als Fälſchungen bezeichneten Urkunden, da zwiſchen dieſen und jener
in religiböſen Fragen, namentlich in der Ausdrucksweiſe über Chriſtus,
Übereinſtimmung herrſcht. — Peter Junglas veröffentlicht eine neue
1. Theologie. B. Kirchengeſchichte und Kirchenrecht. 155
Studie über „Leontius von Byzanz“ (Paderborn, Schöningh). Er weiſt
gegen Ermoni nach, daß Leontius nicht nur nicht der erſte, ſondern über⸗
haupt kein Ariſtoteliker unter den Kirchenſchriftſtellern war, da er ſich,
wenigſtens in der Anthropologie, als Neuplatoniker erweiſt. Er ſucht auch
zu zeigen, daß der Patriarch Severus von Antiochia in der Chriſtologie
den Standpunkt des Kyrillos von Alexandrien eingenommen, jedoch eine
andere Terminologie gebraucht und daher das Konzil von Chalcedon ab-
gelehnt habe. — Mit einer Unterſuchung der „Kloſtervogtei im rechts⸗
rheiniſchen Teil der Diözeſe Konſtanz bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts“
(Köln, Bachem) führt uns Alfons Heilmann in das Mittelalter hinüber.
Er zeigt, daß vom 9. bis zum 12. Jahrhundert ſämtliche Klöſter von der
niederen zur höheren Gerichtsbarkeit gelangten, ſo daß die Kloſtervögte
innerhalb der kirchlichen Immunitätsgebiete tatſächlich die Stellung der
Grafen inne hatten. — Die Hagiographen des Mittelalters finden an
Gisbert Menge in deſſen Schrift „Haben die Legendenſchreiber des
Mittelalters Kritik geübt?“ (Münſter, Aſchendorff) einen Verteidiger. Man
kann die Behauptung Menges, daß auch im Mittelalter die Glaubwürdig⸗
keit eines Zeugen nach deſſen Kenntnis und Rechtſchaffenheit gemeſſen wurde,
nicht völlig abweiſen, allein es darf nicht überſehen werden, daß der Vor⸗
wurf der Kritikloſigkeit, wenigſtens von katholiſcher Seite, dem Mittelalter
in dem Sinne gemacht wird, daß es eine unzureichende Kritik geübt hat.
In dieſem Sinne iſt der Vorwurf ſehr berechtigt. Übrigens kommt der
Verfaſſer mit ſeinem Zugeſtändniſſe, daß man im Mittelalter nicht in dem
Maße und in der Weiſe Kritik angewendet hat, „wie es in unſerer Zeit
von einer geſunden Wiſſenſchaft geſchieht“, ſelbſt denjenigen entgegen, gegen
welche er die mittelalterlichen Hagiographen verteidigt. — Joſ. Saſſen
behandelt in ſeiner Schrift „Hugo von St Cher und ſeine Tätigkeit als
Kardinal“ (Bonn, Hanſtein) die 19jährige Tätigkeit, welche der genannte
Kardinal auf dem Konzil zu Lyon, während ſeiner Legation in Deutſchland
und im Streite gegen die Bettelorden entfaltet hat. Er findet, daß Kardinal
Hugo während des Streites der Päpſte mit den Staufern im mäßigenden
Sinne gewirkt habe. — Adolf Ott berichtet in ſeinem Werk „Thomas
von Aquin und das Mendikantentum“ (Freiburg, Herder) über die ſchwan⸗
kende Haltung, die der genannte Kirchenlehrer im Streite der Pariſer
Univerſität gegen die Bettelmönche eingenommen hat. Nach feinen Aus⸗
führungen iſt auch Thomas dem „franziskaniſchen Mißverſtändniſſe“, nach
welchem die vollſtändige Beſitzloſigkeit ein Weſensbeſtandteil der evangeliſchen
Vollkommenheit iſt, unterlegen, und zwar mehr in den Gelegenheitsſchriften
und weniger in den ſyſtematiſchen Werken. Zur Erklärung dieſer Haltung
des Aquinaten im Armutsſtreite wird auf deſſen Ordenszugehörigkeit und
Verteidigerſtellung an der Pariſer Univerſität hingewieſen, die einer ſo⸗
fortigen objektiven Stellungnahme, keineswegs aber einer wachſenden Klärung
156 | V. Wiſſenſchaften.
des Urteils hinderlich waren. Ott unterſcheidet aber viel zu wenig zwiſchen
den Anſchauungen des Franziskanerordens und den der extremen Spiri⸗
tualen; das „Mißverſtändnis“ der letzteren kann nicht als „franziskaniſch“
bezeichnet werden 1. — Ein Lebensbild aus der Zeit der katholiſchen Re-
ſtauration in Bayern bietet Luzian Pfleger in ſeinem „Martin Eiſen⸗
grein“ (ebd.). Wir erſehen daraus, wie der ſchwäbiſche Konvertit, der nur
ein Alter von 42 Jahren erreichte, als Pfarrer und Prediger, als Ge⸗
lehrter und Schriftſteller, als kaiſerlicher Hofprediger und oberſter Leiter
der Univerſität Ingolſtadt eine ſtaunenswerte Tätigkeit entfaltete und ſich
immer als einen entſchiedenen Gegner aller prinzipienloſen Reformverſuche
zeigte. — Einen Beitrag zur Kultur- und Kunſtgeſchichte des 17. und
18. Jahrhunderts liefert Joſ. Braun 8. J. im erſten Teil ſeines Werkes
„Die Kirchenbauten der deutſchen Jeſuiten“ (ebd). Er beſpricht die Kirchen
in der ungeteilten rheiniſchen und der niederrheiniſchen Ordensprovinz und
zeigt, daß die Jeſuiten den Barockſtil weder nach Deutſchland gebracht
noch daſelbſt verbreitet haben, ſondern vielmehr, entſprechend dem Geiſte
ihrer Ordensregel, der landesüblichen Bauweiſe gefolgt find. — Alfons
Scheglmann veröffentlicht die zweite Hälfte des dritten Bandes ſeiner
„Geſchichte der Säkulariſation im rechtsrheiniſchen Bayern“ (Regensburg,
Habbel). Seine genauen Berichte über den Perſonal⸗ und Vermögens⸗
ſtand, die Kirchen und inkorporierten Pfarren, die Beſtände der Biblio⸗
theken und Archive der ſäkulariſierten Klöſter laſſen den großen Verluſt
an materiellen Mitteln und literariſchen Schätzen erkennen, den die Kirche
damals erlitten hat. — Joh. Bapt. Kißling bietet das Schlußheft zu
H. Brücks „Geſchichte der katholiſchen Kirche im 19. Jahrhundert“ (Münſter,
Aſchendorff), das die Kirchengeſchichte Deutſchlands ſeit 1870 zum Ab⸗
ſchluß bringt. Sein Bericht über den Schulkampf in Deutſchland und
Oſterreich, die theologiſche und philoſophiſche Literatur und das inner⸗
kirchliche Leben iſt nicht durchweg erfreulichen Inhalts, da dem großen
Aufſchwunge der Preſſe und des Vereinslebens eine Zunahme der Miſch⸗
ehen, der Übertritte zum Proteſtantismus und eine Abnahme der Kon-
verſionen gegenüberſtehen.
Unter den periodiſchen Werken ſind zwei Neuerſcheinungen zu
verzeichnen. Das kirchengeſchichtliche Seminar der Wiener theologiſchen
Fakultät hat im Anſchluß an feine Veranſtaltungen zur Feier des Chryſo⸗
ſtomus⸗Jubiläums mit der Veröffentlichung von „Studien und Mitteilungen“
(Wien, Mayer) begonnen. Im Jahre 1908 find drei Hefte erſchienen, ein Be⸗
richt über die würdige Chryſoſtomus⸗Feier, eine Abhandlung Leopold Eigls
über „Walahfrid Strabo“ und Peter Aßlabers über „Die perſönlichen
Beziehungen der drei großen Kirchenlehrer Ambroſius, Hieronymus und
1 Vgl. Theologiſche Revue (Münſter) 1908, Sp. 600 ff.
1. Theologie. B. Kirchengeſchichte und Kirchenrecht. 157
Auguſtinus“. — Die zweite Neuerſcheinung iſt das „Jahrbuch des Stiftes
Kloſterneuburg“ (Wien, Kirſch). Anknüpfend an die früher in dieſem Stifte
gepflegte literariſche Tätigkeit haben die Chorherren den Entſchluß gefaßt,
die Schätze ihrer Bibliothek und ihres Archivs zu heben und die Ergebniſſe
ihrer Studien durch die Herausgabe eines Jahrbuches zum Gemeingut der
Wiſſenſchaft und Kunſt zu machen. Im vorliegenden erſten Bande beſpricht
Herm. Pfeiffer das von ihm in einem Sammelkodex aufgefundene Oſter⸗
ſpiel, nach dem einſt B. Pez und F. Kurz vergeblich geſucht hatten. Er
verweiſt die Handſchrift des Oſterſpiels in das 13. Jahrhundert und ſucht
den Dichter in Kloſterneuburg. Berth. Gernik berichtet über die An-
fänge des Humanismus im Stifte Kloſterneuburg, der ſchon in der Mitte
des 15. Jahrhunderts an den beiden Chorherren Johann Swarcz und
Wolfgang Winthager Vertreter fand. Einen Beitrag zur Geſchichte des
öſterreichiſchen Prälatenſtandes liefert Vinzenz Ludwig in ſeiner Ab⸗
handlung über den Kloſterneuburger Propſt Thomas Ruef. Er ſchickt eine
Liſte der Prälatenſtandsverordneten vom 16. bis zum 18. Jahrhundert
voraus und beſpricht die Haltung Ruefs während des habsburgiſchen Thron⸗
kampfes am Beginne des 17. Jahrhunderts. Wolfg. Pauker berichtet
über die Beziehungen Daniel Grans zum Stifte Klofterneuburg. — Im
ſechſten Bande der von Max Sdralek herausgegebenen „Kirchengeſchichtlichen
Abhandlungen“ (Breslau, Aderholz) behandelt F. Piontek die katholiſche
Kirche und die häretiſchen Apoſtelgeſchichten bis zum Ausgange des 6. Jahr-
hunderts und kommt zu dem Ergebniſſe, daß die Thomas, Andreas⸗,
Johannes- und Petrusakten ſeit Euſebius vielen Kirchenvätern und Kirchen⸗
ſchriftſtellern bekannt waren und von dieſen ſtrenge bezüglich der dogma⸗
tiſchen, milder bezüglich der geſchichtlichen Teile beurteilt wurden, im Volke
jedoch keine weite Verbreitung hatten. Franz K. Seppelt ſetzt feine Be⸗
handlung des Kampfes der Bettelorden an der Univerſität Paris in der
Mitte des 13. Jahrhunderts fort und ſchildert den äußeren Verlauf des⸗
ſelben. Er findet, daß nicht ſo ſehr perſönliche Schuld als vielmehr die
Zeitverhältniſſe die Urſachen des Kampfes waren, daß dieſer ſehr viel zur
Bildung der Fakultäten beigetragen hat, und daß die gegneriſche Stellung,
in welche die Pariſer Hochſchule zum Papſte und zu den Bettelmönchen ge.
riet, den Boden für den ſpäteren Gallikanismus vorbereitet hat. F. Haaſe
bietet nach monophyfitiſchen (ſyriſchen und koptiſchen) Quellen ein Bild des
Patriarchen Dioskur I. von Alexandrien, der mit kluger Verwendung der
günſtigen Zeitumſtände den Grund zur ägyptiſchen Nationalkirche gelegt
hat. Nach ſeiner Meinung iſt das Bild weder ein vollſtändiges noch ein
wahrheitsgetreues, doch könne man aus dieſen Quellen erſehen, welche An.
ſchauungen in den monophyſitiſchen Kreiſen vorherrſchend waren.
In das Gebiet der Geſchichte des religiöſen Lebens fällt Karl Knellers
„Geſchichte der Kreuzwegandacht von den Anfängen bis zur völligen Aus⸗
158 V. Wiſſenſchaften.
bildung“ (Freiburg, Herder). Man iſt überraſcht, wenn man erfährt, daß
die 14 Stationen dieſer ſo volkstümlichen Andacht erſt am Ausgange des
Mittelalters vollzählig erſcheinen. Der Verfaſſer führt die Aufnahme jener
Stationen, von denen die Heilige Schrift nichts berichtet, auf Bethlem,
einen Prieſter des 15. Jahrhunderts, zurück. — Joſ. Seitz bietet eine ein ⸗
gehende Darſtellung der „Verehrung des hl. Joſeph in ihrer geſchichtlichen
Entwicklung bis zum Konzil von Trient“ (ebd.), in der nicht allein die
theologiſche Literatur, ſondern auch die kirchliche Kunſt Berückſichtigung
findet. Er verlegt die Anfänge der Verehrung des Heiligen in die Zeit
der Scholaſtik und ſieht in Gerſon deren eifrigſten Förderer.
Unter den kirchenrechtlichen Publikationen iſt an erſter Stelle der
88. Band des von Prälat Franz X. Heiner herausgegebenen reichhaltigen
„Archiv für katholiſches Kirchenrecht“ (Mainz, Kirchheim) zu erwähnen, das
über die aktuellen kirchenrechtlichen Angelegenheiten unterrichtet. Aus den Ab⸗
handlungen ſeien folgende herausgehoben: Joh. Pietſch berichtet über die
Vorſchläge des Berliner Profeſſors W. Kahl zur Reform des deutſchen Straf⸗
rechts. Dieſe Vorſchläge zielen auf eine Einſchränkung des bisherigen ſtrafrecht⸗
lichen Schutzes der Religionsgeſellſchaften hin. Bedauerlich iſt der dabei ein⸗
genommene Standpunkt, daß der Schutz des Strafrechts nicht den Religions-
geſellſchaften als ſolchen, ſondern nur im Intereſſe des öffentlichen Friedens
gewährt werden ſoll; bezeichnenderweiſe wird auch von einer „Säkulariſation
der Religionsdelikte“ geſprochen. A. Hobza behandelt das Ehehindernis
des Betruges. Er führt aus, daß das kanoniſche Recht ein ſelbſtändiges
Ehehindernis des Betruges nicht kennt, und macht den Vorſchlag, das Ehe ⸗
hindernis des Irrtums in den Eigenſchaften durch das des Betruges zu
erſetzen. Der Betrug bei der Eheſchließung iſt gewiß eine ſehr unmoraliſche
Handlung, allein es darf nicht überſehen werden, daß der Begriff des Be⸗
truges unter Umſtänden einen für die Unauflöslichkeit der Ehe bedenklich
weiten Umfang annehmen kann, während dem des Irrtums in den Eigen⸗
ſchaften ganz beſtimmte Grenzen gezogen ſind. Wie viele Enttäuſchungen in
der Ehe könnten nachträglich als Betrug bei der Eheſchließung angemeldet
werden! Andreas v. Di Pauli beſpricht das Ehehindernis des
Katholizismus nach öſterreichiſchem und kanoniſchem Rechte. Er zeigt, daß
durch das neue Ehedekret Pius’ X. die Verſchiedenheit zwiſchen dem Hof-
dekret vom 4. Aug. 1814 und dem kanoniſchen Rechte zum Teile behoben
wurde und nur mehr in den Fällen beſteht, daß ein kanoniſches Hindernis
nicht auch ein ſtaatliches iſt (z. B. dritter Verwandtſchaftsgrad), oder daß
ein Teil einer von getauften Nichtkatholiken geſchloſſenen Ehe zur katho⸗
liſchen Kirche zurückkehrt und von ſeinem Gatten geſchieden iſt. Aus
einem Aufſatze des Czernowitzer Moralprofeſſors E. Wojucki erfahren
wir, daß es gegenwärtig auch in den orientaliſchen Kirchen eine bedauer⸗
liche Anti⸗Zölibatsbewegung gibt, welche die Aufhebung des 6. Kanons
1. Theologie. B. Kirchengeſchichte und Kirchenrecht. 159
der Trullaniſchen Synode (Verbot der Wiederverehelichung der Prieſter)
anſtrebt. Der Verfaſſer findet dieſe Bewegung um ſo tadelnswerter, als
nach der Auffaſſung der orientaliſchen Kirchen der Inhalt des 6. Trulla⸗
niſchen Kanons auf göttlichem Rechte beruht. Alfons Bellesheim be⸗
richtet über die peinliche Lage, in welche der anglikaniſche Klerus durch das
neue engliſche Ehegeſetz geraten iſt. König Eduard VII. hat im Jahre 1907
das Geſetz ſanktioniert, durch welches das Ehehindernis der Schwägerſchaft
im erſten Grade der Seitenlinie aufgehoben wurde. Nach der Lehre der
anglikaniſchen Kirche iſt oder eigentlich war das beſeitigte Ehehindernis im
„göttlichen Geſetze“ begründet. Man ſollte nun erwarten, daß der angli⸗
kaniſche Klerus ſich zur Verteidigung des göttlichen Rechts erheben werde.
Dies iſt aber nicht der Fall; der Klerus fügt ſich, und eines ſeiner an⸗
geſehenſten Mitglieder, der Domherr Thompſon, erklärt offen, es gebe „nur
einen Weg“, um den Schwierigkeiten zu entgehen: man müſſe einräumen,
daß das britiſche Parlament die Heilige Schrift und das chriſtliche Sitten-
geſetz „verdolmetſchen“ könne. Auf einen ſolchen Weg angewieſen ſein, das
iſt das Los der Staatskirche.
Das neue, am Oſterfeſte 1908 in Kraft getretene päpſtliche Dekret Ne
temere i über die Verlobungs- und Eheſchließungsform hat eine Reihe
erklärender Schriften veranlaßt. Franz X. Heiner gibt im „Archiv für
katholiſches Kirchenrecht“ an der Hand des von Kardinal Gennari verfaßten
Kommentars zum Ehedekret einen Überblick über die weſentlichen Unter⸗
ſchiede des alten und neuen Verlöbnis⸗ und Eheſchließungsrechts. — Die
Erläuterungsſchriften von Max Bader (Zur Aufklärung des Volkes über
das neue Verlobungsdekret. Innsbruck, Rauch), J. Karſt (Kommentar
zu dem Dekrete über die Form der Verlöbniſſe und der Eheſchließung vom
2. Aug. 1907. Limburg, Vereins druckerei), Martin Leitner (Die Ber-
lobungs⸗ und Eheſchließungsform nach dem Dekrete Ne temere. Regens-
burg, Manz), Hieron. Noldin (Decretum de sponsalibus et matri-
monio S. C. C. 2. Aug. 1907 cum declaratione. Innsbruck, Rauch),
A. v. Di Pauli (Kommentar zum Dekret Ne temere mit beſonderer Be⸗
rückſichtigung der öſterreichiſchen Ehegeſetzgebung. Graz, Styria) und Alois
Schmöger (Form der Ehekonſenserklärung und Verlöbniſſe nach dem
römiſchen Dekrete Ne temere. Wien, Fromme) ſind teils für den Klerus
teils für das Volk verfaßt.
Aus kanoniſtiſchen Einzelwerken machen wir auf folgendes aufmerkſam:
J. B. Sägmüller unterſucht die „Biſchofswahl bei Gratian“ (Köln, Bachem).
Er führt aus, daß man gegen Ende des 12. Jahrhunderts kirchlicherſeits
bemüht war, jeden auch den im Wormſer Konkordat dem deutſchen Könige
zugeſtandenen Einfluß der Laien auf die Biſchofswahl auszuſchließen und
1 Vel. dieſes Jahrbuch I 13 f.
160 V. Wiſſenſchaften.
dieſe nur in die Hände der Domkapitel zu legen. Entſprechend dieſer Rich⸗
tung ſtellte Gratian den Satz auf: Electio clericorum est consensus
plebis. Große Schwierigkeiten verurſachten ihm bei der Begründung dieſes
Satzes die während des Inveſtiturſtreites entſtandenen, von ihm aber nicht
erkannten Fälſchungen über Privilegien der Päpſte Hadrian I. und Leo VIII.
an Karl d. Gr. und Otto I. Darüber ſuchte er in der Weiſe hinweg⸗
zukommen, daß er mit Berufung auf das Pactum Ludwigs des Frommen eine
Verzichtleiſtung der Kaiſer auf dieſe Privilegien annahm. — Ant. Schar⸗
nagl verfolgt „Das feierliche Gelübde als Ehehindernis in feiner gejchicht-
lichen Entwicklung“ (Freiburg, Herder). Trotz der Heranziehung neuen
handſchriftlichen Materials iſt er nicht in der Lage, zu dieſem ſchon oft
behandelten Gegenſtande etwas Neues vorzubringen. Hinſichtlich der Frage,
ob die höheren Kleriker durch ein Gelübde oder durch ein Kirchengeſetz zur
Eheloſigkeit verpflichtet ſind, bekämpft er die Gelübdetheorie. — Denſelben
Gegenſtand, den „Verpflichtungsgrund des Zölibates der Geiſtlichen in der
lateiniſchen Kirche“, behandelt auch L. Stampfl im zweiten Bande der
„Weidenauer Studien“ (Wien, Opitz Nachf.). Auch er iſt ein Anhänger
der Geſetzestheorie. Dieſe alte Streitfrage hat übrigens mehr eine theoretiſche
als praktiſche Bedeutung. — Einen Beitrag zur Geſchichte des kirchlichen
Vermögensrechtes bietet Arnold Pöſchls „Biſchofsgut und mensa episco-
palis“ (Bonn, Hanſtein). Im vorliegenden erſten Teile des Werkes vertritt der
Verfaſſer die Anſicht, daß bezüglich der vermögensrechtlichen Entwicklung der
Hochkirchen drei Epochen zu unterſcheiden ſind, die mit einer Anderung des
Verhältniſſes der Bistümer zum Reich zuſammenfallen: in der karolingiſchen
Zeit erfolgte mit dem Eintritte der Biſchöfe in die Reihe der Reichsfürſten
eine Teilung des Kirchengutes in jenen Teil, aus dem der Biſchof den
Reichsdienſt leiſtete, ſeine Vaſallen belohnte und den eigenen Unterhalt be⸗
ſtritt, und in das Tafelgut der Kanoniker (mensa fratrum). Mit der
Ausbildung der Landeshoheit ſeit dem 12. Jahrhundert war eine weitere,
nur das Biſchofsgut betreffende Teilung verbunden, indem aus dieſem jener
Teil ausgeſchieden wurde, der ausſchließlich dem perſönlichen Gebrauche des
Biſchofs dienen ſollte; dieſer Teil wurde mensa episcopalis genannt. Nach
der Ausbildung der Landeshoheit wurde beim Beginn der Neuzeit im
deutſchen Reiche eine dritte Teilung vorgenommen, indem aus dem Biſchofs⸗
gut die mensa publici aerarii ausgeſchieden wurde. Der Verfaſſer betritt
ein Rechtsgebiet, das bisher noch wenig erforſcht wurde. Man kann daher
der näheren Begründung ſeiner Aufſtellungen in den noch ausſtändigen Teilen
ſeines Werkes mit großem Intereſſe entgegenſehen.
1. Theologie. C. Dogmatik und Apologetik. 161
C. Dogmatik und Npologetik.
Don Dr Jofeph Lehner.
Es darf nicht wundernehmen, daß die dogmatiſche und apologetiſche
Literatur auch im verfloſſenen Jahre großenteils unter dem Einfluſſe der
päpſtlichen Entſcheidungen gegen den Modernismus geſtanden iſt. Wenn
der auf der Hochwarte der Zeit ſtehende Lenker der Kirche ein lehramt⸗
liches Wort ſpricht, iſt es Pflicht der katholiſchen Wiſſenſchaft, es dant.
bar entgegenzunehmen, ſich darin zu vertiefen und ſein Verſtändnis
auch weiteren Kreiſen zu erſchließen. Das geſchah denn auch in aus⸗
gedehntem Maße.
Von kleineren Abhandlungen über den Modernismus verdienen hervor⸗
gehoben zu werden: „Was ſoll der Gebildete vom Modernismus wiſſen?“
ein Vortrag von Profeſſor Karl Braig (Frankfurter zeitgemäße Bro-
ſchüren, 28. Jahrg., Nr 1. Hamm, Breer u. Thiemann). Agnoſtizismus
und Immanenzphiloſophie, die beiden Grundlagen des Modernismus,
werden hier nicht ohne Ironie in ihrem Unwerte dargeſtellt. An den
Fragen: Was dünkt euch von Chriſtus? Wer iſt er? Weſſen Sohn?
wird dann ein ſpezielles Beiſpiel für die grundſtürzenden Wirkungen der
neuen Lehre bezüglich des Dogmas geboten. — „Was iſt der Moder⸗
nismus?“ lautet der Titel einer von Profeſſor Leonh. Atzberger
edierten Schrift (Einſiedeln, Benziger), die eine ſehr gut orientierende
Antwort auf die drei Fragen gibt: 1. Was iſt der vom Papſte ab⸗
gelehnte Modernismus? 2. Gibt es in Wirklichkeit Moderniſten im Sinne
des päpftlichen Rundſchreibens? 3. Welches find im einzelnen die Grund⸗
lagen und Hauptgrundſätze des Modernismus? — Eine andere kleine Schrift
„Der Modernismus“, zwei Abhandlungen des Kardinals Mercier (Köln,
Bachem), enthält einen Hirtenbrief und den Auszug aus einer Rede, die
der Kardinal vor den Profeſſoren und Studierenden der katholiſchen Uni-
verfität Löwen gehalten hat, während Karl Forſchner eine homiletiſche
Erklärung der Papſtworte unternommen hat in den „Kanzelvorträgen über
den Modernismus“ (Mainz, Kirchheim). — Eine wiſſenſchaftliche Beleuch⸗
tung der Enzyklika⸗Grundſätze bieten die „Theologiſchen Zeitfragen“ von
Chr. Peſch S. J., 4. Folge: „Glaube, Dogmen und geſchichtliche Tat⸗
ſachen“, und 5. Folge: „Glaubenspflicht und Glaubensſchwierigkeiten“ (Frei⸗
burg, Herder). Die erſte der beiden Abhandlungen, ſchon vor der Enzyklika
geſchrieben, enthält eine Kritik der moderniſtiſchen Auffaſſungen vom Glau⸗
ben. Beſonders wertvoll ſind die wörtlichen Auszüge aus den Schriften
einzelner Moderniſten. Die zweite beleuchtet die einzelnen Denkſchwierig⸗
keiten, die ſich aus der abſoluten Sicherheit und Notwendigkeit des Glaubens
einerſeits und aus deſſen göttlichem, übernatürlichem m anderſeits
Jahrbuch der Zeit⸗ und Kulturgeſchichte. II.
162 V. Wiſſenſchaften.
ergeben. — Prälat M. Gloßners Schrift „Die Enzyklika Pascendi und der
neue Syllabus Bapft Pius’ X.“ (Paderborn, Schöningh) bringt unter anderem
eine kritiſche Beleuchtung von Außerungen pro und contra zur Enzyklika. —
Denſelben Zweck verfolgt Profeſſor Phil. Kneib in „Weſen und Bedeutung
der Enzyklika gegen den Modernismus“ (Mainz, Kirchheim), worin er be-
ſonders die von Ehrhard und Schnitzer in der „Internationalen Wochen⸗
ſchrift“ ausgeſprochenen Bedenken in ruhigem und fachlichen Tone zurüd-
weiſt. — Schärfer äußert ſich ſpeziell über Ehrhard die Broſchüre „Die
Enzyklika Pius’ X. gegen den Modernismus und Ehrhards Kritik derſelben“
von Joſ. Müller 8. J. (Innsbruck, Rauch).
Der unerquickliche Streit in der Schell⸗TCommer⸗Frage! dauert noch
fort. Widerlegung des Commerſchen Buches beabſichtigt die Schrift „Die Stel-
lung der Kirche zur Theologie von Hermann Schell auf Grund der kirchlichen
Akten und der literariſchen Quellen“ von F. X. Kiefl (Paderborn, Schöningh).
Der Verfaſſer verteidigt Schell gegen Commers Vorwurf, die wichtigſten
Glaubenslehren ſamt und ſonders infolge ſeines Gottesbegriffes in unrichtiger
Weiſe dargeſtellt zu haben, und will zeigen, Commer ſei in ſeinen Angriffen
viel weiter gegangen als die Kirche ſelbſt. Die Auffaſſung von Schells
„Unterwerfung“ iſt doch wohl etwas zu optimiſtiſch. Beſonders der Brief⸗
wechſel nach der Indizierung zeigt das Gegenteil. Schließlich find Commers
Briefe an Schell und ein Artikel des Erzbiſchofs Theodorowicz gegen
Commer abgedruckt. Trotz allem, was Kiefl fagt, iſt doch nicht zu be⸗
ſtreiten, daß es verdienſtlich war, die gefährlichen Irrungen der Speku⸗
lation Schells in ihrem Zuſammenhange zu zeigen und auf die gefährlichen
Schlußfolgerungen des von ihm vertretenen irrigen Gottesbegriffes hinzu⸗
weiſen. Commers Arbeit iſt, um aktuell zu ſein, ſchnell geſchrieben. Wenn
infolgedeſſen manche Verſehen im Zitieren unterlaufen ſind, iſt das wohl
bedauerlich, aber entſchuldbar. — Ein Freund Schells, Karl Henne-
mann, hat deſſen „Kleinere Schriften“ geſammelt herausgegeben lebd.).
Dieſe zeigen Schells gute und ſchwache Seiten und werden daher ſicher
von Freund wie Feind für ihre Zwecke ausgebeutet werden. — Daß von
akatholiſcher Seite auf die moderniſtiſche Bewegung große Hoffnungen ge⸗
ſetzt wurden, zeigen die im Verlage bei Diederichs in Jena in ſehr ſplen⸗
dider Ausſtattung erſchienenen reformkatholiſchen Schriften. Ein erſter Band
enthält die „Antwort der franzöſiſchen Katholiken an den Papſt“ (über-
tragen von René Prevöt), der zweite das „Programm der italieniſchen
Moderniſten“ in einer von der Kraus⸗Geſellſchaft beſorgten Überſetzung. —
In Oſterreich benutzten freiſinnige Profefjoren die „Wahrmund⸗Affäre“ 2
zu Vorſtößen gegen die Gleichberechtigung der katholiſchen Wiſſenſchaft an
1 Vgl. dieſes Jahrbuch I 17 f.
7 Vgl. Abſchnitt IV, 3: „Unterrichts und Bildungsweſen“.
1. Theologie. C. Dogmatik und Apologetik. 163
den Univerſitäten. Dieſen tritt A. J. Peters’ „„Klerikale Weltauffaſſung“
und ‚freie Forſchung““ (Wien, Eichinger) entgegen. Die Schrift birgt eine
Fülle apologetiſchen Materials zum Kampfe gegen die moderne atheiſtiſche
Weltauffaſſung.
Doch die Wiſſenſchaft empfängt ihre Impulſe nicht bloß und auch nicht
hauptſächlich durch die Beit- und Streitfragen des Tages. Die Forſchung
trägt in ſich ſelbſt den Trieb nach Weiterentwicklung. Es ſei hingewieſen
auf das alte, nunmehr aber in der zehnten Auflage vollſtändig erneuerte
Enchiridion symbolorum et definitionum von H. Denzinger. Cl. Bann⸗
wart 8. J. hat die neue Auflage beſorgt, die in den Herderſchen Verlag
überging. Die älteften Glaubensſymbole find nun nach wiſſenſchaftlichen
Grundſätzen gruppiert und mit einem ausführlichen kritiſchen Apparat ver⸗
ſehen. Die übrigen Dokumente wurden ſtreng chronologiſch geordnet und
ſelbſt die letzten päpſtlichen Entſcheidungen ſchon aufgenommen. — Ein
weites Feld für die wiſſenſchaftliche Forſchung bietet in der Gegenwart die
Chriſtologie. Es ſind hier die Grundlagen des katholiſchen Dogmas von
der göttlichen Perſon Jeſu Chriſti gegen die liberale proteſtantiſche Hyper⸗
kritik zu verteidigen. Dieſe Aufgabe ſtellt ſich eine der gediegenſten Er⸗
ſcheinungen des vorjährigen katholiſchen Büchermarktes, das Buch „Das
Evangelium vom Gottesſohn“ von Profeſſor A. Seitz (Freiburg, Herder).
Nach eingehender Kritik der beiden Hauptrichtungen der modernen prote⸗
ſtantiſchen Theologie, nämlich der Liberal-rationaliftifchen, die in Harnack
verkörpert iſt, und der evolutioniſtiſchen, die hauptſächlich von Pfleiderer
vertreten wird, führt Seitz den Beweis für die wahre Gottesſohnſchaft Jeſu
im Sinne des katholiſchen Dogmas, und zwar auf Grund der Selbſtzeugniſſe
Jeſu. Hieran ſchließen ſich dem Inhalte nach die Vorträge, die auf
dem 2. theologiſchen Hochſchulkurſus zu Freiburg i. Br. von Karl Braig,
Gottfried Hoberg, Cornelius Krieg, Simon Weber, Bro-
feſſoren an der Univerſität Freiburg i. Br., und von Gerhard Eſſer,
Profeſſor an der Univerſität Bonn, gehalten wurden und unter dem Titel
„Jeſus Chriſtus“ erſchienen ſind (ebd.). Die fünf Vortragszyklen behandeln
den geſchichtlichen Charakter der vier Evangelien, die Gottheit Jeſu im
Zeugniſſe der Heiligen Schrift, Jeſus Chriſtus außerhalb der katholiſchen
Kirche im 19. Jahrhundert, das chriſtologiſche Dogma unter Berückſichtigung
der dogmengeſchichtlichen Entwicklung und Jeſus Chriſtus, die Wahrheit,
der Weg und das Leben. Daran ſchließen ſich zwei über die Modernismus⸗
frage orientierende Vorträge. — Daß die modern ⸗proteſtantiſche Leben Jeſu⸗
Dichtung vor den unerquicklichſten Konſequenzen nicht zurückſcheut, beweiſt
die Notwendigkeit eines Buches, wie es Phil. Kneib unter dem Titel
„Moderne Leben Jeſu⸗Forſchung unter dem Einfluſſe der Pſychiatrie“ (Mainz,
Kirchheim) veröffentlicht hat. Nicht weniger als vier neuere proteſtantiſche
Autoren ſind es, die gegen die heiligſte Perſon des Gottmenſchen den Vor⸗
11°
164 V. Wiſſenſchaften.
wurf der Geiſtesſtörung erhoben und aus dieſer Jeſu Leben und Werk zu
erklären ſich vermaßen.
Auch über die Sakramentenlehre, beſonders bezüglich des Buß⸗ und
Altarsſakramentes, liegen aus dem Berichtsjahre bedeutende Arbeiten vor.
Als zuſammenfaſſendes Hauptwerk ſtellen wir voran: „Euchariſtie und Buß⸗
ſakrament in den erſten ſechs Jahrhunderten der Kirche“ von Profeſſor
Gerh. Rauſchen (Freiburg, Herder). Rauſchen betrachtet jene Punkte
näher, die dogmengeſchichtliche Schwierigkeiten bieten. So wird behandelt
bezüglich des Altarsſakramentes: die reale Gegenwart Chriſti und die Weſens⸗
verwandlung, ſoweit beide in den älteſten chriſtlichen Zeugniſſen zur Dar⸗
ſtellung kommen. Ferner wird die Einſetzung der Euchariſtie durch Chriſtus
gegen neuere proteſtantiſche Leugnungsverſuche verteidigt. Die durch Fr. Renz
und Fr. Wieland wieder in Fluß gebrachte Frage nach dem Weſen des
Meßopfers, nach der römiſchen Form des Meßkanons, die Bedeutung der
Epikleſe werden auf Grund neuerer Arbeiten beſprochen und aus dieſen
das mutmaßliche Reſultat gezogen. Vom Bußſakramente wird ſpeziell die
kirchliche Vergebung der Kapitalſünden in den erſten drei Jahrhunderten
behandelt, reſp. gegen Eſſer und Stufler verneint. Auch das öffentliche
Bußweſen der alten Kirche überhaupt ſowie die Praxis der öffentlichen und
geheimen Beichte werden ausführlich beſprochen. Mögen auch nicht alle
Punkte von Rauſchen einwandfrei und für immer gelöſt ſein, das Endurteil
muß allgemein angenommen werden, daß eine prinzipielle Anderung oder
Neuerung in der Verwaltung des Bußfakramentes nicht konſtatiert werden
kann, wenn auch das kirchliche Bußweſen in ſeiner heutigen Erſcheinung im
Vergleich zum altkirchlichen große Verſchiedenheiten aufweiſt. — Zu der
Euchariſtie⸗Forſchung kann auch herangezogen werden: „Die Schrift Mensa
und Confessio und P. Emil Dorſch S. J.“ von Franz Wieland (München,
Lentner). P. Dorſch hatte nämlich die im Titel genannte Schrift Wielands in
der „Innsbrucker Zeitſchrift“ (Hft 2, S. 39 ff) einer vernichtenden Kritik unter-
zogen und gegen den Autor den Vorwurf des Modernismus erhoben. Die
vorliegende Schrift weiſt dieſen Vorwurf zurück und zeigt, daß Wieland nicht
das gänzliche Fehlen eines Opfers für die erſten Jahrhunderte behaupten
wollte, ſondern nur das Fehlen des jetzigen Opferbegriffes. Doch ſind die
Aufſtellungen Wielands nicht zu halten. — Zur gleichen Frage nimmt in
ſpekulativer Weiſe Stellung eine kleine Broſchüre von Georg Pell: „Noch
ein Löſungsverſuch zur Meßopferfrage?“ (Paſſau, Kleiter.) Pell iſt ſtark
beeinflußt von Renz und legt den Hauptnachdruck beim Opfer auf die innere
Opfergeſinnung. Weil aber nach ſeiner Theorie auch die Konſekration nur
einer Spezies als wirkliches Opfer gelten müßte, hat ſein Löſungsverſuch
kaum Ausſicht, der endgültige zu fein. — Vom dogmengeſchichtlichen Stand-
punkt aus behandelt Karl Adam „Die Euchariſtielehre des hl. Auguſtin“
(Forſchungen zur chriſtlichen Literatur. und Dogmengeſchichte VIII, 1. Hft.
1. Theologie. C. Dogmatik und Apologetik. 165
Paderborn, Schöningh). Er verteidigt hier den Biſchof von Hippo in ganz
einwandfreier, dogmengeſchichtlicher Methode gegen die Proteſtanten, die ihn
größtenteils als Verfechter der bloß ſymboliſchen Gegenwart Jeſu im Altars⸗
ſakramente betrachten.
Ebenſo beſchäftigt ſich mit Auguſtin das Werk von Karl Kolb „Menſch⸗
liche Freiheit und göttliches Vorherwiſſen nach Auguſtin“ (Freiburg, Herder).
Das Buch beleuchtet die pſychologiſche Entwicklung, welche Auguſtin durch⸗
gemacht hat bezüglich der Anſchauung über das Verhältnis von menſchlicher
Freiheit zum göttlichen Vorherwiſſen. Anfangs mehr die Freiheit des
Willens betonend, kommt er ſchließlich im Kampfe gegen die Pelagianer zu
einer allſeitigen Vorherbeſtimmung des freien Aktes im Menſchen durch
Gott. Er wird Anhänger der abſoluten Prädeſtination. — Über „Die
Mariologie des hl. Auguſtin“ handelt eine Studie von Phil. Friedrich
(Köln, Bachem). Die Anſicht, daß Auguſtin ein direkter Zeuge für die
unbefleckte Empfängnis Marias geweſen ſei, findet an Friedrich keinen
Anwalt. Speziell durch Auguſtin gefördert wurden nach ihm die Lehren
von Marias Jungfräulichkeit in der Geburt, von ihrem Jungfräulichkeits⸗
gelübde, von der geiſtigen Mutterſchaft Marias und ihrer Freiheit von
jeder perſönlichen Sünde.
Wie Auguſtin wird auch der hl. Cyprian vielfach von den Proteſtanten
angeſprochen als Vertreter eines Kirchenbegriffes, der dem proteſtantiſchen
homogen ſei. Dazu nimmt Bernh. Poſchmann (Die Sichtbarkeit der
Kirche nach der Lehre des hl. Cyprian, in Forſchungen zur chriſtlichen Lite⸗
ratur- und Dogmengeſchichte VIII, 2. Hft) Stellung. Poſchmann zeigt, daß
für Cyprian der Epiſkopat die Grundlage der ſichtbaren Kirche iſt, und daß
er den Primat als Fundament der kirchlichen Einheit anerkennt, obwohl er
den einzelnen Biſchöfen — in Verbindung mit dem Papfte — volle Selb-
ſtändigkeit zuerkennt. Dieſe falſche Auffaſſung mußte ihm im Streite mit
Bapft Stephan verhängnisvoll werden. Ferner weiſt Poſchmann nach, daß
Cyprian das kirchliche Lehramt als nächſte Glaubensregel, Schrift und
Tradition dagegen als entfernte anſah. Auch gibt er über Lehre und Praxis
der Sakramente in der Kirche zur Zeit Cyprians reichliche Aufſchlüſſe. —
In einer weiteren dogmengeſchichtlichen Abhandlung aus derſelben Serie
(Bd VIII, 3. Hft) bringt Ferd. Brommer „Die Lehre vom ſakramentalen
Charakter in der Scholaſtik bis Thomas von Aquin inkluſive“ zur Sprache.
Die älteſte ſcholaſtiſche Literatur deutet den Charakter nur an durch die
Lehre von der abſoluten Unwiederholbarkeit und Unverlierbarkeit gewiſſer
Sakramente, ſowie durch das der Gnadenwirkung (res) gegenübergeſtellte
sacramentum, das auch der ſittlich nicht Disponierte empfängt. Seit
Wilhelm von Auvergne prägt ſich die Lehre vom ſakramentalen Charakter
immer mehr aus, bis ſie in Thomas, deſſen Lehre eingehend beſprochen
wird, ihren Höhepunkt erreicht. — P. Parth. Minges O. F. M. hat
166 V. Wiſſenſchaften.
ſchon mehrmals zur Feder gegriffen zur Verteidigung des Meiſters der
Franziskanerſchule, Duns Scotus. Diesmal beleuchtet er „Das Verhältnis
zwiſchen Glauben und Wiſſen, Theologie und Philoſophie nach Duns Scotus“
(Forſchungen zur Literatur- und Dogmengeſchichte VIII, 4. u. 5. Hft). Hier
wird Scotus freigeſprochen von dem Vorwurfe des exzeſſiven Skeptizis⸗
mus und Traditionalismus, der die Kräfte der menſchlichen Vernunft all⸗
zuſehr in den Hintergrund ſtellen möchte gegenüber dem Glauben und der
Autorität.
In dem Buche „Inwiefern iſt der Begnadigte ein übernatürliches Eben⸗
bild Gottes?“ (Regensburg, Manz) iſt G. Birkler einem ſehr ſchwierigen
ſpekulativen Probleme näher getreten. Er verſucht den Nachweis, daß der
eigentliche Grund unſerer übernatürlichen Gottesebenbildlichkeit zurückzuführen
ſei auf ein direktes Erfaſſen und Umſchließen Gottes mit unſerem durch die
Gnade erhöhten Geiſte. Das Buch ſtellt ſich als ſpekulative Höhenwanderung
mit myſtiſchem Einſchlage dar.
Auch die Apologetik hat uns im letzten Jahre manches neue Werk
gebracht. Als bedeutende Arbeit präſentiert ſich „Der alte und der neue
Glaube“ von Profeſſor Georg Reinhold (Wien, Kirſch). Ein populär⸗
wiſſenſchaftliches Buch, in dem ein gründlicher Apologet aus ſeinem Schatze
Altes und Neues hervorholt, um durch eine Fülle von Beweismaterial
die verſchiedenſten Einwendungen gegen Gott, Chriſtentum und chriſt⸗
liche Dogmen zu widerlegen. — Eine ganz eigenartige Apologie hat
Otto Zimmermann 8. J. geliefert unter dem Titel „Ohne Grenzen
und Enden. Gedanken über den unendlichen Gott“ (Freiburg, Herder).
Eine einzige göttliche Eigenſchaft wird hier gegen den Monismus verteidigt,
die Unendlichkeit, damit aber zugleich der ganze chriſtliche Gottesglaube.
Der Verfaſſer zeigt, daß ſich unendlich und ungeſchaffen, unendlich und
göttlich (im Sinne der chriſtlichen Theologie) vollſtändig decken. Schließlich
wird mit oratoriſchem Glanze und myſtiſcher Gemütstiefe die praktiſche Be⸗
deutung der Unendlichkeit Gottes geſchildert. — Eine Art negativer oder
indirekter Apologetik hat uns W. Heile geſchenkt in ſeinem Büchlein „Un⸗
kenntnis Andersgläubiger in catholicis“ (Trier, Paulinusdruderei). Wer
das Schriftchen geleſen hat, muß das Urteil der Vorrede beſtätigen, daß die
Mehrzahl der Gebildeten — ſelbſt die gelehrten proteſtantiſchen Theologen
nicht ausgenommen — den Buddhismus beſſer kennt als das Weſen der katho⸗
liſchen Religion. Manche der hier gebotenen Proben dieſer Ignoranz wären
geradezu amüſant, handelte es ſich nicht um eine Sache, die ſehr bedauerliche
praktiſche Folgen nach ſich zieht. — Unter den Vereinsgaben der Görres⸗
Geſellſchaft (Köln, Bachem) bringt Joſ. Troxler unter dem Titel „Die
neuere Entwicklung des Altkatholizismus“ eine intereſſante Studie, die eines
eigenartigen apologetiſchen Reizes nicht entbehrt. Ein tatſächlicher Fortſchritt
in der altkatholiſchen Bewegung iſt nicht zu merken, ſelbſt die künſtlich ge⸗
1. Theologie. C. Dogmatik und Apologetik. 167
machte Los von Rom Bewegung hat ihn nicht gebracht. — In den
„Weidenauer Studien“ (Wien, Opitz) beſpricht P. Alois Bukowski S. J.
„Die Genugtuungsidee in der ruſſiſch⸗ orthodoxen Theologie“. Er zeigt, daß
in den ſymboliſchen Schriften der ruſſiſch⸗ orthodoxen Kirche die Genugtuungs⸗
lehre in ganz katholiſchem Sinne geboten wird. Erſt in neuerer Zeit haben
einige Theologen eine von der katholiſchen abweichende Art der Darſtellung
und Auffaſſung des Dogmas beliebt. — In den „Apologetiſchen Tages⸗
fragen“ (M.⸗Gladbach, Volksverein, 7. Hft) hat A. Rademacher über
„Gnade und Natur“ geſchrieben. Die Studie iſt reich an Hinweiſen auf die
modernſten Fragen und zugleich eine willkommene Verteidigung des Chriſten⸗
tums gegen den Vorwurf prinzipieller Kulturfeindlichkeit. — Apologetiſche
Eſſays finden ſich abwechſelnd mit fehr anſprechenden Reiſe⸗ und Kultur⸗
ſchilderungen in den Epistulae redivivae des Konvertiten Ansgar Albing
(Migre Dr v. Mathies. Osnabrück, Pillmeyer). Dieſe apologetiſchen Be-
trachtungen zeigen nebſt dem Vorzuge, daß es ſich um Wahrheiten handelt,
die ein ernſter, Gott ſuchender Geiſt ſelbſt erlebt hat, auch noch den Glanz
eines leichtflüſſigen, farbenprächtigen Stils, mit dem ein beliebter Roman⸗
ſchriftſteller ein Stück Autobiographie darbietet.
Von proteſtantiſchen Werken, die ja zum Großteil ins bibliſche und
hiſtoriſche Fach einſchlagen, ſollen hier nur einige erwähnt werden als
Proben der im proteſtantiſchen Lager herrſchenden Richtungen auf dog⸗
matiſchem und apologetiſchem Gebiete. Zwei Bücher, die uns wegen ihrer
ernſten Richtung und des in ihnen ausgeſprochenen vollen Chriſtusglaubens
ſympathiſch ſein können, ſind „Das lutheriſche Abendmahl“ von Alfr. Reſch
und „Das göttliche Selbſtbewußtſein Jeſu nach dem Zeugnis der Synoptiker“
von J. Steinbeck (beide Leipzig, Deichert). Reſch ſpricht ſich gegen die
kirchliche Union zwiſchen Lutheranern und Reformierten, vielmehr für eine
ſchiedlich⸗ friedliche Trennung aus. Wir freuen uns des Bekenntniſſes der
Gottheit Chriſti und ſeiner wirklichen Gegenwart in der Euchariſtie. Ob
aber nicht doch die „ſchriftgemäße Wahrheit“ noch weiter nach rechts führt
ins katholiſche Lager? Steinbecks Buch iſt ein proteſtantiſches Pendant zu
dem früher beſprochenen Werke von A. Seitz. Der Autor kommt zu dem
befriedigenden Schluſſe, „daß wir beides (Menſchheit und Gottheit Jeſu)
miteinander behaupten müſſen und zu untrennbarer perſönlicher Einheit in
Jeſus, dem heiligen, gottmenſchlichen Erlöſer, Richter und Herrn verbunden
ſehen dürfen, das iſt das Reſultat, welches die Analyſe feines Selbſtbewußt⸗
ſeins auch nach dem ſynoptiſchen Berichte ergibt“. — Im grellen Gegenſatze
dazu ſteht das Büchlein „Jeſus im Wandel der Zeiten“ von Joh. Riehl
(Leipzig, Seemann), ein Machwerk ohne jede Spur von Wiſſenſchaftlichkeit,
das wir nur nennen, um davor zu warnen. — Mit mehr Schein von
Wiſſenſchaftlichkeit und Frömmigkeit beweiſt Th. Kaftan in dem Schriftchen
„Der Menſch Jeſus Chriſtus, der einzige Mittler zwiſchen Gott und den
168 v. Wiſſenſchaften.
Menſchen“ (Bibl. Zeit- und Streitfragen IV, 3. Hft. Großlichterfelde, Runge),
daß es erſt „durch Jeſus Chriſtus zu einer wirklichen Gemeinſchaft zwiſchen
Gott und den Menſchen gekommen iſt“. „Er iſt Mittler im vollen Sinne
des Wortes, ſowohl was Gottes Erkenntnis, als was die Begründung der
bleibenden Herrſchaft Gottes unter den Menſchen betrifft.“ Das wäre alles
recht ſchön, manches auch recht ſalbungsvoll geſagt. Aber daß Chriſtus als
bloßer Menſch ſolch ein Mittler ſein könne, iſt unmöglich. Jeſu Selbſt⸗
bezeugungen im Evangelium gelten entweder nichts, dann iſt es auch um
den „Mittler“ geſchehen, — oder, wenn ſie gelten, führen ſie unbedingt
über die bloße Menſchheit Jeſu hinaus. — In dem Buche „Chriſtus und
der Fortſchritt“ von David James Burrell, überſetzt von Graf
H. v. Hallwyl (Gütersloh, Bertelsmann), ſpricht ein proteſtantiſcher Eng-
länder über die im Titel angedeutete Frage. Schöner Stil vereinigt ſich
mit warmer Begeiſterung für Chriſtus und das geſchriebene Gotteswort.
Der proteſtantiſche Standpunkt muß natürlich auch zur Geltung kommen.
Der Abſchnitt „Iſt der Proteſtantismus ein Fehlſchlag?“ häuft ſogar
Berge von Mißverſtändniſſen und Vorurteilen gegenüber der katholiſchen
Lehre auf. — Die eben erwähnten „Bibliſchen Zeit, und Streitfragen“
(IV, 5. Hft) bringen auch eine Abhandlung über „Das Wunder“ von
Profeſſor Karl Beth in Wien. Der Verfaſſer weiß entſprechend zu
ſchätzen, daß man nur mit dem Wunderglauben die erhabene Geſtalt Jeſu
Chriſti gebührend würdigen könne. Bei der Erörterung des Verhältniſſes
zwiſchen Natur und Wunder können wir ihm indeſſen ſchon nicht mehr
folgen. — Ein intereſſantes dogmengeſchichtliches Problem hat ſich Wil ⸗
helm Braun gewählt in dem Werke „Die Bedeutung der Konkupiszenz
in Luthers Leben und Lehre“ (Berlin, Trowitzſch). Die Vorrede enthält
das erfreuliche Geſtändnis: „Nur wenn wir die Terminologie, die Methoden,
die einzelnen Schulen der mittelalterlichen Theologen vollſtändig zu eigen
haben, werden wir auch Urteile fällen dürfen und ein Verſtändnis für
Luthers Entwicklung gewinnen. In dieſer Beziehung war Denifles „Luther
und Luthertum eine heilſame, wenn auch ſchmerzliche Lehre für die prote-
ſtantiſchen Theologen.“ Doch hat gerade Braun bewieſen, wie ſchwer ein
ſolches Verſtändnis für einen Proteſtanten zu gewinnen iſt. Abgeſehen von
der ſchon ſchiefen Darſtellung der Lehre des hl. Paulus in Auguſtinus über
die Frage nach der Konkupiszenz und ihrer Stellung zur Erbſünde, iſt
gerade die Lehre der Scholaſtik von Braun ganz mißverſtanden und zu
einem Zerrbilde verzeichnet worden. Da fehlt noch viel zum Verſtändniſſe
der Terminologie. Kein Wunder, wenn ſich auf dieſem ſchwarzen Hinter⸗
grund ſcholaſtiſcher Bosheit die Geſtalt Luthers lichtvoll abhebt.
1. Theologie. D. Praktiſche Theologie. 169
D. Praktiſche Theologie.
Don Dr Ignaz Seipel.
Seitdem die ſog. „naturwiſſenſchaftliche“ Weltbetrachtung, die vermeinte,
mit ihrer rein empiriſchen Methode ohne Spekulation alle Rätſel der Natur
und des Menſchenlebens löſen zu können, ihre Unfähigkeit hierzu erwieſen
hat, iſt eine allgemeine Rückkehr zur Philoſophie unverkennbar. Da aber
unſerer Zeit eine deutlich hervortretende Richtung aufs Praktiſche hin eigen
iſt, iſt es erklärlich, daß ein überwiegender Anteil des philoſophiſchen
Intereſſes der praktiſchen Philoſophie, in dieſer hauptſächlich der Ethik, zu-
gefallen iſt. Dieſe Rückkehr zur Philoſophie iſt nicht gleichbedeutend mit
der Rückkehr zur Religion oder gar zum Chriſtentum. Wie man früher vom
Standpunkt der Naturwiſſenſchaft aus gegen die Grundlagen der Religion
anzukämpfen verſucht hat, tut man dies jetzt im Namen der Philoſophie, und
zwar der praktiſchen Philoſophie. Da man es hier mit der wichtigſten und
ſtärkſten Poſition des Chriſtentums zu tun hat, deſſen Sittenlehre bisher
auch bei den Gegnern Anerkennung gefunden, ſo iſt der Eifer, der chriſtlichen
Sittenlehre eine andere, rein philoſophiſche entgegenzuſtellen, groß, und der
Kampf gegen jene wird mit vieler Erbitterung geführt. Mit dieſer religions-
feindlichen Ethik ſetzt ſich Joſeph Tibitanzl in ſeinen „Kernfragen
der Ethik, vom Standpunkte des Monismus und des Chriſtentums betrachtet“
(Salzburg, Kathol. Univerſitätsverein) auseinander.
Von moralhiſtoriſchen Problemen erörterte Otto Schilling
neuerdings „Reichtum und Eigentum in der altkirchlichen Literatur“ (Frei ⸗
burg, Herder). Er dehnte die Unterſuchung weiter als ſeine Vorgänger
Sommerlad und Seipel aus, indem er die nachauguſtiniſchen Schriftſteller
Leo I., Gregor I., Salvian und Iſidor von Sevilla ausgiebiger heran⸗
zog und eine kurze Darſtellung der Anſchauungen des hl. Thomas über das
Eigentum beifügte. Er findet, daß dieſe in keinem Gegenſatz zu denen
der Väter ſtehen, auch nicht, wie Max Maurenbrecher (Thomas von Aquins
Stellung zum Wirtſchaftsleben ſeiner Zeit. Leipzig 1898) meinte, in der
Frage nach der Berechtigung des Privateigentums. — Für die Frage, wie
die alte Kirche das Zinsnehmen beurteilt hat, iſt eine Stelle aus den dem
„Leben des hl. Simeon Stylited” (herausg. von Hans Lietzmann in A. Harnacks
u. C. Schmidts „Texten und Unterſuchungen“, Bd LIL, Hft 4, Leipzig, Hinrichs)
beigegebenen Vorſchriften und Ermahnungen von Intereſſe. Wenn die Deu⸗
tung, die H. Hilgenfeld a. a. O. dieſer nur ſyriſch erhaltenen Stelle gibt,
zutrifft, hat Simeon einen Jahreszins von 6%, für erlaubt erklärt. —
Die Ehrenrettung eines vielgeſchmähten Jeſuitentheologen, des P. Antonio
de Escobar y Mendoza (1589 — 1669), unternahm, und zwar mit vollem
Erfolg, Profeſſor K. Weiß in Graz: „P. Antonio de Escobar y Men-
170 V. Wiſſenſchaften.
doza 8. J. als Moraltheologe in Pascals Beleuchtung und im Lichte der
Wahrheit“ (Klagenfurt, St Joſefs⸗Vereins⸗Buchdruckerei). Es herrſcht in
dieſem Buch ein ſcharfer polemiſcher Ton gegen den berühmten Verfaſſer
der Provinzialbriefe und deſſen Nachbeter in neuerer Zeit. Die gründliche
Unterſuchung der in Betracht kommenden Werke Escobars erweiſt dieſen
Ton als berechtigt. — Auch eine Ehrenrettung verſuchte Georg Sattel
in „Martin Deutinger als Ethiker“ (Studien zur Philoſophie und Religion,
herausg. von R. Stölzle, 1. Hft, Paderborn, Schöningh). Es iſt Sattel
gelungen, durch ſeine gründliche und liebevolle Darſtellung für Deutinger
zu intereſſieren, doch muß er ſelbſt oft genug auf deſſen Irrtümer auf-
merkſam machen, die ſich alle daraus erklären, daß der zweifellos ſehr bedeu-
tende Denker allzuſehr im Banne der deutſchen Philoſophie des beginnenden
19. Jahrhunderts geftanden ift. — Eine moraltheologiſche Frage von öffent⸗
lichem Intereſſe behandelt nach der hiſtoriſchen und poſitiven Seite hin Pro⸗
feſſor Franz Hamm: „Zur Grundlegung und Geſchichte der Steuermoral“
(Trier, Paulinusdruckerei). Die Frage iſt, ob die Steuergeſetze eine un-
mittelbare Gewiſſenspflicht erzeugen oder als reine Pönalgeſetze nur mittelbar
verpflichten. Sein Reſultat iſt: die Steuerpflicht iſt Gewiſſensſache in dem
Sinne, daß die Übertretung der Steuergeſetze Sünde, freilich in der Regel
läßliche Sünde iſt. Mir kommt vor, daß die von Hamm vorgebrachten
Beweiſe nicht zwingen, die berührte Frage in deſſen Sinne zu beantworten.
Beſonders die patriſtiſchen Belege ſcheinen mir nicht viel zu beſagen.
Wie zu Zeiten Gegenſtände, um die man ſich lange wenig gekümmert
hat, ja von denen man geneigt war anzunehmen, ſie hätten ſich überlebt,
wieder vielfach Beachtung finden können, zeigt uns das Beiſpiel der Myſtik.
Das Wiedererwachen des Intereſſes für die Zuſtände des myſtiſchen Lebens
hängt zum Teil mit den Fortſchritten der Medizin, näherhin der Neurologie
und Pſychiatrie, zuſammen, zum Teil mit dem Aufkommen und der Ver⸗
breitung der Philoſophie des Unbewußten und überhaupt pantheiſtiſcher
Strömungen. Die Medizin beobachtet abnorme pſfychiſche Vorgänge und
glaubt nun leicht, weil ſie dieſe verſteht, alle Phänomene im Menſchenleben,
die von der Norm abweichen, erklären zu können. Gegen die Übertreibung,
die in jedem Genie, namentlich auch im religiöſen, einen pathologiſchen Fall
erblickt, nimmt Dr F. Moerchen, Oberarzt in Ahrweiler, in einer Studie
„Die Pßychologie der Heiligkeit“ (Halle, Marhold) mit dankenswerter Ent-
ſchiedenheit Stellung. Doch iſt ihm Heiligkeit die Wirkung eines eigen-
artigen religiöſen Seelenzuſtandes auf das pſychiſche Geſchehen bei beſtimmten
Individuen, alſo etwas ganz anderes, als die Theologie mit dieſem Worte
bezeichnet. Er ſucht zwiſchen dem eigentlichen Weſen der „Heiligkeit“ und
krankhaften Nebenerſcheinungen zu unterſcheiden, geht aber trotz feiner Ver-
wahrungen der „piychiatrifchen Halbbildung“ gegenüber felber ſicher zu weit,
wenn er z. B. alle Ekſtaſe für krankhaft, alle Viſionen für Halluzinationen
1. Theologie. D. Praktiſche Theologie. 171
erklärt. Gar ſeine übertrieben ſcharf ausgedrückten Urteile über einzelne Heilige,
z. B. die Heiligen Franziska Romana, Gertrud, Thereſia, Aloyſius, zeigen,
daß ihm nicht einmal der Aktenſtand über dieſe Perſönlichkeiten hinreichend
bekannt iſt, um über ſie ein Urteil abgeben zu können. — Ein Muſterbeiſpiel
pantheiſtiſcher Pſeudomyſtik iſt das Bändchen „Deutſche Myſtiker“ von
Wilhelm v. Scholz in der Sammlung „Die Kultur“, herausg. von
Corn. Gurlitt (Berlin, Marquardt). Scholz ſtört an den deutſchen Myſtikern
der Vorzeit nur der eine Umſtand die Freude, daß dieſe „ſklaviſch abhängig
waren von der Vorſtellungswelt des Chriſtentums, dieſer legendären Welt⸗
anſchauung“, daß bei ihnen der Theismus immer den reinen Pantheismus
getrübt hat. Er ſieht in den myſtiſchen Erlebniſſen geiſtige Wirklichkeiten,
d. i. „Gedanken, Gefühle und Vorſtellungen, die gänzlich unſerer Willkür
entzogen, ja die auch dem Aſſoziationsprozeß entzogen ſind, den ſie vielmehr
in feiner weſentlichen Richtung wie unbekannte magnetiſche Ziele bedingen“. —
Dieſen pſeudomyſtiſchen Auffaſſungen ſetzt Profeſſor Joſ. Zahn in Straß⸗
burg ſeine „Einführung in die chriſtliche Myſtik“ (Paderborn, Schöningh)
entgegen. Nach genauer Abgrenzung zwiſchen „Myſtik“ und „Myſtizismus“
— dieſe Namen ſchlägt er zur Bezeichnung der echten und der falſchen Myſtik
vor — definiert er das myſtiſche Leben im engeren Sinn als den diesſeitigen
Vollendungszuſtand der Gottvereinigung, im weiteren Sinn als das ganze
geiſtliche Leben in ſeinem Entwicklungsgang und in ſeiner Vollendungsſtufe,
inſofern es aufgefaßt und gepflegt wird unter dem Geſichtspunkt des Strebens
nach vollkommener Vereinigung mit Gott. Er betont die intellektuelle Seite
des myſtiſchen Lebens, alſo das religiöfe Erleben als Erkenntnisquelle, ohne
fie zu übertreiben, ferner den kirchlichen Charakter ſowie das ethiſch⸗aszetiſche,
ſich auch ſozial betätigende Streben der Myſtiker. Natürlich kommt er auch
auf die außerordentlichen Phänomene des myſtiſchen Lebens zu ſprechen.
Seine Art, pfeudo- und antimyſtiſche Phänomene von den echten myſtiſchen
auszuſcheiden und auch an dieſe den kritiſchen Maßſtab anzulegen, hält die
rechte Mitte zwiſchen Hyperkonſervativismus und Hyperkritizismus. — Einen
Beitrag zur geſchichtlichen Erfaſſung der Myſtik liefert Dr Joſ. Stoffels,
„Die myſtiſche Theologie Makarius des Agypters und die älteſten Anſätze
chriſtlicher Myſtik“ (Bonn, Hanſtein).
Von der aszetiſchen Literatur des Jahres 1908 können hier nur
einige wenige Werke hervorgehoben werden. Aus den Aufzeichnungen eines
vor mehr als zwei Jahrhunderten im Rufe der Heiligkeit geſtorbenen Ordens⸗
genoſſen, des P. Claudius de la Colombieère, ſtellte P. Franz Ser.
Hattler 8. J. Aphorismen über religiöſe Gegenſtände zuſammen und gab
ihnen den Titel „Chriſtliche Lebensweisheit“ (Innsbruck, Rauch). — Die
Exerzitien des hl. Ignatius haben die zugleich aszetiſchen und homiletiſchen
Zwecken dienenden neuen Bücher der Jeſuiten Hugo Hurter und Peter
Vogt zur Unterlage. P. Hurter liefert in ſeinen „Beiträgen zu geiſtlichen
172 V. Wiſſenſchaften.
Übungen für Prieſter und Kleriker“ (Innsbruck, Rauch) in loſer Reihe eine
Anzahl von Betrachtungen über Exerzitienwahrheiten zur Auswahl. Vor⸗
züglich disponiert, klar durchdacht und warm empfunden, ſtehen ſie ganz
auf der Höhe der früheren aszetiſchen Schriften des greiſen Verfaſſers.
P. Vogt hat „Die Grundprinzipien der Exerzitien des hl. Ignatius“ aus⸗
führlich dargelegt in Ausſprüchen der Kirchenväter (Regensburg, Puſtet). —
Einen „Wegweiſer für Prieſter, beſonders für jüngere Geiſtliche“ hat Prälat
Ferd. Rudolf bei Herder erſcheinen laſſen. Weltliebe und Gering ⸗
ſchätzung der läßlichen Sünde ſind die Gefahren, vor denen er den jungen
Klerus eindringlichſt warnt. — Zunächſt an Prieſteramtskandidaten, dann
aber auch an gebildete Laien wendet ſich Ludwig Lercher 8. J. in feinen
„Erhebungen des Geiſtes zu Gott. Betrachtungspunkte über das Leben
unſeres Herrn Jeſu Chriſti“ (Regensburg, Puſtet). Das Werk gehört der
„Aszetiſchen Bibliothek“ an. Es wird fünf Bände umfaſſen, von denen bis⸗
her drei vorliegen. — Eine Reihe von Aufſätzen, die früher in den „Stimmen
aus Maria⸗Laach“ erſchienen waren, hat Moritz Meſchler S. J. in zwei
Heften „Geſammelte kleine Schriften“ zuſammengefaßt (Freiburg, Herder).
Die vier Aufſätze des erſten Heftes belehren uns über die Aszeſe, die
Pädagogik des Heilandes ſowie über deſſen Umgang mit den Menſchen
und feine Lehr. und Redeweisheit. Das zweite Heft enthält ſechs Aufſätze,
in denen die Leitgedanken katholiſcher, und zwar aszetiſcher, Erziehung ent⸗
wickelt werden. — Ein ſehr empfehlenswertes Betrachtungsbuch für die Laien-
welt, beſonders für jene gebildeten und vornehmen Kreiſe, die das Betrachten
erſt lernen und in den Betrachtungen zugleich tiefer gehende religiöſe Unter⸗
weiſung, namentlich apologetiſcher Natur finden ſollen, ſchrieb Ansgar
Albing (Mſgre Dr v. Mathies): „Nimm und lies! Erwägungen über den
Geiſt des Chriſtentums im 20. Jahrhundert“ (Regensburg, Puſtet).
„Die kirchliche Reform des Kommunionempfanges durch das Dekret der
Konzilskongregation vom 20. Dez. 1905 und deſſen Ergänzungen“ hat die
Stellung der Seelſorger dem häufigen Sakramentenempfang der Gläubigen
gegenüber, der von nun um vieles erleichtert iſt, modifiziert. P. Corn.
M. Rechenauer 8. D. S. gibt in einem handlichen Heftchen (ebd.) die be-
treffenden Dekrete wieder und erläutert ſie, ſoweit es nötig erſchien, durch
einen einfachen Kommentar. — Eine für die Spendung der Sterbeſakramente
wichtige, wenn auch vorerſt noch weiterer Beweiſe bedürftige Anſicht ver-
treten P. J. B. Ferreres S. J. und Dr J. B. Genieſſe in ihrem aus
dem Franzöſiſchen überſetzten Buche „Der wirkliche Tod und der Scheintod“
(Koblenz, Zentral⸗Auskunftsſtelle). Es iſt dies die Theorie vom latenten
Leben. Sie meinen nämlich, daß ſich die Seele nicht ſofort in dem
Augenblicke, in dem die Herztätigkeit aufhört, vom Leibe trenne, ſondern
daß dies bei gewöhnlichen Todesfällen erſt etwa eine halbe Stunde da⸗
nach, bei plötzlichen vielleicht gar erſt nach zwei Stunden geſchehe. In
1. Theologie. D. Praktiſche Theologie. 173
dieſer Zeit ſei alſo der Menſch noch nicht wirklich tot, es könnten und
müßten ihm daher, wenn früher nicht Gelegenheit dazu vorhanden war,
noch Abſolution und letzte Olung erteilt werden. — Die moderne Seelſorge
fordert vom Geiſtlichen zweifelsohne rege Betätigung auf ſozialem Gebiete.
Sehr beachtenswert — auch für den katholiſchen Seelſorger — ſind dies⸗
bezüglich die Mahnungen, aber auch Warnungen, die Fr. W. Foerſter
im erſten Aufſatze ſeines ſchönen Buches „Chriſtentum und Klaſſenkampf“
(Zürich, Schultheß) gibt. Unentbehrlich erſcheint ihm in den ſozialen Kämpfen
unſerer Zeit das heilende und weckende Wort wahrer Seelſorger. Doch
ſollen nur einzelne Geiſtliche die ſoziale Arbeit, Hilfstätigkeit, zu ihrem
Lebensberuf machen. Im übrigen iſt es von Übel, wenn die geiſtliche
Wirkſamkeit zu ſehr auf die ſoziale Propaganda konzentriert wird. Man
darf neben dem Tatchriſtentum das Seelen und Willenschriſtentum, das
doch die Hauptſache bleibt, nicht vernachläſſigen. Für dieſes aber wirkt der
Geiſtliche mit Erfolg nur in der perſönlichen, individuellen Seelſorge. —
Zu den für die eigentliche Seelſorge ausſichtsreichſten Gebieten ſozialer Be⸗
tätigung gehört die Jugendfürſorge. Von Dr Aug. Piepers vortreff⸗
licher Anleitung zu dieſer: „Jugendfürſorge und Jugendvereine“ (M.⸗Glad⸗
bach, Volksverein), iſt an einer andern Stelle die Rede 1. — „Der
Tabernakel einſt und jetzt“ betitelt ſich das Lebenswerk eines beſcheidenen
Gelehrten, der leider deſſen Ausgabe nicht mehr erleben durfte. Pfarrer
Felix Raible von Glatt in Hohenzollern hatte in ſeiner Kirche einen
neuen Tabernakel zu bauen. Bevor er dieſes Werk ausführte, ging er an
ernſte Studien, wie ein Tabernakel beſchaffen ſein müſſe, um ganz ſeinem
Zwecke und den Vorſchriften der Kirche zu entſprechen. Dieſe Studien
führten ihn immer weiter; er ließ von ihnen auch nicht ab, als ſein Taber⸗
nakel längſt gebaut war, und ſo entſtand ſein Buch, das er mit Recht im
Untertitel „Eine hiſtoriſche und liturgiſche Darſtellung der Andacht zur auf⸗
bewahrten Euchariſtie“ nennen konnte (Freiburg, Herder). Man merkt dem
Buche wiederholt an, daß es von keinem zünftigen Gelehrten geſchrieben
iſt, ſowie daß dem Verfaſſer in ſeiner ländlichen Abgeſchiedenheit manche
literariſche Hilfsmittel fehlten, nichtsdeſtoweniger iſt es ein wahrhaft ge-
lehrtes Werk, das zugleich eine Fülle von Stoff für den Prediger und von
erbaulicher Anregung für den Verehrer des allerheiligſten Sakramentes
enthält. — Die angeblich älteſte Sammlung altrömiſcher Meßgebete hat
Profeſſor Rud. Buchwald in Breslau zum Gegenſtand einer „Weidenauer
Studie“ (II 187—251) gemacht: „Das jog. Sacramentarium Leonianum
und ſein Verhältnis zu den beiden andern römiſchen Sakramentarien.“
Er ift geneigt, die Niederſchrift des Leonianum um das Jahr 600 an-
zuſetzen. Möglicherweiſe ſei ſie von Gregor von Tours veranlaßt worden. —
1 Bol. Abſchnitt IV, 2: „Soziale Bewegung“ S. 89.
174 V. Wiſſenſchaften.
Ein umfangreiches und gründliches Werk über die orientaliſchen Liturgien
verſprechen des Prinzen Max von Sachſen Praelectiones de liturgiis
orientalibus habitae in Universitate Friburgensi Helvetiae (Freiburg,
Herder) zu werden. Der im Berichtsjahr erſchienene erſte Band enthält die
allgemeine Einleitung zu allen orientaliſchen Liturgien und die Darſtellung der
Kultgeräte und des Kirchenjahres der Griechen und Slaven. Der Verfaſſer
tritt in der allgemeinen Einleitung für die Legitimität und in weitgehender
Weiſe auch für die Authentizität der orientaliſchen Liturgien ein und bemüht
ſich, ihre vielen Schönheiten ins rechte Licht zu ſetzen. Ausführlich be⸗
handelt er den Wert dieſer Liturgien für die Dogmatik, wobei beſonders
die Zeugniſſe für den Primat Petri, die Siebenzahl der Sakramente, die
Lehre vom Fegfeuer u. dgl. auffallen und anſprechen. Prinz Max verfolgt
mit dieſen Vorleſungen ausgeſprochenermaßen auch den Zweck, hüben und
drüben für den Unionsgedanken Anhänger zu gewinnen. — Für dieſen
Zweck tätig zu fein, betrachten als ihre beſondere Aufgabe die flavifchen
Theologen Oſterreichs. Im Juli 1907 hatten ſie ſich zu einem Kongreß
zu Velehrad in Mähren zuſammengefunden. In mehreren Vorträgen wurden
die Ausſichten und Schwierigkeiten der Union erörtert. Hoffnungen knüpfte
man beſonders auf die von Solowieff eingeleitete Richtung unter den Ruſſen,
die nicht nur der katholiſchen Kirche gerecht zu werden ſtrebt, ſondern auch
offen die Notwendigkeit der Union zugibt. Über die Verhandlungen dieſes
Kongreſſes geben die Acta I conventus Velehradensis theologorum com-
mercii studiorum inter occidentem et orientem cupidorum (Prag,
Rohliéek u. Sievers) Aufſchluß.
Der „Würde und Bedeutung der Predigt“ hat Profeſſor J. Fiſcher
einen ſchönen Aufſatz in den „Weidenauer Studien“ (II 255 ff) gewidmet.
Ausgehend von dem ſicher wahren Gedanken, daß homiletiſche Schulung
allein nicht den Prediger mache, ſondern daß dieſer vor allem andern
eine lebendige Überzeugung von der Bedeutung feines Amtes haben müſſe,
legt er dieſe auf Grund der Bewertung des Predigtamtes durch Chri-
ſtus, die Apoſtel, die Kirche, die Heiligen, aber auch aus dem Urſprung,
der Aufgabe und der Wirkungsweiſe der Predigt dar. Er iſt dabei von
Überſchätzung der Predigt, wie wir ſie bei den Proteſtanten finden, weit
entfernt. — In ſeiner erſten Enzyklika E Supremi vom 4. Okt. 1903 hat
Pius X. aufs nachdrücklichſte die Bedeutung der Predigt betont. Es hat
daher einen eigenen Reiz, wenn uns heuer die Laumannſche Buchhandlung
in Dülmen in ganz kleinen und billigen, zur Maſſenverbreitung beſtimmten
Heftchen einige Anſprachen, die der Heilige Vater ſelbſt noch als Patriarch
von Venedig gehalten hat, in deutſcher Überſetzung vorlegt. Es ſind dies
eine Lobrede auf den hl. Franz von Sales und drei Anſprachen für Ordens⸗
perſonen, auch für Weltleute dienlich. Beſonders intereſſant iſt die Lobrede,
ein echter, blumenreicher Panegirico, aber praktiſch! Was vom Beiſpiele
1. Theologie. D. Praktiſche Theologie. 175
des Heiligen für alle Chriſten paßt, wird herausgehoben mit der Mahnung,
daß jedes die Frömmigkeit ſeiner Art, ſeines Standes üben ſoll. Dabei
werden die einzelnen Gruppen, Hausmütter, Töchter, Geſchäftsleute, Soldaten,
Studenten, perſönlich angeſprochen. — Ein anderer hoher Kirchenfürſt,
Kardinal Katſchthaler von Salzburg, hat mit dem zweiten Bande ſeiner
„Sonntagspredigten“ (Linz, Preßverein) einen Kirchenjahrzyklus zum Ab⸗
ſchluß gebracht. Alle dieſe Predigten find direkt zum Gebrauch viel-
beſchäftigter Geiſtlicher beſtimmt, deutlich disponiert, ſprachlich gut durch⸗
gearbeitet. — Predigten über einen ſchwierigen Stoff, an den ſich ein Redner
geringeren Ranges hätte kaum heranwagen dürfen, ſind des Wiener Hofpredigers
Profeſſor Cöl. Wolfsgruber O. S. B. „Apokalyptiſche Predigten“ (Wien,
Kirſch). Sie ſind ganz durchtränkt von der Väterlehre, die nicht als ſpora⸗
diſch geſammelte Leſefrucht, ſondern als von Grund aus erarbeitetes Gut
des Verfaſſers erſcheint. Reproduktionen der ſechzehn Dürerſchen Bilder
zur Apokalypſe ſind dem Buche beigegeben. — Von Faſtenpredigten wähle
ich drei Zyklen aus, wie man ſie ſich grundverſchiedener nicht leicht denken
könnte. A. Auguſtin führt ſeine Zuhörer in exegetiſchen Faſtenvorträgen
„Vom Olberg nach Kalvaria“ (Münſter, Aſchendorff). Er ſetzt die ſieben
Hauptſünden zum Leiden Jeſu in Beziehung; jedes künſtliche Pathos und
jede Rührſzene vermeidend, läßt er, wie er im Vorwort ſich gut charakte⸗
riſierend hervorhebt, alle Motive und Quietive aus der Heiligen Schrift
ſelbſt hervorgehen. Nachahmenswert iſt die ſorgfältige Exegeſe, die feine
Momente herausfindet, die ſonſt leicht überſehen werden, und beſonders auch
die ſaubere Arbeit in Bezug auf ſprachlichen Ausdruck und Zitate. —
Prinz Max von Sachſen beantwortet in ſechs Predigten die Frage:
„Was muß der Menſch tun, um ſich der Erlöſung Jeſu Chriſti teilhaftig
zu machen?“ (Regensburg, Manz.) Beſonderes Intereſſe darf die anhangs⸗
weiſe in franzöſiſcher und deutſcher Sprache beigegebene Homilie beanſpruchen,
die Prinz Max am Karfreitag 1907 in der griechiſch⸗katholiſchen Kirche
St-Julien-le-Pauvre in Paris bei der Feier des Epitaphios (der Grab⸗
legung) gehalten hat. Sie weiſt auf die an anderer Stelle bereits genannten
Studien des Verfaſſers zur orientaliſchen Liturgie hin. — Die dritte Reihe
von Faſtenpredigten, wieder ganz anderer Art, ftammt von dem Wiener
Redemptoriſten P. Johannes Polifka. „St Johannes der Täufer“
(Münſter, Alphonſusbuchhandlung) iſt ſein Gegenſtand. Mit Ausſchluß alles
Legendariſchen knüpft er nur an feſtſtehende Züge aus dem Leben des
Heiligen an, behandelt aber im Anſchluß an dieſes durchaus moderne Themen:
Erbfünde, in moderner Beleuchtung, Selbſtzucht, Gebet, Ehereform, Buße,
Pflicht. |
Zu vielen Auseinanderſetzungen gibt immer wieder, und zwar ſowohl
bei Katholiken als Proteſtanten, das große Problem, wie die Jugend am
beften religiös ⸗ſittlich zu erziehen oder, weniger korrekt, aber mehr in land⸗
176 V. Wiſſenſchaften.
läufiger Form ausgedrückt, das Problem des Religionsunterrichtes Anlaß.
Auf proteſtantiſcher Seite hat Paſtor O. Eberhard „Die wichtigſten Reform⸗
beſtrebungen der Gegenwart auf dem Gebiete des Religionsunterrichtes in
der Volksſchule“ beſprochen (Leipzig, Dörffling u. Franke). Wie man aus
dieſem Vortrage ſieht, handelt es ſich bei den Proteſtanten vielfach um das
Schlagwort: „Die Wiſſenſchaft in die Schule!“ womit man das Überführen
der modernen und modernſten proteſtantiſchen Theologie in die Volksſchule
meint. Eberhard wendet ſich gegen dieſes Schlagwort, weil er die Schule
vor der Gefahr bewahren will, in die theologiſche Mode zu verfallen. —
Bei den Katholiken iſt dieſe Gefahr faſt ſo gut wie unbekannt. Über die
Beſtrebungen behufs Reform des katholiſchen Religionsunterrichtes infor⸗
mieren am beſten die katechetiſchen Kurſe, die ſeit einigen Jahren mit großem
Eifer abgehalten werden. Über zwei ſolche Kurſe liegen diesmal Berichte
vor: über den „Münchener katechetiſchen Kurs 1907“, ausgeführter Bericht
von J. Göttler (Kempten, Köfel), und über den „Zweiten pädagogiſch⸗
katechetiſchen Kurs in Wien, 16.—29. Febr. 1908“ (Wien, Kirſch). Auf
dieſen Kurſen betrachtete man wie auf allen vorangegangenen als Aufgaben
einerſeits die Eingliederung der katechetiſchen Tätigkeit in die Seelſorge,
anderſeits den Nachweis des organiſchen Zuſammenhanges der Katechetik
mit der Pädagogik überhaupt. Wo dieſes vorherrſcht, tritt die Methoden ⸗
frage (Münchener Kurs) und mit ihr im Zuſammenhang die Lehrplan⸗ und
Katechismusfrage in den Vordergrund, wo jenes mehr betont wird, der
Erziehungs- und Fürſorgegedanke (Wiener Kurs). Der Münchener Kurs
ſtellte die verſchiedenen Methoden in theoretiſchen Darlegungen und praktiſchen
Erprobungen nebeneinander, der Wiener Kurs trachtete das geſamte religiöſe
Erziehungsweſen von der Elementarklaſſe bis zur Univerſitätsreife der Jugend
(Volksſchule, Bürgerſchule und Mittelſchule) zu umſpannen. — Der verdienſt⸗
volle Herausgeber der Münchener Kursberichte, Privatdozent J. Göttler,
begegnet uns im Berichtsjahre nochmals auf dem Felde der Katechetik. In
einem überaus leſenswerten Hefte der „Pädagogiſchen Zeitfragen“ (IV 5, 23)
erhebt er den Ruf: „Einen Einheits⸗Religionslehrplan. Erwägungen und
Vorſchläge zur Geſtaltung der religiöſen Volksſchulerziehung der chriſt⸗
katholiſchen Jugend“. „Religiöſe Volksſchulerziehung“ fagt er; der von
ihm vorgelegte Einheitsplan ijt in der Tat weniger ein Lehr als ein Er-
ziehungsplan, allerdings völlig abweichend von allen bisherigen Lehrplänen
und daher in abſehbarer Zeit wohl nicht leicht irgendwo einführbar. Wert ⸗
voller noch als die Vorſchläge erſcheinen mir die dieſen vorausgeſchickten
Erwägungen, die auch, wenn andere Lehrpläne in Geltung bleiben, zum
Nutzen der Kinder beachtet zu werden verdienen. — In einem andern Hefte
derſelben „Pädagogiſchen Zeitfragen“ (IV 2, 20) gibt J. Tibitanzl An-
leitung zur „Sozialen Praxis im katechetiſchen Unterricht“. Der oft und oft
geäußerte Wunſch nach einem einheitlichen Katechismus iſt für die Diözeſen
2. Philoſophie. 177
Bayerns heuer durch die probeweiſe Einführung des Deharbe⸗Lindenſchen
Katechismus der Erfüllung nahegerückt worden. Doch hat dieſer neueſtens
wieder heftigen Widerſtand gefunden, ein Beweis dafür, wie ſchwer es iſt,
einen alle befriedigenden Katechismus herzuſtellen. Sehr überraſcht hat die
Schrift des Weihbiſchofs von Freiburg i. Br., Dr Friedr. J. Knecht:
„Zur Katechismusfrage mit beſonderem Hinblick auf die Bearbeitung des
Deharbeſchen Katechismus von P. Linden“ (Freiburg, Herder), und zwar
um ſo mehr, als ſich der Verfaſſer zugleich in recht ſcharfen Worten gegen
die ſüddeutſche Katechetenbewegung wendet.
Über den gegenwärtigen Stand des katholiſchen Miſſionsweſens orientiert
H. A. Kroſes S. J. „Katholiſche Miſſionsſtatiſtik“ (ebd.). Die erſten Ka⸗
pitel verbreiten fic) über Begriff, Gegenſtand und Nutzen der Miſſions⸗
ſtatiſtik, um zu Verbeſſerung auf dieſem Gebiete anzuregen. Darauf folgt
die eigentliche Statiſtik, die durch zwanzig Tabellen anſchaulich gemacht
wird. Unter dieſen finden ſich auch Überſichten über die proteſtantiſchen
Miſſionen in den einzelnen Erdteilen, die zu intereſſanten Vergleichen ein⸗
laden. — Demſelben Verfaſſer in Verein mit P. Weber, Dr W. Lieſe
und K. Mayer verdanken wir die Erfüllung des lang gehegten Wunſches,
ein „Kirchliches Handbuch“ (ebd.) zu beſitzen, das als Nachſchlagebuch über
die Organiſation und den Mitgliederſtand der Kirche, die ſoziale und
charitative Tätigkeit der Katholiken ſowie die kirchliche und kirchenpolitiſche
Geſetzgebung dienen kann. Dieſes Handbuch bietet ein Gegenſtück zu dem
proteſtantiſchen „Kirchlichen Handbuch für das Jahr 1908“, herausg. von
J. Schneider, Pfarrer in Elberfeld (Gütersloh, Bertelsmann), das bereits
den 35. Jahresband aufweiſt. Der Herausgeber begrüßt im Vorwort das
neue katholiſche Handbuch aufs freundlichſte.
2. Phiiofophie.
Don Prof. Dr Jof. Geyfer.
Rein äußerlich treten an der philoſophiſchen Literatur des Jahres 1908
zwei Momente hervor. Das erſte iſt die ſehr geſteigerte Tätigkeit in der
berſetzung fremdſprachiger Werke, und zwar vor allem auch ſolcher der
noch lebenden Zeitgenoſſen. Kein Zweifel, daß dies auf die deutſche Philo⸗
ſophie befruchtend einwirken wird. Das zweite Moment zeigt ſich in dem
noch immer nicht hinreichend befriedigten Bedürfnis, Gruppen wiſſenſchaft⸗
licher Arbeiten nicht nur in Zeitſchriften, ſondern auch teils in Gammel:
bänden teils in Serien von Einzeldarſtellungen zu vereinigen.
Arbeiten, die ein ſpezielles Problem allſeitig zu beleuchten verſuchen,
vereinigte Arth. Drews in dem Werke „Der Monismus, dargeſtellt in
Jahrbuch der Zeit⸗ und Kulturgeſchichte. II. 12
178 v. Wiſſenſchaften.
Beiträgen ſeiner Vertreter“ (Jena, Diederichs). Der erſte Band bringt
Syſtematiſches, der zweite Hiſtoriſches. Wenn auch beide Sammlungen
planmäßig angelegt ſind, ſo kommt doch ein Teil gerade der bedeutendſten
Moniſten nicht zu Wort. Im letzten Beitrag des erſten Bandes verſucht
Hans Thoma eine Deutung des bibliſchen Schöpfungsberichtes aus dem
Geſichtspunkt künſtleriſcher Intuition. — Unter den neuen Sammlungen
von Einzeldarſtellungen zieht zunächſt unſer Intereſſe auf ſich die „Philo⸗
ſophiſch⸗ſoziologiſche Bücherei“ (Leipzig, Klinkhardt), welche neben deutſchen
Originalarbeiten Hauptwerke der ausländiſchen Philoſophie in guten Über⸗
ſetzungen bringt. — Eine für die Geſchichte der Philoſophie zwiſchen dem
14. und 18. Jahrhundert wichtige Sammlung iſt „Renaiſſance und Philo-
ſophie“, herausgeg. von Ad. Dyroff (Bonn, Hanſtein). Zuletzt iſt auf
dem Plan erſchienen die „Syntheſis, Sammlung hiſtoriſcher Monographien
philoſophiſcher Begriffe“ (Heidelberg, Winter). Dieſe Sammlung will in
ihrer Geſamtheit zu einer Geſchichte der Philoſophie in ihren Problemen
und Begriffen werden. Bedeutende Fachleute haben die Darſtellung im
einzelnen übernommen. In der erſten Arbeit entwickelt Jul. Baumann
den „Wiſſensbegriff“; leider mehr kompendiös als wiſſenſchaftlich gründlich.
Philoſophiſche Weltanſchauungen. — Ohne Zweifel regt ſich in der
modernen Philoſophie und Wiſſenſchaft wieder lebhafter das Verlangen
nach einer lebendigen Verbindung der Theorie mit der Wirklichkeit. Wirk.
ſamen Einfluß auf die religiöſe, ethiſche, intellektuelle und äſthetiſche Kultur
der Menſchen kann die Philoſophie aber nur in der Form einer allgemeinen
Welt- und Lebensanſchauung gewinnen. Leider vollzogen ſich in Deutſch⸗
land dieſe Verſuche des Jahres 1908 faſt durchgängig als „neuidealiſtiſche
Bewegung“ unter dem Zeichen des Monismus und in Anknüpfung an die
Philoſophie Fichtes, Schellings und Hegels. Tätig war hierin beſonders
der Verlag von Fritz Eckardt in Leipzig. So ließ er vier Neuausgaben
von Werken J. Gottl. Fichtes durch Fritz Medicus beſorgen, darunter
die „Wiſſenſchaftslehre“ und das „Syſtem der Sittenlehre“. Außerdem
veröffentlichte dort O. Weiß eine Auswahl von Schellings Werken in
drei Bänden und ſchrieb O. Braun über „Schelling als Perſönlichkeit“. —
Friedr. Alfr. Schmid publizierte „Fr. H. Jacobi. Eine Darſtellung
ſeiner Perſönlichkeit und ſeiner Philoſophie als Beitrag zu einer Geſchichte
des modernen Wertproblems“ (Heidelberg, Winter). — Anregend iſt Ferd.
Jak. Schmidt, „Zur Wiedergeburt des Idealismus“ (Leipzig, Dürr).
Für Schmidt iſt die Philoſophie ihrem inneren Weſen nach ſpekulative
Metaphyſik und muß mit dieſem theoretiſchen den praktiſchen Idealismus
verbinden. Dadurch vermag er in der Geſellſchaft mehr als ein bloß
wirtſchaftliches und materielles Problem zu erblicken und dem Menſchen
zu ſagen, er werde nur durch die ſittliche Arbeit für alle wie aller für
ihn wahrer Menſch. Schade, daß der Verfaſſer die theoretiſchen Grund⸗
2. Philoſophie. 179
lagen ſeines praktiſchen Idealismus nur in einer Verſchmelzung von
Kapitalismus, Proteſtantismus und Hegelſchem Panlogismus finden zu
können meint. — Eine andere Richtung der neuidealiſtiſchen Bewegung
ſucht ihren Stützpunkt im deutſchen Humanismus. So endet das anregend,
gründlich und klar geſchriebene Werk von Ed. Spranger, „Wilh.
v. Humboldt und die Humanitätsidee“ (Berlin, Reuther u. Reichard), mit
dem Hinweis auf die Bedeutung dieſer Idee für die Kultur der Gegen⸗
wart. Ein beſonders beherzigenswertes Kapitel iſt dasjenige über „Das
Problem des Geſchlechtsunterſchiedes“, worin ſich aus dem ungemein zarten
Empfinden Humboldts für die der Frau eigentümliche Natur allgemeine
Perſpektiven für die Gegenwart eröffnen. — Bei dieſer Gelegenheit erwähne
ich gleich die Darſtellung der Sprachphiloſophie Humboldts durch Mor.
Scheinert im „Archiv für die geſamte Psychologie“ (XIII 3, 141 bis
195). — Allgemeiner gehalten iſt Mor. Kronenbergs „Geſchichte des
deutſchen Idealismus“, 1. Bd: „Die idealiſtiſche Ideenentwicklung von
ihren Anfängen bis Kant“ (München, Beck). Hier wird uns in angenehmer
Darſtellung als Unterbau für den Neuidealismus eine hiſtoriſch⸗konſtruktive
Betrachtung der Ideen, Probleme und Kulturſtrömungen dargeboten. Das
weckt unwillkürlich unſere Erinnerung an O. Willmanns „OGeſchichte
des Idealismus“ (Braunſchweig, Vieweg u. Sohn). Aber der gleiche Titel
deckt weſentlich verſchiedene Anſchauungen. Nach Kronenberg ergibt ſich alle
Kulturentwicklung aus der Spannung zwiſchen Subjekt und Objekt. Dieſe
findet eine dreifache Löſung: 1. Beherrſchung des Subjekts durch das Objekt,
im Naturalismus; 2. Überwucherung des Objektiven durch das Subjektive,
in den „monotheiſtiſchen Religionen, im Spiritualismus und Myſtizismus“;
3. ſtatiſches Gleichgewicht zwiſchen Subjekt und Objekt, im deutſchen Huma⸗
nismus. Willmann ſucht die Höhe des Idealismus im zweiten, Kronenberg
im dritten Gebiete. Die Wahl zwiſchen beiden iſt uns angeſichts der Tat⸗
ſache nicht ſchwer, daß die von Kronenberg gehandhabte „konſtruktive“ Art,
die hiſtoriſchen Kulturformen zu betrachten, ihn zu einer ganz unhiſtoriſchen
Auffaſſung des Weſens des Chriſtentums geführt hat; denn dieſes iſt ihm
Mythenbildung mit Perſonifikation des Subjektiven. Das beweiſt er durch
die Sekte der Valentinianer (S. 52 ff). Dem entſpricht ſein Verſuch, die
„Chriſtusgeſtalt“ als das Produkt „griechiſcher Philoſophie und jüdiſcher
Religion, freien philoſophiſchen Denkens und mythenbildender Phantaſie“
darzuſtellen (S. 50 f). Ferner meint Kronenberg, die Aufnahme der Dogmen
in den Verſtand bedeute „zunehmende Einſicht in die Unhaltbarkeit dieſer
Dogmen, Erkenntnis ihrer Sinnloſigkeit, ihres Widerſpruchs gegen alle
andere Verſtandeseinſicht und alle Denkgeſetze. Das iſt die ganze Geſchichte
und die ganze Tragik des chriſtlichen Rationalismus (der alſo ſchon bei den
Vätern der Kirche beginnt) bis auf den heutigen Tag“ (S. 59). Natürlich
liegt die Sache in Wahrheit ſo, daß ein Dogma wohl überlogiſch, niemals
12°
180 V. Wiſſenſchaften.
aber evident widerlogiſch ſein darf. — Einen größeren Einfluß werden
vorausſichtlich gewinnen die Arbeiten des mit dem Nobelpreiſe gekrönten
Jenenſer Philoſophen Rud. Eucken. Er veröffentlichte eine „Einführung
in eine Philoſophie des Geiſteslebens“ (Leipzig, Quelle u. Meyer) und eine
Schrift „Der Sinn und Wert des Lebens“ (ebd.). Die kulturgebärende
Spannkraft findet Eucken in dem jedem Menſchen immanenten Gegenſatz
zwiſchen einem bloß menſchlichen und einem mehr als menſchlichen Moment.
Das Endziel des menſchlichen Lebens müſſe Glück, Wahrheit und vollendete
Harmonie der ganzen Wirklichkeit in ſich vereinigen. Verfehlt werde das⸗
ſelbe einerſeits von der chriſtlichen Religion, weil das Jenſeits nicht gewiß
ſei, und anderſeits von der bloßen Daſeinskultur, weil dieſe ſich bei Ver⸗
legung des Schwerpunktes in die Natur in Naturalismus und Intellek⸗
tualismus und bei Konzentrierung auf den Menſchen in Sozial- und In⸗
dividualkultur entzweie. Darum könne der Menſch ſein befriedigendes
Lebensziel nur finden, wenn er ſich überzeugt, daß eine ſelbſteigene, über⸗
menſchliche Kraft nicht außer ihm, ſondern in ihm und durch ihn wirke,
und zwar dahin, die Wirklichkeit von der Stufe der Natur zur Stufe des
Geiſtes zu erheben. So iſt Euckens Weltanſchauung, die er „Aktivismus“
nennt, ein teleologifch-idealiftiiher Monismus. Schön und wahr ſagt Eucken,
die wahrhafte Religion ſei die, welche dem Menſchen nicht nur zu ſeinem
Glücke verhelfe, ſondern feinem Geiſtesleben „neue Inhalte und Güter zu-
führt .., ihn nicht in feiner kleinen Menſchlichkeit beſtärken wird, ſondern
ihn durch ihre Einſenkung einer Vollkommenheit, Unendlichkeit, Ewigkeit
göttlichen Lebens in das menſchliche unermeßlich erhöhen, etwas weſentlich
anderes aus ihm machen wird“ (S. 118). Wie aber ſollte, frage ich, der
Pantheismus dies zu leiſten vermögen? Zieht er doch in demſelben Maße
Gott in das Menſchliche herab, als er den Menſchen durch Identifikation
mit dem Göttlichen zu erheben meint. Dagegen gewinnt jene Schilderung
der Religion Wahrheit in der großartigen Auffaſſung, welche die katholiſche
Kirche vom Verhältnis zwiſchen Gott und Menſch hat. In den tieferen
Sinn dieſer Kirche, in ihre einzigartige Weiſe, Kontinuität und lebendige
Entwicklung in Lehre und Leben zu vereinigen, alle Kräfte des Menſchen
harmoniſch in den Dienſt des Jenſeits wie des Diesſeits zu ſtellen, iſt
Eucken nicht eingedrungen. Denn ſonſt hätte er unmöglich die Worte ge-
ſchrieben: „Der Katholizismus hat ſich bei einer früheren geſchichtlichen
Stufe, dem Mittelalter, ſtarr feſtgelegt, er wird zu einem immer härteren
Druck und muß ſich notwendig immer weiter verengen, zugleich aber zu
einer Verknöcherung des Lebens wirken“ (S. 144). Den Höhepunkt der
Moral ſieht Eucken erreicht, wenn dieſelbe „als unſere eigene Angelegenheit
ergriffen wird, wenn ihre Ordnungen zu einer Entfaltung unſeres eigenen
Lebens werden, und wenn ſich damit jenem Handeln die ganze Sicherheit
und Freudigkeit einer Selbſterhaltung mitteilt“ (S. 123 f). So bleibt alſo
2. Philoſophie. 181
eingeſtandenermaßen die Moral des Pantheismus zuletzt eben doch im
Menſchen ſtecken. Wer aber den Menſchen noch höher, wer ihn in der Tat
über ſich ſelbſt hinausführt, das iſt der chriſtliche Theismus; denn dieſer
bringt Menſchen hervor, die ihre ganze Lebensarbeit unter gänzlichem Ver⸗
zicht auf eigenen Vorteil in den Dienſt ihrer Mitmenſchen ſtellen aus dem
einzigen Grunde, Gott in höchſtmöglicher Werktätigkeit zu lieben. Man
fann an Eucken die Form der Darſtellung bewundern und mit ſeinen edeln
Abſichten ſympathiſieren, kann aber die Erfüllung nicht für eine wahrhaft
befriedigende halten. — Als Ergänzung zur eben beſprochenen Schrift iſt
wertvoll die Arbeit Euckens „Geiſtige Strömungen der Gegenwart“ (Leipzig,
Veit u. Co.), in der auch das Ausland Beachtung gefunden hat. Auffallen
muß in dieſem Werke die konziliante Behandlung des von Ch. Pierce (1878)
begründeten „Pragmatismus“ (S. 47—51). Der Grund iſt, daß Euckens
Aktivismus dieſem in den treibenden Prinzipien nahe ſteht. Über dieſen
in England (vgl. John Dewey und F. C. S. Schiller, Studies in
Humanism, 1907), Amerika und Italien leider weit verbreiteten Pragma⸗
tismus kann ſich jetzt jeder unterrichten aus W. James' „Pragmatismus“
(Deutſch von W. Jeruſalem. Leipzig, W. Klinkhardt). Der Pragmatismus
will zugleich eine Methode und eine genetiſche Wahrheitstheorie ſein. Seiner
Ausführung nach iſt er die oberflächlichſte Form des denkökonomiſchen Poſi⸗
tivismus mit ſeiner Gefolgſchaft des Senſualismus, Hiſtorismus und Re⸗
lativismus. Um zu entſcheiden, ob ein Satz als wahr oder falſch zu gelten
habe, ſei zu fragen, welche praktiſche Folgen ſich aus ihm ergeben, und
wenn dieſe Folgen für unſere Stellung zur Erfahrung und Weltbeherrſchung
nützliche ſeien, ſo ſei er wahr (S. 28). „Als annehmbare Wahrheit gilt dem
Pragmatismus einzig und allein das, was uns am beſten führt, was für
jeden Teil des Lebens am beſten paßt, was ſich mit der Geſamtheit der
Erfahrungen am beſten vereinigen läßt“ (S. 51). Echt amerikaniſch ſpricht
James wiederholt vom Kaſſen⸗ und Barwert der Wahrheit. Auch die
monotheiſtiſche Religion iſt wahr, wenn und ſoweit ſie für die Menſchheit
nützlich iſt. Freilich meint James, der praktiſche Monotheismus habe, „ſo⸗
weit er wirklich Religion ... iſt, immer in Gott nur einen der Helfer ge-
ſehen, nur den primus inter pares“ (S. 192). Darum nimmt er nur
irgend welche höheren Mächte an; denn „ich glaube, daß wir zu dem Ganzen
der Welt etwa in derſelben Beziehung ſtehen wie unſere Schoßhunde und
Zimmerkatzen zu dem Ganzen des menſchlichen Lebens... So wie viele
von den Idealen unſerer Hunde und Katzen mit unſern Idealen zuſammen⸗
fallen .., jo dürfen wir auch auf Grund der von der religiöſen Erfahrung
gelieferten Beweiſe glauben, daß es höhere Mächte gibt, und daß ſie am
Werke ſind, die Welt in derjenigen idealen Richtung zu erlöſen, die unſern
Idealen entſpricht“ (S. 193). So ift dieſe Philoſophie, s. v. v., buchſtäb⸗
lich „auf den Hund gekommen“! Daß dieſe Afterphiloſophie in Deutſchland
182 V. Wiffenidafter.
viele Anhänger gewinnen wird, erwarten wir nicht, da der Deutſche dafür
doch zu gründlich veranlagt iſt. Wer wird es denn James glauben, daß
z. B. die Wahrheit des Satzes 3 X 5 = 15 in dem Nutzen desſelben be-
ſtehe? Oder wer wird mit James die Unveränderlichkeit der Wahrheiten
auf eine Verſteinerung derſelben durch Gewöhnung zurückführen? (S. 41.)
Wo der Pragmatismus zur Methode wird, dort wird die echte Wiſſenſchaft
bald ein paläontologiſches Petrefakt ſein. — Eine maßvolle Kritik des
Pragmatismus gibt Gutberlet im „Philoſophiſchen Jahrbuch“ (XXI 4,
438 458; vgl. auch das zweite Kapitel bei Lud w. Stein, Philoſophiſche
Strömungen der Gegenwart. Stuttgart, Enke). — Die wiſſenſchaftliche Be⸗
rechtigung einer metaphyſiſchen Weltanſchauung wird erfreulicherweiſe von
W. Wundt anerkannt. Daß jedoch auch ſein aktualitätstheoretiſcher
Panentheismus nicht befriedigt, weiſt mit Sachkenntnis und gutem Urteil
nach Friedr. Klimke S. J. in feiner — weniger glücklich — „Der Menſch“
betitelten Schrift (Graz, Styria). Schade, daß dem Buch die hiſtoriſche Per⸗
ſpektive fehlt. — Auch einige der bedeutenderen metaphyſikfeindlichen Philo-
ſophen fanden eine kritiſche Beſprechung. So „Herb. Spencers Grundlagen
der Philoſophie“, eine kritiſche Studie von P. Häberlin (Leipzig, Barth),
und „Machs Erkenntnistheorie“ durch Ferd. Reinhold (Leipzig, Klinkhardt).
Logik, Erkenntnislehre und Metaphyſik. — Die bedeutſamſte Erſcheinung
des Berichtsjahres für die Logik dürfte das Eindringen der in England,
Amerika, Frankreich und Italien ſchon länger gepflegten „Logiſtik“ in
die deutſche Wiſſenſchaft ſein. Der tiefere Gedanke iſt auch hier das Be⸗
dürfnis, Philoſophie und exakte Wiſſenſchaft in innere Verbindung zu ſetzen.
Um dieſes Ziel zu erreichen, greift man auf den ſchon von Descartes, be⸗
ſonders aber von Leibniz gehegten Plan der Mathematiſierung aller Wiſſen⸗
ſchaften und der Logiſierung aller mathematiſchen Disziplinen zurück. Natür⸗
lich müſſen zu dem Zweck alle Grundbegriffe und Grundſätze ſowohl der
formalen Logik als auch aller übrigen Wiſſenſchaften durch mathematiſche
Symbole und Formeln ausgedrückt werden. Dieſe „ſymboliſche Logik“
(begründet 1847 durch G. Boole) heißt heute „Logiſtik“. Ihren Höhepunkt
erreichte ſie durch Bertrand Ruſſell (1903) und Couturat (1905). Das
Werk des letzteren liegt nunmehr auch deutſch vor: Louis Couturat,
„Die philoſophiſchen Prinzipien der Mathematik“, mit einem Anhang „Kants
Philoſophie der Mathematik“, deutſch von C. Siegel (Leipzig, Klinkhardt).
Couturat ſucht mit Ruſſell die ariſtoteliſche Logik zu erweitern und teilt
die Logiſtik ein in Urteilskalkul, Klaſſenkalkul, Relationenkalkul und Me⸗
thodenlehre, wobei er die Begriffe und Geſetze durch Symbole und Formeln
darſtellt. Ohne Zweifel iſt dieſe Behandlung von großem Werte für eine
ſpezielle Logik der Mathematik. Daß ſie aber auch zur allgemeinen Logik
werden könnte, wie ſie beanſprucht, dünkt uns nicht. Dazu iſt ſie viel zu
abſtrakt und zu formal. Sie behandelt ſowohl die Merkmale des Begriffs-.
2. Philoſophie. Ä 183
inhalts als auch die Umfänge der Klaſſenbegriffe wie inhaltleere Elemente
mathematiſcher Additionen und Multiplikationen. So kann ſie das Quali⸗
tative der ſeeliſchen und phyſiſchen Wirklichkeit niemals in ſeinem lebendigen
Weſen erfaſſen. Sie iſt eine Umfangs, nicht eine Inhaltslogik. Geſteht
doch Couturat: „Es iſt ſicherlich nicht unterſagt, die Begriffe und deren
Beziehungen ihrem Inhalte nach zu denken, aber ſie gehen in die Formeln
nur mit ihrem Umfange ein“ (S. 53). Daß ferner die Logiſtik ſicher vor
fehlerhaftem Denken bewahre, wie es ſchon Leibniz von der Characteristica
universalis rühmte, erweiſt ſich an Couturats Werke als nicht zutreffend.
Denn während Couturat (S. 8) die Evidenz als ein pſychologiſches und
der Logik fremdes Moment charakteriſiert, beruft er ſich ſchon vier Seiten
weiter und dann noch öfter auf ſie. Als verdienſtlich begrüßen wir an
der Logiſtik das energiſche Frontmachen gegen allen Pſychologismus und
Anthropologismus, wenn wir auch die Meinung Couturats, der finn-
lichen Anſchauung entſtammen und dem Denken widerſprechen ſei eins
(S. 103), ablehnen. — Die großen Hoffnungen der Logiſtik werden nicht
geteilt von zwei andern wichtigen Werken franzöſiſcher Forſcher, von
denen uns das Berichtsjahr ebenfalls eine deutſche Überſetzung gebracht
hat: Emile Boutroux, „Über den Begriff des Naturgeſetzes in der
Wiſſenſchaft und in der Philoſophie der Gegenwart. Unter Mitwirkung
des Verfaſſers überſetzt von J. Benrubi“ (Jena, Diederichs). Gewiß liegt,
ſo geſteht Boutroux, die Triebfeder der modernen Wiſſenſchaft in dem
Glauben, daß alles mathematiſch ſei und daß die Mathematik vollkommen
auf die formale Logik zurückgeführt werden könne. Eine genauere Analyſe
der ſyllogiſtiſchen Logik, der Mathematik, Mechanik, Phyſik, Chemie, Bio-
logie, Pſychologie und Soziologie zeigt jedoch, daß in einer jeden dieſer
Wiſſenſchaften zu den Geſetzen der vorhergehenden ſolche hinzukommen, deren
Prinzipien aus der reinen Logik nicht deduziert werden können. Dadurch
gewinnt Boutroux die Unterlage für eine die Freiheit anerkennende Meta-
phyfif. Eine ähnliche Tendenz verfolgt Henri Bergſon, „Materie und Ge-
dächtnis. Autoriſierte und vom Verfaſſer ſelbſt durchgeſehene Übertragung
mit Einführung von W. Windelband“ (ebd.). Windelband ſchreibt darüber:
„Die mathematiſche Theorie, das geſamte rationale Denken — das iſt der
Kern des Werkes — iſt unfähig, die Realität zu erkennen, weil das gar
nicht ihre Aufgabe, ihr Sinn iſt.“ Im übrigen verſucht auch Bergſon in
den Tatſachen die Grundlage zu einer ſpiritualiſtiſchen Metaphyſik zu ge⸗
winnen. Sehr anregend find die Ausführungen über Raum, Zeit, Wus-
dehnung und Bewegung, über den praktiſchen, nicht theoretiſchen Sinn der
Wahrnehmung und beſonders über die doppelte Art des Gedächtniſſes.
Daher ſchließen wir uns Windelbands Urteil an: „Mit dem vorliegenden
Buche hat Boutroux eine Fülle geiſtvoller Auffaſſungen und wertvoller An⸗
regungen gegeben. Ich wünſche dem tiefgedachten Werke auch bei uns
184 V. Wiſſenſchaften.
aufmerkſame und verſtändnisvolle Leſer.“ Gerade bei ſolchen Leſern dürfte
Anregung nicht identiſch ſein mit blinder Annahme. — Da wir bei den
beiden eben erwähnten Philoſophen Logik und Metaphyſik in engſtem Bunde
trafen, ſo darf ich wohl hier auch gleich den dritten, oder eigentlich erſten
Vertreter des franzöſiſchen Neuſpiritualismus nennen: J. Lachelier,
„Psychologie und Metaphyſik. Die Grundlagen der Induktion. Deutſch von
Rud. Eisler“ (Leipzig, Klinkhardt). Die Urbedingung des Bewußtſeins iſt
ein einheitlicher und kontinuierlicher Wille. Aus ihm entſpringt die Emp⸗
findung in der Doppelform von Sinnesqualität und Gefühlsaffektion. Aus
der Beziehung der Empfindungen und dem Wechſel dieſer Beziehungen geht
die Ausdehnung und Bewegung hervor. Daraus ſchafft das Denken die
Natur, indem es in ſich ſelbſt die Prinzipien der Induktion findet —
nämlich die Kauſalität als einheitſchaffendes Band und die Finalität als
organiſierendes Prinzip — und dieſe auf das Reale der Empfindung an⸗
wendet. So wird Exiſtenz aufgefaßt als notwendige Beſtimmtheit durch
Kauſalität und Finalität, während die Wahrheit ſich zur Schönheit erweitert.
„Sicher iſt, daß die eigentliche Wiſſenſchaft ſich nur auf die materiellen Be⸗
dingungen des wahren Seins, welches an ſich Finalität und Harmonie iſt,
erſtreckt, und da jede Harmonie ein wenn auch noch ſo geringer Grad von
Schönheit iſt, ſo tragen wir kein Bedenken zu ſagen, eine Wahrheit, die
nicht ſchön iſt, iſt nur ein logiſches Spiel unſeres Geiſtes, und die einzige
gediegene und ihres Namens würdige Wahrheit iſt die Schönheit“ (S. 63).
Damit weiſt auch Lachelier die Tendenz der mathematiſierenden Logiſtik,
den Anteil der Anſchauung am Erkennen zu Gunſten bloßer Rationalität
zu eliminieren, als eine zu weit gehende zurück. — In dieſem Punkte
kommt zu einer Ablehnung der Logiſtik auch das ſcharfſinnige Werk von
Jonas Cohn, „Vorausſetzungen und Ziele des Erkennens“ (Leipzig, Engel-
mann). Am beſten hat uns in demſelben die kritiſche Auseinanderſetzung
mit der in Ruſſell und Couturat verkörperten modernen Philoſophie der
Mathematik gefallen (S. 156—285). Auch iſt zu begrüßen, daß Cohn
gegen die Einſchränkung der Urteile auf eine einzige Art von Beziehungen
Einſpruch erhebt, ſowie daß er die Logik in ein enges Verhältnis zur Er.
kenntnislehre bringt. Im übrigen verſucht er eine Syntheſe der Ideenkreiſe
von Edm. Huſſerl und H. Rickert. Wahre Urteile legitimieren ſich nach
ihm als ſolche dadurch, daß ſie dem überindividuellen Ich mit einem Sollen
gegenübertreten. Doch genügt das nicht als objektives Wahrheitskriterium.
(Gegen Rickert vgl. James a. a. O. 144 ff). — Mit den Grundfragen
der Logik beſchäftigt ſich klar und belehrend Joſ. Klem. Kreibig in dem
Werk „Die intellektuellen Funktionen. Unterſuchungen über Grenzfragen
der Logik, Pſychologie und Erkenntnistheorie“ (Wien, Hölder). Der Verfaſſer
ſucht in der Schlußlehre Neues zu bringen, folgt ſonſt Bolzano, Lotze,
Meinong und Höfler, ſowie in der Piychologie der biologiſch⸗genetiſchen
2. Philoſophie. 185
Betrachtungsweiſe von Spencer, Mach und Jodl. Er fteht dem Pſycho⸗
logismus nahe. — Letzterer beſchäftigt noch andauernd die Philoſophie.
Beweis dafür iſt: Dimitri Michaltſchew, „Philoſophiſche Studien.
Beiträge zur Kritik des modernen Pſychologismus“ (Leipzig, Engelmann)
und Maticevié, „Zur Grundlegung der Logik“ (Wien, Braumüller). In
der Erkenntnislehre erſchien ein empfehlenswertes Werk von dem Vor⸗
fampfer der Friesſchen Schule Leon. Nelſon, „Über das fog. Erkenntnis-
problem“ (Göttingen, Vandenhoeck u. Ruprecht). Ferner iſt mit dem dritten
Bande die dritte Auflage der großangelegten „Logik“ von W. Wundt
vollendet worden (Stuttgart, Enke). Sie iſt, was ſie zu ſein verſpricht,
„eine Unterſuchung der Prinzipien der Erkenntnis und der Methoden wiſſen⸗
ſchaftlicher Forſchung“. — Eine kleine Arbeit von Theod. Lipps, „Philo-
ſophie und Wirklichkeit“ (Heidelberg, Winter), zeigt den Verfaſſer auf
ſeinem Wege von Hume zu Kant immer näher bei letzterem. Er bezweckt
mit ſeiner Arbeit, die Philoſophie vor dem Verluſte des Tatſachenſinnes zu
bewahren, der ihm nicht nur von ſeiten des Pſychologismus, ſondern auch
des Objektivismus zu drohen ſcheint. Dabei definiert er das Weſen des
Pſychologismus fo eng, daß er ſich ſelbſt, trotz ſeines unzweifelhaften
logiſchen Pſychologismus, außerhalb desſelben zu ſtellen weiß. Ohne die
„Dinge an ſich“ zu leugnen, erklärt er ſie doch für völlig unerkennbare
Beziehungspunkte im Wirklichkeitszuſammenhang und beſchränkt unſer ganzes
reales Wiſſen auf die phänomenale Welt. Zum Schluß kommt Lipps trotz⸗
dem wiederum auf ſeine moniſtiſche Lieblingsidee eines überindividuellen
Allichs oder einer Allſubſtanz zurück. — Wie wenig Lipps mit einem
ſolchen „Tatſachenſinn“ die exakten Naturforſcher zu befriedigen vermag,
zeigt der Vortrag von Max Verworn, „Die Frage nach den Grenzen der
Erkenntnis“ (Jena, Fiſcher). Dieſer Frankfurter Vortrag des bekannten
Göttinger Phyſiologen bezeichnet ſich ausdrücklich als Antwort der Natur⸗
wiſſenſchaft auf den in der Naturforſcherverſammlung zu Stuttgart (1906)
gehaltenen Vortrag von Th. Lipps über „Naturphiloſophie“ (abgedruckt in
„Die Philoſophie im Beginn des 20. Jahrhunderts“. 1907), den Ver⸗
worn vor allem aus dem Grunde als total mißglückt beurteilt, weil die
Ausdrucksweiſe von Lipps ganz unverſtändlich ſei. Was freilich Verworn
bietet, iſt philoſophiſch beinahe wertlos. Das Vorhandenſein irgendwelcher
prinzipieller Welträtſel oder Grenzen für die exakte Naturforſchung lehnt
er rundweg ab. Seine Rede atmet überall den Geiſt der materialiſtiſchen
Metaphyſik auf der Grundlage des ſenſualiſtiſchen Poſitivismus mit deſſen
ganzer Oberflächlichkeit in Logik und Pſychologie. Kaum günſtiger können
wir urteilen über die haeckelianiſierende Schrift von Candidus, „Potential-
theismus, ein neuer Weg zur Löſung der „Welträtſel““ (München, Acker⸗
mann). Mit Hilfe von Phantaſieprodukten (Gliederung der Subſtanz in
Maſſe, Ather und Urgaſe — wo bleiben die Elektronen?) und Anthropo⸗
186 V. Wiſſenſchaften.
morphismen (dreifache Strebenspotenzen) werden hier auf 50 Seiten alle
zwiſchen dem Urſtoff und Gott gelegenen Welträtſel beſeitigt! Nach einer
ſolchen ſeichten Koſt freut man ſich, wenn man wieder auf ſolidere geiſtige
Nahrung trifft, wie in den „Naturwiſſenſchaftlichen Vorträgen für die Ge⸗
bildeten aller Stände“ von Joh. Reinke (Heilbronn, Salzer). Reinkes
Anſchauungen haben neuerdings einen kantiſchen Einſchlag bekommen. —
Von P. Was manns bedeutender Arbeit „Die moderne Biologie und die
Entwicklungstheorie“ (Freiburg, Herder) befindet ſich die vierte Auflage im
Druck. Einen ſehr inſtruktiven Vortrag desſelben Autors „Zur Abſtam⸗
mung des Menſchen“ ſteuert die 3. Vereinsſchrift der Görres. Geſellſchaft
(Köln, Bachem) bei. Nicht unerwähnt darf bleiben Konſt. Gutberlet,
„Der Kosmos. Sein Urſprung und ſeine Entwicklung“ (Paderborn, Schö⸗
ningh). Man ſtaunt, wenn man ſieht, in welchem Maße ein Nichtfach⸗
mann ſich in eine ihm zum Teil doch ferner liegende Literatur eingeleſen
hat und ſich daraus die Waffen zur Verteidigung der chriſtlichen Well.
anſchauung zu holen weiß. Bezüglich der völligen Trennung der tieriſchen
und pflanzlichen Merkmale in der Welt der einfachſten Lebeweſen möchte
ich mich nicht ſo beſtimmt ausdrücken wie Gutberlet, denn das Mikroſkop
zeigt doch zu deutlich z. B. bei Euglena viridis freie Beweglichkeit und
Senſibilität, zugleich aber im Innern ſtärkehaltige Chlorophyllkörper. —
Um zur allgemeineren Erkenntnislehre zurückzukehren, ſo nenne ich noch
das nicht ohne Geiſt geſchriebene Werk von Raoul Richter, „Der
Skeptizismus in der Philoſophie und feine Überwindung” (2. Bd. Leipzig,
Dürr). Der erſte Band erſchien 1904. Bei aller Anerkennung einzelner
Ausführungen müſſen wir doch das Buch als Ganzes ablehnen. Denn
Richter unternimmt darin den widerſpruchsvollen Verſuch, mittels einer
ausgeſprochen relativiſtiſch⸗anthropologiſtiſchen Erkenntnistheorie und einer
logiſch unzulänglichen „unmyſtiſchen Auslegung von der Ewigkeit der Wahr⸗
heit“ (S. 351) den philoſophiſchen Skeptizismus zu überwinden. — Als
Vertreter eines univerſellen pſychophyſiſchen Parallelismus ſtellt ſich dar
Edw. Carpenter in ſeinem Buch „Die Schöpfung als Kunſtwerk“, aus
dem Engliſchen übertragen von K. Federn (Jena, Diederichs). Originell
iſt der Gedanke, der weſentliche Prozeß der Schöpfung ſei eine Entwicklung
aus dem Geiſtſtoff durch ein Gefühl und darauffolgendes Denken (S. 193). —
Eine Darſtellung der Lehren von neun der hervorragendſten modernen Natur-
forſcher findet ſich bei J. Claſſen, „Vorleſungen über moderne Natur⸗
philoſophen“ (Hamburg, Boyſen).
Der von J. Fröbes 8. J. in den „Stimmen aus Maria Laach“
(1907, 7. u. 8. Hft) eröffnete alte Kampf um die Natur der Sinnes-
qualitäten rief gegen ihn ſeinen Ordensgenoſſen C. Boetzkes zur Verteidi⸗
gung des naiven Realismus in die Schranken (Natur und Offenbarung
54. Jahrg., 6. Hft, 338), wobei Boetzkes freilich merkwürdigerweiſe den
2. Philoſophie. 187
Ramen feines Gegners verſchweigt. Den Angriff parierte zunächſt C. Ford
(ebd. 7. Hft, 417—428) und darauf Fröbes ſelbſt (ebd. 9. Hft, 513— 525).
Ich zweifle nicht, daß die letzteren im Recht ſind.
Pfychologie. — Auch das hinter uns liegende Jahr hat auf keinem Ge-
biete der Philoſophie eine ſolche Fülle von Arbeiten erzeugt als auf dem
der Pſychologie. Naturgemäß treten unter denſelben die experimentellen Ar⸗
beiten hervor. Doch fehlen auch nicht Beiträge zu den methodologiſchen und
den metaphyſiſchen Fragen der Psychologie. Von den Geſamtdarſtellungen
konnte das ſich durch Reichhaltigkeit der Literaturangaben auszeichnende
„Lehrbuch der Pſychologie“ von Friedr. Jodl (Stuttgart, Cotta Nachf.)
in dritter Auflage erſcheinen. H. Ebbinghaus ſchenkte einen „Abriß der
Pſychologie“ (Leipzig, Veit u. Co.), dem der Vorzug großer Anſchaulichkeit
in der Darſtellung nicht abgeſprochen werden kann. Zugleich erſchien vom
lang vermißten zweiten Bande feiner „Grundzüge der Pſychologie“ die erſte
Lieferung (ebd.). — Von W. Wundts dreibändigen „Grundzügen der
phyſiologiſchen Pſychologie“ (Leipzig, Engelmann) erſchien der erſte Band
in ſechſter Auflage. — H. Höffdings viel geleſene „Pſychologie in Um⸗
riſſen auf Grundlage der Erfahrung“ wurde nach der vielfach vermehrten
fünften däniſchen in vierter deutſcher Auflage herausgegeben (Leipzig, Reis⸗
land). — Von dem Grazer Profeſſor Stephan Witaſek erſchienen
„Grundlinien der Pſychologie“ in der „Philoſophiſchen Bibliothek“ (ebd.).
Die Schrift gehört zur Schule Franz Brentanos, was ſich z. B. in
der Unterſcheidung der Empfindung von dem Akte des Bemerkens und
der Annahme „unbewußter Empfindungen“ geltend macht (S. 60). Sie iſt
metaphyſiſchen Fragen gegenüber unentſchieden. Wir begrüßen das Zu⸗
geſtändnis, daß ſich der pſychophyſiſche Parallelismus nicht durchführen laſſe,
ohne eine ſubſtantielle Seele anzunehmen (S. 37 ff). — Ad. Dyroff ver:
öffentlichte die von ihm in den Bonner Volkshochſchulkurſen gehaltenen
Vorträge als „Einführung in die Pſychologie“ (Leipzig, Quelle u. Meyer).
Die Darſtellung iſt in edlem Sinne populär und wohl geeignet, den Zweck
der Einführung zu erreichen. Beſonders lehrreich iſt das fünfte Kapitel über
„Denken und Sprechen“. Auf die Erörterung metaphyſiſcher Fragen iſt,
vielleicht zu mancher Bedauern, grundſätzlich verzichtet. — Umfaſſender iſt
Wilh. Wirths „Die experimentelle Analyſe der Bewußtſeinsphänomene“
(Braunſchweig, Vieweg u. Sohn). Dankbar begrüßen wir dieſe zuſammen⸗
faſſende Darſtellung der in den experimentellen Spezialunterſuchungen nach
der Eindrucks⸗ und Reaktionsmethode gewonnenen Ergebniſſe über Aufmerk⸗
ſamkeits verteilung, Klarheitsgrade des Bewußtſeins, Zeitvorſtellungen ſowie
Trieb- und Willkürhandlungen. Der Verfaſſer iſt ein treuer Schüler Wundts,
dem er auch ſein Werk zugeeignet hat. Doch iſt er an den Verſuchen, über
die er referiert, in hervorragendem Maße ſelbſt beteiligt. Man beachte auch
den durch Fr. Schumann beſorgten „Bericht über den 3. Kongreß für
188 v. Wiſſenſchaften.
experimentelle Pſychologie in Frankfurt a. M. vom 22.— 25. April 1908“
(Leipzig, Barth).
Um zu den Einzeldarſtellungen überzugehen, ſo lieferte Erich Becher
einen beachtenswerten Beitrag „Über die Senſibilität der inneren Organe“
(Beitfchrift für Pſychologie, 49. Jahrg., 341—373. Leipzig, Barth). Trotz
mancher kliniſcher Beobachtungen und gelegentlicher Verſuche iſt unſere Kenntnis
des Empfindungsvermögens der inneren Organe noch immer nur wenig exakt.
Hier bedeuten die Verſuche von Becher inſofern einen Fortſchritt, als er das
Problem mittels direkter, viele Opferfreudigkeit erfordernder Experimental ⸗
methoden in Angriff nahm. Nach ihm beſäßen die meiſten inneren Organe
im normalen Zuſtande keine direkte Empfindlichkeit, ſondern nur eine in⸗
direkte, nämlich durch Übertragung der Reize auf die Muskulatur und
Haut. Die Ausführungen Bechers widerſprechen zum Teil den von E. Meu⸗
mann im „Archiv für die geſamte Psychologie“ (9. Jahrg., 1. Hft, 26—62.
Leipzig, Engelmann) niedergelegten Anſichten. — Über die neueren Auf-
faſſungen der Phyſiologen bezüglich der vier Empfindungsarten: Druck,,
Wärme-, Kälte und Schmerzempfindungen, referiert mit Sachkenntnis
Norb. Brühl C. 88. R. in „Natur und Offenbarung“ (54. Jahrg., 8. u.
9. Hft. Münſter, Aſchendorff), wobei er die Begriffe Empfindung und Ge⸗
fühl nicht trennt, im übrigen die, z. B. von Wundt nicht geteilte, An⸗
ſchauung vertritt, jene vier Empfindungsarten ſeien vier Arten, weil
ihnen je verſchiedene Sinnesorgane und Sinnesnerven zu Grunde lägen. —
Ein allgemeineres Intereſſe können die Ausführungen von Ludw. Tru⸗
ſchel über den fog. ſechſten oder X Sinn der Blinden beanfpruchen
(vgl. Zeitſchrift für experimentelle Pädagogik IV u. V. Leipzig, Nemnich).
Nach ihm beruht das Orientierungsvermögen der Blinden im Raume auf ge⸗
wiſſen Schallempfindungen, die im ſtatiſchen Sinn des Veſtibularorgans des
Ohres lokaliſiert ſeien. Darüber hat ſich zwiſchen ihm, M. Kunz und
Aug. Kroſius eine längere Kontroverſe entſponnen. Letzterer ſtellt der
Luftdrucktheorie eine Temperaturempfindungstheorie gegenüber, während
Kunz meint, das Orientierungsvermögen der Blinden beruhe auf dem auf.
merkſamen Gebrauch aller den Blinden gebliebenen Sinnesorgane, ſpeziell
aber auf taktilen und thermiſchen Reizen des Hautſinnes (vgl. a. a. O. VII). —
Die nativiſtiſche Theorie der Tiefenwahrnehmung hat einen Anwalt ge⸗
funden in Anathon Aall: „Über den Maßſtab beim Tiefenſehen in
Doppelbildern“ (Zeitſchrift für Pſychologie, 49. Jahrg., 3. u. 4. Hft). Im
übrigen beweiſen die mannigfachen Verſuche über die relativ rohe Bewegung
des Auges beim Sehen, daß die berühmte Lokalzeichentheorie Lowes den
Tatſachen nicht entſprechen kann.
Unterſuchungen über die Gedächtnisleiſtungen haben die Pſychologen
weiter beſchäftigt. Ich nenne: Max Offner, „Das Gedächtnis“ (Berlin,
Reuther u. Reichard). Der Verfaſſer lehnt ſich ſtark an Th. Lipps an und
2. Philoſophie. 189
arbeitet viel mit dem Begriff der Dispoſitionen. Wertvoller, weil auf aus⸗
gedehnte eigene Unterſuchungen geſtützt, iſt die Arbeit von E. Meumann,
„Okonomie und Technik des Gedächtniſſes“ (Leipzig, J. Klinkhardt). Die
Diſſertation ſeines Schülers Jo ſ. Weber, „Unterſuchungen zur Pſychologie
des Gedächtniſſes“ (ebd.) ergibt, daß das Gedächtnis auf geſteigerte An⸗
forderungen mit erhöhter Leiſtungsfähigkeit reagiert, und folgert daraus,
man ſolle kleinere Gedächtnisarbeiten möglichſt nicht für ſich allein, ſondern
als Teile einer größeren Aufgabe zu erledigen ſuchen.
Wenden wir uns zu den höheren Seelenfunktionen, ſo begegnet uns zu⸗
erſt die ſehr leſenswerte, wenn auch nicht überall befriedigende Monographie
von E. Dürr, „Die Lehre von der Aufmerkſamkeit“ (Leipzig, Quelle u.
Meyer). — Die hochwichtigen Experimentalunterſuchungen über die Dent.
vorgänge erfuhren eine weſentliche Bereicherung durch G. Störring, indem
dieſer als erſter die „einfachen Schlußprozeſſe“ in den Kreis dieſer Unter⸗
ſuchungen zog (Archiv für die geſamte Psychologie 11. Jahrg., 1. Hft. Leipzig,
Engelmann). Außerdem ſetzte dort (12. Jahrg., 1. Hft) Karl Bühler
die Veröffentlichung ſeiner Reſultate fort. Er unterſuchte die bewußten
Beziehungen zwiſchen Gedanken und das Verſtehen von Sätzen. Seinen
Reſultaten möchte ich nicht allweg zuſtimmen. Über die Methodik dieſer
Experimente ſetzten ſich im „Archiv“ Wundt und Bühler auseinander. —
B. Erdmann gab die „Umriſſe zur Pſychologie des Denkens“ in
weſentlich umgearbeiteter zweiter Auflage heraus (Tübingen, Mohr). Er
unterſcheidet ein hypologiſches, logiſches, metalogiſches und hyperlogiſches
Denken, ſpricht das erſte auch dem Tiere zu, ſucht die Aſſoziations⸗
pſychologie zu einer Reproduktionspſychologie zu erweitern und verneint
energiſch das Vorhandenſein einer beſondern ſeeliſchen Aktivität beim
Denken. Dagegen hat A. A. Grünbaum in ſeiner Arbeit „Über die
Abſtraktion der Gleichheit“ (Archiv für die geſamte Psychologie 12. Jahrg.,
340 ff, ſ. o.) experimentell feſtgeſtellt, daß es für die Apperzeption der Be⸗
ziehungen einer beſondern Tätigkeit bedarf (S. 449 ff). — Ganz auf die
neueren Unterſuchungen, an denen er ſelbſt weſentlich beteiligt iſt, hat
Aug. Meſſer ſeine Arbeit „Empfindung und Denken“ aufgebaut (Leipzig,
Quelle u. Meyer). Seine Anſichten ſind zum Teil durch B. Erdmann,
beſonders aber durch Edm. Huſſerl beſtimmt. Die Grundtendenz der Arbeit
geht dahin, durch den Nachweis der unanſchaulichen Natur der intentionalen
Denkakte die innere Unhaltbarkeit der ſenſualiſtiſchen Aſſoziationspſychologie
darzutun. Ob ſich das Buch für Anfänger eignet, wie es nach dem Vor⸗
wort ſein ſoll, erſcheint uns etwas zweifelhaft. Weit ausholend iſt die
„Psychologie des emotionalen Denkens“ von Heinr. Maier (Tübingen,
Mohr).
In engſter Beziehung zum Denken ſteht die Sprachphiloſophie. Sie
fällt in das Gebiet der „Völkerpſychologie“ W. Wundts, von welcher
190 V. Wiſſenſchaften.
die zweite Hälfte des die Kunſt behandelnden Bandes (III) in zweiter,
neubearbeiteter Auflage erſchien (Leipzig, Engelmann). Hervorzuheben iſt
A. Marty, „Unterſuchungen zur Grundlegung der allgemeinen Gram⸗
matik und Sprachphiloſophie“ (1. Bd. Halle, Niemeyer). Von ihm be⸗
einflußt iſt Hugo Bergmann, „Unterſuchungen zum Problem der
Evidenz der inneren Wahrnehmung“ (ebd.). Beachtenswert ſind ferner die
drei Vorträge von A. Pick, „Über das Sprachverſtändnis“ (Leipzig,
Barth), ſowie beſonders T. van Ginnecken S. J., Principes de Lingui-
stique psychologique (Paris 1907), und Rud. Meringer, „Aus dem
Leben der Sprache“ (Berlin, Behr). Meringer bietet ein außerordentlich
reichhaltiges Material für die verſchiedenen Formen des Sichverſprechens
bei Perſonen aller Lebensalter, Geſchlechter und Berufsſtände. — Die Frage
der Willensfreiheit iſt, nachdem Heinr. Gomperz in ſeinem „Problem
der Willensfreiheit“ (Jena, Diederichs) zu keiner endgültigen Entſcheidung
gelangen konnte, nach ihm von dem Baſeler Sokratiker Karl Jol in
„Der freie Wille“ (München, Bruckmann) in geiſtvollſter Weiſe behandelt
worden. Man ſtaunt über die ungemeine Beleſenheit Yosls in der ein-
ſchlägigen Literatur aller vier Fakultäten und freut ſich über das nach
langem Kampf errungene rückhaltloſe Bekenntnis zum Indeterminismus.
Gewiſſe Aufſtellungen, die teils an Pragmatismus teils an Kantianismus
erinnern, lehnen wir ab, ebenſo wie die neuplatoniſch⸗pantheiſtiſche Tendenz
des Schlußkapitels. — Über „Leib und Seele“ verbreitet ſich in einem
Vortrage geiſtvoll Karl Stumpf (Leipzig, Barth). B. Erdmann bekennt
ſich in den „Wiſſenſchaftlichen Hypotheſen über Leib und Seele“ (Köln,
Du Mont ⸗Schauberg) zum univerſalen pſychophyſiſchen Parallelismus, hält
das Seeliſche in der Form des Unbewußten für gleich ewig wie das
Mechaniſche und meint, über die erſten Anfänge des Organiſchen und
Materiellen könne die Wiſſenſchaft nichts jagen. — E. Meumanns
dankenswerte Schrift „Intelligenz und Wille“ (Leipzig, Quelle u. Meyer)
ſucht die Pſychologie dem Leben näher zu bringen. Wir begrüßen an ihr
das Eintreten für die ſelbſtändige Natur des Denkens und für den Primat
der Intelligenz vor dem Willen.
Geſchichte der Philoſophie. — Auf dieſem Felde ſind verhältnismäßig
mehr neue Arbeiten größeren Umfanges gereift als auf dem der Piychologie.
Freilich hat daneben auch die hiſtoriſche Kleinarbeit ihre ungemeine Frucht⸗
barkeit aufs neue bewährt. Hier muß ich mich darum noch mehr beſchränken
als bisher. Als Abſchluß eines 35 Jahre hindurch verfolgten Planes hat
Paul Deuſſen als dritte Abteilung des erſten Bandes feiner „All-
gemeinen Geſchichte der Philoſophie“ veröffentlicht: „Die nachvediſche Philo⸗
ſophie der Inder, nebſt einem Anhang über die Philoſophie der Chineſen
und Japaner“ (Leipzig, Brockhaus). Dieſe Philoſophie umfaßt die Zeit von
500 v. Chr. bis 1500 n. Chr. Die Darſtellung iſt beſonders durch die
2. Philoſophie. 191
vielen eingeſtreuten Textüberſetzungen wertvoll. Das Verhältnis zwiſchen
Buddhismus und Chriſtentum charakteriſiert Deuſſen wie folgt: Jeſus ging
von der Sünde, Buddha vom Leiden aus, und beide ſuchten die innere
Wurzel dieſer Zuſtände und fanden ſie in dem „Willen zum Leben“.
Daraus ſchließt er: „Beſſer als alle Bekehrungsverſuche von der einen oder
andern Seite dürfte die Erkenntnis ſein, daß die beiden großen Welt⸗
religionen in ihrer Grundanſchauung übereinſtimmen und ſich gegenſeitig in
ſchöner Weiſe ergänzen“ (S. 157. Hierzu vgl. man Alfr. v. Menſi,
„Vedanta und Buddhismus und ihre Schätzung durch die Gegenwart“, im
„Hochland“ V, 11. Hft, S. 505). — Das wichtige Werk von Th. Gom⸗
perz „Griechiſche Denker“ (Leipzig, Veit u. Co.) wurde durch die dritte Liefe⸗
rung des dritten Bandes fortgeſetzt. Von der anregend und formvollendet
geſchriebenen „Geſchichte der Philoſophie als Einleitung in das Syſtem
der Philoſophie“ von Walter Kinkel erſchien der zweite Teil, „Von
Sokrates bis Plato“ (Gießen, Töpelmann). Man beachte bei Lektüre der ⸗
ſelben die Sätze aus dem Vorwort zum erſten Teil: „Nicht auf dem
Hiſtoriſchen an ſich liegt hier der Nachdruck, ſondern die Geſchichte der
Philoſophie ſoll hier durchaus in den Dienſt des ſyſtematiſchen Intereſſes
treten.“ Eine ähnliche Tendenz beherrſcht die Arbeiten von H. Cohen und
P. Natorp, als deren getreuen Schüler ſich Kinkel im ſelben Vorwort be⸗
kennt. So iſt alſo dieſe Geſchichte geſchrieben, um dem Idealismus, wie
ihn die Marburger verſtehen, neue Freunde zu gewinnen. Das dürfte auch
erreicht werden. Ob es aber der hiſtoriſchen Wirklichkeit entſpricht, daß
Platon ohne jeden Dogmatismus die Idee nur „als Hypotheſis erkannte“
und dem Idealismus, nicht dem Realismus, huldigte, iſt mir immer noch
mehr als zweifelhaft. — Ein Spezialproblem der alten Philoſophie be⸗
handelte Max Wundt in der „Geſchichte der griechiſchen Ethik“ (1. Bd.
Leipzig, W. Engelmann). Über Einzelfragen ſchrieben u. a. E. Arndt,
„Das Verhältnis der Verſtandeserkenntnis zur ſinnlichen in der vorſokra⸗
tiſchen Philoſophie“ (Halle, Niemeyer), und E. Stoelzel, „Die Behand-
lung des Erkenntnisproblems bei Plato“ (ebd.). G. Wunderle behandelte
„Die Lehre des Ariſtoteles von der Zeit“ im „Philoſophiſchen Jahrbuch“
(XII, 1. u. 2. Hft. Fulda, Aktiendruckerei) und Otto Gilbert „Ariſtoteles'
Urteile über die pythagoreiſche Lehre“ im „Archiv für Geſchichte der Philo⸗
ſophie“ (XV 1. Berlin, Reimer). Von allgemeinerem Intereſſe ſind die Be⸗
mühungen des Verlags von Eug. Diederichs in Jena, die in der griechiſchen
Philoſophie niedergelegten Geiſtesſchätze durch formſchöne Überſetzungen in
geſchmackvollen Ausgaben unter den Gebildeten zu verbreiten. In der Tat
dürfte auch dem Laien in dieſer Form die philoſophiſche Lektüre lieb werden.
Der von Wilh. Neſtle beſorgte Band „Die Vorſokratiker“ braucht ſich
weder in ſeiner hiſtoriſchen Einleitung noch in ſeiner Überſetzung vor dem
bekannten Werke von H. Diels zu verbergen. Im allgemeinen gibt die
192 V. Wiſſenſchaften.
letztere den Sinn des Textes nicht nur ſchön, ſondern auch genau wieder.
Das gilt nicht von der Übertragung der parmenideiſchen Definition der Ewig ⸗
keit (Fr. 8), und auch die Überſetzung des anaximandriſchen drespov durch
das „Grenzenloſe“ gibt weder den Sinn dieſes Begriffes noch die richtige
Erklärung desſelben auf S. 24 adäquat wieder. Noch mehr Anklang wird
im Publikum die Geſamtausgabe der Werke Platons finden, in die ſich
Rud. Kaſſner, K. Preiſendanz und O. Kiefer geteilt haben, und
die mit ihrem planmäßigen Schaffen eines künſtleriſch abgerundeten Ganzen
von Platons Lebenswerk in der Tat des höchſten Lobes wert ift. — In
England ſchenkte man namentlich Ariſtoteles Aufmerkſamkeit. Es er⸗
ſchienen Aristotle Works, herausg. von Smith u. Roſs (Oxford), und eine
vorzügliche Ausgabe der ariſtoteliſchen Schrift De anima durch R. Hicks
(Cambridge). Der Verlag von Diederichs ſchenkte ferner der Arztewelt
durch Theod. Beck ihren Hippokrates: „Erkenntniſſe. Im griechiſchen
Text ausgewählt, überſetzt und auf die moderne Heilkunde vielfach bezogen“.
Im ſelben Verlage hat, nachdem 1905 die Enneaden Plotins von O. Kiefer
neu überſetzt worden waren, Arthur Drews mit Benutzung dieſes Textes
ein größeres Werk ediert: „Plotin und der Untergang der antiken Welt⸗
anſchauung“. Der bekannte Vorkämpfer der Lehre E. v. Hartmanns vom
Unbewußten hat dieſe Arbeit darum geſchrieben, weil er zwiſchen Hartmann
und Plotin eine innere Verwandtſchaft zu erkennen glaubt. Nach ihm be⸗
deutet Plotin die höchſte Stelle der geſamten Entwicklung des antiken
Denkens, und ſei derſelbe darum wohl geeignet, zum Fundament der
Weltanſchauung der Gegenwart zu werden. An dieſen Übertreibungen iſt
ſo viel richtig, daß dem Denken Plotins mehr Originalität und Tiefſinn
eignet, als überall anerkannt wird. Im übrigen leidet die hiſtoriſche Dar.
ſtellung Plotins durch Drews darunter, daß ſie eine Tendenzſchrift iſt.
Von den Arbeiten zur Patriſtik und Scholaſtik nenne ich das an
anderer Stelle beſprochene (vgl. S. 165) Werk von K. Kolb „Menſchliche
Freiheit und göttliches Vorherwiſſen nach Auguſtin“ (Freiburg, Herder), weil
dieſes Problem auch für die Pſychologie Bedeutung hat. Eine neue Geſamt⸗
darſtellung der „Geſchichte der mittelalterlichen Philoſophie im chriſtlichen
Abendlande“ ſchrieb Joſ. A. Endres (Kempten, Köſel). Eine einfache, edle
Sprache, eine zum Teil neue, ſehr überſichtliche Anordnung des reichhaltigen
Stoffes und eine klare Entwicklung der einzelnen wichtigeren Probleme
machen dieſe Arbeit zu einem Muſter für ähnliche Unternehmungen. Die Spät-
ſcholaſtik ijt etwas karg ausgefallen. Auch iſt es ſchade, daß jegliche Literatur-
angaben fehlen. Gleichzeitig mit dieſer Arbeit veröffentlichte CI. Baeumker
im „Archiv für Geſchichte der Philoſophie“ (22. Jahrg., 1. Hft, S. 130) eine
Reihe wertvoller Bemerkungen zu dem Abſchnitt in Überweg⸗Heinze (II 9)
über die Scholaſtik. Er verweiſt hierbei auf ſeinen „Abriß einer Geſchichte der
europäiſchen Philoſophie des Mittelalters“ in der „Kultur der Gegenwart“
2. Philoſophie. 193
(I, 5, 228—381), der zwar bereits ſeit einem Jahre gedruckt vorliegt, aber
noch nicht veröffentlicht werden konnte, weil ein anderer Autor mit ſeinem
Beitrag über neuere Philoſophie im Rückſtande iſt. Wir ſehen mit Be⸗
friedigung, daß eine ganze Reihe der Ausſtellungen Baeumkers bei der
Arbeit von Endres nicht zutreffen. Eine wichtige Ausnahme iſt, daß auch
Endres bei Scotus Eriugena (S. 23) das essentia durch „Weſenheit“ ſtatt
durch „Sein“ überſetzt. Die Ausführungen über Duns Scotus bedürften
wohl nach den Arbeiten von P. Parthenius Minges gewiſſer Modifikationen.
Beachtenswert ſind von Joſ. A. Endres noch die „Studien zur Biographie
des hl. Thomas von Aquin“ im „Hiſtoriſchen Jahrbuch der Görres⸗Geſell:
ſchaft“ (1908, 537 ff). Über „Die Naturlehre Bonaventuras“ handelte
K. Zieſché im „Philoſophiſchen Jahrbuch“ (21. Jahrg., 1. u. 2. Hft, ſ. o.).
Mit der „Logik Salomon Maimons“ macht uns Leop. Gottſelig bekannt
in den „Berner Studien zur Philoſophie“ (Bern, Scheitlin, Spring u. Co.).
Zugleich erſchien in Leipzig (bei Fock), beſorgt durch W. Bacher u. a., „Moſes
ben Maimon. Sein Leben, ſeine Werke und ſein Einfluß“ (1. Bd), und in
Berlin (bei G. Reimer) David Neumark, „Geſchichte der jüdiſchen Philo⸗
ſophie des Mittelalters. 1. Bd: Die Grundprinzipien“. Den wichtigſten Bei⸗
trag aber zur Geſchichte der Philoſophie des Mittelalters ſchenkte Clem.
Baeumker, „Witelo, ein Philoſoph und Naturforſcher des 13. Jahr.
hunderts“ (Beiträge zur Geſchichte der Philoſophie des Mittelalters III, 2.
Münſter, Aſchendorff). Im erſten Teile erhalten wir zum erſtenmal den Text
des anonymen Werkes De intelligentiis (S. 1—71; mit kritiſchem, auf ſieben
Handſchriften geſtütztem Anhang S. 73— 126) und nach Handſchriften verbeſſert
eine Reihe philoſophiſch bedeutſamer Abſchnitte aus Witelos Perspectiva
(S. 127—179). Witelo (nicht Vitellio) war polniſcher Schleſier, lebte zwiſchen
1230 und 1270, ſtudierte in Padua und Viterbo und war wahrſcheinlich Geiſt⸗
licher (S. 190— 224). Während er uns in feiner Alhazen entlehnten Optik
als Naturforſcher gegenübertritt, lernen wir ihn in der wahrſcheinlich von
ihm herrührenden Schrift De intelligentiis als Philoſophen kennen, und
zwar als ſolchen, der mit der orthodoxen Kirchenlehre einen ausgeſprochenen
Neuplatonismus verband. Das macht ſich beſonders geltend in der Licht⸗
metaphyſik und der Theorie des Erkennens als einer Selbſtvervielfältigung
des Geiſtes. Bemerkenswert iſt die ſich auch bei manchen andern zeigende
Verbindung des neuplatoniſchen Denkens mit mathematiſch exakter Natur⸗
forſchung. Daraus entſprang bei Witelo eine empiriſtiſche Raumwahrnehmungs⸗
theorie und eine Pſychologie des Sehens, in welcher, im weſentlichen Unter⸗
ſchied von der ariſtoteliſchen Auffaſſung, das Wahrnehmen als apperzeptive
Ergänzung des Empfindungsinhaltes gedeutet wurde. Die Gemeinbilder
wurden dabei von Witelo ſinnlich aufgefaßt. Als wichtige Monographien
ſind in Baeumkers Werk eingeſtreut Abhandlungen über die Geſchichte des
Gottesbeweiſes im Mittelalter, über die Lichtmetaphyſik des un und
Jahrbuch der Seite und Kulturgeſchichte. IL
194 V. Wiſſenſchaften.
Mittelalters, über die platoniſche Erkenntnislehre im Mittelalter, über den
voluntariſtiſchen Lebensbegriff, über die Intelligenzenlehre und über die
platoniſierenden Lehren von Raum und Zeit im Mittelalter.
Aus der neueren Geſchichte der Philoſophie iſt zuerſt hervorzuheben,
daß das noch immer beſte Kompendium derſelben: Rich. Falckenbergs
„Geſchichte der neueren Philoſophie“ (Leipzig, Veit u. Co.) die ſechſte Auf⸗
lage erlebte. An die Spitze der Einzelbeiträge ſtellen wir die die „Renaiſ⸗
ſance und Philoſophie“ eröffnende Arbeit von Paul Pendzig, „Pierre
Gaſſendis Metaphyſik und ihr Verhältnis zur ſcholaſtiſchen Philoſophie“
(Bonn, Hanſtein). Die hergebrachten Anſchauungen über Gaſſendi werden
durch ſie vielfach berichtigt, indem der Anteil der chriſtlichen Scholaſtik an
ſeinem Denken ſich viel größer und innerlicher erweiſt, als man bisher an⸗
nahm. Die deutſche Ausgabe der Werke Descartes' in der „Philoſophiſchen
Bibliothek“ durch Art. Buchenau wurde durch eine ſorgfältige Edition
der „Prinzipien der Philoſophie“ fortgeſetzt (Leipzig, Dürr). Zugleich er⸗
ſchien K. Jungmann, „René Descartes. Eine Einführung in ſeine Werke“
(Leipzig, Eckardt). Die durch Natorp beeinflußte Schrift will zeigen, daß
zwiſchen Descartes und Kant kein prinzipieller Gegenſatz beſteht. Zur
Philoſophie Lockes ſteuerte Clem. Baeumker mehrere Beiträge bei, die
weſentlich zur Klärung ſeines hiſtoriſchen Bildes dienen. Im „Archiv für
Geſchichte der Philoſophie“ (XIV) unterſucht er die hiſtoriſche Entwicklung
der Unterſcheidung zwiſchen primären und ſekundären Qualitäten von
Ariſtoteles bis zu Locke; und im „Philoſophiſchen Jahrbuch“ (21. Jahrg.,
3. Hft) ſtellt er feſt, daß Locke auch unter den „ſekundären Qualitäten“ nicht
die Empfindungsinhalte, ſondern Realitäten verſteht, im übrigen zur Auf⸗
ſtellung ſeiner Lehre teils aus erkenntnistheoretiſchen Motiven des Ratio⸗
nalismus, teils aus naturwiſſenſchaftlichen Einflüſſen von ſeiten Newtons
und Boyles gelangte. — Ein größeres Werk von Fr. Erhardt behandelt
„Die Philoſophie des Spinoza im Lichte der Kritik“ (Leipzig, Reisland). —
Wenden wir uns zu Kant, ſo müſſen wir zunächſt der „Kantſtudien“ (Berlin,
Reuther u. Reichard) gedenken. Wir verwehren den Männern derſelben
natürlich nicht das Recht, ſich gegen Beurteilungen Kants, die ihnen irre⸗
führend erſcheinen, klar und energiſch zu erheben. Was wir aber von ihnen
fordern müſſen, das iſt die Wahrung der Sachlichkeit in der Charakteriſierung
ihrer Gegner. Wie weit ſticht aber das verletzende Deklamieren des gegen-
wärtigen Herausgebers der „Kantſtudien“, Bruno Bauch, über Ultramonta-
nismus von der vornehmen Art ab, die man bei Profeſſor Hans Vai⸗—
hinger gewöhnt iſt! Iſt es denn nötig, ſeinem Arger darüber, daß es
„Ultramontane“ waren, denen der vorjährige Kantpreis zuerkannt werden
mußte, in Ausführungen, wie wir fie im Bd XIII, 1. Hft, S. 51 ff leſen,
Luft zu machen? — Von Arbeiten über Kant erwähne ich die als Er⸗
gänzungsheft der „Kantſtudien“ erſchienene Arbeit von Fr. Rademaker,
2. Philoſophie. 195
„Kants Lehre vom inneren Sinn in der „Kritik der reinen Vernunft“. —
Gegen Meſſers günſtige Beurteilung der Kantſchen Ethik wendet ſich Reinh.
Strecker, „Kants Ethik“ (Gießen, Roth). Nach ihm hat Kant dem
Willen keinen höchſten Zweck geſetzt. Er ſelbſt findet denſelben in dem
ſozialen Zweck der wechſelſeitigen Förderung aller menſchlichen Einzelperſön⸗
lichkeiten durch die Gemeinſchaft und dieſer durch jene. Zugleich erklärt ſich
Strecker für den Indeterminismus in der pantheiſierenden Färbung des
Pfarrers Kalthoff. — Max Apel gab einen brauchbaren „Kommentar zu
Kants Prologomena“ (Berlin, Verlag der „Hilfe“) heraus, und Oskar
Ewald veröffentlichte „Kants kritiſcher Idealismus als Grundlage von
Erfenntnistheorie und Ethik“ (Berlin, E. Hofmann u. Co.). — Beſonderes
Intereſſe haben im Berichtsjahre die Beziehungen zwiſchen der Philoſophie
und unſern großen klaſſiſchen Dichtern gefunden. So ſchrieb Bernh.
K. Engel ein vortreffliches Buch über „Schiller als Denker“ (Berlin,
Weidmann), worin er uns namentlich mit Schillers Theorie der Kunſt
bekannt macht. Über „Goethe, Spinoza und Jacobi“ erſchien ein Buch
von Fr. Warnecke (Weimar, Böhlau). Karl Mutheſius ſchenkte
der Pädagogik ein mit großer Sachkenntnis geſchriebenes und mit einer
Fülle der anregendſten pädagogiſchen Gedanken ausgeſtattetes Buch über
„Goethe und Peſtalozzi“ (Leipzig, Dürr). Er zeigt nicht nur, daß Goethe
nie in ein inneres Verhältnis zu Peſtalozzi getreten iſt, ſondern macht dies
auch durchaus begreiflich. In Unterſuchungen über das Weſen der Schön⸗
heit führt uns ein die Heidelberger Diſſertation von Hans Baer, „Be⸗
obachtungen über das Verhältnis von Herders Kalligone zu Kants Kritik
der Urteilskraft“ (Stuttgart, Wildt). Behufs Darſtellung von Herders
hiſtoriſcher Auffaſſung der Religion bearbeitete G. Ed. Burckhardt „Die
Anfänge einer geſchichtlichen Fundamentierung der Religionsphiloſophie“
(Berlin, Reuther u. Reichard).
Mein Bericht wird bei aller Lückenhaftigkeit den Leſern doch die Über-
zeugung gebracht haben, daß die Philoſophie im Jahre 1908 rege gearbeitet
und nach Fortſchritt geſtrebt hat. Mag auch vieles von dem, was ſie ge⸗
ſagt und geſchrieben hat, verwehen, jo wird doch auch manches als Bau⸗
ftein und Same ſeinen Wert behalten. Für die Vertreter der chriſtlichen
Weltanſchauung dürfte ſich aus dem offenbar wiedererwachten allgemeineren
Intereſſe an einer metaphyſiſchen Fundamentierung des wiſſenſchaftlichen
Welt und Lebensbildes die Mahnung ergeben, dem weiteren Erſtarken des
neuidealiſtiſchen Monismus und Pantheismus durch eine ſtreng wiſſen⸗
ſchaftlich, leicht verſtändlich und formſchön abgefaßte theiſtiſche Metaphyſik
vorzubauen.
13*
196 V. Wiſſenſchaften.
3. Geſchichte.
Don Dr kr. Kampers.
In feinem Berliner Vortrage „Die Säkulariſation der Geſchichte“ ſagte
Richard Feſter: „Die Erſchließung der ganzen Welt fordert eine ungeheure
Arbeiterzahl, ſo daß man es kaum mehr begreift, wie das kleine Männlein
Muratori mit ſeinem Rieſenfleiße bewältigen konnte, was heute der großen
Schar der Monumentiſten über den Kopf wächſt. Denn es iſt nun einmal
nicht anders. Auch in den Betrieb unſerer Wiſſenſchaft haben die Arbeiter⸗
bataillone ihren Einzug gehalten, und wenn es auch nicht an Feldherrn⸗
naturen fehlt, ſo haben ſie vielleicht mehr als früher mit der Anmaßung
des Banauſentums und mit der Unſolidität unberufener Weltbaumeiſter zu
kämpfen.“ — Eine Illuſtration zu dieſem Worte Feſters bilden die „Jahres-
berichte der Geſchichtswiſſenſchaft“, die jetzt G. Schuſter im Auftrage der
Hiſtoriſchen Geſellſchaft zu Berlin herausgibt. Ihr 29. Jahrgang, der über
die Literatur des Jahres 1906 berichtet (Berlin, Weidmann), iſt an die
1700 Seiten ſtark!
Auf allen Gebieten unſerer Wiſſenſchaft regen ſich tauſend fleißige
Hände, um den Quellenſtoff zu erſchließen, um ihn kritiſch zu ſichten, um
Licht über dieſe oder jene Einzelheit des geſchichtlichen Lebens zu breiten,
oder um die Ergebniſſe der hiſtoriſchen Kleinarbeit in den Dienſt einer
großzügigen künſtleriſchen Hiſtoriographie zu ſtellen. Gewiß — das muß
Feſter unbeſehen zugeſtanden werden — dieſe Tauſende von geſchichtlichen
Schriften ſind Weizen und Spreu. Wer aber möchte ſich unterfangen im
Angeſichte dieſer erdrückenden Fülle, gute und ſchlechte Arbeiten zu ſcheiden?
Gewiß, auch manche anſcheinend nebenſächliche Frage wird häufig mit einem
Aufgebote großen Scharfſinnes behandelt. Wer aber kann mit Sicherheit
Nebenſächliches und Wichtiges trennen? Wer weiß, ob nicht dieſe oder jene
kleine Entdeckung den Ausgangspunkt für hochbedeutſame Unterſuchungen
bilden wird? All dieſe und andere Erwägungen nötigen den Berichterſtatter
in dieſen Blättern denn doch, hübſch beſcheiden zu ſein, mit ſeinem eigenen
Urteil weiſe zurückzuhalten, aber wohl darauf zu achten, welche Ausleſe
aus der ungeheuern Fülle die Kritik bereits in den berufenen wiſſenſchaft⸗
lichen Zeitſchriften vorgenommen hat.
45 Die Verſammlung deutſcher Hiſtoriker ift feit einigen Jahren
mehr und mehr zu einem allgemeinen Mittelpunkt der Fachgenoſſen ge⸗
worden. Vorträge, die vor dieſem Parterre von Königen, Königlein und
ſolchen, die es werden wollen, gehalten werden, beanſpruchen durchweg ein
allgemeineres Intereſſe. Entweder ſtellen ſie wichtige Fragen der Methodik
oder Löſungsverſuche bedeutender Probleme zur Diskuſſion. Der 1908
veröffentlichte „Bericht über die 10. Verſammlung deutſcher Hiſtoriker zu
3. Geſchichte. 197
Dresden“ (3.—7. Sept. 1907. Leipzig, Duncker u. Humblot) gibt dafür
mehrere Belege. J. Kromayer wählte für feine ſtrategiſch⸗politiſche Be⸗
trachtung „Hannibal und Antiochos der Große“ nicht den namentlich von
Mommſen eingenommenen Standpunkt, von dem aus Rom für dieſe Zeit
der römiſch⸗helleniſtiſchen Kämpfe als Zentrum und Ausgangspunkt er-
ſcheint. Das lebhafte Intereſſe, das man heute verfaſſungsgeſchichtlichen
Fragen entgegenbringt, bewies die eingehende Diskuſſion, die ſich an den
Vortrag von G. Caro (Grundherrſchaft und Staat) knüpfte. Einen wei⸗
teren verfaſſungsgeſchichtlichen Vortrag hielt O. Hintze, der „Die Ent.
wicklung der modernen Miniſterverwaltung in den wichtigſten europäiſchen
Staaten“ verfolgte und ſie aus drei teils mittelalterlichen teils neuzeitlichen
Inſtitutionen herleitete. Eingehender beſprochen wurde auch F. Keutgens
Vortrag „Königtum, Fürſtentum, Kirche“. Fürſtentum und Kirche werden
hier als „die beiden beſondern, beweglichen Kräfte“ hingeſtellt, „mit denen
das Königtum ſich abzufinden hatte, mit denen es einen Ausgleich anſtreben
mußte, die es ſich aber zu Gegnern machte, deren vereinter Kraft es unter-
lag“. „Die Gegenbeſtrebungen der Kirche ſind, wie die der Fürſten, von
der Geſchichtſchreibung meiſt etwas einſeitig unter dem Geſichtspunkt der
Staatsfeindlichkeit betrachtet worden: es wird Aufgabe ſein, das Notwendige
und Heilſame an ihnen mehr als bisher aufzuſuchen und die Grenzpunkte
feſtzuſtellen, wo es ſich ins Verderbliche verkehrt.“ Aloys Schulte
legte in ſeinem gleichfalls eingehend und größtenteils zuſtimmend beſprochenen
Vortrage „Die deutſche Kirche des Mittelalters und die Stände“ dar, daß
wir die deutſche Kirche des Frühmittelalters uns viel ariſtokratiſcher zu
denken haben, als bisher angenommen wurde. Wenn auch ſeit dem In⸗
veſtiturſtreite andere Stände in die oberen Stellen der Kirche eindrangen,
oder „wenn auch einzelne Orden theoretiſch jeden Geburtsunterſchied un-
beachtet laſſen wollten“, fo zeigte es ſich dennoch, daß das alte Standes-
gefühl noch längſt nicht untergegangen war. „Kurie und Königshof be⸗
förderten im Spätmittelalter Emporkömmlinge.“ Albert Hauck führte
in ſeinem Vortrage „Die Rezeption und die Umbildung der allgemeinen
Synode im Mittelalter“ aus, daß beim Beginn des Schismas, im Jahre
1378, jene Gedanken bereits vorhanden waren, „die die Vertreter der
konziliaren Theorie in der nächſten Zeit entwickelten: man brauchte ſie
nur zuſammenzufaſſen und anzuwenden“. Längere Debatten rief wiederum
Karl Lamprecht hervor. Er ſprach „Zur Umgeſtaltung der univerſal⸗
geſchichtlichen Studien im Hochſchulunterricht“. Der von ihm eingehend ge⸗
ſchilderte Betrieb derartiger Studien wurde von H. Breßlau als eine ſchwere
Gefahr, von andern als utopiſtiſch bezeichnet. Doch fand der Redner auch
Zuſtimmung. So bedauerte Kurt Breyſig, daß „für univerſalgeſchicht⸗
liche Studien jetzt materielle und auch pſychiſche Hemmniſſe beſtünden, da
die univerſalen Inſtinkte durch Sorge vor der Mißbilligung der Fachgenoſſen
198 V. Wiſſenſchaften.
getrübt würden“. — Im Anſchluß an dieſe Verſammlung tagte die Kon⸗
ferenz der Vertreter „landesgeſchichtlicher Publikationsinſtitute“. Armin
Tille betonte hier die Notwendigkeit der Veröffentlichung der Quellen zur
ſtädtiſchen Wirtſchaftsgeſchichte. „Mögen ſich viele Quellen ihrer Natur
nach nicht zum vollſtändigen Abdruck eignen, ſo iſt es doch wünſchenswert,
daß ſolcher Stoff in einer Rohbearbeitung (Tabellen, Regeſten) vorgelegt
wird, die dem einzelnen Forſcher die Benutzung der Archivalien erſpart oder
ſie ihm wenigſtens ſehr erleichtert, vor allem aber die Aufmerkſamkeit darauf
lenkt.“ Den Darlegungen über Fragen der hiſtoriſchen Geographie ſollte
eine auf Anregung der Konferenz veranſtaltete Ausſtellung von Karten zur
Geſchichte der ſächſiſchen Kartographie und zur Erläuterung der hiſtoriſch⸗
geographiſchen Arbeiten in Sachſen eine feſtere Grundlage geben. Weiter
wurden von der Konferenz Grundſätze für Publikationen von Quellen zur
ſtädtiſchen Rechtsgeſchichte feſtgeſtellt. Die weſentlichſte Forderung, die darin
erhoben wurde, iſt die, daß in die Publikationen außer den Stadtrechten
im engeren Sinne auch das geſamte Material zur Geſchichte der Stadt⸗
verfaſſung und Stadtverwaltung aufgenommen wird. Zuletzt erörterte man
die Anlage und Aufgabe mittelalterlicher Regeſtenwerke. Die Konferenz
unterſchied zwiſchen dem frühen Mittelalter (etwa bis 1250) und dem ſpäteren
und ſprach den Wunſch aus, daß alle Urkunden der erſten Epoche mit
Reichshilfe in photographiſchen Nachbildungen veröffentlicht und dann nach
diplomatiſchen Geſichtspunkten neu bearbeitet würden. Für die ſpäteren
Urkunden verzichtete man bei der Maſſe des Stoffes auf Vollſtändigkeit,
hielt aber „die Forderung nach erſchöpfenden, bis zum Beginn des Akten ⸗
materials reichenden territorialen Regeſtenwerken als eine ideale Forderung“
aufrecht. Auch zur techniſchen Seite der Urkundenherausgabe ſprach die
Konferenz einige Anregungen aus.
Im Mittelpunkte des Intereſſes der Geſchichtsforſcher aller Länder hätte
der vom 6. bis zum 12. Auguſt des Berichtsjahres in Berlin tagende 4. Inter-
nationale Kongreß für hiſtoriſche Wiſſenſchaften! ftehen follen.
In Wirklichkeit verhielt ſich das Ausland ihm gegenüber ziemlich teilnahmlos.
Die tauſend Mitglieder waren zumeiſt Deutſche. Anerkannt muß werden, daß
dieſer Kongreß, „wie es das Ziel des Organiſationskomitees geweſen war,
mehr unter dem Zeichen der ernſten wiſſenſchaftlichen Zuſammenarbeit als
unter dem der vorwiegend nach allgemeinen Eindrücken ſtrebenden Gejellig-
keit“ ſtand. Die Auswahl der Vorträge durch die Sektionsleiter hat nicht
den allgemeinen Beifall gefunden. „Eine Reihe von Themen entſprach
durchaus nicht dem allgemeinen Charakter, den eine internationale Tagung
1 Der Bericht ſchließt ſich an das Referat Paul Herres in der „Hiſtoriſchen Viertel
jahresſchrift“ IX (1908), Hft 3; Nachrichten und Notizen II, und an das weitere Referat
in der „Deutſchen Literaturzeitung“ XXIX (1908), Nr 34 ff an.
8. Geſchichte. 199
ſtets im Auge behalten muß.“ Einige der wichtigeren geſchichtlichen Vor⸗
träge im engeren Sinn ſeien hier kurz in derſelben bunten Folge, in der
ſie gehalten wurden, aufgeführt. Der amerikaniſche Botſchafter David
Jayne Hill ſprach über „Die ethiſche Aufgabe des Hiſtorikers“ und be⸗
tonte die wiſſenſchaftliche Notwendigkeit einer qualitativen, ethiſchen Be⸗
wertung der Erſcheinungen des menſchlichen Lebens in bewußtem Gegenſatz
zu der quantitativen Auffaſſung. W. Münch charakteriſierte in ſeinem Vor⸗
trage „Fürſtenerziehung im Wandel der Jahrhunderte“ anhebend mit der
Kyropädie die Literatur über Fürſtenerziehung. Nach G. Kaufmann iſt
„Die Selbſtverwaltung der deutſchen Univerſitäten im 19. Jahrhundert“,
deren Vorgeſchichte er ſchilderte, ernſtlich bedroht. An die Spitze ſeines
Vortrages über „Bismarcks Jugend“ ſtellte E. Marcks den Satz: „Bei
Bismarck muß man auch dem Perſönlichſten nachgehen, weil an ihm der
ganze Menſch hiſtoriſch wirkſam geworden iſt. Daher iſt die Forderung
der Forſchung beſonders ſtark.“ Seine Auffaſſung von der hiſtoriſchen
Bedeutung der Grundherrſchaft legte G. Seeliger dar in ſeinem Vortrage
„Staat und Grundherrſchaft in der deutſchen Geſchichte“. Seeliger geht
von der Banngewalt aus, die er aus der Grundherrſchaft herleitet. „Die
Bannherren hatten teilweiſe ſogar vollſtändige Gerichtsbarkeit. So ent⸗
ſtanden beſondere Bannbezirke, die gewiſſermaßen aus der Grafſchaft aus⸗
ſchieden. Auf dieſe Weiſe wurden ſie von großer Bedeutung für die Ent⸗
wicklung des Reiches.“ H. Marczali hätte feinem Vortrage „Die
Grundbeſitzverhältniſſe in Ungarn um 1720 in ihrer kulturellen Bedeutung“
das Ziel geſteckt, zu erklären, „wie bei einem ſo kriegeriſchen Volke, wie
dem ungariſchen, eine vorwiegend juriſtiſche Bildung herrſchend wurde“.
Über die Grundlagen der byzantiniſchen Kultur ſprach A. Heiſenberg.
„Konſtantinopel wurde in jeder Beziehung ein Zentralpunkt helleniſtiſcher
Kultur, die im Zeitalter Juſtinians eine glänzende Renaiſſance erlebte und
ſich dann ein Jahrtauſend noch behauptete.“ Der Vortrag richtete ſich gegen
die Übertreibungen der „orientaliſchen Theorie“. Allgemeineres Intereſſe fand
der von P. F. Kehr vorgelegte Plan einer Germania sacra. S. Merkle
legte dar, daß die katholiſche Beurteilung des Aufklärungszeitalters häufig
eine ungerechte fei, und wies hin auf die Verdienſte, „die ſich die Auf-
klärung um die Theologie, die Univerſitäten und die Volksſchulen, inſonder⸗
heit um die Katecheſe erworben habe“. Widerſpruch wie Beifall fand der
Vortrag von R. Feſter über „Die Säkulariſation der Geſchichte“. Er
iſt inzwiſchen in der „Hiſtoriſchen Vierteljahresſchrift“ zum Abdruck gelangt,
auf die wir hier verweiſen, da ſich in wenigen Zeilen keine Analyſe dieſes
Vortrages geben läßt. Großen Eindruck machte H. Finke mit ſeinen
programmatiſchen Ausführungen über den Stand der vorreformations⸗
geſchichtlichen Forſchungen. Finke wies auf die großen Lücken dieſer For⸗
ſchung hin und betonte, daß auf dieſem Gebiete nichts kleinlich und klein
200 V. Wiſſenſchaften.
fei. Die Reformationsforſchung möge „ſich an den Triumphen der ver-
gleichenden Religionsgeſchichte ein Beiſpiel nehmen. Sie wird in Zukunft
aus ihrer Iſolierung heraustreten müſſen“. Bedeutſam war namentlich
auch der Hinweis darauf, wie wenig noch das Ausland zu dem wichtigen
Kapitel der Reformationsgeſchichte beigeſteuert habe. „In der Zeichnung
der Reformation und ihrer Vorgeſchichte bedient man ſich mit Vorliebe der
deutſchen Farben, auch da, wo ſie gar nicht paſſen, wie das z. B. für
Frankreich der Fall iſt.“
Über eine große Summe gelehrter Arbeit wurde ſomit auf dieſen beiden
Kongreſſen berichtet. Daneben waren die vielen großen und kleinen Publi⸗
kationsinſtitute rüſtig an der Arbeit. Naturgemäß wendet der Forſcher
dieſen Inſtituten ſeine beſondere Aufmerkſamkeit zu; denn die wichtigſte
Frage des Hiſtorikers iſt und bleibt ja die nach neu erſchloſſenem Quellen⸗
material.
Mit ihrem glänzenden Stabe von Mitarbeitern darf die Geſellſchaft
für ältere deutſche Geſchichtskunde den Ehrenplatz unter allen
Schweſtergenoſſenſchaften beanſpruchen. Von der Abteilung Scriptores
unſeres nationalen Quellenwerkes der Monumenta Germaniae historica
(Hannover, Hahn) erſchien der 32. Band, der die Schlußhälfte der inter⸗
eſſanten Chronik des Minoriten Salimbene de Adam bringt, die
O. Holder⸗Egger bearbeitete. In der Schulausgabe der Scriptores
rerum Germanicarum (ebd.) wurden von Herm. Bloch die Annales
Marbacenses qui dicuntur nebſt den Annales Alsatici breviores ver:
öffentlicht. Derſelbe Verfaſſer ſchrieb im erſten Teile der „Regeſten der
Biſchöfe von Straßburg“ (Innsbruck, Wagner) eine Unterſuchung über
„Die Elſäſſiſchen Annalen der Stauferzeit“, deren Eleganz und methodiſche
Schärfe gerühmt wird. Dieſe Unterſuchung bringt einen wertvollen Beitrag
zu dem intereſſanten Kapitel der Fälſchungen bei; ſie weiſt nämlich nach,
daß die Annales Argentinenses breves eine Fälſchung Ph. A. Grandidiers
ſind. Als Vorarbeit für die Ausgabe der Urkunden Ludwigs des Frommen
und ſeiner Nachfolger veröffentlichte der Leiter der Abteilung Diplomata
Carolinorum, M. Tangl, im erſten Heft des „Archiv für Urkunden⸗
forſchung“ eine zuſammenfaſſende Behandlung der tironiſchen Noten in den
Karolingerurkunden.
Die Hiſtoriſche Kommiſſion bei der Kgl. Bayeriſchen Aka⸗
demie der Wiſſenſchaften kann den Ehrenplatz zur Seite der älteren
nationalen Geſellſchaft beanſpruchen. Auf der 49. Plenarverſammlung wurde
über die erſchienenen Publikationen berichtet. H. Simonsfeld gab „Die
Jahrbücher des deutſchen Reiches unter Friedrich I.“ heraus, und zwar
zunächſt den erſten Band derſelben, welcher die Jahre 1152 — 1158 umfaßt
(Leipzig, Duncker u. Humblot). Dieſe Publikation iſt wegen der großen
Breite der Darſtellung ſcharf getadelt worden. Hoffentlich findet der
8. Geſchichte. 201
unverdroſſene Fleiß, mit dem hier das Material auch in anſcheinend un-
bedeutenden Dingen — und welcher Forſcher, frage ich noch einmal, kann
mit Sicherheit ſagen, was unbedeutend iſt? — zuſammengetragen wurde,
Anerkennung. Von der älteren Serie der „Deutſchen Reichstagsakten“ liegt
die erſte Hälfte des 13. Bandes in der Bearbeitung G. Beckmanns vor,
die nur Akten des Jahres 1438 enthält (Gotha, Perthes). Die Nachträge
der „Allgemeinen Deutſchen Biographie“ wurden von Roeren bis Walther
weitergeführt (Leipzig, Duncker u. Humblot). Von den „Briefen und Akten
zur Geſchichte des Dreißigjährigen Krieges“ erſchien der „Neuen Folge“ (Die
Politik Maximilians I. und feiner Verbündeten 1618—1651 enthaltend)
erſter Band des zweiten Teiles, der die Jahre 1623 / 1624 betrifft. Der
Bearbeiter iſt W. Goetz (Leipzig, Teubner). Aus dem Nachlaſſe von
F. Stieve wurde inzwiſchen in einer Bearbeitung durch K. Mayr der
achte Band der „Briefe und Akten zur Geſchichte des Dreißigjährigen
Krieges in den Zeiten des vorwaltenden Einfluſſes der Wittelsbacher“
(München, Rieger) herausgegeben. Dieſer Band umfaßt die Zeit „Von
den Rüſtungen Herzog Maximilians von Bayern bis zum Aufbruch der
Paſſauer“.
Eine wichtige Zentrale hiſtoriſcher Forſchung iſt das Kgl. Preußiſche
Inſtitut in Rom. Die vielſeitige Tätigkeit ſeiner wenigen Mitglieder
iſt überaus fruchtbringend für unſere Wiſſenſchaft. Wir können hier auf
den Stand der mannigfaltigen Einzelunternehmungen dieſes Inſtituts nicht
eingehen, über den der Bericht für das Jahr 1907/1908 Rechenſchaft ab-
legt. Nur die der Offentlichkeit unterbreiteten Arbeiten ſeien genannt. Von
den gehaltvollen „Quellen und Forſchungen aus italieniſchen Archiven und
Bibliotheken“ erſchien der elfte Band (Rom, Loeſcher). In der Abteilung
der Regesta chartarum Italiae (ebd.) gab Fed. Schneider das Re-
gestum Volaterranum heraus.
Über die wiſſenſchaftliche Tätigkeit des nicht minder wichtigen Hiſto⸗
riſchen Inſtituts der Görres -Geſellſchaft in Rom ift, ſoweit
wir ſehen, im Jahre 1908 in der Offentlichkeit nicht berichtet worden.
An der Seite dieſer großen in den Dienſt der geſchichtlichen Quellen.
forſchung geſtellten Körperſchaften und Inſtitute arbeiten in Deutſchland eine
ganze Reihe von territorialen Vereinen und Kommiſſionen. Soweit Berichte
über deren Veröffentlichungen aus dem Jahre 1908 vorliegen, ſollen auch
ſie hier kurz berückſichtigt werden. Die Hiſtoriſche Kommiſſion der Provinz
Weſtfalen veröffentlichte von Herm. Hamelmanns geſchichtlichen
Werken die Illustrium Westphaliae virorum libri sex in der kritiſchen
Überarbeitung von Klem. Löffler (Münſter, Aſchendorff). Der Hiſtoriſche
Verein für Niederſachſen legt eine „Geſchichte des Medizinalweſens im
Gebiete des ehemaligen Königreichs Hannover“ von H. Deichert vor
[Hannover, Hahn). Von der Kommiſſion zur Herausgabe elſäſſiſcher
202 v. Wiſſenſchaſten.
Geſchichtsquellen wurde der zweite Teil der von Paul Wentzke be⸗
arbeiteten „Regeſten der Biſchöfe von Straßburg bis zum Jahre 1202“
herausgegeben (Innsbruck, Wagner).
Und nun zu dem Reichtum der ſonſtigen literariſchen Neuerſcheinungen
auf unſerem täglich ſich erweiternden Arbeitsgebiete! Vergeblich ſucht man
in dieſer Fülle nach Haltpunkten: keine Probleme, die etwa einen größeren
Kreis der Forſcher beſchäftigten, bringen Ordnung in dieſes Chaos, keine
wiſſenſchaftlichen Strömungen und Tendenzen ſcheiden erkennbare Gruppen,
keine direkt epochemachenden Werke, die in Forſchung und Darſtellung zu⸗
gleich überragende Kunſtwerke bilden, geben die Möglichkeit und den Anreiz
zu Rück- und Ausblicken über die Arbeit des Jahres. Hier kann unter
den vielen bedeutenderen Neuerſcheinungen, welche Berückſichtigung heiſchen,
nur ſtreng ſyſtematiſch Ordnung geſchaffen werden. Von ſelbſt bieten ſich
für dieſe an ſich leider ſo trockene, aber nicht zu vermeidende Syſtematik
Hiſtoriographie und Methodologie als Ausgangspunkte an. Auf dieſen
Gebieten darf das gehaltvolle Buch von Ludw. Zoepf, „Das Heiligen⸗
leben im 10. Jahrhundert“ (Berlin, Teubner), unſere Aufmerkſamkeit in An-
ſpruch nehmen. Es bringt eine Fülle von Materialien zur Charakteriſtik
der hagiographiſchen Literatur dieſer Epoche und erlangt dadurch auch für
die mittelalterliche Kulturgeſchichte Bedeutung. Indes will es uns bei aller
Anerkennung des Fleißes denn doch bedünken, daß ſich aus den Ergebniſſen
des Verfaſſers mit Sicherheit kein abgeklärtes Bild dieſer Literaturgattung
herſtellen läßt. — Dieſes Buch leitet uns ungezwungen zu Dom Jean
Mabillon hinüber, der für die Hagiographie und überhaupt für die Hiſtorio⸗
graphie das erſte wertvolle kritiſche Handwerkszeug geſchaffen hat. Die
200. Wiederkehr ſeines Sterbetages feierten die Benediktiner von Ligugé,
die nach Chevetogne in Belgien geflüchtet find, durch einen Band Mélanges
et documents. Aus der Fülle der hier gebotenen und namentlich für die
Geſchichte der Hiſtoriographie wertvollen Unterſuchungen ſeien herausgehoben:
Dom Jean Mabillon, Sa probité d’historien, par L. Delisle; Mabillon
et la Bibliothéque du Roi à la fin du XVII' siècle, par H. Omont;
Mabillon et Papebroch, par A. Poncelet S. J. — Das Leben eines neueren
Hiſtorikers, Heinrich Leos, ſchildert uns Paul Krägelin in einer Studie,
von der der erſte Teil vorliegt (1799 — 1844. Leipzig, Voigtländer). In
dieſem Teile gelangt die Entwicklung der religiöſen, politiſchen und hiſtoriſchen
Anſchauungen Leos bis zur Höhe ſeines Mannesalters zur Darſtellung. —
Während der Verfaſſer der „Geſchichte der italieniſchen Staaten“ ſchon faſt zu
den Vergeſſenen gehört, will es uns beim Anblicke des fünften Bandes der „Ge⸗
ſammelten Schriften“ (Berlin, Weidmann) des Altmeiſters Th. Mommſen
ſchier bedünken, als ob dieſer Forſcher ewig jung bleiben müßte. Übrigens
hat L. M. Hartmann dieſem uomo universale im Sinne des Quattro-
cento einen längeren Nachruf gewidmet in ſeiner Schrift „Theodor Mommſen“,
3. Geſchichte. 203
der eine Anzahl politiſcher Aufſätze dieſes Gelehrten beigegeben wurde (Gotha,
Perthes).
Auf rein methodologiſchem Gebiete ſind bemerkenswerte Fortſchritte nicht
zu verzeichnen. Der überwiegende Teil der hiſtoriſchen Arbeiter verhält ſich
dem Verſuche gegenüber, die „Methode“ durch Geſetze einzuengen, ablehnend
oder ſkeptiſch. Immerhin aber fol nicht geleugnet werden, daß manche
methodologiſche Schriften doch vielſeitige Anregungen darbieten. Das gilt
beſonders von den Arbeiten des unermüdlichen C. Bernheim, der eine
ſorgfältig durchgeſehene 5. und 6. Auflage ſeines „Lehrbuches der hiſtoriſchen
Methode und der Geſchichtsphiloſophie“ (Leipzig, Duncker u. Humblot) ſeiner
knapp gefaßten „Einleitung in die Geſchichtswiſſenſchaft“ (Leipzig, Göſchen)
folgen läßt. Bernheim verſteht es, die großen erkenntnistheoretiſchen und
methodiſchen Probleme unſerer Wiſſenſchaft herauszuarbeiten und ihre Ent-
wicklung zu ſchildern. A. Vierkandt berührt in ſeiner ſoziologiſchen Studie
„Die Stetigkeit im Kulturwandel“ (Leipzig, Duncker u. Humblot) gleichfalls
wichtige Probleme unſerer Wiſſenſchaft. Hier wird ein ungemein peſſimiſtiſcher
Grundton angeſchlagen. Indem der Verfaſſer das Individuum möglichſt aus-
ſchaltet, läßt er das Triviale Werden und Sein der Kulturgüter erklären.
Nur ein größeres bibliographiſches Nachſchlagebuch, das des allgemeinen
Intereſſes der Forſcher ſicher iſt, erſchien in dem Berichtsjahre. Es iſt das
Repertoire des sources historiques du moyenäge von Ulyſſe Chevalier,
deſſen zweite Bearbeitung jetzt vorliegt (Paris, Picard). Mit entſagungs⸗
vollem Fleiße hat der Verfaſſer verſucht, die Titanenarbeit zu leiſten und
der Überfülle des neuen Materials Herr zu werden. Das konnte ihm
natürlich nicht immer gelingen. Deshalb ihn ſchmähen zu wollen, wäre
angeſichts der großen Vorzüge dieſes unentbehrlichen bio und topobiblio⸗
graphiſchen Werkes ein Unrecht.
Von den einzelnen Hilfswiſſenſchaften unſeres Arbeitsgebietes weiſen nur
Chronologie und Diplomatik ergebnisreichere Unterſuchungen auf. Joſeph
Bach ſetzt ſeine gründlichen chronologiſchen Forſchungen fort; er handelt
jetzt über „Die Zeit und Feſtrechnung der Juden unter beſonderer Berück⸗
ſichtigung der Gaußſchen Oſterformel“ (Freiburg, Herder). Die Theorie
der jüdiſchen Feſtzeitrechnung wird hier in gedrängter, aber auch dem Laien
verftändlicher Darſtellung klar gemacht. — Rühriges Leben herrſcht nach
wie vor auf diplomatiſchem Gebiete. K. Brandi, H. Breßlau und
M. Tangl geben ein „Archiv für Urkundenforſchung“ heraus (Leipzig,
Veit u. Co.), das alle Fragen dieſer Hilfswiſſenſchaft erörtern und zugleich
auch die einſchlägigen paläographiſchen Fragen (Schreibſtuben, Eigenheiten
der Schreiber) klarſtellen will. — Einem beſtimmten Komplexe von Urkunden,
nämlich den „Urkunden König Konrads III.“, wendet ſich die Erſtlingsarbeit
von E. Graber (Innsbruck, Wagner) zu. Sie bringt gewiß einige wert⸗
volle Beiträge zur Geſchichte der Kaiſerurkunden; verfehlt und methodiſch
204 V. Wiſſenſchaften.
nicht ohne Bedenken aber iſt es, daß der Verfaſſer ſich auf die Durch⸗
arbeitung der in Deutſchland verwahrten Originale beſchränkt. — Für das
Urkundenweſen iſt auch trotz des Tadels, den die Arbeit gefunden hat, das
„Oberpfälziſche Regiſter aus der Zeit Kaiſer Ludwigs des Bayern“, das
W. Erben herausgab (München Oldenbourg), von einigem Belang. Das
Regiſterweſen erhält hier doch ſtellenweiſe eine ganz neue Beleuchtung.
In den Dienſt der Erſchließung neuen Quellenmateriales haben ſich
nicht nur die genannten Kommiſſionen und Geſellſchaften geſtellt. Auch
die Einzelforſchung fördert hier in fleißiger Arbeit tagtäglich neben taubem
Geſtein manche Goldkörner zu Tage. Mit beſonderer Freude muß es den
Hiſtoriographen des Mittelalters erfüllen, daß die Neubearbeitung des
monumentalen Böhmerſchen Regeſtenwerkes vorwärts ſchreitet. Dem Ge⸗
ſchichtſchreiber der Karolinger, E. Mühlbacher, war es nicht mehr ver⸗
gönnt, die „Regeſten des Kaiſerreiches unter den Karolingern“ zu Ende zu
führen. Joh. Lechner hat dieſe Arbeit wieder aufgenommen und legt
jetzt das Schlußheft der Regeſten vor (Bd. I, 3. Abtl. Innsbruck, Wagner)
mit dem Reſte der Urkunden Konrads I., mit einem Verzeichnis der ver⸗
lorenen Urkunden, mit einer Überſicht der Urkunden nach den Empfängern
und mit Bücherregiſter und Konkordanztabellen. Ein Meiſterwerk ſorg⸗
fältiger Einzelforſchung iſt damit abgeſchloſſen. Wohl nie ſind dem For⸗
ſcher ſo liebevoll die Wege geebnet wie in dieſem Teile des monumen⸗
talen Regeſtenwerkes. — Auch die neue Ausgabe von L. Muratoris
Rerum Italicarum Scriptores verfolgt der mittelalterliche Forſcher mit
großer Spannung; ſie ſchreitet raſch, ſtellenweiſe allzuraſch vorwärts. Neuere
Faszikel des neunten Bandes bringen die Historia Dulcini und die Schrift
Bernardi Guidonis De secta Apostolorum. Scharf wird im „Neuen
Archiv“ die begonnene Publikation des Chronicon Estense im 15. Bande
der Scriptores getadelt. Beſſer beurteilt der Meiſter der Editionstechnik,
O. Holder ⸗Egger, an derſelben Stelle die im 18. Bande beginnende Ausgabe
der Bologneſiſchen Chroniken des 14. und 15. Jahrhunderts durch Albano
Sorbelli. — Einige dankenswerte Quellenſtudien zur Geſchichte der
hl. Eliſabeth, Landgräfin von Thüringen, veröffentlichte Albert Huyskens
(Marburg, Elwert).
Die bedeutendſte Quellenpublikation zur mittelalterlichen Geſchichte aber
verdanken wir dem Finderglück und dem Fleiße Heinrich Finkes. Seine
Acta Aragonensia (Berlin, Rothſchild) ſtanden im Berichtsjahre im Vorder⸗
grunde des gelehrten Intereſſes. Nicht mit Unrecht. In dieſen Quellen
zur deutſchen, italieniſchen, franzöſiſchen, ſpaniſchen Geſchichte, ſowie zur
Kirchen- und Kulturgeſchichte aus der diplomatischen Korreſpondenz Jaymes II.
(1291-1327) wird uns aus dem Kronarchiv von Barcelona ein für mittel-
alterliche Geſchichte unerhört großes neues Quellenmaterial erſchloſſen, das
dadurch eine noch gar nicht abzuſchätzende Bedeutung erhält, daß es uns den
3. Geſchichte. 205
Menſchen in den Tagen Dantes denkend und handelnd vorführt. Die ge⸗
ſchichtliche und namentlich die kulturgeſchichtliche Forſchung hat hier ein ganz
neues ausſichtsreiches Arbeitsgebiet erhalten. — Was ſonſt an Quellen im
Jahre 1908 veröffentlicht wurde, ſteht hinter dieſer Publikation mit ihrem
ausgedehnten Intereſſenkreis weit zurück; es hat zumeiſt nur eine territoriale
oder auch nur perſönliche Bedeutung. Ganz kurz das Wichtigſte in chrono⸗
logiſcher Folge.
Vom ſiebten Bande des „Weſtfäliſchen Urkundenbuches“ liegt die ſechſte
(1289— 1298) und die fiebte Abteilung (1298— 1300) vor, die das Staats-
archiv Münſter bearbeitete. In der erſten Abteilung des achten Bandes gibt
R. Krumbholtz die Urkunden der Jahre 1301—1310 heraus (Münſter,
Regensberg). — Gottfr. Kentenich veröffentlicht „Trierer Stadtrech⸗
nungen des Mittelalters“ (Trier, Lintz). Das vorliegende erſte Heft enthält
Urkunden des 14. Jahrhunderts. Die zahlreichen Anmerkungen ſind von
größtem Werte für die Verfaſſungs⸗ und Wirtſchaftsgeſchichte Triers. — In
den „Quellen zur Schweizer Geſchichte“ erſchien in der Abteilung „Chroniken“
der neuen Folge der erſte Band mit dem erſten Teile von Heinr. Brenn⸗
walds „Schweizerchronik“ (bis 1436), die R. Luginbühl herausgibt
(Baſel, Geering). Der Wert der Chronik liegt weniger in den tatſächlichen
Mitteilungen als in den vielen Spuren der ſchweizeriſchen Sagen und
Legendenbildung, die ſich hier finden. — Eine in letzter Zeit vielbeſprochene
Schrift gibt Heinr. Werner im dritten Ergänzungsheft des „Archiv für
Kulturgeſchichte“ (Berlin, Duncker) heraus. Es iſt die „Reformation des
Kaiſers Sigmund“, der hier ein reichhaltiger Kommentar mitgegeben iſt.
Intereſſant find die Nachweiſe von Beziehungen dieſer Schrift zu den Reform-
beſchlüſſen des Baſeler Konzils. Die ſchwierige Frage, wer der Heraus-
geber geweſen iſt, im Sinne Werners zu löſen, geht nicht gut an. Wir
werden wohl mit C. Köhne, wie das auch der Rezenſent des „Neuen Archiv“
tut, nicht einem Laien, ſondern einem Augsburger Weltgeiſtlichen die Ver⸗
faſſerſchaft zuſchreiben müſſen. Auch an dem radikalen Charakter der Refor-
mation muß feſtgehalten werden. — Die „Beſchwerdeartikel der Bauern aus
den Jahren 1519— 1525“ erſcheinen in der Bearbeitung H. Wopfners im
erſten Teile der „Quellen zur Geſchichte des Bauernkrieges in Deutſchtirol
1525” (Innsbruck, Wagner). Von der wichtigen Quellenſammlung Rerum
Aethiopicarum scriptores occidentales inediti a saeculo XVI ad XIX
curante C. Beccari S. J. erſchien der fiebte Band, welcher die Veröffent-
lichung der Historia Aethiopiae des Emmanuel d' Almeida zum Ab-
ſchluß bringt (Rom, de Luigi). Der 1580 geborene portugieſiſche Jeſuit unter:
richtet über Landeskunde, Sitten und Gebräuche des Volkes, die Geſchichte des
Landes, anhebend mit der ſagenhaften Stammutter, der Königin von Saba,
über die Beziehungen zu Portugal bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts,
über das Wirken der Jeſuiten, die religiöſen Irrlehren der Abeſſinier, ihre
206 V. Wiſſenſchaften.
Zeremonien und ihren Aberglauben. Über die Geſchichte der Miſſion, die
Religionskriege und das tragiſche Ende der Miſſion im Juni 1632 berichtet
der Verfaſſer als Augenzeuge. — Von der wichtigen Unternehmung „Ur.
kunden und Aktenſtücke zur Geſchichte der inneren Politik des Kurfürſten
Friedrich Wilhelm von Brandenburg“ erſchien ein ſtattlicher, von O. Hötzſch
bearbeiteter zweiter Teil, der Materialien zur Geſchichte der „Stände und
Verwaltung von Kleve und Mark in der Zeit von 1666 bis 1697“ ent.
hält (Leipzig, Duncker u. Humblot). — K. Hauck gibt die „Briefe der
Kinder des Winterkönigs“ heraus (Heidelberg, Köſter), die viel Perfön-
liches, aber auch viel Kulturhiſtoriſches und Politiſches enthalten, das den
Reiz der Neuheit bietet. Eigenartig berührt die Nachricht, daß 1658 zu
Paris für Karl Ludwig eine coronne imperyalle angefertigt wurde. —
H. F. Helmolt ſtellt über 600 Briefe der Herzogin Eliſabeth Charlotte
von Orleans zuſammen (Leipzig, Inſelverlag) und verſieht ſie mit einer
Einleitung und mit Anmerkungen. Liſelottens intereſſante Perſönlichkeit iſt
mit gutem Blicke in dieſer Auswahl der Briefe erfaßt. — Eine andere
Auswahl ihrer Briefe aus den Jahren 1672 — 1720, welche Rud. Friede
mann veranſtaltete (Stuttgart, Franckh), ſoll die Zuſtände am franzöſiſchen
Hofe unter Ludwig XIV. beleuchten. — Von den Acta borussica, den Denk⸗
mälern der preußiſchen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert, erſchien der
vierte Band mit Akten der Jahre 1723 bis 1729, bearbeitet von G. Schmoller
und W. Stolze, und der neunte Band mit Akten von Auguſt 1750 bis
Ende 1753, bearbeitet von G. Schmoller und O. Hintze (Berlin, Parey),
ſowie ein umfangreicher darſtellender Band von F. Frhr v. Schrötter,
deſſen Gegenſtand „Die Begründung des preußiſchen Münzſyſtems durch
Friedrich d. Gr. und Graumann 1740— 1755“ iſt. — Der 81. Band der
„Publikationen aus den Kgl. preußiſchen Staatsarchiven“ enthält den erften
Teil (1736— 1740) des Briefwechſels Friedrichs d. Gr. mit Voltaire in der
Bearbeitung R. Koſers und H. Droyſens (Leipzig, Hirzel). Dem hoch⸗
bedeutſamen Materiale iſt eine kurze literariſche Einführung vorangeſchickt,
die Briefe ſelbſt ſind in vortrefflicher Weiſe in knapp gefaßten Anmerkungen
kommentiert. — Fritz Arnheim gab „Ungedruckte Briefe der Luiſe Ulrike,
der ſchwediſchen Schweſter Friedrichs d. Gr. an Mitglieder des preußiſchen
Königshauſes“ heraus (Gotha, Perthes). Der erſte Band umfaßt die Jahre
1729 —1746. — In ihrer Publikation „Aus der Zeit des Siebenjährigen
Krieges“ veröffentlichen E Berner u. G. B. Volz Tagebuchblätter und
Briefe des Prinzen Heinrich und des königlichen Hauſes (Berlin, Duncker). —
Den namentlich für die Epoche des Siebenjährigen Krieges intereſſanten
„Briefwechſel der Kaiſerin Maria Thereſia und der Kurfürftin Maria
Antonia von Sachſen“, der die Jahre 1747— 1772 umfaßt, gibt Wold.
Lippert heraus (Leipzig, Teubner). Die umfangreiche Einleitung ſchildert
vornehmlich den Lebensgang Maria Antonias und die Schickſale der könig.
8. Geſchichte. 207
lichen Familie während des Krieges. — Eine Auswahl der „Briefe der
Marie Antoinette als Dauphine und Königin“ übertrug nach der offi⸗
ziellen, von der Société d'histoire contemporaine veranſtalteten Ausgabe
M. Sudnarb (Berlin, Brandus). — G. Laubmann und M. Doeberl
veröffentlichen des Grafen Max Joſeph Montgelas „Denkwürdigkeiten über
die innere Staatsverwaltung Bayerns (1799 — 1817)“; Doeberl ſchrieb
dazu eine Einleitung über die Entſtehung des modernen Staates in Bayern
(München, Beck). — Von den „Lebenserinnerungen“ von Hans Blum
erſchien der zweite (Schluß) Band: 1870—1897 (Berlin, Voſſiſche Buch.
handlung).
Der Vermehrung des Quellenmaterials entſpricht die verwirrende Fülle
der geſchichtlichen Darſtellungen größerer Entwicklungsreihen oder einzelner
Begebenheiten und Perſönlichkeiten. Trotz des Mangels ausreichender Detail-
arbeiten reizt zunächſt ſeit längerer Zeit die Kulturgeſchichte der Menſchheit
zur Darſtellung. Der Wagemut eines Georg Grupp, uns bei dem
heutigen Stande der Wiſſenſchaft gleich eine zuſammenfaſſende Darſtellung
der „Kulturgeſchichte des Mittelalters“ zu geben, ſcheint durch den Erfolg
belohnt zu ſein. Dem erſten Bande der zweiten, vollſtändig neuen Be⸗
arbeitung konnte der zweite bald nachfolgen (Paderborn, Schöningh). Die
Darftellung beginnt hier mit Karl d. Gr. und ſchließt mit dem 11. Jahr-
hundert. Wenn auch im einzelnen verſchiedene Teile dieſes auf der Grund⸗
lage der katholiſchen Weltanſchauung aufgebauten Werkes Widerſpruch hervor-
rufen werden und ſchon hervorgerufen haben, ſo hindert das nicht, das mit
Fleiß geſammelte und nicht ungeſchickt verarbeitete kulturgeſchichtliche Material
dankbar entgegenzunehmen. — Noch weiter als Grupp hat O. Henne
am Rhyn ſich feine Ziele in feiner „Allgemeinen Kulturgeſchichte“ geſteckt.
Von dieſer erſchien der achte (Schluß) Band (Leipzig, Wigand). Er ſchildert
die Kultur im Übergange vom 19. zum 20. Jahrhundert, und zwar handelt
er von den Völkern und Staaten, von den ſozialen Fragen, von der Sitt-
lichkeit, von den Religionen, von den Kunſtleiſtungen und von den Wiſſen⸗
ſchaften. Die Charakteriſtik der katholiſchen Kirche unſerer Zeit ſchließt mit
einem Hymnus auf Paul v. Hoensbroech. — In beſcheideneren Grenzen
bewegt ſich E. Diederichs; er will uns „Deutſches Leben der Vergangen⸗
heit in Bildern“ ſchildern (Jena, Diederichs). Zu dieſem Zwecke ſtellte er
einen Atlas mit 1760 Nachbildungen alter Kupferſtiche und Holzſchnitte aus
dem 15. bis 18. Jahrhundert zuſammen. H. Kienzle ſchrieb dazu eine
Einleitung. — Auch einige Spezialunterſuchungen liegen auf kulturgeſchicht⸗
lichem Gebiete vor. So gibt die mehr in das Gebiet der Religionsgeſchichte
gehörende Schrift von Paul Krüger über „Hellenismus und Judentum
im neuteſtamentlichen Zeitalter“ (Leipzig, Hinrichs) zunächſt, im weſentlichen
ſich an Wendland anlehnend, eine kurze Charakteriſtik des Hellenismus und
ſchildert dann deſſen Verhältnis zum paläſtinenſiſchen Judentum und zum
208 V. Wiſſenſchaften.
Judentum in der Zerſtreuung unter den Griechen. — A. Kiekebuſch
unterſucht den „Einfluß der römiſchen Kultur auf die germaniſche im Spiegel
der Hügelgräber des Niederrheins“ (Stuttgart, Strecker u. Schröder). —
Der Erforſchung einer kulturhiſtoriſchen Einzelfrage find auch die umfang-
reichen „Ethnographiſchen Beiträge zur germaniſch⸗ſlaviſchen Altertums⸗
kunde“ von K. Rhamm gewidmet. Der im Jahre 1905 erſchienenen
erſten Abteilung dieſer „Beiträge“, die ſich mit den Großhufen der Nord⸗
germanen beſchäftigte, ſoll eine zweite folgen, deren Gegenſtand die urzeit-
lichen Bauernhöfe im germaniſch⸗ſlaviſchen Waldgebiete bilden (Braunſchweig,
Vieweg u. Sohn). Vorerſt erſchien davon ein umfangreicher erſter Teil,
der von den altgermaniſchen Bauernhöfen im Übergange vom Saal zu
Fletz und Stube handelt. Die gelehrten, vielfach im Gegenſatze zu M. Heyne
ſtehenden Unterſuchungen wenden ſich dem altſächſiſchen, dem ur- und alt⸗
nordiſchen Haufe und dem ſüdbajuvariſchen Bauernhofe in ſeinen ſkandi⸗
naviſchen Beziehungen zu. — Der germaniſchen Frühzeit widmet ſich auch
der hochverdiente Verfaſſer der „Deutſchen Hausaltertümer“, Moritz Heyne.
Er handelt über „Das altdeutſche Handwerk“ (Straßburg, Trübner) und
trägt alles einſchlägige, erreichbare Material zuſammen, das die Quellen
und die Sprache bis zum 10. Jahrhundert darbieten. Dieſes Material iſt
von ihm vornehmlich nach kulturgeſchichtlichen Geſichtspunkten verarbeitet. —
Eine größere Epoche der neuzeitlichen Kulturentwicklung hat erſtklaſſige Dar⸗
ſteller gefunden. Fr. v. Bezold, E. Gothein, R. Koſer ſchildern näm⸗
lich in dem großen Sammelwerk „Die Kultur der Gegenwart“ (II, 5, I)
„Staat und Geſellſchaft der neueren Zeit“, d. h. die ſtaatliche und kulturelle
Entwicklung Weſteuropas von der Zeit der Reformation, die als die Ent.
ſtehungszeit der modernen Aufklärung und der Naturwiſſenſchaften bezeichnet
wird, deren „führende Geiſter in ihrem Innerſten das Bewußtſein einer
neuen Ara tragen, deren Lauf mit ihnen einſetzt“, bis zum Beginn der
großen Revolution. In den „Grenzboten“ wird die „Kultur der Gegen-
wart“ eine „kleine Bibliothek“ genannt, „deren Inhalt als der Extrakt ganzer
Bibliotheken bezeichnet werden kann, ergänzt durch vieles, was aus dem
lebendigen Strome der Gegenwart geſchöpft iſt“. — Mit Grundfragen der-
ſelben Epoche beſchäftigt ſich Arn. E. Berger. In ſeinen „Kulturaufgaben
der Reformation“ gibt er einen Überblick über die allgemeine Entwicklung
bis zum Auftreten Luthers (Berlin, E. Hofmann u. Co.). Es iſt ein Abriß
der Geſchichte der mittelalterlichen Kultur⸗ und Weltanſchauung vom Stand-
punkte des proteſtantiſchen Lutherbiographen aus geſchrieben, welcher die
Ausbildung des Nationalbewußtſeins, den Sieg der Laienkultur, den Durch-
bruch des Individualismus, das religiöſe Leben im Mittelalter als Grund-
lage für eine Biographie Luthers darſtellen will.
Die Darſtellung einer großen Epoche der allgemeinen Weltgeſchichte
erfordert zweifelsohne noch größeren Wagemut als eine zuſammenfaſſende
3. Geſchichte. | 209
kulturgeſchichtliche Schilderung. Daß es einen Mann von der Bedeutung
Dietrich Schäfers reizte, auf der Höhe des Lebens und der Forſchung
ein ſolches Wagnis zu unternehmen, iſt zu natürlich. Seine „Weltgeſchichte
der Neuzeit (Berlin, Mittler u. Sohn) iſt ſicherlich ein großer Wurf. Wer
auch — und ſei es ſelbſt in grundſätzlichen Punkten — feine Auffaſſungen
nicht immer zu teilen vermag, wird doch mit Intereſſe das Weltbild be⸗
trachten, das ſich im Kopfe dieſes führenden Geiſtes unſerer Wiſſenſchaft
geſtaltet hat. — Die hier vorhandene einheitliche Auffaſſung der Welt⸗
geſchichte kann natürlich von ähnlichen Darſtellungen, die dem Prinzip der
Arbeitsteilung ihr Daſein verdanken, nicht erreicht werden. Eine ſolche
„Weltgeſchichte“ ift die von J. v. Pflugk⸗Harttung herausgegebene
(Berlin, Ullſtein u. Co.). Ihr fünfter Band iſt dem „politiſchen Zeitalter
1650—1815” gewidmet, ihr ſechſter dem „nationalen und ſozialen Zeitalter“
ſeit 1815. — Von H. F. Helmolts „Weltgeſchichte“ liegt jetzt der neunte
(Schluß) Band vor; er enthält Nachträge, Quellenkunde und ein General⸗
regiſter (Leipzig, Bibliographiſches Inſtitut).
Auf dem Gebiete der Staatengeſchichte zeigt fic) die gleiche Freude an
der zuſammenfaſſenden Darſtellung. Die deutſche Geſchichte, die ja im
Vordergrunde dieſer Überſicht ſteht, weiſt gleich eine ganze Reihe ſolcher
Neuerſcheinungen auf. Mit erſtaunlicher geiſtiger Friſche ſehen wir da
Felix Dahn an ſeinem großen Werke „Die Könige der Germanen“
arbeiten. Der elfte Band iſt den Königen der Burgunden gewidmet (Leipzig,
Breitkopf u. Härtel). Der noch ausſtehende (Schluß ⸗) Band wird ſich den
Langobardenkönigen zuwenden. — Die „Geſchichte des Fränkiſchen Reiches“
erzählt Achill Gengel „im beſondern Hinblick auf die Entſtehung des
Feudalismus“ (Frauenfeld, Huber u. Co.). Ein kritiſcher Apparat iſt dem
Werke nicht beigegeben. — Im Mittelpunkte der bedeutenden „Deutſchen
Kaiſergeſchichte in der Zeit der Salier und Staufer“ von Karl Hampe
(Leipzig, Quelle u. Meyer) ſteht die ſtaatliche Entwicklung. Ein Gefamt-
bild der deutſchen Geſchichte in dieſer Epoche ſoll nicht geboten werden. —
Der dritte Band der „Geſchichte des deutſchen Volkes und ſeiner Kultur im
Mittelalter“ von Heinrich Gerdes behandelt die Geſchichte der Hohen⸗
ſtaufen und ihrer Zeit (Leipzig, Duncker u. Humblot). Die kulturelle Ent⸗
wicklung wird hier ebenſo wie in des Verfaſſers Darſtellung der ſächſiſchen
und der ſaliſchen Kaiſerzeit eingehend geſchildert. — Auf andere verwandte
Werke können wir bei dem engbegrenzten Raume hier nicht eingehen. Von
Moritz Ritters aus den Quellen herausgearbeiteter „Deutſcher Geſchichte
im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges (1555
bis 1648)“ iſt jetzt der dritte Band abgeſchloſſen (Stuttgart, Cotta Nachf.);
eine Fortſetzung ſeiner „Deutſchen Geſchichte im Zeitalter der Gegenreforma⸗
tion“ ſchrieb G. Wolf (II, 1. Berlin, Brandus); von Lamprechts
„Deutſcher Geſchichte“ erſchien ein neuer Band der Abteilung 3 Zeit“,
Jahrbuch der Seite und Kulturgeſchichte. IL
210 v. Wiſſenſchaften.
der das „Zeitalter des ſubjektiven Seelenlebens“ zu charakteriſieren ſucht
(Berlin, Weidmann); in den „Deutſchen Landesgeſchichten“ ſchrieb Karl
Lohmeyer eine Geſchichte von Oft- und Weſtpreußen, deren erſter Band
bis 1411 reicht und jetzt in dritter, erweiterter Auflage vorliegt (Gotha,
Perthes). — Überrafchend ſchnell erſchien der erſte Band der „Entwicklungs-
geſchichte Bayerns“ von M. Doeberl in zweiter Auflage (München, Olden⸗
bourg) mit vielen Verbeſſerungen, die das praktiſche Handbuch und Nach⸗
ſchlagewerk noch brauchbarer machen.
Die Literatur zur Staatengeſchichte des Auslandes kann hier nur in
einigen ihrer bedeutendſten Neuerſcheinungen berückſichtigt werden. Ludo
Moritz Hartmann faßt geſchickt die Forſchungsergebniſſe der letzten Zeit
im dritten Bande ſeiner „Geſchichte Italiens“ zuſammen (Gotha, Perthes).
Gewiß find grundſätzliche Einwendungen gegen viele vorgetragenen Auf-
faſſungen zu erheben; man darf aber nicht vergeſſen, daß hier ſeit der
1829 erſchienenen „Geſchichte Italiens“ von H. Leo zum erſtenmal wieder
der Verſuch gemacht wird, die Geſchichte dieſes mit dem unſrigen ſo
mannigfach verknüpften Landes in wiſſenſchaftlicher Form zur Darſtellung
zu bringen. Der Beurteilung des großen Karl vermag ich, um nur eines
hervorzuheben, mich nicht anzuſchließen. — Dem Zeitalter des Sonnen-
königs ijt der ſiebte Band der groß angelegten, von E. Laviſſe heraus⸗
gegebenen Histoire de France depuis les origines jusqu’é la Révo-
lution (Paris, Hachette) gewidmet. Der Untertitel La religion, les
lettres et les arts, la guerre (1643—1685) gibt den Inhalt an. Die
großen Bewegungen des Janſenismus, Gallikanismus und Proteſtantismus,
der Aufſchwung der Wiſſenſchaften, der Literatur und der Kunſt in den
Tagen des Sonnenkönigs, die äußere Politik in den Jahren 1661 —1685
bilden den Gegenſtand dieſes Bandes der zur Zeit wohl beſten Geſchichte
Frankreichs. In den Schlußkapiteln kommt der Verfaſſer auf das Privat⸗
leben des Königs und auf das ſchillernde Treiben am Hofe von Verſailles
zu ſprechen. Dieſelbe Epoche bringt das von A. W. Ward, G. W. Bro-
thero und Stanley Leathes herausgegebene Werk The Cambridge
Modern History zur Darſtellung. Der fünfte Band führt den Untertitel
The Age of Louis XIV. (Cambridge, Univerſity Preſs). Die für eng⸗
liſche Leſer beſtimmte Darſtellung rückt die politiſche Geſchichte in den
Vordergrund, doch werden auch die engliſche und franzöſiſche Dichtung des
17. Jahrhunderts, ſowie die religiöſen Bewegungen der Zeit, der Auf⸗
ſchwung der Natur- und Geiſteswiſſenſchaften in Europa beleuchtet. — Eine
größere Epoche der ruſſiſchen Geſchichte bringt der bedeutendſte deutſche For⸗
ſcher auf dem Gebiete der Geſchichte des Oſtens, Theodor Schiemann,
zur Darſtellung. Er vollendete den zweiten Band feiner „Geſchichte Ruß ⸗
lands unter Kaiſer Nikolaus I.“ (Berlin, Reimer), der die Zeit vom Tode
Alexanders I. bis zur Julirevolution behandelt. Die Auffaſſung dieſer
8. Geſchichte. 211
Periode der ruſſiſchen Geſchichte wird von Schiemann weſentlich korrigiert.
„Was der Kaiſer im Innern erreichen wollte, war Ordnung — was er
erreichte, war ein Schein äußerer Korrektheit. Nach außen erſtrebte er, Wah⸗
rung der Verträge“, in Wirklichkeit verfolgte er eine Politik der Stagnation,
die eine Neubildung der politiſchen Lebensformen, wie die Zeit ſie verlangte
und verlangen mußte, vergeblich aufzuhalten bemüht war.“
Seit Karl Krumbacher die junge byzantiniſche Wiſſenſchaft begründete,
hat ſich unſer Urteil über die ſpätgriechiſche Welt von Tag zu Tag mehr
geändert. Die lebhafte Forſchung auf dem wiſſenſchaftlichen Neuland hat
uns gezeigt, daß jene Welt nicht, wie wir früher gerne annahmen, in einem
Zuſtande völliger Agonie lag, ſondern daß auch dort viel geſunde indivi⸗
duelle und völkiſche Kraft ſich ausgelebt hat. Bereits kann die junge
Wiſſenſchaft es wagen, ihre Ergebniſſe zu populariſieren. K. Dieterich,
der dazu überaus befähigt iſt, ſchildert uns „Byzantiniſche Charakterköpfe“
(Leipzig, Teubner), Fürſten, Geiſtliche, Humaniſten, Dichter, wobei er auf
Grund der ausgedehnten Brief. und Memoirenliteratur die Helden möglichſt
ſich ſelbſt charakteriſieren läßt. Das Büchlein, das namentlich zum Vergleich
mit dem Leben führender Geiſter der Renaiſſance herausfordert, kann mit
feinen Literatur- und Quellenangaben auch wiſſenſchaftlichen Zwecken
dienen. — Der um die rumäniſche Geſchichte hochverdiente N. Jorga
legt die erſten beiden Bände einer „Geſchichte des osmaniſchen Reiches“
(Gotha, Perthes) vor, worin er den Werdegang der türkiſchen Stämme
bis in die Urzeit verfolgt und bis auf den gewaltigen Mohammed II. bar:
ſtellt, der 1541 recht eigentlich erſt ein feſtgeſchloſſenes osmaniſches Reich
ſchuf und die früher loſe nebeneinander beſtehenden Lehns- und Tributär⸗
ſtaaten zuſammenſchweißte. — In ſachkundiger Weiſe ſchildert uns Paul
Darmſtaedter „Die Vereinigten Staaten von Amerika. Ihre politiſche,
wirtſchaftliche und ſoziale Entwicklung“ (Leipzig, Quelle u. Meyer).
Nicht ſehr reich geſtaltet ſich die Ausbeute des Jahres auf dem Ge⸗
biete der alten Geſchichte. Von den von E. Drerup, H. Grimme und
J. P. Kirſch herausgegebenen „Studien zur Geſchichte und Kultur des
Altertums“ erſchienen drei neue Hefte, in denen H. Francotte handelt
über La polis grecque, H. Weber über „Attiſches Prozeßrecht in den
attiſchen Seebundſtaaten“, E. Drerup über „Ein politiſches Pamphlet
aus Athen 404 v. Chr.“ (Paderborn, Schöningh). — Eduard Meyer
ſchildert uns „Agypten zur Zeit der Pyramidenerbauer“ (Leipzig, Hinrichs),
d. h. zur Zeit des fog. „alten Reichs“ (2900 — 2500 v. Chr.). Benutzt
wurden vornehmlich die Reſultate der beſonders auch von deutſcher Seite
veranſtalteten Ausgrabungen, die unter anderem das Ergebnis zeitigten, „daß
die Agypter aus einem libyſchen Stamm hervorgegangen ſind, der in das
Niltal eindrang und ſich hier aus Jägern und viehzüchtenden Nomaden in
ein Volk ſeßhafter Bauern umgewandelt hat“. — „Babylonien und Aſſyrien
) 14°
212 V. Wiſſenſchaften.
nach ihrer alten Geſchichte und Kultur“ ſtellt E. v. Starck dar (Marburg,
Elwert). — Leo Blochs flott geſchriebene Studie „Soziale Kämpfe im alten
Rom“ liegt bereits in zweiter Auflage vor (Leipzig, Teubner). Die Dar-
ſtellung iſt durchaus quellenmäßig und bezüglich der vielumſtrittenen liciniſchen
Geſetze, der ebenſo verſchieden aufgefaßten Anträge des Tib. Gracchus und
auch bezüglich der catilinariſchen Unruhen gelangt der Verfaſſer in kritiſchen
Ausführungen zu neuen, beachtenswerten Ergebniſſen. — Eine wertvolle
Studie auf dem Gebiete des römiſchen Staatsrechts iſt die Monographie
von E. Pollack „Der Majeſtätsgedanke im römiſchen Recht“ (Leipzig,
Veit u. Co.).
Es erübrigt noch, einige intereſſante Einzeldarſtellungen in chronologiſcher
Folge zu erwähnen. In den „Unterſuchungen zur Deutſchen Staats-
und Rechtsgeſchichte“ (96. Hft. Breslau, Marcus) handelt Adolf Hof-
meiſter über „Die heilige Lanze, ein Abzeichen des alten Reichs“, die
Heinrich I. erwarb, die aber nicht identiſch fein ſoll mit der in der Kaiſer⸗
lichen Schatzkammer zu Wien aufbewahrten Lanze. — Julius v. Pflugk⸗
Harttung ſchrieb eine Monographie „Die Papſtwahlen und das Kaiſer⸗
tum 1046— 1328“ (Gotha, Perthes). Die durchaus quellenmäßige Studie
kommt zu dem Ergebnis, daß das Recht des Kaiſers in Rom, beſonders
bei der Neubeſetzung des päpſtlichen Stuhles, weſentlich ausgedehnter ge:
weſen iſt, als man es anzunehmen pflegt. — Die bedeutende Darſtellung
von „Brügges Entwicklung zum mittelalterlichen Weltmarkt“ von Rudolf
Häpke (Berlin, Curtius) legt die Grundzüge der Stadtgeſchichte Brügges
und des mittelalterlichen Lebens der Grafſchaft Flandern klar und unter:
ſucht den Verkehr jeder einzelnen Nation bis zu dem Punkte, wo ſich ſtabile
Beziehungen zu Brügge herausgebildet haben. — Eine glänzende Leiftung
iſt R. Davidſohns „Geſchichte von Florenz“ (Berlin, Mittler u. Sohn).
Auch der jetzt vorliegende zweite Band zeigt den Meiſter der urkundlichen
Forſchung und des Stils. Dieſer Band mit dem Untertitel „Guelfen und
Ghibellinen“ hebt an mit der Kaiſerkrönung Ottos IV. und ſchließt mit
dem Untergange der Staufer. Das Werk wächſt ſich aus zu einer Schil⸗
derung des tragiſchen Rieſenkampfes zwiſchen Papſttum und Kaiſertum.
Die führenden Männer, namentlich Friedrich II. und Gregor IX., werden
plaſtiſch geſchildert. Dabei fällt neues Licht auf die bewegten ſozialen
und wirtſchaftlichen Verhältniſſe. Auch feinſinnige kunſtgeſchichtliche Be⸗
obachtungen finden ſich in Fülle. Seine wiſſenſchaftlichen Vorarbeiten zu
dieſer großen Darſtellung gibt Davidſohn in ſeinen „Forſchungen zur Ge⸗
ſchichte von Florenz“ (ebd.) heraus, von denen er den vierten Teil der
gelehrten Kritik unterbreitet. — „Das Werden der Renaiſſance“ ſchildert der
Kenner dieſer Epoche K. Brandi (Göttingen, Vandenhoeck u. Ruprecht),
und zwar gibt er eine leſenswerte Skizze der Geſchichte des Renaiſſance⸗
begriffs. Die überragende Bedeutung des Burkhardtſchen Werkes wird
3. Geſchichte. 213
von Brandi richtig hervorgehoben. — Von der Kritik überaus günſtig auf-
genommen wurde das Werk von J. P. Pappadopoulos, Théodore II
Lascaris, empereur de Nicée (Paris, Gerland), welches den ganzen lite⸗
rariſchen Nachlaß dieſes Kaiſers, der mit Friedrich II. und Manfred in
Beziehungen ſtand, benutzt und auf Grund desſelben ein gutes Bild des
Helden und feiner Umgebung bietet. — Für unſere Kenntnis des venezia-
niſchen Weſens in der Epoche der Renaiſſance iſt von großem Werte die
Studie von Willy Andreas über „Die venezianiſchen Relazionen und
ihr Verhältnis zur Kultur der Renaiſſance“ (Leipzig, Quelle u. Meyer).
Die feinſinnigen und eleganten Erörterungen handeln zunächſt von dem
Charakter der Berichte nach Form, Stoff und Inhalt, ſodann von dem
Geiſt der Politik in Venedig und gipfeln in den Ausführungen über die
„Menſchendarſtellung venezianiſcher Geſandter“. Das künſtleriſche Empfinden
des Verfaſſers beſtimmt Charakter und Art der Darſtellung, die ſich gern
in packende Einzelbilder auflöſt. — Der fleißige und nach verſchiedenen
Richtungen hin intereſſante Verſuch, „Die Schedelſche Bibliothek“ (Frei⸗
burg, Herder) zu rekonſtruieren, den Rich. Stauber unternahm, gibt
uns — von dem Lebensbild Schedels abgeſehen — einen Beitrag zur
Geſchichte der Ausbreitung der italieniſchen Renaiſſance, des deutſchen Hu⸗
manismus und der mediziniſchen Literatur. — Albrecht Philipp jail:
dert in feinem Buche „Auguft der Starke und die Pragmatiſche Sanktion“
(Leipzig, Quelle u. Meyer) die ſächſiſche Politik, inſoweit ſie durch die
Pragmatiſche Sanktion beeinflußt worden ift. — Über „Friedrichs Strategie
im Siebenjährigen Kriege“ handelt P. Creuzinger (Leipzig, Engelmann),
während „Maria Thereſias Staats- und Lebensanſchauung“ von G. Dor-
ſchel analyſiert wird (Gotha, Perthes). — Die Epoche Maria Thereſias
wird auch in der zweiten Reihe der „Hiſtoriſchen Studien und Skizzen“
von Auguſt Fournier vornehmlich berückſichtigt (Wien, Braumüller). —
Das Werk von Hans Glagau, „Reformverſuche und Sturz des Ab⸗
ſolutismus in Frankreich“ (1774—1788. München, Oldenbourg) iſt von
Adalb. Wahl in den „Göttingiſchen Gelehrten Anzeigen“ ſcharf angegriffen
worden. Dagegen verteidigt ſich der Verfaſſer in einem überzeugenden
Schriftchen „Zur Abwehr“ (Marburg, Elwert).
Wie gewaltig die Napoleon-Literatur anſchwillt, zeigt der ſtattliche erſte
Band der „Bibliographie des Napoleoniſchen Zeitalters einſchließlich der
Vereinigten Staaten von Nordamerika“ von F. M. Kircheiſen (Berlin,
Mittler u. Sohn). Die furchtbare Kataſtrophe des Jahres 1806, ihre Gründe
und Wirkungen beſchäftigen noch immer die Forſchung. In ihren Reſultaten
aber geht dieſelbe weit auseinander; faft könnte dieſer Widerſtreit gelehrter
Meinungen als ein Reflex der Tageskämpfe der Gegenwart erſcheinen. Im
Vordergrunde des Streites ſteht die Frage, ob die preußiſchen Reformer
durch die Gedankenwelt der franzöſiſchen Revolution beeinflußt wurden oder
214 V. Wiſſenſchaften.
nicht. Max Lehmann hatte in feiner, in den Jahren 1902 —1904 et-
ſchienenen Biographie Steins eine weitgehende Einwirkung der großen Um-
wälzung in Frankreich mit ihrer Fülle von neuen, und namentlich für die
Verfaſſungsfragen fruchtbaren Ideen angenommen. Dagegen wendet ſich
E. v. Meier im zweiten Bande ſeiner Schrift „Franzöſiſche Einflüſſe auf
die Staats. und Rechtsentwicklung Preußens im 19. Jahrhundert“ (Leipzig,
Duncker u. Humblot); er bezeichnet Lehmanns Werk als den „vollkommenen
Gegenſatz zur geſchichtlichen Wahrheit“. Die Wahrheit dürfte auch hier
wohl in der Mitte liegen. Die Reformgeſetzgebung bedeutete keinen völligen
Bruch mit der altpreußiſchen Gedankenwelt, ſteht aber ſchon unter der Ein⸗
wirkung der neuen franzöſiſchen Ideen. Eine weitere Streitſchrift gegen
Lehmann veröffentlichte v. Meier im Berichtsjahre unter dem Titel „Der
Miniſter v. Stein, die franzöſiſche Revolution und der preußiſche Adel“
(ebd.). — Von dem wichtigen, vom öſterreichiſchen Kriegsarchiv heraus-
gegebenen Werk „Kriege unter der Regierung des Kaiſers Franz, Krieg
1809“ erſchien der zweite Band mit dem Untertitel „Italien“, der von
M. v. Hoen und A. Veltzé (Wien, Seidel u. Sohn) nach den Feldakten
und andern authentiſchen Quellen bearbeitet wurde. — Den bedeutendſten
Erſcheinungen dieſes Jahres auf geſchichtlichem Gebiete iſt wohl das ab⸗
ſchließende Werk von Joſeph Hirn zuzuzählen: „Tirols Erhebung im
Jahre 1809“ (Innsbruck, Schwick), das noch im Jahre des Erſcheinens
eine zweite Auflage erlebte. Mit großem Fleiße iſt das geſamte Material
nach den Einſchränkungen, die ſich von ſelbſt bei dieſer Unmaſſe zerſtreuter
Archivalien ergeben, zuſammengetragen. Die Darſtellung der elementaren
Volkserhebung darf als muſtergültig bezeichnet werden.
Der geiſtvolle öſterreichiſche Hiſtoriker Heinrich Friedjung ſchildert in
ſeinem raſch in dritter Auflage erſchienenen größeren Werke das „Oſterreich
von 1848 bis 1860“. Der vorliegende erſte Band trägt den Untertitel
„Die Jahre der Revolution und der Reform 1848 —1851“ (Stuttgart, Cotta
Nachf.). Über das Große in der Geſchichte Oſterreichs, ſagt der Verfaſſer
im Vorworte, wird nicht ſelten hinweggeblickt, „weil ſich daneben nur zu
oft auch Schwäche und Zeichen des Verfalles zeigten; man iſt in Oſterreich
deshalb vielen trefflichen Söhnen des Landes nicht gerecht geworden“. —
Ein dramatiſch belebtes Bild von „Oſterreichs innerer Geſchichte von 1848 bis
1907“ entwirft Rich. Charmatz für ein weiteres Publikum (Leipzig,
Teubner). Das vorliegende erſte Bändchen ſchildert „die Vorherrſchaft der
Deutſchen“ ſeit den bewegten Zeiten der Revolution.
Noch immer zieht die gewaltige Perſönlichkeit Bismarcks die Forſchung
an. Joh. Penzler hat von ſeinem Sammelwerk „Geſchichte des Fürſten
Bismarck in Einzeldarſtellungen“, von dem zuvor der 13. und 2. Band
vorgelegt wurden, auch den 1. Band herausgegeben: „Das Geſchlecht von
Bismarck“ (Berlin, Trewendt), in dem Georg Schmidt einen Stamm⸗
4. Sprachwiſſenſchaft und Literaturgeſchichte. A. Klaſſiſche Philologie. 215
baum dieſer Adelsfamilie mit Einzelbiographien und eine Überſicht ihres
Güterbeſitzes im Wandel der Jahrhunderte gibt, ſowie den 8. Band, in
welchem K. Herfurth „Fürſt Bismarck und die Kolonialpolitik“ behan-
delt. — Kurt Promnitz ſchildert die aus dem Gegenſatze der Charak-
tere und der Anſchauungen König Wilhelms und Bismarcks erwachſenden
Schwierigkeiten, die „Bismarcks Eintritt in das Miniſterium“ (Berlin,
Ebering) entgegenſtanden, und die Art und Weiſe, wie das Widerſtreben
der Krone überwunden wurde. O. Nirrnheim ſchrieb eine Monographie
„Das erſte Jahr des Miniſteriums Bismarck und die öffentliche Meinung“
(Heidelberg, Winter). A. Matſchoß charakteriſiert Bismarcks Politik in der
Luxemburger Frage. Angeſichts des nahenden Krieges mit Oſterreich ſuchte
Bismarck „Die Kriegsgefahr von 1867“ (Bunzlau, Kreuſchmer) zu be⸗
ſchwören. Dadurch gab er auch, wie Matſchoß ausführt, den Sübſtaaten
die notwendige Zeit zur Reorganiſation ihrer Heere. G. Egelhaaf ſchrieb
eine „Geſchichte der neueſten Zeit vom Frankfurter Frieden bis zur Gegen.
wart“ (Stuttgart, Krabbe). Der Rezenſent der „Hiſtoriſchen Zeitſchrift“
tadelt die mangelnde innere Verknüpfung der Ereigniſſe und den einſeitigen
„bismarckiſchen“ Standpunkt des Verfaſſers. Bei ſeiner Schilderung der
Entlaſſung Bismarcks behauptet Egelhaaf übereinſtimmend mit Delbrück,
daß Bismarck „eine zum Staatsſtreich führende Politik vertreten“ habe. —
In zweiter, vermehrter Auflage liegt M. Philippſons „Leben Kaiſer
Friedrichs III.“ vor (Wiesbaden, Bergmann). — Erwähnt ſei noch die tief
empfundene Rede, welche Karl Braig „Dem Andenken an Großherzog
Friedrich I. von Baden“ hielt (Freiburg, Herder).
4. Sprachwiſſenſchaft und Citeraturgeſchichte.
A. Klaffifhe Phitologie.
Don Dr Jofef Bick.
Iſt auch das Jahr 1908 nicht fo reich an Publikationen aufjehen-
erregender wichtiger literariſcher Funde, wie ich es für das Vorjahr be⸗
richten konnte, ſo iſt doch der Zuwachs an neuen Texten immerhin be⸗
deutend zu nennen. So enthält der ſechſte Band der Oxyrhynchus⸗
papyrt (The Oxyrhynchus Papyri, Part VI, edited with Translations
and Notes by Ber nh. P. Grenfell and Arthur S. Hunt. London,
Egypt Exploration Fund) neben mehreren intereſſanten theologiſchen Frag⸗
menten (Acta Petri et Ioannis, Acta apocrypha etc.) aus dem 4. bis
6. Jahrhundert n. Chr. und neben einer großen Anzahl von Dokumenten
privaten und ſtaatlichen Charakters aus römiſcher und byzantiniſcher Zeit
vor allem ziemlich viele Fragmente von Texten, die der klaſſiſchen Philo-
216 V. Wiſſenſchaften.
logie ganz neu zugewachſen ſind. Unter ihnen behaupten gewiß den erſten
Platz über 500 Verſe eines nenen Stückes des Euripides, der Hyp⸗
ſipyle, aus dem Ende des 2. oder dem Anfang des 3. Jahrhunderts n. Chr.
Der mit vielen Leſezeichen (Akzenten, Spiritus uſw.) verſehene Text ſteht
auf der Rückſeite von Rechnungen aus dem 1. chriſtlichen Jahrhundert und
war bei feiner Auffindung in 200 Stücke zerfallen. Geringe Reſte der
Hypfipyle waren uns zwar ſchon durch Zitate bei andern Autoren bekannt,
aber ſie reichten nicht hin, uns von dem Inhalte des Stückes und dem
Gange der Handlung ein ſo ſicheres Bild zu entwerfen, wie es uns jetzt
durch den Fund ermöglicht iſt. — Wichtig ſind auch beträchtliche Teile eines
unbekannten, vorwiegend grammatiſchen und für die Erkenntnis des antiken
Erklärungsweſens bedeutungsvollen Kommentars zum zweiten Buche des
Thukydides und leider nur geringe Reſte einer Elegie des Archilochos,
beide aus dem Ende des 2. Jahrhunderts; ſehr intereſſant, aber wenig
umfangreich ſind ferner aus dem 4. Jahrhundert n. Chr. ſtammende Frag⸗
mente eines der neueren attiſchen Komödie angehörenden Stückes, vielleicht
des Menander, ebenſo dem 3. Jahrhundert n. Chr. zuzuteilende Scholien
zu des Ariſtophanes „Acharnern“, Stücke einer hiſtoriſchen Schrift,
vielleicht eines Auszuges aus Herodot, geſchrieben wohl im 4. Jahr-
hundert n. Chr., desgleichen einer dem Ende des 2. oder dem Anfange des
3. chriſtlichen Jahrhunderts zuzuweiſenden Redeübung „gegen Demo⸗
ſthenes“, und ein lateiniſches und mehrere griechiſche Fragmente von Ge⸗
dichten und Proſaſchriften, deren Autoren nicht feſtgeſtellt werden konnten.
Die hierauf noch folgenden Bruchſtücke aus Heſiod, Apollonios Rhodios,
Sophokles, Euripides, Thukydides, Platon, Demoſthenes und Salluſt waren
bis jetzt bereits bekannt und bieten wie die meiſten Papyri uns anderweitig
überlieferter Autoren für die Textkritik wenig oder gar nichts Neues.
Die Papiri fiorentini (Papiri letterari ed epistolari, per cura di
Dom. Comparetti, in: Papiri greco-egizii, pubblicati della R. Aca-
demia dei Lincei sotto la direzione di Dom. Comparetti e G. Vitelli,
vol. II, fasc. 1. Mailand, Hoepli) enthalten in trefflicher Form unter
Beifügung von guten Lichtdrucktafeln eine Anzahl beſonders imtereſſanter
literariſcher Texte aus den Papyruskäufen, die größtenteils im Jahre 1903
in Kairo von Profeſſor E. Breccia und L. Schiaparelli gemacht wurden.
Abgeſehen von ſechs Homer ⸗Papyri aus der Kaiſerzeit (ohne Scholien und
kritiſche Zeichen) von keinem beſondern Werte — da ſie in ihren Leſungen
faſt durchweg der Vulgata folgen — werden uns hier ziemlich umfang⸗
reiche Reſte eines bisher unbekannten Kommentars vorgelegt, wahrſcheinlich
zu des Komikers Ariſtophanes Zac, wie W. Crönert richtiger ver-
mutet ſtatt des Tord eg, wie der Herausgeber erſchließen will; nach den
erhaltenen Fragmenten zu urteilen, müßte das Stück zu den letzten Dich⸗
tungen des Ariſtophanes gerechnet werden. Außerdem finden ſich dort
4. Sprachwiſſenſchaft und Literaturgeſchichte. A. Klaſſiſche Philologie. 217
Bruchſtücke eines ſtoiſch⸗kyniſchen Geſpräches rey? cod zeidew, eines ſpät⸗
griechiſchen epiſchen Lobgedichtes auf einen ägyptiſchen Großen, ferner einer
in Dialogform gekleideten Streitſchrift, in der die Entſtehung und Bildung
des Menſchen behandelt wird, ſowie eines Protokolls einer Gerichtsverhand⸗
lung und einer Schrift, welche die Krankheiten der Kopfhaut beſpricht.
Unter dem Titel „Eine neue Xenophon⸗Handſchrift auf Papyrus“ ver-
öffentlicht F. Kornemann im „Philologus“ (1908, 321 ff) aus dem im
Muſeum des Oberheſſiſchen Geſchichtsvereins zu Gießen untergebrachten
Papyrus Nr 175 ein um 200 n. Chr. angeſetztes Fragment aus Kenophons
Symposion (8, 15—18), das trotz ſeines kleinen Umfanges textkritiſch
doch von ziemlicher Bedeutung iſt. — Die bei den Ausgrabungen in Ele⸗
phantine (Agypten) im Februar 1906 gefundenen Papyri behandelt O. Ru⸗
benſon mit Beiträgen von W. Schubart und W. Spiegelberg in den
„Elephantine ⸗Papyri“ (Sonderheft der „Griechiſchen Urkunden aus den
fol. Mnſeen in Berlin“. Berlin, Weidmann). Sehr intereſſant, lehrreich und
vor allem ſicher — da ein Teil der Funde noch unberührt verſiegelt war —
iſt die vorausgehende Erörterung über die vielbehandelte Frage der Ver⸗
fiegelung der Papyrusurkunden. Die hier veröffentlichten Stücke, die alle
aus dem 3. und 4. Jahrhundert v. Chr. ſtammen, befaſſen fic) mit Aus⸗
nahme weniger (Ehevertrag, Teſtament, Scheinloskauf uſw.) faſt nur mit
Finanzangelegenheiten von Prieſtern und Heiligtümern. — Meiſt geſchäft⸗
lichen und adminiſtrativen Charakters (Hauskaufanzeige, Schuldſchein, Dienft-
botenvertrag, Zenſuserklärung uſw.) ſind die von Friedr. Preiſigke
als zweites Heft des erſten Bandes der „Griechiſchen Papyrus der kaiſ.
Univerſitäts⸗ und Landesbibliothek zu Straßburg“ (Straßburg, Schleſier
u. Schweikhardt) herausgegebenen und erläuterten Urkunden Nr 24—54
aus dem 1. bis 6. Jahrhundert n. Chr.
Überaus rege war die Betätigung der Philologen aller Nationen in
der Bearbeitung der im vorjährigen Berichte beſprochenen neuen Funde.
Allein den Fragmenten des Menander (vgl. dieſes Jahrbuch I 228 ff)
waren 39 Ausgaben, Überſetzungen und Aufſätze gewidmet, die ein glän-
zendes Zeugnis dafür abgeben, was für die Kritik und Erklärung eines
Autors bei begeiſtertem Zuſammenarbeiten ſelbſt im Laufe eines einzigen
Jahres geleiſtet werden kann. Große Verdienſte um Menander erwarben
ſich dabei U. v. Wilamowitz, H. v. Arnim, Fr. Leo, A. Körte, W. Crönert,
H. van Herwerden, E. Legrand, S. Sudhaus, L. Bodin, P. Mazon,
W. Headlam, M. Croiſet und K. Robert durch ihre beſonders jcharf-
finnigen und wichtigen Beiträge; fie alle ſuchte die innerhalb vier Mo⸗
naten in zweiter Auflage erſchienene Menander⸗Ausgabe J. van Leeu⸗
wens (Leiden, Sijthoff) zu verwerten und zu verarbeiten. Eine neue, auf
Grund einer abermaligen Vergleichung des Originals hergeſtellte Ausgabe
des Papyrus iſt in Kürze (bei Teubner, Leipzig) von A. Körte zu
218 V. Wiſſenſchaften.
erwarten. Doch nicht nur durch die zahlreichen Arbeiten der engeren Fach
gelehrten fand die Mahnung v. Wilamowitz': „Aus dem Grabe iſt er er-
ſtanden, wir müſſen ihn lebendig machen!“ kräftigen Widerhall, nicht zum
wenigſten wurde ihr auch durch die Aufführung Menandriſcher Stücke in
Karl Roberts meiſterlicher deutſcher ÜUberſetzung und Inszenierung (Szenen
aus Menanders Komödien. Berlin, Weidmann) im neuhergeſtellten Theater
zu Lauchſtädt und ebenſo während des Hiſtorikerkongreſſes im Schillertheater
zu Berlin nach Kräften Folge geleiſtet. — Bezüglich des neuen Hiſto⸗
rikers (vgl. dieſes Jahrbuch I 229 f) iſt trotz der gediegenen Unterſuchungen.
von Georg Buſolt (Hermes XLII 255 ff), E. M. Walker (Klio VIII
356 ff), G. E. Underhill (The Journal of Hell. Studies XXVIII
277 ff), A. v. Meſs (Rheiniſches Muſeum LXIII 370 ff) und U. Wilken
(Hermes XLIII 475 ff) die Autorfrage noch immer nicht einwandfrei gelöſt,
wenn auch weſentlich Neues zu ihrer Löſung beigebracht wurde. — Die
Fragmente der Korinna (vgl. dieſes Jahrbuch I 232) hat Wilh. Grönert
im „Rheiniſchen Muſeum“ (LXIII 161 ff), angeregt durch die neuen Funde,
in ſachkundiger Weiſe geſammelt und kritiſch geſichtet.
Angeſichts dieſes Eifers, mit dem die Gelehrten ſich der Bearbeitung
der neuen Funde zuwandten, könnte ein Nichtphilologe leicht vermuten,
daß dadurch die lebendige Regſamkeit auf dem Gebiete der Kritik und Er⸗
klärung des alten philologiſchen Gutes etwas nachgelaſſen habe. Doch dem
iſt keineswegs fo. Zahlreich find die Ausgaben, Abhandlungen und Auf⸗
ſätze auf allen Gebieten der ſo umfangreichen klaſſiſchen Philologie, und
man kommt oft in arge Verlegenheit, wenn man für einen ſo kurzen Be⸗
richt, wie es naturgemäß der für dieſes Jahrbuch ſein ſoll, aus dem
Guten das Beſte auswählen muß. Unter den textkritiſchen Leiſtungen
des Jahres 1908 hebe ich auf dem Gebiete der griechiſchen Literatur vor
allem die Ausgabe der Opera astronomica minora des Claudius
Ptolemäus (Claudii Ptolemaei opera quae extant omnia II. Leipzig,
Teubner) von J. L. Heiberg und die Erſtausgabe der Anthologiarum
libri des Vettius Valens von Wilh. Kroll (Berlin, Weidmann) rühmend
hervor, nicht allein wegen des ausgezeichnet rezenſierten Textes, ſondern
auch wegen der vorzüglichen Einleitungen. Auch die Euripides⸗Ausgabe
von Georges Dalmeyda (Paris, Hachette) und die des Herodot
(Buch 1—4) von Karl Hude (Oxford, Clarendon Prefs) dürfen als beachtens⸗
werte wiſſenſchaftliche Leiſtungen bezeichnet werden. Sehr erwünſchte Bei⸗
träge zur Textkritik lieferten Nik. Wecklein (Über die Methode der Text-
kritik und die handſchriftliche Überlieferung bei Homer. München, Franz)
und Viktor Coulon (Quaestiones criticae in Aristophanis fabulas.
Straßburg, Trübner). — Von den lateiniſchen Autoren erfuhren beſonders
Livius (Buch 45) durch Anton Zingerle (Wien, Tempsty), deſſen
gediegene Livius⸗Ausgabe damit ihren Abſchluß fand, Cicero (Paradoxa
4. Sprachwiſſenſchaft und Literaturgeſchichte. A. Klaſſiſche Philologie. 219
Stoicorum, Academicorum reliquiae cum Lucullo, Timaeus) durch Ott o
Plasberg (Leipzig, Teubner) und Statius (Thebais) durch Alfred
Klotz (ebd.) hervorragende textkritiſche Behandlung; desgleichen verdienen
in dieſem Zuſammenhange genannt zu werden der dritte Band der Apuleius.
Ausgabe (De philosophia libri) von Paul Thomas (ebd.), der erſte Teil
des dritten Bandes des Commentum Terenti des Aelius Donatus
(Eugraphi commentum) von Paul Weſsner (ebd.) und die Seneca⸗
Ausgabe (Hercules furens, Troades, Medea) von H. M. Kingery (Lon⸗
don, Macmillan). Sehr willkommen iſt die Neuherausgabe des Gedichtes
De bello Actiaco, das Joh. Ferrara (Leipzig, Harraſſowitz) unter Heran-
ziehung von bisher nicht veröffentlichten Papyrusreſten aus Herculaneum
unter dem Titel Poematis latini rell. ex vol. Herculanensi evulgatas
denuo recognovit, nova fragmenta ed. I. Ferrara mit einer intereſſanten
. Auseinanderfegung über den Namen des Verfaſſers der Philologenwelt vor-
legt. — Mit der Echtheitsfrage der kleineren Gedichte Vergils, beſonders
der von F. Skutſch und Fr. Leo für unecht erklärten Ciris, befaßt ſich
Fr. Vollmer in der Abhandlung „Die kleineren Gedichte Vergils“
(München, Franz); er ſucht fie als echtes Gut Vergils zu erweiſen. —
Auf Grund einer möglichſt vollſtändigen Sammlung, Beſchreibung und
Klaſſifikation des handſchriftlichen Materials liefert uns Joſ. Becker
eine recht gelungene „Textgeſchichte Liudprands von Cremona“ in den
„Quellen und Unterſuchungen zur lateiniſchen Philologie des Mittelalters“
(TI, 2. München, Bech), die weſentlich abweicht von der bisher geltenden
Anſicht über die Grundlage und Geſchichte dieſes Textes. — Eine neue
„Sammlung vulgärlateiniſcher Texte, herausg. von W. Heraeus und
H. Morf“ eröffnet W. Heraeus durch die Ausgabe der Silviae vel
potius Aetheriae peregrinatio ad loca sancta (Heidelberg, Winter),
vielleicht der älteſten Beſchreibung einer Pilgerfahrt in das Heilige Land
(aus dem letzten Viertel des 4. Jahrhunderts). Sie ift für den Sprach-
forſcher beſonders intereſſant durch den ſtark vulgären Charakter ihrer
Sprache, der ſich im Zerfall der Flexion, im Wortſchatz und in der Wort⸗
bildung äußert.
Reicher als andere Jahre war das Jahr 1908 an guten erklärenden
Publikationen. Von den griechiſchen Autoren hat vor allem Euripides
einen ſehr verdienſtlichen und ergiebigen Beitrag zu feinem richtigen Ver⸗
ſtändniſſe erhalten durch Paul Masqueray unter dem Titel Euripide
et ses idées (Paris, Hachette). Voll Geſchmack und Gelehrſamkeit weiß
der Verfaſſer unter anderem beſonders des Dichters Verhältnis zur Religion
und zum Staat und deſſen Art der Perjonen- und Charakterzeichnung in
helles Licht zu ſetzen. — Als würdigen Abſchluß zu feinen Ariſtophanes⸗
Ausgaben ließ van Leeuwen ein umfangreiches Supplement Prolegomena
ad Aristophanem (Leiden, Sijthoff) folgen, das ſich hauptſächlich über
220 V. Wiſſenſchaften.
deſſen Leben und Werke und über die Kompoſition und den Text der
ariſtophaniſchen Stücke ausführlich verbreitet. — Auch die Erklärung und
Kritik des Aſchylus fand in zwei engliſchen Ausgaben rützliche Beiträge,
in der von A. W. Verral, The Eumenides of Aeschylus with an
Introduction, Commentary and Translation (London, Macmillan), und
in der von T. G. Tucker, The Seven against Thebes of Aeschylus,
with Introduction, Critical Notes, Commentary, Translation and a Re-
cension of the Medicean Scholia (Cambridge, Univerſity Preſs). — Als
Hilfsmittel bei der Erklärung ſchwieriger Stellen griechiſcher Autoren wird
das umfang. und inhaltreiche Ae&ızöov Epumveurxov ran Eudofordrwv
Eiiyvov nomrav xat ovrrpagéwy von G. Bernardakis (Athen, Bed
u. Barth) mit Freude begrüßt werden.
Unter den vorwiegend exegetiſchen Arbeiten zu lateiniſchen Autoren
iſt vor allem lobend zu nennen der als zweiter Teil zu der Ausgabe der
Astronomica des M. Manilius (vgl. dieſes Jahrbuch I 238) erſchienene
Kommentar von Th. Breiter (Leipzig, Dieterich), der ſowohl textkritiſche
Fragen beſpricht als auch in gediegener Sachkenntnis die zahlreichen dunkeln
Stellen des Autors uns näher bringt. — Für das Studium des geiſtigen
Lebens am Hofe Karls d. Gr. und ſeiner Zeit überhaupt wird die erklärende
und kritiſche Neuausgabe der Gedichte des Paulus Diaconus von Karl
Neff (München, Beck) von hervorragendem Nutzen ſein, da ſie zum erſten⸗
mal entſprechend der Bedeutung des Paulus Diaconus in jeder Hinſicht
befriedigend über die ſchwierigen textkritiſchen Fragen Auskunft gibt und
eine Fülle wertvoller biographiſcher, chronologiſcher, hiſtoriſcher, ſprachlicher
und ſachlicher Bemerkungen in einem gelungenen Kommentare vereinigt. —
Wichtig für das Verſtändnis des Lucilius ſind die „Unterſuchungen zu
Lucilius“ von Konr. Cichorius (Berlin, Weidmann); fie ſuchen auf-
bauend auf der Marxſchen Lucilius⸗Ausgabe hauptſächlich das in den Lucilia⸗
niſchen Satiren ſich bergende wertvolle hiſtoriſche Material herauszuarbeiten
und für die Lebensverhältniſſe des Dichters und ſeiner Zeit zu verwerten.
Reichen Gewinn aus einer tüchtigen Exegeſe der Autoren zieht in erſter
Linie auch die Geſchichte der Literatur. Schritt haltend mit dem Gange
der Einzelforſchung, erfordern daher ihre Darſtellungen von Zeit zu Zeit
eine Neubearbeitung. Der erſte Teil einer ſolchen (Klaſſiſche Periode) liegt
uns vor für „Wilh. v. Chrifts Geſchichte der griechiſchen Literatur“, unter
Mitwirkung von Otto Stählin bearbeitet von Wilh. Schmid (5. Aufl.
München, Beck). Sie iſt in wichtigen Abſchnitten, wie über Euripides,
Xenophon und Platon, gänzlich umgearbeitet. — Ein ſcharf umriſſenes
Bild der klaſſiſchen Altertumswiſſenſchaft von ihren erſten Anfängen bis in
die neueſte Zeit und ihres Zuſammenhanges mit der allgemeinen Kultur-
entwicklung gibt uns W. Kroll in feiner „Geſchichte der klaſſiſchen Philo-
logie“ (Leipzig, Göſchen) mit treffendem Urteil und tiefer Sachkenntnis. —
4. Sprachwiſſenſchaft und Literaturgeſchichte. A. Klaſſiſche Philologie. 221
Zu einer umfaſſenden Darſtellung des Lebens und Wirkens des für die
Entwicklung der Philologie in neuerer Zeit in vieler Beziehung grund⸗
legenden und richtunggebenden Richard Bentley liefert A. T. Bartholomew,
Richard Bentley. A Bibliography of his Works etc. (Cambridge, Bowes
and Bowes) eine verdienſtliche Materialſammlung.
Recht erfolgreiche Arbeiten hat nicht zuletzt auch das Gebiet der Gram⸗
matik und Lexikographie aufzuweiſen. Dem Inhalte nach weſentlich be⸗
reichert, unter Verwertung der einſchlägigen jüngſten Forſchungen und mit
einer bei einem ſo vielumſtrittenen Gebiete beſonders anerkennenswerten
Objektivität neu bearbeitet von J. H. Schmalz liegt nun der „Antibarbarus
der lateiniſchen Sprache“ von Ph. Krebs vollſtändig vor (7. Aufl. Bafel,
Schwabe). — Weite Verbreitung, beſonders als Nachſchlagebuch, verdient
auch B. Maurenbrechers Schrift „Grundlagen der klaſſiſchen Philologie“
(Stuttgart, Violet) und das im Erſcheinen begriffene „Vollſtändige griechiſch⸗
deutſche Handwörterbuch zu den Schriften des Neuen Teſtamentes und der
übrigen urchriſtlichen Literatur“ von Erw. Preuſchen (Gießen, Töpel⸗
mann). — Von den ſprachlichen Studien zu einzelnen Autoren ſei auf die
überſichtliche Arbeit von Fr. Bechtel, „Die Vokalkontraktion bei Homer“
(Halle, Niemeyer) hingewieſen, welche die Vokalkontraktion inhaltlich zu⸗
ſammengehöriger Gruppen im Zuſammenhange mit den übrigen ſprachlichen
Erſcheinungen eben dieſer Gruppen unterſucht.
Doch reicht die genaue Kenntnis des Sprachgebrauches oft nicht aus,
die Korruption einer Textſtelle zu beſeitigen, wenn nicht innige Vertrautheit
mit der Entwicklung des Schriftweſens im Altertum und im Mittel⸗
alter hinzutritt. Dieſe zu vermitteln war in hervorragendem Maße L. Traube
berufen. Nach ſeinem Tode nun veröffentlichen ſeine Freunde und Schüler
unter der Leitung von F. Boll ſeine Vorleſungen und Abhandlüngen, deren
erſten Teil „Zur Paläographie und Handſchriftenkunde“ ſoeben Paul Leh-
mann (München, Bech erſcheinen läßt. Er enthält nach einer biographiſchen
Einleitung mit Verzeichniſſen über Traubes Veröffentlichungen und hand-
ſchriftlichen Nachlaß eine Geſchichte der Paläographie, Abhandlungen über
die Grundlagen der Handſchriftenkunde, eine Lehre und Geſchichte der Ab-
kürzungen und als Anhang eine Liſte der lateiniſchen Handſchriften in alter
Capitalis und in Uncialis, kurz eine Fülle reichſter Anregung und Be⸗
lehrung. — Anknüpfend an Traubes Nomina sacra (vgl. dieſes Jahrbuch
I 242) ſtellt W. M. Lindſay (Contractions in Early Latin Minus-
cule Mss. Oxford, Parker) für den praktiſchen Gebrauch des Heraus-
gebers eine Liſte von Abkürzungen aus Handſchriften des 8. und 9. Jahr⸗
hunderts zuſammen, um damit dem paläographiſchen Verſtändniſſe der
häufigſten Fehlerquelle in Handſchriften des 10. und 11. Jahrhunderts,
die gerade für viele unſerer Klaſſiker maßgebend ſind, förderlich zu ſein. —
Dem Studium der älteren lateiniſchen Kurſive dienen die Esempi di corsiva
222 V. Wiſſenſchaften.
antica dal secolo I dell’ era moderna al IV. Raccolti ed illustrati da
V. Federici (Rom, Anderſon), während für die Kenntnis der Kurſive des
8. Jahrhunderts der Codice paleografico Lombardo . . . a cura di G ius.
Bonelli (Mailand, Hoepli) mit Vorteil herangezogen werden kann. —
Ein Supplement zu den Sammlungen von Oſtraka und Überreſten grie⸗
chiſcher Tachygraphie bildet das als Schluß zum dritten Bande jetzt heraus⸗
gegebene achte Heft der „Studien zur Paläographie und Papyruskunde“
von C. Weſſely (Leipzig, Avenarius). — Zur vielerörterten Frage der
griechiſchen Schnellſchrift hat A. Mentz in ſeiner Abhandlung „Geſchichte
und Syſteme der griechiſchen Tachygraphie“ (Berlin, Gerdes u. Hödel) einen
wertvollen Beitrag geliefert. — Gediegen und in hohem Grade dankenswert
iſt W. Weinbergers Bibliotheca Corvina (Wien, Hölder), die mit
Geſchick die noch vorhandenen Beſtände der ehemaligen Bibliothek des be⸗
rühmten Königs Matthias Corvinus nachzuweiſen ſucht. — Auch die für
den Philologen und Paläographen fo wichtigen Sammlungen von Nach⸗
bildungen ganzer Handſchriften ſind um mehrere Bände bereichert worden.
So haben die Codices graeci et latini photographice depicti duce Sca-
tone de Vries (Leiden, Sijthoff) als zwölften Band erhalten den Lucretius
(Codex Vossianus oblongus) mit einer ausgezeichneten Vorrede von Em.
Chatelain, und als fünftes Supplement den Alpertus Mettenſis
(De diversitate temporum, de Theoderico I, episcopo Mettensi. Codex
Hannoveranus 712*) mit einer auf die beiden Traktate bezugnehmenden
Vorrede von C. Pijnacker Hordijk. — In der Kollektion der Codices
e Vaticanis selecti (Leipzig, Harraſſowitz) legt Pio Franchi de’ Cava-
lieri als neunten Band den Cod. Vatic. graec. 1288: Cassii Dionis
Cocceiani historiarum Romanarum lib. LXXIX. LXXX quae super-
sunt, mit einer das Alter, die Geſchichte und die Beſchreibung der Hand-
ſchrift behandelnden gründlichen Einleitung der Gelehrtenwelt vor. — Ein
anderer nicht zu unterſchätzender Vorteil winkt den paläographiſchen Studien
aus den weiteren Fortſchritten des von der internationalen Aſſoziation
der Akademien geplanten internationalen Leihverkehres von Handſchriften
(ogl. dieſes Jahrbuch I 236 f): nunmehr hat die kgl. italieniſche Regierung
neue Verordnungen erlaſſen, durch welche die leihweiſe Überlaſſung von
Handſchriften und Büchern zwiſchen italieniſchen und ausländiſchen Biblio⸗
theken auf direktem Wege ermöglicht wird.
Große Vorteile wird die Paläographie auch aus der wiſſenſchaftlichen
Behandlung der Inſchriften, der Epigraphik, ziehen. Von wichtigen
Sammlungen griechiſcher Inſchriften ſind vor allem zwei hervorzuheben:
die eine, Inscriptiones Amorgi et insularum vicinarum ed. Iu l. De-
lamarre, indices compos. Hiller de Gaertringen (Berlin, Reimer),
bietet auf Grund von 511 Inſchriften eine ſprachlich und inhaltlich höchſt
intereſſante Inſchriftengeſchichte der Inſel Amorgos und ihrer nächſten
4. Sprachwiſſenſchaft und Literaturgeſchichte. A. Klaſſiſche Philologie. 223
Umgebung, die andere, Inscriptiones graecae ad res Romanas pertinentes
auct. et impensis Acad. inser. et litt. hum. coll. et ed. Tom. I.
fasc. V curavit R. Cagnat auxiliante P. Iouget (Paris, Leroux),
ſammelt und behandelt ſachkundig die Inſchriften aus Agypten (Alexandria,
Abukir, Naukratis, Memphis uſw.). — Von Einzelunterſuchungen zu grie⸗
chiſchen Inſchriften ſei die verdienſtliche Abhandlung von Paul Boeſch
(dewoöc. Unterſuchung zur Epangelie griechiſcher Feſte. Berlin, Mayer
u. Müller) erwähnt, da fie unter Heranziehung mehrerer bisher nicht publi-
zierter Inſchriften aus Kos beachtenswerte Ergebniſſe über die Verkündigung
neuer und periodiſcher Feſte gewinnt.
Enge verknüpft mit der Epigraphik iſt die Archäologie. Ihr hat
das Jahr 1908 ganz erhebliche Fortſchritte gebracht. Epochemachend für
unſere Kenntnis der griechiſchen Urgeſchichte, ſpeziell für die Forſchungen
auf dem Gebiete der Stein und Bronzezeit Theſſaliens, iſt das gediegene
Werk von Chr. Tſundas, Al zpowropıxar dxponbieıg Atunviov xat
Séoxiov (Athen, Sakellarios). Das gefamte Fundmaterial bei den Aus⸗
grabungen in Theſſalien, hauptſächlich aber das der Grabungen in Dimini
und Sesklon (bei Volo) wird hier ſorgfältig unterſucht und kritiſch geprüft.
Ganz neu und höchſt wichtig find unter anderem auch die Ergebniſſe hinſicht⸗⸗
lich des älteſten bis jetzt nachweisbaren Wohnbaues in Griechenland. —
Gleichfalls ſehr wertvolle Reſultate hat G. Nicole in ſeiner Abhandlung
Meidias et le style fleuri dans la céramique Attique (Genf, Kündig)
den Fachkollegen zur Kenntnis gebracht; mit ausgedehnter Beherrſchung des
Stoffes iſt er beſtrebt, eine ſorgfältige Darſtellung der Kunſt des Meiſters
und ihrer Eigentümlichkeiten, ſowie eine Liſte der dem Atelier desſelben
zuzuweiſenden Werke zu bieten. — Im Schlußbande ſeiner mehrjährigen
Unterſuchungen über Terrakotten ſucht W. Deonna (Les statues de terre
cuite dans l’antiquits: Sicile, Grande Gréce, Etrurie et Rome. Paris,
Fontemoing) mit Geſchick den Einfluß der Jonier auf Korinth und den
Korinths auf die etruskiſche und römiſche Kunſt darzulegen. — Ein reich⸗
haltiges Bild von den im 2. Jahrhundert v. Chr. in Pergamon herrſchenden
künſtleriſchen Beſtrebungen geben die im ſiebten Bande der „Altertümer
von Pergamon“ (Berlin, Reimer) durch Fr. Winter veröffentlichten, reich
illuſtrierten „Skulpturen mit Ausnahme des Altarreliefs“, während die Ver⸗
gangenheit, Gegenwart und Zukunft von Herculaneum unter Beigabe zahl⸗
reicher guter Abbildungen der Funde und Fundſtätten von Charles Wald⸗
ftein (Herculaneum, Past, Present and Future. London, Macmillan) aus-
führlich beſprochen wird.
Doch nicht allein bedeutende Abhandlungen haben zum Fortſchritte auf
dem Gebiete der Archäologie beigetragen, ſondern auch aufſehenerregende
neue Funde haben oft mit einem Schlage ganz neue Perſpektiven eröffnet
oder alte ſtrittige Fragen ſpielend gelöſt. Wie zu erwarten war, haben
224 V. Wiſſenſchaften.
die Stätten altklaſſiſcher Kultur ſowohl den Hauptanziehungspunkt für die
Altertumsforſcher gebildet als auch die reichſten Ergebniſſe geliefert. Bei
den Ausgrabungen des Deutſchen Inſtitutes in Athen, die im Frühjahr
1908 zu Olympia unter Dörpfelds bewährter Leitung vorgenommen
wurden, ergaben ſich wichtige und überraſchende Reſultate hinſichtlich der
bisher ſtrittigen und nunmehr entſchiedenen Frage nach dem Alter von
Olympia. Es fanden ſich Spuren prähiſtoriſcher Gebäude, Vaſenſcherben
geometriſchen Stiles, Steinwerkzeuge, Ton⸗ und Erzfigürchen und zahlreiche
Tier- und Menſchenknochen. Dörpfeld kommt infolge dieſer Funde zu der
ſeinerzeit von Furtwängler beſtrittenen Anſicht, daß vor der Gründung des
Heräons in der Altis ein Heiligtum und eine Anſiedlung beſtanden. Die
Übereinſtimmung der dort ſich hauptſächlich findenden Topfware mit den
in der vorhiſtoriſchen Schicht von Nidri auf Leukas und in der Burg bei
Kakovatos, dem homeriſchen Pylos (vgl. dieſes Jahrbuch I 245), vor-
kommenden Gefäßen iſt nicht nur in hiſtoriſcher, ſondern auch in ethno⸗
logiſcher Hinſicht ſehr beachtenswert. Bei den weiteren Grabungen Dörp⸗
felds bei dem Dörfchen Kumpothekra (Provinz Olympia) wurden Reſte alter
Gebäude und Heiligtümer, Figuren von Wagen mit davorgeſpanntem Pferde
und tönerne und bronzene Scherben mit ſehr ſchönen Verzierungen zutage
gefördert. — H. Pomtow ſetzte feine im Frühjahre 1906 begonnenen
Grabungen in Delphi in den Herbft- und Wintermonaten 1908 fort und
deckte das lange vergeblich geſuchte und fälſchlich angeſetzte echte Schatzhaus
von Korinth auf. Die Aufdeckung dieſes älteſten Theſauros, in dem einſt
die Weihgeſchenke des Kroiſos ſich befanden, iſt äußerſt wichtig für die
endgültige Feſtlegung der zahlreichen übrigen Bauten, von denen wir lite⸗
rariſch oder epigraphiſch Kenntnis haben; es erweiſt ſich, daß die bisher all-
gemein angenommenen Anſätze von Theophil Homolle bis auf drei ſämtlich
unrichtig ſind. — Auf der Stätte des alten Sparta hat die Engliſche archäo⸗
logiſche Schule zu Athen unter der Leitung von R. M. Dawkins ein
primitives doriſches Heiligtum, wahrſcheinlich den älteſten bis jetzt aus⸗
gegrabenen griechiſchen Tempel, am Flußbett des Eurotas freigelegt. Das
Heiligtum, das bis ins 8. Jahrhundert zurückgehen dürfte, war mit be⸗
malten Ziegeln gedeckt und aus ungebrannten Steinen erbaut. Es war
ſymmetriſch angeordnet zu dem großen Altare aus dem 8. Jahrhundert,
der im Jahre 1907 ausgegraben wurde. Er iſt von ihm getrennt durch
eine gepflaſterte Fläche, die wahrſcheinlich den früheſten Tempelbezirk dar⸗
ſtellte, und auf der eine ſehr große Anzahl von Opfergaben gefunden wurde. —
Die Arbeiten zur Auffindung des Grabes des Leonidas, die ebenfalls von
den Engländern ausgeführt wurden, blieben ohne Reſultat. Doch wurden
viele Inſchriften und im Heiligtum der Appodirm Opdia außer Mauern
aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. zahlreiche Tongefäße aus verſchiedenen
Zeiten, ferner eine Menge Menſchen⸗ und Tieridole aus Kupfer, Knochen,
4. Sprachwiſſenſchaft und Literaturgeſchichte. A. Klaſſiſche Philologie. 225
Elfenbein und Blei, auch mehrere Schmuckgegenſtände, darunter ſolche aus
Gold, ans Licht gezogen. — Aus Nauplia kommt die Nachricht von der
Auffindung einer vollſtändig erhaltenen Terrakottaſtatuette, die der bekannten,
als Venus von Milo bezeichneten Statue entſprechen ſoll. Der neue Fund
ſtellt die Göttin, in der rechten Hand einen Spiegel, in der linken Hand
das bis zur Hälfte herabgeglittene Gewand haltend, dar. S. Reinach
(Acad. des inscr. et b. lett., 28. Aug.) ſpricht ſich gegen eine Identi⸗
fikation beider Figuren aus und verweiſt mit Recht darauf, daß ſich an
ihnen mehr Verſchiedenheiten als Ahnlichkeiten feſtſtellen laſſen; daß die
neugefundene Statuette eher als Amphitrite anzuſprechen ſei, möchte ich
bezweifeln. — Auf der Inſel Delos haben die Franzoſen die von den
Römern in Stücke zerſchlagene Koloſſalſtatue des Apollo, den großen
Hörneraltar, ferner den berühmten, dem Apollo von atheniſchen Feſt⸗
geſandten dargebrachten Feigenbaum aus Bronze, Überreſte der Schatz ⸗
häuſer, viele Reliefs und zahlreiche Inſchriften, in denen die ganze Ver⸗
waltung des Apollotempels behandelt ijt, aus dem Schutt hervorgezogen. —
Unter der Leitung von P. Kavvadias ſtießen die Griechen bei dem
Dorfe Mazarala auf der Inſel Kephalonia auf Hunderte ſehr gut erhal-
tener und an wiſſenſchaftlichem Materiale ſehr reicher Gräber aus myke⸗
niſcher Periode; auch wurden auf Kephalonia Vaſen gefunden, die einer
uralten, einheimiſchen vormykeniſchen Keramik angehören. — Auf Knoſſos
(Kreta) hat der Engländer Arthur Evans feine Grabungen fortgeſetzt
und bedeutende Funde gemacht, deren wichtigſter als Produkt einer bisher
unbekannten Technik wohl eine prächtige Steatitvaſe iſt in Form eines
Stierkopfes mit kriſtallenen Augäpfeln und Muſcheleinlagen unter den
Nüſtern; auch Bronzewaffen und Geräte, zahlreiche Vaſen, darunter ſolche
mit Ornamenten von Papyruspflanzen in Relief, bemalte Elfenbeinteile,
mehrere Silbergefäße und andere Kleinfunde wurden dort ans Licht ge⸗
bracht. — Die Grabungen des Amerikaners E. Singer auf dem Inſelchen
Modelos bei Sitia (Kreta) hatten wichtige Ergebniſſe, da dort eine
Nekropole von 24 kleinen viereckigen Gräbern der fog. protominoiſchen
Epoche — von Evans zwiſchen dem 3. und 2. Jahrtauſend v. Chr. an-
geſetzt — mit ſehr wertvollen Totenbeigaben (zahlreiche Gold- und Silber⸗
ſchmuckgegenſtände, Marmor- und Alabaſtervaſen, Waffen uſw.), ferner
kupferne Becken mit ähnlichen Verzierungen, wie ſie die vor Jahren in
Knoſſos gefundenen aufweiſen, und anderes mehr zum Vorſchein kam.
Auch in Italien wurden an verſchiedenen Stellen Grabungen mit gutem
Erfolg vorgenommen. So ſtieß Profeſſor A. Boni bei Nachforſchungen an
dem Titusbogen in Rom auf Grundmauern eines Gebäudes, das er aus topo-
graphiſchen Gründen und nach einer archaiſchen Inſchrift für den angeb-
lich von Romulus erbauten und von Auguſtus wiederhergeſtellten Tempel
des Jupiter Stator hält, wo ſich bei mehrfachen Anläſſen der Senat ver⸗
Jahrbuch der Zeit⸗ und Kulturgeſchichte. II. 15
226 V. Wiſſenſchaften.
ſammelte und wo Cicero ſeine erſte katilinariſche Rede hielt. — Unter
Leitung des öſterreichiſchen Profeſſors Joh. Kromayer wandte ſich nach
Italien und Nordafrika eine Expedition, die ſich zur Aufgabe ſetzte, die
Hannibaliſchen Schlachtfelder an Hand der Berichte auf Grund des Lokal-
augenſcheines feſtzulegen. Dieſe Expedition hatte um ſo mehr Ausſicht auf
Erfolg, als ſich hier hervorragende philologiſche und militäriſche Fachmänner
zu gemeinſamer Arbeit verbanden. Erforſcht wurden hauptſächlich der Alpen-
übergang, das Schlachtfeld an der Trebia, der Apenninenübergang, das
Schlachtfeld am Traſumener See, bei Cannae und bei Bama mit recht
intereſſanten und oft von der bis jetzt geltenden Meinung ziemlich ſtark
abweichenden Reſultaten. — Bei Piombino haben Ausgrabungen an der
Stätte des alten Populonia (Etrurien) deſſen hohes Alter (Vergil 10, 172
berichtet, daß Populonia dem Aneas Hilfe geſandt habe) durchaus beſtätigt.
Neben Aſchengräbern mit Vaſen und Ornamenten des ſog. Villanovatypus
fanden ſich auch archaiſche etruskiſche Gräber und ſolche mit Vaſenmalereien,
die in das 3. Jahrhundert v. Chr. geſetzt werden. Einzelne enthielten ſehr
reichen und koſtbaren Edelmetall, Bronze und Bernſteinſchmuck. — Bei
Ausgrabungen nächſt der Baſilika in Aquileia wurden unter anderem ein
reizendes Basrelief aus dem 1. Jahrhundert n. Chr., einen Beutezug
Dianens darſtellend, ferner bei Aquileia Graburnen mit gut erhaltenen
Gegenſtänden aus den letzten Jahrzehnten v. Chr., Überreſte einer Waſſer⸗
leitung, eine Gedenktafel an Quintus Veratius Baſſus, eine prächtige
Alabaſtervaſe und anderes zutage gefördert. |
Die Hauptaufgabe der Ausgrabungskampagne 1908 in Numantia
(Spanien) war die Vollendung der Ausgrabung des Lagers Caſtillejo.
Dies wurde durch Freilegung der Oſthälfte desſelben erreicht und hatte
als wichtigſtes Ergebnis die Feſtſtellung, daß auf dem Hügel Caſtillejo
Reſte von drei verſchiedenen Lagern vorhanden ſind. Das älteſte dieſer
drei zum Teil übereinander angelegten Lager wird von dem Leiter der
Ausgrabung, A. Schulten aus Erlangen, als das des Marcellus vielleicht
vom Jahre 152/151 v. Chr., das zweite als das des Q. Pompeius vielleicht
aus den Jahren 141—139 v. Chr. und das dritte und jüngſte derſelben
als das ſcipioniſche Lager und zwar als das Hauptquartier des Scipio
ſelbſt bezeichnet. Das andere große Lager vor Numantia, Pena Redonda,
betrachtet Schulten als das des Fabius Maximus, des Bruders des Scipio.
Da nun beide Lager als Lagerplatz gerade einer Legion ſich nachweiſen
laſſen, ſo iſt es wahrſcheinlich, daß ſie den beiden Legionen, welche die
Kerntruppe der ſcipioniſchen Armee bildeten, als Lagerplatz dienten. Mit
dieſer Kampagne kann die im Jahre 1905 begonnene Ausgrabung der
ſcipioniſchen Lager um Numantia nunmehr als vollendet angeſehen werden.
Intereſſant waren auch die Funde in Agypten. Von deutſcher Seite
wurde an vier Stellen gearbeitet, nämlich für das preußiſche Papyrus⸗
4. Sprachwiſſenſchaft und Literaturgeſchichte. A. Klaſſiſche Philologie. 227
unternehmen in Elephantine und Kom Ombo und für die Deutſche Orient⸗
Geſellſchaft in Abuſir und in Tell el⸗Amarna; außer mehreren intereſſanten
Reliefs, verſchiedenen Mauerreſten von Tempeln und Privatgebäuden und
zahlreichen aramäiſchen Papyrus wurden nur wenige griechiſche Papyrusreſte,
dafür aber ziemlich viele griechiſche und demotiſche Oſtraka (beſchriebene
irdene Scherben) gefunden. — Aus der Zeit um 1300 v. Chr. ſtammende,
künſtleriſch ausgeführte Schmuckgegenſtände (Armſpangen, Ohrringe, Finger⸗
ringe) der Gemahlin Setis' II. und mehrere beachtenswerte Gräber wurden
im Tale der thebaniſchen Königsgräber bei Aſſuan freigelegt. — In Ambey
wurde tief in der Erde eine ſehr koſtbare, 1 m hohe, etwa 50 kg ſchwere
Vaſe gefunden, die in feinſter Emailmalerei ein Porträt zeigt. Die auf
der Vaſe angebrachten Inſchriften beſagen, daß wir das Bildnis Cäſars
vor uns haben, und daß Cäſar dieſe Vaſe eigens für die Königin Kleo⸗
patra als Geſchenk für genoſſene Gaſtfreundſchaft anfertigen und ihr über⸗
ſenden ließ.
Von den Funden in Nordafrika erregte der zu El-Haouria entdeckte
Moſaikboden aus einem römiſchen Hauſe mit der Darſtellung des Streites
zwiſchen Athene und Poſeidon um Attika am meiſten Intereſſe. — An der
Küſte von Tunis bei Mahdea zwiſchen Suſa und Sfax entdeckten Schwamm⸗
fiſcher im Schlamme des Meeresgrundes das Wrack eines vielleicht im
2. Jahrhundert v. Chr. geſcheiterten Schiffes, deſſen Ladung zur Aus⸗
ſchmückung eines öffentlichen oder privaten Bauwerkes beſtimmt war. Neben
zahlreichen Marmorſäulen, doriſchen und korinthiſchen Kapitellen uſw. fand
ſich auch eine Reihe ziemlich gut erhaltener Kunſtgegenſtände aus Bronze,
jo ein Eros, wahrſcheinlich eine Nachbildung einer Statue des Praxiteles,
eine Herme mit einem ſorgfältig ausgeführten Dionyſoskopfe von Bosthos
aus Chalcedon (1. Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr.), ein fackeltragender
Eros Androgynos, der zugleich als Lampe benutzt werden konnte.
In Deutſchland und in Oſterreich wurden die Grabungen der letzten
Jahre, die der Einzelforſchung hinſichtlich der Herrſchaft der Römer daſelbſt
gelten, mit Erfolg fortgeführt. Die Saalburgſammlung wurde vom Hom-
burger Kurhauſe, wo ſie ſeit 1873 untergebracht war, in das wiedererrichtete
Horreum und Prätorium des ehemaligen Saalburgkaſtells übertragen,
während im Mithräum daſelbſt eine Nachbildung eines Mithrasreliefs
aufgeſtellt wurde. — Im römiſchen Standlager Carnuntum a. d. Donau
wurden unter Leitung von Profeſſor F. Novotny die Quartiere der Stabs⸗
offiziere der römiſchen Legion freigelegt und eine Reihe inhaltlich und
ſprachlich intereſſanter Grabinſchriften aus dem Schutt hervorgezogen. —
Unter Leitung von Oberſt M. Groller wurden im Lager Lauriacum
Teile der Umfaſſungsmauer und mehrere Gebäude aufgedeckt, die teils in
ihrer Ausdehnung teils in ihrer Anlage in einem römiſchen Kaſtell un⸗
gewöhnlich ſind, wie eine etwa 160 m lange Säulenhalle, die wohl als
15
228 V. Wiſſenſchaften.
gedeckter Weg vom Prätorium zur Porta aufzufaſſen iſt. — In Mauer-
Ohling wurden die Grabungen des Jahres 1907 fortgeſetzt und die
Umfaſſungsmauern und das Lagerinnere unterſucht, wobei einige intereſſante
Münzen, Gegenſtände aus Metall und mehrere beachtenswerte Sigillate-
ſtücke mit Reliefs zum Vorſchein kamen.
So zeigt denn der kurze, ſich nur auf das Allerwichtigſte beſchränkende
Bericht auf allen Forſchungsgebieten der klaſſiſchen Philologie reges Leben
und eifrigſte Betätigung, gekrönt von bemerkenswerten Erfolgen.
B. Deutſche Citeraturgeſchichte.
Don Dr Jofef Nadier.
Die unermüdliche Regenerationsarbeit, die wir an unſere Ausgaben
ſetzen, hat auch im Berichtsjahre wieder ganze Literaturperioden zu neuem
Leben erweckt. Gutzkow und Laube vor allem, dann Claudius, Arndt,
Hoffmann v. Fallersleben, Grabbe und Feuchtersleben (ſämt⸗
liche Leipzig, Heſſe) ſind von neuem als wirkende Kräfte in unſer litera⸗
riſches Leben getreten. Gleichen ſolche Ausgaben neugeprägten gangbaren
Münzen, ſo möchte ich den Gipsabdrücken wertvoller Seltenheiten jene
köſtlichen Reproduktionen vergleichen, die der Inſel⸗Verlag (Leipzig) ſchafft;
zwei prächtige Drucke liegen vor: Grimmelshauſens „Simplizianiſche
Schriften“ und Meinholds „Bernſteinhexe“, einſt ein Mittelpunkt Titera-
riſchen Intereſſes. Eine weſentlich neue Errungenſchaft der letzten Jahre
iſt die ſtreng wiſſenſchaftliche Ausgabe, die das Lebenswerk des Dichters
in ſeiner idealen Schönheit zuſammenfaßt, die koſtbaren Blätter des Buches
von den Makeln leſender Generationen reinigt. Dieſe Vereinigung von
Volksbuch und wiſſenſchaftlichem Text iſt gewiß ein Ideal; aber wir kommen
ihm immer näher. A. Sauers Stifter⸗ Ausgabe wächſt friſch gefördert
ihrer erſehnten Vollendung entgegen. Eine tief perſönliche Note trägt die
Ausgabe von J. J. Davids Werken durch E. Heilborn und E. Schmidt
(München, Piper u. Co.). Dieſer allzufrüh verſtorbene Deutſchöſterreicher
war in Wien noch ein Schüler E. Schmidts, der nun dem Vielverkannten
ein dauerndes Denkmal geſetzt hat. Zwei Gegenſätze, wie Pol und Gegen⸗
pol, find uns in Heinſe und Eichendorff neu gewonnen worden. Eichen.
dorffs Tagebücher bilden den elften Band der von W. Koſch und A. Sauer
veranſtalteten Geſamtausgabe (Regensburg, Habbel). Es iſt kein neuer
Typus, aber ein glänzendes Glied in der Kette jener neuen Ausgaben, die
mit der endgültigen Kanoniſierung von Goethes Werken einſetzten. Minors
vierbändige Novalis-Ausgabe mag wohl das nähere Vorbild abgegeben
haben. Die Textbücher guten alten Schlages waren ehrliche, genaue
4. Sprachwiſſenſchaft und Literaturgeſchichte. B. Deutſche Literaturgeſchichte. 229
Arbeiten, aber tot und eher eine Verſteinerung des Textes als eine fröhlich
blühende Auferſtehung. Die feiert hier Eichendorff. Die Tagebücher ſind
ein pſychologiſches Dokument erſten Ranges: von den Aufzeichnungen des
reichbegabten zehnjährigen Knaben bis zu den glühenden Außerungen des
jungen Dichters. Eine Fülle kulturhiſtoriſchen Materials weiſt auf die
breite Unterlage, die Koſch unſerer Wiſſenſchaft geben möchte. Ein auf-
opfernder Fleiß hat in den Anmerkungen die tauſend feinen Beziehungen
zur zeitgenöſſiſchen Literatur aufgehellt. Lebendig treten die Vertrauten
des Dichters in prächtigen Abbildungen aus dem Text heraus. Nur wenige
Größere als Eichendorff können ſich eines ebenſo herrlich geförderten Weiter⸗
lebens erfreuen.
Die Ausgabe iſt die Grundlage unſerer Arbeit. Wie haben wir weiter⸗
gebaut? Eines wird immer klarer: wir ſuchen aus der bisherigen troſtloſen
Enge des Begriffes Literatur immer mehr herauszukommen. Jugendliteratur,
Unterhaltungslektüre, Zeitungen und Theatergeſchichte, ſelbſt den Kolportage⸗
roman, alles erobern wir uns jetzt mit heißer Seele. Wohl häuft ſich ſo
viel Material um den engeren Bauplatz, wo die Meiſter arbeiten, aber
manch unſcheinbarer Stein findet doch ſeinen Platz.
Die Arbeit eines Jahres! Wir ſuchen nach einer Formel für dieſe
Fülle. Zwei Grundſtrömungen beherrſchen ſie, die teils ihre natürliche
Vorausſetzung haben, teils ein Erbe der Entwicklung unſerer Wiſſenſchaft
ſind. Sie iſt aus der Philologie erwachſen, und aus dieſem Urſprunge
ſtammt das vorwiegende Intereſſe am Wort einer Dichtung. Man betont
das Einheitliche, Ganze eines Werkes, läßt ſich von exegetiſchen Geſichts⸗
punkten leiten, ſucht alle Zuſammenhänge der Perſönlichkeit mit ihrem
Werke darzulegen. Immer ſteht die einzelne Dichtung im Mittelpunkte.
Das iſt gewiß natürlich, aber es iſt nicht alles. Dazu kommt noch ein
Drittes. Es gibt literariſche Produkte, deren Wirkung weniger im Stoff
und in der Kompoſition liegt als faſt ganz in ihrem ſprachlichen Leben.
So z. B. war Fiſchart immer und überall ein Künſtler des Wortes. Die
Sprache iſt das eigentliche Organ ſeiner Individualität. Hier laufen alle
Nerven ſeiner hiſtoriſchen Entwicklung zuſammen. A. Hauffen mußte da
einſetzen, wenn er zu Reſultaten gelangen wollte. So ſind ſeine neuen
„Fiſchart⸗Studien“ (7. Ergänzungsheft des „Euphorion“. Wien, Fromme)
in ihrer Art eine unvergleichliche Leiſtung. Ein anerkennenswerter Fleiß
iſt den tauſend Spuren nachgegangen, die von Fiſcharts Sprache wegführen.
Seit mehr als einem halben Jahrhundert haben wir um ihn gerungen.
Die Vorarbeiten von Meuſebach und Wendeler find nach Möglichkeit ver-
wertet. Vilmars „Unterſuchungen zum Bienenkorb“ mußten neu gemacht
werden. Seine Arbeit kann nur ſchätzen, wer Fiſchart kennt und die Mut⸗
loſigkeit erfahren hat, die jeden vor dieſer Fülle ergriff. Auch Quellenunter-
ſuchungen wie F. Rieſers „Des Knaben Wunderhorn“ und feine Quellen“
230 V. Wiſſenſchaften.
(Dortmund, Ruhfus) können nur philologiſch gemacht werden. Notwendig
iſt eine ſolche Arbeit ferner, wenn alle Dokumente verſagen, ſelbſt techniſche
Kriterien in künſtleriſch rohen Zeiten. So hat Joſ. Strobl in „Kaiſer
Maximilians I. Anteil am Teuerdank“ (Innsbruck, Wagner) für mein Ge⸗
fühl ganz richtig die Arbeit Maximilians von jener Pfinzigs geſchieden,
allerdings mit Zuhilfenahme von techniſchen Argumenten.
Derſelbe Geſichtspunkt iſt es im Grunde, wenn man die innere Einheit
von Dichtung und Perſönlichkeit betont. Wieder ſtrebt man nur ein Sin⸗
guläres an, kein Typiſches, und ſo ergebnisloſe Bücher wie Hans Möllers
„Hebbel als Lyriker“ (Cuxhaven, Rauſchenplat) zeigen, wie leicht man ſich
oft genug mit nichtsſagenden Zuſammenſtellungen begnügt. Entweder zived-
loſe Analyſen wie hier oder eine un verhältnismäßig große Betonung des
rein Biographiſchen, von dem gar keine Fäden zur Dichtung führen, wie
in Ew. Reinhards „Eichendorff Studien“ (Münſter, Schöningh). Das
einzige wertvolle Buch in dieſer Hinſicht verdanken wir Heinr. Pallmann:
„J. A. Horn, Goethes Jugendfreund“ (Leipzig, Inſel⸗Verlag), eine Ausgrabung,
wie Köſter u. a. ſie geleiſtet haben. Biographie und Dichtung, Altes und
Neues wird einheitlich zuſammengefaßt, das bereits Erworbene wird revidiert.
Ein hübſches Beiſpiel für das Nebeneinander von Neuem und Altem in
manchen Perioden. Auch das Typiſche iſt leiſe angedeutet: ein Leben wird
für einen Augenblick von einem größeren beleuchtet. Aber im weſentlichen
ſtellt Pallmann doch etwas Singuläres dar: den Jugendfreund Goethes. —
So erſcheint auch E. Kühns Buch „J. G. Hamann, der Magus im
Norden“ (Gütersloh, Bertelsmann) auf den erſten Blick als Auswahl, es
iſt aber eine Darſtellung, der das Leitmotiv: Hamann, ein „Geretteter“,
zu Grunde liegt. — Überwiegend biographiſchen Charakters iſt das Buch
von Leonh. Theobald, „Das Leben und Wirken des Tendenzdrama⸗
tikers der Reformationszeit Thomas Naogeorgus ſeit ſeiner Flucht aus
Sachſen“ (Leipzig, Heinſius), das nur gelegentlich literariſche Fragen be⸗
rührt, wie auch Ans g. Pöllmanns „Franz Pocci“ (Münſter, Alphonſus⸗
buchhandlung) im Anſchluß an Dreyers neue Pocci⸗Biographie nur teil-
weiſe, dann aber ganz vorzüglich, ſich mit der literariſchen Tätigkeit dieſes
genialen Nachromantikers beſchäftigt. — Nach den urkundlichen Vorarbeiten
Wittigs zu J. Chr. Günther und den reichen Erklärungen Litzmanns und
Fuldas konnte Adalb. Hoffmann in „Johann Chriſtian Günthers Schulzeit
und Liebesfrühling“ (Jauer, Hellmann) nicht viel Neues mehr geben. Im
einzelnen hat er manches berichtigt. — Eine hübſche, oft glückliche Nachleſe,
das iſt der Charakter ſolch kleiner Arbeiten wie etwa Otto Stillers
„J. J. Volkmann, eine Quelle für Goethes italieniſche Reiſe“ (Berlin,
Weidmann). Immer war es bei dieſen Arbeiten dieſes Wort, dieſe
Stelle, dieſes Werk, das man erläutern wollte, das Singuläre, nur ein⸗
mal Dageweſene, nicht das Typiſche, das Geſetz.
4. Sprachwiſſenſchaft und Literaturgeſchichte. B. Deutſche Literaturgeſchichte. 231
Noch im Programm von Munckers „Forſchungen“ ſtand ein etwas herbes
Zugeſtändnis: den Verfaſſern ſolle ſelbſt die Freiheit gewahrt bleiben, ge⸗
legentlich einmal ſtatt der ſtrengſten philologiſch⸗hiſtoriſchen Methode eine
mehr äſthetiſch⸗pſychologiſche Betrachtungsweiſe zu wählen. Heute darf man
darüber ſchon etwas ketzeriſcher denken. Hiſtoriſche Kraft, Geſetz, Typus,
dieſe Begriffe ſcheinen immer mehr zu den leitenden zu werden, und von
einer philologiſchen Disziplin wird die Literaturgeſchichtſchreibung allgemach
zu einer ausgeſprochen hiſtoriſchen.
Ein Sammelpunkt hiſtoriſcher Kräfte liegt im Motiv. In der Weiter⸗
bildung der Stoffgeſchichte war in den letzten Jahren ein bedauerlicher Still-
ſtand eingetreten. Der Stoff iſt das große Fluidum, das alles literariſche
Leben erfüllt. Einige wenige ſtoffliche Urtypen ſind die Sprache, die jeder
Dichter ſpricht, und jeder anders ſpricht. Hier müßte es doch „Wurzeln“ geben
und „Lautverſchiebungen“ und Stoffgeſetze. Eine energiſche Schulung an
den Methoden vergleichender Sprachforſchung müßte uns doch fähig machen
zur Löſung all der großen Rätſel, die unſern gegenwärtigen Methoden nicht
erreichbar ſind. Dieſe Hoffnungen können wir aus einer Arbeit Ernſt
Elſters ſchöpfen, „Tannhäuſer in Geſchichte, Sage und Dichtung“ (Brom-
berg, Mittler), worin Elſter aus der Entwicklung der Tannhäuſerſage alles
Typiſche herausgelöſt und ſo der Formulierung eines künftigen Geſetzes
außerordentlich vorgearbeitet hat. In knappſter Faſſung gibt er im Tann⸗
häuſerſtoff einen ſolchen Typus. Zunächſt die urſprüngliche Faſſung, dann
Wandel und äußerlicher Anſchluß neuer Elemente, womit mancherlei Un.
ebenheiten in das harmoniſche Leben kommen; dann eine Wiedererweckung
des Stoffes durch verſchiedene Dichter; die Sage wird Gefäß für viele und
vieles. Und endlich kommt der Begnadete und gibt ihr im engſten Anſchluß
an die Tradition die endgültige Faſſung. Ging es mit Fauſt nicht ähnlich?
Das ſind lebendige Kräfte im Stoff, die ihn entwickeln wie eine Pflanze:
Same und Stamm, Blüte und Frucht, in der das Pflanzenleben endet; aber
der große Künſtler kommt und pflückt ſie für alle. — Weniger ſcharf, weniger
bewußt, aber gleichen Charakters iſt M. R. Hewelckes Arbeit über „Die
Loreleyſage“ (Paderborn, Junfermann). Was ſo im Stoffe wirkt, iſt
geiſtiges Leben, deſſen Erforſchung die Pſychologie als Grundlage fordert.
Virtuos iſt dieſe Methode durch Marie Speyer nach ihrer formalen
Seite weitergebildet worden. Die Bedeutung ihres Buches über „Raabes
Holunderblüte“ (Regensburg, Habbel) liegt in der weſentlichen Vertiefung
unſerer Stoffpſychologie. Die Novelle iſt eigentlich nur der Wusgangs-
punkt ihrer Unterſuchungen. Zunächſt eine Fülle von Material aus Raabes
Schaffen. Dann dringt die Verfaſſerin durch eingehende Analyſe zum eigent⸗
lich Einheitlichen, Typiſchen dieſer Motive vor, bis ſich ihr endlich als
letzte Formel die große Atmoſphäre dieſer Stoffe, das Typiſche an Raabe,
erſchließt.
232 V. Wiſſenſchaften.
Eine einheitliche Gruppe von Kräften anderer Art beſtimmt die Form
der Werke, die Technik. Jede Anregung ſtofflicher Art verkuüpft den Dichter
immer wieder mit einer neuen Gruppe hiſtoriſcher Entwicklungen, die dieſes
oder jenes Motiv durchgemacht hat. Durch die Form, die Technik werden
dieſe ſtofflichen Kräfte im Dichter gewiſſermaßen in ein Nebeneinander, in
eine Einheit verknüpft, da es doch im weſentlichen dieſelbe Technik iſt, die
all dieſe Motive geſtaltet. Das Typiſche im einzelnen und in der Zeit läßt
ſich auf dieſem Wege ungleich leichter erſchließen. In dieſer Art iſt Lothar
Böhme (Die Landſchaft in den Werken Hölderlins und Jean Pauls. Leipzig,
Deichert) zu prächtigen Reſultaten gekommen. Seine Analyſen beweiſen, wie
nahe und greifbar uns Geſetz und Typus ſtehen. Behaglich und voller
Freude an der Einzelheit dringt auch er wie Marie Speyer auf pſycho⸗
logiſcher Grundlage zum Typiſchen vor. — Den gleichen Weg hat des
Referenten Buch über „Eichendorffs Lyrik“ (Prag, Bellmann), das von
Böhme ganz unabhängig iſt, eingeſchlagen, ein Beweis, daß reichlich Grund⸗
lagen für dieſe Art der Wertung vorhanden ſind. Gegenüber den älteren
Arbeiten von Bieſe und Ratzel halte ich Böhmes Buch für einen bedeutſamen
Fortſchritt. Mit Recht wehrt er ſich gegen den Ausdruck Naturgefühl. Die
Auffaſſung der Außenwelt iſt eben ein Teil der Technik. Hölderlin, Jean
Paul, Eichendorff ſind lyriſche Naturen; die Stimmung ſchafft man nicht;
ſie iſt da und muß nur veranſchaulicht werden. Wenn ſich nun K. Rick einen
Epiker wie Keller (Gottfried Keller als Charakteriſtiker. Mitteilungen der
literarhiſt. Geſellſchaft Bonn. Dortmund, Ruhfus) zum Vorwurf nimmt,
ſo ergeben ſich weſentlich andere Fragen. Der Epiker iſt ein Schöpfer,
er ſchafft Geſtalten, Charaktere, und ſo greift Rick den Kernpunkt von
Kellers Technik an. Nicht erſchöpfend, aber überzeugend entwickelt er die
Mittel, die dem Dichter jenen beſtimmten und eindeutigen Eindruck erreichen
helfen, den die Geſtalt im Leſer hinterläßt. Wie Fritz Ohmann in ſeinem
Korreferate anführt, hat Rick wichtige Fragen, wie das Maleriſche, Ironi⸗
ſierende in der Charakteriſtik, die Bedeutung der Fabel für die Entfaltung
des Ganzen, nicht behandeln können. — Über den Begriff Technik war
man ſich nicht immer klar, wie E. Bertrams „Studien zu A. Stifters
Novellentechnik“ (Dortmund, Ruhfus) zeigt, deren Reſultate übrigens bei
Eingeweihten ſtarken Widerſpruch finden.
Das find Methoden der Analyſe. Wie faßt man jetzt dieſe rein litera-
riſchen Kräfte in eine Einheit? Wie ſetzt man ſie mit den andern hiſtoriſchen
Mächten in Zuſammenhang? Man ſcheint wieder energiſcher auf jene
älteren Auffaſſungen zurückzukommen, die in der literariſchen Gattung den
natürlichen Sammelpunkt ſahen. Gewiß, unſere bisherigen Darſtellungen
zerreißen das innere Geſamtbild. Trägerin der literariſchen Entwicklung iſt
ja doch die Gattung. Das Lied wird nicht das Drama als Ganzes um⸗
geſtalten und der Roman nicht die Lyrik. Die verſchiedenen Gattungen
4. Sprachwiſſenſchaft und Literaturgeſchichte. B. Deutſche Literaturgeſchichte. 233
ſind durchaus unvergleichbare Größen. Hier war die Arbeit des Jahres
am ſpärlichſten und hätte doch fo herrliche Reſultate bieten können. —
Die Märchendichtung der Romantik, die deutſche Jugendliteratur haben
Darſtellungen gefunden. In „Karl Spindler“ (Leipzig, Quelle u. Meyer)
lieferte Joſ. König einen Beitrag zur Geſchichte der deutſchen Unter-
haltungslektüre.
Ein wirklich neuer Geſichtspunkt beherrſcht immer ſtärker die Diskuſſion
über die Form der Geſamtdarſtellung. Die ungeheure Bedeutung der Stammes⸗
individualität hat uns erſt die Volkskunde tief erfaſſen gelehrt. Im Spiegel
der Stammeseigenart brechen ſich die hiſtoriſchen Entwicklungen in einem
ganz eigenen Lichte. Dazu kommt die literariſche Gattung. Der eine Stamm
iſt vorwiegend lyriſch begabt, der andere fabuliert. Das ganze Milieu der
Landſchaft iſt von ungemeſſenem Einfluß auf die Entwicklung des Ganzen
und des Einzelnen. Seit Profeſſor A. Sauer in ſeiner Rektoratsrede
„Literaturgeſchichte und Völkerkunde“ (Prag, Calve) ſeine Arbeit, die er der
wiſſenſchaftlichen Erſchließung des literariſchen Oſterreich widmete, wie in
einem Brennpunkte zuſammengefaßt hat, ſtehen wir am Ausgangspunkte ganz
neuer Probleme. Daß der Volksſtamm in Verbindung mit der literariſchen
Gattung der eigentliche Träger hiſtoriſcher Entwicklung iſt, — dieſe Erkenntnis
haben wir nun unverlierbar erobert. Noch mag die Frage wohl zu wenig
durchdacht ſein. Das ergibt ſich aus Wilh. Lobſiens Buch „Die erzählende
Kunſt in Schleswig⸗Holſtein von Th. Storm bis zur Gegenwart“ (Altona,
Adolff). Was der Verſaſſer wirklich tief herausgefühlt hat, find die Bue
ſammenhänge von Stamm, Technik und Gattung; aber es iſt eben nur
eine Aneinanderreihung von Dichtern, nicht einmal von Dichtungen. Eine
lückenloſe Darſtellung der Entwicklungslinie hat er nicht verſucht. Das
Buch iſt empfunden, ergebnisreich empfunden, aber nicht gedacht. Da⸗
gegen iſt ein Heftchen von nur 16 Seiten, „Weſen und Entwicklungsgang
des ſchwäbiſchen Dialektes und der ſchwäbiſchen Mundartdichtung“ von
Guſt. Seuffer jun. (Bayreuth, Seligsberg), eine ausgezeichnete Probe auf
das ganze Problem. Sprachliche, landſchaftliche, politiſche, konfeſſionelle
Momente — alles iſt bemerkt und nichts überſehen. Wie ſolche Stammes⸗
literaturen ſich entwickeln, hat O. Walzel an einem ſpeziellen Falle nach⸗
gewieſen: „Die Wirklichkeitsfreude der neueren Schweizer Dichtung“ (Stutt-
gart, Cotta Nachf.). Jeder Stamm hat ſeinen Helden, zu dem alles empor⸗
führt, einen beherrſchenden Mittelpunkt, in dem die Entwicklung immer
wieder gipfelt und raſtet. Das führt Walzel des näheren aus. Ein böſes
Erbteil der Klaſſik war die Scheidung in eine Welt der Kunſt und in eine
Alltagswelt, in eine Literatur der Höhe und der Tiefe. Von dieſer Schei⸗
dung war unſer Forſchen lange beherrſcht. Wir haben wohl auch das über⸗
wunden. Walzels Buch iſt eine muſterhafte Vorarbeit für den Literar⸗
hiſtoriker der Zukunft. Daß wir ſo tief perſönlich Literaturgeſchichte ſchreiben,
234 V. Wiſſenſchaften.
iſt eine Bürgſchaft für den Erfolg. Die Tiefen des Stammescharakters
vermag nur auszuſchöpfen, wer ſelbſt in ſeinem Banne ſteht.
Zwei ausgezeichnete Arbeiten geben ſo ziemlich alle Beſtrebungen wieder,
die ſich durch die Forſchung des Berichtsjahres ziehen. Zunächſt G. Mückes
„H. Heines Beziehungen zum deutſchen Mittelalter“ (Berlin, Duncker),
worin wir uns endlich einmal klar werden über den Romantiker Heine.
Das Thema war beliebt und hat im Jahre 1908 auch von B. Gallwitz
eine nicht unglückliche Darſtellung gefunden, „Die romantiſchen Elemente
in Heines Buch der Lieder“ (Rawitſch, Birkenſtock). Mücke löſt die Geſamt⸗
wirkung des Mittelalters in eine Reihe von Einzelkräften auf und beobachtet
ihre Wirkung auf Heine. Die eingehenden Nachweiſe über ſeine Kenntnis
des Mittelalters waren notwendig. Leider ließ ſich Mückes Darſtellung
nach den Arten der Einflüſſe nicht mit chronologiſchen Geſichtspunkten ver⸗
knüpfen. — Ein ausgezeichnetes Buch iſt Ferd. Joſ. Schneiders
„Die Freimaurerei und ihr Einfluß auf die geiſtige Kultur in Deutſchland
am Ende des 18. Jahrhunderts“ (Prag, Tauſſig), worin dem ſchließenden
18. Jahrhundert und dem Bilde der Romantik eine überraſchende neue Be⸗
leuchtung gegeben wird. Endlich iſt einmal dem religiöſen Problem ſeine
Stellung nahe dem Zentrum der Entwicklung eingeräumt. Schneider iſt ein
Hiſtoriker, den die große Bewegung intereſſiert, in der der Einzelne eben
nur eine Welle iſt. Er bietet eine Ausdehnung des Begriffes Literatur
nach allen Seiten. Der Stammbaum der Romantik, den er zeichnet, iſt
voll überraſchender Verwandtſchaften.
Wo ſtehen wir alſo? Seit Scherers Literaturgeſchichte ſind nun 25 Jahre
vergangen, Anlaß genug zu ernſten Erwägungen nach vorwärts und rück⸗
wärts. Scherers Methode hat bereits weſentliche Weiterbildungen erfahren.
In ſeiner Art, die Dinge ſich gegenſeitig aufhellen zu laſſen, lag im Keime
die Eroberung der Induktion auch für die Literaturgeſchichte. Gewiß iſt
unſere Disziplin in einer völligen Umwandlung begriffen, aber ich glaube,
noch immer in Scherers Geiſte. Den Ausbau einer vergleichenden Stoff-
geſchichte, eine entſchiedene Klärung all der Begriffe, mit denen wir arbeiten,
ein rückhaltloſes Streben nach der Erfaſſung jener hiſtoriſchen Grundgeſetze,
die die Entwicklung der Literaturen beſtimmen, die völlige Aneignung des
Induktionsſchluſſes — das ſind wohl unſere wichtigſten Aufgaben. Gewiß
nicht mit Beiſeiteſetzung der Philologie. Das wäre undenkbar. Aber wir
ſind eben Hiſtoriker. Der Reſpekt vor der ſouveränen Tatſache darf nicht
hindern, daß wir auch in der Literaturgeſchichte philoſophieren. Die bloße
Beſchreibung macht uns nicht glücklich. Und wenn wir die weiteren Er-
gebniſſe der Volkskunde abgewartet haben, dann mag wohl einer kommen
und die zweite Literaturgeſchichte ſchreiben.
4, Sprachwiſſenſchaft und Literaturgeſchichte. C. Angliſtik. 235
C. Angliftik.
Don Dr Roman Dyboski.
Unſere Kenntnis der älteſten engliſchen Literaturperiode ift
im Jahre 1908 durch den langerwarteten Beitrag von Alois Brandl
zur neuen Auflage von Pauls „Grundriß der germaniſchen Philologie“
(Straßburg, Trübner) weſentlich gefördert worden. Es war Bernhard
ten Brink ſeinerzeit nicht mehr gegönnt, ſein für die erſte Auflage dieſes
Werkes beſtimmtes Kapitel „Altengliſche Literatur“ über ein Fragment
hinauszubringen; für die zweite hat Brandl die Bearbeitung des geſamten
alt. und mittelengliſchen Gebietes übernommen und in dem erſten Teil
(Angelſächſiſche Periode bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts) eine Dar⸗
ſtellung geliefert, welche die Vorzüge geiſtreich⸗ anregender, feſſelnder Behand⸗
lung mit gründlicher Ausſchöpfung und hiſtoriſcher Würdigung auch der
unbedeutenderen Literaturdenkmäler in ſeltener Weiſe vereinigt. Das An⸗
regende von Brandls eigenen Gedanken illuſtriert vielleicht am beſten das
Kapitel über Beowulf, das durch eine vollſtändige Bibliographie eingeleitet
wird. Die von Brandl aufgeſtellte Parallele zwiſchen dem erſten Teile der
Dichtung und Vergils Aneis dürfte wenigſtens inſofern berechtigt ſein, als
die aus Vergil abſtrahierten Regeln der epiſchen Technik Gemeingut aller,
auch der germaniſchen Literaten waren. Geradezu konſtruktiv iſt im Werke
Brandls die Darſtellung der Lyrik und Gnomik; die verſchiedenen Elemente,
aus welchen ſich die uns nach ihrer Tendenz bisher vielfach unverſtändlichen
Lehrgedichte oder vielmehr Lehrſatzketten in einigen Sammelmanuſkripten
genetiſch zuſammenſetzen, ſind hier zuerſt analyſiert. Die grundſtürzenden
Anderungen, welche Brandl in der Chronologie der Werke König Alfreds d. Gr.
vornehmen will, werden wohl mehr originell als überzeugend erſcheinen; hin⸗
gegen iſt die Entwicklung der altengliſchen Annalen (Sachfenchronif) in aus⸗
gezeichneter Weiſe auf Grund von Beobachtungen über die literariſche Perſön⸗
lichkeit der verſchiedenen Verfaſſer in ihre einzelnen Phaſen aufgelöſt.
In Cambridge haben nach dem Vorbild der heute weltberühmten Cam-
bridge Modern History, welche A. W. Ward, G. W. Prothero und Stanley
Leathes auf Grund der Entwürfe des verſtorbenen Lord Acton redigieren,
Dr A. W. Ward und A. R. Waller die Herausgabe eines auf 14 Bände
berechneten Sammelwerkes über die Geſchichte der engliſchen Literatur unter-
nommen, wovon die erſten zwei Bände (Cambridge 1907 u. 1908, Univerſity
Preſs) vorliegen. So ſehr erwünſcht ein ſolches Unternehmen insbeſondere
als Zentralſtelle bibliographiſcher Information ſein wird, ſo ſtehen, wie ja
bei einer Sammelarbeit natürlich, beſonders im erſten Bande, welcher die
— dem Intereſſe der Engländer ſtets fernerliegende — angelſächſiſche Periode
behandelt, nicht alle Beiträge auf der Höhe des Gegenſtandes. Als beſonders
236 V. Wiſſenſchaften.
erſchöpfend und informativ ſeien die Kapitel über die lateiniſche Literatur
der Epoche (von M. R. James und W. L. Jones) hervorgehoben.
Was die Herausgabe altengliſcher Denkmäler betrifft, fo macht in Deutſch⸗
land beſonders die von Holthauſen und Morsbach begründete Serie „Alt⸗
und mittelengliſche Texte“ (Heidelberg, Winter) erfreuliche Fortſchritte. In
dieſer Reihe zu Studienzwecken hervorragend brauchbarer, billiger Editionen
iſt die gewiß auf lange Zeit hinaus beſte moderne Beowulf⸗Ausgabe von
F. Holthauſen erſchienen. Die chriſtlich⸗altengliſche Poeſie, welche ſich mehr
oder weniger vag an den Namen des Dichters Cynewulf knüpft, wird in
den „Bonner Beiträgen zur Angliſtik“ (Bonn, Hanſtein) gepflegt; als
neueſtes (25.) Heft iſt „Die altengliſche Dichtung Phoenix“, herausgeg.
von O. Schlotteroſe, erſchienen. So wünſchenswert ſorgfältig dieſe Aus⸗
gaben mit den Handſchriften kollationiert werden, ſo ſtehen ſie doch alle im
Banne der Theorien M. Trautmanns über den Alliterationsvers, was ihren
reproduktiven Wert zu Gunſten mehr oder minder gewaltſamer Anpaſſungen
des Textes an ein taktierendes Schema beeinträchtigt. Uneingeſchränkten
Dank hingegen verdient die als Heft 24 dieſer Sammlung von Dr Karl
Janſen gebotene vollſtändige Bibliographie der „Cynewulf⸗Forſchung von
ihren Anfängen bis zur Gegenwart“; ſie wird künftigen Forſchern auf dieſem
Gebiete ſehr viel Zeit und Mühe erſparen. — Die von Grein begründete
„Bibliothek der angelſächſiſchen Proſa“ (Kaſſel⸗Hamburg) ſchreitet rüſtig
weiter (Bd V, Abt. 2, Biſchof Werferds Überſetzung der Dialoge Gregors,
Einleitung von H. Hecht), und auch in Amerika gibt Cooks Schule fleißig
altengliſche Denkmäler — weſentlich zu praktiſchen Studienzwecken — heraus.
Die Lexikographie des Altengliſchen wird durch Einzelſchriften neueſtens
insbeſondere in der Richtung der Wortgeographie und der kulturgeſchichtlichen
Realien des altengliſchen Wortſchatzes gefördert: tonangebend ſind hier die
von der Heidelberger Schule des Profeſſors Joh. Hoops ausgehenden und
meiſt in ſeinen „Angliſtiſchen Forſchungen“ (Heidelberg, Winter) veröffent⸗
lichten Studien über Tier-, Handwerker., Waffen-, Krankheitsnamen u. dgl.
Auf das Gebiet der Realien führt uns auch eine wichtige Publikation
im 120. Bande des „Archiv für das Studium der neueren Sprachen“
(Braunſchweig, Weſtermann), wo Profeſſor Max Förſter die Herausgabe
von „Beiträgen zur mittelalterlichen Volkskunde“ durch ein paar altengliſche
Brontologien (Donnerbücher) eröffnet; die groß angelegte Arbeit wird gewiß
das alte Magazin der altengliſchen Volkskunde (Os w. Cockaynes Leech-
doms von 1864) durch viel Neues ergänzen.
Für die Literatur in mittelengliſcher Zeit haben Kapitel 8—10
des erſten und der ganze zweite Band der Cambridge History of English
Literature eine umfaſſende Zuſammenſtellung des bisher Gewonnenen von
der Hand erſtklaſſiger Autoritäten geboten: es genügt darauf hinzuweiſen,
daß O. F. Sandys, der bekannte Hiſtoriker der klaſſiſchen Philologie, die
4. Sprachwiſſenſchaft und Literaturgeſchichte. C. Angliſtik. 237
engliſche Wiſſenſchaft des Mittelalters in Paris und Oxford, W. P. Ker
die Versromanzen, H. Bradley die Sprachentwicklung bis Chaucer, G. C.
Macauley den von ihm edierten Dichter John Gower und G. G. Smith
die ſchottiſche Sprache und Literatur behandelt haben. Weniger Beifall kann
es finden, wenn Chaucer und ſeine Schule dem geiſtreichen Edinburgher
G. Saintsbury zugefallen ſind, welcher auch die älteſte Proſodie und Metrik
ganz im Sinne der eigenartigen, von grundlegenden deutſchen Forſchungen
unberührten Theorien behandelt, die er ausführlich in ſeiner — inzwiſchen
durch Bd II von Shakeſpeare bis Crabbe fortgeführten — History of
English Prosody (London, Macmillan) vorträgt.
Das Senſationsereignis des Jahres 1908 in der engliſchen Philologie
bildet unſtreitig das erſte Kapitel des zweiten Bandes der Cambridge Hi-
story of English Literature. Hier nämlich bringt Joſeph Manly feine
Theorie über das große mittelengliſche Viſionsgedicht von Peter dem Pflüger,
welches bisher einem Dichter William Langland zugeſchrieben wurde, zum
erſtenmal zuſammenhängend vor. Seine Ausführungen laſſen ſich kurz, wie
folgt, zuſammenfaſſen: Das Gedicht iſt das Werk mehrerer Verfaſſer. Die
Paſſus I— VIII rühren von einem Dichter (A) her und ſtellen ſich als eine
geſchloſſene und durch hervorragende poetiſche Kraft gekennzeichnete Viſions⸗
erzählung dar. An dieſe hat nun ein Kontinuator (B) die fog. Visio de
Do- Well, Do- Bet, and Do-Best angefügt: dieſe ſteht zu A in einem ähn⸗
lichen Verhältnis wie der zweite Teil des altfranzöſiſchen Roſenromans (von
Jean de Meung) zum erſten von Guillaume de Lorris (was vielleicht Pro-
feſſor Manly unbewußt vorgeſchwebt haben mag): ſie iſt nämlich locker in
der Kompoſition, überladen mit moraliſierender Rhetorik und ausgezeichnet
hauptſächlich durch ihren ſozialen Gehalt, durch Ernſt und Tiefe von des
Dichters Entrüſtung über die moraliſche Zerrüttung in den höheren Schichten
der feudalen Welt. Der dritte Beteiligte endlich war ein Reviſor (O),
welcher weniger bedeutende Anderungen in den Details vorgenommen hat;
von ihm rühren auch vielleicht die biographiſchen Anſpielungen auf die
Perſon des Dichters her. Im übrigen ſind die für autobiographiſch ge⸗
haltenen Epiſoden nach Manlys Anſicht ein integrierender Beſtandteil der
poetiſchen Fiktion und vielleicht gar nicht in perſönlichen Lebensſchickſalen
begründet; höchſtens in einigen vorkommenden Namensformen könnte ſich
authentiſches Material erhalten haben, und auch dieſes in recht konfuſem
Zuſtande. Die auffallenden Ahnlichkeiten der Viſionsdichtung mit dem mittel-
engliſchen moraliſchen Gedicht Winner and Waster beruhen nach Manly
auf Nachahmung des letzteren durch den Dichter A. — Die Beweismittel
für Manlys Theſe ſind natürlich ähnlicher Art wie die für verſchiedene
„Liedertheorien“ des 19. Jahrhunderts vorgebrachten, jedoch bedeutend ſtich⸗
haltigerer Natur; ſo z. B. hat er nachgewieſen, daß B den Text von A
vielfach ganz falſch verſtanden, ſowie daß der Redaktor C ſowohl A wie
238 V. Wiſſenſchaften.
B mitunter ganz entſtellt hat. Im allgemeinen hat auch die Theorie den
einen großen Vorteil, daß es Manly geglückt iſt, das eigentliche onus pro-
bandi mit aller Entſchiedenheit auf die Vertreter der bisherigen Anſchauung
von einem einheitlichen Verfaſſer dieſer aus wirklich ſehr disparaten Ele⸗
menten beſtehenden Dichtung abzuwälzen und ſeine Annahme als die von
vornherein wahrſcheinlichſte hinzuſtellen.
Aus der naturgemäß reichhaltigen Literatur von Einzelſchriften über
Gegenſtände der mittelengliſchen Periode können hier nur einige heraus⸗
gegriffen werden, mehr um herrſchende Tendenzen zu charakteriſieren, als
um kleine Forſchungsergebniſſe, aus deren Maſſe ſich ja dann alle großen
Werke zuſammenſetzen, regiſtrieren zu wollen. Ehrenvolle Nennung wenigſtens
verdienen ein paar ſtoffgeſchichtliche Arbeiten 1 nicht ſo ſehr, weil ſie Neues
bringen, ſondern weil ſie durch Zuſammenſtellung ſchwer überſehbarer Mate⸗
rialien der immer dringender anzuſtrebenden Okonomie der wiſſenſchaftlichen
Arbeit wichtige Dienſte leiſten. In der Herausgabe mittelengliſcher Texte
iſt neuerdings Amerika ſehr produktiv. Beſonders rühmende Erwähnung
verdient hier die von Ewald Flügel als Hauptherausgeber redigierte Belles
Lettres Series (Boſton, Heath), in deren mittelengliſcher Reihe u. a. eine
Ausgabe der herrlichen Elegie The Pearl (von Ch. G. O8 good) erſchienen
iſt. Osgood hebt in ſeiner Einleitung im Gegenſatz zu der vor mehreren
Jahren von einem ſenſationsſüchtigen Amerikaner angenommenen Nach⸗
ahmung der Elegie Boccaccios auf den Tod ſeiner Tochter durch den Dichter
der „Perle“ vor allem Einflüſſe von Dantes Paradiso hervor:; inzwiſchen
iſt die Dichtung im erſten Bande der Cambridge History of English
Literature von ihrem gewiegteſten Kenner, Profeſſor J. Gollancz, be-
handelt worden, welcher wiederum vor allem auf die Apokalypſe als Vor⸗
bild verweiſt und die vermutete Autorſchaft von Chaucers Freund Strode,
der vielleicht mit einem berühmten Logiker dieſes Namens identiſch war, durch
ein paar neue Zuſammenſtellungen der Wahrſcheinlichkeit näher bringt.
Die produktivſte Geſtalt der ſpätmittelengliſchen Poeſie, den Mönch John
Lydgate von Bury, hat der Amerikaner H. N. Me Cracken zum Gegen.
ı R. H. Fletcher, The Arthurian Materials in the Chronicles, especially
those of Great Britain and France, in Bd X der Studies and Notes in Philology
and Literature der Harvard Univerfitat (Boſton, Ginn); Hope Traver, The Four
Daughters of God (über die vier urſprünglich aus dem rabbiniſchen Midraſch des
10. Jahrhunderts ſtammenden allegoriſchen Geſtalten der Misericordia, Iustitia, Veritas
und Pax in der Literatur des Mittelalters), in Bryn Mawr College Monographs VI
(Pennsylvania). Von editorialen Leiſtungen gehört wegen ihres literarhiſtoriſch fo hoch⸗
bedeutſamen Stoffes hierher die lange vorbereitete Ausgabe zweier Texte des mittel
engliſchen Versromans von den „Sieben Weiſen“ durch Killis Campbell, in
Athenaeum Press (Boſton, Ginn).
2 Mir perſönlich iſt die Ahnlichkeit mit der Erſcheinung Matildas im Purgatorio
XXVIII beſonders aufgefallen.
4, Sprachwiſſenſchaft und Literaturgeſchichte. C. Angliſtik. 239
ſtande eingehender Forſchungen gemacht, deren erſte Reſultate in einer
Ausgabe von Lydgates kleineren Gedichten für die Early English Text
Society niedergelegt ſind (Extra Series CIII. London, Kegan Paul, Trench,
Trübner u. Co.). Es hat ſich ihm vor allem darum gehandelt, aus der
nebelhaften Maſſe von Dichtungen heraus, welche mit des Dichters Namen
in mehr oder minder ſicherer Verbindung ſind, ein konkretes Bild von
ſeiner poetiſchen Perſönlichkeit zu gewinnen und auf Grund beſtimmter
individueller Merkmale einen Kanon der authentiſchen Gedichte Lydgates auf⸗
zuſtellen, welche dann zum Zentrum einer Menge anonymer Nachahmungen
wurden.
Ein Kapitel für ſich bildet natürlich die Beſchäftigung mit Chaucer,
deſſen weltliterariſche Stellung durch Populariſierung bei verſchiedenen euro-
päiſchen Völkern — ſo neuerdings durch Björkman in Schweden, Kaſprowicz
in Polen, Petz in Ungarn und eine große Sammelüberſetzung der Canter-
bury Tales in Frankreich — immer mehr gefeſtigt wird. Für die Chaucer-
Forſchung iſt und bleibt natürlich die von Dr F. J. Furnivall begründete
Chaucer Society die eigentliche Zentralſtelle; eine ihrer Hauptunternehmungen
war in der letzten Zeit eine Kollation ſämtlicher Handſchriften der Canter
bury Tales durch den Schotten George Stevenſon. Dem Wortſchatz
Chaucers wird in der letzten Zeit erhöhte Aufmerkſamkeit zugewendet. Auch
fernab, am Ufer des Stillen Ozeans, iſt Ewald Flügel (Palo Alto, Cali⸗
fornia, Stanford Univerſity) mit einem großen Chaucer- Wörterbuch be-
ſchäftigt, über deſſen Gedeihen günſtige Nachrichten vorliegen. Einen der
wichtigſten Materialkomplexe zur mittelengliſchen Lexikographie überhaupt,
das Promptorium Parvulorum (1440), hat uns die Early English Text
Society als Band CI ihrer Extra Series in einer neuen Ausgabe mit
äußerft praktiſcher Anordnung von A. L. Mayhew geboten.
Die mittelengliſche Sprachgeſchichte hat in Profeſſor L. Mors⸗
bach ihr natürliches Anregungszentrum, und die Göttinger „Studien zur
engliſchen Philologie“ (Halle, Niemeyer) von feinen Schülern bringen fort⸗
während neue wertvolle Bauſteine zur organiſchen Ausgeſtaltung unſerer
Kenntnis von dieſer Periode der Sprachentwicklung; im Berichtsjahre ſind
von dieſer Sammlung Hft 10: G. Haekmann, „Kürzung langer Ton⸗
vokale vor einfachen auslautenden Konſonanten in einſilbigen Wörtern im
Alt-, Mittel. und Neuengliſchen“, und Hft 31: G. Grau, „Quellen und
Verwandtſchaften der älteren germaniſchen Darſtellungen des jüngſten Ge⸗
richts“ ausgegeben worden.
Anſchließend daran ſeien auch die Arbeiten zur neuengliſchen Sprach—
geſchichte erwähnt. Als höchſt willkommene Erſcheinung begrüßen wir hier
vor allem das erſte ſyſtematiſche Handbuch der „Hiſtoriſchen neuengliſchen
Grammatik“ von Profeſſor W. Horn, wovon als erſter Teil die „Laut⸗
lehre“ (Straßburg, Trübner) vorliegt; das Buch wird ein unentbehrliches
240 V. Wiſſenſchaften.
Hilfsmittel für das akademiſche Studium und zugleich eine erfreulich zeit-
erſparende Grundlage für Einzelforſchung auf dem Gebiete bilden. Zur
Erſchließung authentiſcher Zeugniſſe über den Zuſtand der Sprache in den
früheren Zeitläuften der neuengliſchen Epoche trägt die von Profeſſor
R. Brotanek mit Unterſtützung der Wiener Akademie herausgegebene
Sammlung von Neudrucken frühneuengliſcher Grammatiken in hervorragender
Weiſe bei; ſie iſt in dankenswert raſchem Fortgang begriffen (1908, Bd III:
J. Jones' Practical Phonography von 1701. Halle, Niemeyer). Von
anderer Seite iſt die Geſchichte der neuengliſchen Grammatik wie der Sprache
ſelbſt durch Otto Jeſperſens Studie über „John Harts Pronunciation
of English 1569 and 1570“ in J. Hoops' „Angliſtiſchen Forſchungen“
(Bd XXI. Heidelberg, Winter) bedeutend gefördert worden.
Das gewaltigſte Unternehmen der engliſchen Philologie unſerer Tage,
das von Sir J. A. H. Murray, H. Bradley und W. A. Craigie
herausgegebene New English Dictionary (Oxford, Clarendon Preſs), iſt
auch im Berichtsjahre mit ſeiner gewohnten bewunderungswürdigen Prä⸗
ziſion um ein erhebliches Stück weiter gediehen und beſtärkt durch jedes
neue Heft die zuverſichtliche Hoffnung, daß wir in abſehbarer Zeit den
Abſchluß dieſes monumentalen Nationalwerkes als eines der denkwürdigſten
Ereigniſſe auf dem Gebiete unſerer Wiſſenſchaft werden feiern können.
Bevor wir nun zur literarhiſtoriſchen Seite der neuengliſchen Epoche
übergehen, fet in der üblichen Weiſe an dieſer Übergangsſtelle der anonymen
lyriſchen und Balladendichtung gedacht, wie fie uns in fpätmittel- und früh⸗
neuengliſchen Sammelhandſchriften beſonders reichlich überliefert if. Was
die Lyrik betrifft, ſo hat deren Kenntnis und Studium ein Schüler des ſelbſt
hier hochverdienten Ewald Flügel, Profeſſor F. M. Padelford, durch
Herausgabe vollſtändiger Liederbücher in der Zeitſchrift „Anglia“ (Halle, Nie⸗
meyer) und ausgewählter Texte in der Belles Lettres Series, ſowie durch
fein ſummariſch charakteriſierendes Kapitel Transition English Song Col-
lections in der Cambridge History of English Literature (Bd II) wefent-
lich gefördert. Auch die Early English Text Society vernachläſſigt dieſes
Gebiet nicht: als Band CI der Extra Series hat der Referent die
poetiſchen Texte einer der reichhaltigſten Sammelhandſchriften, des Common-
place Book von Rich. Hill (Manuffr. 354 des Balliol College, Oxford)
herausgegeben.
Von darſtellenden Werken, die das ganze Gebiet der neuengliſchen
Literatur umſpannen, ſei an dieſer Stelle — weil es hauptſächlich die
neuere Dichtung behandelt — das große Werk von J. W. B. Courthope
History of English Poetry (London, Macmillan) rühmend genannt. Es
iſt bis jetzt in fünf Bänden bis einſchließlich zum 18. Jahrhundert fort⸗
geſchritten und wird nach feiner Beendigung zu den Klaſſikern der Literatur-
geſchichte zählen.
4. Sprachwiſſenſchaft und Literaturgeſchichte. C. Angliſtik. 241
Der Bücher über das größte Zeitalter der engliſchen Literatur, die
eliſabethaniſche Periode, gibt es natürlich jedes Jahr viele; als hochbedeut⸗
ſames Ereignis auf dieſem Gebiete ſteht das Erſcheinen des vierten Bandes
von W. Creizenachs „Geſchichte des neueren Dramas“ (Halle, Niemeyer)
unmittelbar bevor. Der mehrfach — z. B. auch von Saintsbury — aus⸗
geſprochene Wunſch nach einem Corpus von Neudrucken eliſabethaniſcher
Dramen wird nun ſeit einigen Jahren durch die von Profeſſor W. Bang
herausgegebenen „Materialien zur Kunde des älteren engliſchen Dramas“
(Löwen, Uyſtpruyſt) auf das glänzendſte verwirklicht. Wir erhalten hier
vor allem Ausgaben von Dramen, großen und kuriöſen, bedeutenden und
intereſſanten, darunter als hervorragendes Unternehmen größeren Stils den
unlängſt mit dem zweiten Band abgeſchloſſenen diplomatiſchen Abdruck der
erſten Folio von Ben Jonſons Werken (1616); weiters lexikographiſch und
literarhiſtoriſch gleich nützliche Hilfsmittel, wie Crawfords Konkordanz zu
Kyd; endlich auch wertvolle Dokumente, welche die literariſche Produktion
jener Zeit ſozialhiſtoriſch beleuchten: hier ſteht obenan die von W. W. Greg
mit unübertrefflicher Sorgfalt vorgenommene Ausgabe des Tagebuches des
bekannten Theaterſpekulanten Philipp Henslowe (deren zweiter Band durch
Supplementary Documents [London, Bullen] eingeleitet worden iſt), —
womit wir endlich dieſe hochwichtigen Aufzeichnungen in kritiſch verwertbarer
Form beſitzen und nicht mehr auf das entſtellte Bild angewieſen ſind, welches
J. P. Colliers Ausgabe von ihnen bot. Dieſem Werke gleich an Bedeutung
ift der ſtattliche 21. Band der „Materialien“, worin Profeſſor Feuillerat
Dokumente über das Hofamt des Master of the Revels, meiſt aus den
fog. Loseley-Manuſkripten, vereinigt und damit nicht nur für die Geſchichte
der dramatiſchen Literatur, ſondern der ganzen engliſchen Kultur im Zeit
alter Eliſabeths eine wahre Fundgrube geboten hat. — In England iſt die
Malone Society mit ein paar geradezu verſchwenderiſch ausgeſtatteten (in
blackletter geſetzten) Neudrucken dramatiſcher Raritäten hervorgetreten —
bisher zwei Interludien, Welth and Helth und John Evangelist, die
Dramen Battle of Alcazar und Orlando Furioso und wertvolle Collec-
tions von E. K. Chambers. — Außerſt rührig iſt auf dieſem Gebiete
wieder Amerika mit ſeinen meiſt ſalonmäßig kleinen und eleganten, dabei
doch wiſſenſchaftlich gediegenen Ausgaben. So widmet die ſchon erwähnte
Belles Lettres Series eine eigene Reihe dem Drama, es ſind darin nicht
nur Elisabethana, ſondern auch dramatiſche Meiſterwerke des 18. und
19. Jahrhunderts erſchienen. Speziell um den gelehrten Homer⸗Überſetzer
und hervorragenden Dramatiker G. Chapman bemüht ſich unter Leitung
von Profeſſor T. M. Parrot die University of Pennsylvania, in deren
Publications (Philadelphia) eine Reihe von Ausgaben ſeiner Werke und
in ſeinem Bannkreiſe ſtehender literariſcher Kurioſitäten erſchienen iſt. —
Die Yale Studies in English (Neuyork, Holt) laſſen das .
Jahrbuch der Zeit⸗ und Kulturgeſchichte. II.
242 V. Wiſſenſchaften.
Gebiet auch nicht beiſeite liegen; ſie haben uns als 33. und 34. Band
Ausgaben von Beaumont und Fletchers Knight of the Burning Pestle
und von Ben Jonſons New Inn gebracht.
Shakeſpeare könnte natürlich Stoff für ein beſonderes Referat abgeben,
und mit der ausgezeichneten Überficht zu wetteifern, welche wie immer das
„Jahrbuch der deutſchen Shakeſpeare⸗Geſellſchaft“ (Bd XLIV. Berlin,
Langenſcheidt) bietet, fällt niemand ein. Es ſei alſo nur hervorgehoben,
daß in England und in Deutſchland je eine zuſammenfaſſende Monographie
erſchienen iſt, welche die nationale Arbeits- und Darſtellungsweiſe geradezu
klaſſiſch verkörpert; in England hat W. Raleigh die English Men of
Letters Series (London, Macmillan) um ein ſtiliſtiſch glanzvolles Buch
geiſtreicher Gedanken über Shakeſpeare bereichert, die als Geſamtdarſtellung
ebenſo lückenhaft wie als Andachtsbüchlein für überzeugte Shakeſpeare⸗
Verehrer eine unerſchöpfliche Quelle von Anregungen ſind; in Deutſchland
hat M. J. Wolff in einem enorm fleißigen zweibändigen Werke (München,
Beck) die Reſultate der Shakeſpeare⸗Forſchung dem ganzen gebildeten Publi-
kum in einer Weiſe vorgetragen, welche man vielleicht am beſten mit dem
Ausdruck „etwas diffuſe Korrektheit“ charakteriſieren darf 1.
An immer neuen Shakeſpeare⸗Ausgaben beginnt nachgerade ein Über-
fluß zu herrſchen; es kommt ganz Wertloſes, wie der von Hudſon begonnene
Elizabethan Shakespeare (London, Harrap), neben wirklich Bedeutendem,
wie der feiner Vollendung näherrückende Arden Shakespeare (herausg.
von W. J. Craig. London, Methuen) oder die ausgezeichnete amerikaniſche
First Folio Edition (Neuyork, Crowell) von Ch. Porter und H. A. Clarke,
den Herausgeberinnen der Zeitſchrift Poet-Lore, auf den Markt. Als textliche
Tendenz bricht ſich nun auch in England das Feſthalten an der alten Ortho⸗
graphie ſiegreich Bahn: F. J. Furnivall hat hier durch den Old Spelling
Shakespeare (London, Chatto u. Windus) initiatoriſch gewirkt. In Deutſch⸗
land find die wertvollen diplomatiſchen Abdrucke der alten Ausgaben, Bre:
tors Shakespeare Reprints, durch die Paralleltexte zweier Quartos und
der Folio von „Heinrich V.“ (herausg. von E. Roman. Marburg, Elwert)
bereichert worden. Die Krone aller heutigen Shakeſpeare⸗Ausgaben ijt die
(textlich die erſte Folio von 1623 getreu reproduzierende) New Variorum
Edition von dem unermüdlichen Amerikaner H. H. Furneſs; als 15. und
16. der mächtigen Bände ſind Anthony and Cleopatra und Richard III.
erſchienen (Philadelphia, Lippincott). — Als beſonders dankenswert iſt endlich
ein großes Unternehmen der Londoner Firma Chatto u. Windus zu er⸗
wähnen, welches unter dem Titel The Shakespeare Library (Hauptherause
geber J. Gollancz) in orthographiſch moderniſierten Neudrucken novelliſtiſche
1 Im übrigen ſei mir geſtattet, auf den ausführlichen Bericht zu verweiſen, welchen
ich über dieſe zwei Bücher und andere „Neuere Shakeſpeare Literatur“ in der Wiener
Vierteljahrsſchrift „Die Kultur“ (9. Jahrg., 4. Hft) erſtattet habe.
4. Sprachwiſſenſchaft und Literaturgeſchichte. C. Angliſtik. 243
Quellen von Shakeſpeares Dramen, illuſtrative Bücher — fo Furnivalls Aus⸗
gaben von Lanehams Bericht über die Feſtlichkeiten auf Kenilworth und
von Dokumenten über Schelmen- und Straßenleben in Shakeſpeares Jugend-
zeit —, ſowie ſelbſtändige Studien bringt; auch eine beſonders reichhaltige
Anthologie eliſabethaniſcher Lyrik (von W. Braithwaite) iſt in der Samm⸗
lung erſchienen.
Lebhaftes Intereſſe wird beſonders feit dem großen dreibändigen Werke
von G. Saintsbury A History of Criticism and Literary Taste in Eu-
rope (Edinburgh, Blackwood) den literartheoretiſchen Schriften des 16.
und 17. Jahrhunderts zugewendet. Faſt gleichzeitig haben Gregory Smith
Elizabethan Critical Essays und W. P. Ker die Eſſays von Dryden
in vortrefflichen Ausgaben geboten, und die chronologiſche Lücke zwiſchen
dieſen beiden iſt nunmehr durch die große Sammelausgabe Critical Essays
of the XVII Century (herausg. von J. E. Spingarn 1. 3 Bde. Oxford,
Clarendon Preſs) in gründlichſter und literarhiſtoriſch außerordentlich lehr⸗
reicher Weiſe ausgefüllt worden.
Das Studium der arg vernachläſſigten Dichter des karoliniſchen Zeitalters
iſt gleichfalls von Saintsbury (beſonders durch die Chreſtomathie Caroline
Poets [2 Bde. Ebd. 1905/1906) energiſch gefördert worden. Ein beſonderes
Entdeckerglück auf dieſem nachſhakeſpeareſchen Gebiete ſcheint Bertram
Dobell zu beſitzen: er hat nicht nur einen Dichter der Schule Donnes,
William Strode, durch Herausgabe feiner Tragikomödie The Floating Is-
land und anderer Werke aus tiefer Vergeſſenheit hervorgeholt, ſondern auch
einen Schatz geiſtlicher Lyrik ſowie ein Buch religiöſer Proſa (Centuries of
Meditations) von Thomas Traherne, einem jüngeren Zeitgenoſſen Miltons,
im Manuſkript gehoben und zum erſtenmal gedruckt. Derſelbe glückliche
Finder hat eine anonyme Tragikomödie The Partiall Law aus der Zeit
1620 — 1630 über das gleiche Thema wie Shakeſpeares „Viel Lärm um
nichts“ an den Tag gefördert?.
Wenig bekannte Dichter des 16. und 17. Jahrhunderts haben auch in
der ſehr verdienſtvollen Serie der Cambridge Classics (Univerſity Preſs)
ihre ſoliden Geſamtausgaben gefunden, die ſie vielfach erſt recht eigentlich
zugänglich machen: jo der in fo vielen Punkten bahnbrechende Früh⸗Eliſa⸗
bethaner George Gascoigne (2 Bde) und von ſpäteren insbeſondere Abraham
Cowley (3 Bde) und die Brüder Giles und Phineas Fletcher (herausg. von
F. S. Boas) s. Dieſelbe Serie fördert unſere Kenntnis der engliſchen Poeſie
ı Dem Autor einer eben in zweiter Auflage erſchienenen History of Literary Cri-
ticiam in the Renaissance (Neuyhork, Columbia Univerfity Prefs).
1 Alles von Bertram Dobell Veröffentlichte erſcheint im Selbſtverlag: 77, Charing
Croſs Road, London W. C.
2 Die weniger beachteten Dichter des ſpäteren 17. Jahrhunderts find auch feit jeher
ein Spezialgegenſtand der „Wiener Beiträge zur engliſchen Philologie“, herausg. von
16 *
244 | V. Wiffenfdafter.
auch auf andern Gebieten durch reiche editoriale Gaben: fo wird die auf
zehn Bände angelegte Ausgabe der Werke Beaumonts und Fletchers von
A. Glover und A. R. Waller wohl im Gebrauch an Stelle der heute
ſeltenen von Al. Dyce treten 1; die von Waller edierten Werke Matthew
Priors enthalten viel bisher ungedrucktes Material aus des Marquis
v. Bath Longleat Library; James Thomſon, der Sänger der „Jahres-
zeiten“, hat faſt gleichzeitig in dieſer Sammlung eine biographiſch eingeleitete
Geſamtausgabe und in der „Paläſtra“ (Berlin, Mayer u. Müller) eine
höchſt gewiſſenhafte kritiſche Ausgabe der Seasons erhalten.
Würdig rivaliſiert die Oxforder Univerſitätspreſſe mit der ihrer Schweſter⸗
univerſität. Neben einer vortrefflich redigierten Tudor and Stuart Li-
brary — welche uns Neudrucke eliſabethaniſcher Kurioſa wie Howells
Devises (1581) gebracht hat — erhalten wir aus Oxford vor allem philo⸗
logiſch gediegene Ausgaben moderner Klaſſiker der engliſchen Poeſie, Shelley?
und Wordsworth (herausg,. von Th. Hutchinſon), John Keats (herausg.
von E. de Selincourt. London, Methuen), William Blake (herausg. von
Sampſon⸗ Raleigh), — und daß unter dem belebenden Einfluß Profeſſor
W. Raleighs das Studium des eliſabethaniſchen Dramas in Oxford an
Intenſität zunimmt, beweiſt die handliche und gediegene Ausgabe von
14 pſeudo⸗-ſhakeſpeariſchen Dramen durch C. F. Tucker Brooke (Univerfity
Preſs).
Auf eine Geſchichte der neueſten engliſchen Literatur, zu welcher
der dritte Band von Chambers’ Cyclopedia of English Literature in
der neuen Ausgabe von D. Patrick (Edinburgh 1906) manches ſonſt ſchwer
zugängliche Detailmaterial enthält, haben wir lange mit Spannung gewartet;
demnächſt wird ein größeres Werk von Profeſſor Leon Kellner über
die engliſche Literatur des viktorianiſchen Zeitalters, die Frucht langjähriger
liebevoller Studien, dieſe Lücke ausfüllen. Neben einer ſtreng hiſtoriſchen, die
Bedeutung jeder Erſcheinung in ihrem kulturellen, ſozialen und politiſchen
J. Schipper (Wien, Braumüller), geweſen; im Berichtsjahre ift als Bb XXVIII eine
Monographie — vielleicht die erſte außerhalb Englands — über den intereſſanten Sa⸗
tiriker des Miltonſchen Zeitalters Andrew Marvell (Autor der köſtlichen „Parodie einer
Parodie“: The Rehearsal Transprosed) von Rob. Poſcher erſchienen. — In England
wiederum find „Thomas Stanleys lyriſche Gedichte“ (1641, 1651, 1657) von L. J. Guiney
„entdeckt“ und herausgegeben worden (Hull, Tutin).
1 Gleichzeitig erſcheint übrigens bei Bell u. Sons in London eine zwölfbändige
Variorum Edition dieſer Dichter von A. H. Bullen, welche hinter der textlichen Vor⸗
trefflichkeit der Wallerſchen ſchon durch ihre moderniſierte Schreibung zurückſteht, ſie
aber dafür durch ihren reichhaltigen Kommentar wertvoll ergänzt.
1 Die erſte Geſamtausgabe, welche die koſtbaren Shelley⸗Manuſkripte der Bodlei⸗
aniſchen Bibliothek ganz verwertet. Vom Prometheus Unbound iſt die erfte kritiſch e
Ausgabe von R. Ackermann für Hoops' „Engliſche Textbibliothek“ (Nr 13. Heidelberg,
Winter) veranſtaltet worden.
4. Sprachwiſſenſchaft und Literaturgeſchichte. D. Romaniſtik. 245
Milieu würdigenden Darſtellung hat dieſe Arbeit gewiß den großen Vorteil,
Stil und Sprachtechnik der Dichter als wichtige Faktoren in der Entwicklung
der Literatur wie in ihrer Bewertung ins rechte Licht zu ſtellen. In dieſer
Beziehung fehlt es noch ſehr an Einzelunterſuchungen über die modernen
Dichter 1; und doch muß gerade dieſe Seite in der Beſchreibung der Poeſie
notwendig immer ſtärker hervortreten, um Literaturhiſtorie und Literatur⸗
kritik aus dem Schwall vagen Aſthetiſierens, wo fie jedem Dilettanten preis-
gegeben ſind, zu der ihnen gebührenden Stellung einer methodiſch gefeſtigten
Wiſſenſchaft dauernd emporzuheben.
D. Nomaniſtik.
Don Dr R. Beer.
Betrachtet man mit Boeckh und Ritſchl als Ziel der klaſſiſchen Altertums-
wiſſenſchaft die Wiedererweckung des antiken Geiſtes in ſeinen durch zu⸗
verläſſige Zeugniſſe überlieferten Außerungen, ſo iſt die Aufgabe der
romaniſchen Philologie infofern ähnlich, als ſie die Fortentwicklung des
auf lateiniſcher Sprache, römiſcher Literatur und Kultur im weſentlichen
ſich gründenden intellektuellen Beſitzes der romaniſchen Völker gleichfalls
aus vielhundertjähriger Überlieferung wieder zu erfaſſen hat. Das For⸗
ſchungsgebiet der romaniſchen Philologie iſt aber erheblich größer, da
es ſich auch auf die zeitgenöſſiſche Entwicklung von Sprache und Schrift⸗
tum der romaniſchen Länder ſamt den einſchlägigen Wechſelwirkungen er⸗
ſtreckt, alſo gewiſſermaßen ein Mitleben mit gleichzeitigen Erſcheinungen
erfordert, und zwar durchweg auf Grund wiſſenſchaftlicher, durch metho⸗
diſche Forſchung gewonnener Erkenntnis. Auch in territorialer Beziehung
iſt ihr Gebiet ein viel ausgedehnteres als das des orbis antiquus. Nicht
bloß die romaniſchen Sprachen und Mundarten des europäiſchen Kontinents
kommen in Betracht, ſondern auch ihre Ableger in weit ausgedehnten, zum
Teil ſchon vor Jahrhunderten koloniſierten Ländern anderer Weltteile, ſo
das Spaniſche in Mejiko und Chile, das Franzöſiſche in Kanada, das
Portugieſiſche in Braſilien, ferner auch gewiſſe, durch Miſchung des Idioms
der Einwohner in den koloniſierten Gebieten entſtandene Sprachen, wie das
Negerfranzöſiſche in Louiſiana, das Malaioportugieſiſche in Batavia, ſo
daß das Arbeitsfeld der romaniſchen Philologie buchſtäblich genommen den
ganzen Erdball umſpannt. In den europäiſchen Heimatsgebieten der
romaniſchen Sprachen, des Italieniſchen, Provenzaliſchen, Franzöſiſchen,
1 Auf wie unſicherem Gebiete wir uns hier auch in methodiſcher Beziehung noch
immer bewegen, zeigt z. B. der äußerſt anregende Aufſatz von R. M. Meyer über
„Engliſche und deutſche Dichterfprache” im 120. Bande des „Archiv für das Studium
der neueren Sprachen“ (Braunſchweig, Weſtermann) .
246 V. Wiſſenſchaften.
Spaniſchen, Portugieſiſchen, Katalaniſchen und Rumäniſchen, haben das in
ungeahnter Fülle zuſtrömende neue Material ſprachlicher Erſcheinungen und
die verfeinerte Methode linguiſtiſcher Unterſuchung gerade in der letzten Zeit
die philologiſche Forſchung außerordentlich angeregt und befruchtet, nament-
lich auf dem Gebiete des Lautwandels zahlreiche, zum Teil wegeweiſende
Unterſuchungen erſtehen laſſen. Die Erfolge dieſer Forſchungen machen
nunmehr auch hartnäckige Zweifler allmählich verſtummen. Die auf wiffen-
ſchaftlicher Prüfung gegründete Fixierung von Lauten oder Wortformen für
eine beſtimmte Zeit, für einen beſtimmten Ort iſt zum unentbehrlichen Hilfs⸗
mittel nicht nur literariſcher, ſondern auch kulturgeſchichtlicher Erkenntnis
geworden. Die methodiſche Zuſammenfaſſung ſolcher ſprachlicher Phänomene
hat uns Geſetze des Lautwandels feſtlegen, verſchiedene Schichten in einem
beſtimmten Sprachgute erkennen, Entlehnungen nachweiſen, mit einem Worte,
die Sprache als lebendigen Organismus würdigen gelehrt.
Die erſtarkende Überzeugung von dem Werte ftreng wiſſenſchaftlicher
linguiſtiſcher Forſchung hat denn auch im Berichtsjahre greifbare Früchte
getragen und — wir treten hiermit einer der wichtigſten wiſſenſchaftlichen
Unternehmungen des Jahres näher — zur Gründung der Société inter-
nationale de Dialectologie romane geführt. Dieſe Geſellſchaft, auf An⸗
regung Bernh. Schädels (Halle a. S.) ins Leben gerufen, hat bereits eine
Reihe von Beobachtungs- und Arbeitsgebieten in Italien, in der Schweiz,
in Frankreich, Kanada, Belgien, in der Provence, in Katalonien, in dem
kaſtiliſchen Spanien, in Portugal, Dalmatien und Albanien uſw. konſtituiert,
innerhalb dieſer größeren Gebiete, den dialektiſchen Verhältniſſen Rechnung
tragend, engere Diſtrikte umſchrieben, ſo in Italien u. a. den venezianiſchen,
lombardiſchen, ſardiſchen und korſiſchen, in der Schweiz die Kantone Bern,
Waadt, Genf, Wallis, Neuenburg und Freiburg. In jedem dieſer Diſtrikte,
die ſich dem Plan der Geſellſchaft gemäß als Obſervatorien darſtellen, ſind
ſpezielle Referenten an der Arbeit, ihre Beobachtungen zu ſammeln und in
der neugegründeten Zeitſchrift, der Revue de Dialectologie romane, deren
erſtes Heft (ſamt Bulletin) eben ausgegeben wurde (Halle a. S., Sekretariat
der Société), niederzulegen.
So unerläßlich es ſchien, das außerordentlich große Forſchungsgebiet
der romanischen Philologie zu ſkizzieren, um die Hauptrichtungen wiſſen⸗
ſchaftlicher Arbeit auf dieſem Gebiete kennzeichnen zu können, ebenſo not⸗
wendig iſt angeſichts der Fülle dieſer Arbeit äußerſte Knappheit in der hier
folgenden Jahresrückſchau. Sollten nicht wirklich bedeutende, ja führende
Leiſtungen, die im Laufe des Berichtsjahres veröffentlicht wurden, ungebühr⸗
lich vernachläſſigt werden, ſo waren notwendigerweiſe gewiſſe Grenzen zu
ziehen. Demgemäß ſind diesmal nicht bloß die Forſchungen auf dem Ge⸗
biet der außereuropäiſchen Romania ausgeſchieden worden, ſondern auch
das Portugieſiſche, Provenzaliſche und Rumäniſche unberückſichtigt geblieben.
4. Sprachwiſſenſchaft und Literaturgeſchichte. D. Romaniſtik. 247
Auch in dem Geſamtgebiet der Romania iſt gewiſſermaßen ein Querſchnitt
gemacht worden, da über das Vulgärlatein mit ſeinen elementar wichtigen
Beziehungen zum Romaniſchen, anderſeits auch über die moderne literariſche
Produktion in Nachſtehendem nicht berichtet wurde. Auf dieſe Weiſe wurde
es möglich, die Hauptgebiete der philologiſchen Arbeit des Jahres 1908
klarer erkennen und den emſigſten Beſtellern dieſes Arbeitsfeldes die ver-
diente Würdigung angedeihen zu laſſen; hierbei tritt mit aller Deutlichkeit
hervor, daß auch auf dieſen fremden Sprach- und Literaturgebieten gerade
deutſche Forſcher ungemein fruchtbare Arbeit geleiſtet haben, und daß auch
bei zahlreichen Forſchern romaniſcher Nationalität die ſegensreichen An⸗
regungen der deutſchen Schule zur Geltung kommen. Das beweiſen die
bedeutendſten, das Geſamtgebiet der romaniſchen Philologie behandelnden
Werke, die während des Berichtsjahres veröffentlicht wurden. An erſter
Stelle iſt das Buch „Die romaniſchen Literaturen und Sprachen mit Ein⸗
ſchluß des Keltiſchen“ zu nennen, das als Abteilung XI, 1 der großen,
von Paul Hinneberg herausgegebenen Enzyklopädie „Die Kultur der
Gegenwart“ gegen Ende des Jahres erſchien (Leipzig, Teubner). Die An⸗
lage des umfaſſenden Sammelwerkes iſt bekannt, nicht minder auch, daß
es Hinneberg glückte, für die Darſtellung der verſchiedenſten Disziplinen
Kräfte erſten Ranges zu gewinnen. Dies trifft auch für dieſen Band zu.
Die keltiſchen Literaturen im allgemeinen hat Heinr. Zimmer, die einzelnen
keltiſchen Literaturen Kuno Meyer (Iriſch, Gäliſch) und L. Chr. Stern
(die ſchottiſch⸗gäliſche und die Manx⸗Literatur, ferner die kymriſche, korniſche
und bretoniſche Literatur) behandelt. Ob es angezeigt war, die keltiſchen
Sprachen und Literaturen, und zwar in ſo großem Umfang (137 von
470 Seiten), gerade bei den romaniſchen Sprachen und Literaturen zu be⸗
handeln, mag dahingeſtellt bleiben. Dieſer Teil hat für die engliſche Sprache
doch wohl noch größere Bedeutung als für die romaniſchen Idiome, und
umgekehrt iſt für dieſe das germaniſche Element mindeſtens ebenſo wichtig
wie das keltiſche. Wir hätten es lieber geſehen, wenn neben einer kürzer
gefaßten Darſtellung des Keltiſchen auch eine knappe Darſtellung aller
andern Sprachen, die für Wortſchatz und Entwicklung der romaniſchen
Idiome von Bedeutung waren, dem Bande beigegeben worden wäre. Doch
freuen wir uns vor allem des Hauptteiles, in dem Heinr. Morf die
Geſamtliteratur der romaniſchen Sprachen darſtellt. Auch ein kühler Be⸗
urteiler wird dieſe Arbeit als ein Ereignis bezeichnen. Die Geſchichte
mehrerer romaniſchen Literaturen zu ſchreiben iſt ja wiederholt verſucht
worden, doch iſt keiner dieſer Verſuche bisher völlig geglückt. Dem Ver⸗
faſſer der neueſten Geſamtdarſtellung blieb es vorbehalten, das katalaniſche
wie das portugieſiſche, das rumäniſche wie das provenzaliſche Schrifttum
ebenſo gewiſſenhaft zu behandeln wie die große Geſchichte der Weltliteraturen,
und man merkt faſt überall, daß Ergebniſſe teils eigener wiſſenſchaftlicher
248 | V. Wiſſenſchaften.
Forſchung teils der Prüfung der beſten von andern geleiſteten Arbeit zu
lebens voller Einheit abgerundet vorgelegt werden. Die Darſtellung, obwohl
für das große gebildete Publikum geſchrieben, iſt derart durchgearbeitet und
vertieft, daß ſie in vielen Fällen auch der wiſſenſchaftlichen Forſchung als
Grundlage dienen kann. An Originalität in der Erfaſſung der Aufgabe
wird dieſe Literaturgeſchichte der Romania durch Wilhelm Meyer⸗
Lübkes ſich unmittelbar anſchließende, feſſelnde Skizze des Werdens und
Weſens der romaniſchen Sprachen erreicht, wo nicht übertroffen. Einzel⸗
darſtellungen der Grammatik waren natürlich auf einem ſo beſchränkten
Raum (kaum 35 Seiten) ausgeſchloſſen; es galt einen möglichſt hohen
Geſichtspunkt einzunehmen, um das Geſamtgebiet zu überſchauen, und das
mußte dem Verfaſſer der bekannten Grammatik der romaniſchen Sprachen
ſo trefflich wie kaum einem andern gelingen. In ſieben Abſchnitten wird
ein Überblick der Ausdehnung und Einteilung der romaniſchen Sprachen,
das Verhältnis von Lateiniſch und Romaniſch, die Entſtehung romaniſcher
Idiome und ihr Wortſchatz behandelt. Dieſe Einzelaus führungen, die von
Geiſt und umfaſſender Gelehrſamkeit zeugen, ſollte jeder Gebildete leſen;
ſpeziell ſei der Abſchnitt über die Namenskunde hervorgehoben, in dem
Meyer⸗Lübke den Wert der ſprachlichen Unterſuchung der Ortsnamen für
die Kenntnis der Siedlungsgeſchichte an überzeugenden Beiſpielen nachweiſt.
Wenn die romaniſchen Philologen deutſcher Zunge heute im ſtande ſind,
ſo umfaſſende Gebiete quellenmäßig darzuſtellen, ſo danken ſie es nicht in
letzter Linie der vornehmſten Sammelſtätte, welche ihre Wiſſenſchaft in
Deutſchland beſitzt, der nunmehr in ihrem 32. Jahrgang erſchienenen „Zeit⸗
ſchrift für romaniſche Philologie“ (Halle, Niemeyer). Der letzte Jahrgang
bringt neben vielem andern einen Aufſatz M. Bartolis über das Dal⸗
matiniſche, wertvolle Beiträge zu dem Cancioneiro da Ajuda von H. R.
Lang, „ein Kreuzlied von 1245“ von Herm. Suchier, eine Studie
von Oskar Sommer über die altfranzöſiſchen Artusromane, eine lingui-
ſtiſche Spezialunterſuchung über vernice-Veronica von W. Förſter, Epi⸗
legomena H. Schuchardts über Iberiſch und Baskiſch ſowie ſardiſche Ety⸗
mologien von M. L. Wagner. Dieſe keineswegs vollſtändige Überficht
zeigt, nach wie vielen Richtungen die deutſche Schule philologiſcher For⸗
ſchung auf romaniſchem Gebiete ausgreift und wie mannigfaltige An⸗
regungen ſie in ihrem Zentralorgan zu geben weiß. Guſtav Gröber,
welcher die Zeitſchrift ſeit einem Menſchenalter herausgibt und ſich allein
ſchon hierdurch um ſeine Wiſſenſchaft unvergängliche Verdienſte erworben
hat, bietet aber noch mehr. Unter feiner Leitung erſchienen im Berichts-
jahre als Supplementhefte der „Zeitſchrift“ (in demſelben Verlage) zwei
Jahrgänge der romaniſchen „Bibliographie“ (für 1905 und 1906), in ihrer
Zuverläſſigkeit nicht leicht zu übertreffende Repertorien, die nicht bloß die
elbſtändigen Werke mit ihren Rezenſionen, ſondern auch die wichtigſten
4. Sprachwiſſenſchaft und Literaturgeſchichte. D. Romaniſtik. 249
Zeitſchriftenaufſätze auf dem Geſamtgebiete der Romania verzeichnen und
ein zuverläſſiges Bild der wiſſenſchaftlichen Jahresarbeit liefern. Über die
gleichfalls von Gröber herausgegebenen „Beihefte zur Zeitſchrift für roma⸗
niſche Philologie“, von denen im Berichtsjahre nicht weniger als vier er-
ſchienen, wird noch zu ſprechen ſein.
Die Vielſeitigkeit der Zeitſchrift Gröbers ebenſo wie des auf literar⸗
hiſtoriſchem Gebiete gleich wichtigen, nunmehr in 120 Bänden vorliegenden
„Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen“ (be⸗
gründet von Ludwig Herrig, jetzt von A. Brandl und H. Morf heraus⸗
gegeben. Braunſchweig, Weſtermann), ihr weites Ausgreifen nach verſchie⸗
denen Richtungen in faſt durchwegs gediegenen Darbietungen, tritt be⸗
ſonders durch den Vergleich mit den beiden franzöſiſchen Fachzeitſchriften,
der Romania (Paris, Champion) und der Revue des langues romanes
(Montpellier, Société des langues romanes) hervor. Beide enthalten auch
diesmal treffliche Beiträge, beſchränken ſich aber doch mehr auf heimiſches
Gut, und der für mittelalterliche Geographie und Kosmographie aufſchluß⸗
reiche Aufſatz von Francesco Lo Parco (in der Romania), II Pe-
trarca e gli antipodi etnografici, macht gewiſſermaßen eine Ausnahme.
Dagegen ſuchen gute und raſch gelieferte Beſprechungen und Inhalts⸗
angaben von Publikationen, die auf dem Geſamtgebiet der romaniſchen
Philologie erſcheinen, in beiden franzöſiſchen Zeitſchriften den gekennzeich-
neten Mangel nach einer Seite hin wieder auszugleichen. Sehr An⸗
erkennenswertes leiſtet auf dem Gebiete raſcher Orientierung die 1908 ge⸗
gründete, unter der Leitung von Guido Manacorda in Catania erſcheinende
Zeitſchrift Studi di Filologia moderna; außer ſchätzenswerten größeren
Beiträgen liefert fie nützliche Überfichten über die einfchlägigen Erſcheinungen,
und am Schluſſe des Jahrganges erſchien als Anhang eine Bibliografia
sistematica internazionale dei piü notevoli scritti di lingue e letterature
moderne pubblicati entro il 1908. Auf dieſe Bibliographie fei hier um jo
nachdrücklicher hingewieſen, als dieſe Überficht in einzelnen Teilen das hier
behandelte Material anführt, natürlich auch, weil ſie in weiteren Grenzen
gezogen, unſere Ausführungen bibliographiſch ergänzt.
Dem in letzter Zeit ſich immer dringender geltend machenden Bedürfnis
nach raſcher, fachkundiger Orientierung über die Fortſchritte der wiſſenſchaft⸗
lichen Forſchung auf dem ungeheuer ausgedehnten Gebiete kommt der ſeit
Jahren von Karl Vollmöller in verdienſtlichſter Weiſe geleitete und
unter Mitwirkung von mehr als hundert Fachgenoſſen herausgegebene „Kri⸗
tiſche Jahresbericht über die Fortſchritte der romaniſchen Philologie“ (Er-
langen, Junge) entgegen (1908 erſchien der Bericht über 1904). Eng
umſchriebene Fächer ſind durch erprobte Referenten vertreten, auch Grenz⸗
gebiete, wie Volkskunde, Kultur und Kunſtgeſchichte, find berückſichtigt;
ebenſo iſt für Information über die Neuerſcheinungen auf dem Gebiete der
250 V. Wiſſenſchaften.
modernſprachlichen Pädagogik durch einen beſondern Anhang geſorgt worden.
Gleich Gröber iſt Vollmöller bereits ſeit Jahren mit Erfolg darum bemüht,
für Studien und Ausgaben auf dem Gebiete der romaniſchen Philologie
Sammelſtätten zu bieten; davon zeugen zunächſt die bereits in 23 Bänden
vorliegenden, auch in dem Berichtsjahre eine ſtattliche Anzahl gehaltvoller
Aufſätze vorlegenden „Romaniſchen Forſchungen“, in denen neben erſten
Verſuchen jüngerer Kräfte auch Aufſätze erprobter Meiſter (ſo Gottfr. Baiſt,
J. Cornu) Aufnahme fanden. Eine jüngere Schöpfung Vollmöllers iſt
die „Gefellſchaft für romaniſche Literatur“ (Halle, Niemeyer), welche ſeit
1903 in jedem Verwaltungsjahr eine Anzahl von Texten mit linguiſtiſchen
und literarhiſtoriſchen Einleitungen den Mitgliedern zur Verfügung ſtellt.
Als Zeichen der Anerkennung für Vollmöllers hervorragende Verdienſte um
die Förderung romaniſcher Forſchung wurde ihm anläßlich ſeines 60. Ge⸗
burtstages eine wertvolle literariſche Gabe gewidmet: unter der Redaktion
von Karl Reuſchel und Karl Gruber erſchienen „Philologiſche und
volkskundliche Arbeiten, Karl Vollmöller zum 16. Oktober 1908 dargeboten“
(Erlangen, Junge), und zwar von einer größeren Anzahl von Gelehrten,
die ſich zum Teil ſeit Jahren mit Vollmöller zu gemeinſamer Arbeit zu⸗
ſammengefunden hatten, ſo Gottfr. Baiſt, H. Schneegans, Edm.
Stengel, Herm. Suchier, Bernh. Schädel. Dem Intereſſe, welches
Vollmöller auch der Volkskunde und den Realien entgegenbringt, entſpricht
es, daß ſich auch dieſes Gebiet betreffende Aufſätze in der Feſtſchrift finden,
darunter einer von Hofrat Dr med. Max Hoefler (Bad Tölz), der die
Geſchichte des „Weckens“ (Strietzels) auf Grund einer erſtaunlich reichen,
durch Illuſtrationen ſinnfällig vorgeführten Materials behandelt.
Außer den Beiheften zu Gröbers „Zeitſchrift“ und Vollmöllers „Ro⸗
maniſchen Forſchungen“ haben auch andere deutſche Serienpublikationen,
ſo die unter der Leitung von H. Breymann und J. Schick heraus⸗
gegebenen „Münchener Beiträge zur romaniſchen und engliſchen Philo-
logie“ (Leipzig, Deichert Nachf.) und die „Romaniſche Bibliothek“ (Halle,
Niemeyer) willkommene Fortſetzung erfahren. Hierzu tritt noch eine der
wichtigſten Erſcheinungen, die von Wilh. Meyer⸗Lübke herausgegebene
„Sammlung romaniſcher Elementar- und Handbücher“ (Heidelberg, Winter),
von denen zwei, gleichfalls 1908 erſchienene Teile im folgenden ſpezielle
Beſprechung finden werden. Sehr energiſch wird auch an der Fortſetzung
der von Gröber im Verlage von Heitz u. Mündel in Straßburg heraus-
gegebenen Bibliotheca Romanica gearbeitet, die in einzelnen Bändchen
Meiſterwerke der franzöſiſchen, italieniſchen, ſpaniſchen und portugieſiſchen
Literatur in gut gedruckten, wohlfeilen Ausgaben liefert (1908 u. a.: Cer-
vantes Novelas, Gamde3 Lusiadas, Petrarcas Trionfi, Chanson de Roland).
Auf dieſe nicht genug zu ſchätzende Tätigkeit der deutſchen Führer auf
dem Gebiete der romaniſchen Philologie wird wohl zu achten ſein, mit
4. Sprachwiſſenſchaft und Literaturgeſchichte. D. Romaniſtik. 251
beſonderer Aufmerkſamkeit hier, wo es ſich um Erfaſſung der wiſſenſchaft⸗
lichen Arbeit auf einem beſtimmten Gebiete in dem internationalen Kultur⸗
leben handelt. Die erwähnten zahlreichen und intenſiv geförderten Samm⸗
lungen zeigen, daß gerade in Deutſchland bei Erforſchung fremden geiſtigen
Gutes an verſchiedenen Stellen die Möglichkeit geſchaffen wird, wertvolle
Denkmäler veröffentlichen und die Forſcher ſelbſt zu Worte kommen zu
laſſen. England, das hier zunächſt in Betracht kommt, vermag in ſolchem
Wettbewerb nicht zu beſtehen, von flawiſchen Ländern ganz zu fchweigen.
Daß die in dieſen Sammlungen ſo zahlreich gebotenen Arbeiten auch an
Qualität den an deutſche Gründlichkeit geſtellten Forderungen entſprechen,
beweiſen in erſter Linie die eben genannten von W. Meyer⸗Lübke heraus⸗
gegebenen Elementarbücher. Der Herausgeber ſelbſt hat ſeiner vor kurzem
in dieſer Sammlung veröffentlichten „Einführung in das Studium der
romaniſchen Sprachwiſſenſchaft“ raſch den erſten Teil (Laut- und Flexions⸗
lehre) einer „Hiſtoriſchen Grammatik der franzöſiſchen Sprache“ nachfolgen
laſſen. Es iſt wiederholt der Wunſch geäußert worden, daß der Verfaſſer
der heute die Grundlage für linguiſtiſche Forſchungen abgebenden vier⸗
bändigen Grammatik der romaniſchen Sprachen das franzöſiſche Gebiet ge⸗
ſondert und ſelbſtändig behandle, und dieſer Wunſch iſt in einer den Er⸗
wartungen entſprechenden Weiſe erfüllt worden. Meyer⸗Lübke iſt, wie
vorauszuſehen war, ſowohl im Aufbau ſeines Lehrgebäudes wie auch in
den Einzelheiten eigene Wege gegangen. Seine Abſicht iſt es, daß die
Studierenden „die Kräfte kennen lernen, die die Entwicklung der Sprache
vom Latein durch die mittelalterliche Periode hindurch zum Neufranzöſiſchen
beherrſchen; daß ſie die inneren Zuſammenhänge zwiſchen den einzelnen
Erſcheinungen erkennen; daß ihnen die heutige Sprache als ein organiſch
Gewordenes erſcheine, deſſen Werdegang ſie, ſoweit es der gegenwärtige
Stand unſeres Wiſſens geſtattet, überſchauen“. Dieſes Leitmotiv geſtattet
keine umfangreiche oder gar nach dem Ausmaß unſeres heutigen Wiſſens
erſchöpfende Materialienſammlung. Es fehlt in Meyer⸗Lübkes franzöſiſcher
Grammatik auch eine zuſammenhängende Darſtellung des Wortſchatzes, die
Einzelcharakteriſierung der älteſten Denkmäler einſchließlich der Gloſſen, auch
der Dialekte. Das wird allen denjenigen als Mangel erſcheinen, die über⸗
haupt ungern vermiſſen, was ein auf hoher Warte ſtehender Meiſter weg⸗
läßt, obwohl es innerhalb des geplanten Rahmens für die Behandlung
wohl zuläſſig geweſen wäre. Doch wußte der Verfaſſer nach anderer Seite
hin zu entſchädigen. Wie er in der eigentlichen Darſtellung ſelbſt, ſtatt
ſich in die Mitteilung eines unabſehbaren Materials zu verlieren, das
ſpeziell Bezeichnende hervorhebt und (auch durch geſchickte typographiſche
Anordnung) näherrückt, ſo hat er ſtatt ſyſtematiſcher Darſtellung des Wort⸗
ſchatzes eine kurze, lichtvolle Geſchichte der Sprache (und der Orthographie)
geboten, die älteſten Denkmäler treffend in einer auch literarhiſtoriſch
252 V. Wiſſenſchaften.
beachtenswerten Weiſe gekennzeichnet, ſowie vielfach Gebiete der Grammatik
geftreift, die unter feiner Behandlung fic) zum anregenden Forſchungsfeld
geſtalten, wie z. B. die Stellung des Wortes im Satze (unter den Vor⸗
bemerkungen S. 39). Überhaupt gehört es zum Gepräge dieſer linguiſtiſch
wohl bedeutendſten Erſcheinung des Berichtsjahres, daß ſich in allen Teilen
eine Fülle der feinſten Beobachtungen verſtreut findet, die ſicherlich fruchtbar
anregen werden.
Neben Meyer⸗Lübke hat ſich ein anderer hervorragender Forſcher, einer
der Altmeiſter der romaniſchen Philologie, Adolf Tobler, mit zwei
Gaben eingeſtellt, mit der dritten (in 2. Auflage ausgegebenen) und der
vierten Reihe der „Vermiſchten Beiträge zur franzöſiſchen Grammatik“
(Leipzig, Hirzel). Man kennt Toblers Art, in dieſen Beiträgen zu lehren.
Zumeiſt wird ein Wortgefüge oder ein Satz an die Spitze geſtellt und als
Ausgangspunkt benützt, um den betreffenden Ausdruck an der Hand reichen
Belegmaterials in überzeugender Weiſe ſyntaktiſch zu erläutern, hierbei den
Sprachgeiſt in ſeinen zarteſten Regungen zu erfaſſen. Als willkommene
Beigabe zur „dritten Reihe“ erſcheint Toblers 1890 gehaltene Rektorats-
rede, in welcher der Meiſter für die Notwendigkeit wiſſenſchaftlichen Be
triebes der romaniſchen Philologie an deutſchen Hochſchulen mit Wärme
eintritt, eine Anſchauung, die mit ſchmerzlicher Empfindung, ja mit Bitter-
keit vermiſcht, auch in ſeinen Vorreden durchklingt. Das Loſungswort weiter
Kreiſe ſei: die Wiſſenſchaft muß umkehren — „im Sinne vieler — vor den
Türen der Lehrer“. Sammlungen und Arbeiten, wie die eben beſprochenen,
ſind das beſte Mittel, die beſorgten Führer der Wiſſenſchaft zu beruhigen:
ernſte romaniſche Sprachforſchung fühlt ſich, wie dieſe Beiſpiele zeigen, an
deutſchen Hochſchulen gar wohl zu Hauſe.
Zuſammenfaſſende wiſſenſchaftliche Darſtellungen auf dem Gebiete der
franzöſiſchen Grammatik, fei es der Formen- oder Satzlehre, von bleibend
förderndem Wert, ſind ſeitens franzöſiſcher Forſcher im Berichtsjahre nicht
geliefert worden; von der trefflichen Grammaire historique de la langue
francaise par Kr. Nyrop (Kopenhagen, Nordisk Forlag) gelangte der
dritte, die Wortbildung — unter beſonderer Berückſichtigung der Neu⸗
prägungen — behandelnde Band zur Ausgabe. Mit beſonderer Freude
ſtellt man feſt, daß das monumentale Werk des Atlas linguistique de la
France wieder um zwei Lieferungen (Fasz. 31 u. 32) bereichert wurde, in
denen 175 Wörter oder kleine Wortgruppen auf dem geſamten, in viele
eng begrenzte Gebiete eingeteilten Terrain Frankreichs phonetiſch getreu
wiedergegeben erſcheinen: jo vingt- et- un, qu’ils aillent, qu'ils aient, auch
gelehrte Bildungen wie Eresipele uſw. (Paris, Champion). Wie das in
dem Atlas aufgeſpeicherte ſprachgeographiſche Rohmaterial methodiſch für
die linguiſtiſche und kulturgeſchichtliche Forſchung zu nützen ſei, hatte Karl
Jaberg in einem bereits vor einiger Zeit gehaltenen Vortrag gezeigt, der
4. Sprachwiſſenſchaft und Literaturgeſchichte. D. Romaniſtik. 253
jetzt unter dem Titel „Sprachgeographie. Beitrag zum Verſtändnis des
Atlas linguistique de la France“ mit 14 kolorierten Tafeln bei Sauer-
länder in Aarau erſchien. Der mundartliche Wortſchatz des Departements
Maine -et⸗Loire iſt von A. J. Verrier und R. Onillon in dem zwei
ſtarke Bände füllenden Glossaire étymologique et historique des patois
et des parlers d' Anjou (Angers, Germain u. G. Graffin) eingehend dar-
geſtellt und erläutert worden. Im Anſchluß hieran ſeien Unterſuchungen
erwähnt, die, obwohl ein ſprachlich fremdes Grenzgebiet betreffend, doch durch
den Inhalt volkstümlicher Texte ſich dem franzöſiſchen Schrifttum anſchließen;
wir meinen die von Rud. Trebitſch (Wien) für die „Phonogramm⸗
Archiv⸗Kommiſſion der kaiſerl. Akademie der Wiſſenſchaften“ ausgeführten
phonographiſchen Aufnahmen der bretoniſchen Sprache. Über die Aufnahme
verſchiedener hierher gehöriger Dialekte und die in den Apparat hinein-
geſungenen oder geſprochenen Volkslieder und volkstümlichen Erzählungen
der phonographierten Perſonen bietet der „Anzeiger der kaiſerlichen Akademie
der Wiſſenſchaften in Wien“ (1908, Nr 26) einen anziehenden Bericht.
Auch auf literarhiſtoriſchem Gebiete ſind von franzöſiſchen Forſchern
größere, das geſamte nationale Schrifttum behandelnde Darſtellungen in der
letzten Jahren nicht geboten worden; die 1899 abgeſchloſſene Histoire de
la Langue et Littérature francaise, die unter der Mitwirkung zahlreichen
namhafter Fachgelehrter unter der Leitung von Petit de Julleville erſchien,
ſcheint alſo dem Bedürfnis nach einer Geſamtdarſtellung der franzöſiſchen
Literatur noch zu genügen. Zahlreich dagegen ſind Sonderdarſtellungen,
die kleinere Gebiete der Literaturgeſchichte und einzelne Schriftſteller betreffen,
namentlich iſt die Publikation von Texten dank der erſtaunlichen Fülle hand-
ſchriftlichen und gedruckten Quellenmaterials, das die franzöſiſchen Samm⸗
lungen bergen und vermitteln, in anerkennenswerter Weiſe gefördert worden.
Stehen die für 1908 beſtimmten Publikationen der Société des anciens
Textes francais auch vorläufig noch aus, jo hat ſich dafür die erſt kürzlich
gegründete Société des Textes francais modernes (Paris, Cornély u. Cie.)
im Berichtsjahre gleich mit drei wertvollen Lieferungen eingeſtellt, und zwar
mit kritiſchen Ausgaben von Fontenelles Histoire des Oracles, Jean
de Schelandres Tyr et Sidon (mit ausführlicher Einleitung von Jules
Haraszti) und der Sonette von Joachim du Bellay. Bemerkenswerte
Rührigkeit entfaltet auch die Leitung der großen Sammlung Les grands
Ecrivains de la France (Paris, Hachette); allein in dem abgelaufenen Jahre
find fünf Bände: Bd XX u. XXI der Mémoires Saint⸗Simons (1710),
fowie Bd I-III der kritiſch revidierten Neuausgabe der (Euvres Pas-
cals erſchienen.
Von den früher erwähnten Einzeldarſtellungen ſeien hier nur einige
bezeichnende Erſcheinungen genannt, bezeichnend inſofern, als ſie dartun,
daß faſt jedes Gebiet der Geſchichte franzöſiſchen Schrifttums bearbeitet
254 V. Wiſſenſchaften.
wurde. Sehr wichtige Unterſuchungen über verſchiedene Stoffe der nationalen
Heldenſage legte Joſ. Bedier in dem feinem Meiſter und Freunde Her-
mann Suchier gewidmeten Werke Les Légendes épiques. Recherches sur
la formation des chansons de geste (Paris, Champion) nieder, von
denen der erſte Band, Le Cycle de Guillaume d' Orange, und der zweite,
Les Légendes épiques (u. a. Girard de Rouſſillon, Ogier de Danemark,
Raoul de Cambrai), bereits erſchienen find; ein dritter Band, der u. a. auch
die Rolandsſage behandeln wird, ſoll bald nachfolgen. Von einem gewiſſen
Realismus bei der Unterſuchung geleitet, hierbei vielfach den bereits von
Ph. A. Becker gegebenen Hinweiſen folgend oder ſich mit ihnen berührend,
ſucht Bedier den hiſtoriſchen Kern der Sagen bloßzulegen, das lokale Weiter⸗
greifen der epiſchen Stoffe zu ſchildern, die Ortlichkeiten, die in ihnen eine
Rolle ſpielen, zu beſtimmen. — Eine anregende Sonderunterſuchung lieferte
Leo Jordan in feiner Schrift „Über Boeve de Hanſtone“ (14. Beiheft
zur Zeitſchrift für romaniſche Philologie), in der die Hauptzüge der Sage
vom Helden Boeve (mit denen des Hamlet folkloriſtiſch verwandt) geprüft
werden. Einen Ausſchnitt aus einer umfangreichen in Vorbereitung be-
findlichen Studie über die Gralſage legt O. Sommer (17. Beiheft, ebd.)
unter dem Titel „Meſſire Robert de Borron und der Verfaſſer des Didot
Perceval“ vor. — In einigen, der Interpretation nützliche Materialien an
die Hand gebenden Arbeiten werden gewiſſe Gebiete der älteren franzöſiſchen
Kulturgeſchichte auf Grund zahlreicher Quellenwerke behandelt. Dazu ge⸗
hört die Arbeit von Helene Jacobius, „Die Erziehung der Edelfräuleins
im alten Frankreich“ (16. Beiheft, ebd.), ſowie, etwas elementarer gehalten,
die Zuſammenſtellung von Ferd. Fellinger über „Das Kind in der alt-
franzöſiſchen Literatur“ (Göttingen, Vandenhoeck u. Rupprecht). Ein bisher
wenig bebautes Gebiet der franzöſiſchen Proſaerzählung behandelt Guſta ve
Reynier in dem gründlich, unter reicher Quellenbenützung gearbeiteten
Buche Le Roman sentimental avant l’Astree (Paris, Colin). — Die
Meiſter der Hochblüte des franzöſiſchen Schrifttums haben gleichfalls ein ⸗
gehende Behandlung gefunden. Zu nennen iſt vor allem das zweibändige
Werk über Moliere von Eugene Rigal (Paris, Hachette), welcher das
Hauptaugenmerk auf unbefangene Kritik der eingehend analyſierten Dramen
legt, wobei der Zuſammenhang gewiſſer Vorwürfe mit der urwüchſig volts
tümlichen Farce betont wird. Aus einem Zyklus von Vorleſungen iſt das
Buch von Jules Lemaitre über „Jean Racine“ (Paris, Calmann-Levy)
hervorgegangen. Einen für die Verwendung dramatiſcher Motive wie auch
für die Sittengeſchichte bemerkenswerten Beitrag hat Ernſt Friedrich in
ſeinem umfangreichen Buche „Die Magie im franzöſiſchen Theater des 16. und
17. Jahrhunderts“ (Leipzig, Deichert) geliefert. Die dichteriſche Veranlagung
und Eigenart des Hauptvertreters der franzöſiſchen Fabeldichtung ſucht Jean
Paul Nayrac in ſeinem Buch Lafontaine. Ses facultés psychiques etc.
4. Sprachwiſſenſchaft und Literaturgeſchichte. D. Romaniſtik. 255
(Paris, Paulin) zu entwickeln; den Mittelpunkt einer succursale de ! Hotel
de Rambouillet hat in dem Buche von Emile Magne, Madame de la
Suze (Henriette de Coligny) et la Société précieuse, eine eingehende, ſich
vielfach auf bisher unveröffentlichte Akten ſtützende Biographie erhalten. Unter
dem Titel Jean Jacques Rousseau. De Geneve à I' Hermitage (Paris)
bietet Louis Ducros einen wichtigen Teil der Biographie des homme
et écrivain Rousseau unter ftändiger aufmerkſamer Kritik der „Bekennt⸗
niſſe“. Hieran ſchließen ſich die Schriften über die Romantik und die
Romantiker in Frankreich, denen auch in dieſem Jahre inner- und außer⸗
halb Frankreichs große Aufmerkſamkeit geſchenkt wurde. Unter den gabl-
reichen hierher gehörigen Arbeiten nehmen Léon Sches, eines raſtlos
arbeitenden Forſchers, Etudes d'Histoire romantique. Le Cénacle de la
Muse francaise, 1823—1827, Documents inédits (Paris, Mercure de
France) die erſte Stelle ein. Durch gewiſſenhafte Ausnützung bisher un⸗
zugänglicher Korreſpondenzen (Briefe von Alexandre Soumet, Sophie Gay,
Jules de Reffeguier) und anderer Quellen hat es der Verfaſſer verſtanden,
die Strömungen in der erſten Periode der romantischen Bewegung in Frank
reich und ihre Hauptvertreter ſcharf zu kennzeichnen. Als eine Art zeitlicher
und entwicklungsgeſchichtlicher Ergänzung dieſes Werkes erſchien die Studie
von Michel Salomon, Charles Nodier et le groupe romantique
d’aprös des documents inédits (Paris, Perrin). Auf deutſchem Boden
hat Walther Küchler in der Schrift „Franzöſiſche Romantik“ (Heidel-
berg, Winter) die Führer der Bewegung in klaren, abgerundeten Bildern
geſchildert. — Unter dem etwas hochtrabenden Titel Histoire de I' Histoire
des grands et des petits Théatres de Paris pendant la Révolution, le
Consulat et l’Empire. Theätre de „Monsieur“ (Paris, Jorel) entwirft
Louis Pericaud eine anziehende Darſtellung der Gründung und der
Geſchicke eines kleinen Schauſpielhauſes während bewegter Zeit. „Mon⸗
ſieur“ iſt niemand anderer als der jüngere Bruder Ludwigs XVI., der
ſpätere Ludwig XVIII. Ein eifriger Vermittler in den erwachten geiſtigen
Beziehungen zwiſchen Deutſchland und Frankreich wird in Louis Witt⸗
mers Charles de Villers 1765 — 1815 Un intermédiaire entre la France
et Allemagne et un précurseur de Mme de Staél (Genf, Georg,
u. Paris, Hachette) gewürdigt. Villers hat u. a. verſucht, die Ideen Kants
und Luthers bei den Franzoſen bekannt zu machen. Reiches Material zur
Beurteilung literar- und kulturgeſchichtlich wichtiger Ereigniſſe ijt durch die
Veröffentlichung des Briefwechſels Stendhals: Correspondance (1800 à
1842) publi6e par Ad. Paupe et P. A. Chéramy. Préface de Maurice
Barrés (Paris, Boſſe), zugänglich gemacht worden; für die zweite Hälfte
des 19. Jahrhunderts iſt die Fortſetzung der Publikation der Korreſpondenz
E. Zolas (Les Lettres et les Arts. Paris, Charpentier) von gleicher
Wichtigkeit. Unter den zahlreichen Arbeiten, die ſich mit den Schriftſtellern
256 V. Wiſſenſchaften.
und der literariſchen Bewegung der neueſten Zeit beſchäftigen, iſt die Samm⸗
lung der Aufſätze Edmond Birés, die unter dem Titel Romans et
Romanciers contemporains (Paris, Lamarre) erſchien, mit Ehren zu nennen.
René Doumic hat die gehaltvollen Studien, welche die Zeit von Lamartine
bis Zola umſpannen, nach dem Tode des Verfaſſers herausgegeben. „Einem
der größten Erzähler, die in der Weltliteratur zu finden ſind“, gilt eine
ſehr umfangreiche deutſche Monographie „Guy de Maupaſſant. Sein Leben
und fein Wirken“ von Paul Mahn (Berlin, Fleiſchel).
Anhangsweiſe ſei auch zweier den franzöſiſchen Versbau behandelnden
Schriften gedacht, und zwar der Recherches sur le vers francais au
XV° siecle. Rimes, mötres et strophes von Henri Chatelain (Paris,
Champion), ſowie des für weitere Kreiſe berechneten, ſehr nützlichen Petit
Traité de Versification francaise von Maurice Grammont (Paris,
Colin). Eine anerkennende franzöſiſche Beſprechung des Buches ſchließt mit
den Worten: Malgré ce livre . . . bien des gens continueront à faire
de mauvais vers. Mais il n'y aura vraiment plus d' excuse.
Im vorſtehenden ſind, wie bereits bemerkt, nur gewiſſe, für die Be⸗
arbeitung einzelner Teile linguiſtiſcher und literariſcher Forſchung bezeich⸗
nende Publikationen des Berichtsjahres angeführt worden. Manches zur
Vervollſtändigung dieſes Bildes tragen außer den eingangs erwähnten Zeit⸗
ſchriften allgemeineren Charakters jene Revuen bei, die ſich ſpeziell der fran:
zöſiſchen Sprache und Literatur widmen, ſo u. a. die Revue de Philologie
francaise et provencale (Paris, Bouillon) und die jetzt von D. Behrens
herausgegebene „Zeitſchrift für franzöſiſche Sprache und Literatur“ (Chemnitz,
Gronau).
Derſelbe Hinweis gilt auch für die Fortſchritte, die inner⸗ und außer⸗
halb der Apenniniſchen Halbinſel auf dem Gebiete wiſſenſchaftlicher Erforſchung
italieniſcher Sprache und Literatur in dem Berichtsjahre zu ver⸗
zeichnen ſind. Wer dieſe reiche, vielfach durch die Opferwilligkeit bedeutender
Verlagsfirmen unterſtützte Tätigkeit im einzelnen verfolgen will, muß dies
an der Hand der Bibliographien und Anzeigen der Fachzeitſchriften tun;
unter den italieniſchen traten zu den bereits ſeit einiger Zeit beſtehenden
Revuen von bewährtem Ruf, dem Giornale storico della letteratura ita-
liana, der Rassegna bibliografica und der Rassegna critica della lette-
ratura italiana, in jüngfter Zeit noch die ſchon erwähnten Studi di Filo-
logia moderna mit ihrem willkommenen, allerdings vorwiegend die neuere
Literatur berückſichtigenden Jahresberichte. Aus dieſer emſigen Jahres⸗
arbeit, an der ſich gar oft gerade in Italien der Lokalpatriotismus kleinerer
Städte in rührender Weiſe beteiligt, ragen ſowohl auf linguiſtiſchem wie
auf literarhiſtoriſchem Gebiete einige wichtige Arbeiten hervor.
Einen wertvollen Beitrag zur Geſchichte der italieniſchen Grammatik
liefert Ciro Trabalza in ſeiner Storia della Grammatica italiana
4. Sprachwiſſenſchaft und Literaturgeſchichte. D. Romaniſtik. 257
(Mailand, Hoepli). Die Studie, in vielen Teilen mit anerkennenswerter
Gewiſſenhaftigkeit ausgearbeitet, behandelt grammatikaliſche Verſuche, Theorien,
Lehrgebäude, von den Anfängen bis herauf zu Manzoni, und bringt auch
einen Abdruck eines der älteſten und merkwürdigſten Denkmäler, der Regole
della lingua fiorentina aus einer vatikaniſchen Handſchrift. Gerade für
dieſe Regole ſowie für die früheſten grammatikaliſchen Verſuche auf dem
Gebiete der italieniſchen Vulgärſprache iſt die kleine gehaltvolle Schrift von
Luigi Morandi: Lorenzo il Magnifico, Leonardo da Vinci e la prima
Grammatica italiana. Leonardo e i primi vocabolari (Citta bi Caſtello,
Lapi), von beſonderer Wichtigkeit. Morandi macht es ſehr wahrſcheinlich,
daß die Regole keinen Geringeren als Lorenzo il Magnifico zum Verfaſſer
haben, und ſtellt Leonardo da Vincis Teilnahme an den älteſten Verſuchen
vulgärſprachlicher Vokabulare feſt. Dieſe Ergebniſſe hat übrigens Trabalza
ſelbſt in dem Anhange der eben genannten Storia vollinhaltlich an-
genommen. — Eine der eingehendſten linguiſtiſchen Spezialarbeiten gilt
einem venezianiſch⸗lombardiſch⸗ladiniſchen Miſchdialekt; es iſt die Unterſuchung
„Die Nonsberger Mundart“ (Lautlehre), die Carlo Battiſti in dem
160. Bande der „Sitzungsberichte der philologiſch⸗hiſtoriſchen Klaſſe der kaiſer⸗
lichen Akademie der Wiſſenſchaften in Wien“ veröffentlichte. An G. Aſcolis
und K. v. Ettmayers Forſchungen anknüpfend, bietet der Verfaſſer eine er⸗
ſchöpfende Darſtellung der lautlichen Verhältniſſe des Nonsberger Sprach-
ſchatzes unter der Heranziehung altnonsbergiſcher Texte, insbeſondere auf
Grund ſorgfältigen Abhörens der viva vox der Talbewohner. Ebenſo ein⸗
gehend unterſucht Ludw. Röhrsheim in der Studie „Die Sprache des
Fra Guittone von Arezzo. Lautlehre“ (15. Beiheft zur Zeitſchrift für roman.
Philologie. Halle, Niemeyer) die dialektiſchen Züge (das vulgare muni-
cipale von Arezzo) in der Sprache dieſes dem 13. Jahrhundert angehörenden
italieniſchen Dichters.
Auf dem Gebiete literarhiſtoriſcher Forſchung liegen in Italien, was
große Geſamtdarſtellungen anlangt, die Verhältniſſe ähnlich wie in Frank⸗
reich. Wie die unter der Leitung Petit de Jullevilles herausgegebene
Histoire ſchon ſeit Jahren gewiſſermaßen allein herrſchend geworden, ſo
hat die bei Vallardi in Mailand erſchienene, von den namhafteſten Literatur⸗
hiſtorikern Italiens herausgegebene Storia Letteraria d'Italia, scritta da
una Società di Professori, bie Ausarbeitung einer andern größeren Ge⸗
ſamtdarſtellung des italieniſchen Schrifttums nicht als notwendig erſcheinen
laſſen. Anderſeits iſt man wieder hier wie in Frankreich unabläſſig bemüht,
durch Publikationen neuer Texte oder durch kritiſch geſichtete Ausgaben be⸗
reits bekannter Denkmäler, insbeſondere durch literarhiſtoriſche, bibliogra⸗
phiſche und textkritiſche Unterſuchungen, im einzelnen dem Ausbau der Ge⸗
ſchichte des italieniſchen Schrifttums neues Material zuzuführen. Das Werk
von Annibale Tenneroni Inizii di antiche poesie italiane religiose
Jahrbuch der Zeit- und Kulturgeſchichte. II. 17
258 V. Wiſſenſchaften.
6 morali con prospetto dei codici che le contengono e introduzione
alle Laudi Spirituali (Florenz, Olſchki) ift vorwiegend bibliographiſch regi-
ftrierend, hält aber genau das, was der Titel zuſagt; es ftellt ſich als un⸗
entbehrliches Hilfsmittel für die Durchforſchung des reichen altitalieniſchen
Liederſchatzes dar und iſt namentlich wegen der Analyſe der (allerdings nicht
vollſtändig herangezogenen) handſchriftlichen Quellen dankenswert. Ferner
hat die 1905 erſchienene, mit fein ausgeführten Illuſtrationen geſchmückte
Sammlung: Lirica Italiana antica von Eugenia Levi (ebd.) in der
Lirica Italiana nel Cinquecento e nel Seicento (ebd.) eine gleichfalls vor-
züglich ausgeſtattete Fortſetzung erfahren. Wie in früheren Jahren iſt
auch die Dante-Literatur emſig bereichert worden; eine Überſicht über die
wichtigeren Erſcheinungen liefert wieder das bekannte Giornale Dantesco
diretto da G. L. Passerini (Bd XVI, ebd.; vgl. S. 133 ff). Aus der
großen Zahl der hierher gehörigen Erſcheinungen erwähnen wir neben der
Fortſetzung (Bd II, Tl 1) der Dante⸗Studien Karl Voßlers „Die gött⸗
liche Komödie, Entwicklungsgeſchichte und Erklärung“ (Heidelberg, Winter),
die, wie die erſten Teile, eigenartiges, philoſophiſch⸗evolutioniſtiſches Er⸗
faſſen der Interpretationsaufgabe zeigt, Arturo Farinellis bedeutſames
Werk Dante e la Francia, dall’ età media al secolo di Voltaire (2 Bde.
Mailand, Hoepli). Es iſt eine der dankenswerteſten Schöpfungen, welche
die Dante⸗Forſchung ſeit Jahren geboten hat; der Verfaſſer, ſeit geraumer
Zeit auf dem Gebiete der vergleichenden Literaturgeſchichte als vollwertige
Kraft anerkannt, hat hier in künſtleriſcher Form eine vorzügliche, nach dem
heutigen Stand unſerer Kenntniſſe faſt lückenloſe Darſtellung der Beziehungen
Frankreichs zu Dante geliefert, hierbei, wie zu erwarten war, die Haupt⸗
ſtrömungen der franzöſiſchen Literatur trefflich beleuchtet.
Eine deutſche Ausgabe „Dantes poetiſche Werke. Neu übertragen und
mit Originaltext verſehen“ von Richard Zoozmann in vier Bänden, und
zwar: Bd I-III „Die göttliche Komödie“, Bd IV „Das neue Leben“,
„Gedichte“ (Freiburg, Herder), iſt gleich nach ihrem Erſcheinen von vielen
Seiten warm, ja mit Begeiſterung begrüßt worden. Zoozmann hat mit
Erfolg verſucht, Würde und Glanz des Originals in der Verdeutſchung zu
wahren, möglichſt wortgetreu zu ſein, ſich weder in dunkeln Wendungen zu
verlieren noch in banale Ausdrücke zu verfallen. Sehr willkommen iſt die
gegenüberſtehende Beigabe des Urtextes; die Ausſtattung iſt vortrefflich, und
ſo erſcheint die Hoffnung, daß die neue deutſche Ausgabe dem Dichter in
Deutſchland auch neue Freunde werben werde, gerechtfertigt.
Dem herrlichen Wettgeſang mit der Commedia, den Petrarca erklingen
ließ, iſt von Eugenio N. Chiaradia in dem Buche La Storia del
Canzoniere di F. Petrarca (Bd I, Bologna, Zanichelli) eine ſorgfältige
Unterſuchung mit ſpezieller Berückſichtigung des dramma sentimentale
dieſes Liederbuches zu teil geworden. Auch ſonſt wurden Werke der älteren
4. Sprachwiſſenſchaft und Literaturgeſchichte. D. Romaniſtik. 259
italieniſchen Literatur durch gute Ausgaben und Erläuterungen der Forſchung
zugänglich gemacht, ſo eine Sammlung ſprachlich nicht unwichtiger hagio⸗
graphiſcher Texte, die Wilhelm Friedmann unter dem Titel , Alt
italieniſche Heiligenlegenden“ nach der Handſchrift XXXVIII, 110 der
Biblioteca Nazionale Centrale in Florenz (Bd XIV der Schriften der
Geſellſchaft für romaniſche Literatur) mit wohlerwogenen linguiſtiſchen Er⸗
läuterungen herausgab. Ebenſo ſorgfältig ſind die für die Kulturgeſchichte
der Renaiſſance hervorragend wichtigen Libri della famiglia des Leon Battiſta
Alberti in einer neuen Ausgabe von Girolamo Mancini veröffentlicht
worden (Florenz, Carneſecchi).
Eine ſeit langem gegebene Zuſage hat Erasmo Percopo eingelöst,
indem er die formgewandten Lieder einer kleinen Dichtergröße des eſtenſiſchen
Hofes unter dem Titel I Sonetti faceti di Antonio Cammelli secondo
Y autografo ambrosiano mit Erläuterungen herausgab (Neapel, Jovene).
Zu erwähnen ift ferner die von Ferd. Caftets veranftaltete Erſtausgabe
eines italienifchen Karlsepos, die in den Publications de la Société pour
l’Etude des Langues romanes (BD XXII. Montpellier) unter dem Titel
I Dodici Canti. Epopée romanesque du XVI’ sidcle erſchien. — Der
Schluß des Berichtsjahres brachte uns als eine zwar nicht umfangreiche,
aber intereſſante Gabe die Opere poetiche di Niccold Machiavelli, die
mit guter Einleitung und ſachkundigen Anmerkungen von Giuſeppe
Gigli in Florenz (Succeſſori Le Monnier) herausgegeben wurde. — Wirft
man einen Blick auf den wiederholt erwähnten Jahresbericht, welchen die
Studi di Filologia moderna bringen, ſo wird man gewahr, wie ſich das
gefeſtigte italieniſche Nationalbewußtſein auch in intenſivem Kultus der be⸗
deutenden heimiſchen Schriftſteller der neueren Zeit äußert. So ſind noch
immer Nachklänge der zweihundertjährigen Geburtstagsfeier Carlo Goldonis
zu verzeichnen, unter ihnen als eines der bemerkenswerteſten literariſchen
Ergebniſſe Arnaldo della Torres Saggio di una Bibliografia delle
Opere intorno a Carlo Goldoni (Florenz, Olſchki). Von Goldonis
Opere complete, welche die Stadt Venedig im Jubiläums jahre 1907 in
überaus würdiger Ausſtattung unter der Leitung von G. Ortolani heraus-
zugeben begann, iſt nun der zweite Band (ſechs Luſtſpiele) erſchienen. Einen
guten Einblick, wie weite Kreiſe dieſe eine Feier zog, gewähren die Auf⸗
ſätze in der Rassegna bibliografica (Bd XVI: Le Pubblicazioni del Cen-
tenario Goldoniano). Nicht unerwähnt bleibe auch die warme Würdigung,
welche einer der beſten an deutſchen Univerſitäten wirkenden Goldoni⸗Kenner
dem großen Venezianer Komödiendichter zu teil werden ließ: Carlo Gol-
doni. Nel secondo centenario della sua nascita (1707—1907), von
Edgardo Maddalena (Trieſt, Caprin). Ahnliche nationale Begeiſterung
wendet ſich den neueren literariſchen Größen zu: die Zahl der auch im
Berichtsjahre wieder über Monti, Foscolo, Leopardi, Manzoni, Pellico,
17
260 V. Wiſſenſchaften.
Carducci erſchienenen Schriften und Aufſätze iſt kaum mehr zu überſchauen.
Wo jedoch unter dieſen Sternen noch wertvolles poetiſches Gut zu ſuchen
und zu finden iſt, hat ein deutſcher Forſcher, Karl Voßler, durch ſeine
liebenswürdige Feſtgabe für Fritz Neumann: „Salvatore di Giacomo, ein
neapolitaniſcher Volksdichter in Wort, Bild und Muſik“ (Heidelberg, Winter),
wieder einmal überzeugend nachgewieſen. Durch das Rankenwerk gelehrter
Beobachtungen über die Neapolitaner Mundart und der muſikaliſchen Bei⸗
lagen blickt uns aus dem Buche das kluge und gute Antlitz Di Giacomos
entgegen, den die Volksmuſe zum Liebling erkoren hat. Es lohnte der
Mühe, auch ſeine Sangesbrüder bei ihrer Kunſt aufzuſuchen.
Auf dem Gebiete der ſpaniſchen Sprachforſchung hat uns das Be⸗
richtsjahr eine willkommene Publikation gebracht, Adolf Zauners „Alt⸗
ſpaniſches Elementarbuch“, das in der Reihe der „Grammatiken“ der
„Sammlung romaniſcher Elementar, und Handbücher“ erſchien. Der Ver⸗
faſſer konnte mit Vorteil Baiſts kurze Darſtellung in Gröbers „Grundriß“,
Egidio Gorras bekannte Einführung, insbeſondere auch das bereits in
zweiter Auflage erſchienene Manual elemental de gramätica histörica
espahola von Menéndez Pidal heranziehen; immerhin bleibt ihm das
nicht zu unterſchätzende Verdienſt, das erſte ausführliche, auf modernen
wiſſenſchaftlichen Grundlagen errichtete Lehrgebäude der altſpaniſchen Gram⸗
matik geliefert zu haben. Anerkennenswert iſt die Durcharbeitung und klare
Sichtung des Quellenmaterials, leider verſchwindend klein die Zuſammen⸗
ſtellung älterer als Proben mitgeteilter Texte; dieſer Ubelftand wird aber
bei einer neuen Auflage leicht zu beheben ſein. In Spanien ſelbſt iſt,
abgefehen von dem langſam fortſchreitenden Gran Diccionario de la Lengua
Castellana, das Aniceto de Pages (Barcelona, Ortega) in Lieferungen
herausgibt, auf linguiſtiſchem Gebiet keine nennenswerte Leiſtung zu ver⸗
zeichnen. Die Erforſchung des älteſten Sprachſchatzes anläßlich der Neu⸗
ausgabe des Poema del Cid durch Menendez Pidal iſt in dem erſten
Teil der Geſamtpublikation Cantar de mio Cid. Texto, gramätica y voca-
bulario (Madrid, Bailly⸗Bailliere) enthalten; die Beſprechung dieſes ſehr
wichtigen, wohl bald vollſtändig vorliegenden Werkes bleibt dem nächſt⸗
jährigen Berichte vorbehalten. Mit Anerkennung ſind die Fortſetzungen
von Serienpublikationen älterer Texte zu erwähnen, zunächſt die Nueva
Biblioteca de Autores espafioles, bajo la direcciön de Marcelino
Menéndez y Pelayo (ebd.) ſchon durch ihren Titel darauf hinweiſend,
daß ſie die bekannte Biblioteca Rivadeneyras erſetzen will, die zwei
Menſchenalter hindurch für die meiſten ſpaniſchen Texte leidlich brauch⸗
bare Ausgaben an die Hand gab; binnen wenigen Jahren wurden von
dieſer Nueva Biblioteca zehn ſtarke Bände ausgegeben, als letzter im Be⸗
richtsjahre die von Rodriguez Villa beſorgte Ausgabe der Crönicas
del Gran Capitän (Gonzalo Fernandez de Coͤrdoba), eines Textes, der,
4. Sprachwiſſenſchaft und Literaturgeſchichte. D. Romaniſtik. 261
nicht nur literarhiſtoriſch, ſondern auch kulturgeſchichtlich von Wichtigkeit,
die ſiegreichen Kämpfe Spaniens auf italieniſchem Boden quellenmäßig be⸗
leuchtet. Mit beſonderer Freude dürfen wir auch die Fortſetzung der von
Menendez y Pelayo herausgegebenen Antologia de Poetas Ifricos
castellanos (Madrid, Suceſores de Hernando) verzeichnen, deren 13. Band
die zu erwartende neue Ausgabe der Dichtungen Juan Boſcäns mit einem
glänzend geſchriebenen Estudio preliminar: Boscän y sus obras po6ticas,
einleitet. Es bietet ja dieſe Antologia des bedeutendſten zeitgenöſſiſchen
Literarhiſtorikers Spaniens unter einem allerdings irreführenden Titel in den
Einleitungen eigentlich eine ſpaniſche Literaturgeſchichte, was z. B. nicht
einmal Morf in den Literaturangaben ſeiner S. 247 erwähnten Darſtellung
bemerkt.
Kleinere Aufſätze hat Menendez y Pelayo in der fünften Reihe
feiner Estudios de critica Literaria (Bd CXXXVI der Colecciön de
Escritores castellanos. Madrid, Tipogr. de la Revista de Archivos) ge-
ſammelt erſcheinen laſſen; es find Kabinettſtücke der Würdigung wiſſenſchaft⸗
licher Forſcher und bedeutender Literaten, fo des Philologen Manuel Mila
y Fontanals, den man den ſpaniſchen Diez genannt hat, der Dichter Benito
Perez Galdoͤs, M. de Pereda u. a.; wenn ferner Menendez unter dem
Titel: La doncella Teodor, un cuento de Las Mil y Una Noches, un
libro de cordel y una comedia de Lope de Vega, die berühmte „Don⸗
cella” an fo verſchiedenen Stätten aufſucht, fo kann man ſich ungefähr vor-
ſtellen, welches Licht auf die Geſchichte dieſes Stoffes fällt.
Eine gedrängte Geſamtdarſtellung der Geſchichte des ſpaniſchen Schrifttums
hat E. Merimee in ſeinem Précis d' Histoire de la Littérature espagnole
(Paris, Garnier) geliefert. Dieſe Literaturgeſchichte zeichnet ſich durch ab⸗
gerundete, meiſt auf gute Quellenkenntnis aufgebaute Darſtellung aus. Im
Anſchluß hieran hat E. Pitollet Morceaux choisis de Prosateurs et
de Poètes espagnols (ebd.) herausgegeben, welche fortgeſetzt werden ſollen
und dazu berufen ſind, die ſchwerfällige Anthologie von C. de Ochoa (1886)
in willkommener Weiſe zu erſetzen. Nicht minder freudig iſt es zu begrüßen,
daß James Fitzmaurice⸗Kelly, dem wir die ausführlichſte ſpaniſche
Literaturgeſchichte der jüngſten Zeit verdanken, ſich wieder mit einer Gabe
eingeſtellt und in dem leſenswerten Buche (es iſt eine Sammlung ver⸗
ſchiedener, in Amerika gehaltener Vorträge) Chapters in Spanish Litera-
ture (London, Conſtable u. Co.) einige wichtige Abſchnitte (Cid, Hita,
Juan II., Romancero, Cervantes, Lope de Vega, Calderon) ausführlicher,
als dies ſein Handbuch geſtattete, dargeſtellt hat. Wie Boſcän durch
Menendez y Pelayo, hat ein anderer Lyriker der Hochblüte, Fernando
de Herrera, durch Adolphe Coſter die verdiente eingehende Würdigung
erfahren. Einer Monographie Fernando de Herrera (El divino) 1534 &
1597 (Paris, Champion) iſt eine Auswahl ſeiner Werke unter dem Titel
262 V. Wiſſenſchaften.
Fernando de Herrera, Algunas obras, Edicién erſtica (Paris, Champion)
gefolgt. Damit iſt der bisher etwas vernachläſſigten Forſchung auf dem
Gebiete der ſpaniſchen Lyrik des 16. Jahrhunderts dankenswerte Anregung
gegeben worden. Von zahlreichen kleineren literarhiſtoriſchen Arbeiten, die ſich
ſowohl der älteren ſpaniſchen Dichtung wie auch den Schöpfungen der Hoch⸗
blüte zuwenden und ſich jetzt auch in Spanien immer mehr und mehr auf
gewiſſenhaftes Quellenſtudium gründen, gibt die vortrefflich geleitete Revista
de Archivos, Bibliotecas y Museos (Madrid, de la Cueſta) Kunde, deren
letzter Band (dritte Reihe, 12. Jahrg.) unter anderem einige beachtenswerte
Aufſätze bringt (über das Chronikon des Silenſis, Tirſo de Molina u. a.).
Die Revue Hispanique (Paris, Klindfied) wird leider immer weniger
ihrem Namen gerecht; ihre Jahrgänge ſtellen meiſt umfangreiche, allerdings
ſehr gediegene Arbeiten zuſammen.
Honoris causa ſei ſchließlich der Briefwechſel eines begeiſterten Patrioten
und politiſchen Idealiſten erwähnt, der unter dem Titel Emilio Castelar,
Correspondencia 1868 —1898, in Madrid (Suceſores de Rivadeneyra) ver-
öffentlicht wurde. Obwohl im Anhang auch Schreiben von Victor Hugo,
Renan, Al. Dumas, Thiers u. a. mitgeteilt werden, ſind die Briefe doch weit
mehr für die Kenntnis der inneren politiſchen Geſchichte Spaniens als für
die literariſchen Beziehungen des verdienten Staatsmannes wichtig.
Bei einer faſt durchwegs tief bodenſtändigen und echt nationalen Lite⸗
ratur, wie es die ſpaniſche iſt, erſcheint jene genaue Kenntnis von Land
und Volk, die ein ſpaniſches Kunſtwerk ſofort in das richtige Milieu zu
ſetzen weiß, bei der Erklärung der Literaturerzeugniſſe doppelt unerläßlich.
Mit beſonderer Freude iſt darum die Prachtpublikation von P. Jouſſet:
L’Espagne et le Portugal illustrés (Kollektion in 4°, Paris, Larouſſe), zu
begrüßen; das Werk iſt in verſchwenderiſcher Fülle mit Illuſtrationen (mehr
als 700), die Landſchaften, Städte, Denkmäler, Volkstypen ſinnfällig vor⸗
führen, auch mit Karten und Plänen ausgeſtattet, und es möge der Wunſch
nicht zu abſonderlich erſcheinen, daß jeder, der an die Erklärung ſpaniſcher
Literaturdenkmäler herantritt, ſich aus dieſem vorzüglichen Werk über die
Eigenart ihrer Heimat unterrichte. Nicht ſo ſehr durch die beigegebenen
Illuſtrationen wie durch die kulturhiſtoriſchen, auf reiche Beobachtung ſich
gründenden Ausführungen tritt zu dem oben genannten Prachtwerk die bei
H. Paetel (Berlin) erſchienene Monographie „Das moderne Spanien“ von
Guſtav Diercks. Als eine Art alphabetiſch angeordneten Realienregiſters
mit brauchbarer Sammlung zahlreicher Fachausdrücke erſchien in Langen⸗
ſcheidts „Sachwörterbüchern“ das Büchlein „Land und Leute in Spanien“
von Francisco Fronner (Berlin-Schöneberg).
Eine mächtige Bewegung ergreift ſeit einigen Jahren ein politiſch zu
Spanien gehörendes, in der angeſtammten Sprache von den Kaſtilianern
jedoch weſentlich verſchiedenes Volk, die Katalanen. Das Streben nach
5. Rechtswiſſenſchaft. 263
Selbſtändigkeit äußert ſich auch in ſehr bemerkenswerter Weiſe auf lite
rariſchem Gebiete und iſt eine der erfreulichſten Erſcheinungen des ſonſt für
die Einheit Spaniens nicht ungefährlichen regionalismo. Die in ihrer Ve
deutung nicht zu unterſchätzende Bewegung ſetzt klug mit dem Antrieb in⸗
tellektueller Kräfte ein. Ein Häuflein literariſch und wiſſenſchaftlich regſamer,
energiſcher Männer iſt, von der Provinzialdeputation in Barcelona wirkſam
unterſtützt, an die Gründung des Institut d' Estudis Catalans geſchritten,
das, Ende 1907 ins Leben gerufen, im Berichtsjahre bereits eine ſehr
fruchtbare Wirkſamkeit entfaltet hat. Das Wachrufen einer literariſch be⸗
deutſamen Vergangenheit, auf welche die Katalanen tatſächlich zurückblicken,
das Anknüpfen an eine Jahrhunderte alte, nur zeitweiſe und doch eigentlich
nur ſcheinbar erloſchene Tradition wird vor unſern Augen mit Mitteln ver-
ſucht, die nichts Gemachtes oder Künſtliches an ſich haben. Als erſte Tat
verzeichnet das Inſtitut den Ankauf der an koſtbaren Handſchriften (auch
Liederbüchern) und ſeltenen Frühdrucken reichen Bibliothek des bekannten
Bibliographen Mariano Aguild y Fuſter. Dieſe Erwerbung iſt als Grund
ſtock der „katalaniſchen Nationalbibliothek“ gedacht; in ihr finden die weit
ausſehenden literariſchen Unternehmungen dieſer neuen Schöpfung den
naturgemäßen Stützpunkt. Als greifbare Ergebniſſe erſchienen im Berichts⸗
jahr ein Band des Anuari del Institut in vornehmer Ausſtattung mit
wertvollen Quellenunterſuchungen, ſowie als Sonderpublikationen das reich
mit Freskenabbildungen geſchmückte Heft: Les Pintures murals Catalanas,
Fasz. 1: Pedret, ferner der erſte Band der auch kulturgeſchichtlich wichtigen
Unterſuchungen von Joaquim Botet y Siſo: Les Monedes Catalanes,
endlich Documents per J Historia de la cultura Catalana mig-eval
publicats per A. Rubi6 y Lluch. Bd I (ſämtlich im Verlag des In⸗
ſtituts, Barcelona). Das fruchtbar einſetzende Streben des begabten und
emfigen katalaniſchen Volkes nach ſprachlicher Konſolidierung und litera⸗
riſchem Wiedererwachen iſt eine der anziehendſten Erſcheinungen, die ſich
auf dem Geſamtgebiet der Romania gegenwärtig abſpielen. Mit greifbarer
Deutlichkeit ergibt ſich Pflege von Sprache und Schrifttum der Heimat als
wirkſamſte Triebkraft zur Hebung des nationalen Bewußtſeins.
5. Rechts wiſſenſchaft.
Don Dr §. Sacher.
1. Privatrecht. — Schon acht Jahre nach dem Inkrafttreten des deut ·
ſchen Bürgerlichen Geſetzbuches iſt eine Umgeſtaltung zu verzeichnen. Ab;
geſehen von der weiter unten (S. 275) zu beſprechenden Anderung des
8 72 des B. G. B. infolge des Vereinsgeſetzes (§ 22) wurde durch das
264 V. Wiſſenſchaften.
Geſetz vom 30. Mai 1908 der 8 833, der ſog. Tierhalterparagraph,
auf eine andere Grundlage geſtellt. Bisher war, wenn durch ein Tier ein
Menſch getötet oder verletzt oder eine Sache beſchädigt wurde, der, welcher
das Tier hielt, zum Erſatz des dem Verletzten daraus entſtehenden Schadens
verpflichtet. Die Novelle bringt einen Zuſatz, nach dem die Erſatzpflicht
nicht eintritt, wenn der Schaden durch ein Haustier verurſacht wird, das
dem Beruf, der Erwerbstätigkeit oder dem Unterhalt des Tierhalters zu
dienen beſtimmt iſt, und entweder der Tierhalter bei der Beaufſichtigung
des Tieres die erforderliche Sorgfalt beobachtet hat oder der Schaden auch
bei Anwendung dieſer Sorgfalt entſtanden ſein würde. Die Neuregelung
wurde namentlich im Intereſſe der Landwirtſchaft erſtrebt. In juriſtiſchen
Kreiſen (z. B. auf dem 28. Deutſchen Juriſtentag zu Kiel, 1906) wurde
dieſe Abänderung eines alten deutſchen Rechtsſatzes wenig gebilligt. Man
bezweifelt auch, daß die Faſſung der Novelle die Zahl der Prozeſſe ver⸗
ringern wird.
Einen weiteren Ausbau des bürgerlichen Rechts auf reichsrechtlicher
Grundlage brachte das Geſetz über den Verſicherungsvertrag vom
30. Mai 1908, das ſpäteſtens am 1. Jan. 1910 in Kraft treten muß
(vgl. J. Zehnter, Das Reichsgeſetz über den Verſicherungsvertrag. München,
Schweitzer). Bisher unterlag einzig das Seeverſicherungsrecht der reichs⸗
rechtlichen Regelung (§. G. B. §§ 778—900).
Die Tagesordnung des 29. Deutſchen Juriſtentags (Karlsruhe,
9.—13. Sept.) war reich an wichtigen privatrechtlichen Fragen. Die ge-
ſetzliche Regelung des gewerblichen Arbeitsvertrags, insbeſondere des Tarif.
vertrags zwiſchen Arbeitgebern bzw. Arbeitgeberverbänden und Arbeiter⸗
verbänden wurde gefordert, doch ſolle jeder öffentlich rechtliche Zwang
vermieden, die volle Freiheit der Abſchließung und Durchführung der Ver⸗
träge gewahrt werden; bei den Gewerbegerichten öffentlich regiſtrierte Ver⸗
träge ſollen unmittelbare Rechtswirkung auf die in ihrem Geltungsbereich
abgeſchloſſenen Arbeitsverträge haben. In den Fragen des Boykotts, des
Eigentumvorbehalts an Maſchinen, die mit einem Fabrikgebäude verbunden
worden find, und des Ausverkaufsweſens wurde eine Anderung der Geſetz⸗
gebung nicht für geboten erachtet, wohl aber die Regelung der Frage des
Erfinderrechts der in einem Vertragsverhältnis ſtehenden Perſonen. Von
richterlicher Seite wurde übrigens darauf hingewieſen, daß die Beſchlüſſe
des Deutſchen Juriſtentags infolge von Zufallsmajoritäten (in Karlsruhe
waren unter 624 Teilnehmern 322 Anwälte) durchaus nicht immer die
Anſicht der Mehrheit des deutſchen Juriſtenſtandes repräſentierten, ſondern
die Bedeutung der Tagung in den zu ihrer Vorbereitung ausgearbeiteten
Gutachten und in der Diskuſſion liege.
In Frankreich hat das Geſetz vom 8. Juni 1908 die Löſung der
ehelichen Bande noch weiter erleichtert. Nach dem neuen Geſetz müſſen die
5. Rechtswiſſenſchaft. 265
Gerichte auf Antrag auch nur eines der getrennten Ehegatten auf Scheidung
erkennen, wenn die séparation de corps, die der deutſchen Aufhebung der
ehelichen Gemeinſchaft (B. G. B. § 1575 f) entſpricht, drei Jahre gedauert hat.
Wichtigere Erſcheinungen des Jahres 1908 aus dem Gebiete des Zivil⸗
rechtes ſind: Rud. Hübner, „Grundzüge des deutſchen Privatrechts“
(Leipzig, Deichert), und A. Korn, „Handbuch des Zivilrechts mit Ein-
ſchluß des Handels- und Wechſelrechts“ (Berlin, Vahlen). — Eine in erfter
Linie für die rechtsbefliſſene Jugend beſtimmte, aber auch jedem gebildeten
Laien willkommene „Einführung in die Rechtswiſſenſchaft“ ſchrieb Erwin
Grueber (Berlin, Häring). Das Buch gibt in erweiterter Geſtalt des Ver-
faſſers „Einführung“ in Birkmeyers „Enzyklopädie der Rechtswiſſenſchaft“.
2. Handelsrecht. — Im deutſchen Wechſelrecht iſt die längſt erſehnte
Vereinfachung des Proteſtes zur Durchführung gelangt (Geſetz vom 30. Mai
1908). Derſelbe kann nun auch durch einen Poſtbeamten (bisher nur durch
einen Notar oder Gerichtsbeamten) erhoben werden. Die Wechſelabſchrift
bei dem Zahlungsproteſt iſt weggefallen. Der Proteſt mangels Zahlung wird
auf den Wechſel ſelbſt oder auf ein damit verbundenes Blatt geſetzt. Die
Erklärung der Perſon, gegen welche proteſtiert wird, in den Proteſt auf-
zunehmen, iſt nicht mehr erforderlich; nur die Angabe, daß die bezeichnete
Perſon ohne Erfolg zur Vornahme der wechſelrechtlichen Leiſtung aufgefordert
oder nicht anzutreffen geweſen iſt, oder ihr Geſchäftslokal oder ihre Woh.
nung ſich nicht hat ermitteln laſſen, wird verlangt. Eine früher viel um⸗
ſtrittene Frage wurde gelöſt durch die Beſtimmung, daß die Wechſelzahlung
auch an den Proteſtbeamten erfolgen kann. Einer wirkſamen Kontrolle
durch den vorgeſetzten Beamten unterſtellt werden die von Poſtboten auf⸗
genommenen Proteſturkunden durch die Beſtimmung, daß Schreibfehler, Aus-
laſſungen u. dgl. bis zur Aushändigung der Urkunde an die Perſon, für
welche der Proteſt erhoben wurde, vom Proteſtbeamten berichtigt werden
können. Die Novelle führt auch Proteſtſtunden ein (9 Uhr früh bis 6 Uhr
abends), diesbezügliche landesgeſetzliche Vorſchriften treten alſo außer Kraft.
Die Poſt proteſtiert nicht (nach der Bekanntmachung des Reichskanzlers
vom 5. Aug. 1908), wenn der Proteſt in Bezug auf eine andere wechſel⸗
rechtliche Leiſtung als die Zahlung erhoben werden ſoll, ferner Wechſel über
mehr als 800 Mark, Wechſel in fremder Sprache, Wechſel, die effektiv in
ausländiſcher Münze zahlbar ſind, Wechſel mit Notadreſſe oder Ehrenakzept
und Wechſel in mehreren Exemplaren.
Das Jahr 1908 brachte dem Deutſchen Reich auch das längſt erſehnte
Scheckrecht. Bisher konnte ſich der Inhaber eines unbezahlt gebliebenen
Schecks lediglich mit den Hilfsmitteln des bürgerlichen Rechtes (Forderungs⸗
klage) an die Perſon halten, von der er den Scheck empfangen, Regreß⸗
anſprüche im Sinne des Wechſelrechtes konnten nicht geltend gemacht werden.
Schon 1892 lag dem Reichstag ein amtlicher Scheckgeſetzentwurf vor, er
266 V. Wiſſenſchaften.
fiel aber infolge der Reichstagsauflöſung unter den Tiſch. Die Frage trat
dann wieder in den Hintergrund, weil die zunächſt intereſſierten Kreiſe der
Handelswelt die Bewegungsfreiheit zu ſehr beengende Maßnahmen fürchteten.
Das deutſche Scheckgeſetz vom 11. März 1908, das ſein Zuſtandekommen dem
großen Mangel an Barmitteln im Verkehrsleben der letzten Jahre verdankt
und, da es von Strafbeſtimmungen abſieht und die Stempelfreiheit ſtatuiert
(ausgenommen Schecks, die vor dem auf ihnen angegebenen Ausſtellungstage
in Umlauf geſetzt ſind), auch die Anerkennung der Handelskreiſe gefunden hat,
lehnt fic) vielfach an das öſterreichiſche Recht (Geſetz vom 3. April 1906) an.
Nach dem Vorgang der Wechſelordnung gibt das Geſetz keine Begriffsdeſinition,
es ſchreibt nur die Erforderniſſe vor, die einer Urkunde die Scheckeigenſchaft
verleihen. Das Geſetz kennt drei Arten: 1. den Orderſcheck, 2. den In⸗
haberſcheck, und zwar a) den mit der reinen Inhaberklauſel (an den Über.
bringer), b) den mit der alternativen Inhaberklauſel (an Herrn N. N. oder
Überbringer), o) den ohne Bezeichnung des Empfängers, 3. den Rektaſcheck.
Das Recht, Schecks auszuſtellen, ſteht jedem zu, der rechtlich geſchäftsfähig
iſt. Als Bezogene (paſſive Scheckfähigkeit) kommen jedoch nur Perſonen,
Firmen und Organiſationen mit Bankiereigenſchaft (auch die Sparkaſſen) in
Betracht. Der Nichtbankſcheck iſt zwar nicht ungültig, verliert aber die
Stempelfreiheit. Die Vorlagefriſt für Inlandſchecks beträgt zehn Tage.
Hinſichtlich des Indoſſaments gelten die gleichen Beſtimmungen wie beim
Wechſel. Ein auf eine Abſchrift des Schecks geſetztes Indoſſament iſt jedoch
unwirkſam, ebenſo ein Indoſſament an den Bezogenen, ein ſolches gilt als
Quittung. Ein Annahmevermerk (Akzept) ſeitens des Bezogenen iſt nicht
verpflichtend, gilt als nicht geſchrieben. Für die Einlöſung des Schecks
haften Ausſteller und Indoſſanten. Von Bedeutung iſt, daß auch beim
Inhaberſcheck jeder haftet, der ſeinen Namen oder ſeine Firma auf die
Rückſeite des Schecks geſchrieben hat. Nur auf den Bezogenen findet dieſe
Vorſchrift keine Anwendung. Die Unterſchrift auf der Rückſeite eines In⸗
haberſchecks kann aber nicht als eigentliches Indoſſament gelten, das etwa
zur Legitimation des Scheckinhabers dienen ſollte, da der Bezogene einfach
an den Inhaber zahlen muß. Das Indoſſament iſt alſo gewiſſermaßen ein
hinkendes Indoſſament, ein Indoſſament, das zwar Garantiefunktion, aber
nicht Transport- und Legitimationskraft wie das Indoſſament des Order⸗
ſchecks beſitzt. Auf die Vorlegung des Schecks und den Proteſt finden die
Beſtimmungen der Wechſelordnung entſprechende Anwendung, ebenſo hin⸗
ſichtlich der Benachrichtigung der Vormänner und ihres Einlöſungsrechtes
ſowie des Umfangs der Regreßforderung u. dgl. Hinſichtlich der Scheckklage
gelten die gleichen Beſtimmungen der Zivilprozeßordnung wie für die Wechjel-
klage, hinſichtlich des Scheckproteſtes durch die Poſt die gleichen Beſtim⸗
mungen wie betreffs des Wechſelproteſtes (Bekanntmachung des Reichskanzlers
vom 5. Aug. 1908). Eine wertvolle Ergänzung erhielt das Scheckgeſetz
5. Rechtswiſſenſchaft. 267
durch die Poſtſcheckordnung vom 6. Nov. 1908 1. — Neben den zahl⸗
reichen Geſetzeskommentaren iſt ſchon ein auch dem Nichtjuriſten gute Dienſte
leiſtendes „Handbuch des deutſchen Scheckrechts“ von W. Conrad (Stutt-
gart, Enke) erſchienen, das eine eingehende ſyſtematiſche Darlegung des neuen
Rechtes gibt, gleichzeitig auch die ausländiſche Geſetzgebung und die hiſtoriſche
und wirtſchaftliche Seite berührt.
Das deutſche Birfenredt hatte in dem Geſetz vom 22. Juni 1896
eine reichsgeſetzliche Regelung erfahren. Es ſtieß von Anfang an in Börſen⸗
und Handelskreiſen auf heftigen Widerſpruch, vor allem in den Beſtim⸗
mungen über die Zulaſſung von Wertpapieren zum Börſenhandel und
namentlich über den Terminhandel. Ohne Zweifel kommt dieſem eine große
volkswirtſchaftliche Bedeutung zu. Formen und Umſtände können jedoch
ſeinen Wert weſentlich einſchränken. Beſonders gilt das hinſichtlich der ſog.
Differenz⸗ oder Spekulationsgeſchäfte, die ſich von dem gewöhnlichen Termin⸗
geſchäft dadurch unterſcheiden, daß die Kontrahenten bei Abſchluß des Ver⸗
trages deſſen Erfüllung entweder von vornherein überhaupt nicht oder
wenigſtens eventuell nicht wollen, bei denen alſo die Abſicht darauf gerichtet
iſt, die Differenz zwiſchen den Kurſen, zu denen gekauft und verkauft wird,
zu gewinnen. Nach B. G. B. § 764 gelten ſolche Manipulationen als Spiel,
das keine rechtliche Verbindlichkeit erzeugt. Die Nachteile für die Allgemein⸗
heit liegen in der ungünſtigen Beeinfluſſung der Preisbildung. Um die
Klagbarkeit der Termingeſchäfte zu ſichern, hatte das Geſetz von 1896 das
Börſenregiſter geſchaffen; durch die Eintragung in dieſes ſollte die Abſicht,
Börſentermingeſchäfte rechtsgültig zu ſchließen, ausdrücklich kundgetan werden.
Man glaubte durch Einführung des Börſenregiſters Nichtbörſenkreiſe, Rentner,
Induſtrielle, Gutsbeſitzer u. a., von der Beteiligung an Börſenſpekulationen
fernzuhalten, da ſie Bedenken tragen würden, ihren Namen in das Regiſter
eintragen zu laſſen. Die Wirkung des Geſetzes war jedoch inſofern eine
ganz andere, als auch die Kaufleute auf die Eintragung in das Börſen⸗
regiſter verzichteten, weil fie fälſchlich darin eine Bloßſtellung des Handels-
ſtandes erblickten und es vorzogen, ihre Geſchäfte auf Treu und Glauben
abzuſchließen. Da ſich nun aber gerade unehrliche Naturen im Fall von
Verluſten nicht ſelten unter den Schutz des Geſetzes ſtellten und auf die
rechtliche Ungültigkeit ihrer eingegangenen Verpflichtungen hinwieſen, bildeten
ſich rechtlich unhaltbare Zuſtände heraus. Obwohl nun durch Strafbeſtim⸗
mungen die Eintragungen in das Börſenregiſter hätten erzwungen werden
können, hat die Novelle das Regiſter ganz fallen laſſen. Börſentermin⸗
geſchäfte find jetzt vornehmlich gültig, wenn fie zwiſchen in das Handels-
regiſter eingetragenen Vollkaufleuten (nicht etwa Kleingewerbetreibenden)
abgeſchloſſen werden. Börſentermingeſchäfte in Wertpapieren ſind jedoch
1 gl. Abſchnitt IV, 1: „Volkswirtſchaft“ S. 77.
268 V. Wiſſenſchaften.
auch dann verbindlich, wenn nur auf der einen Seite ein Kaufmann ſteht,
der ſich aber für die Erfüllung des Geſchäftes von dem andern an und für
ſich zum Termingeſchäfte nicht berechtigten Teil in beſtimmter ſchriftlicher
Form Sicherheit in Geld oder kursfähigen Staatspapieren hat geben laſſen.
Das Geſetz von 1896 hatte beſtimmt, daß auch eine gegebene Sicherheit zurück⸗
gefordert werden konnte. Durch die Neugeſtaltung der Börſengeſetzgebung
kann alſo im Grund genommen jedermann wieder Termingeſchäfte an der
Börſe tätigen, nur muß er dem vermittelnden Bankier die vorgeſchriebene
Sicherheit ſtellen. Das Geſetz von 1896 hatte ferner den Terminhaudel in
Getreide und Erzeugniſſen der Getreidemüllerei ganz verboten, die Novelle
von 1908 hält zwar dieſes Verbot aufrecht, geſtattet aber doch Firmen, die
Getreide oder Mehl erzeugen oder verarbeiten, oder aber die in Erfüllung
ihres Gewerbes mit jenen Erzeugniſſen handeln, gewiſſe Lieferungsgeſchäfte.
Ohne Einſchränkung unterſagt hatte das alte Börſenrecht auch den Börſen⸗
terminhandel in Anteilen von Bergwerks- und Fabrikunternehmungen. Jetzt
iſt nur für die Aktien der einzelnen Unternehmungen die Genehmigung des
Bundesrates erforderlich. Zu erwähnen iſt auch noch, daß das neue Geſetz
eine Begriffsbeſtimmung des Börſentermingeſchäftes nicht wieder aufgenommen
hat, ſondern, belehrt durch verſchiedene Vorkommniſſe der Rechtſprechung,
für die Beantwortung der Frage, ob ein ſolches vorliegt, freie Hand ge:
laſſen hat. Auch über die Zulaſſung der Wertpapiere wurden andere Be⸗
ſtimmungen getroffen. — Ob die Reform die erhoffte günſtige Entwicklung
und nicht für die mit den Börſenuſancen unerfahrenen ſpekulationsluſtigen
Außenſtehenden große Gefahren und überhaupt ſchwere Nachteile für die
Geſamtheit bringen wird, das wird die Zukunft lehren.
3. Zivilprozeß. — Der im Oktober 1907 veröffentlichte Vorentwurf
einer umfaſſenden Juſtizreform ſowohl wie die gegen ihn einſetzende Kritik
wurde im erſten Bande dieſes Jahrbuches eingehend beſprochen 1. Der
Bundesrat hat denn auch verſchiedenen Einwendungen Rechnung getragen,
wie der dem Reichstag unter dem 28. Febr. 1908 vorgelegte Entwurf zeigt.
Die faſt allgemein bekämpfte Beſtimmung der Einſchränkung der Berufung
auf Rechtsſtreitigkeiten im Wert von über 50 Mark iſt gefallen. Der Ge⸗
fahr einer durch die Reform gefährdeten Exiſtenzgrundlage der Anwälte will
man inſofern entgegentreten, als in der Berufungs- und Reviſionsinſtanz
die Gebühren der Anwälte um drei Zehntel erhöht werden. Die Kompetenz
der Kammern für Handelsſachen iſt gegenüber dem Vorentwurf weſentlich
erweitert worden. Wenn auch der neue Entwurf ihre Zuſtändigkeit als
Gerichte erſter Inſtanz infolge Erweiterung der Zuſtändigkeit der Amts.
gerichte gleichfalls beſchränkt, ſo will er ihnen doch als Gerichten zweiter
Inſtanz die Entſcheidungen über die von den Amtsgerichten beſorgten
1 Vgl. dieſes Jahrbuch I 287 ff.
5. Rechtöwiffenfchaft. 269
Handelsſachen übertragen, während fie bisher als Berufungsinſtanz nur in
Sachen der freiwilligen Gerichtsbarkeit entſcheiden. Die Begründung erklärt
es für unbedenklich, den Kammern für Handelsſachen auch die Berufung
in Handelsſachen zu überweiſen, obgleich dem Berufungsrichter meiſt Rechts⸗
fragen unterbreitet werden. Dieſe Landrichter ſparende Anderung verdient
um fo mehr Beachtung, als bei der weiter unten zu beſprechenden Strafprozeß⸗
reform die Zuziehung von Schöffen zu den Strafkammern als Berufungs-
inſtanzen nicht in Ausſicht genommen iſt, weil Laienrichter für die rechtliche
Nachprüfung weniger geeignet wären. An Stelle des die Regel bildenden
Voreids ſoll, ebenſo wie bei der Strafprozeßreform, der obligatoriſche
Nacheid treten. Die gleichzeitige Beeidigung mehrerer Zeugen ſoll in einer
der Beeidigung der Schöffen und Geſchworenen nachgebildeten Form zu⸗
gelaſſen werden. Die Beeidigung der Sachverſtändigen ſoll nur in be⸗
ſtimmten Fällen ſtattfinden. Einer der umſtrittenſten Punkte des Vorent⸗
wurfs, die Erhöhung der amtsgerichtlichen Zuſtändigkeit von 300 auf
800 Mark, iſt geblieben. Hier ſetzt auch die Kritik des dem Reichstag vor⸗
liegenden Entwurfs am ſchärfſten ein, und es iſt zu erwarten, daß der
Reichstag eine Reduzierung der Zuſtändigkeitsgrenze vornehmen wird. Am
Schluß des Jahres beſchäftigt die Zivilprozeßnovelle eine Reichstagskommiſſion.
4. Strafrecht und Strafprozeß. — Das Weſen der Jugendgerichte
als Sondergerichte für Jugendliche, durch welche dieſe von ihrem beſondern
Richter nach beſondern, in dem jugendlichen Alter begründet liegenden Ge⸗
ſichtspunkten abgeurteilt werden, erklärt ſich aus der Annahme, daß die
Kinder, die vor das Jugendgericht kommen, keine Verbrecher ſind und ſomit
anders behandelt werden müſſen als erwachſene Perſonen. Die Frage der
Behandlung jugendlicher Verbrecher wird in Deutſchland ſeit Ende der
1880er Jahre auf Grund der ungünſtigen Kriminalſtatiſtik lebhaft erörtert.
Die Einrichtung von Jugendgerichtshöfen im Rahmen des geltenden
Rechts, im Wege der Geſchäftsverteilung, wurde zuerſt 1905 von dem
Berliner Amtsgerichtsrat Köhne angeregt. Am 1. Jan. 1908 wurden
gleichzeitig Jugendgerichtshöfe in Frankfurt a. M., Köln, Breslau und
Stuttgart errichtet. Dieſem Beiſpiel folgten in wenigen Monaten mehr als
dreißig preußiſche Groß und Induſtrieſtädte. Am 1. Juni erließ der
preußiſche Juſtizminiſter eine Verfügung über die zu beobachtenden Grund⸗
ſätze für das vorbereitende und das Hauptverfahren. Am gleichen Tag
wurden in Württemberg an allen Amtsgerichten des Landes Jugendgerichts-
höfe eröffnet. In Bayern treten ſie mit dem 1. Jan. 1909 in Kraft (für
München, Nürnberg, Würzburg, Augsburg und Ludwigshafen), ebenſo in
Heſſen. In Baden beſtehen beſondere Abteilungen für Strafſachen gegen
Jugendliche bei den Amtsgerichten Karlsruhe, Mannheim und Pforzheim.
Auch in Sachſen ſteht ihre Einführung bevor. Die Organiſation der ver⸗
ſchiedenen Jugendgerichtshöfe iſt keine einheitliche. Von den verſchiedenen
270 V. Wiſſenſchaften.
typiſchen Formen wurden Frankfurt a. M., Hamm, Köln und Lennep zum
Vorbild. In Frankfurt erhält ein Richter, der Jugendrichter, bei der
Geſchäftsverteilung zugewieſen: 1. die zur Zuſtändigkeit des Amtsrichters
und des Schöffengerichts gehörenden Strafſachen, ſowohl Vorverfahren wie
Strafvollſtreckung, gegen Minderjährige; 2. die vormundſchaftlichen Ge⸗
ſchäfte, welche dieſe Minderjährigen betreffen, wenn eine beſondere Vor⸗
mundſchaft (nicht eine gemeinſame für den jugendlichen Angeklagten und
ſeine nicht verbrecheriſchen Geſchwiſter) geführt wird, von dem Augenblick,
wo die öffentliche Klage erhoben oder der Überweiſungsbeſchluß erfolgt
oder der Antrag auf Erlaſſung eines Strafbefehles eingegangen iſt. Auch
die ſtaatsanwaltlichen Geſchäfte werden durch einen beſtimmten Beamten der
Amtsanwaltſchaft verſehen. In Köln iſt der Vormundſchaftsrichter zugleich
Strafrichter für die Jugendlichen ſeines Bezirkes, der alſo bereits bei der
erſten ſtrafbaren Handlung des Jugendlichen deſſen geſamte Werhältnifie
kennt, die er als Obervormund der ſeiner Obhut unterſtellten Minderjährigen
in Erfahrung brachte. Hamm legt das entſcheidende Gewicht auf die Mit-
wirkung der organiſierten Fürſorge. In Lennep werden zu den Schöffen
am Richtertiſch Erziehungsſachverſtändige hinzugezogen, die vor jeder Ab⸗
urteilung mit den Richtern und Schöffen im Beratungszimmer verhandeln.
Nach ihren Außerungen beraten Richter und Schöffen dann geheim. Für
die Organiſation der Jugendgerichte charakteriſtiſch ſind alſo: Beſtellung
eines Jugendrichters mit ſtraf⸗ und vormundſchaftsrechtlichen Funktionen
und umfaſſende Mitwirkung der Jugendfürſorgeorgane; dazu kommt mig
lichſte Zurückhaltung des großen Publikums bei der Hauptverhandlung,
dauernde Trennung der jugendlichen von den älteren Verbrechern. So
dankbar dieſe neue Einrichtung zu begrüßen iſt, von vielen Seiten, z. B.
auch von der Landesverſammlung der deutſchen Gruppen der Internatio-
nalen kriminaliſtiſchen Vereinigung zu Poſen (11.— 12. Juni), wird doch
mit Recht darauf hingewieſen, daß der Nutzen der Jugendgerichte gegen das
bedrohliche Anwachſen der Kriminalität der Jugendlichen immerhin nur
gering ſein kann, daß es vielmehr umfaſſender Sonderbeſtimmungen im
Strafrecht, Strafverfahren und Strafvollzug gegen jugendliche Verbrecher
bedarf. Die Erfüllung einzelner der ausgeſprochenen Wünſche ſtellt der im
Auguſt veröffentlichte Entwurf zur Strafprozeßordnung in Ausſicht.
Die Geſetzesvorlage zu einer Strafprozeßreform zerfällt in drei
Teile: eine Novelle zum Gerichtsverfaſſungsgeſetz, den Entwurf einer Straf⸗
prozeßordnung und ein Einführungsgeſetz. Als erkennende Gerichte werden,
abgeſehen vom Reichsgericht, vorgeſchlagen: 1. die Schwurgerichte in ihrer
bisherigen Organiſation; 2. die Strafkammern in der Beſetzung mit zwei
Richtern und drei Schöffen; 3. die Amtsgerichte, und zwar in den kleinſten
Sachen (ſämtliche Übertretungen und eine Anzahl kleinerer Vergehen) in der
Beſetzung mit einem Amtsrichter, im übrigen in der Beſetzung mit einem
5. Rechtswiſſenſchaft. 271
Amtsrichter und zwei Schöffen. Die Bezeichnung „Schöffengericht“ ſoll
wegfallen. Als Gerichte zweiter Inſtanz ſind in Ausſicht genommen: 1. die
mit drei Richtern beſetzte Strafkammer für Berufungen gegen die Urteile
der Amtsgerichte; 2. die mit fünf Richtern beſetzten Berufungsſenate für
die Berufungen gegen die von den Strafkammern in erſter Inſtanz gefällten
Urteile. Die wichtigſten Beſtimmungen der Vorlage hinſichtlich der Anderung
der Organiſation ſind wohl die Zuziehung von Schöffen zur Strafkammer
und die Zulaſſung der Berufung gegen die Urteile der Strafkammern; bei
den Strafkammern als Berufungsinſtanz iſt die Mitwirkung von Laien-
richtern, weil ſie für die rechtliche Nachprüfung weniger geeignet wären,
allerdings ausgeſchloſſen. Dem Vorſchlag der Strafprozeßkommiſſion, im
Intereſſe einer einheitlichen Organiſation das Schwurgericht durch das aus
drei Richtern und ſechs Schöffen beſtehende Schöffengericht zu erſetzen, alſo
eine Mitwirkung der Geſchworenen bei der Strafzumeſſung zu ſchaffen, iſt
der Entwurf nicht gefolgt. Die Vorſchriften über die Strafverfolgung
werden gemildert, das ſog. Legalitätsprinzip, d. h. der Grundſatz der un⸗
bedingten Verpflichtung zur Strafverfolgung, erfährt eine weſentliche Durch⸗
brechung. Der Deutſche Juriſtentag zeigte ſich in ſeiner Mehrheit einer
weſentlichen Anderung des in dieſer Hinſicht geltenden Rechts nicht geneigt.
In Sachen, die vor dem Amtsgerichte ohne Schöffen zu verhandeln ſind,
ſoll die öffentliche Klage überhaupt nur erhoben werden, wenn es im öffent⸗
lichen Intereſſe liegt. Die Vergehen des Hausfriedensbruches, der gefähr-
lichen Körperverletzung, der fahrläſſigen Körperverletzung mit Übertretung
einer Amts-, Berufs- oder Gewerbepflicht, ferner die der Bedrohung find
der Privatklage zugänglich gemacht worden. Die Unterſuchungshaft wird
eingeſchränkt. Bei der Handhabung der Haft ſoll eine mildere Praxis
Platz greifen. Für die Vernehmung des Beſchuldigten werden eingehendere,
das Intereſſe der Verteidigung mehr berückſichtigende Vorſchriften gegeben.
Die Ausſchließung der Offentlichkeit kann auch bei Beleidigungsprozeſſen
erfolgen auf Antrag eines der Beteiligten und bei Hauptverhandlungen
gegen Jugendliche. An Stelle des Voreides tritt der Nacheid. Die Be⸗
fragung nach Vorſtrafen wird weſentlich eingeſchränkt. Der Zeugniszwang
gegenüber der Preſſe ſoll ſtark gemildert werden. Dem Verfahren gegen
Jugendliche wird eine völlig neue Behandlung zu teil. Bei den Amts⸗
gerichten, deren Zuſtändigkeit für Straftaten Jugendlicher erheblich aus-
gedehnt wird, follen beſondere Abteilungen für die Verhandlung von Straf.
ſachen gegen Jugendliche gebildet werden. In erſter Linie ſoll jedoch der
Jugendliche, wenn von einer Strafe abgeſehen werden kann, dem Vormund⸗
ſchaftsrichter überwieſen werden. Die Verpflichtung der Staatsanwaltſchaft
zur Erhebung der Anklage wird deshalb für alle Arten von Straftaten
beſeitigt. Erhebt der Staatsanwalt Anklage, ſo ſoll das Gericht doch
die Befugnis haben, die Einſtellung des Verfahrens zu beſchließen und
272 V. Wiſſenſchaften.
Erziehungs- und Beſſerungsmaßregeln anzuordnen oder die Sache der Vor⸗
mundſchaftsbehörde zu überweiſen. — Der rote Faden, der ſich durch das
ganze Reformwerk zieht, iſt eine im Vergleich zum gegenwärtigen Rechts-
ſyſtem größere Berückſichtigung der Intereſſen des Beſchuldigten, ohne dabei
natürlich die Intereſſen der Geſamtheit zu gefährden. Die Aufnahme der
Vorlage war im großen und ganzen günſtiger als die der Zivilprozeß ⸗
novelle. Die Kritik ſetzte namentlich an der Beibehaltung der richterlichen
Vorunterſuchung im bisherigen Sinn ein. Auf dem Juriſtentag wurde in
dieſer Frage allerdings keine Einigung erzielt.
Auch in Oſterreich iſt eine Reform des Jugendſtrafrechts durch Ver-
öffentlichung eines Geſetzentwurfes über die Fürſorgeerziehung eingeleitet
worden. Bis jetzt entſprechen hier nur die Beſtimmungen des Allg. B. G. B.
(S8 177 f) über die Entziehung der elterlichen Gewalt den zeitgemäßen An⸗
forderungen, aber auch nur dann, wenn Kinder oder Eltern die Koſten der
Abhilfevorkehrungen zu beſtreiten in der Lage ſind. Der neue Geſetzentwurf
will die Fürſorgezöglinge in zwei Gruppen eingeteilt wiſſen. Für die noch
nicht ſtraffällig gewordenen Unmündigen und jene Jugendlichen, welche ſich
gegen das Strafgeſetz noch nicht verfehlt haben, ſoll die Fürſorgeerziehung,
die je nach Perſon und Eigenſchaften in einer Familie, Erziehungs- oder
Beſſerungsanſtalt erfolgen kann, vom Vormundſchaftsgericht angeordnet
werden. Für ſtrafmündige, mit dem Strafgeſetz in Konflikt geratene
Jugendliche ſoll das Strafgericht die Fürſorgeerziehung ausſprechen, wenn
fie als ſchuldig erkannt oder wegen mangelnder Zurechnungsfähigkeit (§§ 4a
und 269 der neuen Faſſung des Strafgeſetzes) freigeſprochen werden. Dem
Vormundſchaftsgericht wird das Recht der Anordnung der Fürſorgeerziehung
auch gewahrt, wenn das Verfahren eingeſtellt wird oder Freiſprechung
erfolgt. Die Anwendung des Geſetzes ſoll auf Jugendliche unter 18 Jahren
eingeſchränkt werden, weil eine erfolgreiche Nacherziehung, die bis zum
vollendeten 21. Lebensjahr zuläſſig ſein ſoll, längere Zeit dauern muß.
Eine untere Altersgrenze kennt der Entwurf nicht.
In England erfuhr das Jugendſtrafrecht und der Jugendſchutz gleich-
falls ſehr wichtige Anderungen. Durch die Prevention of Crime Bill vom
27. Mai 1908 wurde der Strafvollzug gegen Jugendliche vom 16. bis
21. Lebensjahr geregelt und ebenſo die Schutzhaft der gewohnheitsmäßigen
Verbrecher, d. h. ſolcher, die ſchon dreimal wegen Verbrechens verurteilt
ſind oder dauernd ein ehrloſes oder verbrecheriſches Leben führen. Die
Corporal Punishment (Restriction) Bill vom 5. Mai 1908 hob die Prügel.
ſtrafe für Perſonen über 16 Jahre auf. Die am 30. Nov. 1908 vom Unter-
hauſe angenommene Children Bill gibt eingehende Vorſchriften über den
Jugendſchutz, über die ſtaatliche Sicherung der Rechtsanſprüche der Kinder,
über die Erziehung, wenn der Kinder körperlich und ſeeliſch geſundes Wachstum
durch die Familie nicht gewährleiſtet iſt, über Aufhebung der Gefängnisſtrafe
5. Rechtswiſſenſchaft. 273
für Kinder unter 14, der Strafarbeit für Jugendliche unter 16 Jahren
u. dgl. — Die Infant Life Protection Bill vom 11. Mai 1908 bedroht die
bisher nicht ſtrafbare Tötung eines Kindes während der Geburt mit
lebenslänglichem Zuchthaus.
In Frankreich wurde durch Geſetz vom 17. Juli 1908 eine Um-
geſtaltung der Schwurgerichte inſofern vollzogen, als die Arbeiterſchaft
gleich allen andern Klaſſen den Zutritt zum Geſchworenenamt und durch
eventuelle Honorierung der Dienſtleiſtungen als Geſchworene auch die praf-
tiſche Möglichkeit dazu erhielt. Ferner wurde den Geſchworenen auch eine
Anteilnahme an der Bemeſſung des Strafmaßes zugeſtanden. Abgelehnt
wurde jedoch (8. Dez.) von der Kammer der Regierungsantrag auf Beſeitigung
der Todes ſtrafe, und zwar nach eingehender Prüfung in der Kommiſſion;
man ſprach ſogar den Wunſch aus, daß die Todesſtrafe nicht nur auf dem
Papier fortbeſtehen ſollte. Bald darauf wurden denn auch, nach mehr⸗
jähriger Unterbrechung, verſchiedene Todesurteile vollſtreckt. — Zu nennen
find auch das Geſetz vom 11. April 1908 betr. die Proſtitution Minder-
jähriger, ſowie das Geſetz vom 17. Juli 1908 betr. die Verantwortlichkeit
der Führer von Fahrzeugen bei Unfällen (Gefängnis bis zu 6 Monaten
oder Geldſtrafe bis zu 500 Fr., ſowie Verdopplung der etwaigen Strafe
für fahrläſſige Tötung oder Körperverletzung, wenn der Führer eines Fahr⸗
zeuges ftatt anzuhalten, ſich durch die Flucht einer etwaigen ftraf- ober
zivilrechtlichen Verantwortlichkeit zu entziehen ſucht).
In Auſtralien (Viktoria) trat am 1. Juli ein Geſetz in Kraft, das
beim Strafvollzug den Schutz der Geſellſchaft in den Vordergrund ſtellt und
deswegen das Prinzip der Gefängnishaft für unbeſtimmte Zeit einführt.
Nach Beendigung der durch Urteil verhängten Strafe wird der Verbrecher
einer Beſſerungsanſtalt überwieſen. Der Gewohnheitsverbrecher ſoll für
unbeſchränkte Zeit verwahrt, beſſerungsfähigen Perſonen die Rückkehr zum
ehrlichen Leben ermöglicht werden. Auch in England liegt ein ähnlicher
Entwurf vor.
5. Staats- und Verwaltungsrecht. — Die in mehreren deutſchen Staaten,
ſo in Sachſen, Heſſen und Oldenburg, eingeleitete Umgeſtaltung des Wahl⸗
rechts iſt noch nicht zum Abſchluß gelangt. Das für die beiden Mecklen⸗
burg an Stelle der heutigen altſtändiſchen Verfaſſung geplante konſtitutionelle
Syſtem ſcheiterte an dem Widerſpruch der Ritterſchaft. Damit iſt die Ent⸗
ſcheidung aber nur hinausgeſchoben, auch in Mecklenburg wird die heiß
erſehnte Sonne der modernrechtlichen Verfaſſung, wenn auch wegen der
nordiſchen Lage des Landes ſpäter als anderwärts, aufgehen, nachdem ſie
ſogar in Rußland, zur Zeit allerdings ohne nachhaltige Wirkung, die
Finſternis abſolutiſtiſcher Macht und Gewalt durchbrochen und ſeit dem
24. Juli 1908 auch dem türkiſchen Deſpotismus ein unrühmliches Ende
bereitet hat. So grüßt das ſcheidende Jahr ein . Europa,
Jahrbuch der Zeit⸗ und Kulturgeſchichte. IL
274 V. Wiſſenſchaften.
nur Mecklenburg, ein deutſcher Staat, wandelt noch im Dunkel mittelalter⸗
licher Zuſtände.
Die Rechtsverhältniſſe der Beamten erfuhren in Bayern durch das
Beamtengeſetz vom 15. Aug. 1908 eine modernrechtliche Geſtaltung.
Bisher beſtand eine Unterſcheidung zwiſchen den vom König eingeſtellten prag-
matiſchen Staatsdienern (Beilage 9 zur Verfaſſungsurkunde von 1818) und
den faſt völlig rechtloſen ſtatusmäßigen Beamten und Bedienſteten (Verordn.
von 1894). Das neue Recht kennt unwiderrufliche und widerrufliche Beamte.
Akademiker müſſen drei Jahre, die übrigen Beamten zehn Jahre auf die
Unwiderruflichkeit warten. Das Vorrücken in den Gehalt einer höheren
Dienſtaltersſtufe verfügt das Miniſterium, es kann ganz oder teilweiſe verſagt
werden, wenn das dienſtliche oder außerdienſtliche Verhalten des Beamten
dazu Anlaß gibt. Das alte Vorrecht der Richter, die bisher ihren ganzen
Gehalt als Penſion bezogen, ift beſeitigt worden. Die Beſoldungsverhält⸗
niſſe wurden durch ein Gehaltsregulativ neu geregelt. In Baden wurden
durch das Geſetz vom 12. Aug. 1908 Anderungen des Beamtengeſetzes und
der Gehaltsordnung getroffen. Das eigentliche Beamtengeſetz (Geſetz vom
24. Juli 1888) erfuhr, abgeſehen von ſonſtigen Anderungen, auch inſofern
eine Umgeſtaltung, als jetzt ein Beamter nach Vollendung des 65. Jahres
in den Ruheſtand verſetzt werden oder um die Zuruheſetzung einkommen
kann (§ 29 Ziffer 1), während das alte Geſetz beſtimmte, daß der Beamte
durch ſein Alter in ſeiner Tätigkeit gehemmt ſein mußte. Anderungen der
Gehaltsordnung der geſamten Beamtenſchaft oder einzelner Klaſſen wurden
infolge der Teuerung auch in den meiſten andern deutſchen Bundesſtaaten
erforderlich, ebenſo in Oſterreich.
Die Verhältniswahl bei den Wahlen zur Gemeindevertretung wurde
in Bayern für Gemeinden über 4000 Einwohner eingeführt (Geſetz vom
6. Juli 1908). Von faſt 8000 Gemeinden werden dadurch 115 Gemeinden
betroffen. In der Rheinpfalz, wo bisher auch die bedeutenderen Städte
dem Bezirksamt unterſtanden, ſchuf das pfälziſche Städteverfaſſungsgeſetz vom
15. Aug. 1908 unmittelbare Städte.
Das Reichsgeſetz vom 30. Mai 1908 (in Kraft vom 1. April 1909) ſetzte
die Altersgrenze für den Erwerb und Verluſt des Unterſtützungswohn⸗
ſitzes vom 18. auf das 16. Lebensjahr und die Erwerbs. und Verluſtfriſt
von zwei Jahren auf ein Jahr herab. Die Anderung erfolgte vorwiegend
mit Rückſicht auf die ſtetig wachſende Landflucht und die ſteigenden Laſten
von manchen Landgemeinden, in denen die jüngeren Leute nach der Stadt
und den Induſtrieorten abgewandert, im Falle der Arbeitsunfähigkeit und
Unterſtützungsbedürftigkeit ihnen aber wieder zur Laſt fallen. Gleichzeitig
beſtimmt die Novelle, daß das Geſetz über den Unterſtützungswohnſitz mit
dem 1. April 1910 auch auf Elſaß⸗Lothringen ausgedehnt wird, wo bekannt.
lich bis jetzt noch das franzöſiſche Recht gilt und die örtliche Armenpflege
5. Rechtswiſſenſchaft. 275
nur eine fakultative iſt. Nach dieſem Termin wird alſo nur Bayern ſeine
Sondergeſetzgebung in Fragen des Urmen- und Heimatsweſens haben.
Das öffentliche Vereins- und Verſammlungsrecht beruhte im
Deutſchen Reich bis 1908 auf landesrechtlicher Grundlage, und zwar meiſt
auf Geſetzen, welche die freiheitliche Bewegung um die Mitte des 19. Jahr⸗
hunderts den Regierungen abgerungen hatten. Trotzdem atmete der größte
Teil dieſer mehr als 20 Partikularrechte den Geiſt des Polizeiſtaates und
paßte in die heutige Zeit mit ihren wirtſchaftlich und politiſch vollſtändig ver⸗
änderten Verhältniſſen nicht hinein. Die weiteſtgehenden polizeilichen Macht⸗
befugniſſe waren hinſichtlich der Vereine und Verſammlungen mit „politiſcher
Tendenz“ vorhanden. Frauen waren von dieſen ganz ausgeſchloſſen. Fragen
der Erziehung, des Unterrichts, der Armen- und Krankenpflege, meiſt auch
der wirtſchaftlichen Intereſſenvertretung fielen aber unter dieſen ominöſen
Begriff. Nachdem ſchon das Reichsgeſetz vom 11. Dez. 1899 das Ver⸗
bindungsverbot für inländiſche Vereine beſeitigt hatte, brachte das Vereins-
geſetz vom 19. April 1908 ein einheitliches öffentliches Vereinsrecht für
das geſamte Reich. Es herrſcht (allerdings nur für Reichsangehörige) volle
Vereinsfreiheit, die nur in den Strafgeſetzen ihre Grenzen findet. Offentliche
Verſammlungen zur Erörterung politiſcher Angelegenheiten ſind mindeſtens
24 Stunden vorher bei der Ortspolizeibehörde anzumelden. Was „politiſche
Angelegenheiten“ ſind, ſagt das Geſetz aber nicht, die Entſcheidung bleibt
eventuell der Rechtſprechung vorbehalten. Offentlich in beſtimmter Form
bekannt gemachte Verſammlungen, Wählerverſammlungen während der Wahl⸗
zeit und Verſammlungen von Gewerbetreibenden, Fabrikarbeitern, Berg⸗
leuten u. dgl. zur Erörterung von Verabredungen und Vereinigungen zum
Behuf Erlangung günſtiger Lohn⸗ und Arbeitsbedingungen bedürfen der
Anzeige nicht. Polizeiliche Erlaubnis ijt erforderlich für öffentliche Ver-
ſammlungen unter freiem Himmel und Aufzüge auf öffentlichen Straßen,
ausgenommen gewöhnliche Leichenbegängniſſe und herkömmliche Hochzeits⸗
feſtzüge u. dgl.; Perſonen unter 18 Jahren dürfen weder Mitglieder poli⸗
tiſcher Vereine ſein, noch in deren Verſammlungen oder in öffentlichen
politiſchen Verſammlungen anweſend ſein. An Stelle der Einreichung des
Mitgliederverzeichniſſes iſt die Einreichung einer vom Vorſtand des Vereins
vollzogenen Beſcheinigung über die Zahl der Mitglieder getreten (Anderung
des § 72 des B. G. B.). Soweit wäre, eine vorurteilsloſe Auffaſſung der
Begriffe „politiſch“ und „öffentlich“ ſeitens der Polizei und der Juſtiz voraus⸗
geſetzt, das Geſetz, wenigſtens vom norddeutſchen Standpunkt, im großen
und ganzen als ein Fortſchritt in der deutſchen Rechtsentwicklung zu be⸗
trachten. Weniger gilt dies für den ſog. Sprachenparagraphen, der beſtimmt,
daß, abgeſehen von internationalen Kongreſſen und von Wählerverſamm⸗
lungen während der Wahlzeit, in öffentlichen Verſammlungen nur in deutſcher
Sprache verhandelt werden darf. Ausnahmen gelten auf zwanzig Jahre für
18°
276 V. Wiſſenſchaften.
Bezirke der unteren Verwaltungsbehörde (preußiſche Kreiſe) mit mehr als
60 %% alteingeſeſſener Bevölkerung mit nichtdeutſcher Mutterſprache. Weitere
Ausnahmen können allerdings noch landesrechtlich zugelaſſen werden. Hin⸗
ſichtlich der kirchlichen und religiöſen Vereine und Verſammlungen, ebenſo
der kirchlichen Prozeſſionen, Wallfahrten und Bittgänge, der geiſtlichen Orden
und Kongregationen beſtimmt das neue Recht ausdrücklich, daß die landes⸗
rechtlichen Vorſchriften unberührt bleiben. Das gleiche gilt hinſichtlich der
Vorſchriften zum Schutz der Feier der Sonn- und Feiertage, jedoch mit
der Einſchränkung, daß für Sonntage, die nicht zugleich Feſttage ſind, Be⸗
ſchränkungen nur bis zur Beendigung des vormittägigen Hauptgottesdienſtes
zuläſſig find. Unberührt geblieben find auch die Vorſchriften des Landes⸗
rechtes in Bezug auf Verabredungen ländlicher Arbeiter und Dienſtboten
zur Einſtellung oder Verhinderung der Arbeit. In Preußen gilt alſo nach
wie vor das Geſetz vom 24. April 1854, das die Koalition ländlicher
Arbeiter und Dienſtboten unter Gefängnisſtrafe ſtellt.
Am 15. Mai 1908 trat das deutſche Vereinsgeſetz in Kraft. Ein neuer
Frühling ſollte damit für das deutſche Vereins. und Verſammlungsweſen
erblühen. Aber ſchon nach wenigen Monden häuften ſich die Klagen nicht nur
über die Art der Anwendung des Sprachenparagraphen gegen die polniſchen
Gewerkſchaften im Ruhrgebiet, ſondern überhaupt über mannigfache Härten
und Chikanen und die öftere Überfchreitung der Befugniſſe ſeitens der Polizei⸗
organe, beſonders im preußiſchen Oſten. Schon jetzt zeigt ſich, daß der
vom Zentrum eingebrachte Antrag auf Einfügung von Strapvorſchriften
gegen Beamte, die ihr Amt dazu mißbrauchen, Verſammlungen zu vereiteln,
nicht der Berechtigung entbehrte. Auch dafür, daß juriſtiſche Interpretations⸗
künſte an dem neuen Geſetz ihre Dialektik zu üben vermögen, ſind ſchon
Beweiſe vorhanden.
In dieſem Zuſammenhang darf wohl auf das intereſſante chineſiſche
Vereinsgeſetz vom 11. März 1908 hingewieſen werden. Politiſche Vereine
dürfen nicht über 100 Mitglieder, politiſche Verſammlungen nicht über
200 Teilnehmer haben. Aktiven Militärperſonen, Polizeibeamten, Religions⸗
dienern, Lehrern und Schülern aller Lehranſtalten, Männern unter 20 Jahren,
Frauen, Analphabeten und mit Gefängnis Vorbeſtraften iſt der Beitritt zu
politiſchen Vereinen oder die Teilnahme an politiſchen Verſammlungen ver⸗
boten. Ausländer dürfen nur politiſche Verſammlungen veranſtalten. —
China erhielt übrigens im Berichtsjahr (14. März) auch ein Preßgeſetz,
das weitgehende preßpolizeiliche Beſtimmungen enthält. Nur chineſiſche
Reichsangehörige, die nicht vorbeſtraft find, können als Verleger, Heraus-
geber, Drucker oder Redakteur einer Zeitung tätig ſein. Die Strafverfolgung
der Preßdelikte verjährt in ſechs Monaten.
Eine Enteignung aus politiſchen Gründen brachte die Novelle zu
dem preußiſchen Geſetz betreffend Maßnahmen zum Schutze des Deutſchtums
5. Rechtswiſſenſchaft. 277
in der Oſtmark vom 20. März 1908. Dem Staat wird das Recht ver⸗
liehen, in den Bezirken, in denen die Sicherung des gefährdeten Deutſchtums
nicht anders als durch Stärkung und Abrundung deutſcher Niederlaſſungen
mittels Anſiedlungen möglich erſcheint, die hierzu erforderlichen Grund⸗
ſtücke in einer Geſamtfläche von nicht mehr als 70 000 Hektar nötigenfalls
im Weg der Enteignung zu erwerben. Von der Enteignung ausgeſchloſſen
ſind, ſofern der Eigentumserwerb vor dem 26. Febr. 1908 vollendet war,
Grundſtücke, die ſich im Eigentum von Kirchen, von Religionsgeſellſchaften
mit Korporationsrechten und von milden Stiftungen befinden. Der eigent-
liche Gegenſtand der Enteignung iſt, da die Zugehörigkeit zur polniſchen
Nation, alſo eine perſönliche Eigenſchaft, dafür maßgebend iſt und der Staat
die enteignete Sache an Dritte weiter gibt, nicht das Grundſtück, ſondern
der Beſitzer, nicht die Sache, ſondern die Perſon. Die Novelle beſchränkt
die Rechte der preußiſchen Staatsbürger polniſcher Zunge gegenüber den
andern Staatsbürgern, ſie ſchafft ein Ausnahmegeſetz, da unter ſonſt gleichen
Vorausſetzungen ein in den Händen eines Beſitzers deutſcher Abſtammung
ſich befindendes Grundſtück der Gefahr der Enteignung nicht ausgeſetzt iſt.
Daß die Anwendung des Geſetzes nur für den äußerſten Notfall — im
Jahr 1908 hat noch keine Enteignung ſtattgefunden — in Ausſicht ge
nommen ijt und das Geſetz als Drohmittel gegen die national ⸗polniſche
Propaganda gelten ſoll, ſchwächt die Tatſache der Erſchütterung einer der
Grundlagen der beſtehenden Geſellſchaftsordnung, des Grundſatzes von der
Unverletzbarkeit des Privateigentums, nicht ab.
Die drahtloſe Telegraphie (Funkentelegraphie) hat ſich in dem
äußerft kurzen Zeitraum ihrer praktiſchen Anwendung infolge der ſtändigen
techniſchen Vervollkommnung ſo entwickelt, daß ſie für den allgemeinen
Verkehr wie auch namentlich in militäriſcher Hinſicht die größte Beachtung
verdient. Zwei Übelſtände — der Umſtand, daß bei dieſer Art von Tele⸗
graphie die von der Gebeſtation entſandten Wellen ſich nach allen Richtungen
im Raum ausbreiten und nicht nur die beſtimmte, ſondern alle in ihrem
Wirkungskreis vorhandenen, auf eine Welle gleicher oder ähnlicher Länge
abgeſtimmten Empfangsſtationen beeinfluſſen, ferner der Umſtand, daß beim
gleichzeitigen Arbeiten mehrerer Gebeſtationen eine Störung der verſchiedenen,
gleich oder ähnlich abgeſtimmten Empfangsſtationen eintritt — zwangen zur
internationalen und landesrechtlichen Regelung. Ein internationaler Funken⸗
telegraphenvertrag trat am 1. Juli 1908 in Kraft (vgl. darüber ©. 279).
Für das Deutſche Reich beſtimmt weiter das Geſetz vom 7. März 1908
(Novelle zum Geſetz über das Telegraphenweſen vom 6. April 1892), daß
elektriſche Telegraphenanlagen, „welche ohne metalliſche Verbindungsleitungen
Nachrichten vermitteln“, nur mit Genehmigung des Reichs errichtet und be⸗
trieben werden dürfen. Das gleiche gilt für nicht ausſchließlich zum Ver⸗
kehr innerhalb eines Fahrzeuges beſtimmte Anlagen auf deutſchen Schiffen.
278 V. Wiſſenſchaften.
Für fremde Schiffe in deutſchen Hoheitswäſſern werden vom Reichskanzler
Anordnungen getroffen.
Die Vorlage betreffend den Verkehr mit Kraftfahrzeugen beſchäftigte
beim Abſchluß des Jahres noch die Kommiſſion. Oſterreich erhielt unterm
9. Aug. 1908 ein Automobilgeſetz (in Kraft ſeit 1. Nov.), das, allerdings
mit weſentlichen Milderungen, auf dem Grundſatz der Eiſenbahnhaftpflicht
aufgebaut iſt.
Bei der ganz enormen Bedeutung, welche in den letzten Jahren die
Waſſerwirtſchaft erlangt hat, iſt das lange Zeit als Stiefkind behandelte
Waſſerrecht wieder zu Ehren gekommen. In mehreren Bundesſtaaten hat
man auch Geſetze über die wirtſchaftliche Ausnützung der Waſſerkräfte er-
laſſen. In Bayern und Baden wurde als Beirat des Miniſteriums des
Innern in Angelegenheiten, die den Ausbau der beſtehenden und die An⸗
lage neuer Waſſerſtraßen ſowie die wirtſchaftliche Ausnützung der öffentlichen
und nicht öffentlichen Gewäſſer betreffen, ein Waſſerwirtſchaftsrat
errichtet. In der Schweiz, wo bisher der Ausbeutung der Waſſerkraft zum
Schaden der Allgemeinheit Tür und Tor geöffnet ſtand, wurde durch Volks-
abſtimmung (25. Okt.) der Verfaſſung ein Artikel eingefügt (Art. 23 bis),
demzufolge dem Bund die Oberaufſicht (nicht die Geſetzgebung) hinſichtlich
der Nutzbarmachung der Waſſerkraft übertragen wird. Der Bund ſtellt die
zur Wahrung der öffentlichen Intereſſen und zur Sicherung der zwed.
mäßigen Nutzbarmachung der Waſſerkräfte erforderlichen allgemeinen Vor⸗
ſchriften auf. Dabei ſoll auch die Binnenſchiffahrt nach Möglichkeit berück-
ſichtigt werden. Unter dieſem Vorbehalt ſteht die Regelung der Nutzbar⸗
machung der Waſſerkräfte den Kantonen zu. — Eine wertvolle Zuſammen⸗
ſtellung des Waſſerrechtes der deutſchen Staaten, hiſtoriſch wie ſyſtematiſch,
bringt Arno Klöß, „Das deutſche Waſſerrecht“ (Halle a. S., Knapp); auch
Otto Mayr, „Die Verwertung der Waſſerkräfte und ihre modernrechtliche
Ausgeſtaltung“ (Wien, Hartleben), und Jahns, „Das naturgemäßeſte
Waſſerrecht“ (Halle a. S., Knapp) ſind zu nennen.
Das neue Vogelſchutzgeſetz vom 30. Mai 1908 (in Kraft ſeit
1. Sept.) verbietet das Zerſtören und Ausnehmen von Vogelneſtern, das
Ausnehmen und Töten von Jungen, ferner (in der Zeit vom 1. März bis
1. Okt.) das Fangen und die Erlegung von Vögeln, den An- und Verkauf,
die Ein-, Aus- und Durchfuhr der in Europa heimiſchen Vogelarten, ihrer
Neſter, Eier und Brut. Die wichtigſte Beſtimmung iſt das Verbot des
Dohnenſtieges, der unter hohe Strafen geſtellt wird. Auch das Fangen
der übrigen Vögel mit Leim, Schlingen, Fallkäfigen uſw. iſt verboten.
Das neue Vogelſchutzgeſetz tritt zum erſten Male für Helgoland in Kraft,
das zur Zeit des alten Geſetzes (1888) noch engliſches Gebiet war.
Denkmalpflege und Heimatſchutz ſind Beſtrebungen, welche erſt
in der allerneueſten Zeit die gebührende Beachtung auch ſtaatlicherſeits finden.
5. Rechtswiſſenſchaft. 279
Der geſetzliche Ausbau dieſer Rechtsprobleme iſt im Fluß. Eine ſehr dankens⸗
werte Veröffentlichung gibt H. Lezius, „Das Recht der Denkmalpflege
in Preußen“ (Berlin, Cotta Nachf.). Neben den geſetzlichen Vorſchriften
finden ſich willkommene Ausführungen über den Begriff, die Geſchichte und
Organiſation der Denkmalpflege.
Eine wertvolle Bereicherung der kolonialrechtlichen Literatur bringt
H. Edler v. Hoffmann, „Verwaltungs- und Gerichtsverfaſſung der deutſchen
Schutzgebiete“ (Leipzig, Göſchen); es iſt die erſte zuſammenfaſſende Dar⸗
ſtellung des Behördenorganismus der Schutzgebiete, auch die entwicklungs⸗
geſchichtliche Seite findet Berückſichtigung. Zu nennen iſt ferner L. Sieglin,
„Die koloniale Rechtspflege und ihre Emanzipation vom Konſularrecht“
(Münſter i. W., Coppenrath), das erſte Heft der von Univ.⸗Prof. Dr Hub.
Naendrup herausgegebenen „Kolonialrechtlichen Abhandlungen“.
6. Völkerrecht. — Am 1. Juli 1908 trat der Internationale Funken.
telegraphen vertrag in Kraft. Der Vertrag, der auf einer Konferenz zu
Berlin am 3. Nov. 1906 von 31 Staaten abgeſchloſſen wurde, und an
deſſen Zuſtandekommen Deutſchland ein großes Verdienſt gebührt, ermöglicht
erſt einen geregelten funkentelegraphiſchen Verkehr und beugt gleichzeitig
allen einſeitigen Monopolbeſtrebungen vor, indem der von Deutſchland in
den Vordergrund geſtellte Satz, daß die verſchiedenen Syſteme zum Verkehr
untereinander verpflichtet fein müſſen, allgemeine Anerkennung fand (die
Marconi ⸗Geſellſchaft lehnte bisher einen Verkehr mit andern Syſtemen ab).
Italien und England wurden allerdings für die Zeit der mit der Marconi-
Geſellſchaft eingegangenen Verträge gewiſſe Zugeſtändniſſe gemacht. Die
Vereinigten Staaten von Amerika gingen noch über das deutſche Konferenz⸗
programm hinaus und ſetzten in einem von 21 Staaten (ausgeſchloſſen
haben fic) England, Italien, Japan, Portugal, Mexiko, Perſien) angenom-
menen Zuſatzabkommen durch, daß der Grundſatz der Verkehrspflicht auch
auf den Verkehr von Schiff zu Schiff, nicht nur auf den zwiſchen Küſten⸗
und Bordſtationen Anwendung findet. Ein ſtändiges internationales Radio⸗
telegraphenbureau wird in der Schweiz errichtet. Das Dienſtreglement läßt
für den öffentlichen Verkehr zwei Wellen, von 300 und 600 m Länge, zu.
Für Sonderzwecke (3. B. Großſtationen) kann von den Regierungen auch
die Anwendung anderer Wellenlängen geſtattet werden. Der Wellenbereich
zwiſchen 600 und 1600 m wird jedoch für militäriſche Zwecke freigehalten.
Zeppelins weltbewegende Fahrten haben das Luftrecht zu einem
aktuellen Problem gemacht. Wer iſt Eigentümer der Luft? Auch die draht⸗
loſe Telegraphie wird von dieſer Frage berührt. Das Inſtitut für inter-
nationales Recht hat ſich ſeit 1900 mit der Materie befaßt. In der Seſſion
1906 (Gent) legte Fauchille einen eingehenden Bericht vor. Wenn einerſeits
dagegen gekämpft wird, daß dem Staate die volle Souveränität an der Luft⸗
ſäule über dem Staatsgebiete zugeſtanden wird, ſo ſprechen anderſeits wichtige
280 V. Wiſſenſchaften.
Bedenken — Gefahr der Sprenggeſchoſſe im Krieg und bei inneren Wirren,
Schmuggel, Auskundſchaften, verbrecheriſche Anſchläge u. dgl. — gegen die
Unbeſchränktheit dieſes Prinzips. Eine ganz vorzügliche Zuſammenſtellung
der Fälle ſtaats⸗ und völkerrechtlicher, ftraf- und privatrechtlicher Schwierig⸗
keiten bringt der Züricher Profeſſor Fr. Meili in ſeiner kleinen Schrift
„Das Luftſchiff im internen Recht und Völkerrecht“ (Zürich, Orell Füßli).
Neben der völkerrechtlichen Freiheit der Luft in Friedens- und Kriegszeiten
wird die Zuſtändigkeit der einzelſtaatlichen Strafrechte bei Delikten, die
Haftpflicht, der Transport-. und Paſſagevertrag, die Konzeſſionserteilung
für Luftſchiffahrtsunternehmungen behandelt. Dr Grünwald ſtellt am
Schluß ſeiner Schrift „Das Luftſchiff in völkerrechtlicher und ſtrafrechtlicher
Beziehung“ (Hannover, Helwing) folgende Grundſätze auf: Der Luftraum
über der hohen See oder ſtaatsfreien Landſtrecken iſt freies Gebiet, über
den Küſtengewäſſern eines Staates iſt er deſſen Intereſſenſphäre. Der Luft⸗
raum über einem Staat iſt deſſen Eigentumsſphäre. Dem internationalen
Verkehr dürfen jedoch nur ſoweit Beſchränkungen auferlegt werden, als es
das Intereſſe des „Grundſtaates“ erheiſcht. Die Fahrzeuge des Luftverkehrs
werden in Staats- und Privatluftſchiffe unterſchieden. Jene ſollen in fremdem
Gebiet exterritorial ſein. Die Privatluftſchiffe ſollen außerhalb der Eigen⸗
tumsſphäre fremder Staaten unter dem Strafgeſetz des Heimatſtaates ſtehen. —
Das Recht der Luftſchiffahrt dürfte in vieler Hinſicht dem Seerecht ver-
wandte Züge tragen.
Am 14. Okt. 1908 wurde in Berlin die 2. Internationale Konferenz
zur Reviſion der Berner Urheberrechts übereinkunft vom 9. Sept. 1886
eröffnet. Sie war von 15 zur Union gehörenden und 20 zu ihr nicht
gehörigen Ländern beſchickt (die erſte Konferenz fand 1896 in Paris ſtatt).
Am 13. Nov. erfolgte die Unterzeichnung eines neuen Vertrages der Berner
Konvention zum Schutz der Werke der Literatur und Kunſt, die Ratifikation
ſoll bis Juli 1910 erfolgen. Das zum größten Teil auf deutſchen Vor⸗
ſchlägen aufgebaute Ergebnis der Konferenz iſt äußerſt inhaltsreich. Der
internationale Schutz des Urheberrechts ſoll unabhängig davon ſein, ob und
inwieweit der Urheber in dem Urſprunglande einen Schutz genießt. Doch
ſoll für die Dauer des Schutzes, grundſätzlich 50 Jahre nach dem Tode des
Urhebers, eine kürzere Friſt gelten, wenn die Landesgeſetzgebung eine ſolche
vorſieht. Das Überſetzungsrecht wird mit den Rechten am Originalwerk gleich-
geſtellt, der muſikaliſche Aufführungsvorbehalt wird beſeitigt, Komponiſten
und Fabrikanten mit wohlerworbenen Rechten werden gegen die unbefugte
Wiedergabe von Werken auf mechaniſchen Muſikinſtrumenten geſchützt, ebenſo
kinematographiſche Originalwerke gegen unbefugte Reproduktion und Werke der
Kunſt und Literatur gegen unbefugte Reproduktion durch Kinematographen.
Einen ungeahnten Erfolg des Schiedsgerichts gedankens brachte das
Berichtsjahr inſofern, als die Regierungen von Deutſchland und Frankreich
5. Rechtswiſſenſchaft. 281
übereinkamen, den Zwiſchenfall von Caſablanca dem Haager Schiedsgericht
zu unterbreiten. Dieſer Vorgang verdient die größte Beachtung, weil die
deutſche Regierung der Idee bisher nicht ſympathiſch gegenüberſtand. Deutſch⸗
land hat bekanntlich auf dem 1. Haager Friedenskongreß das Schieds⸗
gericht überhaupt und auf dem zweiten das obligatoriſche Schiedsgericht
bekämpft. Auch hat es bisher nur einen einzigen Schiedsvertrag geſchloſſen
(mit Großbritannien 12. Juli 1904). Ein zweiter (mit den Vereinigten
Staaten von Amerika) wurde am 22. Nov. 1904 eingegangen, iſt aber,
warum iſt nicht bekannt, bis heute noch nicht ratifiziert worden. Bis Ende
1908 haben England 12, Frankreich und Italien je 9, die Union 15 ſolcher
Verträge abgeſchloſſen. Deutſchland ſteht mit ſeinem einzigen Vertrag auf
einer Stufe mit Braſilien, Griechenland, Peru, Honduras und Rumänien.
Ein äußerſt bedeutungsvolles Ereignis iſt es daher, daß der Vorſchlag, die
Erledigung des Zwiſchenfalles von Caſablanca einem Schiedsgericht zu
übertragen, von deutſcher Seite gemacht wurde.
Die interparlamentariſche Union für Schiedsgericht und Frieden hielt
die 15. Konferenz vom 17. bis 20. Sept. in Berlin ab. Auf der Tages-
ordnung ſtand der obligatoriſche Schiedsgerichtsvertrag und die obligatoriſche
Vermittlung ſowie die Sicherung des Privateigentums zur See in Kriegs⸗
zeiten. Auch darin, daß der Kongreß auf deutſchem Boden und gewiſſer⸗
maßen unter den Auſpizien der Reichsregierung ſtattfinden konnte, darf
ein wachſendes Verſtändnis der maßgebenden deutſchen Kreiſe für die Idee
friedlicher Verſtändigung und für die Organiſation internationaler Rechts⸗
ſicherung erblickt werden.
Oſterreich und Ungarn traten der Internationalen Übereinkunft zum
Schutz des gewerblichen Eigentums vom 20. März 1883 bei; infolgedeſſen
wurde ein neues Übereinkommen zwiſchen dem Deutſchen Reich und Oſterreich
bzw. Ungarn geſchaffen (17. Nov. 1908), das am 1. Jan. 1909 in Kraft trat.
Die bedeutendſte literariſche Erſcheinung auf völkerrechtlichem Gebiet
iſt ohne Zweifel die vollſtändige Neubearbeitung von E. v. Ullmanns
„Völkerrecht“ (Tübingen, Mohr). Es iſt gegenwärtig das einzige Hand⸗
buch, das auf der Höhe der Zeit ſteht (die 1907 erſchienene 5. Auflage von
F. v. Liſzts „Völkerrecht“ nimmt von den Arbeiten der 2. Haager Konferenz
noch keine Notiz). — Eine wertvolle Literaturüberſicht über die zahlreichen
völkerrechtlichen Probleme bringt W. v. Rohlands „Grundriß des Völker⸗
rechts“ (Freiburg, Troemer), der auch eine willkommene Zuſammenſtellung
der „Völkerrechtsquellen“ (ebd.) veröffentlicht hat. Die erſte deutſche Arbeit
über „Die zweite Haager Konferenz“, die eine ſehr gute Aufnahme fand,
ſchrieb A. H. Fried (Leipzig, Eliſcher Nachf.). Kurz vor Jahresſchluß
erſchien noch der erſte Band eines gleichnamigen Werkes von Otfr. Nip⸗
pold (Leipzig, Duncker u. Humblot).
VI. Literatur.
1. Lyrik und Epik.
Don Dr Lorenz Krapp.
die Lippen, wenn man die Lyrik und Epik unſerer Tage prüfend
überſchaut. Es iſt ſeine Klage: „O weh! Wie ſich gebarn die
jungen Leute nun! Wie ſie verzagt im Herzen, wie jämmerlich ſie tun.“
In der Tat: es beſteht heute in der Lyrik eine große Kluft zwiſchen Kunſt
und Leben. Unſere materielle Kultur zeigt einen Aufſchwung von höchſtem
Glanze; nur unerhörte Aktivität, ſtolzeſter Tatendrang, raſtloſes Arbeits-
feuer konnten ſie ſchaffen. Aber wie ſpiegelt ſich dies Leben der aufs höchſte,
bis zur Zerrüttung der Nerven bei Tauſenden geſteigerten Arbeit in unſerer
Kunſt wider? Die einen Lyriker kauern am müden Herdfeuer des Peſſi⸗
mismus und entzünden an ihm den matten Glanz ihrer Kerzen; andere
verlieren ſich in den verfallenen Schatzkammern fremder, verſunkener Reiche
und heben die ſchlaffe und ſchlafende Traumwelt Buddhas, die überladene,
ſinnbeſtrickende Pracht des Roms der Cäſaren und des Hellenismus der
Diadochen vor uns empor; wieder andere verkünden ein aller Wirklichkeit
abgewandtes Reich des l’art pour l'art als die Heimſtätte ihrer Seele. Und
wenige, bitterwenige ſind endlich, die ſpiegeln in Wahrheit das Leben unſerer
Zeit wider: dies raſtloſe, in der jungen Kraft des Optimismus ſchwelgende,
in Arbeitsluſt ſich verzehrende Leben, das Raum und Zeit überbrückte, die
Elemente des Waſſers und der Luft bändigte, das im jubelnden Tatendrang
den fernſten Grenzen der Erkenntniſſe zuſtürmt.
Warum, ſo fragen wir erſtaunt, findet unſere Zeit nicht ihren Dichter —
warum iſt das Kunſtwerk unſerer Zeit noch ungeboren? Liegt es am Un-
vermögen der Schaffenden? Gewiß — wir haben wohl heute Talente in
ungemeſſener Zahl, mehr als ſelbſt in den klaſſiſchen Zeiten unſerer Literatur,
aber an großen Genien fehlt es uns. Doch dieſer Grund vermag wohl
zu erklären, warum wir noch kein großes, klaſſiſches Kunſtwerk unſerer Zeit
beſitzen, nicht aber, warum unſere Kunſt vom Geiſte unſerer Zeit ſich direkt
E. bitteres Wort Walthers von der Vogelweide drängt ſich einem auf
1. Lyrik und Epik. 283
abwendet. — Oder liegt der Grund darin, daß unſer Zeitalter der Maſchinen
und Luftſchiffe zu wenig von dem an ſich hat, was dem Künſtler als
Material zu großer Kunſt dienen kann — mit anderem Worte: daß unſer
Zeitalter dem ſchönheitſuchenden Geiſt nüchtern und unpoetiſch erſcheint?
Auch dieſer Grund kann nicht entſcheidend ſein. Denn ſeit den Tagen
der Aſthetiker der Hochromantik haben wir die Erkenntnis gewonnen, daß
kein Gebiet des Lebens und keine Zeit ſich der Möglichkeit dichteriſcher
Geſtaltung entzieht. Und wenn wir darüber noch irgend einen Zweifel
haben könnten, würden wir eines andern belehrt werden durch das Beiſpiel
zweier Geſtalten, die zu den größten der Weltliteratur gehörten und die
gerade in unſern Tagen wieder ihre Auferſtehung feiern durften: ich meine
Dante und Walther von der Vogelweide.
Beide haben durch den Dichter Richard Zoozmann eine Wieder⸗
erweckung erſahren. Iſt die Ausgabe Walthers von der Vogelweide (Stutt-
gart, Greiner u. Pfeiffer) eine glänzend gelungene Moderniſierung des
größten deutſchen Minneſängers, die ein hervorragendes Nachfühlungs⸗ und
Nachbildungstalent beweiſt, fo ijt die Verdeutſchung Dantes 1 eine literariſche
Tat, die Zoozmann einen Platz in der Reihe der großen deutſchen Meiſter
der Überſetzungskunſt anweiſt. Die vier Bände der en regard-Ausgabe mit
dem Titel „Dantes Poetiſche Werke“ (Freiburg, Herder) umfaſſen außer der
„Göttlichen Komödie“ die Vita nuova und die lyriſchen Gedichte Dantes.
Ihre Form, die Schlegelterzine, die den Reim nur in der erſten und dritten
Zeile feſthält, ermöglichte Zoozmann eine noch größere Bewegungsfreiheit,
als jene war, die er in ſeiner vor zwei Jahren erſchienenen Dante⸗Ausgabe
des Verlages Max Heſſe (Leipzig) gezeigt hatte. So kam hier eine Ausgabe
zu ſtande, deren Verbindung von tiefſter Treue gegenüber der Perſönlichkeit
des Dichters und ſchönſter Freiheit in der Wiedergabe der Gedanken ein
Zeugnis eiſernen Fleißes, hohen Talentes und feinſter Nachempfindung
darſtellt.
Bei Walther und Dante, dieſen beiden großen laudatores temporis
acti, fühlen wir noch ungebrochen die Einheit von Kunſtwerk und Leben.
Der Pulsſchlag ihrer Zeit durchhämmert ihre Werke; Religion, Recht, Politik,
Handel und Wandel ihrer Epoche ſchauen uns lebendig, mit ſouveräner
Künſtlergewalt in ihren bedeutſamſten Außerungen geſtaltet, aus ihren Werken
an. In wie enge Kammern haben wir ſeitdem die Kunſt verjagt! Wie
eng haben wir die Schranken um den heiligen Tempelbezirk des Poetiſch⸗
Schönen gezogen! Wo heute ein Künſtler in flammenden Geſängen noch
ein Rügelied voll des zürnenden Eifers Dantes ſingen wollte, träten wir
ihm entgegen mit dem Satze der doch längſt gerade im weſentlichen als
falſch erkannten Weimarſchen Aſthetik: „Politiſch Lied, ein garſtig Lied“.
1 Bgl. auch Abſchnitt V, 4, D: „Romaniſtik“ S. 258.
284 VI. Literatur.
Der große Haß und die große Liebe, die treibenden Elemente aller großen
Künſtler, ſind gewichen und haben, vor allem in der Lyrik, oft verblaſenen
Stimmungsmalereien, in tauſend Retorten geſiebten und zerſiebten Gefühlen
und Gefühlchen Raum gemacht. Die Kunſt als Weckerin und Führerin
zum Leben zerrann uns immer mehr. Vor dieſer einen, bittern Erkenntnis
tritt alles zurück, was ſich ſonſt über die Kunſt, vor allem die Lyrik,
unſerer Zeit und ſpeziell des Jahres 1908 ſagen läßt.
Kein Wunder, daß ſich unſere Zeit daher mit einem Eifer, für den
wir nur zur Zeit der Romantik ein Gegenſtück finden, wieder den alten
Schätzen unſerer und der fremden Literaturen zuwendet. Kundige Führer
zu den alten Meiſtern gibt es reichlich in unſerer Zeit: ich nenne nur
Avenarius, Bartels, Grotthuß, Kralik, Wilhelm Schnnpp. So erleben
die Anthologien von Ferd. Avenarius' „Hausbuch deutſcher Lyrik“
und „Balladenbuch“, die mit ſchlichten, von echt deutſchem Geiſte durch⸗
wehten, kraftvollen Bildern geſchmückt ſind, ſtändig ſteigende Auflagen.
Eine treffliche Sammlung iſt die Blütenleſe aus acht Jahrhunderten „Was
die Zeiten reiften“ (Leipzig, Voigtländer), ausgewählt durch die Litera⸗
riſche Kommiſſion der Lehrervereinigung für die Pflege der künſtleriſchen
Bildung in Hamburg. Von Kürnberger an bis herauf zu Angengruber
und Hans Hopfen ſind die Beiträge gewählt; mit feinem Sinn iſt nur
das dauernd Wertvolle, wahrhaft Echte geſammelt. Die Betonung des
edeln Gehaltes tritt hier mit Recht mehr hervor als bei andern Samm-
lungen der Hamburger Lehrer, bei denen manchmal die Wertſchätzung des
Formalen gegenüber der des Inhaltes und Gehaltes überwog. „Alte liebe
Lieder“ (Leipzig, Grunow) heißt ein anderes ähnliches Bändchen, das G. Wut
mann, der ſichere Kritiker deutſchen Stils und deutſcher Stilverwüſtung,
zuſammenſtellte. Hier iſt auch über die eigentliche Literatur hinausgegriffeu;
denn das Bändchen enthält auch manche jener herzgoldigen, gänzlich
unliterariſchen, oft unſtiliſtiſchen und doch unſere Erinnerung mit weh⸗
mütigem Klang durchſtrömenden Lieder, die unſere Väter und Groß⸗
väter ſangen. Hier ſehen wir, daß auch in den Generationen unſerer
nächſten Vorfahren noch neben dem majeſtätiſchen Strome der National⸗
literatur Tauſende anderer unſcheinbarer Quellen ſprangen; daß hier Lieder
aufblühten gleich dem Volksliede, deren Verfaſſer niemand kennt, und die
nur das geſprochene und geſungene Wort forttrug. Von der im Bann⸗
kreiſe des „Kunſtwart“ geſchaffenen Sammlung „Der deutſche Spielmann“
(München, Callwey), die Ernſt Weber herausgibt, ſind wieder einige
Bände erſchienen; prächtig iſt an dieſem gründlichen und feinſinnigen
Sammelwerke vor allem das von Matthäus Schieſtl in ſeiner lieben, herz⸗
treuen, kerndeutſchen Holzſchnittmanier illuſtrierte Bändchen vom Tode. —
Die „Bibliothek deutſcher Klaſſiker für Schule und Haus“ (Freiburg,
Herder), herausgegeben und mit Einleitungen ſowie Erläuterungen verſehen
rm a as:
1 I Fi
1. Lyrik und Epik. 285
von Gymnaſialdirektor Dr Otto Hellinghaus, iſt 1908 mit den
drei Bänden „Romantik, Dichtung der Freiheitskriege, Chamiſſo, Platen“
(Bd T), „Der ſchwäbiſche Dichterkreis, Oſterreichiſche Dichter“ (Bd II)
und „Vom jungen Deutſchland bis zur Gegenwart“ (Bd XII) zum Abſchluſſe
gelangt. Vor allem der Schlußband, der lediglich Lyrik enthält, iſt eine
wertvolle Gabe. Er reicht bis 1880 und enthält nur Dichtungen von
bereits Toten; darüber hinauszugehen verboten der Raum und die durch
das Urhebergeſetz von 1901 gezogenen Grenzen. Dieſer Selbſtbeſchränkung
danken wir es, daß die lyriſchen Charakterbilder derer, die darin zu Worte
kommen, lückenlos gezeichnet ſind; ſo reichen z. B. die 30 Stücke von
Konrad Ferdinand Meyer und die 15 von Theodor Fontane völlig aus,
die Grundzüge und das Weſentliche ihrer lyriſchen Kunſt zu erkennen. —
Gedenken müſſen wir endlich eines alten, biedern Hausfreundes, der im
Berichtsjahre ein ſeltenes und ehrwürdiges Jubiläum feiern konnte: es iſt
O. L. B. Wolffs, des Goethe ⸗Schülers, „Poetiſcher Hausſchatz des deutſchen
Volkes“ (Leipzig, Wiegand). Genau vor 100 Jahren hat kein Geringerer
als Goethe den Plan zu dieſer Anthologie gefaßt, die aber erſt nach ſeinem
Tode, im Jahre 1839, zum erſtenmal erſchien und nun in weit über einer
Viertelmillion Exemplaren in die Welt gewandert iſt. Sie wurde vom
neuen Herausgeber Dr H. Fränkel um viele gute Beiträge auch aus
neueſter Zeit bereichert.
So iſt für unſer Volk wahrlich kein Mangel an Werken, die uns große
Zeiten und große Meiſter wieder vor Augen rücken. Das iſt ein Zeichen,
daß in weiten Kreiſen unſeres Volkes jenes Gefühl der vielfachen Dis⸗
harmonie zwiſchen heutigem Leben und heutiger Kunſt lebendig iſt. Denn
wie könnte es ſonſt kommen, daß wir, die wir auf dem Boden einer völlig
umgewälzten materiellen und einer vielfach geänderten geiſtigen Kultur empor⸗
wuchſen, uns bei Schiller und Uhland geborgener, ruhiger, heimatlicher
fühlen als bei den meiſten unſerer zeitgenöſſiſchen Dichter? Ewige Ideen
leuchten eben dort und ewige Sterne brennen. Und die Kunſt iſt dort
noch Führerin des Lebens.
Aber tun wir unſerer Zeit nicht unrecht. Hohe, ſtarke Anſätze zu großer,
lebendiger Poeſie leben doch auch in ihr. Denn wir können heute ſcharf
und klar drei lyriſche Strömungen unterſcheiden. Ich gebrauche das Wort
Strömung, wiewohl ich weiß, daß ein ſeltſamer Subjektivismus dies Wort
auf künſtleriſchem Gebiete heute völlig ausmerzen will. Nach ihm iſt jedes
Aufſuchen treibender Bewegungen im künſtleriſchen Leben Verkennung der
Übergewalt der einzelnen, führenden, in ſich gerundeten Perſönlichkeiten, iſt
Hang zum Schema, zur „Wolluſt der Numerierung und des Regiſters“.
So kam man heute ſogar dahin, auf jede innere Gliederung der neueren
Kunſtentwicklung zu verzichten und gliederte in einer Art, die an die primi-
tive Methodik der alten Magdeburger Zenturiatoren gemahnt, die neue
286 VI. Literatur.
Dichtung nach Jahrzehnten (R. M. Meyer) oder gar nach Generationen
(Fr. Kummer): ein Verſuch, den Meyer glücklicherweiſe ſelbſt wieder aufgab.
Aber mir ſcheint, die haben bitter unrecht, die glauben, der Künſtler ſtehe
in ſo göttlicher Firneneinſamkeit über dem Leben, daß nichts von den
Strömungen der Welt und der Geiſter an die myſtiſchen Pforten feiner
Perſönlichkeit ſchlage, — die glauben, jede künſtleriſche Perſönlichkeit ſei
ein Omphalos der Welt. Nein, bleiben wir bei dem ſchlichten Satze, daß
alles Wiſſen und Erkennen nichts iſt als ein Ordnen und Gruppieren. Da
ſehen wir zunächſt als breiteſte lyriſche Strömung heute jene, die jedes
Erlebnis in einen Herzenserguß voll höchſter Subjektivität auflöſt. Es ſind
die Ichlyriker; ihre Reihe geht von einfachen, unkomplizierten, mit ſich
innerlich klaren Perſönlichkeiten wie Guſtav Falke oder M. Herbert hinweg
über Geiſter wie Liliencron bis zu den krauſen, komplizierten, faſt ſtets im
dionyſiſchen Taumel raſenden Werken Rich. Dehmels. Dieſe Lyriker haben
in ihrer Belauſchung der geheimſten Seelenregungen und in ihrem Streben,
den oft unwägbar feinen und tauſendfältig differenzierten Gefühlen völlig
adäquate Worte zu leihen, uns tiefe ſeeliſche Aufſchlüſſe gebracht. Noch
größer aber iſt das Verdienſt, das ſie der deutſchen Sprache erwieſen. Ich
nehme hier ſelbſt Geiſter wie Dehmel nicht aus, deſſen Kunſt jedermann
ablehnen wird, der in deutſchen Landen noch einen Reſt innerer Sauberkeit
in ſich trägt. Seine Lyrik iſt in ihrem Grundkerne ein einziger gellender
Brunſtſchrei. Aber formell -ift er ein Sprachgewaltiger. Denken wir etwa
an die Inbrunſt und den Bilderglanz der Sprache Schoenaich⸗Carolaths,
Herberts oder Dransfelds, an die ſchlichte Melodie Guſtav Falkes, an die
Plaſtik der beſten Stücke Liliencrons, ſo werden wir erkennen, daß unſere
Zeit in der Kraft, die Sprache zu biegen und zu bilden wie ſchmiegſamen
Ton, ſelbſt über die Zeiten Goethes und der Klaſſiker hinausſchritt.
Der rein ſubjektiven Ichlyrik ſteht jene gegenüber, die — unter Zurück⸗
drängung eines jeglichen Subjektivismus — große, allgemeine Menſchheits⸗
gedanken in die Form des Liedes bannt. Sehen wir hier von Richard
v. Kralik ab, ſo ſtehen wir vor einer Gruppe, die faſt völlig ausgeſtorben iſt
oder deren Vertreter erſt zag und taſtend ſich wieder ihre Wege ſuchen. Wo
ſind die alten großen Formen des Vaterlandsliedes, des Kirchenliedes, des
Streit- und Siegesliedes, des Tanzliedes, alle jene Formen, die zur Zeit der
erſten großen Blüte der deutſchen Nationalliteratur im Mittelalter geradezu
den Grundſtock der deutſchen Lyrik ausmachten? Es ſcheint, als ſtürben ſie
aus, geradeſo wie die wunderbare Blüte des Volksliedes verdorrt, vom raſenden
Gang unſerer Kultur der Maſchinen und rauchenden Schlote zertreten erſcheint.
Aber wie die Kirche, die Schule ſowie die unabſehbare Reihe der Unter⸗
nehmungen zur Volksbildung ſicher nach und nach den ſchweren Schaden, den
unſere zu jäh hereinbrechende neue techniſche Kultur dem Gemütsleben unſeres
Volkes brachte, beheben wird, — wie dann unſer Volk wieder die alten
„24. 2 12 T C 1
1. Lyrik und Epik. 287
ſchlichten Weiſen feiner Väter fingen und neue mit feiner unverwüfſtlichen,
raſtlos geſtaltenden Phantaſie finden wird: ſo wird es auch mit jenen
Gattungen der Lyrik ſein. Anſätze dazu finden wir ſchon in den Beſtrebungen
der Heimatkunſt, in den Liedern Ernſt Wachlers, Wilh. Oehls, P. Gaudentius
Kochs, Franz Eicherts und in manchen Dichtungen Handel⸗Mazzettis, Wilden⸗
bruchs und ſelbſt Liliencrons und Falkes.
Und endlich die dritte Strömung, die des Prinzips L'art pour l'art.
Ihre Männer ſind die, denen das Wie in der Kunſt alles iſt, das Was
wenig oder nichts. Der Kern der Lyrik iſt ihnen die Form; nichts weiter.
Es iſt das breite Gefolge derer, die auf den Namen Stefan George und
Hugo v. Hofmannsthal ſchwören, deren Kunſt eine eſoteriſche, auf einen
Geheimbund Getreueſter berechnete iſt. Ihre Kunſt hat immer ariſtokratiſche
Geſten; aber der kühl Schauende zuckt die Schultern: es iſt nicht die Kunſt
von Ariſtokraten, ſondern höchſtens von Akrobaten. Sie iſt am Ausſterben.
Und niemand widmet ihr eine Träne.
Die Lyrik unſerer Tage erſcheint damit auf wenige Grundſtrömungen
reduziert. Aber es wäre falſch, nun zu glauben, es ſei mühelos, die einzelnen
Werke in dieſe Gruppen einzubeziehen. Denn es gab keinen Zeitraum der
deutſchen Literaturgeſchichte, in der eine ſolche Fülle, ja — faſt entringt
ſich mir das Wort — Überfülle von Individualitäten, von ganz ſcharf und
entſchieden gezeichneten Dichterperſönlichkeiten tätig war. Wir ſtehen, rein
quantitativ gemeſſen, ſicher in einer Zeit der Blüte der Lyrik — ob es
eine Hochblüte iſt, können wir freilich nicht ſagen, weil uns die hiſtoriſche
Diſtanz noch fehlt; in einer Zeit der Blüte der Lyrik ſtehen wir aber auch
qualitativ. Es läßt ſich ſelbſt von dem, der mit äußerſter Vorſicht die jäh
ſich überſtürzenden Erſcheinungen des Geiſteslebens von heute betrachtet, nicht
verkennen, daß unſere Lyrik reicher, innerlicher, vertiefter iſt als die der
Jahrzehnte etwa von 1850 an. Wohl blitzt es auch heute allenthalben
von Rauſchgold, und die Acker des Dilettantismus wuchern fett und fröh⸗
lich; aber alljährlich erſcheint an wirklich Gutem doch erſtaunlich viel.
Freilich gilt das nur von der Lyrik, nicht von der Epik. Es hat
Stimmen gegeben, die das Epos überhaupt für abgelöſt erklärten durch
den Roman; eine Anſicht, die jedoch mehr radikal als richtig iſt. Aber in
der Tat brachte das Jahr 1908 faſt nur ein einziges Epos, das dichteriſchen
Wert in ſich trägt, die ſteiriſche Mär „Maria vom Gölk“ von R. Eug.
Prumler (Graz, Styria). Das alte Fauſtmotiv vom Vertrag mit dem
Teufel liegt der im vierfüßigen Trochäus mit ſeinem friſch gleitenden Tonfall
erzählten Dichtung zu Grunde; aber die Düſterkeit dieſes Motivs vom
Teufelspakt iſt glücklich vereint mit der lebendigen und hell leuchtenden
Fröhlichkeit der Schilderung ſteiriſchen Volks. und Ritterlebens in alter
Zeit. Ja, oft bricht ſelbſt ein kraftvoller, breit lachender Humor aus den
Blättern. Ein knapp und ſicher entwickelter Gang der Handlung gehört
288 VI. Literatur.
zu einem Hauptvorzug des Werkes. Der Sang aus der Piaſtenzeit „Sigurd“
von H. A. Konrad (Leipzig, Volger) iſt Dilettantismus; von geradezu
bewundernswerter Unerſchrockenheit aber iſt D. Seeberg, der einen „Sang
von der Ruhr“ (Berlin, Walther) herausgab, der ſeltene Gipfel der Un-
gereimtheit erſteigt. Wir erwähnen das Werk nur, weil es deutlich zeigt,
wie tief die Epik zur Stunde daniederliegt. Nie würde heute ein Lyriker
ſich mit derlei formloſen Monſtren hervorwagen.
Die ſteiriſche Märe Prumlers erinnert nicht bloß formell, ſondern auch
in ihrer Anlage an einen Dichter, der durch eine Ausgabe feiner „Nach-
gelaſſenen Dichtungen“ (Stuttgart, Bonz u. Co.) uns wieder ins Ge⸗
dächtnis gerufen wurde: an Joſ. V. v. Scheffel. Johannes Proelß, ſein
Biograph, hat alles dichteriſch Bedeutendere geſammelt, das ſich noch im
Nachlaß ſowie in den Händen von Freunden des Verſtorbenen befand. Es
iſt ein ſtattliches Bändchen geworden, in deſſen vier Abteilungen (Aus der
Jugendzeit, Aus den Aventiure- Jahren, Im neuen Reich und Fünf größere
Dichtungen) ſich neben viel Durchſchnittsgut doch auch zahlreiche Lieder
finden, die einen Ehrenplatz in Scheffels Gedichtſammlungen hätten ein⸗
nehmen dürfen. Bemerkenswert iſt, wie Scheffel ſchon in ſeinen erſten
Jugendgedichten, außer vielleicht von Lenau, auch durchs Volkslied beeinflußt
iſt. Die beſten Lieder der Sammlung ſind die an ſeine tote Schweſter
Maria, ſowie auch die innigen Huldigungsgedichte an Johann Peter Hebel
(Im Schwarzwald) und an Emanuel Geibel. Aber im letzten Grunde iſt
unſere Zeit doch über das meiſte in Scheffels Lyrik hinausgewachſen, und
oft kommt uns des Katers Hiddigeigei bewegliche Klage auch bei ihm ſelbſt
in den Sinn: „Denn die Kunſt ging längſt ins Breite“. Am Verhältnis
unſerer Zeit zu Scheffel ſpüren wir es vielleicht am deutlichſten, wie der
Weg der heutigen Lyrik mehr und mehr ins Innere ging.
Wie groß iſt nicht etwa der Gegenſatz zwiſchen ihm und einer Gruppe
von Lyrikbüchern des Jahres 1908, die ich zuſammenfaſſen möchte unter
dem gemeinſamen Ausdruck „Bekenntnisbücher“! Es ſind das in erſter
Linie M. Herberts „Lebenslieder“ (Köln, Bachem) und Ernſt Thra⸗
ſolts De profundis (Kempten, Köſel), dann die Gedichte „Mein Herz“ von
Iſabelle Kaiſer (Stuttgart, Cotta Nachf.), das „Neujahrsbuch“ von Cäſar
Flaiſchlen (Berlin, Fleiſchel u. Co.) und die „Gedichte“ Max Geißlers
(Leipzig, Staackmann). Von zwölf Liedern Scheffels hätte elf vielleicht auch
Baumbach ſchreiben können, ſo wenig ſcharf abgegrenzt ſind damals noch
die Individualitäten. Aber bei den Gedichten, die in dieſen fünf Büchern,
vor allem in jenen Herberts und Thraſolts, ſtehen, kann ſich gar nicht
der Gedanke an eine andere ſchöpferiſche Perſönlichkeit erheben. Sie ſind
eben Lebensbruchſtücke, ſie ſind oft tief erſchütternde documents humains,
die aus langer Verſenkung in die dunkeln Tiefen des Seelenlebens erfloſſen.
Es kommt das auch in einer merkwürdigen Erſcheinung zum Ausdruck, die
1. Lyrik und Epik. 289
wir an dieſen Gedichten wie überhaupt an der neueſten Lyrik beobachten,
und die wiederum den tiefen Gegenſatz zwiſchen der heutigen Lyrik und
jener der Jahre nach 1850 andeutet. Ich meine die zykliſche Form, die
faſt allen bedeutenden Neuerſcheinungen der Lyrik des Berichtsjahres wie
überhaupt der letzten Jahre eigen iſt. In Zyklen ſchreiben die modernen
Lyriker ihre Bücher. Sie benennen fie „Eros“, De profundis, „Lebens-
lieder“ oder wie immer; aber immer behandeln ſie bloß ein Thema, das
ſie gleichſam von allen Seiten betrachten, von dem ſie — wie bei einem
Prisma — alle Reflexe auffangen, und in das ſie ſich dadurch immer tiefer
verſenken. Wer die moderne bildende Kunſt beobachtet, gewahrt das gleiche;
ſo ſind z. B. Max Klingers Radierungen faſt alle Zyklen. Das war in
der Zeit Dahns und Scheffels unerhört. Dort umfaſſen die lyriſchen Werke
die mannigfaltigſten Themen und die konträrſten Gefühle, die himmelhoch
jauchzenden wie die zu Tode betrübten. Auch hier alſo wieder ein Zeichen
wachſender Verinnerlichung; und Verinnerlichung heißt ja die koſtbarſte Er⸗
rungenſchaft, heißt das Königinnendiadem der modernen Lyrik.
Die Verinnerlichung iſt beſonders das Zeichen von M. Herberts Lyrik.
Ihre „Lebenslieder“ ſind auf einen Ton der Schwermut geſtimmt wie alle
ihre Lyrik. Die arme Schönheit der Oberpfalz, der neuen Heimat der in
Melſungen (Heſſen) geborenen und nun in Regensburg lebenden Dichterin,
hat ihre Seele ergriffen; ſo entſtehen Lieder, in denen die Seele der Natur
aufblüht, in denen die Betrachtung des demütigen Reizes des Tales der
dunkeln Naab mit ſeinen Felſen, grauen Wäldern und wilden Blumen ihr
Anlaß zu Reflexionen über die innerſten Vorgänge der Seele wird. Mutter⸗
lieder, Liebeslieder, Lieder auf teure Tote, Hymnen auf die fürſtliche Herr-
lichkeit der Renaiſſance mit ihren Geiſtern Leonardos und Michelangelos
ſchließen ſich an. Aber Natur, Liebe und Kunſt vermag das Herz dieſer
tiefgründigen Frau nicht zu füllen. Bei „Sturm und Quelle und Erde
und Meer“ hat ſie Heimſtatt für den Frieden des Vergeſſens geſucht; aber
nur das tote, ſtarre Schweigen hat ihr geantwortet. So kommt ſie zu Gott.
In religiöſen Liedern voll verzehrenden Feuers und milder Beruhigung
klingen die Lieder ihres Lebens aus. Mich gemahnt ihre Lyrik an das
Bild einer Veſtalin, die in ſich verſunken, alle Hoffnungen und Schmerzen
des Lebens begrabend, am geheiligten Herdfeuer ſteht, während draußen
der Chor irdiſcher Sorgen, lärmenden Korybanten gleich, vorüberbrauſt.
Das Buch Thraſolts hat den gleichen Grundton wie das Herberts.
Nur ſind hier alle Farben dunkler, alle Gefühle leidenſchaftlicher, das
Suchen nach Gott wird zum Kampf um Gott. De profundis clamavi —
ja: zum Schrei wird hier das Gebet um Gnade. Das Buch iſt den
„Leviten des Prieſtertums“ zugeeignet; man wird ſeinen tiefſchmerzlichen
Grundton nur erfaſſen, wenn man die Bemerkung S. 17 lieſt, in der der
Dichter berichtet, daß er vorübergehend durch Schickung on von ber
Jahrbuch der Seite und Kulturgeſchichte. II.
290 VI. Literatur.
Prieſterweihe zurückbleiben mußte. Faſt mutet der leidenſchaftliche Ernſt
dieſes Buches ſtarr und finſter an; faſt ſpürt man mehr die Majeſtät der
Idee des in Wolken thronenden altteſtamentlichen Gottes als die Milde
des Erlöſerbegriffs. Aber auch ſo gehört dies Buch, deſſen gewaltſam zum
Durchbruch drängende Gedanken oft die kühle Form ſprengen, zu den be⸗
deutſamſten Büchern des Jahres. — Auch im Werke Iſabelle Kaiſers
walten die dunkeln Töne vor, aber ſie ſind gemildert durch einen Zug edler
Ergebung. Amori et dolori sacrum lautet der erſte Zyklus des Buches,
der von entſagender und leidender Liebe ſpricht; große Viſionen wie „Alles
iſt ruhig am Schipkapaß“ und „Die Abtei“ folgen; Lieder aus Italien und
Gedichte an ihre Mutter zeigen ein Talent, das Glanz und Ebenmaß der
Form mit hoher Innigkeit vereint und die Schulung an der Einfachheit
des Volkslieds verrät. — Kernige Gedenkſprüche, Zeichen einer männlich
gereiften Weltbetrachtung, enthält des Schwaben Cäſar Flaiſchlen „Neu ⸗
jahrsbuch“, ein koſtbar ausgeſtattetes Werkchen; denn es beſteht aus lauter
Fakſimiles des Autors. — Max Geißlers Gedichte zeigen im Gegenſatz
zu dieſen Büchern ein wohl auch durch viel Leid geprüftes, aber nun in
ſonnigem Genügen leuchtendes Dichterherz. Fein empfundene Naturlieder
mit ganz neu und intim geſchauten Bildern (Mit ew'gen Glocken läutet klar
das Meer; Die ſchweigenden Akazien tauen ihr Silber klingend in die Nacht;
Das Roß der Nacht, Reif in der Mähne, ſteigt in der Gründe Dämmer⸗
grau, ins Zaumzeug knirſcht es wild die Zähne) erfreuen zuerſt; ein herz ⸗
fröhlicher Zyklus „Märchenbuch“ und eine Reihe Balladen mit vorwiegend
nordiſchen, in prachtvoller Knappheit entrollten Motiven ſchließt ſich an. —
Verwandt mit Geißlers poetiſcher Naturanſchauung iſt jene Chriſtoph
Flaskamps, deſſen Büchlein „Die alte Geige“ (Münſter, Coppenrath) ein
gutes Zukunftsverſprechen bedeutet; ſeine ſtimmungmalende Lyrik bedarf
nur noch einer größeren Plaſtik, die ſie vor Verfließung und Zerfaſerung
ſchützt.
Die Reihe dieſer Bekenntnisbücher gehört durchweg jener Gruppe Lyrik
an, die wir unter den Begriff der Ichlyrik bezogen. In dieſe Gruppe fällt
auch eine Reihe von vier Büchern, die — in der charakteriſtiſchen zykliſchen
Form — das uralte Dichterthema der Liebe behandeln. Das ſchmale
Bändchen „Du meine Göttin“ von Joh. Mayrhofer (Berlin, Sonntags⸗
glocken) zeigt Empfindungskraft und Formgefühl. In der glanzvollen Aus-
ſtattung der Werke des Diederichsſchen Verlags (Jena), die das Entzücken
aller Bibliophilen bilden, treten uns Roſa Mayreders vier Sonetten⸗
kränze „Zwiſchen Himmel und Erde“ entgegen. Es iſt eine eigentümliche,
an die Liebesſonette der italieniſchen Renaiſſance gemahnende, ſtark mit
tiefgründigen Reflexionen durchſetzte Art der Liebeslyrik, die aus dieſen
Sonetten ſpricht. Kein landläufiger Gedanke verärgert, kein oftgeſchautes
Bild ermüdet. Aber dennoch iſt dieſes Sich-hinein-wühlen in den Gegen⸗
BN ae Ok
1. Lyrik und Epik. 291
ſtand, dies ſcharfe, ätzende Analyſieren des Liebesgefühls derart, daß der
Genuß an dem Buche mit Mühe errungen werden muß. — „Die Kinder
der Lilith“ von Iſolde Kurz (Stuttgart, Cotta Nachf.) ähneln in vielem
dieſem Werk. Das Buch ſteht in ſeiner Luſt an der Stimmungsmalerei
zwiſchen Lyrik und Epik, obwohl es ein einheitliches Gedicht iſt; ein Zeichen,
wie gerne die moderne Poeſie die ſtrenge, akademiſche Ordnung der Gat⸗
tungen der Poeſie durchbricht. Aus der Hand von Iſolde Kurz überraſcht
das Buch; denn fie war in ihren Gedichten und Novellen reicher, einheit-
licher, geklärter. Es behandelt die alte Sage vom rabbiniſchen Schlangen ⸗
dämon Lilith; Lilith war nach der Sage Adams erſtes Weib, bis ſie durch
Eva verdrängt wurde. In der Dichtung von Iſolde Kurz ſtellt Lilith ein
Lichtweſen vor, das Adam mit ruheloſer Sehnſucht erfüllte, während er
durch Eva in die Niederung und ſchließlich zum Sündenfall herabgezogen
wurde. Ich geſtehe beſcheiden, daß ich die dunkle, verſchlungene Symbolik
des Buches nicht erfaßte; die flüchtige, zerriſſene Form benimmt dem Ge⸗
dichte vollends das Anrecht auf den Begriff ernſter Kunſt. — Eine leiſe
Enttäuſchung bietet auch Phil. Witkops „Eros“ (Leipzig, Eckardt). Das
Grundthema ſeiner Lieder iſt der Gedanke von Novalis, daß alle Liebe im
letzten Kerne Vereinigung in Gott iſt. Unter Witkops Hand verfließt dies
Thema wiederholt in dunkeln, fieberhaft berauſchten pantheiſtiſchen Träumen,
in denen er ſich „dem Ewigen einig, der Allmacht teil ſieht“ und trunken
die Worte ſtammelt: „Ich rief den Mond aus fernen Verließen, ich ſäte
die Sterne wie Korn ins Weltall“. Molluskenhaft zerfloſſen ſind viele
Lieder des Buches. Und mit ſchmerzlichem Staunen gedenken wir der An⸗
fänge dieſes großen und überraſchenden Talents, da ſeine edlem Realismus
zugeneigte Art uns Lieder voll des reinſten Wohllauts und voll blitzhaft
wirkender Plaſtik ſchenkte. In großer Zahl ſtehen ſolche Lieder aus ſeiner
Frühzeit, die er aus ſeinem Gedichtbuche „Ein Liebeslied und andere Ge⸗
dichte“ herübernahm, in dieſem Bande; und gerade der Gegenſatz zu der
Verſchwommenheit der neuen Schöpfungen läßt uns deutlich erkennen, daß
Lieder aus ſeinen Anfängen wie „Komm“ und „An ein junges Mädchen“
geradezu zu den erleſenen Kleinodien deutſcher Liebeslyrik zählen. Eben⸗
dieſe fleckenloſe Schönheit ſolcher Lieder macht es uns aber auch zur Ge⸗
wißheit, daß dies Buch das Werk eines Übergangsſtadiums des Dichters
iſt, aus dem er ſich wieder zu ſich ſelber retten wird.
Die Reihe der dichteriſch bedeutſamen Werke der Ichlyriker iſt damit
abgeſchloſſen. Und tiefes Staunen überkommt uns, wenn wir ſehen, wie
neben dieſer, vor wenig Jahren noch allmächtigen Strömung jene zweite
gänzlich verſchiedene immer lebendiger auftritt, die wir als die Lyrik der
allgemeinen Menſchheitsfragen bezeichneten. Bei ihr tritt der Dichter in
einer Objektivität, die ans Weſen des Epiſchen ſtreift, hinter ſeinem Liede
zurück. Sein Lied lebt ſein eigenes Leben. Der bedeutendſte Künſtler dieſer
19
292 VI. Literatur.
Richtung ift der Wiener Dichterphiloſoph Richard v. Kralik. Wie dieſer
hat auch ſein Schüler Wilh. Oehl an griechiſcher Formenreinheit ſich ge⸗
ſchult, wie ſein Gedichtbändchen „Almende“ (Ravensburg, Alber) beweiſt;
auch Oehl knüpft feine lyriſche Kunſt an bei Herrn Walther und dem Minne ⸗
ſang ſowie bei der Myſtik. Die ſtrengen Formen der Waltherſchen Strophe
und des Sonetts dominieren bezeichnenderweiſe in dieſem Werke eines
Lyrikers von härteſter Selbſtzucht, deſſen Kunſt an die tiefſten philo⸗
ſophiſchen Fragen rührt. — Gleich Oehl tritt auch der Rheinländer Jo ſeph
Hilger in feinen religiöſen, Gatten, Vaterlands und Heimatliedern „Bunte
Blätter“ (Mayen, Schreder) meiſt hinter ſeinem Werke zurück. — Ein halb⸗
vergeſſenes Talent der alten Schule erweckt Dr Joſeph Wiedenhöfer wieder
in einer Ausgabe der „Ausgewählten Gedichte“ von Maria Lenzen
geb. di Sebregondi (Dorſten, Overmeyer); es ſind leicht hingeworfene, oft
konventionelle Lieder, die neben manchem Anſatz zur Vertiefung des Gefühles
doch zu oft mit überkommenen Bildern und Ausdrucksformen arbeiten wie
mit abgegriffenen Münzen. Die Schärfe des Sehens, die Vertiefung der
Naturbetrachtung, die Bildhaftigkeit der Diktion wuchs zu ſehr ſeit vierzig
Jahren, als daß ein reiner Genuß an ſolchen Liedern aufkommen könnte.
Ein ſchlichtes, anſpruchsloſes „Lied von der Freude“ zu ſingen, unternimmt
P. Iſidor Hopfner S. J. in dem Bändchen „Frohe Geſellen“ (Graz,
Styria). Der Frohſinn iſt das einzige Thema dieſer Lieder, die ſich vor
allem der Jugend ins Herz ſingen werden. — Warme, herzinnige Töne
ſindet Anna de Crignis in ihren beiden Sammlungen „Grüße aus der
Kemenate“ (München, Höfling) und „Kleine Blumen, kleine Blätter“
(München, Herder), die kleine Kabinettſtücke volltönender, gedankenreicher
Lyrik enthalten.
Befriedigen manche dieſer Dichter der objektiven Geſtaltung nicht durch⸗
weg die ſtrengen literariſchen Maße, ſo daß der Eindruck immer mehr in
uns ſich vertieft, als hätten wir es hier mit einer erſt in ihrer Neuentwick⸗
lung begriffenen und noch taſtenden Strömung zu tun, ſo fühlen wir auch
ein Gleiches bei der Betrachtung der religiöſen Lyrik des verronnenen
Jahres. Hier erſcheinen als ſchlichte, liebenswürdige Talente zunächſt Otto
Doerr in ſeinem Epos „Chloe, die Martyrin“, Sebaſt. Wieſer mit
ſeiner Auswahl „In Lied und Leid“ und Helene Moſt mit ihrem Buch
„Mein Lied dem Herrn“ (ſämtliche Ravensburg, Alber). Doerr behandelt
in bewegter Diktion und mit oft leuchtenden Farben ſein Thema aus der
Zeit der Chriſtenverfolgung, während Moſt in dem leichten Fluß und der
ſangbaren Melodie ihrer Lieder aufs größere Beiſpiel Luiſe Henſels hin⸗
weiſt; Wieſer endlich ſteht auf der Grenzſcheide zwiſchen den Ichlyrikern
und dieſer Gruppe: in einer Sprache, die oft ſchöne und neue Bilder
ſchmücken, beſingt er alles Edle und Hohe, das ihn durchglüht, ohne ſich
oft im Tone zu vergreifen. — Die Evangelienharmonie „Jeſus von
1. Lyrik und Epik. | 293
Nazareth“ von Halman Rheinfried (Leipzig, Hedeler) ringt mit dem
Dilettantismus. — Rein objektive religiöſe Dichtung bietet wieder der
Kapuzinerpater Gaudentius Koch in der neuen Folge feiner „Kirchen ⸗
lieder“ (Ravensburg, Alber). In Koch iſt unſerer Generation der bedeu⸗
tendſte Kirchenlieddichter erſtanden. In Anknüpfung an die Sprache der
heiligen Schriften, in einfachen Rhythmen formt er ſeine Lieder, deren
Sangbarkeit ſtaunen macht und die bei aller hieratiſchen, liturgiſchen Ge⸗
ſtaltung doch auch wieder tiefes Gemüt in ſich bergen. Dabei verſtreut er
all die ſchimmernden Bilder der Bibel wie koſtbares Geſchmeide über ſein
Lied. Eine einzige Klippe droht nur manchmal: es iſt die zu große Her-
vorhebung des Einzelnen, Nebenſächlichen. Aber ſchon heute brauſen viele
dieſer Lieder, vom Volke geſungen, in den Wölbungen von Tiroler Kirchen
wider und beweiſen die Wirkungskraft dieſer monaſtiſchen und doch eminent
volkstümlichen Dichtung. — Der größte Dichter der Katalanen im 19. Jahr-
hundert, Jacinto Verdaguer, iſt wie Koch durch den Bannkreis der
großen Myſtiker gegangen; in ſeinem „Traum des hl. Johannes“, ins Deutſche
übertragen von Clara Commer (Münſter, Alphonſusbuchhandlung), läßt er
den an der Bruſt des Herrn beim letzten Abendmahle eingeſchlummerten
Lieblingsjünger die Geſchichte der Herz⸗Jeſu⸗Verehrung in einer Viſion
ſchauen. Die Bilder der Bibel und der Myſtik vereinen ſich zu einem
ſchimmernden Kranze, — und doch iſt mir Kochs Weiſe lieber und vertrauter,
denn ſie iſt gemütvoller. Etwas Lehrhaftes, abſtrakt Theologiſches klingt
wider in Verdaguers Lied; die volle dichteriſche Bewältigung und Durch⸗
dringung des Gegenſtandes mangelt. — Zwei Anthologien gehören endlich
in dieſe Gruppe: die eine unter dem Titel „Habsburger Chronik“ (Freiburg,
Herder), herausgeg. von Wilh. Ruland, widmet Kaiſer Franz Joſeph I.
zu ſeinem Jubiläum einen bunten Blütenkranz; die andere, „Das neue
Seelengärtlein“ (Kempten, Köſel), herausg. von Joſ. Jud, bietet eine
literariſch verſchiedenwertige, aber immer edelſten religiöſen und ethiſchen
Gehalt in ſich bergende Blütenleſe aus der Dichtung vor allem unſerer Zeit.
Hier ſehen wir, beſſer als etwa in Rud. Günthers Sammlung „Aus
der verlorenen Kirche“ (Heilbronn, Salzer) oder in dem einſeitig vom modern⸗
artiſtiſchen Standpunkt aus zuſammengewürfelten Vielerlei „Moderne Jeſus⸗
dichtung“ von K. Röttger (München, Piper), wie immer noch die alten
Glaubens- und Gefühlsmächte leben, ſchaffen und Dichterherzen entzünden.
Glich dieſe Überſchau über die Gruppe der objektiven Lyriker einem
Gang durch noch vielfach ungepflegtes, aber vielleicht tauſend Lebensſäfte
ungeſtüm in ſich verſchließendes Brachland, ſo wird die Rundſchau auf die
deutſche Lyrik des L'art pour l’art zu einem Gang in eine ausſterbende
Welt. Nur drei Werke von einer Bedeutung, die die rollende Stunde über⸗
dauert, tauchen hier auf. Und ſeltſam: ſchon entflieht einer der Führer
dieſes Häufleins der ſchwachen Aufrechten vom ſtrandenden Schiff. Es ift
294 VI. Literatur.
Rich. Schaukal. Faſt nur als einen Virtuoſen fpielender Formen hat
man ihn bisher bewundert und betrauert. Betrauert: denn dem tiefer Zu⸗
blickenden war es von Anfang klar, daß ein echter Künſtler in dieſer zwie⸗
ſpältigen Natur rang. Sein „Buch der Seele“ (München, Müller) bedeutet
nun einen entſchiedenen Schritt nach oben. Lieder an Gott, an ſeine Mutter,
an die Natur, feingeſchaute Seelenvorgänge füllen das Buch mit ſeiner
wundervoll klingenden, bis ins letzte ziſelierten Sprache. In ihrer Sang⸗
barkeit tönen manche Stücke ans Volkslied an, wiewohl der Inhalt immer
noch nur für fein kultivierte Geiſter verſtändlich iſt. Nachdichtungen aus
Baudelaire, Mallarmé, Verhaeren und Verlaine ſchließen das Buch ab;
Baudelaires und Mallarmés Verſe bilden einen ſeltſam bittern Nachgeſchmack,
einen ſchneidenden Kontraſt zu Schaukals ſich immer mehr zu Reinheit
und Feinheit durchkämpfender Entwicklung. Schaukals Schüler Adolf
Schirmer treibt in ſeinen „Gedichten“ (ebd.) die Kultur einer erleſenen
Diktion auf den Gipfel. In Naturbildern, in Renaiſſanceſonetten, die der
Geiſt der Zeiten Lorenzo Magnificos gewaltig, aber auch ſchwül und be⸗
täubend durchrauſcht, in dunkeln und oft unverſtändlichen Reflexionen ent⸗
faltet er eine Sprache, die nicht mehr Sprache iſt, ſondern Marmorbild und
Muſik. Die kühle Reſignation Hofmannsthals redet oft daraus, und ver⸗
einzelt tobt auch der tolle Bacchantenſchrei Dehmels. Aber es iſt doch auch
noch viel urſprüngliche Kraft in dem Buche, die es uns zur Gewißheit
macht, daß auch Schirmer bald den goldenen Gittern dieſer durch und durch
volks- und weltentflohenen Richtung entrinnt. Freilich — noch widmet er
ſein Buch oſtentativ to the happy few — den glücklichen Wenigen. —
Die Römer und Hellenen der Verfallzeit ruft Schirmer wiederholt empor
in ſeinem Liede. In noch mehr verſunkene, noch mehr dekadente Zeitalter
verſenkt ſich Otto Hauſer mit ſeinen „Runen“ (Stuttgart, Bonz u. Co.). Der
kranke Duft ſchwüler Tazetten; das wilde Feuer der im Rauſch des Wahn-
ſinns ſich zerfleiſchenden Mekkapilger; der Aberglaube des mal’ occhio; das
gurgelnde Vorüberrauſchen des gelben Nil an zerfallenen ägyptiſchen Tem-
peln; ein Hymnus auf das Reich der „Mütter“ Nietzſche⸗Zarathuſtras; die
helleniſche Threnodie des Linosliedes; die Viſion verſunkener Städte an
Meer und Strom, wie Suſa, Babylon, Perſepolis: das find einige Requi-
ſiten ſeiner Kunſt. „Es iſt ſo ſüß, wenn Rätſel uns umnachten“, ſagt er
von ſich ſelbſt. Runen find in der Tat dieſe Lieder, die mit verſchwen⸗
deriſcher Sprachkunſt geformt und gemeißelt ſind. Aber das anklagende
Wort aus Herberts „Lebensliedern“ kommt uns in den Sinn gegenüber
dieſer Kunſt der bloßen Formen:
Das Feuer ew'gen Lebens iſt verglüht.
Im matten Fluge zittern die Gedanken.
Gefeſſelt liegt das freie Dichterwort,
Und ſchlapp die Segel an den Maſten ſchwanken.
1. Lyrik und Epik. 295
O Epigonenzeit! Im Nebel träumt
Ein müd' Geſchlecht von toten Heimatrechten.
Und durch der Zukunft ſtolzes Morgenrot
Zieht ſtill ein Zug von Sklaven und von Knechten.
In der Tat: auf dieſem Wege kann die Kunſt nicht weiter gehen, oder
ſie käme zum Punkte, wo ſie ſich völlig vom Leben ausſchaltet und zum
ſinnloſen Spiele wird.
Es iſt vielleicht eines der tröſtlichſten Zeichen, die die Lyrik des Jahres
1908 uns bietet, daß wir heute mit überwältigender Gewißheit ſagen
können: die Richtung des L'art pour l'art liegt im Sterben. Nur im
Keime ſchon welkende Nachblüten zeitigt fie noch. Sie hat keine Kraft der
Verjüngung mehr.
Und wenn wir überhaupt das Geſamtbild der Lyrik des Berichtsjahres
zuſammenfaſſen, ſo iſt der letzte, entſcheidende Eindruck doch der einer
energiſchen Kurve nach oben. Wohl liegt die Epik in beängſtigender Ohn⸗
macht danieder. Wohl ſchwebt Schopenhauers Geiſt noch über den Waſſern,
und in Tiefſinn und Bitterkeit zu ſchwelgen iſt, wie zur Weltſchmerzzeit,
noch immer eine liebe Geſte der Dichter. Wohl klafft noch immer ein Ab-
grund zwiſchen Kunſt und Leben, zwiſchen Kunſt und Volk, und alles, was
ſich als Dichtung fürs Volk bezeichnet, begegnet noch vielfach dem Achſel⸗
zucken der Aſtheten (freilich oft auch mit bitterem Rechte); und doch iſt der
Ruhm, ein einziges großes Lied fürs Volk geſchaffen zu haben, mehr wert
als alle Beifallskränze der erleſenen Zehntauſende. Wohl fehlen den meiſten
Künſtlern noch die großen, ewigen Gedanken eines Walther und Wolfram,
eines Dante und Shakeſpeare, eines Schiller und Uhland; und übergroß für
die Ehre der Kunſt und die Ehre Deutſchlands iſt auch heute noch der
Chor jener Dichter, deren Parnaß nicht den Adler des Zeus und die Eule
der Minerva noch alles andere heilige Getier kennt, ſondern allein das
unheilige Schwein. Noch iſt es endlich wahr, daß breiter als je heute der
Dilettantismus wuchert, und die wenigen Dutzende der Bände, die wir
nannten, ſind nur ein zahlenmäßig verſchwindender Bruchteil gegenüber
Aberhunderten, die der Aufzählung zum Teil nicht wert waren.
Aber wir hoben bereits hervor, wie die Lyrik formell weiterſchritt, wie
der Sprache jegliche Ausdrucksmöglichkeit und eine unerhörte Bild. und
Biegſamkeit errungen wurde. Und auch der Gehalt und Inhalt wächſt mit
langſamer Sicherheit. Die Tatſache, daß auch in dieſem Jahre Anthologien
und Neuausgaben der Werke unſerer großen Meiſter in wachſender Fülle
geradezu aus dem Boden ſchoſſen, zeigt, wie unſere Zeit wieder energiſch
ſich auf die großen Ideen beſinnen will, die in jenen lebten. Daß vor
allem ein ſo eminent ſynthetiſcher, nur ernſtem Willen ſeine Tiefen er⸗
ſchließender Geiſt wie Dante gleich in doppelter Form in die Welt hinaus⸗
gehen konnte, iſt vielleicht das bezeichnendſte Merkmal der Gegenwart. Spürt
296 VI. Literatur.
man vielleicht die Einheit von Kunſt und Leben, die bei ihm waltet? Das
wäre ein herrliches Zeichen. Denn es erſchlöſſe den Ausblick auf den Tag,
da unſere Zeit erkennt, daß auch ihre Kunſtwerke nur in Einklang mit dem
Weſen des Volkes erwachſen dürfen.
Die wachſende Verinnerlichung der Lyrik unſerer Zeit ift ein weiterer
Fortſchritt, den nur Blinde leugnen könnten. Bücher wie De profundis
Thraſolts oder die Lebenslieder Herberts wären vor zwanzig Jahren kaum
möglich geweſen. Hand in Hand damit geht eine Bewegung zu tieferen
Ideen, vor allem auch zur religiöſen Idee. Auch die Artiſten ſpielen
nicht mehr bloß mit der religiöfen Idee: aus Schaukals Liedern an Gott
bricht Herzblut. Die franziskaniſche Bewegung, die wir ſeit einigen Jahren
beobachten, hat ihre Wellen auch hinübergeſchlagen in die Lyrik: ſelbſt der
Formkünſtler Schirmer widmet eines feiner ſchönſten Gedichte dem pove-
rello di Dio.
Einer der größten Triumphe der neuen Lyrik liegt in ihren Natur-
liedern. Der Kunſthiſtoriker Haack hat einmal darauf hingewieſen, daß die
Malerei xar eco in unſerer Zeit die Landſchaftsmalerei iſt. Auch in
den oben beſprochenen lyriſchen Bänden iſt die Naturſtimmung durch zahl⸗
reiche und erſtaunlich feine Beiträge vertreten, am beſten bei Herbert,
Geißler, Schaukal und in einigen Liedern Schirmers. So ſcharf und tief
haben bisher nur Goethe, Annette Droſte, Eichendorff und Greif ins Weſen
der Natur hineingeſehen wie heute zahlreiche Lyriker.
Und noch eine andere Tatſache hat uns das Jahr 1908 gezeigt, die
vor allem uns, die wir im Boden des katholiſchen Kulturgedankens wurzeln,
erfreulich ſein muß: es iſt die wachſende Blüte der Lyrik der deutſchen
Katholiken. Noch ſprechen ja manche mit einer Beharrlichkeit, die mehr
der Verſchüchterung entſpringt als der Überzeugung, von einer Inferiorität
der katholiſchen Dichtung. Auf dem Gebiete der Lyrik iſt dieſer Peſſimis⸗
mus völlig ungerechtfertigt. Im Gegenteil: der objektive Beurteiler wird
auf die Frage nach den beſten Lyrikbüchern des Jahres keine andere Ant⸗
wort wiſſen als die: es ſind außer Geißlers Buche die Werke Herberts
und Thraſolts.
Der Inferioritätsſtreit iſt bekanntlich ſeit zwei Jahren der Anlaß zu
zwei Gegenſtrömungen im Literaturleben der deutſchen Katholiken geworden.
Es iſt die Gralbewegung mit Richard v. Kralik, Hlatky, Karl Domanig
und Eichert auf der einen Seite; auf der andern Seite ſtehen als Führer
das „Hochland“ Karl Muths und die im Berichtsjahr neu begründete Zeit⸗
ſchrift „Über den Waſſern“ P. Expeditus Schmidts. Der Kern des Gral ⸗
programms lautet: Da jeder Künſtler in ſeinem Werke nur ein Stück ſeiner
Perſönlichkeit gibt, da aber zum integrierenden Beſtandteil der Perſönlichkeit
auch deren religiöſe Seite gehört, — aus dieſem Grunde kann und muß
ſich in einem Werke hoher Kunſt die ganze, ungebrochene Perſönlichkeit des
2. Dramatiſche Literatur. 297
Dichters, auch nach ihrer religidfen Seite hin, ſpiegeln. Nur durch Ver⸗
ſenkung in den Wahrheits⸗ und Schönheitsgehalt ſeines Glaubens kann daher
auch der katholiſche Künſtler jene Geſchloſſenheit der Perſönlichkeit erreichen, die
das große Künſtlertum fordert; dieſe ſo erworbene, geſchloſſene Perſönlichkeit
aber muß er nun reſtlos in ſeinem Werke widerſpiegeln: reſtlos, das iſt
ohne Rückſicht darauf, ob dies vorüberflutenden Zeitſtrömungen entſpricht,
einzig im Hinblick auf das ihm vorleuchtende Kultur- und Kunſtideal. —
Die Gegenſtrömung ſieht in dieſem Programm den Weg zu einem Ghetto,
zu einer Ausſchaltung und Iſolierung des Katholizismus aus dem Gang
der nationalen Entwicklung: auch der katholiſche Künſtler habe im Zuſammen⸗
hang mit dem allgemeinen Kultur- und Geiſtesleben feiner Zeit zu Schaffen. —
Es iſt an dieſer Stelle nur der Ort zu objektivem Berichte, nicht zur
Frage nach dem beſſeren Rechte. Aber der objektiv prüfende Beobachter
wird durchaus nicht darüber klagen, daß durch dieſen Antagonismus ein
friſches Ferment in die Literaturbewegung geworfen wurde. Wie lautete
vor zehn Jahren E. Gyſtrows ſpöttiſches Wort über das Literaturleben der
Katholiken? Er ſprach von einem Steine, der in einen Sumpf geworfen
wurde; aber die Wellen hätten ſich verzogen, der Sumpf ſtagniere weiter.
Nein, an dem iſt es nicht mehr. Wie überhaupt in unſerem deutſchen
Lande ringsum ein Suchen nach neuen Gipfeln des Lebens und der Kunſt
unſere Freude weckt, fo auch das von Jahr zu Jahr intenſivere Literatur⸗
leben der deutſchen Katholiken, das ſich gerade im Berichtsjahre in friſchem,
tapferem Wettkampfe äußerte. Laßt immerhin Kampf und Wettkampf ſein,
nur keine Sattheit: ſie allein iſt der Tod.
2. Dramatiſche Literatur.
Von joſeph Sprengler.
Auf dem dramatiſchen Felde iſt das Jahr 1908 ein Jahr der Ver-
ſöhnung, des offiziell beſiegelten Friedensbundes geweſen. Wenn ich ſo
zurückdenke in meine erſten akademiſchen Semeſter! Was war das damals
für ein Kampfgetobe in den Theatern, in den literariſchen Revuen, in den
Zeitungen bis hinab zu den Winkelblättern und den Schmieren Strieſes!
Hier Realismus, hier Idealismus. Hier die Jungen, hier die Alten. Da
Klaſſiziſten, mehr formal gerichtet, dort Naturwiſſenſchafter, Demokraten,
Vorwärtsſtürmende. Überall ein Stimmengewirr. In dieſe Zeit — es
war 1896 — ſiel wieder die Verteilung des Schillerpreiſes. Fuldas
„Talisman“ wurde genannt, — die Beſtätigung blieb aus; Gerhart
Hauptmann ward vorgeſchlagen, — Wilhelm II. ſchüttelte das Haupt, und
Wildenbruch, der „Preußendichter“, wurde gekrönt. Es gärte darauf böſe
in der Kritiſchen Kommiſſion.
298 VI. Literatur.
Seitdem iſt ein Dutzend Jahre verſtrichen. Unterdeſſen hat man einen
Volks⸗Schillerpreis geftiftet, der, wie ſchon der Name andeutet, einer oberſten
Genehmigung nicht bedürfen ſollte. Heuer nun ſtanden beide Preiſe zur
Vergebung. Und das Reſultat? Beide hat derſelbe Dichter davongetragen:
Ernſt Hardt. Der Königspreis allerdings war in zwei Teile zerlegt worden.
Die andere Hälfte empfing Karl Schönherr. Auch dies ſtellt einen Akt des
Ausgleichs dar; denn die Schöpfungen des öſterreichiſch⸗tiroliſchen Dichters
liegen auf jener Entwicklungslinie, die von Gerhart Hauptmann und den
realiſtiſchen Doktrinen ausgeht.
Die mit dem Lorbeer gekrönte Komödie Schönherrs „Erde“ (Berlin,
Fiſcher) iſt eigentlich ein Tiroler Heimatſtück. Sie zeigt die Bauern in
ihrer ſtarren Gebundenheit an Haus und Hof, an Natur und Scholle.
Zugleich entrollt ſie einen jener tragiſchen Konflikte, wie ſie dem ländlichen
Milieu ſo häufig entſpringen, den Kampf um den eigenen Herd, der eben
immer ein Kampf zwiſchen Eltern und Kindern, Vor- und Nachfahren iſt.
Man hat die „Erde“ mit den Schöpfungen Max Halbes verglichen. Hier
wie dort ſpiele die Naturſymbolik ſtark herein. Doch Halbe tritt mit ſeiner
Perſon viel weiter hervor, nicht nur in der Art, wie er die Natur dramatiſch⸗
techniſch zum Eingreifen zwingt, ſondern vor allem darin, wie er ſeine
lyriſchen Gefühle einſtrömen läßt. Gerade dies trägt ja in die „Jugend“
den zitternden, ſchwingenden Sehnſuchtsklang. Schönherr gibt ſich in der
„Erde“ ſeinen Figuren gegenüber kühl, gleichgültig, ja felſenhart. Das
ſcheidet ihn auch von Anzengruber, mit dem man ihn ebenfalls zufammen-
geſtellt hat. Der Dichter des „Vierten Gebots“ war ein Magiſter, wollte
einer ſein. Er verfocht immer eine Moral, eine Tendenz. In ſeinen
echteſten Theaterſzenen brach er ſubjektiv durch. Und wie ſympathiſierte er
mit ſeinen Steinklopfern und Dorfphiloſophen! Wenn er dann traurig
wurde und weich, oder wenn er ſich recht von Herzen freute, dann rief er
die Muſik. Sie mußte mitlachen, mitjubeln, mitſchluchzen. In der „Erde“
ertönt einmal auf dem Dudelſack eine Melodie, aber nicht, um im Zuſchauer
harmoniſche Gefühle melodramatiſch auszulöſen, nein, um zu kontraſtieren,
die Ironie zu verſtärken, die Objektivität zu verhärten. Und noch etwas
ſcheidet die Menſchen dieſer Komödie von den Charakteren Anzengrubers:
ſie haben kein Gewiſſen, keinen Gewiſſenswurm. Indem ſie nur ihren
vitalſten, vegetativen Intereſſen leben, der Nahrungsaufnahme und Zeugung,
ſind ſie roh, brutal bis zur Abſtoßung. Darum fehlt dem Stück der ethiſche
Zug fo gut wie die pfychologische Feſſelkraft. Man hat Schönherrs Welt.
auffaſſung darob materialiſtiſch genannt. Wohl zu Unrecht. Er verkündigt
ja nicht: die Menſchheit iſt ſo, ſondern: es gibt ſolche Menſchen. Man hat
ihn auch als konſequenten Realiſten angeſehen. Ja und nein. Ohne
Zweifel iſt das Spiel eine ſzeniſche Schilderung der Umwelt, keine reine
dramatiſche Form, eher das, was Rich. M. Meyer als Drama des reifen
2. Dramatiſche Literatur. 299
Buftandes bezeichnet: eine Gruppe fteht da ſchickſalsreif und wartet auf ihr
Verhängnis. Und doch ijt die dialogiſche Geſtaltung grundverſchieden von
den naturaliſtiſchen Schulbeiſpielen, etwa einem „Meiſter Oelze“ oder einer
„Familie Selicke“. Auf die Ausfeilung der Geſpräche, auf die Bloßlegung
des ironiſchen Sinns, auf die Pointierung der Situationen hat Schönherr
minutiöſe Sorgfalt verwendet. Er durchzieht die drei Akte mit Refrains,
die wie Einſchnitte in einen Versfuß wirken. Dabei kann es geſchehen,
daß ſo eine Gloſſe nicht einmal der betreffenden Perſon liegt. Alſo einer,
der lediglich die Wirklichkeit abklatſcht, iſt Schönherr nicht. Was nun dieſes
Drama trotz der dramatiſchen und ſeeliſchen Mängel höher werten läßt, das
iſt der menſchenſchöpferiſche Wille, die plaſtiſche Kraft, die ſcharfäugige Art,
Leute und Dinge zu faſſen. Das iſt die realiſtiſche Kunſt.
Der materiellen Schwere, der kantigen Gegenſtändlichkeit ſuchte Schön⸗
herrs Poetenſeele in dem Märchendrama „Das Königreich“ (Stuttgart,
Cotta Nachf.) zu entfliehen. Ganz loszuketten vermochte ſie ſich nicht, und
ſo entſtand wie in Hauptmanns „Hannele“ eine Miſchgattung, ſtofflich und
formell. Ein Armeleute⸗Interieur, eine proletariſche Kellerwohnung durchbebt
ein Märchenſpuk, eine phantaſtiſche Handlung. Bald klingt es wie das
Adagio frommer Geigenſtriche, bald ſchwillt es an zum ſataniſchen Furioſo.
Als Motto könnte man dem Ganzen die Worte des Thomas a Kempis aus
der „Nachfolge Chriſti“ vorſetzen: „Auf zwei Flügeln wird der Menſch empor⸗
gehoben über das Irdiſche. Dieſe ſind Einfalt und Reinheit.“ — „Reiner
Sinn und Menſchenliebe“, ſagt Schönherr, „ſind die urgewaltigen Quadern,
mit denen man bis in den Himmel bauen kann.“ Die Unſchuld kann ſelbſt den
Teufel rühren, ihn wieder menſchlich werden laſſen. Doch wo die verzeihende
Güte fehlt, da geht jeglicher Seelenadel in Trümmer. Letztere Idee nun
bringt einen Bruch in den vierten Akt: das Motiv nämlich, das die Peripetie
herbeiführt, iſt zu wenig befrachtet. Warum ſoll denn der Fürſt plötzlich in
Nachſicht glauben, daß ſich der Teufel jetzt nicht mehr verſtelle, daß ſeine Be⸗
kehrung eine innerſte ſei, nachdem er zuvor nur geheuchelt, durch Lug und
Trug vernichtet hat? Der dramatiſche Bau wächſt überhaupt nicht ſtreng
folgerichtig aus den Fundamenten heraus. — Intereſſant iſt das Märchen-
drama als pſychiſche und künſtleriſche Enthüllung. Es ſteckt viel Katholiſches,
Madonnenhaftes darinnen. — Die Begriffe von Reinheit, Liebe, Sinnlichkeit
und Lüge find ins Metaphyſiſche geſteigert und dualiſtiſch zugeſpitzt. Welcher
Kontraſt zu der anarchiſchen Utopie Nietzſches jenſeits von Gut und Böſe!
Aber der peſſimiſtiſche Hauch, der durch Schönherrs Dichtung weht, iſt nicht
zu verkennen. Die Unſchuld bleibt im Königreich allerdings Sieger, aber erſt
beſiegt, erſt im Tode. Der Knabe geht, da ſeine Fiedel die reinen Töne nicht
mehr zu finden vermag, in ein naſſes Grab. Von blühendem Weißdorn
umrankt liegt er auf der Bahre. Einer jener ſzeniſchen Höhepunkte, deren
ſinnfällige, bildmäßige Geſtaltung dem Dichter oft ſo glücklich gerät.
300 VL Literatur.
In der „Erde“ hat ſich Schönherr, wie gejagt, zu feinen Kreaturen in
keine herzlichen Beziehungen geſetzt. Ein Wall trennt Schöpfer und Ge⸗
ſchöpfe. Darin liegt Selbſtbezwingung, Willensanſpannung, gedankliche
Arbeit, ein künſtleriſcher Imperativ; denn der Dichter iſt ſich wohl klar
darüber, daß ihn die Weichheit gerne unterkriegt. So oft dies geſchieht,
wird ihm die Empfindung zum Empfindſamen, das ſchlicht Rührende zum
Rührſeligen, das Kindliche zum Läppiſchen. Im „Königreich“ fällt er
wiederholt in dieſe Schwächen, hie und da auch in der „Erde“. Man
braucht nur den tappenden Hannes zu beobachten. Übrigens iſt mir das
ſentimentale Verhältnis zu den „Kinderlen“ bei allen Tirolern aufgefallen,
bei Schönherr ebenſo wie bei Domanig und P. Scala. — Vieles gemahnt
bei Schönherr an Gerhart Hauptmann, deſſen Geſamtwerk er nicht bloß
kennt, ſondern zu dem er eine Parallelentwicklung durchzumachen ſcheint.
Nur iſt der Schleſier ein Lyriker von rhythmiſchem Schwung; Schönherrs
jambiſche Proſa dagegen (die lange Erzählung Rauſchenpatts z. B. im
zweiten Akt läßt ſich vollſtändig jambiſch zerſetzen) reißt nicht mit. Aber
als realiſtiſcher Former ſteht er kaum hinter jenem zurück. Er iſt ſtark und
männlich, muskelſtrammer als Hauptmann, und er iſt ebenfalls ein Poet.
Nun zu Ernſt Hardt! Er iſt ein Repräſentant der andern Strömung
im zeitgenöſſiſchen Drama, der Neuromantik, die den Naturalismus ab-
zulöſen ſucht. Dem gekrönten Triſtandrama „Tantris der Narr“ (Leipzig,
Inſel⸗Verlag) haften alle die Merkmale dieſer modernſten Gruppe an. Schon
das Grundmotiv iſt ein der Richtung gemeinſames. Da herrſcht die Ge⸗
ſchlechtsliebe als Allbezwingerin, tyranniſch, eine Glut, die, ſtatt zu wärmen,
verzehrt. Dieſer erotiſche Atem zieht durch eine Reihe von Metaphern und
Szenen. So wenn Triſtan an der Abendtafel in Gegenwart der Ritter,
des Königs Marke und der Iſot Blondhaar ſelber anhebt, ihre fraulichen
Reize ſchildernd preiszugeben. Zwar will der freie, gierige Ton ſo gar
nicht zu der Regievorſchrift paſſen, daß Tracht und Haltung der ſtarken,
keuſchen und verhüllten Art der Fürſtenſtatuen im Chor des Naumburger
Doms entſpreche. Aber wohl fügt er ſich in das Wutgebaren des eifernden
Königs ein, der ſein Weib zweimal nackend vor den Pöbel ſtellt und es
den Siechen als Buhle hinwirft. Vielleicht ſoll in dieſem Strafgericht des
runzeligen Alten Größe ſtecken. Der Frau Iſot, ihrem treuen Bangen,
ihrem Herzeleid fehlt ohne Zweifel die Monumentalität. Dramaturgiſch
iſt es ja ein feiner Griff, wenn fie in doppelſinnigen Worten den Reini-
gungseid leiſtet, wenn ſie ſich äußerlich dem Marke zuſpricht, innerlich
den Triſtan meint, aber ihre Seele und alle Kämpfe, alle Vorgänge, die
an ſie geknüpft werden, verlieren durch ein ſolches Lügenſpiel die tragiſche
Schwere.
Doch die Wahrheit, das iſt auch ein Grundzug der modernen Literatur,
gilt kaum mehr als Denkbegriff. Was iſt Wahrheit? Dieſe Frage des
2. Dramatiſche Literatur. 301
Pilatus ift heute dramatiſches Problem geworden bei den Neuromantikern
wie in den Lügenkomödien der Groteskgeſtalter Shaw und Wedekind. Alles
zerrinnt, die Wirklichkeit, die Perſönlichkeit, die Charaktere. Aus dieſem
ſkeptiſchen Gefühl heraus, aus dieſem Zweifel an der Stetigkeit des perſön⸗
lichen Weſens haben Konr. Falke (Julia) und Jul. Bab (Der Andere.
Berlin, Fiſcher) ihre Dichtungen geſchaffen.
Auch in Hardts „Tantris“ deutet eine Stelle auf dieſes Zerfließen der
individuellen Subſtanz, wenn nämlich Iſot zu dem unerkannten Geliebten
ſpricht: „Gab dir Gott zu wiſſen, was niemand gewußt denn ich und Herre
Triſtan, damit du wähnſt zu deiner Pein, du ſeieſt Triſtan.“ Je unfreier
nun, je unſicherer, je ſchwankender das ſeeliſche Eigenleben iſt, deſto mehr
wächſt das Schickſal in ſeiner Willkür, nicht in ſeiner Größe, denn große
Schickſale können nur wieder ein großes, ſtarkes, freies Menſchentum treffen.
Als Triſtan bei ſeiner Wiederkehr von niemand mehr erkannt wird, auch
nicht von ihr, die ſeine Sinne fiebernd ſuchten, kauert er die ganze Nacht
ſtier in ſeinem Schmerze da. Dieſes ohnmächtige, ſtumpfe Brüten, dieſer
unterdrückte Seelenſchrei ift fo ein Typ der modernen pſychiſchen Geſtaltung.
Nicht Recken der Tat, geradlinigen Willens, ſchweben ihr vor, ſondern
Menſchen, komplizierte, ſchwache Menſchen ſogar, in denen ſich logiſches
Denken, aufgeſpeicherte Affekte mit den momentanen Regungen des Blutes
und der Nerven wirr kreuzen. So entſtehen intereſſante Querſchnitte durch
einen Charakter, durch ein Leben. König Marke, der von dem Zweifel zur
Klarheit, von der beängſtigenden Klarheit durch alle Wirrniſſe des Fühlens
zur blinden Selbſttäuſchung pendelt, iſt unter dieſem Winkel geſchaut. —
Als Lyriker malt Hardt in hellen Farben, leuchtend: Maienmondlicht,
Schneegefilde, ſilbernes Lächeln, goldenes Haar, goldene Luft, goldenes
Vergeſſen. Alles neuromantiſch! Über ſeine Gruppe ragt er jedoch ſprachlich
nicht hinaus. Als Dramatiker hat Hardt ſichere Bühneninſtinkte und den
Blick für ſzeniſche Kontraſte, für ergreifende Situationen. Er ſchafft techniſch
bewußter als ein Großteil der Neuromantiker. Freilich, die Geheimniſſe
tragiſcher Notwendigkeit hat auch er ſeinem Triſtanſpiel nicht entlocken können.
Hier im Ausgang (5. Akt) ſteht kein Konflikt, der nicht rein gelöſt werden
könnte, und nur ein ſolcher iſt, wie Hebbel ſagt, ein ſpezifiſch tragiſcher.
Das Fazit wäre demnach: der Schillerpreis iſt auch hier einem Dichter
zu teil geworden, obſchon keinem, der für ſich da ſtünde, gipfelſtarrend, nicht
einmal einem, der den feinſten Geiſt ſeiner Schule, ſeines künſtleriſchen und
dichteriſchen Klimas eingefangen hätte oder im koſtbarſten Gefäße ihn kre⸗
denzte. Es verhält ſich vielmehr ſo: man hat Hardt den Preis gegeben
und die Neuromantik gekrönt.
Einer ihrer prononcierteſten Vertreter ijt Karl Guſt. Vollmoeller.
Er hat ſeiner Dichtung „Catherina, Gräfin von Armagnac, und ihre beiden
Liebhaber“ (Berlin, Fiſcher) ein bezeichnendes Motto an die Stirne geſetzt:
302 VI. Literatur.
duoty Beoty dvazxeınar: Epwrı xa davaro — „Zwei Gottheiten find wir
geweiht, der Liebe und dem Tod“. Wie im Tantris ſchäumt hier ein Mann
in raſender Eiferſucht. Das Blut träuft von den Kaminen, und die roten
Lachen gerinnen am Boden. Es iſt ein Greuelhaufen und ein Morddunſt
wie in Hofmannsthals antiken Tragödien. Gott ſpielt mit uns, und wir
ſpielen in einem Trauerſpiel, das wir nicht kennen.
Was iſt Vergangenheit, und wer bin ich
Und wer ſeid ihr? Und ſagt mir, wer ſind jene
Verblaßten Schatten, fremd und wunderlich,
Die ſinnlos handeln auf der dunklen Szene
Des Seins, das war? Und wo iſt, was verblich?
Gefühle Stimmen Namen die entwandern
Und was iſt wirklich?
Dieſe melancholiſchen Verſe leſen ſich wie die Grabſchrift alles dra⸗
matiſchen Geſchehens. Indem ſich die Gefühle dieſer Rauſchſeelen ins
Maßloſe verfteigen, ahnen wir ihre Wege nicht mehr. Ihre Pſyche wird
zur Nachtwandlerin, ihr Schickſal ein Popanz. Auch über der Welt⸗
dynamik eines Sophokles, eines Hebbel, eines Ibſen laſtet ein Geſchick,
aber eins, das letzten Endes zu Menſchen geht und aus Menſchen ſich ent⸗
windet. Wir find wurzellos, wir find Puppen, ſagt Vollmoeller. — Ob
die Worte den Situationen, die Situationen den Worten entſpringen, oder
ob beide loſe ſchlenkern, iſt einem ſolchen Dichter natürlich gleichgültig.
Er läßt z. B. den galanten Abenteurer in dem Augenblick der Flucht, da
es ſich um Sein oder Nichtſein zweier Leben handelt, eine Reiſe durch den
Erdball in der exotiſchen Farbenglut eines Freiligrath lyriſch ausmalen.
Schuldet Vollmoeller der dramatiſchen Form vieles, ſo bleibt ihr Julius
Raff in ſeinem Trauerſpiel „Der letzte Streich der Königin von Navarra“
(ebd.) alles ſchuldig. Auch hier ſteht wieder die Eiferſucht des Gatten im
Angelpunkt. Nur ſind hier alle Ideen, alle Linien verzerrt, alle Motive
grell hingeſtrichen, indeſſen keine lyriſchen Paradieſe locken. Es iſt die
Arbeit eines Konſequenten. Die Romantik hat deren ſo gut, wie ſie der
Naturalismus hatte. Raffs Trauerſpiel iſt als Dichtung ein Wortſchwall,
durchſetzt von tönenden Trivialitäten, beſteht als dialogiſche Form aus
lauter verkappten Monologen, zeigt als Drama nicht eine Spur von
ökonomiſcher Weisheit und entfaltet in ſeinen Charakteren das vollendete
Enſemble der Hyſterie. Um die Beweiſe bin ich nicht verlegen. „Ja toll“,
ſagt er, „ich bin's. Wir ſind's ja alle, alle. Warum nicht ich?“ — „Du
wirſt verrückt“, ſagt ſie. „Nur Ruhe“, antwortet er, „keine Angſt! Ein
Mann, wie ich, wird nie verrückt! Das ſollſt du wiſſen! Nur Stimmung,
Margarete, nichts als Stimmung!“ Oder er: „Nehmt Euch in acht, ich
bin heut nicht bei Troſt.“ Sie: „Bin ich's?“ Ein andermal erwidert ſie:
„Du biſt beſoffen.“ Ich habe dieſen Proben nichts beizufügen, als daß
2. Dramatiſche Literatur. 303
dieſes Trauerſpiel 1908, alſo 103 Jahre nach dem Tode des größten
deutſchen Dramatikers, unter den zehn Dramen ftand, die für den Volks⸗
Schillerpreis in engere Wahl kamen.
Wie männlich iſt dagegen Eduard Stucken! Sein Myſterium
„Gawän“ (Berlin, Fiſcher) iſt in der Umhüllung das Keuſcheſte, pſycho⸗
logiſch das Reifſte, ethiſch das Tiefſte, was uns die Neuromantik bisher
beſchert hat. Sein nächſtes Drama „Lanväl“ (ebd.) ſteht nicht in fold
runder Vollkommenheit da. Lanväl iſt ein Hohes Lied der Ritterlichkeit,
der Treue in der Minne, wie Hardts „Tantris“, dem es übrigens in der
Entſtehung um ein paar Jahre vorangeht und den es an Stileinheit über⸗
trifft. Stucken nämlich ſenkt den Säulendom ſeiner myſtiſchen Dichtung
fundamental in den Boden alter Mären, in das Traumgefilde der Volks⸗
ſage ein. In dieſem dämmernden Reich werden die Wunder von ſelbſt
zum kosmiſchen Geſetz. Sie leuchten ſo klar wie die ewig kreiſenden Sterne
und ſie ſprießen ſo natürlich wie die Blumen des Feldes. Wenn Hardt
hingegen mit dem Wundermotiv einſetzt, mit dem Unerkanntbleiben Triſtans,
ſo wirkt das lange ſtörend, weil die geſamte Lebenslage in das Tageslicht
der Vernunft gerückt iſt. Stuckens Szenen ſind alle balladesk. Um dieſe
Balladen rankt ſich die Lyrik gleich ornamentalen Laubbändern und Frucht⸗
gewinden, eine Lyrik voll bannender Stimmungen. Mondſilberne Fergen
erzählen in die Nacht rudernd von Avalun, der Inſel des Schweigens und
der Seligkeit, wo nackte Kinderſeelen Goldäpfel pflücken. Ein andermal iſt
es, wie wenn die Muſik der Engel des Fra Giovanni da Fieſole und des
Melozzo da Forli in die Szene tönte oder wie wenn die Primaverageſtalten
des Sandro Botticelli ihren Reigen ſchlängen. Ich weiß keinen neueren
Dichter, der ſeine Bühnenbilder ſo dekorativ gefaßt hätte. Hier ſind Themen
für die Stil- und Künftlertheater. — Als Drama ift „Lanväl“ kein Kunft-
werk. Es fehlt die architektoniſche Einfachheit, die klaſſiſche Strenge, die
der Dichter ſeinem früheren Drama zu geben wußte. Während ſich im
„Gawän“ die ſeeliſchen Kämpfe ruhig abwickeln, von einem Zentralpunkt
her, laufen hier die Linien des letzten Aktes im Zickzack. Anſtatt die
Handlung mehr aus inneren Quellen zu ſpeiſen, aus der Gewiſſensſchuld,
ſchiebt der Dichter hier Nebenfiguren vor, die gewaltſam zur Kataſtrophe
treiben und die ſeeliſchen Regungen mit einem Ruck umbiegen. Auch die
ſittlichen Ideenpfeiler ragen nicht in die klare Himmelsbläue des Gawän.
Wie Stucken, wie Maeterlinck, der geiſtige Vater der Neuromantik, greift
auch Emil Ludwig in den bretoniſchen Sagenkreis. Der Held ſeiner
dreiaktigen Dichtung „Der Spiegel von Shalott“ (Berlin, Caſſirer) iſt
Lanzelot. Ludwig iſt ein Formtalent, ein Poet mit ſenſitiven Nerven und
empfänglichen Organen, der ſich leicht angeregt fühlt und ebenſo leicht und
ſprudelnd ſchafft. Er experimentiert literariſch herum. Iſt ſeinem Renaiſſance⸗
drama „Die Borgia“ (ebd.) Shakeſpeare das Vorbild geweſen, ſo ſeinem
304 VI. Literatur.
„Spiegel“ der Lyrismus engliſcher Präraffaeliten. Und ohne Hauptmanns
„Pippa“, der ja ſeinerſeits wieder von Browning entlehnt hat, dürfte
Ludwigs dramatiſche Dichtung kaum eine ſolche Faſſung gewonnen haben.
Nur hängt an der Pippa etwas mehr Erdenſchwere, ſie hat wenigſtens
noch einen realen Auftakt. Die drei Akte des „Spiegels“ hingegen ſchmelzen
rein lyriſch hin, viſionär, ohne Aktion, ohne körperliche Reibungen. „Sie
leuchtet, aber ſie brennt nicht“, heißt es einmal von einer der Geſtalten.
Das gilt für die ganze Dichtung. Ihre Metaphern leuchten, Lenz, Licht,
Sonnenſtrahlen ſpinnen ſich herein; Blau und Weiß ſind die Grundfarben.
Doch als dramatiſche Form iſt ſie kalt. In der Ausleſe der Worte und
in der Fügung der Satzteile zeigt ſie eine Eigentümlichkeit, die als ſolche
wieder mehr oder minder der ganzen Richtung zukommt: die Sucht nach
archaiſierenden Prägungen, nach ſteifer, ſtarrer ſyntaktiſcher Gebärde, ſo daß
die Verſe bisweilen wie Übertragungen aus einem fremden Sprachgut er-
ſcheinen, z. B.:
Durch der Buchen Waldung,
herbſtlich gerötete, im Abendſchein —
Vorüber ſchwebte da ein weißer Zug.
Auf weißen Zeltern weißer Knappen Vorritt,
blendenden Schild, weiß Helm und Panzer tragend —
Schön, gedanklich tief iſt die Idee der Dichtung. Sie geht über die
erotiſchen Drangſale hinaus und veräſtelt ſich ins allgemein Menſchliche.
Lanzelot kennt nur ein Sehnen. Er will nicht das bunte Tagestreiben,
nicht Minne, nicht Schwertſtreich. Er will nur das kriſtallene Abbild der
Welt erſchauen. Im Spiegel von Shalott fände er die Erfüllung ſeines
Wunſches. Er ſucht ihn auf, und wie er hineinblickt, ſieht er ſein eigenes
Bild, worauf der Wahnſpiegel zerbricht. Der Grübler, der, nach dem
Sinn des Daſeins taſtend, ins Weite, Unfaßbare ſchweift, findet die Löſung
nur in ſich ſelbſt. Schade, daß Ludwig die Symbole nicht greifbarer ge⸗
ſtaltet hat. Es gehen viele verſchleierte Einzelzüge nebeneinander her, die
zu enträtſeln mitunter ſchwierig ſein dürfte.
Romantiſch im Material, im bunten Kolorit, in der abenteuerlichen Be⸗
wegtheit find auch die Komödien von Otto Falckenberg „Doktor Eiſen⸗
bart“ (München, Müller) und Kurt Martens „Der Freudenmeiſter“
(Berlin, Fleiſchel u. Co.). In beiden iſt auch das ſtereotype Schloß der
Neuromantik. Aber die Luft bläſt hier friſcher, rauher, die Fäuſte ſind
derber, die Sprache entſchlägt ſich des Feiertons. Beide Dichtungen ſind
keine Komödien im Sinne von luſtigen Spielen, ſondern der Begriff iſt
hier weiter zu faſſen, etwa als Komödie des Lebens, Lebensabſpiegelung.
Wenn nur bei Falckenberg die pſychologiſche Realität danach geworden wäre!
Hebbel hat einmal geſagt, alle Wirkung gehe von den Motiven aus. Sie
müſſen ſtichhaltig und ausreichend ſein. Sie dürfen nicht nach Norden
2. Dramatifche Literatur. 305
deuten, während fich die Menſchen nach Süden wenden. Das iſt ein Mene-
tekel für die ganze neuromantiſche Strömung. Viel zu leicht hüpft Falden-
berg über die Motivierungen hinweg!
Nicht eine Spiegelung des Seins, ſondern eine peſſimiſtiſch aufgewühlte
Anklage iſt das Schauſpiel Herbert Eulenbergs „Fürſt Ulrich von Waldeck“
(Berlin, Marquardt u. Co.). Auch hier darf man nicht nach der Kauſalität
des Geſchehens fragen. Die Taten ſpringen aus der Willkür, aus jäh
umſchlagenden Stimmungen, aus unerklärlichen Affekten heraus. Ebenſo⸗
wenig iſt es als dramatiſcher Wurf gelungen: erſter Schluß des Dramas
nach dem zweiten Akt, zweiter nach dem vierten, endlich letzter nach dem
fünften! Schon Bab und Rich. M. Meyer haben auf das Monologiſche, Mono-
dramatiſche, Lyriſche in Eulenbergs dramatiſchem Schaffen hingewieſen, auch
auf fein literariſches Vorbild, den großen Briten. Die parallelen Ausdrucks-
formen und Situationen dazu laſſen ſich leicht auffindig machen. In ſeinem
Jugendwerk „Münchhauſen“ (Leipzig, Reclam) z. B. die Sauf⸗ und Rüpel⸗
ſzene oder der Diener, der ſeinem Herrn wie der Narr im „Lear“ Rätſel von
bitterſtem Kern aufgibt, oder im „Ulrich“ der Fürſt ſelber in ſeiner Hamlet⸗
ſtimmung, wie er mit dem Leuchter in der Hand nach den Mördern ſeiner
Gattin ſtarrt, oder jenes geiſtreiche, fahrige, ſprunghafte Weſen in der
Rede, jenes von Haſt gepeitſchte, ſtoßweiſe Aufzählen der heterogenſten Dinge;
aber es wäre verfehlt, Eulenberg ſchlankweg als Nachahmer des engliſchen
Meiſters zu bewerten. Nein, es ſteckt wirklich etwas von Shakeſpeares
Temperament in ihm, von ſeinem rollenden Ethos, Geiſt von ſeinem Geiſt,
Blut von ſeinem Blute. Nur hat er eben nicht deſſen geiſtige und ſitt⸗
liche Größe, deſſen Weltbild, Objektivierungskunſt und Differenzierungs⸗
vermögen.
Es iſt kaum ein ſchärferer Gegenſatz zu Eulenberg denkbar als Julius
Bab. Dort die Überſpannung des Ich, hier die demütige Eingliederung
in das Weltganze. Dort der tolle Schrei chaotiſcher Leidenſchaften, hier
die ſeeliſche Sammlung. Dort die gänzliche Mißachtung des dramatiſchen
Weſens und Baues, hier ein faſt ängſtliches Bedachtſein um den Zweiklang
der Ideen, um eine kunſtvolle Architektur, die nicht nur das Ganze, ſondern
wieder jede Szene mit Höhepunkt und Abſtieg in ſich ſchließt. Und doch
wird Babs Drama „Das Blut“ (Berlin, Fiſcher) als ſolches nicht lebendig,
weil die Antitheſe Mängel zeigt. Zwar weiß Bab — denn er iſt einer unſerer
eindringendſten dramaturgiſchen Theoretiker und ein gründlicher Kenner der
Hebbelſchen Ideenwelt —, daß im Drama allen Kampfteilen gleiches Recht
zugewogen ſein muß. Daran gebricht's hier auch keineswegs, wohl aber daran,
daß Spiel und Gegenſpiel zu ungleich an Kraft ſind. Die Vertreterin des
alten Blutes, die Erbin der Krone, iſt eine weiche, träumeriſche, äſthetiſche
Natur und in dem Glauben, daß ſie zur Herrſcherin berufen ſei, ihrer
Rivalin aus dem Volk gegenüber untätig, paſſiv bis zum Fatalismus.
Jahrbuch der Zeit» und Kulturgeſchichte. IL 20
306 VI. Literatur.
Damit bleibt ein eigentlich dramatiſcher Anprall aus. Bab iſt überhaupt
mehr ein apolliniſch Schauender, ein religiös Empfindender. „Der ver⸗
borgene Geiſt eines Gedichtes tut ſich als ein ſtiller goldener Blick über
das ganze Leben auf, der nicht zu beſchreiben iſt“, heißt es in einem
Briefe Eichendorffs an Loeben. So einen Blick will Bab vom Drama.
Und da er die großen Zuſammenhänge in der Weltordnung voll Ehr⸗
furcht fühlt, ſo ſchimmert durch alle ſeine Figuren die Idee des Ganzen
transparent.
Auch Bab iſt Romantiker. Er läßt ſogar den Himmel einmal direkt
mitagieren wie Schiller den Donner in der „Jungfrau von Orleans“. Doch
die ganze Art ſeines Dramas ſtrebt ſchon über die Neuromantik hinaus.
Das philoſophiſche Durchdringen des Stoffes, das Ordnen und Gleich⸗
ſtimmen widerſtrebender Tendenzen, der Seelenadel ſeiner typiſch umriſſenen
Charaktere, die harmoniſche Gliederung des Spieles: dieſer Weg könnte
über die Hiſtorie zu einer klaſſiſchen Renaiſſance führen. Und das geſchähe
zum Heile der dramatiſchen Kunſtform, denn das Empfinden für dieſe iſt
durch den konſequenten Realismus nicht verfeinert worden und durch die
neuromantiſch⸗lyriſche Bühnendichtung eher noch mehr verloren gegangen.
Die Neuromantik vereinigt die Jüngſten in ſich. Von der älteren Gene⸗
ration ſtehen ihr manche Poeten nahe. So Gerh. Hauptmann, wenn
er uns in „Kaiſer Karls Geiſel“ (Berlin, Fiſcher) das ſinnliche Erbeben
der Greiſenliebe zeigt, oder Wilh. Weigand im „Gürtel der Venus“
(München, Müller), wenn er in Verſen von der purpurnen Feierlichkeit
und ſchweren Melancholie Hofmannsthals das dunkle Ineinanderwachſen
von lebenden und toten Dingen, lebenden und toten Zeiten fühlbar macht,
oder Ludw. Ganghofer, wenn er in dem Schauſpiel „Sommernacht“
(Stuttgart, Bonz u. Co.) den Dämmerzuſtand von fraulichem Liebesbegehren
und Abirren pſychologiſch, an der Schwelle des Pathologiſchen zu geſtalten
ſucht. Nur ſind dem Dichter die Szenen dabei zu überromantiſch, die Motive
zu grell, die Männer wieder zu weibiſch⸗ſentimental geraten. Dagegen
nimmt ſeine Lyrik die Sinne gefangen. Und recht anmutig, in graziöſer
Komik die Szenen durcheinander wirbelnd, iſt der Satyrſpuk dazu ge⸗
worden: „Das Recht auf Treue“ aus den drei Spielen in Verſen „Geiſter⸗
ſtunden“ (ebd.).
Herm. Sudermann hat in dem Einakterzyklus „Roſen“ (Stuttgart,
Cotta Nachf.) weder dieſer dramatiſchen Gattung noch ſeinem dichteriſchen
Schaffen einen neuen Stein eingefügt. „Die ferne Prinzeſſin“ hat mich an die
ſaubern novelliſtiſchen Sächelchen des jungen Karl Buſſe erinnert. Zwiſchen
Sudermann und Ibſen pendelt tendenzelnd Ernſt Rosmer (Elſa Bern-
ſtein) in „Maria Arndt“ (Berlin, Fiſcher). Sudermänniſch iſt das Tajchen-
ſpielerkunſtſtück, wie da der ſtockkonſervative, in ariſtokratiſchen Traditionen
aufgewachſene Herr v. Tucher durch ein paar ſchillernde Bonmots im Hand-
2. Dramatiſche Literatur. 307
umdrehen fich bekehren läßt, und die Phraſe des exotiſchen Mannes: „Ich
ſchlafe beſſer beim Löwengrollen als beim Trambahnläuten“, könnte ebenſo
gut im „Blumenboot“ ſtehen. Nebenbei bemerkt, wäre es endlich an der
Zeit, daß die Tage der Roſenſymbolik verblühten: Sudermanns Roſen,
Ganghofers aufdringlicher Roſenſtrauß, in Dreyers „Probekandidaten“ wird
von den weißen Roſen geſprochen, mit denen man Gräber ziert. In Elſa
Bernſteins Stück bringt der Hausgenoſſe vor der Kataſtrophe weiße Roſen uſw.
Lauter Papierroſen!
Frank Wedekind hat in ſeiner „Muſik“ (München, Langen) ebenfalls
keinen Schritt vorwärts getan. Nicht unverzeichnet dürfen hier die ſcharfen
kritiſchen Vorſtöße bleiben, die in der letzten Zeit nicht nur gegen die Wede⸗
kind⸗Uberſchätzung, ſondern gegen Wedekind den Dramatiker überhaupt erfolgt
ſind. Ich habe voriges Jahr an dieſer Stelle 1 eine Parallele zwiſchen ihm
und Shaw, dem iriſchen Spötter, gezogen. Der dritte Akt der Muſik mit
ſeinen Ausflüchten und Verheimlichungen dünkt mich wieder ſo recht ein
pſychologiſches Verſteckſpiel in der Art der Shawſchen Lügenkomödien.
Abgeſehen von Shaw — und auch für ihn ſcheint die Stimmung ſchon
abzuflauen — gibt das Ausland gegenwärtig keine neuen ſtarken Anreger.
Eine Tatſache, die um ſo mehr in die Augen ſpringt, wenn wir der mächtigen
Umwälzungen gedenken, die ein Zola, ein Tolſtoj, ein Ibſen im ſittlichen
und geiſtigen Leben der deutſchen Nation hervorgerufen haben. Im all⸗
gemeinen kann man ſagen, wir tendieren heute mehr nach der germaniſchen
Raſſe, beſonders nach Norden. Zwar beſtaunen wir auch die Franzoſen, die
techniſche Virtuoſität eines Henry Bernſtein (Der Dieb, Baccarat; Leipzig,
Reclam), ſeine erklügelten Konſtruktionen und Spannungen. Warum nicht!
Aber ihn ernſt zu nehmen, wie unſere Väter die allerdings tiefer ſchürfenden
Dumas, Feuillet und Augier, fällt uns kaum ein.
Von den Nordländern nun wäre der Däne Guſtav Wied zu nennen.
Seine Komödie „2 K 2 = 5“ (Stuttgart, Juncker) rüttelt auch an der
Konſtanz der Charaktere. Nur bleibt ſie dabei an der Oberfläche der Idee.
Die Menſchen ſind keine Grundſätze. Das Leben iſt ſtark und krempelt ſie
um. Wer heute konſervativ war, geriert ſich morgen als Liberaler und um⸗
gekehrt. Maskerade iſt alles. Schauspielern wir alſo mit! In „Thummel ⸗
umfen” (Berlin, Fiſcher) faßt Guſtav Wied die Kleinſtadt ins Auge, die ein-
ſtöckigen Häuſer mit den giebeligen Dächern, den blank geſcheuerten Fenſtern
und Dielen, mit den grünen Vorgärtchen und ihren Staketenzäunen. Es
liegt ein Hauch von Traulichkeit darüber, die uns anheimelt, während uns
Shaws Lokalfarben immer fremd bleiben. Zudem ſtellt der Däne ſeine
Menſchen viel kräftiger, körniger auf die Beine, nicht bloß des Witzgeplänkels
halber wie jener. Wie prächtig iſt dieſer Thummelumſen! Trotz der leiſen
1 Bgl. dieſes Jahrbuch 1 317 ff.
20
308 VI. Literatur.
Anormalität von allgemein menſchlichem Intereſſe, überſichtlich bei aller
Kompliziertheit. Wie fein iſt ſeine Dialektik nuanciert, die ſich verſchieden
wendet, je nachdem er mit einer ihm gewichtig dünkenden Perſon ſpricht!
Ein hoher Reiz liegt gerade darin, daß der Dichter über ſeinem Liebling
und Helden ſteht wie ein gütiger Gott, daß er zwar mit ihm ſympathiſiert,
aber doch ſeine Schwächen beileibe nicht überſieht. Hält man dagegen unſere
deutſche Komödie, etwa Kurt Geuckes „Der Meiſterdieb“ (Berlin, Grote)
oder Ludw. Fuldas „Dummkopf“ (Stuttgart, Cotta Nachf.), ſo wird
ſofort die ſubjektive Befangenheit der Dichter, ihre ſentimentale Beſtrahlung
ſichtbar. Je mehr ſich die Verfaſſer in die ſeeliſchen und geiſtigen Vorzüge
ihrer Helden verlieben, deſto unwahrſcheinlicher wird ſowohl die Pſychologie
der Geſamtſtruktur wie die einzelne Situation. Die Komödie braucht einen
weiten Überblick und, wie Hebbel hinzufügt, „die aus dieſem entſpringende
größere Gleichgültigkeit gegen die Einzelerſcheinungen, die der Tragöde weinend
zerbrechen ſieht, der Komöde lachend ſelbſt zerbricht“.
Unter den Norwegern trat ein junger Dichter zum erſtenmal auf. Man
weiß noch nichts von ihm, „Der Tag der Rechenſchaft“ (Berlin, Fiſcher)
iſt vielleicht ſeine dramatiſche Erſtlingsfrucht. Als Bühnenwerk nichts, in
der Idee verſchwommen, in der Zeichnung der Charaktere fragmentariſch,
abgebrochen, auch im Szeniſchen ſkizzenhaft. Die ſtarke dramatiſche Not-
wendigkeit fehlt. Und doch ſteckt etwas ganz Apartes darin: Geiſtigkeit,
reine Geiſtigkeit. Ingredienzien von Jacobſen, von Pontoppidan, von Ibſen.
Nordiſch iſt das unheimlich Lauernde, das graue Schattenwerfen und zwiſchen
hinein die Sonne von den Bergkämmen, nordiſch das Zitternde in den
Worten und das Verhalten in den Gefühlen und endlich das einſame Sterben
und Zerbröckeln einer Seele, eines langen Glaubens, einer inneren Welt.
Auch mitteleuropäiſche Töne ſchwingen mit, und manchmal dünkt es mich
wie Bohemekunſt des Montmartre. Den Namen des Dichters muß man
ſich merken: Nils Kjär. Wer weiß, ob dem Reifenden die Zukunft
nicht Großes ſchenkt!
Von den Ruſſen iſt mir im Berichtsjahr nur Mich. Andrejanoff
bekannt geworden. Aus der Heimat vertrieben, iſt er unterdeſſen in Davos
der Lungenſchwindſucht erlegen. Sein Drama „Der Keſſel“ (Berlin, Fontane
u. Co.), eine Bilderreihe aus der ruſſiſchen Revolution, gipfelt in einem
Pogrom. Die Charaktere ſind mehr heroiſch als pfychologifch geſtaltet,
übrigens mit diskreter Hand gezeichnet. Das Ganze wirkt mit der Echtheit
eines hiſtoriſchen Dokumentes.
Eine Eigenart öſtlicher Kunſt, nicht nur der ruſſiſchen, auch der jüdiſchen,
iſt das Ergießen ins Breite. So ſteht in der Tragödie von Schalom
Aſch „Sabbatai Zewi“ (Berlin, Fiſcher) über dem ſzeniſch Geſchauten das
Maleriſche, über dem Pſychologiſchen das Zuſtändliche, über dem individuellen
Schickſal das der Geſamtheit. Das außerkünſtleriſche, das ethnographiſche
2. Dramatifche Literatur. 309
Intereſſe überwiegt. Hingegen erhebt ſich Arthur Holitſchers Ghetto-
legende „Der Golem“ (Berlin, Fiſcher) in die Höhen einer reinen Dich.
tung. Sie umfaßt empfindungsſtark ein allmenſchliches Leid: titaniſches
Auffteigen und das ihm folgende Zurückſinken in den Staub. Dabei iſt
das Geſchehen von myſtiſchen, lyriſchen Schauern umwölkt und in tiefſte
Symbolik getaucht.
Damit haben wir uns ſchon dem Drama der religiöſen Erfaſſung und
Durchdringung genähert. Hier wäre nun eine Bühnendichtung des Monis-
mus zu nennen, das erotiſche Myſterium von O. Borngräber „Die erſten
Menſchen“ (Berlin, Marquardt). Der Verfaſſer will das Entſtehen der
religidjen Begriffe, das Reifen der ſeeliſchen Erfahrung ſzeniſch anſchaulich
machen. Er vermengt jedoch den moſaiſchen Schöpfungsbericht und die
darwiniſtiſche Entwicklungslehre, jo daß von vornherein ein Riß im gedank⸗
lichen Bau klafft. Aber ganz abgeſehen davon, abgeſehen auch von der
flachen, nüchternen Auffaſſungsweiſe, — ſeine Menſchen ſtreifen direkt ans
Komiſche. Alle ſuchen etwas. Eva ſucht in Liebesdurſt den Adam. Adam,
wie wenn er Schopenhauers Aphorismen geleſen hätte, brummt klug: „Wer
das Weib hinter ſich hat, wird ein Weiſer.“ Kain ſucht immer „das wilde
Weib“, Abel ſucht nach Gott, findet aber ſchließlich die Eva. Einmal heißt
es: „Was ſuchſt immer in der Wildnis — ſie tut nicht gut“, worauf die
Antwort erfolgt: „Ich ſuche ſie, weil ich ſuche, wonach ich ſuche! Denn
ich ſuche etwas.“ Damit ſoll wohl der Sprachbildungsprozeß, das hilfloſe
Tappen nach dem ſinnlichen Ausdruck angedeutet werden; dichteriſch iſt dieſes
Geſtammel nicht. Die freien Rhythmen erinnern eher an Arno Holz' lyriſche
Schule als an Nietzſche. Auch ein Drama iſt nicht aus dem Myſterium
geworden. Ich weiß nicht, ob der Dichter überhaupt ein ſolches geſucht
hat, weil er ſucht, wonach er ſucht; denn er ſucht etwas.
Iſt hier auch ein Dilettant geſcheitert, der Satz Karl Lamprechts bleibt
zu Recht beſtehen: „Das Drama ward in den Höhepunkten ſeiner Entwick⸗
lung zum Verkünder von Weltanſchauungen und wird es immer wieder“,
und auch jener andere Satz: „Eine große, allgemeine, Dichter und Publikum
zugleich umfaſſende, einheitliche, der ganzen Zeit angehörige Weltanſchauung
iſt die Vorausſetzung eines großen Dramas.“
Auf einer ſtrengen, einheitlichen Weltanſchauung baſiert in der Gegen⸗
wart eigentlich nur die katholiſche Dichtergruppe. Ihr lauſcht auch ein
weitgeſpannter Kreis gleich Geſtimmter, gleich Fühlender, geiſtig gleich Ge⸗
richteter. So wären denn die Vorausſetzungen des Leipziger Hiſtorikers
gegeben. Nur daß eben eine andere ebenſo wichtige fehlt, nämlich die
überquellenden, werdefrohen, ſchöpferiſchen Talente. Halten wir einmal
Umſchau!
Leo (Tepe) van Heemſtede hat den zweiten Teil ſeiner Roſenkranz⸗
trilogie erſcheinen laſſen, „Catharina von Siena“, ein Drama in fünf Auf⸗
310 VI. Literatur.
zügen (Paderborn, Junfermann), in das er die ſchmerzensreichen Geheimniſſe
hineinwebt. Wie in Schillers Jungfrau von Orleans, fo iſt hier ein weib-
liches Weſen, das myſtiſcher Schimmer umfließt, in den Mittelpunkt alles
Geſchehens gerückt. Es iſt die Zeit des großen abendländiſchen Schismas,
da franzöſiſche Machthaberpolitik den Stuhl des hl. Petrus zu umgarnen
ſucht. Das Blut der ſtreitenden Parteien tränkt den italiſchen Boden.
In Klemens VII. ſteht Galliens Gegenpapſt wider Rom. Je mehr ſich
nun die Meinungen verwirren, deſto größer wird die allgemeine Nieder⸗
geſchlagenheit und Bangnis. Eine Zeit der Geißelung iſt über die Kirche
hereingebrochen, eine dornenumkrönte Zeit. Nur eine Perſon weiſt über ſie
hinaus, die fromme Färberstochter von Siena, die Heilige, die Seherin.
Der Dichter hat ſie ganz als die letztere, als die ekſtatiſch Schauende gefaßt,
nicht als den zur Handlung treibenden Willen. Und das iſt geſchichtlich
kaum richtig, dramatiſch aber vollſtändig verfehlt; denn das Drama braucht
Aktion, die ſich aus den Charakteren, aus dem Willen löſt, braucht Stei-
gerung, Höhepunkt, Peripetie. Dieſe fünf Akte ſind lediglich Hiſtorie, epiſch
laufender Bericht geblieben. Wir hören bloß, ohne lebendig zu fühlen.
So erzählt man ſich auf der Szene, daß der viſionären Dominikanerin die
hinreißende Beredſamkeit des hl. Bernhard eigne, daß ſie mit überirdiſcher
Drommeten Klang der Völker Herz erſchüttere. Doch wenn ſie auftritt,
lauſchen wir vergebens auf einen ſuggeſtiven, metallenen Weckton in ihren
Worten. Ihre einzige Gabe, wodurch ſie die Mitagierenden bezwingt, iſt
die Prophetie. Nun muß ich aber ſagen, Überſinnliches, Prophezeiungen,
Heilungen, Wunder wirken von der Bühne herab nicht überzeugend, ſie
wirken äſthetiſch nur, ſobald ſie als ſymboliſche Zuſammenfaſſung eines
tranſzendent geſteigerten Charakters und Spieles gipfeln. Das Wunder
darf wohl Krone des Ganzen fein, nie aber lediglich dramatiſch⸗techniſches
Mittel. Gegen dieſes Gebot wird von den katholiſchen Dichtern vielfach
geſündigt.
Als weitere Beſonderheit der katholiſchen Gruppe iſt mir aufgefallen,
daß ſie ſich in der ſprachlichen Formgebung noch durchweg im Bannkreis
der weimariſchen Klaſſikerzeit bewegt, ohne natürlich dieſe Höhe zu erreichen.
Von jener Fortentwicklung aber und Weiterbildung der Sprache, die ſich
ſeit Kleiſt über Hebbel und die Droſte bis zu Nietzſche und den Wort⸗
impreſſioniſten vollzogen hat, wird in ihren Wortprägungen, ſchmückenden
Beiwörtern, Metaphern kaum eine Nuance bemerkbar. Und ſo iſt es oft,
als ob dieſe Dichtungen in abgebrauchten, verſchoſſenen Kleidern ſteckten.
Wenn z. B. Heemſtede in „Catharina“ ſagt: „Das iſt die ſtarke Hand des
Herrn, die Gutes ſtets aus dem Böſen ſchafft“, oder in „Simon von Mont⸗
fort“: „Es irrt der Menſch, ſolang er lebt“, ſo erinnert ſich doch jeder
unwillkürlich des Fauſt. — Wohlverſtanden: die ureigene Form fehlt bei
Heemſtede, nicht das perſönliche Durchdenken und Empfinden. Das Weſen
2. Dramatiſche Literatur. 311
des Dichters, fein Weltbild und fein Sehnen hebt ſich ſogar recht klar und
ſcharf aus „Catharina“ ab. Er iſt der Skeptiker, der über das Leben und
über das Wiſſen um das Leben reſigniert lächelt, und er iſt der gütige
Beichtiger, der die irrende Seele auf die Pfade des Glaubens weiſt.
Bühnentechniſch geſchickter als Heemſtede iſt Joh. Mayrhofer. Er ver⸗
ſteht es, eine Szene breit anzulegen, Bewegung in die Maſſen zu tragen, den
Chor in Hin- und Widerrede zu gliedern. In der Art, wie er dem Tra⸗
giſchen den Humor beimiſcht, und im Aufbau iſt Shakeſpeare ſein Meiſter. Ein
Bühnenbild drängt das andere. Immerhin erſtrebt er innerhalb der Akte
eine gewiſſe Symmetrie. Nur iſt auch bei ihm wie bei Heemſtede der epiſche
Stoff nicht reſtlos ins Dramatiſche aufgegangen, was in dieſem Falle um
jo weniger verwundern darf, als ja feinem fünfaktigen Schauspiel „Chriſt
oder Antichriſt“ (Paderborn, Kleine) ein Epos zu Grunde lag, Joſeph
Seebers „Ewiger Jude“. Beſonders im vierten Akt, wo die Ereigniſſe und
Frevel dem letzten Ende, dem jüngſten Gerichte zudrängen, ſtockt der dra⸗
matiſche Strom. Dafür ſetzt gegen Schluß eine gewaltige Stimmung ein,
die alle Gemüter mit den Schauern und Schreckzeichen apokalyptiſcher Offen⸗
barung in Bann ſchlägt. Hier verdichtet ſich der Mythos, ballt ſich ein
Schickſal, wächſt die Idee ins Große. Hier werden die Taten viſionär,
während im erſten Teil den übermenſchlich gedachten Figuren das heroiſche
Maß fehlt, der mythiſche Dunſtkreis immer wieder von Realitäten, oft von
Banalitäten zerriſſen wird. Ich erinnere nur daran, wie ſich da Ahasver,
der doch den Fluch und das Menſchenlos und Menſchenweh von Jahr⸗
tauſenden verkörpern ſoll, von kleinlicher Eiferſüchtelei zerreiben läßt. Man
halte dagegen Hebbels Königsgeſtalten, die ſelbſt in ihren Schwächen noch
etwas Rieſenhaftes bewahren.
Als eine bewußte Anlehnung an Nietzſche dürfen wohl die Schlußverſe
des erſten Aufzuges gelten: „Das wäre ein Schauſpiel, daß dort im Olymp
die Götter vor Lachen ſterben müßten: der zweite Petrus [das ijt der letzte
Papſt] als der Freund des Antichriſt, den alle Frommen haſſen“. Die Stelle
in Nietzſches „Antichriſt“ lautet: „Ich ſehe ein Schauſpiel ſo ſinnreich, ſo
wunderbar paradox zugleich, daß alle Gottheiten des Olymps einen Anlaß
zu einem unſterblichen Gelächter gehabt hätten: Ceſare Borgia als Papſt.
Berfteht man mich? Wohlan, das wäre der Sieg geweſen, nach dem ich
heute allein verlange. — Damit war das Chriſtentum abgeſchafft.“ — Die
letzten Kämpfe um das Chriſtentum. Welch großer Stoff, des größten
Dichters würdig! Um ſo eher hätte ſich Mayrhofer von den Traditionen
der Vereins⸗ und Jünglingsbühne abkehren ſollen. Warum denn das Weib
von einem ſolchen Weltdrama ausſchließen?
In die Frühzeit des Chriſtentums geleitet uns Alinda Jacoby
(Maria Krug) mit dem Drama in fünf Akten „Saulus“ (Limburg a. Lahn,
Vereinsdruckerei). Ihr fehlt noch die ſichere Hand, eine dramatiſche Linie
312 VL Literatur.
gerade zu führen, Haupt- und Nebenhandlung ineinander zu verſchränken
und dem Ganzen eine innere Geſchloſſenheit und Rundung zu geben.
Prächtig iſt ihr dagegen die Zeichnung des Saulus gelungen. Das iſt
ein Charakter von ſtarken Konturen. Nur iſt er nicht bis zum Schluß
pſychologiſch klar durchgehalten. Warum läßt er plötzlich die Kerker öffnen?
Noch eine Schwäche wäre zu erwähnen, die wieder der Geſamtgruppe
gemeinſam iſt: die Darſtellung von Glaubensbekehrungen. Sie gehen ent⸗
weder im Zwiſchenakt vor ſich, wie bei Mayrhofer der Glaubenswechſel
Ahasvers, werden uns alſo erſt als vollendete Tatſachen ſinnfällig, oder ſie
geſchehen auf der Bühne, dann aber immer jäh wie ein Blitz, durch ein
Wunder, wie bei Jacoby, durch eine Inſpiration, durch einen Traum her⸗
beigeführt. Faſt immer iſt es ein direktes Eingreifen des Himmels, kaum
irgendwo ein ſeeliſcher Konflikt, ein ſeeliſches Reifen und Ringen, ein Auf⸗
einanderplatzen geiſtiger und ethiſcher Konflikte, folglich kaum irgendwo
dramatiſch. Das Dramatiſche ruht ja in der Entwicklung, nicht in der
Überrumpelung. Vielleicht find dem poſitiv gläubigen Dichter die himm⸗
liſchen Erleuchtungen ſo zur inneren Gewißheit geworden, daß er ſie als
Realitäten betrachtet, die einer tieferen Motivierung gar nicht bedürfen.
Aſthetiſch iſt dieſer Standpunkt nicht zu verfechten. Im übrigen dürfte es
meiſt darin liegen, daß die modellierende Kraft fehlt, die Pſychiſches in das
Leben umſetzt. Auch Calderon, der dramatiſche Klaſſiker des Katholizis⸗
mus, iſt oft im metaphyſiſchen Begriff ſtecken geblieben und hat blaſſe
Allegorien gegeben, wo einzig Menſchenzungen hätten reden ſollen.
Ich habe geſagt, daß die katholiſche Dichtung nach den deutſchen Klaſ⸗
ſikern hin gravitiere. Alinda Jacoby ſteht mit manchen Wendungen und
Satzgefügen in der Dankſchuld Schillers. Auch Anna Sartory, die
Verfaſſerin des vieraktigen Dramas „Judith, die Heldin von Bethulia“
(Einſiedeln, Benziger), fußt auf ihm. Nicht ſprachlich, da hätte ſie ent⸗
ſchieden lernen ſollen. Ihr Bilderſchatz iſt armſelig und wird durch die
Wiederkehr des Gleichen nicht reicher. Ihre Rede beſchwingt kein Flug.
Was ſie von Schiller entlehnt, das ſind die Motive. Ihr Vorbild iſt nicht
die Judith Hebbels, ſondern der Tell. Wie er zieht die Heldin von Be⸗
thulien aus als die Befreierin, „das teure Vaterland“ zu retten, und wie
er rechtfertigt ſie in einem Monolog ihr Tun als Notwehr. Und wie dort,
ſo kniet hier eine unglückliche Mutter mit Kindern vor dem Tyrannen.
Unter den vaterländiſchen religiöſen Dichtungen wären noch zwei zu
nennen, Alfred Ebenhochs „Johann Philipp Palm“ (Linz, Preßverein)
und P. Ferd. v. Scalas „Peter Mayr, der Wirt an der Mahr“ (Brixen,
Preßverein). Das Werkchen des Tiroler Paters liegt bereits in dritter, das des
früheren öſterreichiſchen Ackerbauminiſters in zweiter Auflage vor. „Palm“
iſt ganz auf Bewegung und Aktion angelegt. Weil nun jede Szene ſtark
auf eine äußere Spitze hintreibt, ſo leidet darunter zuweilen die Ausprägung
u, a a SS
2. Dramatiſche Literatur. 313
des innerſten Gefühlslebens und die individuelle Differenzierung des Dialogs.
Wie raſch iſt der ſeeliſche Kampf abgetan, als der Held vor die Wahl
zwiſchen Tod und Leben geſtellt wird! Scala läßt ſeine Bauern echt
tiroleriſch reden, friſch weg von der Leber, klotzig, rauh, aber treuherzig
und bieder. Während Ebenhoch der patriotiſchen Idee zulieb ſeinen Helden
ins unfehlbar Heroiſche ſtiliſiert, bleibt der Mahrwirt bei aller Tapferkeit
und Stärke des Herzens immer ein Menſch. „Peter Mayr“ iſt ein Volks⸗
ſtück mit all dem Lieben und Herzlichen und mit all den Schwächen ſeines
Genres, ein Volksſtück feiner gefunden moraliſchen Tendenz nach, ein Volks⸗
ſtück in ſeiner Rührſeligkeit und in ſeinen naiven Mitteln, mit denen es
ein urſprünglich empfindendes Publikum packt. Dabei iſt das Ganze dra⸗
matiſch nicht ungeſchickt. Der vierte Akt erhebt ſich, wie ſchon P. Kreiten
geſagt hat, zu einer wirklich dramatiſchen Höhe.
Ich habe voriges Jahr bereits an dieſer Stelle darauf hingewieſen, daß
das katholiſche Drama ausſchließlich hiſtoriſch, retroſpektiv und vielfach
romantiſch gerichtet iſt, während es ſich den Konflikten, die ſpezifiſch die
Gegenwart herausgebildet und verſchärft hat, zu entwinden ſucht. Daß ich
unter Gegenwartskonflikten keine aktuellen Senſationen von heute und morgen
verſtehe, brauche ich wohl nicht zu betonen. — Es iſt nun intereſſant zu
beobachten, wie ſich dieſe konſervative Dichtergruppe ſtofflich mit der
modernſten Richtung im zeitgenöſſiſchen Drama enge berührt, wie ſich hier
die Linien ſchneiden. Julius Bab, der dieſe jüngſte Strömung, wenn auch
nicht inauguriert, ſo doch am klarſten begrifflich umriſſen hat, weiſt näm⸗
lich mit aller Energie auf die Hiſtorie, auf den Boden der Tradition hin
(Kritik der Bühne. Berlin, Oeſterheld). Ja er iſt der Anſicht, daß die
allergrößten dramatiſchen Kompoſitionen faſt nur da gelingen, wo ſeit Jahr⸗
hunderten volkstümliche Tradition vorgearbeitet habe. Nur ein ſchickſal⸗
reicher, vom Geiſte vieler Nationen durchgearbeiteter Stoff könne die Reife
und Schwere erlangen, deren er bedürfe, um das Drama großen Stils
zu erfüllen. Das letzte Heroenzeitalter fet die franzöſiſche Revolution ge⸗
weſen. Sie werde deshalb wohl in ſteigendem Grade Fundort ſinnbildlich
ſtarker Geſchicke für den Dramatiker ſein.
Kann Rich. v. Kraliks neueſte Schöpfung „Die Revolution“ (Gral-
bücherei Bd V u. VI. Regensburg, Alber) nicht wie ein Exempel auf dieſe
Theſe gefaßt werden? Da breitet der Dichter in ſieben Hiſtorien die ſchweren,
weltbewegenden Geſchehniſſe und tragiſchen Geſchicke aus, die ſich von der
Gefangenſetzung des unglücklichen Ludwig XVI. bis zum einſamen Hinſterben
Bonapartes auf dem Felſeneiland St Helena erfüllten. — Kralik iſt ohne
Zweifel der bedeutendſte Kopf der ausgeſprochen katholiſchen Dichtergruppe.
Er iſt ihr Philoſoph, ihr Theoretiker, er errichtet ihre Syſtemgebäude und
ihre Gralstempel, deutet auf die weckenden Vorbilder hin und weiſt ſo die
Bahnen, ohne daß man eigentlich ſagen könnte, er habe dichteriſch Schule ge⸗
314 VI. Literatur.
macht. Das liegt eben daran, daß er ſelber nicht Poet ift, jedenfalls nicht Poet
aus innerſtem Zwang und aufwühlenden Gewalten heraus und ganz gewiß
nicht ein dramatiſcher Poet. Die „Heptalogie“ hat dies geoffenbart. In
ihr eifert er Shakeſpeares Königsdramen und Gobineaus Renaiſſanceſtudien
nach. Und wie weit bleibt er im Abſtand von beiden! Keines der ſieben
Stücke zeigt nur annähernd jene Geſchicklichkeit, jene architektoniſche Weis⸗
heit, mit der Meiſter William den ungefügen Stoff der Roſenkriege ge⸗
bändigt hat, keines zeigt eine energiſch zuſammengeraffte Kompoſition gleich
der Richards II. oder Richards III. Gar nicht zu reden von der geiſtigen
Größe und Dämonie, durch die der Brite eine Kette von Ruchloſigkeiten
und Blutſünden in die Sphäre des Übermenſchlich⸗Titaniſchen zu heben
wußte. Und Gobineau! Er enthüllte die Seelen, das Dramatiſche ganz
ins Innerliche kehrend, nicht in Taten, ſondern in Geſprächen, und gab
dabei die feinſte Eſſenz einer hochgeſteigerten, äfthetifch überſpannten Kultur. —
Kralik nun vermag weder die ideelle Subſtanz einer Zeitepoche heraus⸗
zuſchälen, — man beſehe nur die Art, wie er die Romantik in Friedrich
Schlegel, Brentano und Adam Müller zuſammenfaßt —, noch läßt er in
der Regel eine Zwieſprache pſychiſch reifen, ſo daß fie die Charaktere bis
in den Grund durchleuchte. Oft ſtrömt ſeine Rede epiſch in Monologen,
in Dialogen, im Liedton an einer Stelle, wo alle Welt nach Taten fiebert,
in einer Situation, wo einzig die Handlung, die Willensentladung den
Weſenskern auslöſen könnte. Und darauf kommt es hier doch in erſter
Linie an, einer großen Materie große Szenen, ſtarke Antitheſen, ſcharfe
Profile, poetiſche Farbe abzugewinnen.
Zuweilen wird Kralik vom Rohſtoff hingeriſſen und die Weltgeſchichte
diktiert ihm Höhepunkt, Peripetie und Kataſtrophe wie in der Schreckens⸗
herrſchaft und bei Waterloo. Und dann gelingt es ihm auch, zu vergeiſtigen,
Symbole hinzuſtellen, eine Idee herauszuſtiliſieren. Eine der glänzendſten
Partien der ganzen Heptalogie dünkt mich das Gaſtmahl der Girondiſten.
Da flackert etwas von der leuchtenden Rhetorik jener Tage, da ſprühen die
Funken der Antitheſe, da miſcht ſich etwas hinein vom Stil und der dich⸗
teriſchen Sprache Lamartines und Victor Hugos. Da wachſen die Ge⸗
ſtalten in tragiſche Höhen. Doch öfters ſchrumpfen die Führer der Geiſtes⸗
und Menſchengeſchichte teils aus Tendenz, teils aus ſchöpferiſcher Ohnmacht
ins Philiſtröſe, ins Enge, ins Kleine. So iſt die Szene vor Goethes Haus
während der Schlacht von Jena eine der ſchwächſten des ganzen Zyklus. —
Napoleon ſelber, wenn er auch nicht das Stigma des Genialen empfangen
hat, iſt nicht ſchlecht gezeichnet, jedenfalls beſſer als in manchen Dramati⸗
ſierungen, die mir aus den letzten Jahren bekannt geworden ſind. Immerhin
hat er den überlegenen Verſtand, das geradlinige Streben, den ſtarken
Willen und auch etwas Knappes, Karges, Schlagendes in ſeinem Weſen
abbekommen.
2. Dramatiſche Literatur. | 315
Verſtand und Wille find ja auch Kraliks treibende Kräfte. Er iſt Kopf⸗
arbeiter, konſtruktiver Denker. Er gravitiert nach dem Ethiſchen, nicht nach
dem Aſthetiſchen hin. Von ihm könnte man ſagen, was Mauerhof von
Ibſen geſagt hat: er iſt Romantiker des Verſtandes. Das kapriziöſe Spielen
der Romantik, die paradoxe Geiſtigkeit, das Jonglieren mit geſchliffenen
Worten, blitzenden Gedanken, jäh aufwallenden Gefühlen und Gefühlchen
liegt ihm nicht. Darum hat er auch in der Schilderung der Pariſer Salons
und ihrer ebenſo galanten wie eſpritvollen Vertreterinnen, einer Tereſa
Tallien, einer Joſephine Beauharnais, einer Madame de Stasl, nicht den
rechten Ton getroffen. Auch ſeinem Humor fehlt etwas Weſentliches, das
innerlich Durchwärmte, behaglich Durchſonnte. Wohl läßt ihn ſein Kunſt⸗
verſtand die unverſiegliche Lebensquelle erkennen, die in den Falſtaffſzenen
eines Heinrich IV. ſprudelt, aber was er ihnen nachbildet, die Aufſchneide⸗
reien und Münchhauſiaden ſeines Haudegens Rummelpuff, lockert ſich zu
wenig aus der gedanklichen Schwere. Hingegen eignet Kralik die Gabe der
grotesken Geſtaltung. Da ſind z. B. die Thermidorſzenen, in denen ſich
das Oberſte zu unterſt kehrt, die Freiheit zur Tyrannis, der Unſinn zur
Methode wird, oder die Vorgänge an der Taborbrücke bei Wien, wo ſich
die öſterreichiſche Biederſeele und Landſturmgemütlichkeit ſo drollig über⸗
rumpeln und übertölpeln läßt.
Am wenigſten zeigt Kralik ſich in dem in Rede ſtehenden Werk als
Lyriker. Während ihm die Volksweiſe, das Liedmäßige, der balladeske
Klang glücken, obſchon dieſe zahlreich eingeſtreuten Verſifizierungen als tech-
niſche Mittel ganz verfehlt wirken und mit der Zeit monoton klingen, ver-
mag er den Allegorien und den Hymnen kein dichteriſches Werde einzuhauchen.
Ins Abſtrakte ſich verflüchtigend, den Händen entgleitend, nähern ſich dieſe
Prologe und Epiloge im Himmel, dieſe Preisgeſänge der Erzengel, Cherubim
und Seraphim dem Altersſtile Goethes, dem zweiten Teile des Fauſt. Und
wie hat er ſeinem Zyklus das herrlichſte, einzige und unvergängliche Epos
der Deutſchen, Hermann und Dorothea, eingefügt! Von dem Goldſchimmer
dieſer farbenſatten, kornumrauſchten Sommeridylle iſt hier nichts verblieben,
nichts von den zarten, mädchenhaften Regungen der Seele, nichts von dem
keuſchen Duft, nichts von dem urdeutſchen, fränkiſchen Gehalt. Nur Namen,
Blumen in ein Herbarium gepreßt.
Und doch iſt Kraliks „Revolution“ ein Werk, das ſeinen Schöpfer aus
der katholiſchen Gruppe heraushebt. Nicht etwa bloß darum, weil es dem
weitausholenden Wurfe nach das mutigſte iſt, ſondern auch deshalb, weil
es in wildbewegte Zeiten ordnende Zuſammenhänge zu bringen ſucht und
ihnen einen philoſophiſchen Grundgedanken unterlegt, den Triumph roman⸗
tiſchen Gefühlslebens über den Aberwitz der Aufklärung; doch zumeiſt darum,
weil es das ſelbſtändigſte Werk iſt, ein Werk, deſſen Fazit einer langen und
eigenen Denktätigkeit, einer Lebensſumme abgerungen wurde.
316 VI. Literatur.
Kralik gehört übrigens zu den wenigen, die bewußt auf Calderon zurüd.
greifen (Ahren der Ruth). Dem ſpaniſchen Dramatiker will nun P. Exped.
Schmidt wieder Bahn brechen. Dadurch, daß er ihm ein neues metriſches
Gewand verſchafft, glaubt er es zu erreichen: ſtatt der Wiedergabe des
ſpaniſchen Achtſilbers in Trochäen einen vierfüßigen Jambus. Mit dieſer
Aufgabe betraute er den bekannten Dichter und Überſetzer Rich. Zooz⸗
mann. Die Dichtung „Das Leben ein Traum“ (München, Etzold u. Co.)
eröffnet den Reigen.
Gewiß, der Trochäus iſt kein Vers, der frei von den Lippen fließt. Zum
mindeſten bedarf er virtuofer Meiſter. Der Jambus ſchmiegt ſich unſerem
Satzbau natürlicher, elaſtiſcher an. Kanonikus Franz Lorinſer, der
Calderons „Größte Dramen religiöſen Inhalts“ verdeutſcht hat (Freiburg,
Herder), ſcheint mir dafür den Beleg zu geben. Seine Übertragung iſt von
einer rührenden Sorgfalt. Er ſucht ſich im Metrum anzupaſſen, hängt mit
philologiſcher Akribie an Wortlaut und Sinn, ja er behält ſogar die Aſſonanzen
des Urtextes alle bei. Sobald er nun ſtatt des trochäiſchen Maßes einmal
den Jambus anwendet (allerdings den Blankvers), wird der rhythmiſche Gang
ſofort freier, der Satzbau klarer. Ob aber dieſe metriſchen Hemmniſſe der
Hauptgrund ſind, daß Spaniens erſter Dichter auf unſern Bühnen ſo fremd
geworden iſt, möchte ich doch ſehr bezweifeln. Calderons Denk. und Moral
begriffe ſind eben nicht die unſern, haben ſich überhaupt niemals mit denen
der germaniſchen Welt völlig gedeckt. Auch die Traumdichtung iſt nicht frei
von ſolchen Schlacken, zumal gegen Schluß, ſo ewigkeitsgehaltig, ja heute
geradezu modern der erſte Teil auch daſteht.
Was nun die Überſetzung anlangt, ſo iſt die Anwendung des vierfüßigen
Jambus ſpaniſchen Texten gegenüber nicht ſo ganz neu. Joſeph Schrey⸗
vogel, der Hoftheaterſekretär und Dramaturg in Wien war, hat unter dem
Pſeudonym C. A. Weft 1816 „Das Leben ein Traum“ ins Deutſche über-
tragen, zumeiſt in Blankverſen. Der berühmte, tiefſinnige Monolog des
Prinzen Sigismund jedoch iſt ſchon in dem metriſchen Maße abgefaßt, das
P. Expeditus fordert. Soviel ich ſehe, hat Zoozmann dieſe Verdeutſchung
wohl gekannt. Er hat ſich nicht bloß in den dramaturgiſchen Streichungen
zuweilen ſtrikte an ſie gehalten, ſondern auch viele Wortprägungen, viele
Satzgefüge einfach beriibergenommen. — Ohne auf Details einzugehen,
möchte ich hier nur eine Stelle erwähnen, die grob gegen den Calderonſchen
Geiſt verftößt. Zoozmann läßt den Sigismund ſagen:
So weckt auch in der Bruſt des Menſchen
Die ſchlechten Triebe, wer durch Zwang ſie
Gewaltſam will darnieder halten.
Wer ſich einmal in die Ideenſphäre des frommen Spaniers eingelebt
hat, fühlt ſofort, wie dieſe Sentenz aus dem Ganzen herausfällt. Wie
ſagt nun Calderon?
2. Dramatifche Literatur. 317
La fortuna no se venoe
Con injusticia y venganza etc. (Mar Krenkel III 1023 ff.)
Lorinſer folgt wörtlich:
Wird man des Geſchickes Meiſter
Doch durch Unrecht nicht und Rache uſw.
Das klingt doch weſentlich anders!
Die Antike bringen uns u. a.! zwei Überſetzungen näher. Karl Voll-
moeller gibt die Oreſtie des Aſchylus (Berlin, Fiſcher) wieder, Herm.
v. Schelling die Antigone des Sophokles (Berlin, Curtius). Des letzteren
Buch umwebt ein eigenartiger hiſtoriſcher Reiz. Schelling iſt der Sohn des
großen Philoſophen. 1889 iſt er preußiſcher Juſtizminiſter geworden. Als
er wieder auf ſein Jugendwerk zurücklangte, ſtand er tief in den Achtzigern.
Das Vorwort zur erſten Auflage datiert aus dem Jahre 1842. Nicht
ohne leiſe Wehmut kann man dieſe Zeilen leſen. Das Abendrot einer
bedeutſamen philoſophiſchen Epoche, der Glanzzeit des deutſchen Idealismus
ruht auf ihnen. Der Jüngling heiſchte damals die Syntheſe von helleniſcher
Schönheit und modernem Leben. Wir haben den Zuſammenklang noch nicht
gefunden. Er ſehnte ſich nach dem großen Stil. Unſer Nachwuchs ſucht
ihn wieder. Er harrte darauf, daß der „gegenwärtig leider verwirrten
dramatiſchen Dichtkunſt“ ein Genius erſtehe. Und wir? — Der Über⸗
tragung hat er ſich mit philologiſcher Hingabe gewidmet. Als Sprach⸗
künſtler reicht er bei weitem nicht an Vollmoeller heran. Vor allem iſt
ihm die metriſche Umſpannung nicht gelungen. Vollmoeller hat ſich von
vornherein nicht an die Maße des Urtextes gehalten und dadurch mehr
Bewegungsfreiheit gewonnen. Wo ſich das Epiſche und Reflexive zu breit
verzweigte, hat er abgeblättert und abgeſchnitten. So wurden beſonders die
ſchwer wälzenden Chorpartien eingedämmt. Wenn es ihm auch nicht durch⸗
weg glückte, die orakeltiefe Prägnanz und Wucht des Aſchylus in eine
lebendige, dem Mund gerechtere, dem Ohr vertrautere Form zu gießen, ſo
hat er doch ſprachliche Glanzſtellen geſpendet, wie jenen ergreifenden Bericht
des Herolds von den Qualen vor Ilion. — Schöpferiſch, die Motive
wandelnd wie Hofmannsthal, hat er nirgends eingegriffen, und ſo iſt die
Ideenzone der altgriechiſchen Kultur in ihrer ſtrahlenden Reinheit und
Gipfelklarheit gewahrt worden. Wie jäh ſchneidet ſie ſich von dem dumpfen,
ſchwülen Dunſt neuromantiſcher Moderniſierungen ab! Es iſt ja richtig,
das Labdakiden⸗ und Atridenhaus war von Blut und Greueln, Schande
und Mord, Buhlerei und Fluch erfüllt. Und doch iſt die Lichtbrechung
dieſer Geſchicke bei den alten Tragikern grundverſchieden von der Beleuchtung,
in die ſie Hofmannsthal rückt. Jenen waren die Frevel, die Barbarei, die
Grauſamkeit das Urzeitliche, Rudimente, die den Menſchen zu ſittlicher
1 Vgl. auch Abſchnitt V, 4, A: „Klaſſiſche Philologie“ ©. 218.
318 VI. Literatur.
Läuterung, zu inneren Geſetzen drängten. Der Pfad ging anwärts. Hof-
mannsthal läßt die Körper ſeelenlos hinabgleiten, indem er ſie ins Tieriſche
zurückſtößt. Dort bei Aſchylus das architektoniſche Streben, hier der Ber-
fall. Mir kommt dabei ein Urteil von Ernſt Heilborn über Leo Greiner
in den Sinn — vor ein paar Jahren hat es in der „Frankfurter Zeitung“
geſtanden: „Das iſt nun die neuromantiſche Richtung, die den Naturalismus
auf der Bühne ablöſen, uns dramatiſche Zukunftskoſt ſein will. Ich fürchte,
es iſt die Traufe nach dem Regen. Denn dieſe Neuromantik hat die ge⸗
fährlichſte Erbſchaft des Naturalismus angetreten, den Glauben an die Er-
bärmlichkeit der Menſchennatur. ... Die Kunſt aber braucht den Glauben
an Größe und iſt ihr ſonſt kein Heil gegeben. Sie ſteigt und ſinkt mit
ihrer Auffaſſung vom Menſchen.“
3. Proſaſchriften.
Don Dr N. Lohr.
A. Deutſche Nomane, Novellen und Erzählungen. — Ein tiefer Riß
klafft immer noch durch unſere Zeit. Denn ſie quillt über von äußerlichem
Leben, während ſie nach innerlichem lechzt. Die ungeheure Entwicklung
des Verkehrs, der modernen Technik und des ganzen wirtſchaftlichen Lebens
iſt der ſeeliſchen Entwicklung der Gegenwart allzuſehr vorangeeilt. Unſere
ſeeliſche Kultur verkümmerte hinter dem Siebenmeilenſtiefelgang des mate⸗
riellen Fortſchritts. Und geblendet von all dem Neuen und Ungeahnten
nahm man unbeſehen die neuen Formen für das Weſen der neuen Kultur.
Man verwechſelte Mittel und Zweck und hielt für Kultur, was doch nur
Surrogat war. Aber das arme Seelchen, dem ſein altes Haus unter den
Keulenſchlägen des modernen Fortſchritts in Trümmer verſank, begann ſich
bald ſehr unbehaglich zu fühlen, da man ſeiner in dem neuen Kulturgebäude,
wo die modernen Maſchinen raſſelten und die Welt in raſchem Siegeslauf
wirtſchaftlich erobert wurde, nicht mehr zu bedürfen ſchien.
Doch dieſe Überwucherung des innerlichen Lebens durch äußere Formen
barg ihr eigenes Korrektiv in ſich. Dasſelbe Spiel, das ſich bei allen
Übergangszeiten beobachten läßt, wiederholt ſich auch heute: erſt entwickeln
ſich die Formen einer neuen Kultur und dann erobert der durch ſie un⸗
befriedigte Geiſt auch nach und nach den adäquaten Gehalt. So iſt's mit
unſerer Zeit der Technik. Als die techniſchen und Naturwiſſenſchaften mit
ſtolzem Siegerſchritt alle äußeren Lebensformen umſchufen, die Metaphyſik
zurücktrat und ein Diesſeitstaumel, dem die materielle Hebung und Fort⸗
entwicklung des Daſeins das höchſte Ideal ſchien, die weiteſten Kreiſe er-
griffen hatte, da trat der Naturalismus in der Literatur auf, jene Kunſt⸗
3. Proſaſchriften. 319
form, die der natürliche Ausdruck der materiellen Lebenshaltung war. Wie
der neuen Surrogatkultur die Formen zu ihrem Weſen wurden, ſo machte
auch der Naturalismus die Außerlichkeiten des Lebens zum Leben ſelber.
Wenn nur alle Zufälligkeiten, das ganze Drum und Dran der Daſeins⸗
moſaik, alle Gerüche, Farben und Greifbarkeiten des Milieus aufgezeichnet
und alle documents — es gibt kein paſſenderes Wort dafür — richtig
beobachtet waren, fo glaubte fo ein Naturaliſt ſchon ein ganzes Menſchen⸗
leben eingefangen zu haben — und hatte doch nur die Schale beſchrieben!
Es fehlte der Kern, die Seele, und ſo blieb dieſe ganze Zolaſche Technik
ein graues, farbloſes, erſchöpfendes, herbes Handwerk. Einen Dichter ver⸗
mochte es nicht zu locken, denn der ſieht das Einzelne im Weltganzen und
das Unſichtbare im Sichtbaren; dem iſt die äußere Form und Schönheit
nur das Widerſpiel des inneren Weſens.
Und fo entwickelte ſich gegen die ſeelenloſe Nüchternheit des Naturalis⸗
mus, Materialismus und Rationalismus der Gefühlsproteſt der Neuromantik
mit ihren extremen Ablegern, der Dekadenz, dem Symbolismus und Myſti⸗
zismus. Und dieſe Richtungen wurden ſtark als Anwälte des Gemüts und
der Seele gegen die nivellierenden Formen der heutigen Kultur, als Träger
tieferen ſeeliſchen Lebens, feinerer, differenzierterer Kultur gegenüber dem
in Außerlichkeiten aufgehenden Daſein einer materialiſtiſchen Zeit. Aber
darin ging auch dieſe neue Romantik wieder zu weit, daß ſie ſich in ein
Traumreich flüchtete und auch den Formen der neuen Kultur die Berech⸗
tigung abſprach, ſtatt ſie aus ſeeliſcher Durchdringung geiſtig neu zu er⸗
ſchaffen. Dadurch verlor ſie die Beziehung zum unmittelbaren Leben. Doch
hatte ſie die Sehnſucht nach einer Verinnerlichung unſerer Kultur, nach
einer Syntheſe zwiſchen den Bedürfniſſen unſerer Seele und den Formen
unſerer äußeren Kultur mächtig geweckt. Allerorten ſetzen ſeit einigen Jahren
Bewegungen und Richtungen ein, die dem großen Ziele der Vereinheitlichung
unſerer Geſamtkultur, der Ausſöhnung moderner Gemiits- und Seelenbedürf⸗
niſſe mit der entwicklungsgeſchichtlich gewordenen Außenkultur dienen. Auch
das Jahr 1908 bezeichnet wieder eine Etappe in dieſem großen Ringen um
die Gewinnung einer neuen, Innen- und Außenkultur zu einem harmoniſchen
Ganzen verſchmelzenden und zu einer höheren Einheit emporführenden Kultur.
Im einzelnen zeigt dieſer Ausſchnitt einer Übergangsepoche, wie ihn das
Berichtsjahr bezeichnet, ein weiteres Zurückdrängen des Naturalismus und
ſeiner Schule ſowie aller Romane, die bloßem Lebensgenuß ohne ethiſche
oder ſoziale Gedanken dienen. Selbſt in den Milieu-, Kultur- oder Um-
weltsromanen, die noch häufig recht naturaliſtiſche Allüren haben, wird
immer mehr das Hauptgewicht auf die Seelenſtruktur ſtatt wie früher auf
das äußere Gehaben verlegt. Der „Erdgeruch“ verfeinert und vertieft ſich.
Das Recht der Perſönlichkeit ſteht im Vordergrunde. Und dieſe Perſönlich⸗
keit iſt nicht mehr ein Produkt, ein Spielball der äußeren Verhältniſſe, wie
320 VI. Literatur.
zur Zeit der Maienblüte des Naturalismus, ſondern entwickelt ſich aus fid
ſelbſt heraus nach eigenen, urewigen Geſetzen. Die Beliebtheit des Ent⸗
wicklungsromans iſt auch heuer wieder gewachſen. Das iſt charakteriſtiſch.
Denn einer Zeit, der die Perſönlichkeit als das Höchſte gilt, muß es als
die ſchönſte Aufgabe der Kunſt erſcheinen, Perſönlichkeiten verſtehen und
genießen zu lehren. Das kann der Proſaepiker aber nur, wenn er hiſtoriſch
das Werden der Perſönlichkeit ſchildert. Alſo eben im Entwicklungsroman.
Und dieſes Überwiegen des Entwicklungsromans hat ganz natürlich zum
Schul- und Erziehungsroman hinübergeführt, der gewaltig in den Vorder⸗
grund getreten iſt. Das Kind iſt ja die werdende Perſönlichkeit, und um das
Recht der Kindesperſönlichkeit werden jetzt — im Zeitalter des Kindes —
Schlachten über Schlachten geſchlagen.
Auch die Tatſache, daß das religiöfe Moment in konfeſſionellen, religiöſen,
kirchlichen, polemiſchen und andern Romanen gegen frühere Jahre wieder
eine recht bemerkbare Zunahme erfahren hat, liegt in der bereits ffizzierten
allgemeinen Entwicklungslinie. Die Unbefriedigung mit einer bloß natür⸗
lichen Auffaſſung alles Weltgeſchehens und die unauslöſchliche Sehnſucht
des Menſchenherzens, das tiefe, tiefe Ewigkeit für ſein Glück verlangt, haben
zu dieſer ſtarken Anſchwellung des religiöſen Bedürfniſſes geführt.
Ein Reklamebuch, deſſen ſich die Mode bemächtigte und es im Nu zu
ſchwindelnder Auflagenziffer emportrieb, iſt diesmal nicht zu verzeichnen.
Und das iſt gut ſo; denn ſo ein „Schlager“ verdient ſelten ſein Glück und
ſchädigt nur meiſt die Abſatzhöhe anderer, beſſerer Werke. Dagegen war das
Jahr 1908 nicht arm an guten und intereſſanten Romanen, wenngleich die
Werke, die einen großen und geiſtig bedeutenden Vorwurf auch wahrhaft
bedeutend und ſtilſicher behandeln, recht dünn geſät ſind.
Von den Entwicklungsromanen zeigen beſonders einige Schul-
und Erziehungsromane ſtarke künſtleriſche und menſchliche Qualitäten. Da
iſt einmal Otto Ernſts Bildungsroman „Semper der Jüngling“ (Leipzig,
Staackmann), die Fortſetzung von „Asmus Sempers Jugendland“, der die
Volksſchuljahre und den Entwicklungsgang eines Volksſchullehrers bis zum
Eintritt ins Amt ſchildert. Der Verfaſſer, der ſelber einſt Elementarlehrer
war, hat wohl in der prächtigen Jünglingsgeſtalt ſeines Asmus Semper,
die er durch Leid und Freud', Irren und Wirren, Streben und Träumen,
Jugenddrang und Liebesſehnen zur Schwelle edler Mannheit führt, ſein
eigenes Werden und Reifen mit innerer Ergriffenheit geſtaltet. Aber auch
die ganz perſönliche Stellung, die Ernſt hier, wenn auch oft in oberflächlicher,
einſeitiger Weiſe, zu unzähligen Fragen der Erziehung, der Kunſt und des
Lebens einnimmt, trägt den Einſchlag des Selbſtbekenntniſſes. Ebenſo ſind
die zahlreichen Lehrergeſtalten des Buches mit ſtarkem Gefühl geſchaffen.
Dabei webt über dem ganzen Weltbild das kluge, humorvolle Lächeln eines
Mannes, der viel geſehen und zu verſtehen gelernt hat. — Ein gutes Buch
3. Proſaſchriften. 321
voller Lebensweisheit und voller Humor, voll der Freude am Kleinen und voll
liebenswürdigen Spotted, iſt auch W. Arminius’ „Stietz⸗Kandidat“ (Berlin,
Gebr. Paetel), welches das Probejahr eines künftigen Oberlehrers ſchildert.
Als ein Muſter von Lebensungewandtheit und naiver Einbildung tritt der
Mathematikus und Probekandidat Ernſt Malten ſein Probejahr an einem
Provinzgymnaſium an. Aber er hat wenigſtens den Drang zu lernen und
ſich weiterzubilden. Und ſo ſetzt denn die kleinſtädtiſche Welt, in die er
verſchlagen iſt, den Hobel an und hobelt den träumeriſchen, unſelbſtän⸗
digen Kandidaten mit allerlei ſchmerzlichen und drolligen Erfahrungen zu
einem Oberlehrer zurecht, der ein tüchtiger Mann wird und eine präch⸗
tige Lebensgefährtin gewinnt. Das Milieu iſt überraſchend getroffen, nur
manchmal vielleicht mit gar zu bizarrer Freude an Späßen und Drollig-
keiten geſehen. Die Oberlehrertypen ſind faſt alle mit lebensvoller Plaſtik
hingeſtellt und auch die übrigen Geſtalten des figurenreichen Romans nicht
übel gelungen. — Ein intereſſantes Erziehungsproblem behandelt Paul
Georg Münchs Roman „Der Weg ins Kinderland“ (Berlin, Janke).
Johannes Eichholtz und Friederike Kettnitz, zwei begnadete Jugendbildner,
hatten ihre ſtaatliche Stellung aufgegeben und an einem ſchönen Erdenfleck
eine neue Erziehungsanſtalt gegründet, wo fie in Freundestreue und
Kameradenarbeit Knaben und Mädchen in gemeinſamer Erziehung zu edeln
Vollmenſchen heranbilden wollten. Anfangs ſchien alles gut zu gehen; doch
ſchließlich erlahmte Friederikens Kraft, und das Weib in ihr verlangte nach
Eigenglück. Ihr Partner aber überſah in idealiſtiſcher Verblendung die
Forderungen des Lebens. Und ſo gab denn der große Schulmeiſter Leben
Friederike einen Schlag, davon ſie nicht mehr aufſtand, während Johannes
mit einer ſchlimmen Erfahrung davonkommt, um ſeine Erzieheraufgabe in
der Familie zu vollenden. Das Buch iſt mit allerlei pädagogiſchem Beiwerk
überladen und auch in der Charakterzeichnung nicht lebenswahr genug, aber
es iſt von reifem Verſtändnis für die Erziehungsarbeit erfüllt.
Ein weniger erfreuliches Stück Schulwelt zeigt uns Heinrich Keller
in ſeinem Roman „Unterlehrer Straub“ (Berlin, Fleiſchel u. Co.). Es iſt
aber nur deswegen ſo unerquicklich, weil eine ausgeſprochene Tendenz es
verzerrt. Das Buch richtet ſich gegen die katholiſche Kirche, in deren Feſſeln
die Wiener Volksſchule angeblich ſeufzt. Unterlehrer Straub äußert in der
Naturgeſchichtsſtunde, der Walfiſch habe einen engen Schlund. Die Kinder
ſchließen nun daraus in der Religionsſtunde, alſo habe er den Propheten
Jonas nicht verſchlucken können. Darob Intrigieren des fanatiſchen Re⸗
ligionslehrers P. Kloiber, disziplinariſche Verhöre und Ablehnung der end-
gültigen Beſtallung, trotzdem Straub ein Muſterlehrer und Muſterſohn iſt.
Nur iſt er in der Zeichnung Kellers, wie das fo bei Muſterknaben zu ge-
ſchehen pflegt, farblos und ſchematiſch hingeſtellt. Dafür haben aber ſeine
ultramontanen Widerſacher kaum mehr Lebensblut in ihren oe fie find
Jahrbuch der Zeit⸗ und Kulturgeſchichte. II.
322 VI. Literatur.
alle zu Heuchlern, Strebern oder rückgratloſen Kreaturen verzerrt. — Was
in Wien der Kampf gegen den Katholizismus und die Chriſtlichſozialen iſt,
erweiſt ſich in Sachſen als die Auflehnung gegen die Confessio Augustana.
Nur daß Walter Harlan ſeinen Roman „Die Sünde an den Kindern“
(ebd.) aus einem immerhin tieferen künſtleriſchen Empfinden herausgeboren
hat als Keller. Es iſt der Lebenslauf und Entwicklungsgang des Mathematik,
profeſſors Stoß am Meißener St Afragymnaſium, der uns in barocker,
phantaſtiſcher, räſonnierender, aber im ganzen doch ſtilſicherer Weiſe erzählt
wird. Stoß macht auch in ſeinem Unterrichte kein Hehl aus ſeiner pan⸗
theiſtiſchen Weltanſchauung und empfindet es als Sünde an den Kindern,
wenn man ſie noch auf das lutheriſche Bekenntnis hin konfirmiert. Auf die
Anzeige eines eifrigen Religionslehrers zieht er ſich nun eine Disziplinar⸗
unterſuchung zu, infolge deren er ſein Amt einbüßt. Im letzten, ganz in
pantheiſtiſche Phantaſtik eingemummten Teil friſtet Stoß einige Jahre als
Vortragsreiſender ein kärgliches Daſein, bis ihn eine etwas romanhafte
Erbſchaft aus allen Geldnöten reißt. Das tut nun gwar der religions.
politiſchen und Weltanſchauungslinie des Romans keinen Eintrag, beraubt
aber den Verfaſſer der Wirkung, die ein Martyrium für die Überzeugung
ſtets hervorruft. — Ein ſtarkes neues Talent tritt uns in dem Roman „Go“
von Martin Beradt (Berlin, Fiſcher) entgegen. In ſicherer realiſtiſcher
Linienführung, wobei nur anfangs der pretiöſe Stil etwas auffällt, wird
uns die Geſchichte einer Ehe zwiſchen einem ſinnlich robuſten Mann und
einer zarten, mimoſenhaft ſich in ihre Individualität abſchließenden Frau
erzählt. Aber bald gewinnt die Entwicklungslinie des Sohnes der beiden die
Oberhand. Die Pubertätszeit wird dem vom Vater erblich Belaſteten zum
Verhängnis. Mit Gebet und Furcht kämpft er gegen die erwachenden Triebe,
verfällt aber trotzdem in ein Jugendlaſter, in dem er ſich immer mehr fo ver-
ſtrickt, daß ihn Schmerz, Scham und Schuld dem Selbſtmorde zuführen.
Dieſes heikle Thema iſt mit treuer Beobachtung und nicht ohne Delikateſſe
in beachtenswerter Weiſe künſtleriſch verarbeitet. — Der Entwicklung meh⸗
rerer Kinderſeelen geht Guſtav Falke, der bekannte Lyriker, in ſeinem
Roman „Die Kinder aus Ohlſens Gang“ (Hamburg, Janſſen) nach. Die
kräftigen Umriſſe und herben Konturen fehlen dem Buche vollſtändig; der
Roman iſt weder bedeutend im Gehalt noch in der Durchführung, aber die
ſympathiſche Liebenswürdigkeit des Dichters umgoldet ihn von der erſten
bis zur letzten Seite. Wir werden in eine Reihe von Armeleutewohnungen
geführt, als die Kinder noch klein ſind. Langſam ſehen wir ſie neben⸗
einander wachſen und werden und ihre einfachen Geſchicke erfüllen. Und
der Dichter weiß uns dieſe Welt der kleinen Leute ſo anziehend und intereſſant
zu ſchildern, daß wir ſchließlich nur mit Bedauern von ihr ſcheiden. Und was
ich beſonders ſchätze: es geht ein Zug von werktätiger Nächſtenliebe, von
edlem altruiſtiſchem Tun von dem Buche aus. — Ein ganz anderer Hauch
8. Proſaſchriften. 323
weht uns aus Rudolf Huchs zwei Romanen „Die beiden Ritterhelm“
und „Die Familie Hellmann“ (München, Müller) entgegen. Das erſte Buch
verfolgt die Entwicklungslinie eines Patrizierjünglings unſerer Zeit und das
zweite die eines Beamtenſohnes, der wieder Beamter wird. Daneben laufen
noch verſchiedene andere Lebensgänge mit. Geſchaut iſt das alles mit großer
pſychologiſcher Eindringlichkeit und ohne jede Romantik. Das Menſchen⸗
ſchickſal ſieht Huch erwachſen aus den Forderungen und Bedürfniſſen der
eigenen Natur und dem Zwange der Umwelt und der Konvention. Die einen
überwinden den Zwieſpalt, die andern gehen an ihm zugrunde, die dritten
ſchleppen ihn als quälende Laſt mit durchs Leben. Und ſo werden die
beiden Romane, die ein ſcharfes, objektives Weltbild zu geben ſcheinen, faſt
unvermerkt zu geſellſchaftskritiſchen Werken, die ohne den Ton der Polemik
oder Klage gegen die innere Kulturloſigkeit unſerer an äußeren Formen ſo
reichen Zeit kämpfen. Der Verfaſſer, in deſſen Weltanſchauung das Chriften-
tum kein weſentliches Element bedeutet, glaubt augenſcheinlich an eine un⸗
endliche Perfektibilität der Menſchheit aus dem Menſchen heraus und aus
der Möglichkeit, die eigene Perſönlichkeit ihren Anlagen und Bedürfniſſen
gemäß ungehindert zu entwickeln. An künſtleriſcher Schwerkraft gehören
die beiden Romane zu den gewichtigſten des Jahres. — Noch mehr auf
das Seeliſche, das innere Schauen gerichtet iſt ein anderes, an poetiſchen
Werten reiches Entwicklungsbuch, Karl Hauptmanns „Einhart der
Lächler“ (Berlin, Marquardt u. Co.). Da folgen wir durch eine Fülle von
Stimmungen, bildhaften Szenen und Beobachtungen dem Lebensgang einer
paſſiv des Daſeins bunte Umwelt an ſich vorübergleiten laſſenden Künſtler⸗
ſeele. Auf ſeinem Lebenspfade überläßt ſich Einhart ganz einem dunkeln,
aber ſtarken Drange ſeiner Seele, der allem Fremden und Störenden den
Eingang in ſein Inneres wehrt. Daher kommt ſeine ſeeliſche Entwicklung
nicht recht vom Fleck; die Stürme des Lebens verbrauſen an ihm, ohne
ihn zu rechter Reaktion, zu tatkräftigem Handeln herauszufordern. Der
Roman hat ermüdende Längen und leidet auch daran, daß der Verfaſſer
die Fülle ſeiner Bilder und Geſichte, die ſich gegenſeitig jagen und um
ihre Wirkung bringen, nicht künſtleriſch bändigen kann. Es fehlt ihm an
Formungskraft im großen und kleinen. Durch dieſen Mangel an aktiver
Schöpferkraft, an Plaſtik, ſehen wir die äußeren Umriſſe der Geſtalten
nur gedämpft, nur wie durch einen Schleier. Das gibt dem Zweibänder
etwas Wirklichkeitsfremdes, wenn wir auch fühlen, daß das Fertigwerden
mit dem Leben, wie es hier erſcheint, aus dem tiefſten Erleben des Dichters
hervorgewachſen iſt. — Die Entwicklung eines proteſtantiſchen Pfarrers,
der in der Abgeſchloſſenheit ſeines ſchwierigen bäuriſchen Wirkungskreiſes
ſich aus Schwäche ſittlich vergeht und mit böſem Gewiſſen den Frommen
ſpielen muß, ſchildert Otto Frommel in ſeinem feſt in ſchwäbiſcher
Eigenart verankerten Roman „Theobald Hüglin“ (Berlin, Gebr. Paetel).
21“
324 VI. Literatur.
In der Darftellung der Seelenkämpfe ſeines Helden beweiſt der Verfaſſer
hohe dichteriſche Kraft. — Etwas unglücklich iſt Jakob Waſſermann in
der Stoffwahl ſeines neuen Romans „Caspar Hauſer oder die Trägheit
des Herzens“ (Stuttgart, Deutſche Verlags⸗Anſtalt) geweſen. Denn um der
ſeeliſchen Entwicklung Caspars pſychologiſches Intereſſe abzugewinnen, mußte
der Dichter die Legende von der fürſtlichen Herkunft des unſeligen Find⸗
lings als Tatſache gelten laſſen und den hiſtoriſchen Perſönlichkeiten aus
Hauſers Erdenwallen allerlei poetiſche Gewalt antun. Aber ſelbſt an dieſem
ſpröden Stoffe kann man noch Waſſermanns Kunſt der Seelendarſtellung
ſtudieren. — Die Entwicklungslinie ſeines eigenen Lebens hat wohl Det-
lev v. Liliencron in ſeinem biographiſchen Roman „Leben und Lüge“
(Berlin, Schuſter u. Löffler) zu ziehen verſucht. Er hat aber keinen rechten
proſaepiſchen Stil dafür gefunden; manches iſt mehr chroniſtiſch berichtet
als erzähleriſch dargeſtellt. Dazu bricht in den eingeſtreuten Kriegsepiſoden,
den Auslaſſungen über Welt und Kunſt, dem Zurücktreten des Helden, dem
großen Sprung über die wichtigſten Jahre hinweg, in der oft an Gedichte
in Proſa erinnernden Sprache immer wieder der Lyriker durch. Die Welt⸗
anſchauung des Dichters, ſoweit ſie ausgeſprochen wird, verrät entſchiedenen
Peſſimismus, der aber durch die idealiſtiſche Menſchendarſtellung des Ro⸗
mans wieder gemildert wird. Charakteriſtiſch ijt, daß der intereſſante, wenn
auch künſtleriſch bedenkliche Roman des gefeierten Lyrikers etwa ſiebzig Beit-
ſchriften zum Abdruck angeboten — und ebenſo oft abgelehnt wurde.
Neben dem Entwicklungsroman iſt die Heimatkunſt in der letzten
Zeit kaum etwas zurückgetreten. Sie hat uns im Jahre 1908 wieder mit
einer ſtattlichen Anzahl von Neuerſcheinungen beſchenkt und überdies ihren
Einfluß dahin geltend gemacht, daß man der lokalen Orientierung und der
volklichen, landſchaftlichen und bodenſtändigen Charakteriſierung im Roman
überhaupt vermehrte Sorgfalt zuwendet. — So nimmt Otto Hauſer in
ſeinem neuen Roman „Die Familie Geßner“ (Stuttgart, Bonz u. Co.) die
Verhältniſſe des Deutſchtums in den ungariſchen Grenzlanden zum Vorwurf.
Er läßt das Haupt der Familie, einen Repräſentanten deutſcher Redlichkeit
in Handel und Wandel, aus Sachſen nach Ungarn verziehen, um ſeinen
Sohn durch die geſunde Beſchäftigung auf dem gekauften Gute der Trunk⸗
ſucht, dem alten Familienübel der Geßner, zu entreißen. Aber der ſchwache
Jüngling unterliegt doch den Konflikten ſeiner Leidenſchaften, und den
betagten Eltern bleibt nach dem Verluſte auch ihrer andern Kinder nur
noch ein uneheliches Enkelchen übrig. Und in der Sorge um dieſes finden
fie ſich wieder ſeeliſch zuſammen. Die ungariſche Umwelt ſcheint gut ge-
troffen, nur iſt die Charakteriſierung etwas ſteif und ſtiliſiert. Man hat
den Eindruck, einen zwar gut komponierten Roman vor ſich zu haben, dem
aber der friſche Hauch wirklichen Lebens abgeht. — Die „Sonne des
Südens“ leuchtet wirklich über den ſo betitelten Novellen von Marie
8. Proſaſchriften. 325
Amelie v. Godin (Köln, Bachem). Der friſche Hauch und die Stürme
der Adria und der blaue ſüdliche Himmel vom öſterreichiſchen Küſtenland
bis hinüber zum Goldenen Horn ſpiegeln ſich wider in dieſem Buche, das
allerlei Konflikte nicht ohne pſychologiſche Eindringlichkeit und innere An⸗
teilnahme behandelt. Die Technik bedarf noch der Übung und Reife.
Ein lebhaftes religiöſes Empfinden gibt der Sammlung eine eigene
Wärme. — Auch ein anderer hat die Sonne des Südens, den Zauber
italieniſchen Landes einfangen wollen, einer, der bis jetzt in den düſtern
Mooren des Nordens und im Waldeszauber deutſcher Mittelgebirge heimiſch
war. Aber es war ein Fehlgriff. Das italieniſche Milieu von Max
Geißlers neueſtem Roman „Das ſechſte Gebot“ (Leipzig, Staackmann)
berührt künſtlich und äußerlich, und die beiden in dieſen Rahmen hinein ⸗
geſtellten Eheirrungen ſind nicht viel beſſer als Schablonengeſchichten. Daß
die moraliſchen Übeltäter wenigſtens ihre Strafe abbekommen und der Roman
gewandt heruntererzählt iſt, fet übrigens gerne bemerkt. — Ein viel ⸗
verſprechendes, nur leider noch nicht ausgereiftes Talent iſt in Rudolf
Hans Bartſch erſtanden, der in ſeinem friſch in des Lebens Reichtum
greifenden, aber weitſchweifigen und unklar komponierten Roman „Zwölf
aus der Steiermark“ (ebd.) Graz und ſein ſinnenfrohes Treiben wider⸗
fpiegelt. — Arthur Schnitzlers Wiener Geſellſchaftsroman „Der Weg
ins Freie“ (Berlin, Fiſcher) entrollt um eine Liebesgeſchichte zwiſchen einem
farbloſen Lebensdilettanten und einem ſelbſtlos liebenden Mädchen ein ganzes
Panorama der Wiener Judenfrage. Das ſtark erotiſch akzentuierte Buch
wirkt in ſeiner ſkeptiſchen, mehr kritiſchen als ſchöpferiſchen, feuilletoniſtiſchen
Art im Grunde unkünſtleriſch. — Roſegger ift mit einem Band „Alpen⸗
ſommer“ (Leipzig, Staackmann) auf dem Plan erſchienen, in dem in kleinen
Schilderungen und Geſchichten aus Tirol und Steiermark anheimelnde, wenn
auch etwas trockene Naturpoeſie geboten wird. Friſch, echt und natur-
wüchfig wie immer erzählt Hans Schrott⸗Fiechtl (Graz, Styria) auch
in ſeinem neuen Bändchen „Zwiſchen Joch und Ach'n“ von ſeiner Tiroler
Land und Art. Einfach, ſchlicht, volkstümlich, aber ergreifend ſchildert
M. Buol in ihrer Erzählung „Die Gamswirtin“ (Graz, Oehninger)
nach hiſtoriſchen Aufzeichnungen die leidbeſchwerte Geſchichte einer Wirts⸗
familie aus der großen Zeit Tirols vor 100 Jahren. Ganz in der Tiroler
Wald- und Bergwelt verläuft auch die Entwicklung und das tragiſche
Schickſal des Helden von Hans v. Hoffensthals „Buch vom Jäger
Mart“ (Berlin, Fleiſchel u. Co.). Mit ſtarker, aber unaufdringlicher Kunſt
weiß der Verfaſſer dabei für das Milieu wie für das Werden Marts zu
intereſſieren. Auf die Nonnen und ihre Erziehungsarbeit erſtreckt ſich freilich
ſeine Liebe für alles Heimatliche nicht mehr. Nach Südtirol verſetzt
R. Bre denbrückers Erzählung „Die tote Kohle“ (Stuttgart, Bonz u. Co.),
die des volksfremden Verfaſſers Einleben in ſüdtiroliſche Art beweiſt. Aber
326 VI. Literatur.
Tirol hat auch ſeinen Humoriſten und gelegentlich derb zugreifenden poli⸗
tiſchen Satiriker: Rudolf Greinz. Aus den Schwächen feiner Lands⸗
leute hat er heuer eine Sammlung ſaftiger, friſch erzählter und humorvoller
Geſchichten gezogen und unter dem Titel „Aus'm heiligen Landl“ (Leipzig,
Staackmann) veröffentlicht. Dieſe ſcharf umriſſenen Volksporträts ſind für
die Beurteilung von Land und Leuten ebenſo wertvoll, wie ſie an des Leſers
Zwerchfell rühren. — München, die Stadt der Kunſt, aber nicht minder
des Bieres, hat nun auch ihren Bierroman erhalten. Es iſt Conte Sca-
pinellis „Otterbräu“ (Berlin, Verlag Continent). Der gute, altmodiſche
Otterer weigert ſich, helles Bier zu brauen und ſeine Tochter einem Maler⸗
jüngling zu geben. Aber alles wird ſchließlich noch gut, und der alte
Otterbräubeſitzer muß ſogar noch zum „Hellen“ übergehen, nachdem er
allerlei ſchlechte Erfahrungen gemacht hat. Das behäbige Münchener Bier-
milieu hat in Scapinelli einen kundigen Schilderer gefunden.
Einen Landſchafts⸗ und Kulturroman größeren Stils hat wieder Clara
Viebig in ihrem neuen Werk „Das Kreuz im Venn“ (Berlin, Fleiſchel u. Co.)
geſchaffen. Die verbindende Einheit des Buches iſt das Venn, das die
Verfaſſerin kennt mit allem Reiz ſeiner herben Eigenart, ſeinem vielen An⸗
ziehenden und Abſtoßenden. Die einzelnen Erzählungen und Bilder dienen
nur dazu, das Venn und ſeine Leute von allen Seiten zu zeigen. Gelungen
find von dieſen Geſellſchaftsſkizzen freilich nur wenige. Am beſten iſt vielleicht
der kulturelle Gegenſatz zwiſchen den fortſchrittlichen Beamten der Kreisſtadt
und den ſtockkonſervativen Vennbauern herausgearbeitet, die lieber eine neue
Kirche bauen, als das Geld für eine Waſſerleitung hergeben. Die Religioſität
dieſer Bauern erſcheint der Verfaſſerin zwar als kulturelle Gebundenheit,
aber ſie ſtrebt nach Objektivität und findet, daß die freiſinnigen Stadtherren
ebenfalls im Banne ihrer Leidenſchaften, politiſchen Anſchauungen oder
Standesvorurteile find. Sonſt freilich iſt die religidfe Seite des Venn⸗
problems von der Verfaſſerin oberflächlich behandelt. Die Bäreb zum Bei⸗
ſpiel, die nach Echternach wallfahrtet, iſt eine durchaus unwahrſcheinliche
Geſtalt, wenn auch die Springprozeſſion ſelbſt mit großer Bildkraft dar⸗
geſtellt iſt. Das Erotiſche und Senſationelle ſpielt wieder — wie in den
meiſten Werken der Viebig — eine viel zu große Rolle. Als Landſchafts⸗
ſchilderung und mit ſeiner kraftvoll plaſtiſchen Herausarbeitung zahlreicher
Details iſt der Roman eine bedeutſame Leiſtung.
Auch Nanny Lambrechts „Statuendame“ (Minden, Bruns) iſt aus
ſtarker, aber noch arg gärender Kraft herausgeboren. Der Roman bietet
die Geſchichte des walloniſchen Völkchens in einer Eifelecke und legt ſeine
Entwicklung in wirtſchaftlicher, nationaler und politiſcher Hinſicht während
der letzten Dezennien bloß. Die verbindende Einheit bildet dazu die Geſchichte
einer Ehe: Die kinderloſe, ſehr religiöſe Frau glaubt ſich in frommer
Sprödigkeit ihrem Manne weigern zu müſſen und treibt ihn ſo in die
3. Proſaſchriften. 327
Arme einer belgiſchen Lebedame. Zwar ſcheint es eine Weile, als ob ſie
ihn wieder für ſich zurückgewinne, indem ſie ihn für die Sache ihres Volkes
begeiſtert, aber der Genußmenſch und Sanguiniker behält doch das Über-
gewicht in ihm, und er geht an der Kälte ſeiner ſtatuenſtiftenden und
ſtatuenhaften Frau und an der Haltloſigkeit ſeines Innern zu Grunde.
Die Kraft, die ſich in dieſem Romane ausgelebt hat, iſt künſtleriſch nicht
genug gebändigt. Mit freiem Blick und offenen Maleraugen ſchaut die
Dichterin in die Welt, läßt ſich aber von der Glut und Stärke ihrer Ge⸗
ſichte und Eindrücke zu einem überquellenden Impreſſionismus und einer
zwar bildhaften, aber ſtark manierierten Sprache hinreißen. Dieſen Über-
ſchuß an künſtleriſcher Energie hat wohl auch den Roman ſo überladen.
Man hat den Eindruck, als ob die Verfaſſerin alles in ſeinen Rahmen habe
preſſen wollen, was ſie als Frucht von Leſeerinnerungen und Gedanken zu
ſagen hatte. Namentlich fallen unorganiſch wirkende frauenrechtleriſche Er-
örterungen auf. — In einem andern Roman, „Das Land der Nacht“ (Kevelaer,
Thum), führt uns die gleiche Verfaſſerin in das Kohlengebiet der belgiſchen
Wallonie. Auch hier treffen wir wieder auf die Kraft und Plaſtik des
Schauens, die ſcharfe Beobachtung, die ſchon an der „Statuendame“ auffiel.
Nur wird hier die Ermordung eines Arbeitswilligen und die zermürbende
Selbftqual des Mörders mit ſtärkerer Konzentration und daher noch größerer
Wucht geſchildert. Es fehlen aber auch der überhitzte Impreſſionismus, die
verſtümmelten Sätze und die manierierte Wortbildnerei nicht. — Schließlich
geſtattet ein neues Sammelwerk, „Allſünderdorf“ (Eſſen, Fredebeul u. Koenen),
die ſtarke und ungewöhnliche Eigenart Nanny Lambrechts noch an einer
Reihe von kleineren Vorwürfen zu ſtudieren. Hier zeigt ſich erſt recht ihre
Eigenart: im äſthetiſch oder moraliſch Häßlichen ſieht ſie vor allem das
Charakteriſtiſche, das ſie zur Darſtellung reizt. In oft brutaler Derbheit
und Realiſtik erſcheint hier das Leben, und keine Stiliſierung glättet das
Aufregende von den Begebenheiten hinweg.
Aus friſcher Urſprünglichkeit herausgewachſen, realiſtiſch und von
poetiſchem Schimmer umwoben, humorvoll und ernſt zugleich muten die
Bilder und Szenen an, die Herm. Hoppe in der Erzählung aus dem
Rieſengebirge „Gundermann“ (Jauer, Hellmann) zuſammengefaßt hat. Ob.
wohl das Landſchaftliche durchaus vorwiegt und der epiſche Faden nur
ſehr loſe geknüpft iſt, gewinnt doch auch der Held, ein amüſantes Original,
unſer Intereſſe. — Tief hat L. Rafael in Herz und Seele ihrer Land⸗
leute geſchaut. Kompoſition und Fabel der ſechs Geſchichten in ihrem
„Spökenkieker“ (Eſſen, Fredebeul u. Koenen) ſind zwar nicht immer glücklich,
aber die knorrige, herbe, tiefe Art der weſtfäliſchen Bauern kommt in der
Mehrzahl der Geſtalten doch zu packendem, echtem Ausdruck. — Freilich, ſo
rückſichtslos und vollſtändig hat kaum ſchon ein anderer die bäuerliche
Pſyche bloßgelegt wie Hans Raithel, ein bis jetzt unbekannter Autor,
328 VI. Literatur.
in der Dorfgeſchichte aus dem Bayreuther Land „Annamaig“ (Leipzig,
Amelang). Der in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts ſpielende
Roman lieſt ſich zwar etwas ſchwer und ſchleppend, auch iſt die Fabel
durchaus nicht beſonders originell; aber das Eindringen in das hinter allem
Außerlichen liegende Weſen der Bauern iſt bewundernswert. — In Thü⸗
ringens Waldespracht kommen wir mit dem Roman „Hochwald“ (Berlin,
Trowitzſch) von Frida Schanz. Wie ein Mädchen über Herzeleid durch
die Einwirkung der freien Natur und teilnehmender Liebe von falſcher zu
echter Kunſtauffaſſung gelangt, iſt hier ſtimmungsvoll, wenn auch nicht tief,
erzählt. — Heimatkünſtleriſch betont iſt auch wieder die neue Novellen⸗
ſammlung „Buch der guten Leute“ (Hamburg, Janſſen) des feinſinnigen,
das Leben ruhig und zurückhaltend beobachtenden Timm Kröger. — Einen
ſchweizeriſchen Heimatroman hat Viktor Frey in ſeinem „Schweizerdorf“
(Stuttgart, Deutſche Verlags ⸗Anſtalt) zu ſchreiben verſucht. Er zeichnet ein
breit ausgeſponnenes, mit ſichtlicher Hingebung ausgeführtes Bild einer
Schweizer Gemeinde, der Kräfte und Tendenzen, die ſich darin geltend
machen, vor allem des Kampfes gegen einen engherzigen Prieſter und deſſen
Erſetzung durch einen freiſinnigen. Trotz alles Willens zur Objektivität iſt
dabei wohl die Linie der Lebenswahrheit gelegentlich überſchritten worden.
Auch die Kompoſition zeigt verſchiedentliche Mängel. — Mit richtigen
Dichteraugen ſieht ein anderer Heimatpoet, der junge Schwabe Wilh.
Schuſſen, in ſeiner Heimatgeſchichte „Meine Steinauer“ (ebd.) das Leben
und Treiben einer kleinen oberſchwäbiſchen Stadt, in das er eine harmloſe
Liebesgeſchichte verwebt. — Faſt noch mehr iſt Herm. Heſſes Novellen
band „Nachbarn“ (Berlin, Fiſcher) von der Eigenart ſchwäbiſchen Stammes⸗
tums durchhaucht. Der liebenswürdige Erzähler hat eine Reihe paralleler
Lebensläufe aus dem ſchwäbiſchen Städtchen Germersau eingefangen und
iſt ihnen mit jener inneren Anteilnahme und jenem feinen dichteriſchen Vere
ſtändnis für ihre ſchlichte Art nachgegangen, daß er ſie uns menſchlich
vollkommen nahe bringt. Einzelne tote Stellen zeigen freilich, daß auch
dieſer Meiſter im künſtleriſchen Erfaſſen eines nicht zu komplizierten Welt⸗
bildes in der Selbſtzucht nie nachlaſſen darf. — Einer ins Komiſche nuancierten
Art von Heimatkunſt iſt Anna Eroifjant-Rufts „Winkelquartett“
(München, Müller) zuzurechnen. An der Hand einer unbedeutenden und an
Unwahrſcheinlichkeiten leidenden Handlung zeichnet die Verfaſſerin mit einem
Stich ins Burſchikoſe und Frivole allerlei in ihrer Kleinlichkeit lächerliche
Triebe, Anſchauungen und Menſchen einer pfälziſchen Kleinſtadt.
Zu den landſchaftlich orientierten Romanen gehören auch die Kolonial-
geſchichten, die ſeit einigen Jahren eine neue Note in unſer Schrifttum ge⸗
bracht haben. Der in Kamerun ſpielende Roman „Das Duallamädchen“
(Leipzig, Müller- Mann) von Jesco v. Puttkamer ſchneidet allerlei
Kolonialprobleme an, iſt aber in der Zeichnung ſeiner Figuren wie in der
=
3. Proſaſchriften. 329
Darſtellung feiner ſchwarz⸗weißen Liebesgeſchichte zu konventionell, um eine
tiefere Wirkung auszulöſen. Der Roman iſt ſchwerlich bodenſtändig. Ein
anderer Kolonialroman, „Heim Neuland“ von Friede H. Kraze (Stutt⸗
gart, Deutſche Verlags⸗Anſtalt), führt uns nach Südweſtafrika, das einem
jungen frieſiſchen Paar zur neuen Heimat wird. Allerlei Kämpfe und Ge⸗
fahren, wie ſie da unten die letzten Jahre mit ſich brachten, ſind ſpannend
und mit innerer Anteilnahme erzählt.
Die Meiſter des Zeitſchriftenromans behandeln mit Vorliebe
Herzenskonflikte. Denn das iſt nun einmal das Thema, welches die Mehr⸗
zahl der Abonnenten, die ja in der Regel weiblichen Geſchlechts iſt, am
ſtärkſten intereſſiert und die meiſten Variationen zuläßt. Dieſe Art der
Romanfabrikation verfällt leicht der Konvention, den Theaterrequiſiten und
Schablonengefühlen und bedeutet für den Fortſchritt des Schrifttums und
die Entwicklung der im geiſtigen Leben der Nation tätigen Kräfte nur wenig.
Freilich gilt das im großen und ganzen nur von den Autoren der eigent-
lichen Familienzeitſchriften und Tagesblätter. Dagegen trägt ein engerer
Kreis vornehmer und hochſtehender Revuen, in denen ſo recht die Geiſtes⸗
ariftofratie zu Worte kommt, viel zur Aufwärtsentwicklung der Literatur
und zur Geſchmacksbildung des beſſeren Publikums bei. Es wären da be⸗
ſonders „Die Neue Rundſchau“, in der vor allem die neueſten Tendenzen
im Schrifttum zum Ausdruck gelangen, die „Deutſche Rundſchau“, in der
namentlich auch die beſſeren Vertreter älterer Richtungen zu Wort kommen,
das katholiſche „Hochland“, das Talente wie Handel⸗Mazzetti und Lambrecht
lancierte, der proteſtantiſche „Türmer“, die „Süddeutſchen Monatshefte“,
„Nord und Süd“ und die „Grenzboten“ zu nennen. Aber die bedeutendſten
Vertreter des eigentlichen Feuilletonromans ſind die beſten Techniker unter
den Romanſchreibern und verfügen oft über eine Virtuoſität, die man den
eigentlichen Schöpfern der Literatur wünſchen möchte. Für ein Familienblatt
ſchreiben und dennoch wahre Künſtler bleiben, das können nicht viele. Von
den Zeitſchriftenautoren liegen deshalb nicht allzu viele vollwertige Romane
vor. Einer der beſten von ihnen iſt Georg Frhr v. Omptedas Ehebruchs⸗
roman „Minne“ (Berlin, Fleiſchel u. Co.), der für den Verfaſſer von
„Deutſcher Adel um 1900“ wieder einen Schritt vorwärts bedeutet. Mit
entſchiedenem Ernſt iſt das Thema angepackt. In aller Stofflichkeit ſchil⸗
dert der Verfaſſer den Verlauf der Affäre, der die beiden Schuldigen
nach einem immanenten Sittengeſetze der Strafe zuführt, ihn dem Tode
und ſie dem allmählichen Verſinken in jene Regionen, von denen man
in anſtändiger Geſellſchaft nicht einmal ſpricht. Dabei iſt die Geſchichte
ſpannend und in raſchem Fluſſe heruntererzählt. Unorganiſches Beiwerk
iſt vermieden und kaum ſtört der eine oder andere künſtliche Zug; der
pſychologiſchen Vertiefung der auftretenden Perſonen iſt ſtarke Aufmerkſam⸗
keit gewidmet.
330 VI. Literatur.
Mit verblüffender Virtuoſität hat Rudolf Straß feinen Roman „Herz
blut“ (Stuttgart, Cotta Nachf.) inſtrumentiert. Der Roman iſt flott, ge
ſchickt, packend erzählt, aber er iſt doch um eine Nuance zu „romanhaft“,
zu wenig ſeeliſch vertieft, als daß er einen tieferen künſtleriſchen Eindruck
hinterlaſſen könnte. — Auch Herm. Sudermann hat in ſeinem neueſten
Roman „Das Hohe Lied“ (ebd.) die auf ihn geſetzten Erwartungen enttäuſcht.
Die Schickſale eines ſchönen, ſchwachen jungen Weibes, das auf dem Markte
des Lebens von Hand zu Hand und von Erniedrigung zu Erniedrigung
wandert, bis es endlich im bürgerlichen Alltagsleben ſtrandet, ſind zwar
mit realiſtiſcher Beobachtung und einer grobe Kompoſitionsfehler geſchickt
vermeidenden, auf Publikumserfolg friſch drauflosarbeitenden Technik ge-
ſchildert; trotzdem berührt das Ganze konſtruiert und unwahr. Dabei iſt das
Weltbild, das in dem Roman vor uns erſteht, von erſchreckender Troftlofig-
keit, die von keiner erhebenden ſittlichen oder religiöſen Idee gemildert wird.
Gute Beobachtung und forſche Technik zeichnen Felix Holländers
Roman „Charlotte Adutti“ (Berlin, Wedekind u. Co.), eine Ehebruchs⸗
geſchichte mit tragiſchem Ausgang, und ſeine Novellenſammlung „Die Witwe“
(Berlin, Fiſcher) aus. Hoffentlich verläßt dieſer begabte Schriftſteller die
Linie kunſthandwerklicher Unterhaltungslektüre wieder und wendet ſich
tieferer Kunſtbetätigung zu. — Adolf Wilbrandts, des Unermüblichen,
Roman „Am Strom der Zeit“ (Stuttgart, Cotta Nachf.) gebricht es fo-
wohl an klarer Geſtaltungskraft wie an befriedigender Kompoſition und
tieferer Pſychologiſierung. Dafür entſchädigt der Siebzigjährige durch ein
gewiſſes jugendliches Feuer. Der leitende Gedanke, daß die großen Wellen
der Sehnſüchte einer Zeit in weite Zukunft hinüberfluten, daß aber der
auf dem Strome der Zeit ſchwimmende Schaum raſchem Verrauſchen ge⸗
weiht iſt, in concreto: daß die ſchäumenden Theorien von der überwundenen
Ehe und freien Liebe nicht ſtandhalten, daß aber die Frauenbewegung eine
neue, freiere, edlere Entwicklung der weiblichen Pſyche angebahnt hat, iſt
ohne künſtleriſchen Ernſt, ja geradezu oberflächlich durchgeführt. — Das
Produkt einer raffinierten, durch eine lange Ziviliſation überfeinerten Kunſt
iſt E. v. Keyſerlings Roman „Dumala“ (Berlin, Fiſcher). Das
Pſychologiſche wie das Landſchaftliche an dieſer nordiſchen Ehebruchsgeſchichte
hat intenſive Verſenkung und weltmänniſche Überlegung zu einem wohl⸗
abgeſtimmten, ſtilſichern Kabinettſtück herausgearbeitet, dem es aber an fitt-
licher Tiefe und natürlicher Einfachheit gebricht. — Ottomar Enkings
großen Roman „Wie Truges ſeine Mutter ſuchte“ (Berlin, Schuſter u.
Loeffler) kann man im großen und ganzen wieder als gute, gediegene Arbeit
bezeichnen. Er berichtet die Lebensgeſchichte des armen Truges, der ohne
Mutterliebe aufwächſt, und als er die Heißgeſuchte endlich in ihrer Ver-
kommenheit findet, fie erſt recht verliert. Desſelben Verfaſſers Kleinſtadt⸗
idyll „Das Sofa auf Nummer 6“ (München, Müller) iſt gleichfalls flott
3. Proſaſchriften. 331
geſchrieben, aber eine feineres Empfinden verſtimmende, moraliſch bedenkliche
und wenig geiſtreiche Burleske. — Paul Heyſe bietet in „Menſchen
und Schickſale“ (Stuttgart, Cotta Nachf.) einen Band Charakterbilder.
Seine glänzende Technik feiert auch jetzt noch Triumphe. Aber man ver⸗
mißt die goldenen Apfel in den ſilbernen Schalen. Wir Spätergeborenen
verlangen vom Kunſtwerk namentlich ſeeliſche Wärme, wenn ſie uns auch
mit weniger Kunſt und mehr Lyrismus geboten wird. Dieſen Tropfen
Herzblut der inneren Anteilnahme, mit dem jeder echte Künſtler das Schickſal
ſeines Helden geſtaltet, finden wir in M. Herberts Roman „Aus unſern
Tagen“ (Köln, Bachem), der das alte Problem der „Frau mit Vergangenheit
glücklich variiert. Das Bekanntwerden des jugendlichen Fehltritts der Heldin
führt zwar erſt zur Trennung der Liebenden, aber auch zur ſeeliſchen Läu⸗
terung und dann zu vollem Sichfinden. Dieſe Fabel iſt in ein intereſſantes
modernes Milieu hineingeſtellt, geſchickt behandelt und in das prunkende,
etwas feierliche Gewand von M. Herberts Sprache gekleidet. Höher aber
ſchätze ich noch M. Herberts neuen Band „Volksgeſchichten“ (Regensburg,
Habbel). Es ſind die Armen, die Elenden, die ſchwer an des Lebens Bürde
Tragenden, ja die Verbrecher, die der Verfaſſerin Intereſſe erregen und
denen ihre künſtleriſche wie menſchliche Liebe gilt; fie dringt in die ver-
fallenden Gäßchen an der Schifferlände Alt⸗Regensburgs und kehrt in den
Hütten der Armut in den umgebenden Dörfern der Oberpfalz ein. Und
mit hoher Schaukraft begabt, weiß ſie dieſe Leute und ihr Milieu in
kurzen Strichen lebendig vor uns hinzuſtellen. Aber ihr Realismus, ſo
lebenswahr er iſt, wagt nie das Außerſte; er iſt immer etwas ſtiliſiert,
ſo daß es wie ein Schleier von Poeſie über allem Elend liegt. In
einem weiteren neuen Bändchen, „Lebens⸗Ausſchnitte“ (Graz, Styria), find
es faſt nur Seelenkonflikte, die Herbert zu knapper, oft ergreifender Dar-
ſtellung bringt. Die Umwelt tritt in dieſen Skizzen ganz zurück, ſie iſt
nur Staffage, um die Idee recht hervortreten zu laſſen. Auch die
Darſtellung muß öfters klugem Räſonnement weichen. — Neben dieſer
feinen und geiſtreichen Lebensbeobachterin kann ſich Gräfin L. Saracini⸗
Belfort mit ihrem Novellenbuch „Wenn es licht wird“ (Wien, Konegen)
immerhin ſehen laſſen. Sie weiß ſogar allerlei nicht alltägliche Konflikte
techniſch geſchickt zu verarbeiten. Es fehlt nur noch an der ſeeliſchen
Vertiefung; ihren Geſtalten kommt man innerlich nicht recht nahe. —
Unprätentiöbs und etwas in der guten alten romantiſierenden Manier
gehalten ſind R. Fabri de Fabris' Erzählungen „Von ſtillen Leuten“
(Ravensburg, Alber), denen noch anſprechende Märchen beigegeben ſind. —
Ahnlich wie die Erzählungen der beiden eben genannten katholiſchen Schrift.
ſtellerinnen iſt auch der Novellenband „Ekenhof und anderes“ von Frida
Schanz (Leipzig, Grethlein u. Co.) aus chriſtlichem Empfinden heraus⸗
gewachſen. Fehlt ihr auch die geiſtige Tiefe und eindringliche Pſychologie
332 VI. Literatur.
einer Herbert, jo entſchädigt fie doch durch gemütvolle, echt weiblich ⸗ſenti⸗
mentale Darſtellung einfacher, meiſt tragiſcher Menſchenſchickſale, denen auch
der Einſchlag einer verklärenden Romantik nicht abgeht.
Lediglich geſellſchaftskritiſche Probleme und Zeitfragen behandeln
nur wenige Romane und noch weniger gute Romane. So leidet Max
Burckhards „Die Inſel der Seligen“ (Berlin, Fiſcher) daran, daß es
in der Stimmung und im Stil im Laufe der Erzählung total umſchlägt.
Anfangs etwas wie ein Kriminalroman, wird die Geſchichte im urſprüng⸗
lichen Stil bis zu dem Augenblick geführt, wo ein unſchuldig Verurteilter
unter dem Galgen ſteht. Dann kommt eine plötzliche Wendung, und der
Roman verliert ſich ins Launiſch⸗Utopiſche. Die Wirkung, die er hinter⸗
läßt, iſt weder für ſeine künſtleriſche Bewertung noch für ſeine gegen die
Todesſtrafe gerichtete Tendenz günſtig. — Einen peinlichen Gegenſtand hat
Helene Böhlau in ihrem künſtleriſch umkleideten Tendenzroman „Das
Tränenhaus“ (ebd.) behandelt. Sie ſchildert nämlich die Schlußkapitel von
Mädchenſchickſalen, die in der Schande eheloſer Mutterſchaft endigen. Der
handlungsarme Roman iſt nur als Milieufchilderung bemerkenswert. —
Die Erkenntnis, daß alles Weltgeſchehen nach ewigen, unabänderlichen Ge⸗
ſetzen vor ſich geht und daß aller ſich dagegenſtemmende Menſchenwille daran
zu ſchanden wird, will Walther Zierſch in ſeinem Buch „Zwei Brüder“
(München, Piper u. Co.) an einem konkreten Beiſpiel beweiſen. Der weich
und lyriſch veranlagte Fritz übernimmt, trotzdem er nach ſeinem beſondern
Perſönlichkeitswert dieſer Aufgabe nicht gewachſen iſt, nach dem Willen des
Vaters deſſen Geſchäft, verliert aber durch den Gang der Ereigniſſe Fabrik
und Braut an den harten und energiſchen jüngeren Sproß und ſchießt ſich
eine Kugel durch den Kopf. Zierſch erzählt in einer breiten, realiſtiſchen,
etwas nüchternen Art, vermag aber das zufällige Geſchehen zu keinem
innerlich notwendigen zu machen.
Etwas Imponierendes verſucht Herm. Bahr durch einen Roman⸗
zyklus zu verwirklichen, deſſen erſter Band „Die Rahl“ (Berlin, Fiſcher)
heißt. Er will einen literariſchen Weltatlas zeichnen, auf dem alle Ge⸗
ſichter zu finden ſind, deren die Erde fähig. Es ſind ja immer nur ein
paar Typen, meint er, mit denen die Welt ihr Auskommen hat. Und dieſe
Typen der heutigen bürgerlichen Geſellſchaft gedenkt er in einer Romanreihe
einzufangen und dabei die Idee des Typus und die Wirklichkeit des Indivi⸗
duums zu einem jeweilig vollkommenen Menſchenexemplar zu verſchmelzen,
in dem das Individuum zum Typus und der Typus zum Individuum
geworden iſt. Aber ſchon „Die Rahl“ zeigt, wie renommiſtiſch ein der⸗
artiges Unterfangen iſt. Der Held, der Gymnaſiaſt Franz Heitlinger, hat
das unbändige Blut ſeines Vaters geerbt; er lehnt ſich in jugendlichem
Freiheitsgefühl auf gegen den Zwang ſeiner Umgebung und ſchwärmt für
eine ſchöne Schauſpielerin, die Rahl. In einem Augenblick ſpieleriſcher
3. Proſaſchriften. 333
Laune ſcheint die Theaterdame ihrem unreifen Verehrer auch ihre Huld
zuzuwenden, aber nur, um ihn ſofort wieder in ſein Nichts zurückſinken
zu laſſen. Die bittere Enttäuſchung reißt alle ſeine Phantaſiegebäude nieder,
und ernüchtert unterwirft er ſich jetzt gern wieder der Disziplin der Schule.
Und wie den Franz, ſo ſtutzt das Leben auch die andern zurecht, und jeder
findet ſich auf ſeine Weiſe damit ab. Der Roman iſt zwar artiſtiſch eine
Leiſtung, aber das tiefere Schauen des echten Künſtlers geht ihm ab. Das
Stück Wiener Welt — es iſt hauptſächlich Theaterwelt —, das Bahr hier
ſchildert, mag äußerlich gut beobachtet ſein, aber man empfindet es als
künſtlich, als innerlich unecht. Die Menſchen ſind eben nicht, wie Bahr meint,
immer wieder dieſelben wenigen Typen, die nur die Umwelt bald ſo und bald
anders variiert, und deshalb laſſen ſie ſich auch auf keine beſtimmte Formel
bringen. Das Individuum wird nie ganz zum Typus, weil in jeder Pſyche
etwas Eigenſtes, Geheimſtes ſteckt, das ſich mit keiner andern Seele berührt
und das nur die Intuition des großen Künſtlers herausholen kann.
Das Problem der Vererbung des Blutes behandelt Richard Voß'
römiſcher Roman „Richards Junge“ (Stuttgart, Cotta Nachf.). Ein edler
deutſcher Kunſtgelehrter adoptiert einen von ihm geretteten jungen Römer,
in dem aber das ſchlechte Blut ſeines Vaters durchbricht, ſo daß er ſich der
Afterkunſt zuwendet und den Adoptivvater untergehen läßt. — Edward
Stilgebauers neuer Roman „Das Liebesneſt“ (Berlin, Bong) will
zeigen, daß man eine Ehe nicht auf unmoraliſchen Fundamenten aufbauen
kann. Dieſes zeitgemäße Problem iſt allerdings mit groben Mitteln zu
einem Werk verarbeitet, in dem es mehr auf ſtarke äußere Effekte als auf
pſychologiſche Eindringlichkeit abgeſehen ijt. — Die Frauenfrage wird ohne be-
ſondere Tiefe in Artur Brauſewetters „Die neue Göttin“ (Berlin, Janke)
und Elſe Croners „Das Tagebuch eines Fräulein Doktor“ (Stuttgart,
Union) behandelt. Beidemal iſt es der Konflikt zwiſchen Liebe und
Wiſſenſchaft, um den die Geſchichte ſich dreht. Bei Brauſewetter verliert
die Heldin den Bräutigam über der Wiſſenſchaft an ihre Schweſter, wäh⸗
rend bei Elſe Croner die Liebe fiegt. |
Auffallend gering ift das Intereſſe, das die heute fo ungeheuer wichtige
ſoziale Frage den Dichtern abnötigt. Zwar iſt eine ganze Anzahl von
Romanen des Berichtsjahres ſozial betont, aber die lediglich das ſoziale
Problem behandelnden ſind an den Fingern herzuzählen. Der intereſſanteſte
davon iſt vielleicht Otto Hahns „Das geſchlagene Heer“ (Leipzig, Sattler),
in dem in derb realiſtiſcher, kraftvoll zupackender dramatiſcher Darſtellung,
aber ohne beſondere Charakteriſierungskunſt, die tragiſche Entwicklung eines
Streiks ſchleſiſcher Weber geſchildert wird.
Die ſog. moderniſtiſche Bewegung hat auf unſerem Gebiet ebenfalls
einige Spuren zurückgelaſſen. Da iſt einmal der Zeitroman „Moderniſten“
(Berlin, Wigand) von Helius Romanus, der den Entwicklungsgang
334 VI. Literatur.
zweier italienischer Extheologen, eines im Sinne des Verfaſſers guten und
eines ſchlimmen Moderniſten, mit einem bejammernswerten Mangel an
literariſchen Qualitäten zu ſchildern verſucht. Dazu gehört auch die etwas
beſſere kulturhiſtoriſche Novelle „Der Stettmeiſter“ (Offenburg, Verlag
Modernismus) von F. Schramm, welche die Hexenverfolgung behandelt,
während der hiſtoriſche Roman Hans Kirchſteigers „Der Primas von
Deutſchland“ (Wien, Konegen), der die Vertreibung der Proteſtanten aus
Salzburg im Jahre 1733 zum Gegenſtand hat, wohl unter die Rubrik
„Konfeſſionelle Brunnenvergiftung“ zu ſetzen iſt.
Eine intereſſante Gruppe bilden jene Schriftſteller, die, abgeſtoßen vom
rohen Alltagslärm und materiellen Gehaben der modernen Welt, ſich eine
eigene Welt der Träume erbaut haben und von der nun einer kleinen Ge⸗
meinde in ihren Werken Kunde geben. Denn das große Publikum hat wenig
Verſtändnis für dieſe Nervendichter, Senſitiven und Symboliſten. Sie
ſchmelzen auch an Zahl wie an Bedeutung immer mehr zuſammen, da ſie
ſich in der Regel raſcher als andere verbrauchen und bei der wachſenden
Verinnerlichung unſerer Kultur und der Wiederannäherung von Leben und
Dichtung ſich auch immer beſſer ins Leben zurückfinden. Solche Beiſpiele
einer wirklichkeitsfremden Nerven- und Artiſtenkunſt find Ernſt Schurs
lyriſch-hymniſcher, die gleichen Empfindungen und Bilder immer wieder
variierender Roman „Einſame Liebe“ (Berlin, Oeſterheld u. Co.), der in
poetiſchen Einzelſkizzen einen Liebesſommer auf einer Nordſeeinſel beſchreibt —,
und Paul Leppins „Berg der Erlöſung“ (ebd.), ein Lebensmärchen voll
perverſer Moral. — Ein Durcheinander wilder, überſchäumender Phantaſie
und Originalitätsſucht tritt uns in Max Brods „Schloß Nornepygge“
(Stuttgart, Juncker) entgegen. Der Dichter will aus einem kraftgenialiſchen,
krankhaft⸗phantaſtiſchen Weltbild heraus zeigen, daß nur der Spezialiſt, der
Einſeitige, der Berufsmenſch leben kann, der Indifferente, der Jüngling ohne
Stil, der Mann der „reinlichen Logik“ dagegen entweder im Banne eines
Wahns leben oder — ſich aufhängen muß. Das letztere tut der Held, nad)
dem er ſich durch einen Hexenſabbat ausſchweifendſter Orgien durchgerungen
hat. Der Gedanke, daß ein die volle Objektivität verkörpernder Menſch
praktiſch nicht leben könnte, hat ja vieles für ſich, aber ſeine Illuſtrierung
durch Brod iſt nicht mehr originell, ſondern gequält bizarr. Es fehlen dem
Buch auch die Elemente eines richtigen Romans; das iſt nur ein Kämpfen,
Ringen, eine Abwechſlung bunten, ſchreienden Bildwerks, keine rechte Ent⸗
wicklung und Geſtaltung. — Auch der begabte Ren“ Schickele findet ſich
in feinem Roman „Der Fremde“ (Berlin, Morgen⸗Verlag) aus einer aus
naturaliſtiſchem Impreſſionismus und Neuromantik gemiſchten Bohemekunſt
noch nicht zu einfachen Linien und künſtleriſcher Schlichtheit zurück. Er
zeichnet den „Fremden“, der, im Elſaß als Sohn eines gefallenen fran-
zöſiſchen Offiziers geboren, kein Vaterland hat, keinen Beruf findet und
3. Proſaſchriften. 335
von der Liebe verlaſſen wird. Fremd bleibt er auch dem Leſer bis zum
Schluß des Buches. — Einen Ausſchnitt aus der Entwicklung eines weſentlich
paſſiven modernen Nervenmenſchen gibt Franz Nabl in ſeinem das
Erotiſche indiskret betonenden Wiener Roman „Hans Jäckels erſtes Liebes⸗
jahr“ (Berlin, Fleiſchel u. Co.). Für den Helden liegt der Genuß nur in
der raffinierten Vorſtellung, während ihn die Erfüllung feiner Wünſche hoff-
nungslos enttäuſcht. Die ſeeliſche Entwicklungslinie dieſes lebensuntüchtigen
Dekadenten iſt mit teilweiſe guter Einzelbeobachtung, aber als Ganzes nicht
glaubhaft genug geſehen. — Den Gegenſatz eines Kleinſtadtmuſikers, der
über ſeine Kraft hinaus will und daran zu Grunde geht, und ſeiner einfach
nüchternen Frau und kleinbürgerlichen Umgebung hat Oskar Loerke in
ſeiner Novelle „Franz Pfinz“ (Berlin, Fiſcher) zum Symbol des Kampfes
zwiſchen Sehnſucht und Schickſal, Traum und Wirklichkeit überhaupt zu er⸗
heben verſucht. Dabei breitet er das Land des Alltags als eine Welt farbig⸗
rhythmiſcher Phantaſtik voll heimlicher Zuſammenhänge und ungeahnter
Stimmungen vor uns aus. — Ganz in ſchwermütig⸗weltfremde Lyrik iſt
B. Kellermanns „Der Tor“ (ebd.) getaucht. Mit tiefem Weh forſcht
ein Jüngling nach der Erklärung all des Schmerzvollen, das uns befällt.
Aber er kann das Leid der Menſchheit nicht lindern; als armer Tor ſteht
er hilflos der Verworrenheit des Lebens gegenüber.
Für die Variation eines modernen Hans des Träumers hat Georg
Engel in ſeinem Roman „Der Reiter auf dem Regenbogen“ (Berlin, Vita)
den entſprechenden Stil in einer Miſchung von realiſtiſcher Kleinkunſt und
phantaſtiſcher Romantik gefunden. Den Widerſtreit zwiſchen einer ärmlichen
Umgebung und einer glühenden Phantaſiewelt löſt der Dichter durch eine
Tat des Helden für das verelendete Dorf Wisby und ſeinen frühen tragiſchen
Tod. — Weiche Träumerei löſcht alle ſchärferen Konturen aus in J. J. Hor⸗
ſchicks Roman „Johannes Liſter“ (Leipzig, Amelang); auch die Konflikte
find abgetönt und verwiſchen ſich gleichſam in dem naturſchwärmeriſch⸗
lyriſchen Tempo des Buches. Bei wachſender Vertiefung ſcheint der junge
deutſch⸗böhmiſche Künſtler noch einer weiten Entwicklung fähig.
Einen neuen Anſtoß zur Entfeſſelung unabſehbarer Phantaſien hat die
Entwicklung der Luftſchiffahrt in der letzten Zeit gegeben. Noch am meiſten
auf dem Boden aktueller Wirklichkeit ſteht da E. Sandt in ſeinem Roman
Cavete! (Minden, Bruns), worin er geſchickt und anregend feine Schweizer-
fahrt mit dem Grafen Zeppelin beſchreibt. E. G. Seeliger verwertet eben⸗
falls in ſeinem mit etwas gröblichen Mitteln gearbeiteten Unterhaltungsroman
„Der Schrecken der Völker“ (Berlin, Concordia) die Erfindung der Luftidiff-
fahrt, um die Völker damit zu ewigem Frieden zu zwingen. A. Niemann
beſucht in ſeinem Roman über die Weiterentwicklung der Luftſchiffahrt
„Atherio“ (Regensburg, Wunderling) bereits die Planeten Venus und Mars,
wobei er die Reſultate unſerer Technik zu mehr oder weniger geſchickter
336 VI. Literatur.
Phantaſtik ausnutzt. Handlung und Perjonen find zu ſchematiſch, als daß
der Roman auch künſtleriſchen Anſprüchen gerecht würde. Etwas literariſcher
führt ſich R. O. Frankfurters „Das Heil der Höhe“ (Berlin, Oeſterheld
u. Co.) ein. Der Held findet bei einem Flugverſuch mit ſeiner von ihm er⸗
fundenen Maſchine den Tod. Flugapparat und Ende aber ſymboliſieren
hier nur den vielverſprechenden Gang und trüben Abſchluß eines Lebens,
dem es nicht an Begabung, wohl aber an ſittlicher Stärke gebrach.
Zu den religiös betonten Romanen gehört JIſabelle Kaiſers in
Tagebuchform unter dem Titel „Die Friedenſucherin“ (Köln, Bachem) er⸗
zählte Entwicklungsgeſchichte eines jungen Mädchens, das aus Krankheit und
Liebesunglück nach mancherlei Kämpfen und Hemmungen ſich zum Frieden
in tiefſter Hingabe an die Religion, in Gebet und Wohltun durchringt. Eine
flotte Handlung oder auch nur eine ſtraffere Kompoſition darf man von
der ſkizzenartigen, loſe aufgebauten Geſchichte nicht erwarten; auch ſtört
gelegentlich unorganiſches Beiwerk. Aber die warme Religioſität, die gemüt⸗
volle Weltentrücktheit und die anſprechenden Schilderungen aus der Natur und
dem ſchweizeriſchen Volksleben geben dem eine Art dichteriſcher Lebensbeichte
darſtellenden Buch doch einen anſprechenden Zuſammenklang. — Auch in der
mit guter Kenntnis des Geſellſchaftslebens geſchriebenen Ragazer Bade⸗
geſchichte „Aus dem Untergrund des Lebens“ (Berlin, Warned) der Gräfin
H. Rantzau wird die Religion zur Helferin aus des Daſeins Nöten, und
Chriſtus iſt es, der die Menſchen aus dem Untergrunde des Lebens zu
ſittlicher Höhe emporzieht. — Andere Dichter hat die Behandlung religiöfer
Stoffe in hiſtoriſchem Gewande mehr gereizt. So hat Anna Freiin v. Krane
in dem Roman Magna Peccatrix (Köln, Bachem) das Leben der Maria
von Magdala künſtleriſch zu geſtalten verſucht, nachdem ſie ſchon vorher mit
einem Band Chriſtuserzählungen debütiert hatte. Es iſt ihr auch gelungen,
die Wandlung der Sünderin unter dem begnadenden Heilandsblick pſycho⸗
logiſch zu verſtändlichen und ein mit reifen, ſatten Farben gemaltes, von
religiöſer Weihe überhauchtes Lebensbild zu geben. Die Perſon des Erlöſers
tritt zwar im Roman handelnd auf, iſt aber doch ſo diskret gehalten und
in eine ſo andachtsvolle Verklärung gerückt, daß die Verfaſſerin damit ſtarke
Wirkungen erzielt, ohne die Heilandsgeſtalt zur Romanfigur herabſinken zu
laſſen. Die Szenen, Schickſale und Perſonen, die nur der Phantaſie der
Dichterin ihre Entſtehung verdanken, ſind für mein Empfinden meiſt zu
romantiſch gehalten. Gut iſt das römiſche Milieu zu Beginn des Romans
gezeichnet. — Aus ſtarker künſtleriſcher Kraft, aber auch aus innerem Leiden
und Ringen um das Chriſtusbild iſt G. A. Müllers Erzählung aus
Chriſti Tagen Ecce homo (Leipzig, Amelang) herausgeboren. Der Verfaſſer
hat dazu ſowohl die Evangelien und ihre Literatur als auch die Legenden⸗
bildung des Mittelalters ſtudiert. Aber er ſcheitert künſtleriſch trotz großer
Qualitäten daran, daß er Chriſtus zu ſehr in den Vordergrund der Hand⸗
3. Proſaſchriften. 337
lung treten läßt. Da fällt nun einerſeits ſeine Darſtellung gegen den groß⸗
artig ſchlichten Bericht der bibliſchen Geſchichte ſtark ab, und anderſeits wird
Chriſtus allzuſehr vermenſchlicht. Die Charakterzeichnung des ehrgeizigen,
aber haltloſen Pilatus iſt beſſer gelungen.
Der eigentliche hiſtoriſche Roman befindet ſich in entſchiedener De⸗
kadenz. Es wird heute ein viel genaueres Studium des hiſtoriſchen Milieus
verlangt als früher; die Dichter fühlen ſich von den Problemen und Be⸗
dürfniſſen der eigenen Zeit mehr angezogen und beſitzen auch vielfach nicht
mehr die geiſtige Muße und Abgeklärtheit, um ſich völlig in ein weſens⸗
fremdes hiſtoriſches Weltbild zu verſenken. Für manchen geſchichtlichen Vor⸗
wurf aber find ganz beſondere Vorbedingungen nötig. So faßt A. J. Mordt⸗
mann in ſeinem Roman „Pfingſten“ (Leipzig, Wigand) den Eindruck, den
das junge Chriſtentum auf die verſchiedenſten Völker machte, in ein zwar
etwas ſchwerflüſſiges und gelegentlich gekünſteltes, aber auch achtungswerte
Geſtaltungskraft zeigendes Buch zuſammen. Es fehlt dem freiſinnigen
Verfaſſer aber an dem Verſtändniſſe für das Übernatürliche, das die
welthiſtoriſche Bedeutung des Pfingſtfeſtes und die werbende Kraft des
Chriſtentums auch künſtleriſch ins richtige Licht rücken konnte. — Die er⸗
ſchütternde Tragik, die Junker Hirſchhorns edles, aber ſchuldig gewordenes
Geſchlecht mit ihm untergehen läßt, hat dagegen der jüngſt verſtorbene
A. Schmitthenner in dem wuchtigen Zeit und Familienroman aus dem
Dreißigjährigen Krieg „Das deutſche Herz“ (Stuttgart, Deutſche Verlags-
Anſtalt) zu bedeutender Darſtellung gebracht. Auch ſein „Tagebuch meines
Urgroßvaters“ (Freiburg, Bielefeld), das in einem Kulturbild der drangjal-
vollen napoleoniſchen Zeit eine Pfarrhausidylle ſchildert, zeigt des Verfaſſers
Einleben in die Vergangenheit. — Ein anſprechendes Charakterbild eines
der tüchtigſten Salzburger Erzbiſchöfe zeichnet R. Frhr v. Schnehen in
ſeinem Roman aus dem Dreißigjährigen Kriege „Aus Paris Lodrons
Tagen“ (Wien, Konegen). Das Werk leidet jedoch an einer gewiſſen Bunt-
heit, da ihm eine die Handlung zuſammenſtraffende Hauptfigur fehlt. Auch
ftören einige zu romantiſche Züge. Aber das Ganze iſt friſch herunter⸗
erzählt. — Geſtehen wir es uns nur zu: Uns intereſſiert der hiſtoriſche
Roman dann am meiſten, wenn er biographiſche Qualitäten hat, wenn er
dem Schickſal einer Seele auf ihrem Erdenwallen folgt. Allerdings kann
auch der Dichter unter gewiſſen hiſtoriſchen Bedingtheiten eine eigenartige
oder heroiſche Seele oft beſſer und tiefer in ihren Außerungen ſchildern,
als ihm dies in einem modernen Milieu möglich wäre. Aber der Menſch
der Gegenwart ſteht uns näher als der vergangene, und wenn unſere Dichter
auf eine ſtetige Vertiefung unſerer ſeeliſchen Kultur hinarbeiten und durch
allſeitige Erforſchung des Verhältniſſes der Einzelſeele zur Umgebung und
zum Weltganzen uns geiſtiger, freier und edler machen, brauchen wir uns
über den Verfall des hiſtoriſchen Romans keine trüben Gedanken zu machen.
Jahrbuch der Zeit- und Kulturgeſchichte. II. 22
338 VI. Literatur.
B. Ausländiſche Proſaliteratur in deutſchen Übertragungen. — Wir
leben nicht umſonſt im Zeitalter des Verkehrs. Die Grenzen der Länder
und Völker ſind in einer früher ungeahnten Weiſe dem Austauſch geöffnet,
und Waren wie geiſtige Werte wandern unabläſſig hinüber und herüber.
Dabei ſteht die europäiſche Völkerfamilie in einem näheren Verhältnis mit-
einander, und auf dem Gebiete der geiſtigen Anregungen und Ideenkreiſe
iſt unter den Gliedern ein fortwährendes Geben und Empfangen. Die
gegenſeitige Beeinfluſſung iſt größer, als man gemeiniglich denkt, und der
vergleichenden Literatur- und Ideengeſchichte bietet ſich da noch ein weites
Feld der Betätigung. Eine gewiſſenhafte Überſchau über das geiſtige Fazit
der Proſaliteratur muß daher auch das wichtigſte fremde Gut regiſtrieren,
das uns durch Überſetzungen vermittelt wurde.
Beſonders nahe ſtehen uns die Nordländer, die Schweden, Dänen und
Norweger, deren Germanentum reiner als das unſrige geblieben iſt und
deren Werke uns oft wie die tiefſte Offenbarung unſeres eigenen Weſens
anmuten. Dazu kommt, daß viele Nordländer bei uns ſo eingebürgert ſind,
daß ihre Bücher uns wie die eines der Unſern erſcheinen und wir das Ge⸗
fühl des Fremdartigen nicht einmal der äußeren Form gegenüber haben.
Der bekannteſte ſchwediſche Dichter neben Strindberg, Selma Lagerlöf
und Ellen Key iſt der jüngſt verſtorbene Guſtaf af Geijerſtam. Von
ihm liegen die beiden Romane „Das Haupt der Meduſa“ und „Die Brüder
Mörk“ (Berlin, Fiſcher) vor. Beide ſind feine Seelengeſchichten und be⸗
handeln im Grunde das gleiche Thema: wie zwei ſeeliſch eng verbundene
Menſchen ſich durch äußere Umſtände auseinanderleben und doch nicht auf-
hören, aufeinander zu wirken. „Die Brüder Mörk“ iſt das literariſch wert⸗
vollere und ausgereiftere der beiden Bücher. — Der letzte Roman von
Auguſt Strindberg, „Schwarze Fahnen“ (München, Müller), enthält
neben der Stellungnahme des eigenartigen Dichters zu dem Kultur. und
Geiſteszuſtand der ſchwediſchen Gegenwart leider ſo viel Schlacken und Ver⸗
zerrungen einer gegen die Stockholmer Literatengeſellſchaft losbrechenden
Vulkannatur, daß unſer Genuß dadurch weſentlich beeinträchtigt wird. —
Dagegen gewährt die jetzt vollſtändig vorliegende neue Märchenerzählung
der Lagerlöf, „Die Reiſe des kleinen Nils Holgerſon mit den Schnee⸗
gänſen“ (München, Langen), wieder reine Freude. Darin weht die naive
Inbrunſt, reine Glaubenskraft und elementare Phantaſie der unverbildeten
Volksſeele.
Von den Dänen hat in der letzten Zeit beſonders Joh. J. V. Jenſen
durch ſeine Romane „Madame d Ora“ und „Das Rad“ (Berlin, Fiſcher)
von ſich reden gemacht. Er wollte damit die literariſche Formel für das
Amerikanertum finden. Dieſe Romane ſind auch glänzend inſtrumentiert,
und das Unglaublichſte wird in ihnen mit verblüffender Selbſtverſtändlichkeit
hingeſtellt. Jenſen beſitzt Nerven für alle äußeren Eindrücke und eine Be⸗
3. Proſaſchriften. 339
obachtungsgabe, wie ſie ſelten zu finden iſt. Dabei iſt er ein Sprachvirtuoſe
erſten Ranges, aber im Grunde doch nur — ein großer Artiſt; die ſeeliſchen
Werte mangeln ihm. — Der andere bekannte Däne, Herman Bang, der
im Berichtsjahr ſeinen Roman „Ludwigshöhe“ (ebd.) vorgelegt hat, beſitzt
jene innere Anteilnahme am Leben, die auch zum Herzen des Leſers ſpricht.
Er kommt von der weichen Jacobſenſchule her und iſt zugleich durch den
Naturalismus gegangen. Die großen, feſten Linien fehlen ihm. Er gibt
ein breites, mit kluger, gegenſtändlicher Beobachtung geſchautes Bild vom
Leben weiter däniſcher Geſellſchaftsſchichten. In dieſe bunte Umwelt iſt die
ſchlichte, aber pſychologiſch feine Geſchichte einer Krankenpflegerin gebettet,
die von einem adeligen Beamten einer reichen Erbin wegen im Stich
gelaſſen wird. — Einen intereſſanten Zeit. und Umweltsroman erhalten
wir im neuen Werke von Henrik Pontoppidan, „Das gelobte Land“
(Jena, Diederichs), das in einem die magere Handlung überwuchernden
Gewirr von Szenen und Bildern die politiſchen Verhältniſſe Dänemarks
während der letzten Jahrzehnte, beſonders die bäuerliche Volkshochſchul⸗
bewegung ſchildert. — Wieder eine anders geartete Individualität iſt
Peter Nanſen, der ſeit 25 Jahren nicht müde wird, nur der Liebe zu
dichten. Sonſt hat er nur wenige Töne auf der Leier. Seine ausgewählten
Novellen „Jugend und Liebe“ (Berlin, Fiſcher) zeigen eine feine und raf⸗
finierte Beobachtung und gewandte Darſtellung erotiſcher Verhältniſſe, die
moraliſchen Perſpektiven aber ſcheinen zu fehlen. — Wertvolle alte Schätze
an Erzählungen und Sagen, in denen die klaren, großen Linien alt.
germaniſchen Lebens zu wuchtig künſtleriſchem Ausdruck kommen, hat
Arthur Bonus in den drei Teilen ſeines „Isländerbuch“ (München,
Callwey) erſchloſſen, die nicht minder der Beachtung wert ſind wie die
beſten Werke der Heutigen.
Neben den Nordländern ſtehen uns volklich und kulturell beſonders
die Engländer nahe. Ihren Größten, William Shakeſpeare, haben wir
in Liebe und Bewunderung zu einem unſerer eigenen Klaſſiker gemacht.
Und was find uns nicht fo viele andere der britiſchen Großen geworden!
Von der heutigen engliſchen Generation beeinfluſſen uns merkwürdigerweiſe
beſonders einige Schriftſteller, die keltiſches Blut in den Adern haben. Ich
erinnere nur an die menſchlich liebenswürdigen und ſeeliſch tiefgründigen
Romane A. Sheehans, die mit ihrer unaufdringlichen Religioſität beim
katholiſchen Deutſchland ſo freudige Aufnahme fanden. Ein anderer Kelte,
Bernard Shaw, tritt mit drei umfangreichen Romanen, „Die törichte
Heirat“, „Künſtlerliebe“ und „Der Amateurſozialiſt“ (Berlin, Ledermann),
vor uns, in denen er ſich wie in ſeinen Bühnenwerken als ſcharfer und kluger
Beobachter und feiner Satiriker erweiſt. Auf gute Kompoſition und ſtraffe
Führung der Handlung iſt kein Gewicht gelegt. Shaw zeigt in dieſen Romanen
überhaupt keinerlei ſynthetiſche Gaben. Er analyſiert immer nur; daher ift
220
340 VI. Literatur.
bet ihm die Entwicklung, die Handlung faſt nur äußerlich, faſt nur das
Vehikel, um bei jeder Gelegenheit die Seelen erbarmungslos bloßzulegen und
mit ſpöttiſcher Überlegenheit in ihrem wahren Weſen zu zeigen. — Auch ein
anderer Seelenanatom hat heuer ein neu überſetztes Werk vorgelegt. Es iſt
der Altmeiſter George Meredith mit ſeinen „Tragiſchen Komödianten“
(Berlin, Fiſcher), in denen er die Liebesaffäre Laſſalles mit dem damaligen
Fräulein v. Dönniges in feiner krauſen, feinen, tiefſchürfenden Seelenanalyſe
behandelt hat. — Eine eigenartige Gabe haben wir auch in dem phantaſtiſchen
Roman „Im Jahre des Kometen“ (Stuttgart, Hoffmann) von H. G. Wells
erhalten. Unter dem Gewande des Utopiſten, der einen gasförmigen Kometen
auf die Erde ſtoßen und damit die Erdatmoſphäre und das ganze Erdenleben
innerhalb dreier Stunden vollſtändig verändern läßt, finden wir in dieſem
engliſchen Schriftſteller den Satiriker, der über die verfahrenen und un⸗
befriedigenden Verhältniſſe des modernen Lebens ſchilt und von einer ver⸗
jüngten, verklärten, von allem Übel befreiten Erde träumt. — Einen wert⸗
vollen hiſtoriſchen Roman hat uns die bekannte Zeitſchrift „Alte und Neue
Welt“ in R. H. Benſons „Des Königs Werk“ vermittelt. Beſſer und
anregender als manches gelehrte Werk unterrichtet dieſer Roman über die
Entſtehungsgeſchichte der engliſchen Reformation.
Spannend und voll feiner Beobachtung iſt wieder der letzte Roman des
engliſch⸗holländiſchen Schriftſtellers Maarten Maartens. „Die neue
Religion“ (Köln, Ahn), die ſein Titel verkündet, iſt das Vertrauen zur
Natur und das Mißtrauen vor den Arzten, die mit allerlei wiſſenſchaftlich
klingendem Brimborium das Vertrauen ihrer Patienten gewinnen und dieſe
dann erſt recht krank machen. Mag auch manches phantaſtiſch und übertrieben
in dem Buche berühren, ſo iſt es doch aus einem freien, vielſeitigen,
menſchenfreundlichen Geiſte heraus geboren.
Aus dem engliſchen Amerika iſt uns 1908 Upton Sinclairs Weltſtadt⸗
roman „Metropolis“ (Hannover, Sponholtz) zugekommen. Der Verfaſſer,
der bei uns zuerſt durch ſeinen die Mißſtände der Schlachthäuſer Chicagos
geißelnden Roman „Sumpf“ bekannt wurde, ſchildert in ſeinem neuen Buche
den geiſtigen und moraliſchen Sumpf, in den die Milliardärgeſellſchaft
Neuyorks zu verſinken droht. Die magere Handlung des Buches dient
nur dazu, den Rahmen für die Schilderungen von protzigen Gaſtereien,
Toiletten uſw. abzugeben.
Aus der franzöſiſchen Literatur wird uns diesmal R. Champols preis-
gekrönter Pariſer Roman „Schweſter Alexandrine“ (Köln, Bachem) vorgelegt.
Das Buch, das in literariſcher Hinſicht gute Qualitäten aufweiſt, zeigt das
Vorgehen der franzöſiſchen Regierung gegen die Orden und Kongregationen
in feinen ſchlimmen Folgen, ohne dabei aufdringlich tendenziös zu erſcheinen.
Im Mittelpunkte des Ganzen ſteht die feſt und ſicher umriſſene, etwas
pathetiſch gezeichnete Geſtalt der Schweſter Alexandrine, die wir in ihrem
3. Proſaſchriften. 341
Amt als Engel der Barmherzigkeit ſehen. — Reclams Univerſalbibliothek
(Nr 4995, 4996) hat einen der beſten Romane Paul Bourgets, „Der
Luxus der andern“, in guter Überſetzung gebracht. Namentlich das tiefe
Seelenſtudium des Franzoſen läßt ſich an dieſem Werke beobachten. —
Neben dieſen Einzelwerken ſind Sammelübertragungen dreier großer Meiſter
der Proſa zu verzeichnen. Der Inſel⸗Verlag (Leipzig) hat ſich daran gemacht,
Honoré de Balzacs Romanſerie „Menſchliche Komödie“ in 14 Bänden
herauszugeben. Dieſe von Leben und Beobachtung ſtrotzenden künſtleriſchen
Offenbarungen wollen den ganzen Organismus der franzöſiſchen Geſellſchaft
in der erſten Hälfte des 19. Jahrhunderts widerſpiegeln. — Die funkelnde
Klarheit Proſper Merimées hat R. Schaukal in einem Sammelband
der älteren Novellen des Dichters nachzudichten verſucht (München, Müller).
Weitere Bände ſollen noch folgen. — Den neuen deutſchen Flaubert will
der Verlag Bruns in Minden geben. Zwei Bände, die unvermeidliche
„Madame Bovary“, die ſeinerzeit eine literariſche Umwälzung bedeutete,
und „Drei Erzählungen“ (Ein einfältig Herz, Legende vom hl. Julian
und Herodias), ſind bereits erſchienen.
Die beiden aus dem Italieniſchen überſetzten Romane zweier bekannter
Schriftſtellerinnen, „Nach der Verzeihung“ (Berlin, Fiſcher) von Matilde
Serao und „Das Haus Crevalcore“ (Berlin, Schall) von Neera, kenn⸗
zeichnen ſich als ſpannende Geſellſchaftsromane mit pſychologiſchen Momenten.
Serao hat dabei das Problem, ob ein Mann über die Untreue ſeiner Frau
wegkommen kann, mit Nein beantwortet und in ſüdlich leidenſchaftlicher, aber
nicht tief genug ſchürfender Weiſe gewandt behandelt.
Aus der ruſſiſchen Literatur iſt ein neuer Roman von Maxim Gorki,
„Mutter“ (Berlin, Ladyſchnikow), zu erwähnen. Er ſpielt in den Kreiſen der
ruſſiſchen Revolutionäre und ſchildert in lebens voll gezeichneten Geſtalten das
Ringen der Unterdrückten um menſchenwürdige Lebensbedingungen. Freilich
iſt in dem Buche zu viel Stoff angehäuft, der nicht verarbeitet wird. — Die
ſchmerzvollen Bilder menſchlichen Elends, aber auch menſchlicher Hingebung
und Aufopferung teilt mit dieſem Roman Zofia Rygier⸗Nalkowskas
aus dem Polniſchen überſetztes Buch „Der Prinz“ (Wien, Konegen), das in
die ähnlich gearteten ſozialen und politiſchen Kämpfe Ruſſiſch⸗Polens führt.
Das ſind ſo einige der wichtigſten Kanäle, auf denen uns im letzten Jahre
wieder fremdes Geiſtesgut zugefloſſen iſt. Wie faſt jedes Jahr, ſo ſcheint
auch diesmal der Umfang der fremden Koſt gewachſen zu ſein, die das
deutſche Volk aufgenommen. Aber der Einfluß auf unſere nationale Literatur
wird trotzdem immer geringer. Die uns noch ſo nahe liegenden Perioden
des Zolaſchen und Ibſenſchen Einfluſſes ſcheinen heute ſchon nicht mehr
möglich. Und das iſt gut ſo, denn es bedeutet, daß unſer eigenes Schrift⸗
tum bodenſtändiger, nationaler, ſelbſtbewußter geworden iſt.
VII. Kunft.
1. Bildende Kunft.
Von Dr Fr. Ceitſchuh.
as Jahr 1908 trägt in dem Ergebnis feiner künſtleriſchen Produktion
D das Gepräge unſerer haſtig vorwärtsdrängenden, nervös ringenden
Zeit, die über ein Übermaß von Kraft und ſolidem Können verfügt,
mit den alten Geſetzen von Rhythmus, Harmonie und Proportion auf aller-
vertrauteſtem Fuße ſteht, aber es oft als eine erleichternde Entladung betrachtet,
die Werte ſolcher Formen kaltblütig zu ignorieren oder gar grimmig zu
befehden. Das alte Geſetzmäßige langweilt. Der Künſtler der Gegenwart
will manchmal allzu aufdringlich zeigen, daß der Strom des modernen
Lebens ungeſtüm durch ſeine Adern flutet. Was wunder aber, wenn wir
da nur fade Schaugerichte, die für den hungrigen Gaumen ungenießbar und
im Innern hohl und leer ſind, erhalten, dort aber ſehen, wie mit allem
Können der Pſyche der funkelnde Staub abgeſtreift wird, wie ſich uns nur
die nackten, ſteifen, häßlichen Flügel zeigen?
Unſer Jahresbericht kann und darf keine Statiſtik der zahlreichen Aus⸗
ſtellungen des Jahres, ſondern nur einen knappen Überblick über Tendenzen
und Symptome bieten.
Wenden wir uns zunächſt nach München. Die Winterausſtellung der
Sezeſſion 1907/1908 enthielt nur drei größere Sondergruppen, und
zwar von Albert v. Keller, Charles Tooby und Philipp Klein. Für das
Kapitel „religiöſe Kunſt“ war es beſonders wertvoll, in dieſer Ausſtellung
zu ſehen, wie Keller das Thema der Auferweckung des Töchterleins des
Jairus in zehn verſchiedenen Verſuchen techniſch meiſterhaft behandelte, ohne
dem religiöſen Empfinden irgendwie entgegenzukommen. Seeliſche Zuſtände,
viſionäre und ſpiritiſtiſche Szenen reizen den Meiſter ebenſo wie das Pro-
blem der Darſtellung der modernen Frau als Blüte der verfeinertſten Kultur.
Tooby erſchien als hervorragender Landſchafts⸗ und Tiermaler, Klein als
überzeugter Impreſſioniſt, namentlich bedeutſam als Akt. und Figuren-
ſchilderer, aber auch intereſſant in ſeinen fein komponierten Landſchaften
1. Bildende Kunſt. 343
und Stillleben. — Die Frühjahrsausſtellung der Sezeſſion hatte einen be⸗
ſondern Reiz durch die Bildergruppen von vier Pariſer Gäſten: Pierre
Bonnard, Xavier Rouſſel, Felix Vallaton und Edouard Vuillard. Im
Kolorit oft von entzückender Feinheit — ich denke beſonders an das „Roſa
Interieur“ von Vallaton und an die Werke von Rouſſel —, zeigte leider
die Mehrzahl der Schöpfungen eine geradezu blöde Vernachläſſigung allen
Formgefühls, die kaum durch die Forderungen des inneren Weſens des
Impreſſionismus entſchuldigt werden kann. Im übrigen wirkte dieſe Aus-
ſtellung im allgemeinen ſehr deutſch, ſehr friſch und flott, aber weſent⸗
lich ruhiger und ſolider als viele ihrer Vorgängerinnen. Manches müſſen
wir freilich dem Feuer der jungen Künſtlergeneration, die im Vordergrunde
ſtand, zu gute halten. Aus den Kollektionen Chriſtian Landenbergers und
Albert Weisgerbers ſprach dafür ſo viel ſchlichte, urgeſunde Kraft und ſo
tiefes, abgeklärtes Naturverſtändnis, daß man leicht über unreifere Verſuche
hinwegſehen konnte. Beſonders erfreulich erſchienen auch die ſonnendurch.⸗
glühten Interieur⸗ und Gartenbilder von Richard Winternitz; aber faſt jedes
Werk war ein Treffer, faſt jede Schöpfung hatte uns etwas Eigenartiges
in Ausdruck, Form und Farbe zu künden. Den Clou der graphiſchen Ab⸗
teilung bildeten die in ihrer Bildwirkung unübertrefflichen Tierzeichnungen
Heinrich v. Zügels. — Die Kunſtausſtellung im Glaspalaſt enthielt
drei Kollektivausſtellungen wenig bekannter, verſtorbener Künſtler: von
K. H. v. Baur, einem tüchtigen Landſchafter der älteren Auffaſſung, von
Anton Mangold, einem vornehmen Bildniskünſtler, und von dem Genre⸗
maler Hugo Kotſchenreiter, in deſſen Nachlaß ſich prachtvolle Studienköpfe
und Innenraumſtudien vorfanden. Das weitaus größte Intereſſe lenkte die
Jubiläumsausſtellung der Deutſchen Kunſtgenoſſenſchaft auf ſich,
an der 14 lokale Gruppen beteiligt waren. Sechs Säle, in denen Ad. Menzels
Meiſterwerke, das Théatre Gymnase und das ſonnige Interieur ſeines
Wohnzimmers (18451) verdiente Bewunderung ernteten, repräſentierten
Berlin friſch und gar nicht aufdringlich, aber auch nicht allzu „akademiſch“;
Wien (ohne Hagenbund und Sczeſſion) zeigte in feiner anmutigen dekora⸗
tiven Menſchengeſtaltung einen unverkennbar engliſchen Einſchlag; Düſſel⸗
dorf huldigte in der Auswahl den verſchiedenſten Geſchmacksrichtungen, die
Bildnisköpfe von Eduard v. Gebhardt, der Chriſtus am Olberg von Louis
Feldmann, die Skizze zum Stern von Bethlehem von Peter Janſſen, die
Chriſtusbilder von Robert Seuffert feſſelten durch charaktervolle Tiefe; Karls⸗
ruhe brachte gute Freilichtakte von Hermann Möſt; überraſchend perſön⸗
lich wirkten Breslau namentlich mit Schöpfungen begabter Malerinnen und
Königsberg mit den packenden Bildern von Otto Heichert und Ludwig Dett⸗
mann; Dresden war durch ſeine eigene Ausſtellung zu einer leicht erklärlichen
Zurückhaltung veranlaßt, doch bot es Bildniſſe und Landſchaften von eigen⸗
artig innerlichem Reize. Außerdem hatten noch Stuttgart durch Leo Bauers
344 VII. Kunſt.
„Verlorenen Sohn“, Frankfurt durch Wilh. Steinhauſen und Wilh. Alt⸗
heim, Hamburg durch den feinſinnigen Stilllebenmaler Karl Rotte und den
Bildnismaler Paul Junghanns wertvolle Proben lebendiger Geſtaltungskraft
vorgeführt. In nicht weniger als 28 Sälen war die wackere Münchner
Künſtlergenoſſenſchaft und die Reihe ihrer illuſtren Gäſte vertreten. Von
religiöſer Kunſt bot das Beſte Gebhard Fugel in feinem weihevollen Abend⸗
mahlsbild. Im übrigen: eine unglaubliche Summe von wirklich ſolider Ar⸗
beit, indes wenig Neuartiges, meiſt wohlbekannte Werte. Selbſt die „Scholle“
und die „Bayern“ hatten nichts prinzipiell Neues zu künden. Von tiefem
Eindruck war indes Karl Marrs Lux in tenebris; kirchlicher, aber dabei
doch voll perſönlichen Empfindens, berührten die großen Heiligenbilder von
Fritz Kunz, verheißungsvoll die holländiſchen Landſchaften von Paul Rieth.
In der „Luitpoldgruppe“ erregten der an Honoré Daumier gemahnende Ernſt
Gebhard und der Bildnismaler Heinrich Brüne verdientes Aufſehen. Ganz
hervorragend gut war die Landſchaft vertreten. Bei den „Münchner Aqua⸗
relliſten“ glänzte René Reinicke mit feiner virtuoſen Technik, unter den
graphiſchen Arbeiten ragten die feingeſtimmten Farbenholzſchnitte von Luiſe
Pollitzer hervor. Inhaltsreich und intereſſant war auch die Ausſtellung
des Vereins für Originalradierung. In der plaſtiſchen Abteilung über⸗
wogen ausdrucksvolle Bildnisbüſten, daneben kamen gute Grabmäler und
Bier- und Schmudbrunnen zur Geltung; mit niedlichen Sachen war die
Kleinplaſtik vertreten.
Die Internationale Ausſtellung der Sezeſſion zeigte eine
Reihe von ungewöhnlichen Kraftanſtrengungen. Aber die Unterſchiede zwi⸗
ſchen ihr und der Ausſtellung im Glaspalaſt waren lange nicht mehr ſo
ſchroff wie einſt in den Tagen ſtürmiſcher Entwicklung. Nur wirkt das
Geſamtbild in der Sezeſſion einheitlicher, geſchloſſener; die Ziele liegen klarer
vor Augen. Und dieſe Geſchloſſenheit im Streben erweckt natürlich auch den
Eindruck der größeren Friſche im Können. Dazu kommt, daß die Männer
der Sezeſſion, deren Bedeutung längſt fixiert iſt, wie Fritz v. Uhde, Hugo
v. Habermann, Franz Stuck, Albert v. Keller, H. v. Zügel, Leo Samberger
in Reih und Glied mit den Jungen, den Anſtrebenden auftreten, nicht um
fie in den Schatten zu ſtellen, ſondern um die Entwicklungsfähigkeit und
Lebenskraft der ſezeſſioniſtiſchen Ideen ſchlagend zu beweiſen. Freilich glauben
gerade die jüngeren Maler, daß es genügt, wenn fie ein Bild „ ſicher
herunterſtreichen“ können. Die Ausſtellung der Sezeſſion würde noch weit
erfreulicher gewirkt haben, wenn mehr die abgeſchloſſenen Kunſtwerke und
weniger die flotten Studienarbeiten dominiert hätten. — Die Gäſte der
Sezeſſion P. Besnard, E. Aman⸗Jean, F. J. Raffaelli, J. E. Blanche,
W. Bondy, A. Zorn, K. Larſſon, Heſſelboom u. a. boten keine Senſationen.
Dagegen verblüffte die plaſtiſche Abteilung durch eine ganze Summe be⸗
herzter Eigenart, durch die dämoniſche Geſtalt der Medea von Paul Petrich,
1. Bildende Kunſt. 345
durch die Porträtbüſten von C. Ad. Bermann und durch die originellen
Tierplaſtiken des Wieners Franz Barwig. Beſonders ſei auch ein für eine
evangeliſche Kirche in Stuttgart beſtimmter lebensgroßer Crucifixus von
Hermann Lang hervorgehoben.
Das Jahr 1908 hatte die Münchner Kunſtwelt in einem ganz ungewöhn⸗
lichen Maße erregt und in Anſpruch genommen; es war wohl das arbeits⸗
reichſte im Leben jedes Einzelnen; denn wir müſſen uns vergegenwärtigen,
daß an der Großen Münchner Ausſtellung auf der Thereſienhöhe
die Kunſt einen ganz gewaltigen Anteil hatte. 800 Räume waren von
Künſtlerhand auszugeſtalten und mit gemaltem oder plaſtiſchem Schmucke
zu verzieren. Und alles, was ſie an Objekten bargen, war geadelt
durch feinſinnige künſtleriſche Durchbildung. Die lange heißerſehnte Mög⸗
lichkeit, dem dekorativen Talent weite Flächen zur Verfügung zu ſtellen,
war hier endlich gegeben worden; ich erinnere nur an den reichen Bilder⸗
ſchmuck des Hauptreſtaurants, des großen Cafés, des Frühſtückspavillons,
der ſtädtiſchen Räume, der Kirche, der vielen Interieurs. Dann waren
über die ganze Flucht der Ausſtellungshallen dekorative Malereien aus⸗
geſtreut; der reichſte Anteil daran fiel den Künſtlern der „Scholle“ zu.
R. M. Eichler ſchuf für den mit feinem Geſchmack ausgeſtatteten Saal des
„Getreidehandels“ einen impoſanten Fries: „Huldigung an die Ceres“,
neben dem die derben Wandgemälde Ernſt Liebermanns „Ein Feſttag der
Hopfenpflücker“ einen ſchweren Stand hatten. Farbenfriſche Poeſien boten
Adolf Münzer in ſeiner ſinnigen Schilderung des deutſchen Waldes und
Fritz Erler in ſeinen gobelinartigen, harmoniſch geſtimmten, gedankenreichen
Bildern „Gold und Eiſen“. Originell waren ferner die Tierbilder von
Panl Neuenborn, packend die prächtigen Iſartalbilder von Richard Pietſch.
Aber auch die Münchner Bildhauer fanden überreiche Gelegenheit, ihr raum⸗
geſtaltendes und raumſchmückendes Können an gewaltigen Monumental⸗
gruppen und Brunnenanlagen wie an Gegenſtänden der Kleinplaſtik zu ent⸗
falten; einzigartig war das originelle Auftreten der mit der Gartenkunſt
zuſammenwirkenden Feld-, Wieſen⸗ und Gartenplaſtik. Am bedeutſamſten
kam freilich die Baukunſt zur Geltung: von den Ausſtellungshallen bis zu
dem Künſtlertheater Max Littmanns konnten wir die urwüchſige, leben⸗
ſtrotzende Münchner Regſamkeit im Erfinden und Geſtalten im modernen
Geiſte bei dieſem Kulturfeſt verfolgen.
Als Konkurrentin trat Darmſtadt neben München mit ſeiner Heſ⸗
ſiſchen Landes ausſtellung für freie und angewandte Kunſt.
Wie oft hat man das Darmſtadt, das 1901 mit vollen Poſaunenſtößen ſein
„Dokument deutſcher Kunſt“ der ſtaunenden Welt anpries, totgeſagt — es
hat ſich immer wieder erholt. Diesmal handelte es ſich freilich nicht um
eine Kraftprobe der vielumſtrittenen einheimiſchen Künſtlerkolonie, ſondern
um eine Zuſammenfaſſung des im modern künſtleriſchen Sinne vom ganzen
346 VII. Kunſt.
Lande Geleiſteten. So wollte die Gruppe „Freie Kunſt“ — Malerei und
Plaſtik — in geſchloſſener Überſchau ein Bild deſſen vermitteln, was in
Heſſen geborene Künſtler innerhalb und außerhalb der Heimat leiſten. Und
dabei ergab ſich, daß Ludwig v. Hofmann, E. Bracht, K. Raupp, L. Löfftz,
J. Bär, Ph. Halm, A. Gaul, P. Wallot und K. Meſſel als geborene
Heſſen bezeichnet werden müſſen. Die Stadtverwaltung hat zum Gedächtnis
an die Vermählung des Großherzogs ein monumentales Ausſtellungsgebäude
von dem kürzlich verſtorbenen Joſ. Olbrich errichten laſſen, das den höchſten
Hügel der Mathildenhöhe deckt und mit einem gewaltigen Turm verbunden
iſt, von dem man ſagen könnte, daß er keinen Fuß und einen zu ſchmalen
Kopf hat. Jedenfalls bekommt man den Eindruck nicht los, als ſei alles
Gefühl für die Funktion, ſoweit ſie ſich durch Formen ausdrücken läßt,
verloren gegangen. Die Ausſtellung zeigte drei ſehr koſtbare, zueinander
in gar keiner Beziehung ſtehende Einzelhäuſer von Olbrich, Gewin und
Konr. Sutter und etwas unvermittelt dazu ein Arbeiterdorf; dieſe letztere
Kolonie der Kleinwohnungen des Heſſiſchen Ernſt⸗Ludwig⸗Vereins bedeutete
aber ohne Zweifel den größten Erfolg der Darmſtädter Ausſtellung.
Im Ringen um die Vormachtſtellung in der deutſchen Kunſt iſt der
gefährlichſte Rivale Münchens Dresden. Das bewies unwiderleglich die
Große Kunſtausſtellung Dresden 1908, die namentlich muſtergültig
in der Anlage und in Bezug auf eine Anzahl ausſtellungstechniſcher Neue⸗
rungen war. Entbehrten die langen Bilderreihen auch eines eigentlichen
Clous, ſo wurden wir doch durch eine wahre Fülle tadellos tüchtiger
Leiſtungen dafür mehr als entſchädigt. Meiſter wie Gotthard Kuehl,
Robert Sterl, Eugen Bracht, Richard Müller, Oskar Zwintſcher, Wilhelm
Claudius, Rub. Schramm⸗Zittau, Emanuel Hegenbarth u. a. hatten ihr Beſtes
und Wirkungsreichſtes vorgeführt. Von einer Anzahl führender Meiſter,
wie Graf Leop. Kalckreuth, Wilh. Trübner, Max Slevogt und Max Lieber⸗
mann, waren mehr oder minder abwechflungsreiche Kollektionen, Altes und
Neues enthaltend, vorhanden. Selbſtverſtändlich fehlte es auch nicht an
religiöſen Gegenſtänden, die namentlich Eduard v. Gebhardt und Claus
Meyer in lebendiger Auffaſſung darboten. In einem von J. Urban originell
ausgeſtatteten Saal trat etwas allzu blaſiert der Wiener Hagenbund auf.
Eine tüchtige Schlappe holten ſich die extravaganten junger Berliner Im⸗
preſſioniſten; die geiſtloſe Nachahmung van Goghs und Ccézannes hat ihr
geſundes Empfinden und Können leider völlig entgleiſen laſſen.
Die Ausſtellung der Berliner Sezeſſion, die von Max Liebermann
mit einem zwar „programmatiſchen“, aber der Hauptſache vorſichtig aus dem
Wege gehenden Vorwort eröffnet wurde, umfaßte 343 Werke, 275 Ol.
gemälde und Aquarelle ſowie 68 Plaſtiken. Liebermann, Slevogt, die übrigen
unentwegt Getreuen, beſonders aber Walther Leiſtikow, boten Intereſſantes
und Charakteriſtiſches, auch Karl Hofer, E. R. Weiß, Karl Tuch u. a. ver⸗
1. Bildende Kunſt. 347
mochten ſich einige Achtung zu erzwingen. Im übrigen aber ſchwelgten die
Berliner wieder im Widerwärtigen und wälzten ſich ſchamlos in der Goſſe.
Wie viel edler war doch der alte, vielgeſchmähte maleriſche Impreſſionismus
als dieſe jeder anſtändigen Geſinnung bare Senſationsmalerei, die ſogar ein
Richard Muther als marasmus iuvenilis bezeichnet hat. Das Schlimmſte,
was Wilh. Leibl widerfahren konnte, begegnete ihm hier, wo die Sezeſſion in
offizieller Weiſe ihn durch die Verbindung dieſer Kunſtſchau mit einer Leibl-
Ausſtellung als den ihrigen abſtempelte. Leibl, der mit dem Bienenfleiß des
Genies ſich eine volle Herrſchaft über das techniſche Element angeeignet hatte,
hat ſich gewiß „im Grabe herumgedreht“, als feine Schöpfungen in Gefell-
ſchaft dieſer leichtfertig⸗wüſten Geſellen vor die Offentlichkeit gezerrt wurden.
Daß aber die Vorführung vieler und ſchwer zugänglicher Werke Leibls an
ſich ein verdienſtliches Unternehmen war, braucht wohl nicht beſonders her⸗
vorgehoben zu werden. — Die Große Berliner Kunſtausſtellung
vereinigte wieder die konſervativen Elemente der Berliner Künſtlerſchaft und
ihre Freunde und Geſinnungsgenoſſen in Düſſeldorf und München. Wenn
ſolide Technik allein ausſchlaggebend wäre und nicht durch abſoluten Mangel
an impulſiver künſtleriſcher Kraft geradezu wirkungslos würde, könnte wohl
manches wandfüllende Werk der Großen Berliner als kunſtgeſchichtliches
Ereignis zu buchen ſein. Aber — auch dieſe ſehr gut beſchickte Berliner
Ausſtellung bot nicht viel von Ewigkeitswerten. Man könnte faſt vermuten,
ein Jahr völliger Ausſtellungsruhe würde die Friſche und den Wert der
künſtleriſchen Produktion erhöhen. Die regelmäßige Wiederkehr der Jahres⸗
ausſtellungen bedeutet für viele einen die innere Entwicklung mehr hem⸗
menden als fördernden Produktionszwang. Darunter hatte auch die Ge⸗
ſamtwirkung der diesjährigen „Großen Berliner“ ſichtlich gelitten, wenngleich
nicht verkannt werden darf, daß ſie unter ſehr vielem Gleichgültigen und
pathetiſch Saft- und Kraftloſen manche fein empfundene, ſorgſam durch⸗
gearbeitete Leiſtung, namentlich auf landſchaftlichem und religiöſem Gebiete,
aufzuweiſen hatte. — Die Kgl. Akademie der Künſte in Berlin
hatte eine Aquarellausſtellung veranſtaltet, in der Menzel, Ludwig Richter,
Rudolf v. Alt, Th. Hoſemann mit wertvollen Kollektionen vertreten waren.
Die Wiener Ausſtellungen ftanden unter dem Zeichen des Jubi⸗
läumsjahres. Den ſechzig Thronjahren des Kaiſers entſprechen ſechzig Jahre
Entwicklung der Wiener Kunſt. Der Gedanke war ſehr naheliegend, Jubi⸗
läumsausſtellungen zu ſtande zu bringen. Und fo wurde diesmal die
Künſtlerhaus⸗Jahresausſtellung zu einer feierlichen Huldigungs⸗
ausſtellung mit ſtreng öſterreichiſchem Charakter, man darf ſagen mit
Nationalcharakter. Oſterreich hat mehr als einmal die Kunſtbewegung des
19. Jahrhunderts geführt: von der koloriſtiſch⸗klaſſiziſtiſchen Richtung Rahls
bis zur dekorativen Koſtüm⸗ und Menſchenmalerei Hans Makarts und dem
paysage intime eines Pettenkofen, Schindler, Rumpler laſſen ſich die inter-
348 VII. Kunſt.
eſſanteſten Kurven der Bewegung verfolgen, ganz abgeſehen davon, daß
Künſtler wie Führich, Schwind u. a. eine gefeierte Sonderſtellung in der
Kunſtgeſchichte behaupten. Leider zeigte die Ausſtellung den pädagogiſchen
Mangel eines kunſtgeſchichtlichen Syſtems und bedenkliche Lücken, die leicht
zu vermeiden geweſen wären. — Dieſer rückſchauenden Ausſtellung war
noch eine ſehr umfängliche „Frühjahrsausſtellung“ an die Seite getreten,
die im Durchſchnitt über Erwarten gut war; beſonders reichlich und vor⸗
teilhaft war das Bildnis vertreten, etwas ſpärlich die Landſchaft, ziemlich
achtunggebietend die Plaſtik. — Auch die Vereinigung bildender
Künſtler Oſterreichs wollte dem Kaiſer ihr Beſtes in feinem Jubel⸗
jahre darbringen. Merkwürdig war ihre Ausſtellung, die die Konkurrenz
der Fremden ausgeſchaltet hatte, durch die hohe Stufe der plaſtiſchen Lei-
ſtungen. Von religiöſer Kunſt war Karl Ederers Entwurf zu dem in
Moſaik auszuführenden Altarbild für einen Kirchenbau Otto Wagners am
Steinhof als wenig glückliches Beiſpiel monumental dekorativer Gegenwarts⸗
kunſt zu ſchauen. — Im Zeichen der Kaiſerhuldigung ſtand ferner die
Ausſtellung des Hagenbundes, deren Mittelſaal durch den Archi⸗
tekten Urban zu einem Feſtraum von prächtiger Wirkung ausgeſtaltet
worden war. Das dekorative Element prägte überhaupt der Ausſtellung
ſeinen Stempel auf. Die holzgeſchnitzte Kaiſerbüſte von Franz Barwig,
die Sandſteinreliefs von Karl Stemolak und die Porträtbüſten von Joſeph
Heu traten beſonders wirkungsvoll hervor. Als religiöſes Werk von gei-
ſtiger Vertiefung, aber ohne einheitlich ernſte Stimmung feſſelte J. O.
Krämers „Chriſtus und Magdalena am Morgen der Auferſtehung“. —
Korporativ angegliedert waren die Ausſtellungen der polniſchen Künſtler⸗
gruppe „Sztuka“, die ziemlich zahm auftrat, und des Prager Künſtlerbundes
„Manes“; beide wiſſen in der modernſten Pariſer Malerei Beſcheid; ſie
unterſcheiden ſich voneinander nur dadurch, daß die Polen das Erlernte
geſchickt in ihrer nationalen Sprache verarbeiten, während die Leute vom
„Manes“ intereſſant primitiv, aber den Pariſern zum Verwechſeln ähn⸗
lich ſchaffen. — Unter der Bezeichnung Kunſtſchau 1908 veranſtaltete
ferner die Klimtgruppe eine jedenfalls anregende und willensſtarke Aus⸗
ſtellung der Extremen, Radikalen und Exzentriſchen, geführt durch Guſtav
Klimt, Emil Orlik, Joſeph Hoffmann, Kolo Moſer, Franz Metzner. Klimt,
der mit ſechzehn neuen, mehr als ſenſitiven Arbeiten vertreten war, bereitete
ſeinen Verehrern eine bittere Enttäuſchung; die übrigen leiſtungsfähigen Ge⸗
noſſen ließen in gewohnter Meiſterſchaft ihre beſtrickenden Künſte ſpielen.
Trefflich repräſentierte ſich namentlich die reich beſtellte kunſtgewerbliche Ab⸗
teilung; vornehm und gediegen ſtellten die „Wiener Werkſtätten“ aus. Auf
dem Gebiete der religiöſen Kunſt zeigte Kolo Moſer ſeine Entwürfe für die
Glasmoſaikfenſter der Otto Wagner⸗Kirche am Steinhof, denen man Größe,
Wucht und einen vollen Akkord moderner Stilkunſt nicht abſprechen konnte.
1. Bildende Kunſt. 349
Im übrigen weiſen die Prinzipien dieſer Modernſten deutliche Berührungs⸗
punkte mit den Auffaſſungen und Anſchauungen unſerer primitivſten Vor⸗
fahren auf.
Endlich veranſtalteten auch die in Kloſterneuburg bei Wien heimiſchen
Künſtler zu Ehren des Kaiſerjubiläums eine Ausſtellung, die namentlich
auf dem Gebiete der Landſchafsmalerei Wertvolles enthielt. Überall weckte
das Jubeljahr begeiſtertes Kunſtſchaffen und veranlaßte eine lehrreiche Vor⸗
führung deſſen, was in Wien von Meiſtern der verſchiedenſten Schattierungen
in jüngſter Zeit angeſtrebt worden iſt.
Die Ausſtellung der Wiener Sezeſſion im Herbſte brachte eine ruſſiſche
Bilderſchau, in der freilich nur die Modernen vertreten waren. Und dieſe
enttäuſchte deshalb viele, weil man nationale Wildheit und Träumereien
ſehen und in eine fremde Welt der Erſcheinungen blicken wollte. Sie boten
nichts von alledem, aber zumeiſt echt pariſeriſche Auffaſſung, daneben auch
triviale lyriſche Reize und europäiſches Behagen.
Die Pariſer Ausſtellungen boten nach keiner Richtung hin ſonder⸗
liche Überrafchungen; nach den Kämpfen der achtziger und neunziger Jahre
will man in Paris in einer Periode geſättigter Ruhe Kraft zu neuem Schaffen
gewinnen, das ſchon jetzt viel Gediegenes, Wohldurchdachtes, aber auch viel
Schablonenhaftes und Unperſönliches zu Tage fördert. — Der Pariſer
Salon der Société Nationale (Champ de Mars) wies 1908 eine
ungewöhnlich große Zahl hervorragender Leiſtungen auf, ſo die „Meſſe“
von Lucien Simon, ein ſehr großes Gemälde, das als Hauptgegenſtand
einen zelebrierenden Geiſtlichen am Altare darſtellt; dann eine licht und
luftumfloſſene Familiengruppe von Prinet, pfychologiſch vertiefte Porträts
von Gaſton La Touche u. a. — In dem Salon des Indépendants
erreichte die Zahl der ausgeſtellten Kunſtwerke nahezu die Höhe von 7000.
Die Mehrzahl der „Unabhängigen“ war von Cézanne, Paul Ganguin und
van Gogh ſtark abhängig. Brutale Geſchmackloſigkeiten und die Sucht,
durch Exzentrizitäten zu verblüffen, ſollten über den Mangel an reifem
Können vielfach hinwegtäuſchen. Das ruſſiſche, anglo⸗amerikaniſche und
deutſche Element war ſo ſtattlich vertreten, daß die Ausſtellung zunächſt
eine Überficht über die künſtleriſchen Ergebniſſe des in Paris arbeitenden
Auslandes darbot. — Die Ausſtellung der Société Nouvelle in Paris,
die einen engen Kreis der tüchtigſten Meiſter vereinigt, beherrſchten die
nervöſen, feinfühligen Bildniſſe und zarten, halb traumhaften Phantaſie⸗
geſtalten von Edmond Aman⸗Jean und eine lichterfüllte Abendſtimmung von
Paul Albert Besnard. Alles in allem bot ſich eine raffinierte und elegante,
aber dabei ziemlich temperamentloſe Geſamterſcheinung. — Der Salon
des Artistes Francais, der ſog. Große Salon, in dem Leon Bonnat
und Jules Lefebvre, Fernand Cormon und Albert Maignan, Ferdinand
Humbert und Francois Flameng mit ihren Ateliers und ihrem Schüler.
350 VII. Kunſt.
anhang herrſchen, wies diesmal merkwürdigerweiſe einige ſogar im Staats:
auftrag ausgeführte Gemälde modernſter Art auf: ein großes Panneau von
Henri Martin, das Anatole France mit ſeinen Jüngern in einem Olivenhain
darſtellt, und zwei zur Ausſchmückung der Sorbonne beſtimmte, groß gedachte
Allegorien von Clementine Dufan. Daneben überwogen freilich andere lang⸗
weilige „Staatsgemälde“. — Unter den Pariſer Ausſtellungen der Sommer⸗
ſaiſon war beſonders die im Musée des Arts Decoratifs organiſierte
Ausſtellung des Theaterweſens von Intereſſe. Weniger gelungen war
die von der Société Nationale des Beaux-Arts veranſtaltete retroſpektive
Porträtausſtellung in dem Schlößchen Bagatelle. Sehr lehrreich war,
daß die Société St-Jean in einer kleinen Ausſtellung die religiöſe
Malerei der Ingres⸗Schule in einer Reihe von Werken Henri Lehmanns,
J. Hippolyte Flandrins, L. F. Janmots, Chaffériaus, Anraurys, Duvals
und L. Victor Mottez' vorführte. Wie wenig kennt man doch den Ein⸗
fluß, den die deutſchen Nazarener auf dieſe feinempfindende Ingres ⸗Schule
ausgeübt haben! Bedeutungsvoll war auch die Pariſer Ausſtellung von
Paſtellen des 18. Jahrhunderts. Das Wirken der großen fran⸗
zöſiſchen Meiſter des Paſtells, Maurice Quentin de la Tour und J. -B.
Perroneau, ließ ſich in der Ausſtellung gebührend würdigen. — Der
Pariſer Salon d' Automne enthielt eine unzweideutige Bankrotterklärung
des ausartenden Impreſſionismus. Die Künſtlerſchaft, die das Erbe von
Manet, Monet, Renoir u. a. antrat, wußte mit dem Pfunde nicht zu
wuchern, und die Syntheſiſten Ganguin, van Gogh und Cézanne haben
Schüler und Nachfolger herangezogen — ich denke nur an Henri Matiſſe —,
die in dem kindlich oder beſſer kindiſch wirkenden Primitivismus, in der
Verhöhnung der Form, in der abgeſchmackteſten Deformation das Weſen der
modernen Malerei erblicken. Der diesjährige Salon enthält nun bedeutungs-
volle Zeichen, daß im Gegenſatz zu dieſen Perverſitäten die alte franzöſiſche
Tradition wieder belebt werden ſoll. So betont Maurice Denis, der ſich
mit in die Reihe der Schüler Ingres' ſtellt, aufs allerſtärkſte die lineare
Zeichnung, den Kontur. Der klaſſiſche Geiſt tritt nach einer Zeit der Über-
ſättigung mit primitiven, impreſſioniſtiſchen und ſyntheſiſtiſchen Verſuchen
wieder ſiegreich auf den Plan
Im Zeichen Hodlers ſtand die in Baſel abgehaltene IX. Nationale
Kunſtausſtellung der Schweiz, die 1055 Ausſtellungsobjekte um⸗
faßte. Der Hodlerſtil, der Hodlerrhythmus, die Hodlerſymbolik feierten hier
wahre Orgien. Daneben trat der Einfluß der Technik Segantinis hervor.
Zum Beſten der Ausſtellung gehörten die Gemälde von Albert Welti und
Wilhelm Balmer. Im allgemeinen gab die Ausſtellung ein ſehr erfreuliches
Geſamtbild ſchweizeriſchen Kunſtſchaffens auf allen Gebieten.
Unter den kunſtgewerblichen Ausſtellungen des Jahres 1908
verdient die Internationale kunſtgewerbliche Ausſtellung zu St Peter 3-
1. Bildende Kunſt. 351
burg, ein erſter Verſuch, beſondere Erwähnung. Leider war die ruſſiſche
Abteilung am wenigſten befriedigend ausgeſtaltet; die nationale Hausinduſtrie
fehlte faſt völlig. Die deutſche Abteilung bot namentlich harmoniſch zu⸗
ſammengeſtimmte Interieurs, auch die Keramik war gut vertreten. In der
reich beſchickten öſterreichiſchen Abteilung feſſelten beſonders ausgezeichnete
Imitationen antiker Möbel. Weitaus das Originellſte leiſteten die Schweden,
die in ihrer Wohnungskunſt Luxus mit praktiſchem Verſtändnis zu ver⸗
einigen wiſſen.
Unter den kunſtgeſchichtlichen Ausſtellungen war die Aus⸗
ſtellung älterer engliſcher Kunſtwerke in Berlin bemerkenswert. Neben den
Altmeiſtern Joſhua Reynolds und Thomas Gainsborough waren auch ihre
Epigonen, John Hoppner, George Romney, Henry Raeburn u. a., mit
Meiſterwerken aus Privatbeſitz vertreten. Die Ausſtellung war ein Er-
eignis im Berliner Kunſtleben.
Die Münchner Winterſezeſſion bot ebenfalls eine kunſtgeſchichtlich hod)
wichtige Ausftellung: fie galt dem Andenken Hans v. Markes' (1837—1887)
und brachte Offenbarungen und Überraſchungen. 170 zum großen Teil ſehr
umfangreiche Werke ließen die Entwicklung dieſes großen und wahren Meiſters
Schritt um Schritt verfolgen und bewieſen, daß WMtaréeB vor 35 Jahren
das {don erreicht hatte, was wir heute als ureigenſtes dekoratives Emp-
finden Ferd. Hodlers feiern.
Auf dem Gebiet der kunſtwiſſenſchaftlichen Forſchung war
im Berichtsjahr eine ungewöhnliche Geſchäftigkeit zu verzeichnen. Eine große
Reihe wichtiger Fragen iſt vor die Tageshelle der Unterſuchung gezogen
worden mit einem Ehrgeiz und Eifer, die von der ſtets wachſenden Ver⸗
tiefung der wiſſenſchaftlichen Ziele Zeugnis geben. Die neueſte kunſtwiſſen⸗
ſchaftliche Literatur ſtellt eigentlich eine Art Wettkampf dar, in dem die
wie Pilze aus dem Boden ſchießenden Kunſthiſtoriker ſich aufreiben. Faſt
möchte man meinen, auf dieſem Gebiete ſeien für die ſoziale Exiſtenz die
Ausſichten für den Kühnen und Unternehmenden beſſer als anderwärts —
aber dieſe Anſchauung iſt durchaus trügeriſch. Und drängt der Wettkampf
ſelbſt, in dem uns auffällige Leiſtungen imponieren, zu intenſiver Arbeits-
und Kraftentfaltung, ſo führt er doch auch in ſeinem Gefolge das Ruheloſe
und die Zerſtörungsluſt — nicht nur dem Widerſtandsloſen und dem Un⸗
haltbaren gegenüber. Das Kantſche „Habe Mut, dich deines eigenen Ver⸗
ſtandes zu bedienen“ ſoll die Berechtigung vorſchneller Umwertungen im
modernen Geiſte vertreten. Aber die Wahrheit wird weder durch auf⸗
tauchende neue Probleme noch durch den Subjektivismus, der nur ſein
Sehen gelten laſſen will, entthront werden. Gerade das Gebiet kunſtgeſchicht⸗
lichen Forſchens lockt wie ein Land, deſſen Quellen unverſiegbar find, weil
zähe Kraft und Beharrlichkeit im Schaffen auf eigene Art immer Befriedi⸗
gung verheißen, mag der ſchließliche wiſſenſchaftliche Erfolg auch ausfallen,
352 VII. Kunſt.
wie er wolle. Jedenfalls können wir uns deſſen freuen. Es regt ſich an
allen Ecken, überall ſpürt man neues Leben. Neben dem Ichkultus, der ſich
das wiſſenſchaftliche Problem nur zum Vorwand für glänzende Deduktionen
wählt, neben der Spekulation und aprioriſtiſchen Abſtraktion fteht das
ernſte Ringen nach einer ſichern, Erfolge verheißenden kunſtwiſſenſchaftlichen
Methode. Dabei läßt ſich aber auch nicht verkennen, daß unter den Mo⸗
menten, die einer ſo jugendlichen Wiſſenſchaft ſo überaus ſchnell Achtung
und Geltung verſchafften, nicht allein die Anerkennung ihres geiſtigen Wertes
figuriert, ſondern auch die Wahrnehmung, daß man aus der Anwendung
derſelben auf das Leben große Vorteile ziehen könne. Die praktiſche Kunſt⸗
wiſſenſchaft leiſtet das jetzt wirklich, was man früher vergeblich erſtrebte,
ſie hilft unbeachtete Werte erkennen und ſchätzen, ſie verwandelt oft Gering⸗
geſchätztes in edles Gold, fie rettet Bedrohtes. Und fie wird als ein not-
wendiges Glied in der Kette der formalen Bildungsmittel täglich mehr und
gern und willig anerkannt.
Der antiquariſche und philoſophiſche Betrieb der Kunſtwiſſenſchaft wird
immer beſtehen, auch wenn er für die lebendige Kunſt entbehrlich ſein ſollte.
Aber neben ihm gilt es noch etwas anderes zu fördern: die Kunſtforſchung,
namentlich auf dem Gebiete der Malerei. Ich meine das Studium des Mal.
verfahrens, zu dem uns die wiſſenſchaftliche Chemie den Schlüſſel bietet. Das
Werk von A. K. Church, „Farben und Malerei“ (überſetzt von M. u. W. Oſt⸗
wald. München, Callwey), iſt ein grundlegendes Handbuch, von zwei Che⸗
mikern mit kunſthiſtoriſchen Intereſſen bearbeitet, das jedem Kunſtforſcher treff-
liche Dienſte leiſten wird. Von Cennino Cennini und Theophilus Presbyter
bis auf Knirim und Berger iſt eine ſtattliche Literatur zur Ergründung der
Geheimniſſe der Maltechnik der Alten angewachſen. Den Ruhm aber, in
chemiſchen Forſchungen ein neues Feld mit erhabenen Idealen eröffnet zu
haben, teilt nun England mit Deutſchland. — Während die Chemie auch
in der Kunſt uns hilft, die kleinſten Veränderungen in der Körperwelt der
Farben nachzuweiſen, fördern ſcharfſinnige Spekulationen, die aus dem
Boden wohlbegründeter Tatſachen emporwachſen, die geiſtige Einſicht in
das Kunſtſchaffen in erſtaunlicher Weiſe. Zu dieſen Forſchungen gehört
Wilhelm Worringers geiſtvolle Arbeit über „Abſtraktion und Ein⸗
fühlung“ (München, Piper u. Co.). Auf breiteſter kunſtgeſchichtlicher Grund⸗
lage bauen ſich Berthold Haendckes „Kunſtanalyſen aus neunzehn Jahr⸗
hunderten“ (Braunſchweig, Weſtermann) auf, die eine Handhabe zum Ein-
dringen in das Weſen der Kunſtwerke bieten wollen, manchmal etwas zu
breitwürfig, aber dabei doch nicht flachgründig und unſicher. Wie Haendckes
Handbuch verfolgt auch Karl Volls Werk „Vergleichende Gemäldeſtudien“
(München, Müller) ausgeſprochen pädagogiſche Zwecke. Ohne den wiſſen⸗
ſchaftlichen Wert des Buches, das dazu beſtimmt iſt, das Beobachtungs. und
Urteilsvermögen ſyſtematiſch zu ſchärfen, antaſten zu wollen, erſcheint mir die
1. Bildende Kunſt. 353
Methode, die Voll vertritt, ungeeignet zur Einführung in das Kunſtverſtändnis,
inſofern wir unter „Kunſtverſtändnis“ nicht ein übergeworfenes gleißendes
Gewand, ſondern die über der Kunſtgelehrſamkeit ſtehende Erhöhung und
Vertiefung des Geiſtes verſtehen. Umfangreicher als die beiden genannten
Werke iſt Ant. Kiſas Buch „Die Kunſt der Jahrhunderte. Bilder aus der
Kunſtgeſchichte“ (Stuttgart, Spemann). Die einzelnen Aufſätze behandeln
in volkstümlicher Sprache wichtige künſtleriſche Probleme. Aller gelehrte
Apparat iſt ausgeſchaltet, aber man fühlt nicht nur, daß ſich Kiſa in der
geſamten in Betracht kommenden Literatur umgeſehen, ſondern daß er auch
manchen Bauſtein ſeines anſpruchsloſen Werkes ſelbſt zugerichtet hat.
Die eigentliche kunſtwiſſenſchaftliche Forſchung hat zunächſt einige bedeut-
ſame Fortſchritte auf dem Gebiete der mittelalterlichen Miniaturmalerei zu
verzeichnen. Joſeph Strzygowski behandelte in meiſterhafter Weiſe
„Kleinarmeniſche Miniaturmalerei. Die Miniaturen des Tübinger Evan⸗
geliars MA XIII, 1 vom Jahre 1113 bzw. 893 n. Chr.“ (Veröffentl.
der Kgl. Univerſitätsbibliothek in Tübingen); Georg Swarzenski bietet
unter dem Titel „Die Salzburger Malerei von den erſten Anfängen bis zur
Blütezeit des romaniſchen Stils“ (Leipzig, Hierſemann) einen hochintereſſanten
Tafelband mit einem Inhaltsverzeichnis, das über 56 Handſchriften eine
vorläufige Auskunft in knappſter Form gibt. Nach Erſcheinen des Textbandes
wird uns die „Salzburger Malerei“ eingehender zu beſchäftigen haben, doch
ſei ſchon an dieſer Stelle hervorgehoben, daß mit dieſem Werk ein wertvolles
Gebiet der mittelalterlichen Kunſtgeſchichte, auf dem bisher viel Verwirrung
herrſchte, in unanfechtbarer Weiſe erſchloſſen iſt. — Die Kunſtgeſchichte des
Mittelalters findet außerdem durch Max Kemmerichs unermüdliches
Schaffen eine gewichtige Bereicherung in dem trefflich ausgeſtatteten Buche
über „Die frühmittelalterliche Porträtplaſtik in Deutſchland bis zum Ende
des 13. Jahrhunderts“ (Leipzig, Klinkhardt u. Biermann). Der Verfaſſer
kommt zu dem Ergebnis, daß bereits das frühe Mittelalter die Fähigkeit
beſaß, beſtimmte Perſönlichkeiten in ihrer leiblichen Individualität wieder⸗
zugeben. Das Material, das der Forſchung zur Grundlage diente, iſt
zwar ein ungemein reiches (Münzen und Medaillen, Siegel und Treib⸗
arbeiten, Elfenbeinſchnitzereien, Holz. und Steinplaſtik find herangezogen),
aber erſchöpfend iſt es trotzdem nicht und kann es nach der Natur der
Sache auch nicht ſein. Von einem andern Geſichtspunkt aus hat Wilhelm
Waetzoldt ſein Buch über „Die Kunſt des Porträts“ (Leipzig, Hirt u. Sohn)
geſchrieben: eine geiſtvolle äſthetiſche Unterſuchung, die ſich auf dem Grenz ⸗
gebiet zwiſchen Pſychologie und Kunſtgeſchichte bewegt, und zwar mit gleicher
Sicherheit auf beiden Gebieten. — Die bahnbrechende Kleinarbeit, Spezial-
arbeiten auf mittelalterlichem Gebiete traten im Berichtsjahr verhältnismäßig
etwas zurück oder beſchränkten ſich auf mehr oder minder umfangreiche Auf⸗
ſätze, die in den Fachzeitſchriften publiziert wurden. Eine tüchtige Unter⸗
Jahrbuch der Zeit⸗ und Kulturgeſchichte. II. 23
354 VII. Kunſt.
ſuchung des norddeutſchen Bronzeguſſes in gotiſcher Zeit verdanken wir
Albert Mundts Buch über „Die Erztaufen Norddeutſchlands von der
Mitte des 13. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts“ (Leipzig, Klinkhardt
u. Biermann). Feinſinnig faßt Auguſt Schmarsow in den „Monats⸗
heften für Kunſtwiſſenſchaft“ (I 387) feine Forſchungsergebniſſe „Über die
karolingiſchen Wandmalereien zu Münſter und Graubünden“ zuſammen.
Eine ſehr verſtändige Kritik von Franz Wickhoffs Darſtellung der
ſpätantiken Kunſtgeſchichte in ſeiner Einleitung zur Wiener Geneſis bietet
Joſ. Poppelreuter in ſeinem klar und durchſichtig geſchriebenen Büch⸗
lein über die „Kritik der Wiener Geneſis“ (Köln, Du Mont ⸗Schauberg).
Er wendet ſich gegen die einſt von Wickhoff mit Geiſt und Feuer vertretene
Anſchauung, daß in der abſteigenden römiſchen Kunſt die abendländiſch⸗
lateiniſche illuſioniſtiſche Kunſt im Gegenſatz zur griechiſchen Typenkunſt
in die Weltgeſchichte eintrete.
Die mittelalterliche Architektur fand wertvolle Förderung in zahlreichen
Aufſätzen; ich erwähne nur den Artikel E. v. Sommerfelds über „Den
Weſtbau der Palaſtkapelle Karls d. Gr. in Aachen und ſeine Einwirkung auf
den romaniſchen Turmbau in Deutſchland“ im „Repertorium für Kunſtwiſſen⸗
ſchaft“ (31. Jahrg., Hft 4) und die Arbeit von Fr. Traugott Schulz
über die „Rundkapelle zu Altenfurt bei Nürnberg“ (Straßburg, Heitz). Von
beſonderem Werte find des Straßburger Münſterbaumeiſters J. Knauth
Beweisführungen von der Exiſtenz feſter Proportionsgeſetze im Gebiet der
Baukunſt. Knauth hat in ſeiner Schrift „Das Straßburger Münſter und
die Cheopspyramide“ (Straßburg, Vomhoff) die Ergebniſſe ſeiner Unter⸗
ſuchungen (ſpeziell vom Langhaus) des Straßburger Münſters dahin zu⸗
ſammengefaßt: die ſämtlichen charakteriſtiſchen architektoniſchen Punkte ſind
nach beſtimmten geometriſchen Verhältniſſen verteilt, und zwar zeigen die
verſchiedenen Projektionen ſtets das Zurückgehen auf dieſelbe einfache geo⸗
metriſche Grundform. Dieſe Grundform iſt in ihrem Prinzip das Quadrat
mit dem eingezeichneten Dreieck. Knauth ſucht zu beweiſen, daß mit Hilfe
dieſer Grundfigur ſich nach gewiſſen Regeln die Abmeſſungen der ſämtlichen
Einzelheiten ermitteln laſſen.
Wie in früheren Jahren konzentrierte ſich auch 1908 die höchſte Kraft
der kunſtwiſſenſchaftlichen Forſchung auf das unerſchöpfliche Gebiet der ita⸗
lieniſchen Kunſt. Ein neues Handbuch ganz eigener Arbeit hat Fritz
Knapp in ſeinem Werk „Die Kunſt in Italien“ (Berlin, Stoedtner) geſchaffen:
es enthält Vorleſungen zu den Stoedtnerſchen Diapoſitiven, und zwar in ſehr
inſtruktiver und gefälliger Form. — Ein meiſterhaftes Handbuch für die
italieniſche Hochrenaiſſance beſitzen wir jetzt in dem abſchließenden (II.) Band
von F. K. Kraus, „Geſchichte der chriſtlichen Kunſt“ (Freiburg, Herder), der
von Joſeph Sauer bearbeitet iſt. Ich ſtehe nicht an, die ſtreng methodiſche
Forſcherarbeit Sauers mindeſtens ſo hoch zu werten wie die ſubjektive Art
1. Bildende Kunſt. 355
des geiftreichen Altmeiſters Kraus. In manchen Kapiteln hat Sauer Muſter⸗
gültiges namentlich in Bezug auf Klarlegung des Inhaltlichen der künſtleriſchen
Probleme gegeben. Der Standpunkt des forſchenden Theologen iſt niemals
verlaſſen; ein gediegenes theologiſches Wiſſen bildet die feſte Grundlage der
kunſtwiſſenſchaftlichen Erklärungen. Sauer iſt es gelungen, die große Kunſt
einer tieferregten Zeit aus religiöſen und politiſchen Entwicklungszuſtänden
zu erklären. Mit wahrhaft plaſtiſcher Kraft ſind die Geſtalten eines Leonardo,
Michelangelo und Raffael herausgearbeitet. Die ſchwierigſten Fragen, die
ſich an die Entſtehung und Entwicklung ihrer monumentalen Schöpfungen
knüpfen, find mit feinſinnigſter hiſtoriſcher und pſychologiſcher Würdigung
behandelt.
Es iſt nicht zu viel geſagt, wenn behauptet wird, daß in den letzten
Jahren dem Genie Michelangelos wahre Hekatomben dargebracht wurden in
Geſtalt dickleibiger Folianten. Karl Frey hat uns eine ausführliche Bio⸗
graphie des unſterblichen Florentiners geboten (Berlin, Curtius), die als
Ertrag eines dem Helden gewidmeten Lebens die kritiſche Behandlung aller
hiſtoriſch⸗biographiſchen Einzelheiten ebenſo ſorgfältig in Angriff genommen
hat als die Analyſe der künſtleriſchen Wirkſamkeit. Dann hat Hans
Mackowsky einen „Michelagniolo“ erſcheinen laſſen (Berlin, Marquardt
u. Co.), der nichts anderes ſein will als eine rein kunſthiſtoriſche Dar⸗
legung — entſchieden ein nützliches und anregendes Buch, aber doch nicht
tiefgründig genug, um uns ein Kulturphänomen von weltgeſchichtlicher
Bedeutung zu entſchleiern. Einen mindeſtens ebenſo wertvollen Beitrag hat
der gründliche Dante⸗Forſcher K. Borinski in ſeinem Buche „Die Rätſel
Michelangelos“ (München, Müller) gegeben, das Michelangelo als Literaten,
den Platonismus im Rinaſcimento, die Antike und Polizian, L. B. Alberti,
die Grabdenkmäler, die Decke und das Altargemälde der Sixtina behandelt,
einem der gelungenſten Verſuche, die Weſenstiefen Michelangelos in klare
Beziehung zur Gedankenwelt ſeiner Zeitgenoſſen zu bringen. In einem
feſſelnden Dialog bringt E. Steinmann unter dem Titel „Das Geheimnis
des Meiſters“ in der „Deutſchen Rundſchau“ (Juliheft) neue, ſehr merk.
würdige Beiträge zu ſeinem vielumſtrittenen Buch „Das Geheimnis der
Medici⸗Gräber Michelangelos“, in vielen Fällen ſich ſelbſt berichtigend,
doch an ſeiner Deutung der Allegorien feſthaltend. Leſenswert iſt auch
die Arbeit Ad. Gottſchewskis „Zu Michelagniolos Schaffensprozeß“ in
den „Monatsheften für Kunſtwiſſenſchaft“ (Hft 10).
Leonardo ſtand im abgelaufenen Jahre mehr im Zeichen der praktiſchen
Kunſtwiſſenſchaft als der Forſchertätigkeit. Dem ſtaunenswerten Fleiße
und der Sachkenntnis Luigi Cavennaghis, der an der Reſtaurierung des
zerſtörten, faſt ſchon verloren geglaubten Abendmahles im Refektorium des
Kloſters S. Maria delle Grazie in Mailand arbeitete, iſt es gelungen,
das Werk der Vernichtung zu entreißen. Aus Anlaß der über Erwarten
23°
356 VII. Kunſt.
glücklich vollendeten Reſtauration des Gemäldes hat L. Beltrami eine
Schrift erſcheinen laſſen: II Cenacolo di Leonardo (Mailand), in der
er die Entſtehungsgeſchichte des Abendmahls, ſeinen Verfall und die Ver⸗
ſuche, es wiederherzuſtellen, eingehend beleuchtet. Cavennaghi ſelbſt beſchreibt
in dem Büchlein die techniſchen Mittel, deren er ſich bei der Reſtauration
bediente. Am wertvollſten iſt die Feſtſtellung, daß Leonardo das Gemälde
nicht, wie man annahm, in Olfarben, ſondern in Tempera malte. Als
Grundprinzip der Reſtaurierung konſtatierte er die vollſtändige Säuberung
des Bildes ſowie die Reſtituierung der abgebröckelten Mauerteilchen. Jeden⸗
falls bediente ſich Cavennaghi auch der Reſultate der kunſtwiſſenſchaftlichen
Forſchung bei ſeiner unſäglich mühſamen Arbeit mit größtem Erfolge. —
Die Leonardo ⸗Forſchung beſitzt in der Raccolta Vinciana eine von Beltrami
geſchaffene Zentralſtelle, die die Aufgabe hat, ſämtliche Publikationen über
Leonardo zu ſammeln. Sie gibt auch ein Bollettino heraus, das neben biblio-
graphiſchen Notizen ſelbſtändige Forſchungen geringeren Umfangs enthält.
Die Raffael⸗Forſchung leidet zurzeit unter einer zum guten Ton ge
hörenden Antipathie gegen den Univerſalkünſtler Raffael. Das einzige Buch,
das ſich mit ihm beſchäftigt, iſt Th. Hofmanns Arbeit über die „Villa
Madama zu Rom“ (Leipzig, Gilbers), die, in zweiter Auflage, als erſter
Band einer Serie „Raffael in ſeiner Bedeutung als Architekt“ erſchienen
iſt. Dieſe Arbeit, eine Staats⸗Semper⸗Preisaufgabe, behandelt den wich⸗
tigſten und reizvollſten Bau des Meiſters, der leider dem Untergang geweiht
zu ſein ſcheint, präzis und klar im Texte. Die größere Bedeutung des
Buches liegt aber in dem Tafelwerk, das das Objekt geradezu erſchöpft.
Die Villenſorſchung feſſelt überhaupt heute mehr denn je. So ijt auch
Bernh. Patzak mit einem großangelegten Werk über die Renaiſſance ⸗ und
Barockvilla beſchäftigt, von dem bisher der dritte Band erſchienen iſt: „Die
Villa Imperiale in Peſaro“ (Leipzig, Klinkhardt u. Biermann). Eine Ar⸗
beit, in der ein ganz gewaltiges Material hiſtoriſchen, kultur und kunſt⸗
hiſtoriſchen Charakters aufgehäuft iſt. Für die Geſchichte des Villenbaues
und der dekorativen Malerei — Girolamo Genga, Francesco Menzocchi,
Raffaellino dal Colle, Bronzino, die beiden Doſſi und Camillo Mantovano
finden ihre Würdigung — iſt die ſorgfältige Arbeit ein wichtiger Bauſtein. —
Die Florentiner Trecento-Malerei hat uns Os v. Sirén mit feinem gründ⸗
lichen und feinſinnigen Buch über „Giottino und ſeine Stellung in der
gleichzeitigen florentiniſchen Malerei“ (ebd.) nähergebracht.
Von italieniſcher Seite iſt dem Meiſter der Bronzetüren von St Peter
eine koſtbare Publikation gewidmet worden: Mich. Lazzaroni und Ant.
Munoz haben fid) zu einem Werk über Antonio Avertino Filarete (Rom,
W. Modes) vereinigt. Die Veranlaſſung zur Veröffentlichung gab wohl der
Fund einer dem Filarete zugeſchriebenen Bronzebüſte des Griechenkaiſers
Joh. Paläologos. Das Buch iſt im übrigen nicht gerade nennenswert reich
1. Bildende Kunſt. 357
an ſelbſtändigen Forſchungsergebniſſen. — Die Monographie über Sebaſtiano
del Piombo von Giorgio Bernadini (Bergamo, Istituto italiano
d’arti grafiche) enthält wichtiges Material für die Beurteilung der Per:
ſönlichkeit des venezianiſchen Meiſters, ohne jedoch die ſchwierigſten Fragen
ſeiner künſtleriſchen Entwicklung ihrer Löſung näher zu bringen. Scharfſinn
und feſſelnde Darſtellungsgabe hat Ludw. Juſti in ſeinem grundlegenden
Buche über „Giorgione“ (Berlin, Bard) bewieſen, das die bisher nur un⸗
klar geſchaute Geſtalt des bahnbrechenden Venezianers in ſichern Umriſſen
zeichnet.
Eine ungeheure Wolke kunſthiſtoriſchen Staubes iſt durch den Streit
um die ſtark übermalten Imperatorenbilder in der Münchner Reſidenz auf-
gewirbelt worden. In einem längeren Aufſatze der „Zeitſchrift für bildende
Kunſt“ (43. Jahrg., Hft 5) hat Kunſtmaler M. Wielandt mit einem
beachtenswerten Aufgebot von archivaliſchen Nachweiſen dieſe Bilder mit
Originalen Tizians identifizieren wollen. Gegen Wielandt erhob ſich zunächſt
H. Buchheit in der „Beilage zur Allgem. Zeitung“ (Nr 26), indem er
darauf hinwies, daß die Münchner Inventare ſchon von dieſen Bildern
ſprechen, als die Tizianſchen Originale noch unverrückt im Palaſt von
Mantua hingen. An der weiteren Erörterung der Frage beteiligten ſich
u. a. lebhaft G. Habich (Monatshefte für Kunſtwiſſenſchaft Hft 3), der
daran feſthielt, daß die „Bilder der Münchner Reſidenz von den verſchollenen
Imperatorenbildern des Tizian derzeit ſowohl in Kompoſition wie in Farbe
die relativ beſte Vorſtellung geben“, und G. Gronau (Münchner Jahrbuch
der bildenden Kunſt, I. Halbband 1908), der Wielandts hiſtoriſche Nachweiſe
nachprüfte und fand, daß die Originale aus Mantua ſich bis 1686 als in
Alcazar vorhanden feſtſtellen laſſen. Ohne Zweifel find die Imperatoren⸗
bilder durch Tizian beeinflußt und noch im 16. Jahrhundert entſtanden.
Für eigentliche Kopien halte ich ſie nicht. Der Streit war inſofern
charakteriſtiſch, als die meiſten Kunſtgelehrten den künſtleriſchen Wert der
Bilder verneinten, während die Mehrzahl der um ihr Urteil angerufenen
Künſtler erklärte, die Imperatorenbilder ſeien Originale eines erſtklaſſigen
Meiſters.
Die Barockkunſt Italiens iſt mehrfach behandelt worden. In dem
Nachlaß Alois Riegls fand ſich ein Kollegienheft über „Die Entſtehung
der Barockkunſt in Rom“, das von A. Burda und M. Dvokäk herausgegeben
wurde (Wien, Schroll u. Co.). Die geiſtvolle Behandlung der römiſchen
Barockkunſt in ſkizzenhafter Form wird ohne Zweifel im ſtande ſein, zur
Klärung der verworrenen Anſichten über das Problem der Barockkunſt bei-
zutragen. Der geniale Bernini findet in Riegls Arbeit eine ſehr eingehende
und gerechte, den eigenſten, innerſten Kern des Weſens des Meiſters bloß⸗
legende Würdigung, ſo daß Fr. Pollak in ſeinem Buche über „Lorenzo
Bernini“ (Stuttgart, Hoffmann) keinen ganz leichten Stand hat, dem Schick⸗
358 VII. Kunſt.
ſale des Dombaumeiſters von St Peter in Rom, der ſelbſt trotz Fraschettis
Monographie falſch beurteilt wurde, neue Lichtſeiten abzugewinnen. Eine
zuſammenfaſſende, ausgereifte Darſtellung der Barockkunſt bietet endlich das
in dritter Auflage erſchienene Werk von Heinr. Wölfflin „Renaiſſance und
Barock“ (München, Bruckmann), meines Erachtens das weitaus Klarſte und
Zuverläſſigſte, was über die geſchichtliche Entwicklung des Barockſtils ge-
ſchrieben wurde.
Mit Eifer und Begeiſterung hat man ſich in den jüngſten Jahren der
Erforſchung der ſpaniſchen Kunſt angenommen. E. Serrano Fatigati
hat eine, wenn auch nicht erſchöpfende, ſo doch gewiß grundlegende Arbeit
über Portadas artisticas de monumentos espanoles (Madrid) veröffentlicht,
in der namentlich der orientaliſche Einfluß auf die ſpaniſche Portalplaſtik
betont wird. Die Reſtaurierungsarbeiten an der Alhambra haben wertvolle
intereſſante Veröffentlichungen, namentlich von Ernſt Kühnel in den
„Monatsheften für Kunſtwiſſenſchaft“ (Hft 3 u. 4) veranlaßt. In dem
ſog. Frauenturm (Torre de las Damas) wurden höchſt intereſſante mauriſche
Wandmalereien aufgedeckt, die als die einzigen erhaltenen figürlichen Malereien
mauriſcher Künſtler erſcheinen; denn die Deckenmalereien in der Sala de
Justicia find von chriſtlichen, in Italien geſchulten Künſtlern ausgeführt. —
Die verſchiedenen Phaſen der ſpaniſchen Kunſtgeſchichte, in der italieniſche,
flandriſche und deutſche Künſtler keine geringe Rolle ſpielen, ſchildert in
tiefeindringender Art Karl Juſti in feinem zweibändigen Werk „Miszel⸗
laneen aus drei Jahrhunderten ſpaniſchen Kunſtlebens“ (Berlin, Grote),
welches das Fundament für eine Geſchichte der ſpaniſchen Renaiſſance bleiben
wird, ſoviel auch an wichtigem Material noch zu Tage gefördert werden
mag. Mit den Hauptvertretern der Valenzianer Schule, Ribalta und Ribera,
beſchäftigt ſich Aug. L. Mayers Werk über „Juſepe de Ribera (lo Spa-
gnoletto)“ (Leipzig, Hierſemann), in dem der Vorzug einer tüchtigen Monu⸗
mentenkenntnis über mancherlei Bombaſtiſches, Gewagtes und Unhaltbares
hinwegſehen läßt. Otto Schubert hat eine „Geſchichte des Barock in
Spanien“ (Eßlingen, Neff) geſchrieben, die eine bisher ſchwer empfundene
Lücke in der Geſchichte der Baukunſt trefflich ausfüllt. Wenn es auch vielleicht
zu weit gegangen war, als man annahm, Schuberts Werk enthalte die größte
„Entdeckung“, die auf kunſtgeſchichtlichem Boden ſeit langem gemacht worden
ſei, ſo kann doch der Autor mit Fug und Recht für ſich das hohe Verdienſt
in Anſpruch nehmen, viel neues wiſſenſchaftliches Material nicht nur bei⸗
gebracht, ſondern auch in anſprechendſter Form verarbeitet zu haben.
Die nordiſche Kunſt beſitzt einige Lieblingsgebiete, die mit beſonderer
Energie erforſcht werden: niederländiſche Malerei und deutſche Kunſt des
15. und 16. Jahrhunderts. Zunächſt ſei die trefflich ausgeſtattete Publi⸗
kation von Karl Künſtle „Die Legende der drei Lebenden und der drei
Toten und der Totentanz“ (Freiburg, Herder) erwähnt. Künſtle hat ſich
1. Bildende Kunſt. 359
mit dieſem überaus fleißigen Werk ein dreifaches Verdienſt erworben: er
beſpricht in durchaus ſelbſtändiger Weiſe die neueren Gemäldefunde in
Kirchen des badiſchen Oberlandes, behandelt dann gründlichſt die Jakobs⸗
legende und ihre Darſtellungen wie die Legende von den drei Lebenden und
den drei Toten, um ſchließlich das Problem des ſich aus der Legende ent-
wickelnden Totentanzes zum Gegenſtand einer Unterſuchung zu machen, die
der Entſtehung der verſchiedenen Motive (Reigen, Todesprozeſſion, Muſik
und Tanz) mit wiſſenſchaftlicher Gründlichkeit nachgeht und beſonders hervor⸗
hebt, daß der Urtotentanz, d. h. die Legende der drei Lebenden und der
drei Toten, dem Abendland aus der arabiſchen Literatur zukam.
Seit dem Erſcheinen von H. Thodes „Malerſchule von Nürnberg“ (1891)
hat die Erforſchung der frühen Nürnberger Malerei wenige Fortſchritte zu
verzeichnen. Für die Geſchichte derſelben bietet nun Karl Gebhardts
Arbeit über „Die Anfänge der Tafelmalerei in Nürnberg“ (Straßburg, Heitz)
zunächſt — dank ſeiner Stilkritik mit Urkundenbenützung vereinenden Me⸗
thode — eine ſichere chronologiſche Grundlage, aber auch eine Anzahl fein⸗
ſinniger Stilunterſcheidungen; ein Kabinettſtück vorſichtiger und dabei über⸗
zeugender Unterſuchung iſt das Kapitel über den Meiſter des Bamberger
Altars. Neu iſt die Annahme, daß die erſte Periode der Nürnberger Malerei
unter dem Zeichen Oberitaliens ſteht.
Die Alt⸗Kölner Malerſchule erfuhr eine gründliche Reviſion, die ſie aber
wieder in die bedrohte führende Stellung in der Geſchichte der Malerei des
14. Jahrhunderts einſetzt. Paul Clemen hat in der „Kunſtchronik“
(20. Jahrg., Nr 9) über das merkwürdige Schickſal des „Clarenaltars im
Kölner Dom“ berichtet. Die Altarflügel hatten bisher der Kunſtforſchung
manche Rätſel aufgegeben und wegen der Verſchiedenheit ihrer Behandlungs⸗
weiſe den Schluß nahegelegt, daß mehrere Hände an dieſem großen Werke
tätig geweſen wären. Unter der Hand des Reſtaurators ſtellte ſich nun
heraus, daß grobe neue Übermalungen das ganze Bild entſtellten. Unter dem
alten Firnis ſtieß man auf Geſtalten von weit ſtrengerem, echt gotiſchem
Duktus der Umrißführung. Für dieſes große Altarwerk, das den Stil der
reifen Kölner Gotik um 1370 zeigt, kommt nun nur noch der Name des
Meiſters Wilhelm in Betracht, von dem auch die Prophetenköpfe aus dem
Hanſaſaal des Rathauſes herzurühren ſcheinen. Über weitere ſehr berechtigte
Anzweiflungen der Echtheit berühmter Kölner Bilder wird der künftige Be⸗
richt Näheres melden.
Die Dürer⸗Literatur wurde vermehrt von Ernſt Heidrich, der „Albrecht
Dürers ſchriftlichen Nachlaß“ (Berlin, Bard) wiederum zuſammenſtellte und
kommentierte, und zwar in einer ſehr geſchmackvoll ausgeſtatteten handlichen
Ausgabe, die in Liebhaberkreiſen den verdienten Beifall finden wird; dann
durch die zweite Auflage von Heinr. Wölfflins geiſtvollem Buch „Die
Kunſt Albrecht Dürers“ (München, Bruckmann). Über die Quellen zu den
360 VII. Kunſt.
phantaſtiſchen Randgloſſen Dürers im Gebetbuch Maximilians hat Karl
Giehlow in der Berliner kunſtgeſchichtlichen Geſellſchaft vom 8. Mai ein-
gehende Darlegungen gegeben. — In Kurt Glaſers Monographie „Hans
Holbeins des Alteren“ (Leipzig, Hierſemann) fand die intereſſante Geſtalt
dieſes Meiſters eine eingehende, wohl aber kaum völlig befriedigende Würdi⸗
gung. — Das Cranach⸗Problem wurde von zwei Seiten kräftig, doch grund⸗
verſchieden voneinander, angefaßt: von W. Worringer, „Lukas Cranach“
Klaſſiſche Illuſtratoren. München, Piper u. Co.), und Ed. Heyck, „Lukas
Cranach“ (Künſtlermonographien. Bielefeld, Velhagen u. Klaſing). Wor⸗
ringer verzichtet darauf, uns durch die vielverſchlungenen Wege der modernen
Cranach ⸗Forſchung hindurchzuführen, er faßt vielmehr den Meiſter als den
Typus des heraufkommenden Bürgers des 16. Jahrhunderts und ſeine Kunſt
als den vollkommenen Geſinnungsausdruck der aus der Erſtarrung der Re⸗
formationsbewegung hervorgegangenen bürgerlichen Kultur. Im Gegenſatz
zu dieſer manchmal nur zu geiſtvollen Erfaſſung des Kollektivbegriffes
Cranach geht Heyck auf die ganze Entwicklungsgeſchichte des fränkiſchen
Meiſters liebevoll ein und nimmt zu den verſchiedenen Streitfragen vorſichtig,
aber in unverkennbar kritiſcher Beherrſchung der geſamten monumentalen
und literariſchen Quellen Stellung. Ein reiches, faſt erſchöpfend zu nennendes
Abbildungsmaterial begleitet die lehrreichen Ausführungen Heycks. „Die
Kleinmeiſter“, aber nur die Kupferſtecher, behandelt H. W. Singer in
einem andern Bande der „Künſtlermonographien“.
Zur vernachläſſigten Geſchichte der deutſchen Bildnerei hat Ph. M. Halm,
dem wir auch tüchtige Unterſuchungen über M. Kreniß und Jörg Gartner
verdanken, einen weiteren grundlegenden Bauſtein geliefert in ſeinem ſchönen
Buche über „Stephan Rottaler, ein Bildhauer der Frührenaiſſance in Alt⸗
bayern“ (München, Callwey). Das umfangreiche Material iſt mit ſcharfem
Blicke geſammelt und geſichtet, aber auch mit wiſſenſchaftlicher Sorgfalt
verarbeitet. — „Zur Flötnerfrage“ hat Karl Domanig in der „Numis⸗
matiſchen Zeitſchrift“ (Neue Folge, I. Bd) das Wort ergriffen und trotz
der Einwendungen von Hampe, Menadier und G. v. Bezold an dem
„großen Konterfetter“ (Medailleur) Flötner mit beweiskräftigen Argumenten
energiſch feſtgehalten.
Einen ſehr verdienſtlichen Beitrag zur Geſchichte der Spätrenaiſſance in
Süddeutſchland bietet Georg Lill mit ſeinem Buche „Hans Fugger
(1531-1598) und die Kunſt“ (Leipzig, Duncker u. Humblot). Aus emſigen
Urkundenſtudien herausgewachſen, gibt das gewiſſenhaft gearbeitete Buch,
das ſich aller Überſchwenglichkeiten enthält, die kunſtgeſchichtliche Würdigung
eines ſtilkritiſch verarbeiteten, neuen Denkmälervorrates, der die Kunftpflege
des Hauſes Fugger in hellem Glanze erſtrahlen läßt. — Die Renaiſſance⸗
architektur Schleſiens und Mecklenburgs fand eine wertvolle Bearbeitung
in Aug. Hahrs Monographie über „Die Architektenfamilie Pahr“ (Straß⸗
1. Bildende Kunſt. 361
burg, Heitz). Dem Meiſter, der dem Stadtbild Augsburgs ſein Gepräge
gegeben hat, ſucht Jul. Baums in gleichem Verlag erſchienene mono-
graphiſche Darſtellung über „Die Bauwerke des Elias Holl“, die reiches
urkundliches Material beibringt, gerecht zu werden. (Über Joſ. Brauns 8. J.
„Kirchenbauten der deutſchen Jeſuiten“ iſt bereits S. 156 berichtet.)
Den wohlgemeinten, aber in ſeinen Mitteln völlig unzureichenden und
deshalb niedergehenden akademiſchen Kunſtbetrieb im 17. bis 19. Jahr-
hundert in Nürnberg ſchildert auf Grund der Archivalien Georg Schrötter
in ſeiner Abhandlung über „Die Nürnberger Malerakademie und Zeichen⸗
ſchule“ (Würzburg, Stürtz). Weitaus erquicklicher iſt die Schilderung, die
Franz Landsberger von einem Künſtlerleben des 18. Jahrhunderts
entwirft: „Wilhelm Tiſchbein“ (Leipzig, Klinkhardt u. Biermann). Freilich
iſt auch Tiſchbein ebenſowenig wie die Nürnberger Preisler eine ausge-
ſprochene Künſtlerindividualität, aber ſeine intimen Beziehungen zu Goethe
haben ihm doch einen gewiſſen Nimbus verliehen. Beachtung verdient auch
die Monographie über den klaſſiziſtiſch empfindenden Barockmaler „Joſ. Schöpf
1745—1822“, die wir Heinr. Hammer (Innsbruck, Wagner) verdanken.
Die Kunſtgeſchichte des 19. Jahrhunderts iſt durch einige Künſtlerbücher
bereichert worden. Zunächſt durch ein zweibändiges Werk von A. Roeßler
und G. Pisko über den Wiener Maler „Ferdinand Georg Waldmüller“
(Wien, Graeſer). Eine Biographie von Julius Mayr über „Wilhelm
Leibl“ (Berlin, Caſſirer) ſtellt pietätvoll alles zuſammen, was an Lebens⸗
dokumenten über den ſtarken und in ſeiner Richtung ſo merkwürdig klaren
und lebendigen Einſiedler von Aiblingen verfügbar iſt. Dann hat Hans
Thoma unter dem Titel „Im Herbſte des Lebens“ (München, Süd⸗
deutſche Monatshefte) ein reizvoll⸗anſpruchloſes Selbſtbildnis durch eine
Sammlung von Aufſätzen, Reden und Aphorismen gegeben, die ſehr viel
Schönes, ja Ewiggültiges enthält. Erfreulich ijt auch die ſtattliche Publi-
kation von Werken eines Meiſters, dem die köſtliche Gabe verliehen war,
mit Feder, Pinſel und Tuſche zu plaudern, zu pointieren: ich meine das
Werk „Wilhelm Buſchs künſtleriſcher Nachlaß“ (München, Hanfſtaengl).
Dagegen hätte es nach meinem Empfinden nicht ſo ſehr geeilt, den Münchner
Maler Leo Putz in einem anſpruchsvollen Tafelwerk „Leo Putz, ein deutſcher
Künſtler der Gegenwart“ (Leipzig, Klinkhardt u. Biermann) der Nachwelt
aufzubewahren, das von Wilh. Michel mit einem zwar metaphyſiſch
verſtiegenen, aber kunſttheoretiſch doch nicht zu unterſchätzenden Text be⸗
gleitet worden iſt. Weitaus ſelbſtverſtändlicher erſcheint es, daß Wilhelm
Trübner ein Tafelband gewidmet wurde: „Wilhelm Trübner und ſein
Werk“ (München, Müller), zu dem Georg Fuchs einen temperamentvollen
Text geſchrieben hat.
Auf dem Gebiet der niederländiſchen Kunſt bedeutet eine wirkliche
Bereicherung der Kunſtwiſſenſchaft die wichtige Arbeit von M. Gg. Zimmer⸗
362 VII. Kunſt.
mann: „Niederländiſche Bilder des 17. Jahrhunderts in der Sammlung
Hölſcher⸗Stumpf“ (Leipzig, Klinkhardt u. Biermann). Ein durch treffliche
Materialſammlung bedeutendes, gut illuſtriertes Buch über „Pieter Aertſen,
Ein Beitrag zur Geſchichte der niederländiſchen Kunſt im 16. Jahrhundert“,
dem freilich in Bezug auf die Einſchätzung und Charakteriſierung des
Meiſters mancherlei Schwächen anhaften, hat Joh. Sievers erſcheinen
lafjen (Leipzig, Hierſemann). Als eine geiſtvolle Studie ſtellt ſich Felix
Graefes in demſelben Verlage erſchienenes Werk über „Jan Sanders
van Hemeſſen“ dar. Dem vlaemiſchen Porträtiſten „Antonis Mor als
Hofmaler Karls V. und Philipps II.“ iſt eine kritiſche Biographie gewidmet
worden von Valerian v. Loga (Wien, Tempsky. Jahrbuch der kunſt⸗
hiſtoriſchen Sammlungen des Allerh. Kaiſerhauſes, Bd XXVII, Hft 3).
Das Weſen der franzöſiſchen Kunſt wurde noch intenſiver erhellt
durch eine gute Publikation über das franzöſiſche Rokoko: L' Euvre de
J. S. B. Chardin et de J. H. Fragonard (Paris, Gittler); dann aber
hat uns E. Kloſſowski eine langerſehnte Biographie großen Stils über
„Honoré Daumier“ geſchenkt (München, Piper u. Co.), die tatſächlich eine
meiſterliche Unterſuchung der maleriſchen Fähigkeiten Daumiers iſt. Über
das Problem Auguſte Rodin liegen zwei Forſchungen vor; eine von einer
Franzöſin, die aus nächſter Nähe den Meiſter in ſeinem Schaffen und Denken
belauſchen konnte: Judith Cladels Rodin (Paris, van Oeſt u. Cie.)
bedeutet zunächſt den Schlüſſel für die Erklärung der tragiſchen Größe des
ſchlichten Meiſters von Meudon. Gegenüber dieſer vornehmen Schöpfung hat
Otto Grautoffs Monographie „Auguſte Rodin“ (Bielefeld, Velhagen u.
Klaſing) keinen ganz leichten Stand; daß aber gerade ſeine Analyſe des
Menſchen mit Ehren neben der Cladels beſtehen kann, ſpricht für das tiefe
Hineinleben Grautoffs in Rodins Sonderart. Den Stil des Meiſters haben
beide Bücher nur nebenbei und gar nicht allzu ernſtlich zu analyſieren
unternommen.
Eine zuſammenfaſſende Geſchichte der engliſchen Malerei bietet Arm.
Dayot in feinem Werk La Peinture anglaise (Paris, Laveur). Volks-
tümlich, aber doch mit wiſſenſchaftlicher Gründlichkeit hat Max Osborn
die dankbare Aufgabe erfaßt, „Joſhua Reynolds“ als Künſtler und als
Menſch zu ſchildern (Bielefeld, Velhagen u. Klaſing).
Ein lebhaftes wiſſenſchaftliches Intereſſe wendet ſich zurzeit der Er⸗
forſchung der japaniſchen Kunſt zu. So bieten Will. Cohns „Stil⸗
analyſen als Einführung in die japaniſche Malerei“ (Berlin, Oeſterheld u. Co.)
eine treffliche, durch Lichtdrucke unterſtützte Behandlung des Formgehaltes
einiger Meiſterwerke japaniſcher Malerei. Ein Geſamtbild der Kunſt Japans
in drei Büchern hat Osk. Münſterberg gegeben; aus dieſem Werk er-
ſchien ein kurzer Abriß „Japans Kunſt“ (Braunſchweig, Weſtermann), der,
reich illuſtriert, dazu beſtimmt iſt, weitere Kreiſe in das Weſen der japaniſchen
1. Bildende Kunſt. 363
Kunſt einzuführen, von der man in jüngfter Zeit behauptet, daß ihr durch
Verſchiebungen in den ſozialen Bedingungen, durch den Anprall weſtlicher
Kultur, der völlige Untergang drohe.
Eine reiche Literatur iſt in den jüngſten Jahren auf dem Spezialgebiet
der Denkmalpflege entſtanden. Die Denkmalpflege gehört als Wort
und Begriff im modernen Sinne erſt den letzten zwanzig Jahren an; ſie
iſt zunächſt eine Wiſſenſchaft, aber auch ein Dienſtzweig. Die mannigfachen
Fragen, die ſich an den Denkmalſchutz knüpfen, die juriſtiſchen Probleme,
die ſie enthalten, die Verwaltungseinrichtungen, deren es bedarf, um die
Vorſchriften einer ſolchen Geſetzgebung durchzuführen und im ſtaatlichen und
kommunalen Leben zu verwirklichen, die ganze Syſtematik, Technik und
Übung des Denkmalſchutzes und der Denkmalpflege iſt ſeit Jahren auf be⸗
ſondern Tagungen erörtert worden. Der letzte (9.) Tag für Denkmalpflege
fand in Lübeck ſtatt. Über die Freilegung und den Umbau alter Kirchen
ſprach auf dieſem Tage Profeſſor Korn. Gurlitt- Dresden; er ging davon
aus, daß jedes Bauwerk ſeinem Zweck entſpreche, daß aber auch nach der
maleriſchen Seite hin Rückſichten nötig ſeien. Der Redner kam auch auf
die Freilegung des Kölner Doms zu ſprechen, die er nach den Anſchauungen
der damaligen Zeitſtrömungen billigte, nach den gegenwärtigen Beſtrebungen
halte er auch Anbauten für berechtigt. Auch die an den Kirchen von Lübeck,
Breslau und Danzig und um ſie liegenden Häuſer müßten unbedingt erhalten
bleiben. Zur Heidelberger Schloßbaufrage machte Adolf v. Oechelhäuſer—
Karlsruhe die Mitteilung, daß keineswegs eine neue Wendung eingetreten
ſei; das Miniſterium halte nach wie vor den Wiederaufbau und den Aus⸗
bau des Otto⸗Heinrich⸗Baues für unerläßlich, während die Mehrheit der
badiſchen Landtagskammern nur die Sicherung des jetzigen Beſtandes, alſo
der maleriſchen Ruine, wünſchte. Die badiſche Regierung iſt der Über-
zeugung, daß eine Stützkonſtruktion, wie ſie vorgeſchlagen wurde, nicht
durchführbar iſt, weil nicht einmal die Befeſtigungsſtützen in dem ſich
immer mehr abbröckelnden Mauerwerk einen Halt finden könnten 1.
Die Hauptaufmerkſamkeit der Kunſtfreunde lenkte ſich im verfloſſenen
Jahre auf die Hohkönigsburg. Aus Anlaß ihrer Wiederherſtellung
ließ Paul Heitz eine Broſchüre erſcheinen: „Eine Abbildung der Hoh⸗
königsburg aus der erſten Hälfte des 16. Jahrhunderts“ (Straßburg, Heitz).
Der Verfaſſer rühmt ſich, eine Elfenbeintafel aus dem 16. Jahrhundert ent⸗
deckt zu haben, die die alte Thierſteiner Burg in aller Treue darſtellt,
während das Geſamtbild der neuen, feierlich eingeweihten Burg damit in
weſentlichen Punkten nicht übereinſtimmt und eher die Erinnerung an fran⸗
zöſiſche Burgbauten wachruft. Einer ſtrengen Kritik hat auch O. Piper
den Neubau der Hohkönigsburg unterzogen (Zeitſchrift für Geſchichte der
1 Vgl. W. Thiel, Die Erhaltung der Ottoheinrichsbau⸗Faſſade (Heidelberg, Winter).
364 VII. Kunſt.
Architektur Hft 7). Dagegen haben H. Frhr v. Geymüller u. a. für Bodo
Ebhardt Stellung genommen. Bemerkenswert iſt auch die von E. Hau⸗
viller im Auftrage des Hohkönigsburg⸗Vereins herausgegebene Arbeit
„Bauſteine zur Geſchichte der Hohkönigsburg. Urkunden, Akten und Re⸗
geſten aus der Zeit des 15. bis 17. Jahrhunderts“ (Straßburg, Trübner).
Die Denkmalpflege hatte im abgelaufenen Jahre Gelegenheit, ſich
manchem bedrohten Baudenkmale zuzuwenden; ich erwähne nur das Straß.
burger Münſter, an deſſen linkem erſten Langhauspfeiler ſich ein erheblicher
Riß bemerkbar machte. Nachgrabungen haben dargetan, daß das Funda⸗
ment des Turmpfeilers im 13. Jahrhundert leichtſinnig behandelt wurde.
Trotz der unleugbaren Bedenklichkeit der Sachlage beſteht jedoch keine direkte
Gefahr für den Bau. In anderer Hinſicht war die Aufmerkſamkeit der
Denkmalpflege — allerdings vergeblich — in Anſpruch genommen worden;
zwei der vornehmſten alten Bauten Berns, das alte Muſeum und die
Hauptwache, werden abgeriſſen, aber an anderer Stelle wieder verwendet
werden. Die vielumſtrittene Frage des Umbaues des Braunſchweiger Ge⸗
wandhauſes, eine für den Architekten außerordentlich ſchwere und verwickelte
Aufgabe, wird eine befriedigende Löſung finden.
Während Italien an einem ſehr radikalen Kunſtſchutzgeſetz arbeitet —
die Ausfuhr von bedeutenden Kunſtwerken im Privatbeſitze ſoll möglichſt
ganz verhindert werden, indem dem Staat ein Vorkaufsrecht und ſehr
günſtige Zahlungsbedingungen eingeräumt werden —, muß Bayern ruhig
zuſchauen, daß ihm hervorragende, im Privatbeſitz befindliche Kunſtdenkmäler
verloren gehen. Durch die bayriſche Denkmälerinventariſation wird auch
auf künſtleriſch wertvollen Privatbeſitz hingewieſen; dieſe Fingerzeige machen
ſich Händler ſowohl als finanzkräftige Muſeen zu nutze. So ſind u. a.
die Vertäfelungen und Frieſe vom Schloſſe Triebenbach in das Berliner
Muſeum gewandert, ſo hat das Portal der romaniſchen Torkapelle vom
Ziſterzienſerkloſter Langheim feinen Weg in das Kaiſer⸗Friedrich⸗Muſeum
gefunden, ſo wird wohl auch der berühmte Kreuzgang des Neumünſters in
Würzburg von nun an in Berlin ſtudiert werden müſſen. Man iſt leicht
geneigt, in ſolchen Fällen den Schutz vor Kunſtſchutzmännern anzurufen,
doch iſt dabei nicht zu überſehen, daß die partikulariſtiſche Volksſeele in
Bayern nicht ſo leicht ins Schäumen gerät, wenn Kunſtbeſtände langſam zu
Grunde gehen, ſondern nur erſt dann, wenn man es wagt, die Behörden,
die ihre Ruhe haben wollen, auf Symptome hinzuweiſen, die für ein Bau⸗
werk eine Gefahr verkünden — oder wenn Berlin ſich der bedrohten oder
in Bayern gering gewerteten Dinge liebevoll anzunehmen geneigt zeigt.
Die letzten Jahre brachten eine Erweiterung des Begriffes „Denkmal⸗
pflege“. Man will nicht, daß ſie ſich nur im Erhalten des Alten äußere,
man fordert auch, daß ſie zu neuem künſtleriſchen Schaffen antreibe. Aber
alle neuen Schöpfungen, welchem Gebiete ſie auch immer angehören, ſollen
1. Bildende Kunſt. 365
dem Weſen der Bevölkerung ebenſo entſprechen wie der Eigenart der Land-
ſchaft, des Klimas uſw. Deshalb ſollen auch die Kunſtwerke mehr als
bisher den Zuſammenhang pflegen mit der örtlichen Überlieferung, mit Sitte,
Gebrauch, Lied und Sage. All dieſe Beſtrebungen haben ihre Beziehung
in dem Schlagworte „Heimatſchutz“ gefunden und werden beſonders gepflegt
durch den „Dürerbund“ und den „Rheiniſchen Verein für Denkmalpflege
und Heimatſchutz“. Auch andern Orts hat man ſich der Denkmalpflege auf
dem Lande angenommen; tunlichſte Erhaltung des Ortsbildes, Schutz des⸗
ſelben vor plumpen Beeinträchtigungen und unbedachten Schädigungen iſt
überall die Loſung. Auf dieſem Wege kann die Kunſterziehung weiteſter
Kreiſe praktiſch gefördert werden. Und es iſt dies um ſo mehr nötig, als
die vorzeitige Populariſierung der Kunſtgeſchichte den auf die Erkenntnis
des Gefühls für das Echte ausgehenden Kunſterziehungsbeſtrebungen manchen
empfindlichen Schlag verſetzt hat.
Wir verkennen nicht den Wert der Muſeen für die Kunſterziehung —
Volksmuſeen, Freilichtmuſeen heißen die berechtigten Forderungen des letzten
Jahres —, aber alle großen Muſeen ſind zu Kunſtſpeichern geworden, in
denen die Häufung gleichartiger Eindrücke bei dem nicht fachwiſſenſchaftlich
gebildeten Beſucher eine gewiſſe Abſtumpfung herbeiführt. Wer jedoch ein
Städtebild in ſeiner eigenartigen Entwicklung, in dem Ausdruck des zeit⸗
weiligen Geſchmackes zu erfaſſen vermag, der wird fühlen, wie er in künſt⸗
leriſche Probleme wirklich eingeführt wird und daß es ſich bei der Kunſt
um mehr als um einen heitern Zeitvertreib handelt. Es iſt deshalb freudig
zu begrüßen, daß der Verlag von E. A. Seemann (Leipzig) ſeine Serie
„Berühmte Kunſtſtätten“ fortgeſetzt hat; von „Athen“ gibt Eugen Peterſen
eine anſchauliche Schilderung an der Hand einer hiſtoriſchen Darſtellung,
„Berlin“ hat in M. Osborn einen mit der Kunſt und Kultur der Reichs⸗
hauptſtadt vertrauten Bearbeiter gefunden, die alten Kulturzentren der Oſtſee⸗
provinzen „Riga und Reval“ hat Wilh. Neumann feſſelnd bearbeitet,
„Aſſiſi“ ſchildert Walter Goetz und das kunſtreiche „Soeſt in Weſtfalen“
Herm. Schmitz. Erwähnen möchte ich auch die poetiſch durchhauchte Dar⸗
ſtellung „Maleriſches aus Alt⸗Würzburg“ von A. Holländer und A. Heß⸗
ler (Würzburg, Porſchmann), die voll warmer Liebe für die alte Biſchofs⸗
ſtadt geſchrieben iſt.
Unter den kunſterzieheriſchen Zwecken dienenden Jahrbüchern verdient
das „Trieriſche Jahrbuch für äſthetiſche Kultur“ (Trier, Lintz) als eine
zielbewußte, einheitliche Schöpfung beſonders genannt zu werden, die allen
Problemen der Kunſterziehung mit Sachverſtändnis und Begeiſterung nach⸗
geht. Das vornehm ausgeſtattete „Münchner Jahrbuch der bildenden Kunſt“
(München, Callwey) umfaßt außer der freien auch angewandte Kunſt und
iſt mit der Gegenwart vor allem durch ſeine Verbindung mit den ſtaatlichen
Kunſtſammlungen Bayerns verknüpft. Ein neues Publikationsorgan für
366 VII. Kunſt.
bremiſche Forſchungen, jedoch ohne partikulariſtiſche Tendenzen, iſt das ſorg⸗
ſam redigierte „Jahrbuch der bremiſchen Sammlungen“ (Bremen, Leuwer).
Durchaus gelungene Verſuche, die chriſtliche Kunſt wieder mit dem chriſt⸗
lichen Leben in engere Verbindung zu bringen, bieten die Publikationen
Ars sacra (Kempten, Köſel), deren zweite Serie in zwanzig Blättern die
Gleichniſſe des Herrn vorführt, und „Die Bücher der Bibel“ (Braunſchweig,
Weſtermann) — letzteres ein monumentales Werk von höchſtem künſt⸗
leriſchen Geſchmack in der einheitlichen zeichneriſchen und typographiſchen
Ausſtattung; die Bilder, Vignetten, Umrahmungen, dekorativen Leiſten, ſind
alle von der Hand E. M. Liliens, häufig in großen, ſtiliſierenden Formen,
gezeichnet 1.
Schließlich ſei auch ein Buch erwähnt, das ſich an alle Kreiſe der Ge⸗
bildeten wendet, ein mit allen Mitteln der Reproduktionstechnik ausgeſtattetes
Wohnungsbuch: „Die Wohnung der Neuzeit“, herausg. von Erich Haenel
und Heinr. Tſcharmann (Leipzig, Weber), eine treffliche Sammlung von
Muſterbeiſpielen neuzeitlicher Wohnungseinrichtungen und anlagen, in der
alle bedeutenderen Raumkünſtler und Architekten unſerer Zeit vertreten ſind.
Ein lehrreiches Handbuch der Aſthetik der Wohnkultur.
Die Reformarbeit auf dem Gebiete der Wohnungsfrage, die am früheſten
und am intenſivſten in England einſetzte, hat nun auch eine Gartenftadt-
bewegung hervorgerufen, die dem künſtleriſchen Wirken eine erweiterte Grund-
lage zu ſchaffen geeignet iſt. Der glänzende Flitter aber, mit dem die
Baukünſtler einſt ſo gerne prunkten, iſt geläuterten äſthetiſchen Grundſätzen
gewichen.
Durch Reiz der Neuheit lockt Erhabenes,
Aber das Auge zuletzt ermüdet's;
Still iſt der Schönheit Zauber, unwandelbar
Und ſtets bedeutſam.
2. Mufik.
A. Kirchliche Mufik.
Don Dr Karl Weinmann.
An dem großen Reformgedanken Omnia restaurare in Christo, den
Pius X. an die Schwelle feines Pontifikates geftellt hat, nimmt die katho⸗
liſche Kirchenmuſik den größten Anteil. Das denkwürdige Motuproprio
vom 22. Nov. 1903 iſt aus ihm erfloſſen und wird für alle kommenden
Zeiten die Charta magna der Musica sacra ſein und bleiben. Sind auch ſeine
1 Über die Oſterreichiſche Geſellſchaft für chriſtliche Kunſt vgl. Abſchnitt II, 3:
„Kirchliches Leben in Oſterreich“ S. 22.
2. Muſik. A. Kirchliche Muſik. 367
Vorſchriften über die polyphone und Inſtrumentalmuſik nur gleichſam die
Kriſtalliſation jener Theorien und Lehren, welche der wahren Kirchenmuſik
von jeher als Leitſterne galten, ſo weiſt es doch in Bezug auf den grego⸗
rianiſchen Choral neue Wege und ſtellt damit auch neue Aufgaben für die
Kirche und die heilige Muſik.
Um die Größe und Tragweite der Pianiſchen Reſtauration voll zu würdigen,
müſſen wir uns jene Zeiten ins Gedächtnis zurückrufen, in denen die Tra⸗
dition faſt vollſtändig unterbrochen war, jene Zeiten, da der Spekulations⸗
geiſt der Buchdrucker in Italien und Frankreich die Triebfeder für neue
Choralausgaben wurde, die mit ihren gekürzten Melodien den Niedergang
der echten choraliſtiſchen Kunſt bedeuteten. Auch unſere Zeit litt noch unter
den Nachwirkungen der früheren Jahrhunderte, bis das lichtbringende Wort
Papſt Pius’ X. eine neue Ara der alten Kunſt heraufführte; das Recurramus
ad fontes iſt der Choralbewegung unauslöſchbar auf die Stirne gedrückt.
Einer internationalen Kommiſſion mit Dom Pothier an der Spitze wurde die
Aufgabe anvertraut, eine vatikaniſche traditionelle Choralausgabe herzuſtellen.
Die reife Frucht dieſer Arbeit liegt nun in dem 1908 erſchienenen
Graduale Romanum als Editio Vaticana vor; es iſt ein ſtattlicher Band
von mehreren hundert Seiten, hervorgegangen aus der vatikaniſchen Druckerei
in Rom. Am Feſte des hl. Gregor wurde das erſte Exemplar dem Heiligen
Vater vorgelegt, der es mit Worten höchſter Freude begrüßte; ſodann erfolgte
die Verſendung an die Verleger, welche ſich das Recht des Nachdruckes er-
worben hatten. Bald arbeiteten die Druckerpreſſen mit fieberhafter Tätig-
keit und brachten ihre Nachdrucke auf den Markt, die — um es gleich hier
zu ſagen — die Originalausgabe an Handlichkeit und deutlichem Druck
übertreffen, wie z. B. die der Firmen Puſtet (Regensburg), Schwann (Düſſel⸗
dorf), Desclée (Tournai), Styria (Graz) uſw. Neben dem Nachdruck der
Originalausgabe veranſtalten dann die einzelnen Verleger wie ſchon bei dem
früher erſchienenen Kyriale eine Reihe von Separatausgaben: Übertragungen
in moderne Notenſchrift, fog. rhythmiſierte Ausgaben uſw., welche alle dazu
beitragen ſollen, die traditionellen Melodien unſern Chören mundgerechter
zu machen. Den gleichen Zweck verfolgen die Orgelbegleitungen, die je
nach dem Standpunkt ihrer Verfaſſer nach verſchiedenen muſikaliſchen Prin⸗
zipien ausgearbeitet ſind.
Daß der Editio Vaticana Feinde erſtehen würden, war nach dem jahr⸗
zehntelangen Kampfe, der um die Medicaea tobte, vorauszuſehen; daß aber
in dem eigenen Lager, innerhalb der päpſtlichen Kommiſſion, ein ſo großer
Zwieſpalt ſich zeigen würde, hätte niemand gedacht. Ja, die Benediktiner
von Solesmes gingen ſogar ſo weit, eine Konkurrenzausgabe gegen die Vaticana
anzukündigen. Den Kampf nach außen eröffnete Profeſſor H. Bewerunge
(Maynooth, Irland) im Irish Ecclesiastical Record (Dublin, deutſch
im Verlage des „Düſſeldorfer Tageblatt“); aber er fand in Profeſſor
368 VII. Kunſt.
P. Wagner einen wohlgewappneten Gegner, der in einer kleinen Schrift „Der
Kampf gegen die Editio Vaticana“ (Graz, Styria) die Angriffe Bewerunges
ebenſo ſachlich als ruhig widerlegte. Denn das eine ſteht jedenfalls
zweifellos feſt, daß eine philologiſch⸗kritiſche Reſtauration der älteſten
Choralform im Sinne der Benediktiner von Solesmes ein Ding der Un⸗
möglichkeit iſt, daß hier nicht Archäologie, ſondern Tradition das Loſungs⸗
wort ſein muß. In dieſem Sinne iſt auch die Editio Vaticana ausgearbeitet,
nicht als ein Muſeum archäologiſcher Autiquitäten, ſondern als ein Buch
für die lebens volle Praxis.
Freilich wird die Einführung der Vaticana in die Praxis und die Aus⸗
führung ihrer Geſänge kein leichtes Werk ſein, das ſich von heute auf morgen
vollziehen läßt. Dazu war die Tradition zu lange unterbrochen; aber mit
einigem guten Willen, dem treuer kirchlicher Sinn und Begeiſterung für
unſere ſchöne Liturgie helfend zur Seite ſtehen, wird auch dies gelingen.
Vor allem iſt eine Reform des Choralunterrichtes notwendig. Ein Vortrag
der traditionellen Melodien z. B. nach dem bisherigen Vortrag der Editio
Medicaea wird ſich als unzureichend erweiſen und den leichtflüſſigen Melodien
eher Tod als Leben geben. Anderſeits muß zugeſtanden werden, daß nicht
alle Geſänge der Vaticana auch für alle unſere Chöre geſchaffen ſind. Ich
habe hier ſpeziell die reichen melismatiſchen Lieder, namentlich das Graduale
im Auge, die von jeher nur von Soliſten geſungen wurden wie auch heute
noch an den Kultſtätten des Choralgeſanges, in Beuron, St Emaus⸗Prag,
Seckau uſw. Wie dieſe wunderſamen Melodien in dem Munde eines geübten
Sängers ihren ganzen Zauber enthüllen, ſo werden ſie bei einem ungeübten
zu Karikaturen, gleich einer Beethoven⸗Sonate unter den Fingern eines
Anfängers. Hier iſt wohl für die meiſten Chöre einzig und allein das
Rezitieren des Textes am Platze, das zwar eine gewiſſe Monotonie nicht
ausſchließt, aber doch den Forderungen der Liturgie gerecht wird. Vielleicht
geſtattet aber Rom gerade für das Graduale nach Einbürgerung der Vaticana
einen Mittelweg, den auch die ſchwächeren Chöre beſchreiten könnten und
der gewiß nicht zum Nachteil der feierlichen Liturgie wäre.
Die Erlaſſe Pius' X. und der zuſtändigen kirchlichen Behörden in der
ganzen Angelegenheit find von größter Beſtimmtheit. Das letzte und wich.
tigſte Dekret, datiert vom 8. April 1908, faßt alle früheren Verfügungen
zuſammen: Der Druck anderer Choralbücher als der vatikaniſchen iſt fortan
verboten und den Biſchöfen die Approbation ſolcher Neudrucke unterſagt.
Wie weittragend aber die Pianiſche Reform für das geſamte Gebiet der
Liturgie iſt und wie ſie die letzten Konſequenzen zieht, beweiſt der Umſtand,
daß in die neu zu druckenden Meßbücher für die Intonationen des Prieſters
am Altare (Gloria, Credo, Ite missa est, Praefatio etc.) nur mehr die
Melodien der Vaticana aufgenommen werden dürfen, wohl die 8
Verfügung für den geſamten Klerus.
2. Muſik. A. Kirchliche Muſik. 369
Es iſt eine der erfreulichſten Tatſachen, daß dieſe intenſive Beſchäf⸗
tigung mit dem Choral deſſen wiſſenſchaftliches Studium in hervor-
ragendem Maße gefördert und eine ganze Literatur hervorgerufen hat, in
deren vorderſter Reihe Frankreich ſteht. Ich will hier nicht an die weiter
zurückliegenden monumentalen Schöpfungen der Benediktiner von Solesmes
in ihrer Paléographie musicale erinnern, nicht die bahnbrechenden Werke
eines Niſard, Lambillotte, Mocquereau und anderer Gelehrter anführen,
nur die ergebnisreichen Reſultate der jüngſten franzöſiſchen Schule ſeien
erwähnt.
Seit kurzem erſcheint bei Alphonſe Picard & Fils in Paris unter
dem Titel Bibliothèque musicologique ein groß angelegtes Unternehmen,
deſſen geiſtvoller Leiter der verdiente Muſikforſcher Pierre Aubry iſt.
Wenn auch der allgemeine Titel der Sammlung dem ganzen Gebiete der
muſikaliſchen Wiſſenſchaft ſeine Tore erſchließt, ſo fällt der Löwenanteil
doch der kirchlichen Muſik zu, wie die bisher erſchienenen Bände zeigen.
Der Profeſſor des gregorianiſchen Geſangs am Katholiſchen Inſtitut in
Paris Amedee Gaſtoué eröffnet mit Les origines du chant romain,
L’Antiphonaire Grégorien den Reigen. Die Zeit, in welcher man die
liturgiſchen Geſänge der lateiniſchen Kirche als eine Schöpfung des Okzi⸗
dents oder Roms anſah, iſt ja längſt vorüber, heute ſind alle Forſcher
ausnahmslos darin einig, daß die Wurzeln des lateiniſchen Kirchen⸗
geſanges in den Often reichen. Gaftoué bringt auf Grund noch un⸗
benutzter Quellen neue Beweismomente für dieſe Tatſache bei und legt
die Fäden klar, welche den liturgiſchen Geſang mit der hebräiſchen Ritual ⸗
muſik und der griechiſchen Muſik verbinden. Wenn z. B. Kaſſiodor ſeinen
Mönchen ſeine muſikaliſche Theorie mitteilt, ſo fußt er ganz auf dem
Boden der griechiſchen Muſiklehre; intereſſant iſt der Vergleich des Osanna
David aus der Palmſonntagsliturgie mit dem Skolion des Seikilos auf
der zu Tralles in Kleinaſien gefundenen Grabſäule. Der belgiſche Ge⸗
lehrte F. A. Gevaert (den am 24. Dez. 1908 der Tod ereilte) findet
in Gaftoué einen ſcharfen Gegner feiner bekannten Theorie, nach der er
die Ordnung des römiſchen Kirchengeſanges nicht Gregor d. Gr., ſondern
Gregor II. oder III. bzw. den griechiſchen Päpſten des 7. Jahrhunderts
zuteilt.
In dem dritten Band der Sammlung Origine byzantine de la no-
tation neumatique de I' Eglise Latine tritt P. J. Thibaut mit Couſſe⸗
maker, Schubiger, Pothier, Fleiſcher uſw. für die Herkunft der Neumen
aus der Akzentlehre der Alten und ihrem Zuſammenhange mit der Cheiro-
nomie ein. Leider leiſtet er zum Teil eine Arbeit, die ſchon getan iſt; denn
O. Fleiſchers und beſonders H. Riemanns Studien „Die Metrophonie
der Papadiken als Löſung der byzantiniſchen Neumenſchrift“ (Sammelbände
der Internationalen Muſikgeſellſchaft. Leipzig, 9. Jahrg., 1) und „Der
Jahrbuch der Seite und Rulturgeſchichte. IL 24
370 VII. Kunſt.
Schlüſſel der altbyzantiniſchen Neumenſchrift“ (ebd. 3) haben bereits gelöft,
was der Verfaſſer noch als Problem aufwirft. — Wer kennt nicht die
reizvollen und naiven Schauſpiele des Mittelalters in ihrer innigen Ver⸗
webung mit der Liturgie? Henry Villetard hat in dem vierten Band
der Sammlung einen Ausſchnitt daraus geboten in ſeinem Office de Pierre
de Corbeil, das uns das „Eſelsfeſt“, wie es im 13. Jahrhundert in der
Metropolitankirche zu Sens gefeiert wurde, nach den Quellen darſtellt.
Unſere Zeit hat nur mehr ein Lächeln für derartige groteske Erſcheinungen,
und doch ſind ſie ein ſtarkes Dokument für die innige Verkettung des
bürgerlichen und kirchlichen Lebens, ein Moment, das unſerem Zeitalter
vollſtändig verloren gegangen iſt.
Als das intereſſanteſte Buch des Berichtsjahres darf aber ein Werk
aus der Feder Dom Mocquereaus gelten: Le nombre musical Grégorien
ou Rhythmique Grégorienne (Bd 1. Rom, Desclée u. Cie.). Die RHyth-
musfrage iſt es ja vor allem, welche die Gelehrten in Spannung hält
und deren endgültige Löſung zwar von allen Seiten energiſch angeſtrebt,
aber für die nächſte Zeit kaum erreicht wird. Wie überall, ſo ſtehen ſich
auch hier die Meinungen ſcharf gegenüber, und die praktiſchen greifbaren
Reſultate, die wir aus Werken von G. Houdard (Le rhythme du chant dit
Grégorien) oder A. Dechevrens (Etudes de science musicale III) ſchöpfen
können, ſind ſehr gering. Speziell die umfangreichen Studien von P. De⸗
chevrens S. J., die mit einem bewunderungswürdigen Aufwand von Energie
und Gelehrſamkeit abgefaßt ſind, verteidigen eine verlorene Poſition; als
wenig geglückt muß ebenfalls die Arbeit Alex. Fleurys 8. J. „Über
Choralrhythmus“ gelten, die fein Ordensgenoſſe, der bekannte Komponiſt
und Theoretiker Ludwig Bonvin, in den „Beiheften der Internationalen
Muſikgeſellſchaft“ (Leipzig, Breitkopf u. Härtel) in deutſcher Überſetzung
vor kurzem veröffentlicht hat. Auch Mocquereaus Buch wird die definitive
Löſung des Problems allem Anſcheine nach nicht bringen, beſonders da er
die lateiniſchen Quellen, Autoren und Choralmanuſkripte, die zu einer
wiſſenſchaftlich fundierten Theorie führen könnten, faſt ganz außerhalb ſeiner
Unterſuchung läßt.
Keineswegs untätig iſt Deutſchland auf dem Gebiete des gregorianiſchen
Geſanges geweſen. Wenn auch die Arbeit der Gelehrten und Praktiker ſich
naturgemäß hauptſächlich auf die obenerwähnten verſchiedenen Ausgaben der
Editio Vaticana konzentrierte, ſo erblickte doch manches Buch das Licht der
Welt, das ſich weit über Tageserſcheinungen erhebt. So hat einer unſerer
bedeutendſten deutſchen Choralforſcher, Profeſſor Peter Wagner, ein
Bändchen verfaßt: „Elemente des gregorianiſchen Geſanges“ (Regensburg,
Puſtet), das in prägnanter Form alles enthält, was zum theoretiſchen
und praktiſchen Verſtändnis der Pianiſchen Choralreform notwendig und
nützlich iſt; ich möchte es den Extrakt ſeines groß angelegten Werkes
2. Muſik. A. Kirchliche Muſik. 371
„Einführung in die gregorianiſchen Melodien“ (Freiburg, Schweiz, Uni⸗
verſitätsbuchhandlung, bisher 2 Bde) nennen.
Von P. D. Johners „Neuer Choralſchule“ (Regensburg, Puſtet), die
ſich als ungemein praktiſch bewährt hat, ift bereits eine franzöſiſche, italieniſche
und engliſche Überfegung erſchienen; auch von des Referenten „Geſchichte
der Kirchenmuſik“ hat der gleiche Verlag eine italieniſche und eine engliſche
Überſetzung unlängſt ausgegeben. Als ein recht nützliches Handbuch zur
Erlernung des Choralgeſanges müſſen auch die „Choralſolfeggien“ aus der
Feder des Organiſten am Kgl. Stifte Emaus in Prag, M. Springer,
gelten (Regensburg, Coppenrath); fügt der Verfaſſer in einer zweiten Auflage
auch Beiſpiele mit Text an, ſo wird das Büchlein an Brauchbarkeit noch
um ein bedeutendes gewinnen.
Den Schluß dieſer Überſicht über die Choralliteratur bilde die „Geſchichte
des gregorianiſchen Chorals“ von Profeſſor E. Nikel in Breslau (Breslau,
Görlich); ſie ſtellt den erſten Band einer umfangreichen „Geſchichte der
katholiſchen Kirchenmuſik“ dar. Nikel hat es ſich nicht zur Aufgabe gemacht,
eigene Forſchungsarbeit zu bieten — das wäre ihm über die obenerwähnten
Werke Wagners hinaus wohl nur ſchwer gelungen —, ſondern er ſammelt
und verarbeitet die Reſultate, welche die wiſſenſchaftliche Choralforſchung
der letzten Dezennien aufgeſpeichert hat; ſeine Arbeit trägt alſo mehr
kompilatoriſchen Charakter. Daß er aber dieſes Verarbeiten in fo gewiſſen⸗
hafter Weiſe getan, gibt ſeinem Werke einen bleibenden Wert und ſtempelt
es zu einem verläſſigen Studien⸗ und Nachſchlagebuch für die Choral.
geſchichte.
Auf dem Gebiete der Polyphonie und ihrer Literatur hat uns das
Jahr 1908 verhältnismäßig wenig beſchert — ausgenommen die kirchen⸗
muſikaliſchen Kompoſitionen, die wie eine Hochflut hereinbrechen, ſo daß wir
ſchon längſt an einer geradezu unheimlichen Überproduktion leiden. Würde
auch nur der Hälfte dieſer Kompoſitionen ein wirklicher Kunſtwert eignen,
ſo könnte man ſich zufrieden geben; aber wir ſind bereits auf dem Stand⸗
punkt angelangt, daß jeder, der die erſten Schreibübungen im muſikaliſchen
Alphabet überwunden hat, ſich zum Komponiſten berufen fühlt und ſein Herz
in Tönen ausſchüttet, zum Nachteil von Liturgie und Kunſt. Dagegen gibt
es allerdings nur eine Rettung: Abweiſung ſolcher Machwerke durch die
Verleger. Aber manche Verleger wiſſen wohl, warum ſie das nicht tun:
auch die minderwertige ſchmachtende Kirchenmuſik wird geſungen und oft
viel lieber als die wertvolle, ernſte; zudem bildet für manche Verleger
nicht die Güte, ſondern nur die Verkaufsfähigkeit der Kompoſition, d. h. der
Gewinn die Hauptſache, ein Grundſatz, den ſie mit größter Offenheit be⸗
kennen. Vielleicht könnte hier auch der Cäcilienverein ſein Teil zur Beſſerung
beitragen, wenn die Referenten bei der Beurteilung der vorgelegten Werke
zur Aufnahme in den Vereinskatalog einen etwas ſtrengeren Maßſtab
24
372 VII. Kunſt.
anlegen wollten. Mit Freuden kann übrigens konſtatiert werden, daß der
Allgemeine Cäcilienverein auf ſeiner Generalverſammlung in Eichſtätt
(20.—22. Juli) eine literariſche Kommiſſion zur Förderung feiner wiſſen⸗
ſchaftlichen Arbeiten eingeſetzt hat.
Ein Monumentalwerk der Polyphonie liegt mit dem 33. Bande nun
vollendet vor: die Geſamtausgabe der Kompoſitionen des Princeps Musicae,
Giovanni Pierluigi da Paleſtrina (1526—1594). Mehr als ein
Menſchenalter hat an ihrer Ausgabe gearbeitet. Bereits im Jahre 1821
hatte der Direktor der Sirtinifchen Kapelle in Rom, G. Baini (f 1844), den
Plan gefaßt, eine ſolche ins Leben zu rufen; die muſikaliſche Welt war
damals noch nicht reif für dieſen großen Gedanken, und ſo mußte abermals
ein Vierteljahrhundert vorüberſchreiten, bis er in die Tat umgeſetzt werden
konnte dank der eiſernen Energie der Weltfirma Breitkopf u. Härtel in Leipzig
und der Liberalität der kgl. preußiſchen Staatsregierung. Muſikgelehrte,
die glänzende Namen tragen, beſorgten die Redaktion. Die Berliner Gelehrten
Th. de Witt, J. N. Rauch, Fr. Eſpagne, Fr. Commer teilten ſich in die Heraus.
gabe der erſten neun Bände; der Tod entriß den nimmermüden Forſchern
die Feder. Vom 10. Band an finden wir F. K. Haberl als Herausgeber,
der in vierzigjähriger, unverdroſſener Arbeit in den bedeutendſten Bibliotheken
Europas das zerſtreute Material zu dem Denkmal für den großen Meiſter
von Präneſte zuſammentrug. Die Geſamtausgabe umfaßt nicht weniger als
93 Meſſen zu 4—8 Stimmen, 139 Motetten, dann eine Reihe von Lamen-
tationen, Offertorien, Magnifikat, Hymnen, Litaneien und Veſperpſalmen —
ein reicher Schatz der glänzendſten Perlen. Werden aber dieſe Perlen auch
einem jeden, der danach greift, ihren Glanz und ihre ſchimmernde Pracht
offenbaren? Mit nichten. Nicht für jedes Haupt paßt eine Fürſtenkrone,
nicht für jeden Chor die Schöpfungen des Fürſten der Tonkunſt; dazu aber
hypnotiſieren, heißt der Kunſt mehr ſchaden als nützen. Gerne hätten
wir aus Haberls Feder als krönenden Abſchluß ſeiner Paleſtrina⸗Ausgabe
auch das früher bereits verſprochene Lebensbild des Präneſtiners beſeſſen,
das ein würdiges Seitenſtück zu dem franzöſiſchen Werke Michel Brenets
„Paleſtrina“ (Paris 1906) geweſen wäre. — Auch das Magnum opus mu-
sicum der Orlando ⸗Ausgabe geht feiner Vollendung entgegen. Der letzte
Band befindet ſich bereits in Stich und ſoll bald erſcheinen; der vorletzte
(9. Tl, der Geſamtausgabe 17. Bd) enthält 62 lateiniſche Geſänge für
6 Stimmen. Von beſonderem Werte ſind die bibliographiſchen Nachweiſe
des Redakteurs und die charakteriſtiſchen Notizen K. Proskes zu jeder einzelnen
Nummer des Bandes. — In den „Denkmälern der Tonkunſt in Oſterreich“
iſt der dritte Teil des Opus musicum von Jakob Handl zur Ausgabe
gelangt. Er enthält die Liturgie von der Karwoche bis zum Dreifaltigkeits⸗
feſt und wurde von Emil Bezeeny und Joſ. Mantuani beſorgt. Profeſſor
Th. Kroyer hat im „Kirchenmuſikaliſchen Jahrbuch“ (22. Jahrgang) über
2. Muſik. A. Kirchliche Muſik. 373
dieſen Band ein treffliches Referat geſchrieben, in welchem er beſonders auch
die kunſthiſtoriſche Stellung Handls beleuchtet und nachweiſt, daß man dem
Meiſter mit Unrecht den Ehrentitel eines „deutſchen Paleſtrina“ beigelegt.
— Wie Oſterreich mit dieſer Ausgabe den Krainer Meiſter geehrt, fo
gehen eben die Holländer daran, einem ihrer Söhne, Jakob Obrecht,
den verdienten Lorbeer zu winden. Die Vereeniging voor Noord-Neder-
lands Muziekgeschiedenis erachtet eine Geſamtausgabe ſeiner Werke nicht
nur als eine wiſſenſchaftliche und künſtleriſche, ſondern zugleich als eine
nationale Pflicht. Während Frankreich und Italien im 14. Jahrhundert
die Hegemonie in der muſikaliſchen Herrſchaft führen, beginnt mit dem
15. Jahrhundert ein neues Morgenrot über den Niederlanden zu leuchten:
niederländiſche Kunſt tritt ihren Siegeszug an über die europäiſchen Lande,
eine Kunſt, die ſich immer mehr von ſtarrer Konventionalität zu ſelbſtändigem,
individuellem Kunſtempfinden durchringt und Wunder der muſikaliſchen Technik
hervorzaubert. Obrecht hat den größten Teil ſeines Schaffens der Kirche
geweiht und ſich in ſeinen Werken als einen bedeutenden Meiſter bewährt.
Die erſte Meſſe Je ne demande, die Profeſſor Joh. Wolf vorlegt, iſt
eine charakteriſtiſche Einführung in das ganze Werk, das in 30 viertel⸗
jährlichen Lieferungen (Leipzig, Breitkopf u. Härtel) abgeſchloſſen ſein ſoll.
Jedenfalls darf man die „Vereinigung für Niederländiſche Muſikgeſchichte“
beglückwünſchen, daß ſie in dem Herausgeber einen Mann gefunden, dem
Erfahrung und Gelehrſamkeit in gleich hohem Maße zur Seite ſtehen.
Paleſtrina und Orlando bilden den Höhepunkt der A cappella-Mufil, Jo-
hann Sebaſtian Bach hat die Blüte der Vokal- und Inſtrumentalmuſik in
ſich vereinigt. Den bekannten Bach⸗Werken geſellte Alb. Schweitzer ein neues
zu, deſſen deutſche Ausgabe: „J. S. Bach“, 1908 bei Breitkopf u. Härtel
erſchien. Schweitzers Werk wurde von der Kritik mit Begeiſterung auf-
genommen, wozu nicht in letzter Linie die meiſterhafte, glänzende Sprache
ihren Teil beitrug. Außerſt intereſſant und leſenswert iſt ein ausführliches
Referat des Leipziger Muſikgelehrten Alfred Heuß über das Buch in der
„Zeitſchrift der Internationalen Muſikgeſellſchaft“ (Jahrg. X, 1). Daß
die Verehrung des Meiſters immer weitere Kreiſe ergreift, beweiſt das
„Bach ⸗Jahrbuch“ (ebd.), das ganz ihm und feiner Kunſt gewidmet iſt und
bereits zum vierten Mal in die Welt zieht. Für ſeine Gediegenheit bürgt
der Name des Herausgebers Arnold Schering, der es mit der gleichen
Zielſicherheit leitet wie Profeſſor Rud. Schwartz das vortreffliche „Jahr⸗
buch der Muſikbibliothek Peters“ (Leipzig, Peters). Als beſonders wertvoll
in letzterem darf das „Verzeichnis der in allen Kulturländern im Jahre
1907 erſchienenen Bücher und Schriften über Muſik“ hervorgehoben werden.
Und weil von Jahrbüchern die Rede, ſo ſei es dem Referenten geſtattet,
auch des von ihm herausgegebenen „Kirchenmuſikaliſchen Jahrbuchs“ (Regens⸗
burg, Puſtet) Erwähnung zu tun. Der gleiche Verlag iſt mit einem neuen
374 VI. Kunſt.
Unternehmen hervorgetreten, mit der Herausgabe der „Sammlung ‚Kirchen-
muſik““. Dieſelbe foll bei der Überproduktion auf kompoſitoriſchem Gebiete
durch kurzgefaßte, billige Handbücher, Biographien uſw. einführen in Theorie
und Praxis der Kirchenmuſik und ſo die hohen Ideale verwirklichen helfen, die
Papſt Pius X. in ſeinem Motuproprio vorgezeichnet hat. Referent, dem die
Redaktion übertragen wurde, hat die Sammlung mit einer kleinen Mono⸗
graphie eingeleitet: „Karl Proske, der Reſtaurator der klaſſiſchen Kirchenmuſik“;
das zweite Bändchen bilden die oben genannten „Elemente des gregorianiſchen
Geſanges“ von Profeſſor P. Wagner. In der „Sammlung Köſel“ (Kempten),
die immer mehr an Beliebtheit und Verbreitung gewinnt, iſt als 16. Bändchen
erſchienen: „Die Kirche der Lateiner in ihren Liedern.“ Kein Geringerer
als der Mitherausgeber der bereits bis zum 50. Bande gediehenen Analecta
hymnica medii aevi, Guido M. Dreves, iſt der Verfaſſer; das Büchlein
ſprudelt von Leben und Friſche und lieſt ſich durch die zahlreich eingeſtreuten
Textproben — die im Anhang auch noch in der Originalſprache mitgeteilt
ſind — äußerſt flüſſig und angenehm.
Die Tendenz, nicht bloß für Muſikgelehrte zu ſchreiben, ſondern auch
für das muſikaliſch gebildete Laienpublikum, macht ſich in ſteigendem
Maße bemerkbar. Auch H. Kretzſchmars „Kleine Handbücher der Muſik⸗
geſchichte nach Gattungen“ (Leipzig, Breitkopf u. Härtel) verfolgen mehr
oder weniger dieſen Zweck. Wenigſtens wird Hugo Leichentritts ,,Ge-
ſchichte der Motette“ allen, welche ſich für dieſe neben der Meſſe häufigſte
Erſcheinungsform der Vokalmuſik intereſſieren, ein ſicherer Führer ſein.
Ein reiches Quellenmaterial, Drucke und Handſchriften, haben dem Ver⸗
faſſer die ſichere Baſis für ſeine Unterſuchungen gegeben, die von feiner
Beobachtung und ſicherem äſthetiſchen Empfinden zeugen, wenn auch
manchmal das hiſtoriſche Moment zu wenig zur Ausprägung kommt und
die Diktion zu wünſchen übrig läßt. — Eine andere muſikaliſche Kunſt⸗
form, das Oratorium, hat Domenico Alaleona in den Bereich
ſeiner Studien gezogen: Studi su la Storia dell’ Oratorio musicale
in Italia (Turin). Schon zwei Jahre früher (1906) beſchenkte Guido
Pasquetti die muſikaliſche Literatur mit einem ähnlichen Werke (L'Ora-
torio musicale in Italia. Florenz), und es iſt intereſſant zu beobachten,
wie beide Forſcher „auf Grund desſelben Materials, aber unabhängig
voneinander, zu den gleichen Ergebniſſen über die Entſtehung und Ent⸗
wicklung des Oratoriums, ja eigentlich erſt zu einem beſtimmten Begriff
desſelben gelangt find“. — Zu den „ſtreitbarſten“ Erſcheinungen gehört
das Buch Alfred Schnerichs: „Meſſe und Requiem ſeit Haydn und
Mozart“ (Wien, Stern), welches aber ſeitens der Fachkritik vielfach Ab⸗
lehnung erfuhr. — Für die Praxis geſchrieben iſt das „Kompendium der
katholiſchen Kirchenmuſik“ (Ravensburg, Alber); den erſten Teil, „Ge⸗
ſchichte und Aſthetik“, hat A. Möh ler beſtritten, den zweiten, „Theorie
2. Muſik. B. Oper und Konzert. 375
und Praxis“, Repetent O. Gauß. Man muß den Verfaſſern nachrühmen,
daß ſie ihrer Aufgabe wohl gewachſen waren und mit dem vornehmen
Buche der Musica sacra eine ſchöne Weihnachtsgabe ſpendeten.
B. Oper und Konzert.
Don Theodor Kroyer.
Man hat das jüngfte Stadium unſerer muſikaliſchen Entwicklung als
annus confusionis bezeichnet, ein Schlagwort, das erſtaunlich ſchnell in
den Wortſchatz der Muſikliteraten übergegangen iſt. Es gehört nicht viel
Talent dazu, ihm eine Zukunft zu prophezeien. Kein Wort iſt handlicher,
vielſagender, tiefſinniger, wenn man nichts zu ſagen und keinen Sinn zu
finden weiß. Erſcheint ein apartes Buch, ſo wappne dich mit dieſem Schild!
Sollſt du über die neueſten dramatiſchen Erzeugniſſe dein Urteil abgeben,
ſo ſpitze es auf die Pointe: Konfuſion! und man wird dir bezeugen, daß
du das Weſen der modernſten Kunſt tief erfaſſeſt.
Gewiß, die jüngſten Erſcheinungen des muſikaliſchen Fortſchritts er⸗
ſchweren es auch beſonnenen Kritikern, kaltes Blut zu bewahren; unſere
raſchlebige Zeit verträgt kein ſtilles Abwarten. Nur iſt es wohl nicht die
glücklichſte Löſung, die Senſationen der letzten Jahre mit einem ſo billigen
wie gefährlichen Schlagwort abzufertigen. So ſehr wir die kriegeriſche
Stimmung der Gegenwart begrüßen dürfen — und ſei es auch nur, weil
ſie neues Leben in das dürre Parteigezänk bringt —, ſo müſſen wir der⸗
artige Journalismen doch ablehnen.
Hinter dem annus confusionis ſteckt der Erbfeind aller Kunſt. Er trat
ſtets auf, wenn die Muſik im Begriffe ſtand, ſich zu wandeln. Seine Klagen
über ihren Niedergang ſind faſt ſo alt wie dieſe ſelbſt. Nicht nur Laien,
auch ernſte Muſiker haben ihnen Glauben geſchenkt: „Die Muſik iſt in
Gefahr; wir ſtehen am Ende der Kunſt!“ Dann bildeten ſich Parteien,
die Kunſtſchwätzer rührten die Trommel, und aus dem äſthetiſchen Pulver⸗
dampf ſtiegen, Leuchtkugeln gleich, die neuen Axiome auf. Inzwiſchen aber
ging der Fortſchritt ſeinen Weg, unbekümmert um das Törichte oder Kluge,
was darüber erfloß. Wer aufmerkſam in der Geſchichte blättert, wird ere
kennen, daß dieſer Prozeß immer erſt von den kommenden Generationen
in ſeiner Notwendigkeit begriffen wurde. Es mutet wie ein Witz der Welt⸗
geſchichte an, daß gerade diejenigen, die dann gar nicht mehr begreifen können,
wie das Mißverſtändnis ihrer Vorfahren möglich geweſen, ihrer eigenen Zeit
oft am wenigſten gerecht werden. Ich verweiſe auf den Fall Draeſeke, der
ſozuſagen als Schulbeiſpiel gelten kann, wie er ja auch die Konfufioniften-
bewegung förmlich einleitete. Schließlich verrät dieſe Tatſache nur, daß
eben auch die Niedergangspropheten, als Handlanger jener ſeismiſchen Kräfte,
376 VII. Kunſt.
die jede neue Kunſt gebären, einen Zweck erfüllen müſſen. Wirklich bildet
die negative Kritik der Zeit einen weſentlichen Teil unſeres Ganzen. Iſt die
Revolution nichts anderes als die Abrechnung eines kräftigeren Geſchlechts
mit Formalismus und Unwahrhaftigkeit, ihre Wiedergeburt aus dem
Geiſte geläuterten Menſchentums, ſo iſt die Reaktion als geborene Ver⸗
kennung des Fortſchritts gleichſam der natürliche Gegendruck, den das
Beſtehende dem Zerſtörungstrieb werdender Mächte entgegenſtellt. Sie er⸗
höht damit aber die Spannung und ſteigert ungewollt die Wirkung ihrer
eigenen Niederlage.
Die Klagen über die moderne Muſik ſind alſo an ſich notwendige Auße⸗
rungen, und niemand wird ſie ungeſtraft belächeln. Sie haben ihre nicht
nur geſchichtliche, ſondern auch praktiſche Bedeutung. Das lehren alle großen
Revolutionsperioden des Mittelalters wie der Neuzeit. Was aber unſern
Spott herausfordert, iſt etwas anderes. Nicht die Stimme des Warners,
ſondern der eitle, ſich ſelbſt beſpiegelnde Peſſimismus, der geſchäftig an dem
Heil der Kunſt zu verzweifeln vorgibt. Dieſe Art iſt der wahre Asmodäus
der modernen Muſik, und es mag für die Gegenwart allerdings nicht
ſchmeichelhaft ſein, daß die peſſimiſtiſche Tendenz ihr ureigenſtes Produkt
iſt. Die Alten kannten ſie nicht, wenigſtens nicht in ſolcher Schärfe. Noch
Beethovens Tadlern fiel es niemals ein, für die Abſonderlichkeiten, die ſie
in ſeiner Muſik zu finden glaubten, den Fortſchritt als ſolchen verantwort⸗
lich zu machen. Dies war erſt den Kriegsjahren der Oper vorbehalten.
Wir wiſſen aus Schumanns und Wagners Entwicklungsgeſchichte, daß dieſer
ſchlimme Geiſt des Zweifels aus dem Bodenſatz einer trüben, zerſetzenden
Philoſophie emporgeſtiegen kam. Die eigentlichen Revolutionsjahre ſind
vorüber; was damals erkämpft wurde, iſt heute unſer Beſitz, und ſchon
winken neue Ziele. Aber der Geiſt, den die junghegelſche Schule herauf⸗
beſchworen, iſt geblieben und treibt weiter ſein Weſen. Es muß einmal
geſagt werden, daß ſein Einfluß verhängnisvoll iſt. Der Grundzug unſeres
heutigen Literatentums wie auch gewiſſer muſikaliſcher Kreiſe iſt unverkenn⸗
bar peſſimiſtiſch. Vielleicht darf man darauf hinweiſen, daß es vor allem
die Aſtheten ſind, die wohl ihr eigenes, der Leere und Gefühlsarmut
entſpringendes Mißbehagen verleitet, an der Kunſt zu verzweifeln. —
Uns deucht, auch bei dem neuen Schlagwort hat niemand anderer als
dieſer ſchnöde, giftige Zänker ſeine Hand im Spiel. Ein fataler Klang
iſt in dieſem Wort „Konfuſion“, es liegt etwas Haßvolles, Troſtloſes
darin, mag auch der erſten Abſicht, in der es geprägt, dieſe Wirkung fern-
gelegen haben.
Ein Rückblick auf das Jahr 1908 iſt um ſo nützlicher, als er am
beſten gegen die Prophetaſtereien ſpricht. Seltſames und Unerquickliches
zeigt er wohl, aber auch die eherne Konſequenz im Gang der Dinge.
Ich will verſuchen, aus dem Bilde das Intereſſanteſte feſtzuhalten.
2. Muſik. B. Oper und Konzert. 377
Die deutſche Opernſtatiſtik von 1906/1907 (Leipzig, Breitkopf u. Härtel)
hatte ergeben, daß eine Operette die meiſten Aufführungen erlebte, faſt
doppelt ſoviel als ſämtliche Bühnenwerke Wagners. Mozarts Opern kamen
erſt an ſechſter Stelle. Man kann mit Sicherheit erwarten, daß die Statiſtik
des letzten Jahres ein ähnliches Reſultat haben wird 1. Auch das ftarfe
Vorwiegen des ausländiſchen Elements darf bemerkt werden. Ein angeſehener
Kritiker verſucht, mit dieſem Tatbeſtand ſich auseinander zu ſetzen. Er kommt
zu dem Ergebnis, daß die eigentliche Verantwortung für dieſe neue Fremd⸗
herrſchaft auf die Theater fiele; ſie ließen ſich, ihrer nationalen Miſſion
uneingedenk, von materiellen Intereſſen allein beſtimmen und arbeiteten,
ſtatt das heimiſche Muſikdrama zu fördern, an deſſen Ruin. Der wohl⸗
meinende Autor vergißt nur, daß beim Theater, wie bei aller Kunſt, auch
das Publikum mitzureden hat, das, obſchon immer Kind und erziehungs⸗
bedürftig, doch zuweilen ſeine eigene Meinung hat. Wenn dieſes Publikum
einer Trivialität nachläuft, ſo folgt es nur ſeinem Inſtinkt. Hinter der
platten Luſtigkeit wittert es Lebensweisheit, hält Sentimentalität für innige
Empfindung, Witzhaftigkeit für Humor. Und doch weiß es manchmal genau,
was Täuſchung und was Wahrheit iſt. Das Publikum iſt das Volk. Es
ſehnt ſich unbewußt nach der dem Volke immanenten Einfachheit, Kindlichkeit;
es will Konkretes, Sinnliches, es will Geſtalten, die es als Abbild ſeiner
ſelbſt begreifen kann. Darum bleibt es auch in ſeinen roheſten Außerungen
ſchlechthin elementar, es kann wohl Täuſchungen unterliegen, aber es iſt ſo
wenig wie die ewige Natur fähig zu lügen. Die dreitauſend Aufführungen
der „Luſtigen Witwe“ von Fr. Lehdr dokumentieren ganz gewiß einen
ſchlechten Geſchmack; es wäre indeſſen nichts weniger als klug, ſeine Urſache
in einer allgemeinen Verderbtheit zu ſuchen. Das Körnchen Volkstümlichkeit,
das in der dümmſten Poſſe noch ſteckt, gibt uns des Rätſels Löſung. Was
das Volk in der höheren Oper vergeblich ſuchen würde oder aus verſchiedenen
Urſachen nicht finden kann — hier unter all dem Quark und Getändel
ſpürt es ſeinen Hauch. Die dreitauſend Aufführungen ſind ein Urteil, ein
Plebiſzit, in dem ſcharf und rückſichtslos formuliert iſt, was man will.
Den Künſtlern und Reformatoren zeigte es, wo ſie einzuſetzen hätten.
Freilich dürfen ſie nicht vergeſſen, daß Volkstümlichkeit ſich nicht ertrotzen
läßt. Und Dramatiker im Volkston wie Johann Adam Hiller müſſen
geboren werden.
Auch in der auffallenden Bevorzugung romaniſcher Opern liegt eine
unbewußte Kritik. Ohne Zweifel verdiente die deutſche dramatiſche Schule
ihrer Gediegenheit halber den Vorzug, wenn in der dramatiſchen Kunſt nur
1 Der nach Niederſchrift obiger Bemerkungen erſchienene neue Bühnen ⸗Spielplan
1907/1908 bringt in der Tat nur inſofern eine Anderung, als die ältere Operette
ſich mit einer neueren in den Rekord teilt. Zu den meiſtaufgeführten Opern kommt
noch E. d Alberts „Tiefland“.
378 VII. Kunſt.
die Tüchtigkeit den Ausſchlag gäbe. Die Geſchichte der italieniſchen Oper
hat ſo oft das Gegenteil bewieſen, daß man die Nutzanwendung daraus,
ſo bitter ſie für uns ſein muß, nicht unbeachtet laſſen kann. Die Italiener
ſind nun einmal Dramatiker von Gottes Gnaden. So leicht ſie die Kunſt
nehmen, ſo ernſt, ſo unfehlbar iſt ihr Bühneninſtinkt. Das hat ſogar ein
Mozart fühlen müſſen, und wenn wir heute durch Wagners Genie auch
das Sterbliche an der italieniſchen Dramatik erkannt haben, gegen die
unverwüſtliche Lebenskraft ihres Szenenaufbaues können wir uns nicht ver-
ſchließen, es wäre denn zu unſerem Schaden. Das naive Volk, das immer
ein geborener Dramatiker iſt, empfindet inſtinktiv dieſe Überlegenheit der
romaniſchen Oper. Man wird ihm hundertmal ſagen, daß Leoncavallo ein
dramatiſcher Blender iſt, und es wird Ja und Amen ſagen und ſiebenhundert⸗
fünfundzwanzigmal ſich den dramatiſchen Blender zum „letztenmal“ anhören.
Darin äußert ſich weniger Geſchmacksverwilderung als vielmehr ein dunkles
Ahnen des geheimnisvollen Urgrundes alles dramatiſchen Lebens. Statt
darüber zu klagen, ſollten wir es als einen Fingerzeig begrüßen. ... Eigent⸗
lich dürfte man ſolche Ketzereien heute noch nicht laut ausſprechen.
Die Senſationen der „Salome“ von Rich. Strauß geben inzwiſchen
den Kunſtrichtern andere Aufgaben, als ſich über Statiſtiken zu ereifern.
In der Tat hat kein muſikdramatiſches Werk Jungdeutſchlands die Köpfe
mehr erhitzt. Strauß ſtand ſchon als Sinfoniker an der Spitze einer ſehr
radikalen Fortſchrittspartei. Jetzt iſt er mit einem Schlag der „modernſte“
deutſche Dramatiker. Er iſt, wenn man von dem ganz anders gearteten
Max Reger abſieht, vielleicht die ſtärkſte muſikaliſche Perſönlichkeit. Sie
läßt ſich mit wenigen Worten nicht bezeichnen. Aber ſoviel ſei doch geſagt,
daß ſeiner Muſik, namentlich den älteren Werken, eine zwingende Formkraft
und faſt oratoriſche Beredtheit eigen iſt. Was er zu ſagen hat, das ſteht
alles in großen, koloſſalen Zügen da. Und es iſt durchaus ſeine Sprache,
die er ſpricht, mit etwas kurzatmiger Gedrängtheit im Modulatoriſchen und
mit den breitaustönenden Melodieperioden, die oft unvergleichlich herzens⸗
warm, oft barock, oft aber auch wirklich trivial ſein können. Man darf nicht
vergeſſen, daß Strauß Süddeutſcher iſt und mit der glühenden, romanti⸗
ſierenden Phantaſie auch den Hang zum Träumen und Sichgehenlaſſen über-
kommen hat. Süddeutſch iſt auch ſeine Neigung zum Humor, der gern ins
Derbkomiſche und Burleske umſchlägt. So erklärt ſich ſeine mit der immer
größeren Kunſt der Charakteriſierung ſich ſteigernde Vorliebe für das Un⸗
geheuerliche, für das nur Charakteriſtiſche und Grobſinnliche des Klanges.
Strauß iſt damit offenbar auf einem Punkt angelangt, wo der Pfad abſchüſſig
wird. Denn die Geſchichte zeigt uns, daß, wie der Witz überhaupt, auch
das Extravagante in der Kunſt immer am raſcheſten verblüht, ja unver⸗
ſtändlich wird; am ſichtbarſten an der poetiſierenden Muſik, deren Raritats-
wert vor aller andern zuſammenſchrumpft. Nur in der Oper iſt ſie von
2. Muſik. B. Oper und Konzert. 379
ausſchlaggebender Bedeutung. Daß Strauß von der Programmſinfonie
zum Muſikdrama überging, hat demnach ſeinen tieferen Grund. Seine
dramatiſchen Werke, auch die „Salome“, find die Konſequenz feiner fin-
foniſchen Exzeſſe, hinter denen der Dramatiker nur mit Ungeduld ſich ver-
barg. Alles drängte zum Wort, zur Szene.
Daß der Komponiſt des „Don Juan“, des „Till Eulenſpiegel“, der
Komponiſt, der im „Zarathuſtra“, im „Heldenleben“, in der ſog. Sinfonia
domestica unerhörten Problemen nachſpürt, zur „Salome“ greift, iſt nicht
erſtaunlich. Wenn einer dieſem fürchterlichen Stoff, der die Roheit der
blutigen Staatsaktionen übertrifft, überhaupt tondichteriſch gerecht werden
will, ſo muß er beweiſen, daß die Muſik noch Ausdrucksmittel findet, wo
ſie unſere Schulweisheit ſich niemals hätte träumen laſſen. Ich habe den
Eindruck, daß der Komponiſt, hier auch als Bühnenpraktiker, das Orientaliſche,
Sinnlich⸗Perverſe in den Vordergrund rückt. Der Liebeswahnſinn erfaßt
die Klänge, zerfaſert ſie in ihre Atome, preßt ſie zu neuen Herzenstönen,
wollüſtigen Seufzern und Schmerzenslauten, die wie flüſſiges Erz ſich in die
Seele brennen. Dieſes Maſſige, Brünſtige, dieſer Realismus des Orcheſter⸗
klanges, der das Ohr erſchreckt! Und doch iſt darin nichts von krankhafter
Überreizung, wie geſagt wurde. Eher hat dieſe Muſik etwas von den
Eruptionen ungebändigter Jugendkraft, wie die Flamme grünen Holzes
mit ſtarkem Kniſtern, pfauchend und lärmend auflodert; jedenfalls eine
Kraft, die das Beſte noch verſpricht. In dieſem Verſtande iſt die „Salome“
eine außerordentliche Leiſtung, eine Kraftprobe unſerer jungen Muſikdramatik,
die den Schleier vor der nächſten Zukunft enthüllt. Man iſt darüber in
Aufregung geraten. Freilich, mit den überkommenen Begriffen reiner,
hoher Kunſt, wie ſie Wagner gelehrt hat, hat dieſe Muſik anſcheinend nichts
mehr zu tun. Sie iſt auf einem andern literariſchen Boden, in einer
neuen geiſtigen Atmosphäre gewachſen.
Es iſt ein eigentümliches Zuſammentreffen, daß gleichzeitig auch von
Frankreich her neue Wege der Kunſt aufgeſucht werden. Wagners Einfluß
war dort nie ſo ſtark, daß er die nationalen Strömungen abgelenkt hätte.
Er iſt heute im Schwinden. Man hat ſeine Bedeutung wohl gewürdigt,
man nützt ſeine Lehren, aber man ſchüttelt ihn zuletzt mit Unbehagen ab.
Wie vor zwei Jahrhunderten lechzen die Franzmänner heute nach einem
Muſikdrama nationaler Herkunft. Die angeborene Eitelkeit, ihr Ehrgeiz und
wandelbarer Sinn dulden kein fremdes Joch. Und ſo haben auch ſie jetzt
ihre neuen Senſationen. Auf Guſtav Charpentiers „Louiſe“, das
Drama ohne Drama, ijt Claude Debuſſys „Pelléas und Meliſande“
gefolgt, ein Werk, das auch in Deutſchland zu lebhaften Auseinanderſetzungen
führte. Die Diskuſſion iſt noch nicht geſchloſſen. Erwies ſich in Charpentiers
„Louiſe“ die Geſtaltung eines modernen Stoffes in der den Franzoſen ſchon
länger geläufigen Form des Muſikromans als das eigentlich Neue, die Muſik
380 VII. Kunſt.
aber nur als ſchwaches Reagens, fo ſucht in „Pellkas und Meliſande“ ein
zwar exzentriſcher, aber als Perſönlichkeit intereſſierender Muſiker Fühlung
mit der hypermodernſten Literatur. Sein Dichter iſt Maeterlinck, deſſen
blaſſer, in ſchauriger Dämmerung ſich verſenkender Myſtizismus der Muſik
außerordentliche Probleme zu löſen gibt. Im Kern krankhaft, vermag das
genannte Drama durch den exotiſchen, wie aus Nebeln aufſteigenden, iri⸗
ſierenden Stimmungszauber doch zu feſſeln. Dieſen im Zwielicht flackernden
und verlöſchenden Empfindungen ſpürt der Muſiker nach. Nicht mit den
geſunden Sinnen, ſondern mit verborgenen Taſtorganen, die wider alle Natur
irgendwo gewachſen ſcheinen, wo wir andere Menſchen keine haben. Um
mich deutlicher zu machen: Debuſſy taucht in ein harmoniſches Urgemenge
unter, beſchwört aus dem Brodem matte, weichlich zerfließende, eintönig ⸗
ſeltſame Phantome herauf, die wie Nebel heranſchleichen, ſchattenhaft, ein-
ſchläfernd alles Geſchehen und Vergehen umſpinnen: ein Experiment, das
die entwickelte Harmonik unſerer Zeit und die damit geſteigerten Fähigkeiten
des modernen Ohres zur Vorausſetzung hat 1. Debuſſys Symbolismus Löft
ſich los von der Melodie; der Konturen einer muſikaliſch artikulierten Sprache
bar, hat er nur Farbenreflexe, deutet nur an, ſtammelt, lallt. Er iſt
rückgratlos wie Maeterlincks Gedicht, ohne allen dramatiſchen Nerv — graue
Monotonie. Wenn Kontraſt Leben iſt, dann hat dieſe ſieche, dünſtelnde
Muſik den Tod hundertmal verdient. In der Literatur ijt der Symbolis-
mus überwunden, die Muſik wird ihr ſobald nicht folgen. Für Franzoſen
und gewiſſe Kosmopoliten iſt das Feld zu verlockend, und ſie mögen ſtolz
ſein: die Muſikgeſchichte hat einen neuen Typ, den kränkelnden, todwunden
Dandy. Debuſſy iſt ohne Zweifel der erſte Muſiker der Decadence, er iſt
der orcheſtrale Apokalyptiker, der Baudelaire der Muſik. — In Paul
Dukas' Arianne et Barbe-Bleue (nach Maeterlind) hat Debuſſys ſym⸗
boliſtiſche Oper bereits ein Seitenſtück erhalten. Doch behandelt Dukas ſeinen
Stoff ähnlich wie Charpentier, flächenhaft, ohne dramatiſche Spannung.
Seine Muſik iſt nicht weniger gequält, aber ſie atmet, redet, lebt.
Das Jahr 1908 hat uns auch eine neue „Fauſtmuſik“ beſchert, die
zur Eröffnung des Weimarer Hoftheaters gegeben wurde. Sie rührt von
Felix v. Weingartner her und wird ſehr gelobt. Man hebt hervor,
1 Auf die Gefahr hin, mißverſtanden zu werden, ein Gleichnis: Wie die Präraffaeliten
auf die Nachahmung einer primitiveren Epoche der Kunſt verfielen, ſo möchte man auf
den — vermeſſenen — Gedanken kommen, Debuſſy habe auf die älteften Epochen der
Polyphonie zurückgreifen wollen, etwa auf die frankoniſche Übergangsperiobe, in der das
harmoniſch⸗ klangliche Element noch wenig entwickelt, mehr als Symbol dogmatiſcher
Kunſtanſchauung denn als wirkliche Kunſt gelten muß. Daß noch Dufays Epoche, wie
die ganze niederländiſche Schule überhaupt, einen myſtiſchen Zug hat, iſt ja bekannt.
So wäre demnach Debuſſys Muſik — cum grano salis — mit einem Schimmer von Recht
auch als eine Art „Prädufayismus“ zu bezeichnen. Auch das neue Wort , Primitivis-
mus“ ſchlage ich vor.
2. Muſik. B. Oper und Konzert. 381
daß ſie unter Verzicht auf verbindende Motive nur auf leiſe Untermalung
der dramatiſchen Vorgänge abziele. Das abſolut Muſikaliſche trete zurück,
ſei aber dabei von durchſchlagender Charakteriſtik; einzelne Szenen wie die
„Hexenküche“, die „Erſte Walpurgisnacht“ ließen Weingartners unleugbares
Bühnengenie erkennen. In der Homunculus-Szene überraſcht ein neuer
Klangeffekt, der durch Verbindung einer zweifüßigen Orgelſtimme mit der
Celeſta erzeugt wird 1.
Die übrigen Erſcheinungen des Jahres bieten weniger Intereſſe. Eugen
d' Alberts Oper „Tiefland“ hat ſich nach und nach faſt alle Bühnen
erobert. Recht armſelig ſieht es dagegen mit den Verſuchen auf dem Gebiet
der Spiel. und Märchenoper aus. Joh. Doeblers „Zauberlehrling“
(nach Goethes Ballade !), in Braunſchweig aufgeführt, erweiſt ſich als
dramatiſche Unmöglichkeit. Ebenſo verfehlt iſt Karl Lafites Märchen
„Das kalte Herz“ (nach Hauff). Daß Otto Dorn in feiner „Schönen
Müllerin“ (nach franzöſiſchem Luſtſpiel) mit einer richtigen Spieloper ſich
hervorwagt, ſoll dankbar vermerkt ſein. Sie iſt nichts weiter als eine
glatte Bonhommie, aber ohne Prätenſionen. Würden ernſte Muſiker nur
halb ſoviel Anſpruchsloſigkeit üben, dann hätte der Operettenpavel bald
weniger Gefolgſchaft. A. Ernſt hatte das Bedürfnis, Wolfs „Corregidor“
noch einmal zu komponieren. Seine komiſche Oper „Gouverneur und
Müller“ beweiſt nur aufs neue, wie wenig dieſer Stoff ſich für die Bühne
eignet. A. Götzls „Zierpuppen“ (von Batka) find mit Geſchick den fein:
ſatiriſchen Précieuses ridicules des Molière nachgeformt, muſikaliſch aber
ohne Stil; der Komponiſt hat keine Ahnung von der Schwierigkeit ſeiner
Aufgabe, vermengt Alt und Neu in ſehr ungenierter Weiſe. Da iſt Leo
Blechs muſikaliſches Luſtſpiel „Verſiegelt“ aus kernigerem Holz geſchnitzt.
Das Buch, eine Bearbeitung der Raupachſchen Komödie „Der verſiegelte
Bürgermeiſter“, hat köſtliche Stellen, geſunden Mutterwitz und packende
Situationen. Es iſt ein guter Verſuch im Genre der feineren Spieloper.
Blech genießt den Ruf eines erfahrenen Bühnenmannes. Nur ſeine Neigung
zum Künſteln gefällt mir nicht. Derſelbe Vorwurf wird auch gegen Sieg-
fried Wagner erhoben, deſſen „Sternengebot“ mit mäßigem Erfolg über
die Bretter ging. In München erlebte Ant. Beer-Walbrunns „Don
Quijote“ ſeine Uraufführung. Schon Wilh. Kienzl hatte ſich vergeblich
gemüht, aus dieſem ſpröden Stoff Muſik zu ſchlagen. Seine äſthetiſchen
Räſonnements, die er damals in mehreren Zeitſchriften über ſein Werk ver⸗
öffentlichte, waren ſehr lehrreich, namentlich als ſie dann durch die Tat
gründlich widerlegt wurden. Es iſt mir unbegreiflich, daß Beer⸗Walbrunn
durch dieſen vielbeſprochenen Mißerfolg ſich nicht hat warnen laſſen. Ob
dieſer Stoff überhaupt muſikdramatiſch brauchbar iſt, könnte uns nur das
1 gl. Allgemeine Muſik Zeitung 1908 (Berlin-Eharlottenburg, Paul Lehſten), 364.
382 VII. Kunſt.
Genie beantworten. Beers Muſik iſt nicht arm an ſchönen Einzelheiten,
aber ohne das rechte Zeug zum Dramatiſchen. C. Goldmarks „Winter-
märchen“ muß ebenfalls zu den Enttäuſchungen des Jahres gerechnet werden.
Das Textbuch iſt vergröberter Shakeſpeare, die Muſik charmante Vielwiſſerei.
Goldmark arbeitet nach tauſend Vorlagen, mit Zirkel und Schraffur. Seine
Farben ſind flott, aber nicht echt. Der Jung⸗Wiener Jul. Bittner hatte
mit ſeiner Erſtlingsoper „Die rote Gred“ geteilten Erfolg. Als Dichter
ſeines Stückes wird er gerühmt, ſeine Muſik aber bezeichnet man als grob
und unreif.
Der veriſtiſche Nachwuchs hat langſam abgewirtſchaftet. Die rohe Mache
der extremen Jung⸗Italiener vermag auch die Maſſen nicht mehr zu täufchen.
Doch find immer noch beachtenswerte Talente darunter. So Joan Manén,
der in Dresden mit feiner Oper „Acté“ ſtarken Eindruck hinterließ. Das
Stück ſpielt in der römiſchen Kaiſerzeit und behandelt die Bekehrung und
den Märtyrertod der Actäa. Das Ganze iſt ſehr dekorativ, aber ohne
tiefere Motivierung. Manen arbeitet mit dem derben Pinſel des Theater⸗
malers; dramatiſche Verve erhebt ſeine Muſik zu einem höheren Intereſſe.
Eine gewiſſe Schlagkraft iſt übrigens ſelbſt den mittelmäßigen Arbeiten
eigen, wie E. Pizzis „Roſalba“, M. Bertrands „Ghyslaine“, R. Lapar⸗
ras „Habenera“, „Mife Brun“ von Pierre Maurice u.a. Im allgemeinen
freilich ſieht dieſe ganze Kunſt, die ſo ſehr auf den Effekt ausgeht, den
abenteuerlichen Kolportageromanen gewiſſer Berliner „Volkskunſt“⸗Anſtalten
verzweifelt ähnlich.
Im Sommer unternahmen die Ruſſen einen Einfall nach Deutſchland
und Frankreich. Das Enſemble der kaiſerlichen Hofoper von St Peters⸗
burg und Moskau ſpielte in Berlin die bekannteſten Werke ſeines Repertoires,
darunter Glinkas „Leben für den Zar“, Dargomiſchskis „Ruſſalka“,
Tſchaikowskis „Pique-Dame” und „Eugen Onjegin“. In Paris brachten
ſie an der Großen Oper den „Boris Godunow“ von Muſſorgski, und
„Snegurotſchka“ von dem inzwiſchen verſtorbenen Rimski⸗Korſſakow
zur Aufführung. Paris hat gejubelt. Die Herzen, die die Politik ver-
bindet, fanden ſich auch in der Kunſt. Berlin blieb kalt, ſei es daß man
den guten kritiſchen Ruf wie immer durch ein ſcharfes Urteil beurkunden
wollte, oder daß die Leiſtungen wirklich ſchlecht waren. Man lobte nur
die prachtvollen Chöre; die geringe Bühnengewandtheit und ſonſtige techniſche
Mängel mißfielen. Bei dieſer Gelegenheit kam auch die allgemeine Stellung
der ruſſiſchen Muſik wieder einmal zur Sprache, vielleicht das einzige Frucht ⸗
bare, was dieſer öſtliche Beſuch zu Tage förderte. Wie man in der Literatur
die Ruſſen eine Zeitlang ſtark überſchätzte, ſo hat auch die Muſik ihren
Ruſſentaumel gehabt. Die urwüchſige Kraft, die helle, heiße Leidenſchaft,
die in ihrer Inſtrumentalmuſik flutet, dabei wieder die faſt kindliche Un-
befangenheit, mit der ſie von ihren tiefſten Gefühlen plaudern können —
2. Muſik. B. Oper und Konzert. 383
etwas Erdduftiges, Urechtes iſt in ihrer Muſik, und das iſt's, was ihr
in Deutſchland Freunde gemacht hat. Sobald der ruſſiſche Komponiſt ſeinen
engen nationalen Vorſtellungskreis aber verläßt und hohen Zielen zuſtrebt,
wird ſeine künſtleriſche Abhängigkeit von weſtlicher Kultur und der geringe
Grad ſeiner Bildung evident. Da legt er ſeine Natur ab, um ſeine innere
Roheit zu verbergen, er wird kalt, falſch, — mit ſeiner Einfalt iſt es vorbei.
Die ruſſiſchen Novelliſten ſchildern dieſe Metamorphoſe an ihren Typen oft
und oft. Am ungeſchwächteſten zeigt ſie ſich in der ruſſiſchen Oper: aſiatiſcher
Barbarismus reckelt ſich neben ſüßlicher Delikateſſe; wilde Sinnlichkeit lauert
unter dem fremden Firnis. Man begegnet oft der Frage, ob die ruſſiſche
Muſik einmal berufen ſein wird, auf die europäiſche Kultur wieder zurück⸗
zuwirken. Vor kurzem las ich irgendwo über Tſchaikowskis Begegnung mit
Leo Tolſtoj. „Mein erſtes Gefühl“, ſchreibt der ruſſiſche Meiſter, „als ich
Tolſtoj ſah, war Schrecken und Schüchternheit. Mir ſchien, dieſer Herzens⸗
kenner müſſe alle Geheimniſſe meiner Seele mit einem Blick durchſchauen.
Vor ihm, dachte ich, kann man nicht all den Schmutz verhüllen, den man
auf dem Grunde feiner Seele hat, und nur die ſchöne Seite zeigen ...“
Dieſer Satz gibt die Antwort. „All den Schmutz verhüllen“ — denke man,
daß einer unſerer deutſchen Großmeiſter von ſich dergleichen geſagt hätte!
Ich kann dieſen Überblick über die Oper nicht ſchließen, ohne auch jener
Reformbewegung zu gedenken, die nichts Geringeres als eine völlige Um⸗
wälzung der Szenik anſtrebt 1. Beim 44. Tonkünſtlerfeſt des Allgemeinen
Muſikvereins wurden im Münchener „Künſtlertheater“ 2 die erſten Verſuche
dieſer Art nicht ohne beifälligſtes Intereſſe ins Werk geſetzt. Man geht
von der Erwägung aus, daß die bisherige Opernbühne ſchablonenhaft, rück,
ſtändig, kurz unkünſtleriſch, die Phantaſie des Beſchauers im höchſten Grad
ſtörend beeinfluſſe. Hinter dem Fortſchritt der modernen Bildkünſte ſei die
Dekorationsmalerei zurückgeblieben. Eine Reform dränge ſich um ſo mehr
auf, als die Zukunft des Wagnerſchen Dramas, das im Szeniſchen, ſogar
in Dichtung und Muſik von der alten Bühnenſchablone beherrſcht ſei,
lediglich von feiner Anpaſſungsfähigkeit dieſen modernen Forderungen gegen-
über abhänge 3. Dieſe Experimente greifen tief in das Weſen der Bühnen-
technik ein, weil ſie an die Mitwirkung der Phantaſie des Beſchauers
appellieren, alſo eine Durchgeiſtigung, anderſeits aber wieder eine Realität
des Bildes erſtreben, die der geſamten dramatiſchen Kunſt zum Heil gereichen
könnte. Wie eine Ironie lieſt ſich dazu die Nachricht über eine hiſtoriſch⸗
1 Vgl. auch die merkwürdige Studie von Adolf Appia, Die Muſik und die
Inſzenierung (München, Bruckmann).
2 Näheres über das „Künſtlertheater“ ſ. Abſchnitt VII, 3: „Theaterweſen“ S. 388.
® Zu dieſer radikalen Kritik der Wagnerſchen Szene geſellt ſich neuerdings die be-
ſonders durch Weingartner in Wien aufgerollte Strichfrage. Ihre Löſung iſt ein
notwendiges Korrelat des neuen Szenenproblems.
384 VII. Kunſt.
getreue Aufführung des „Sardanapal“ im Berliner kgl. Opernhaus. Mit
gelehrter Pedanterie war da alles bis ins kleinſte aſſyriſiert. Wiſſenſchaft,
künſtleriſche Impotenz und Opernmache verbanden ſich zum Kult der Außer⸗
lichkeit. Das Ganze war ein böſer Rückfall in das Ausſtattungsſtück, oder
vielleicht auch nur — ein Experiment.
Über die Erſcheinungen des Konzertlebens muß ich mich kurz faſſen.
Aus der ungeheuren Fülle guter und mittelmäßiger Arbeiten laſſen ſich die
bemerkenswerten um ſo ſchwerer herausſuchen. Die neu ausgegebenen vier
Jugend⸗Ouvertüren von Richard Wagner wurden allenthalben mit ge-
ſpanntem Intereſſe aufgenommen. Sie lehren wieder, daß das Genie in
ſeinen Erſtlingen ſchon transparent iſt. In der ſtürmiſchen, rückſichtsloſen
Kraft und Neigung zu Exzeſſen ſind dieſe Ouvertüren wie die Morgenweiſe
eines neuen Zeitalters. Nachderhand läßt ſich ſo etwas freilich immer leicht
feſtſtellen, und gewiſſe Leute ſind immer ſtolz auf die Entdeckung eines Genies,
vorausgeſetzt, daß es tot iſt. Guſtav Mahlers ſiebte Sinfonie, in Prag
zum erſtenmal aufgeführt, wird mit der üblichen Verbeugung als bod
bedeutendes Werk kommentiert. Ich kann zu Mahlers Muſik keinen Weg
finden; ſie erſcheint mir geklügelt, ohne innere Notwendigkeit. Es fehlt
ihr die wahre Zeugungskraft. Die aufdringliche orcheſtrale „Kunſt“ vermag
über dieſen Mangel nicht hinwegzutäuſchen. S. v. Hauseggers „Requiem“
(Hebbel) für achtſtimmigen Chor kann als warnendes Beiſpiel dienen. Der
techniſche Rückgang des vokalen Chorſatzes, wie er ſich bei faſt ſämtlichen
Sinfonikern der Gegenwart zeigt, ſcheint hier beſiegelt. Hausegger führt
die Singſtimmen inſtrumental noch rückſichtsloſer und naturwidriger als alle.
Der Einfluß des Orcheſterklangs, ſchon bei Beethoven nach dieſer Richtung
verhängnisvoll, legt ſich wie Rauhreif auf den Geſang. Die menſchliche
Stimme wird zum inſtrumentalen Experiment. Nicht der Verſuch ihrer neuen
Anwendung an ſich iſt verwerflich, ſondern eben die Unterſchlagung der Geſetze,
die die Natur dem ſchaffenden Geiſt vorgeſchrieben hat. Ein geiſtreicher
Kritiker nennt Hauseggers „Requiem“ ein Stück aus Fauſts Studierſtube,
bei Lampenlicht und verhängten Fenſtern aus gläſernen Retorten kohobiert.
Dieſe treffende Bemerkung ließe ſich mit noch ſpitzerem Sinn auf zwei neue
Tondichtungen Debuſſys anwenden: die ſinfoniſche Suite La Mer, die
in Paris im Colonne⸗Konzert ausgeziſcht wurde, und die Kantatille „Aus-
erkoren“, blutleeres, affektiert müdes Getue, hinter dem Gedankenbläſſe fofett
ſich verbirgt. Dieſe Stücke mögen, wie „Pelle as und Meliſande“, den
Programmäſthetikern die Augen öffnen. Die Kriſis Debuſſy wird vorüber⸗
gehen, aber ſie braucht ihre Zeit. Als bedeutendſte Konzertmuſik der letzten
Jahre verzeichnen wir M. Regers Orcheſter⸗Variationen über ein Thema
von J. A. Hiller. Vor allem in den langſamen Sätzen offenbart ſich die
Bodenſtändigkeit, die ungebrochene, tiefe Kraft des Künſtlers. Er ſchöpft
aus den Vollen, wie nur ganz wenige unſerer Zeit. In der Vielſeitigkeit,
2. Muſik. B. Oper und Konzert. 385
Reinheit und Ausgeprägtheit des muſikaliſchen Idioms kommt ihm kaum
einer gleich. Man muß auf Brahms, auf Beethoven und Bach zurück⸗
gehen, um ſeine Vorbilder zu finden. Ich glaube es gern, daß die
Maſſen dieſem Manne nicht zujubeln. Wer den Göttern nahe, iſt der
Erde entrückt.
Der Ertrag an neuen oratoriſchen Tonſchöpfungen iſt gering. Georg
Schumanns „Ruth“ (eine Zuſammenſtellung von Bibelwort und moderner
Literatur. Leuckart, Leipzig) krankt an Farbloſigkeit des Stils. Der Kom⸗
poniſt verfügt zwar über hohe techniſche Schulung, hat aber wenig In-
dividualität. In dem Schwanken zwiſchen Brahms und Wagner verrät
ſich die wahre Trabantennatur. Nicht ſo hart urteilt die Fachwelt über
das neue Myſterium „Totentanz“ von F. Woyrſch (ebd.). Das Buch
behandelt einen der gewaltigſten Vorwürfe, die die Kunſt kennt. Von der
Idee an ſich geht ſchon ein Zauber aus. Daß doch das Talent und nicht
das Genie dieſen Stoff aufgegriffen hat! Kenner des modernen Oratoriums
denken vielleicht an Elgar, auf den die Engländer große Hoffnungen
ſetzen. Woyrſch iſt als Lyriker wie als Komponiſt des Paſſionsoratoriums
beachtenswert. Sein Stil iſt feſt und klar, mit leiſe klaſſizierendem Ein.
ſchlag, etwa in der Art von Rob. Franz, nur um eine Nuance dunkler.
Es klingt alles reizend. Aber die ſehnige, den koloſſalen Stoff umſpannende
Kraft iſt ihm verſagt. Eine Muſik, die uns den Totentanz ſingt, muß aus
Urſtoff geformt und in der Eſſe des Schmiedes Schmerz geſtählt ſein. Sie
muß Blitze ſchleudern und die Gewalten der Unterwelt entfeſſeln. Der
„Totentanz“, dieſe fürchterlichſte Phantaſie des menſchlichen Gehirns, will
nicht den Pas bourré des Tänzers Unſerer Lieben Frau, ſondern einen
Ewigkeitshymnus, der die Herzen durchſchauert.
Über die Kammer., Lied. und Hausmuſik foll in einem ſpäteren Jahr-
gang berichtet werden. Das Material iſt überaus reichhaltig und gibt zu
prinzipiellen Auseinanderſetzungen Anlaß. Dabei wird auch der modernen
Volksmuſik zu gedenken ſein, die verſchiedene neue Erſcheinungen von Be⸗
deutung zu verzeichnen hat, um ſo merkwürdiger, als ſie offenbar von dem
Wellenſchlag der muſikaliſchen Renaiſſancebewegung getragen ſind. Über
dieſe noch ein Wort. Vielleicht werden ſpätere Geſchlechter überhaupt
den Triumph der jungen Muſikwiſſenſchaft darin erblicken, daß ſie ſo
früh mit dem Volk Fühlung findet, als Beweis ihrer Notwendigkeit und
ihrer geſunden Organiſation. Allen Widerſachern zum Trotz: ſie hat ihre
Sache auf feſten Boden geſtellt. Freilich, die Aufgaben der Zukunft ſind
unendlich größer noch, als Fernerſtehende ahnen mögen. Nicht allein das
Volksleben, auch die geſamte muſikaliſche Kultur unſerer Zeit wendet ſich
an ſie, die viel tiefer in das lebende Schaffen und Genießen eindringt und
daher unermeßlich höhere Anforderungen an ihre Jünger ſtellt als alle
andern Kunſtwiſſenſchaften.
Jahrbuch der Seite und Kulturgeſchichte. II. 25
386 VII. Kunſt.
Dieſes ihr Wirken macht ſich heute überall kund, in der Schule, im
Haus, im öffentlichen Muſikleben, in der Wiſſenſchaft, im Bibliotheksweſen, ja
ſelbſt im Staatshaushalt — zwar nicht überall mit gleicher Energie, aber ſtetig
wachſend. Was unter andern Wagners literariſche Tätigkeit nur indirekt in
tempo rubato vorbereitete: die Hebung des ganzen Muſikerſtandes, — der
praktizierenden Muſikwiſſenſchaft gilt ſie als eine Aufgabe, die ſie auf
breiteſter, internationaler Baſis konſequent durchzuführen hat. Die erſten
Anregungen und wirklich brauchbaren Vorſchläge gingen von einer ihrer
erſten Kapazitäten 1 aus, und ſo, wie die Dinge liegen, wird ihre Erfüllung
einzig und allein davon abhängen, ob der Samen einer guten allgemeinen
theoretiſchen Bildung auf empfänglichen Boden fällt. Die Führung wird
alſo zunächſt den Hochſchulen vorbehalten ſein. Noch einleuchtender wird
die Bedeutung der muſikwiſſenſchaftlichen Renaiſſance, wenn man ſich ver⸗
gegenwärtigt, daß Jahr für Jahr die Aufführungen alter Muſik einen
immer größeren Prozentſatz ergeben. Sehr lehrreich ſind in dieſer Beziehung
die ſtatiſtiſchen Tabellen der Zeitſchrift der „Internationalen Muſikgeſell⸗
ſchaft“ (Leipzig, Breitkopf u. Härtel). Die außerordentliche Zunahme und
Variation dieſer Aufſtellungen im Vergleich mit den übrigen literariſchen und
muſikaliſchen Strömungen zu verfolgen, wäre eine Studie für ſich. Dabei
muß auch beachtet werden, wie außer Deutſchland England und vor allem
Frankreich, das auf muſikwiſſenſchaftlichem Gebiet mit uns zu gemeinſamer
Arbeit ſich verbunden hat, alte Kunſt propagieren. Durch Aufführungen
altklaſſiſcher Muſikdramen, durch Gründung einer Société des instruments
anciens, durch regelmäßige Veranſtaltung alter Kammermuſik haben die
Franzoſen einen kleinen Vorſprung abgewonnen, obſchon nicht geleugnet
werden kann, daß die deutſche Renaiſſance, wenn auch bedächtiger, doch
tiefer eingreift. Das mögen unſere durchgearbeiteten, allen Bedürfniſſen
Rechnung tragenden Denkmäler ⸗Ausgaben bezeugen, denen die andern Völker
nichts ähnliches an die Seite zu ſetzen haben?. Dieſen Erſcheinungen, wie
überhaupt der deutſchen Renaiſſance, widmet auch das Ausland ſeine
Aufmerkſamkeit. Sie erhellt vor allem aus den Außerungen ihrer Fach⸗
literatur — ich erinnere an Schweitzers Bach musicien-poete®, ein Buch,
das in Frankreich wie ein leuchtendes Meteor niederging. Wenn im
Jahre 1908 in Lille ein Schubertfeſt, in Barcelona ein erſtes ſpaniſches
Bachfeſt, in Paris die Aufführungen altdeutſcher Chor- und Suitenmuſik
auf lebhaftes Intereſſe rechnen konnten, ſo iſt für alle Patrioten klar, daß
die Renaiſſancebewegung auch zur Verbreitung und Anerkennung deutſcher
Kunſt ihr Scherflein beiſteuert.
ı Hermann Kretzſchmar, Muſikaliſche Zeitfragen (Leipzig 1903, Peters).
2 Über die neuen Publikationen, beſonders die öſterr. Haydn⸗Ausgabe, wie über die
von Italien geplante Monteverdi⸗Ausgabe fol im nächſten Jahre berichtet werden.
> Vgl. Abſchnitt VII, 2 A: „Kirchliche Muſik“, S. 373.
2. Muſik. B. Oper und Konzert. 387
Vielleicht das überraſchendſte, jedenfalls aber das für die Praxis folgen-
reichſte Ergebnis ſind die neuen techniſchen Probleme, die wie von ſelbſt
aus der Stilfrage ſich herausſchälten. Schon die älteren Aufführungen
Bachſcher und Händelſcher Muſik legten den Gedanken nahe, nach den Be⸗
dingungen der dieſen Werken gemäßen Vortragspraxis zu forſchen, weil
ihre Wichtigkeit für das Verſtändnis der alten Muſik und für die Zukunft
der Renaiſſance überhaupt bald erkannt wurde. Im weiteren Verfolg ließ
ſich feſtſtellen, daß die Praxis des 17. und 18. Jahrhunderts, von unſerer
weſentlich verſchieden, in anderer Organiſation und Ausnützung der zum
Teil viel mannigfaltigeren Mittel, in einer höchſt charakteriſtiſchen, uns heute
fremden Vortragstechnik, ja in einer uns völlig neuartigen Stilanſchauung
beruhte, daß demnach auch die Wirkung ſolcher Muſik von der modernen
verſchieden geweſen ſein müſſe. So wurde die hiſtoriſche Stilfrage zum
Ausgangspunkt der Reform wenigſtens eines Teils des Konzertweſens.
Auch für die Oper ergaben ſich neue Forderungen. Die Veranſtaltung
hiſtoriſcher Mufif- Aufführungen, wo man die theoretiſchen Reſultate in die
Tat umſetzte, beſtätigten die volle Richtigkeit der wiſſenſchaftlichen An-
nahme, daß ohne die proportionierte Beſetzung des alten Orcheſters, ohne
die ausfüllende Cembaloſtimme, ohne die Berückſichtigung der alten Ge-
ſangsmanieren u. a. an eine wahre Wiederbelebung alter Kunſt nicht zu
denken ſei. Dabei wurde die Aufmerkſamkeit auf die einzelnen Organe
des alten Orcheſters hingelenkt, auf die choriſche Behandlung verwandter
Klanggruppen, auf die vollzählige Differenzierung der Gattungen, auf
Spezialinſtrumente, die im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts wieder
abgekommen waren. Nun intereſſierten ſich auch die ſchaffenden Künſtler,
wenigſtens machten ſie ſich die Anregungen zunutze. Schon im Beginn des
vorigen Jahrhunderts, damals als die Bläſerchöre des ſtehenden Heeres ſich
entwickelten, waren die Verſuche, durch Neukonſtruktionen den Inſtrumental⸗
apparat zu verbeſſern und zu vergrößern, wieder mit Eifer aufgenommen
worden; auf die alten Inſtrumente griff man nur gelegentlich zurück.
Unſere großen modernen Orcheſter mit ihren ausgebildeten Blechbläſerchören
ſind die Zeugen für den glücklichen Erfolg ſolcher Verſuche. Man hat
heute gejagt, daß wir an der äußerſten Grenze der Klangkombinationen an-
gelangt ſeien. Die Renaiſſance hat das Gegenteil bewieſen. Nicht nur die
alten Akkordinſtrumente (Cembali, Harfen, Theorben, Lauten), auch die
typiſchen Bläſerchöre (Schwegel, Flöten, Zinken, Pommern u. a. in den vier
Tonlagen), dieſe eigenartige Klangwelt iſt dem ſchöpferiſchen Geiſt neu er-
ſchloſſen. An geſchickten Verſuchen, ſich ihrer zu bemächtigen, hat es nicht
gemangelt. Inſtrumentenbauer und Komponiſten ſchließen ſich zuſammen.
Abgeſehen von den gleichzeitigen neuen Violen» und Baßkonſtruktionen ſtrebt
man, vor allem die Holzbläſerfamilien zu vervollſtändigen. So entſtanden
als Rekonſtruktionen und Neubildungen: Oboe d'amore, Alt- und Baßflöte,
25
388 VII. Kunſt.
Bake und Kontrabaßklarinette, Heckelphon, die in der Praxis ſofort durch
Schillings, Richard Strauß, Weingartner, Humperdinck, Mahler, Vincent
d'Indy, Kloſe, Boehe u. a. Verwendung fanden. Das neueſte Inſtrument
dieſer Art iſt das Ende des 18. Jahrhunderts von einem Paſſauer erfundene
und damals auch verwendete Baſſetthorn, worauf Richard Strauß in
feiner jüngſten Oper „Elektra“ wieder zurückgreift; es iſt aus der Clari-
nette d'amour in F entſtanden, alſo eine Altklarinette mit zwei Ergänzungs⸗
tönen in der Tiefe 1. Auch das 1830 von Streitwolf erfundene Kontra⸗
baſſetthorn wird ſich einbürgern. Namentlich die Firma Heckel in Biebrich
hat eine Anzahl älterer Inſtrumente ſozuſagen in neuer, verbeſſerter Auf-
lage erſcheinen laſſen, u. a. das Fagottino Savarys (1832), die Muſette,
die Flate d'amour, die Clarinette d'amour in G und As ?, eine Samm-
lung, die mit den neuen franzöſiſchen und deutſchen Cembali, Lauten,
Theorben jeden muſikaliſchen Feinſchmecker verlocken muß — und wäre es
auch nur zu einem Ausflug in eine neue Welt der Kurioſität.
Wir ſind alſo noch keineswegs am Ende der Kunſt. Mögen die Peſſi⸗
miſten klagen! Wir können ihren Schmerz nicht tragiſch nehmen. Die
Gegenwart ſtellt ein freundliches Horoſkop: wo der Witz der Kunſt ver⸗
ſagt, da hilft der Findergeiſt der Wiſſenſchaft.
3. Theaterwefen.
Don Jofeph Sprengler.
In Tagen, wo die zeitgenöſſiſche Bühnendichtung tief oder auch nur
ſtille ſteht, wo ihr geiſtiger Gehalt, ihr Pathos, ihr künſtleriſcher Ausdruck
den inneren Beſchauer nicht mehr hinreißen, da wendet ſich die äſthetiſche
Anteilnahme unwillkürlich von ihr ab, um bei andern naheliegenden, jedoch
mehr äußeren Erſcheinungsformen zu verweilen, ſei es nun, daß ſie an dem
ſtabilen Bühnenaufbau, an dem Modus der künſtleriſchen Inſzenierung, an
einem Regieprinzip oder auch nur am Schauraum ſelbſt haften bleibt. Das
Intereſſe iſt alſo kein rein dramatiſches mehr.
In ſolchen Zeitläuften nun wird gerne der Ruf nach neuen künſtleriſchen
Werten, nach Bühnenreform an Haupt und Gliedern laut. So tauchten in
dem dichteriſch armen, verödeten Jahrzehnt nach 1870 die Meininger auf, und
ihre Enſemblekünſte, ihre Regietendenzen belebten wieder die Muſentempel,
entrollten neue artiſtiſche, ſzeniſche, ſchauſpieleriſche Probleme und gaben
der Bretterwelt jene Wirkungskraft zurück, die ihr von der Dichtung aus
I Vgl. Wilhelm Altenburg, Eine Wiedereinführung des Baſſetthorns. Neue
Zeitſchrift für Inſtrumentenbau, 28. Jahrg. (Leipzig, de Wit), 554 ff.
2 Ebd. 556. a
3. Theaterweſen. 389
verſagt blieb. Daß die Wandertruppe des Herzogs Georg von einſeitigen
Kunſtdoktrinen geleitet war, daß ſie beiſpielsweiſe die hiſtoriſch⸗archäologiſche
Treue der Umwelt zu ſehr betonte und den fortſtürmenden dramatiſchen
Rhythmus zu wenig, das hatte die Kritik ſchon damals erkannt. Eines
aber hat ſich erſt dem rückſchauenden Blick erſchloſſen: dieſe Reform im
Kuliſſenbereich hat allen voran den realiſtiſchen Gedanken ergriffen, der,
nach und nach ſich herauslöſend, in der ganzen Kulturſtrömung latent lag.
Sie iſt ſomit ein Vorbote der literariſchen Revolution geweſen, die anderthalb
Jahrzehnte ſpäter um Gerhart Hanptmann und Arno Holz losbrechen ſollte.
Es gewinnt den Anſchein, als ob wir heute einer ähnlichen Parallel-
bewegung entgegengingen, als ob es wiederum der ſzeniſchen Schweſterkunſt
vorbehalten ſein ſollte, die Fackel vorauszutragen, auf daß an ihr der Geiſt
ſchöpferiſcher Dichtung ſtärker entlodere.
Schon ſeit einigen Wintern ſteht nicht mehr ſo ſehr das Wort des
Dramatikers im Brennpunkt der Saiſon als die Tat des Regiſſeurs, nicht
mehr der poetiſche, gedankliche Funke, ſondern ſeine künſtleriſche Ausſtrahlung,
ſeine Verſinnlichung. Man ſpricht von Hamburg und denkt an die glänzenden
Bühnenoffenbarungen des Frhrn v. Berger. Wir nennen Mannheim und
erinnern uns der Inſzenierungsverſuche Hagemanns. Berlin iſt in Theater ⸗
dingen beinahe identiſch mit Max Reinhardt, und an dem München von
1908 kommt man nicht vorbei, ohne das „Künſtlertheater“ in den Aus-
tauſch der Meinungen zu ziehen.
Trägt nun alle dieſe reformeriſchen Ideen, dieſe Neugeſtaltungen im
Bühnenbild ein einheitlicher Sinn? Gewiß, ſo ſehr ſich das Streben in
den Detailfragen, in den Ausgangspunkten zerſplittert, der gemeinſame
Grundgedanke nach einem dekorativen, linearen Stil iſt ebenſo
unverkennbar wie das ſymboliſche Aufleuchtenlaſſen des tiefſten ſeeliſchen
Gehaltes im Spiel der Lichter und Farben.
Am ſtraffſten, wohl auch am engſten iſt die Formel dort gefaßt worden,
wo graue Theorie am zäheſten darüber gegrübelt und ſpintiſiert hat, in
München. Und dieſe erlöſende Formel lautet: Reliefbühne. Ihre
Verwirklichung fand ſie im „Künſtlertheater“ auf der Bavariahöhe. Fort
mit den Kuliſſen! Fort mit den Soffiten! Weg mit der Rampenbeleuch⸗
tung! Keine Panorama Entfaltung, keine perſpektiviſche Täuſchung mehr,
da ſich ja die menſchlichen Figuren doch nie entſprechend in die künſtlich
geſchaffene Tiefenwirkung einfügen laſſen. Denn während das dekorative
Beiwerk ſich nach hinten verjüngt und die maleriſchen Umriſſe in ſanfter
Abſtufung verſchwimmen, wird die Geſtalt des Darſtellers auch gegen den
Hintergrund zu in gleicher Größe und nuancierter Deutlichkeit erſcheinen
wie an dem Proſzenium. Die Bühne verzichte alſo von vornherein auf
Tiefe. Sie ſei dem Drama architektoniſcher Rahmen. Hat ſie bisher den
Schauplatz der Handlung mit illuſioniſtiſchen Mitteln darzuſtellen verſucht,
390 VII. Kunſt.
ſo deute ſie ihn jetzt vereinfachend an und gebe der Phantaſie zu tun. Der
Hintergrund erſcheint dabei al fresco. Die neue Raumwirkung wird zum
großen Teil von den Beleuchtungsquellen, von den mannigfaltigen Schat-
tierungen und Luftſtimmungen des Lichtes ausgehen. Die moderne Cleftro-
technik ſtellt uns Möglichkeiten zur Verfügung, die nicht auszunützen geradezu
ein Kulturfrevel wäre, ſagt Georg Fuchs, der geiſtige Anreger und Leiter
der Reformbewegung in Iſar⸗Athen (Münchener Künſtlertheater. München,
Müller). Und alles kommt nach ſeiner Meinung darauf an, dem Theater die
Ergebniſſe und Kräfte jener großen Kulturbewegung der neuen Zeit zuzu⸗
führen, die man „angewandte Kunſt“ nennt. Damit iſt die Geneſis und der
organiſche Zuſammenhang dieſer Umwälzung in der Bretterwelt aufgedeckt.
Betrachten wir noch kurz die Einzelheiten der von Profeſſor Max Littmann
erbauten Muſterbühne. Bei einer Proſzeniumsöffnung von 10 m erhielt
ſie eine Breite von 18,75 m, während die Tiefe bloß 8,70 m beträgt.
Ihre Gliederung iſt eine dreifache: Vorderbühne (Proſzenium), Mittelbühne
und Hinterbühne. Die letztgenannte iſt gewöhnlich verſenkt. Den eigent⸗
lichen Spielplatz bildet die Mittelbühne. Sie wird nach den Seiten hin
anſtatt von Kuliſſen von zwei gewaltigen Holztürmen architektoniſch ab-
gegrenzt. Beide Türme ſind oben durch eine verſtellbare Brücke verbunden,
ſo daß der Bühnenausſchnitt verkleinert werden kann. Die neutrale Haltung
dieſer Türme geſtattet, „ſie bald als Glied der Proſzeniumsanlage, bald
als Glied der Bühnengeſtaltung zu verwerten“. Während auf die Vorder-
und Mittelbühne das Licht von vorn oben ſtrömt, iſt die Beleuchtungs⸗
zentrale in die Tiefe der Hinterbühne verlegt. Das Orcheſter iſt verſenkt
und kann bei Darſtellungen, die keine Muſikbegleitung fordern, vollſtändig
überdacht werden, würde alſo hier als Vorderbühne wirken. Der Zuſchauer⸗
raum endlich ſteigt wie das Feſtſpielhaus in Bayreuth und das Prinzregenten⸗
theater in München amphitheatraliſch an.
Iſt nun die Probe auf das Exempel gelungen? Sind die theoretiſchen
Axiome durch die künſtleriſchen Erfahrungen und Erlebniſſe bekräftigt worden?
Wohlverſtanden, nur das Problem kommt dabei in Frage, nicht das ver⸗
einzelte perſönliche Können und Einfühlen. Nicht darum handelt es ſich,
ob die Freskokunſt Fritz Erlers dem monumentalen Ewigkeitsſtil des
Goetheſchen „Fauſt“ gewachſen war, nicht darum, ob Julius Diez in
„Was Ihr wollt“ die Farbenmiſchung traf von Liebesträumerei und tollſtem
Mummenſchanz, oder ob Thomas Theodor Heine die ſpießige Biedermeier⸗
Behaglichkeit der „Deutſchen Kleinſtädter“ dekorativ auszuſchöpfen vermochte,
ſondern darum, wie weit die Reliefbühne den geiſtigen, den poetiſchen Fein⸗
gehalt heraushob, darum, ob die ſtiliſierende Kunſt dem dramatiſchen Ganzen
diente und nicht das dramatiſche Ganze der ſtiliſierenden Kunſt, und endlich
darum, ob ſie den Mimen körperliche Bewegungsmöglichkeiten nahm oder
hinzufügte, allenfalls gar ihre Spielart von Grund aus ummodelte.
3. Theaterweſen. 391
Als Antwort ein paar konkrete Beiſpiele. Im „Fauſt“ zog der Dfter-
ſpaziergang vor dem Tor wie ein Wandelfries dahin. In einer geraden
Linie folgten ſich die Geſtalten wie an einer Schnur, beſtrebt, bald den
neutralen Seitenturm zu erreichen, um den Nächſten Platz zu machen. Da
konnte ſich kein tummelndes Leben in einem grün ausbuchtenden Plan ent⸗
wickeln. Kein Hin ⸗ und Wiedergrüßen gab's. Die Menge, die „ſich behend
über Felder und Gärten ſchlägt“, wurde nicht fühlbar. Und ſo klang ſzeniſch
nichts von jener lockenden Sehnſucht ins Landſchaftlich⸗Weite mit, von der
gerade hier die dichteriſche Konzeption durchtränkt iſt.
Der „Prolog im Himmel“ wurde von der Kritik als beſonders impoſant
gerühmt und als echteſter Erler bezeichnet. Gewiß, dieſe überlebensgroßen
herkuliſchen Engel mit den ftarren, ehernen Flügeln und dem Rieſen⸗
ſchwert, wuchtig in flutender Helle ſtehend, das war Erler, aber eben zu
ſehr. Weil der ſtark perſönliche Stil des Künſtlers, das Bildhafte, Pla⸗
ſtiſche ſich dem Auge zu eindringlich gab, ſo klang der Hymnus der Erz⸗
engel kaum an unſer Ohr, geſchweige denn an die Pforte der Seele. Die
Gefahr der Ablenkung vom Wort liegt alſo in der angeſtrebten ſtiliſtiſchen
Wiedergabe ſo gut als in der traditionellen Opernfeerie.
Unter dem Prinzip der Vereinfachung hatte Fauſts Studierzimmer
Böſes zu leiden. Im „Deutſchen Muſeum“ iſt eine Alchimiſtenſtube ein-
gefügt. Da webt aus jeder Wölbung, jedem Gerät, jeder Phiole geheimnis⸗
voller Schauder und traulich deutſche Pedanterie. Auf der Bühne umſchloß
den vielgelahrten, über Folianten grübelnden Doktor ein nüchterner, kühler,
nackter Raum. Und doch iſt, wie Dr Alois Wurm trefflich formuliert, die
Erzielung der örtlichen und räumlichen Stimmung, wo ſie unbedingt gefordert
iſt, das erſte, worauf der Ehrgeiz des Bühnenkünſtlers ſich richten muß. —
Th. Th. Heine hat dann tatſächlich in Kotzebues „Kleinſtädtern“, der letzten
Darſtellung des Reformzyklus, die Doktrin vom Verzichten auf gegenftand-
liches Beiwerk, auf realiſtiſche Einſtimmung preisgegeben.
Was nun den ſchauſpieleriſchen Stil anlangt, ſo hat er ſich in der
kurzen Zeit einer Saiſon natürlich nicht neu formen laſſen und beſonders
nicht von Darſtellern, die heute abend in der herkömmlichen Kuliſſen⸗
perſpektive des Hoftheaters, morgen auf der Reliefbühne zu agieren hatten.
Zuſammenfaſſend darf ich alſo wiederholen, was ich 1906 im „Litera⸗
riſchen Handweiſer“ ausgeſprochen habe: „Im günſtigſten Falle erlangen
wir eine Zukunftsbühne unter vielen andern, eine Schauſtätte, die uns
meinetwegen die Anmut der Pantomime und den Zauber leuchtender lyriſcher
Sinnbilder auskoſten läßt, aber die Schaubühne der Zukunft erlangen wir
nicht.“ Und heute kann ich ergänzend hinzuſetzen: Es gibt überhaupt keine
Normalbühne, ſondern nur eine Kulturbühne — ſo wie die Griechen die
Rieſenumſpannungen ihrer Amphitheater hatten oder das Mittelalter fein
Myſteriengerüſt — und eine ſolche verſucht das Künſtlertheater zu werden.
392 VII. Kunſt.
Den geiſtigen Stufengang dieſer neuen Bühnenrenaiſſance bis zur
Jahrhundertwende zurückzuverfolgen, bis zum erften Streben der Darm-
ſtädter Künſtlerkolonie und weiter, geht hier nicht an. Doch ſeien aus
dem theoretiſchen Niederſchlag drei Schriften ob ihrer ſcharf akzentuierten
Forderungen herausgehoben: Georg Fuchs, „Die Schaubühne der Zu⸗
kunft“ (Berlin, Schuſter u. Löffler), EG. Gordon Craig, „Die Kunſt
des Theaters“ (Berlin, Seemann Nachf.), und William Wauer, „Der
Kunſt eine Gaſſe“ (ebd.).
Polar zu Craigs „Maximen“ ſteht ein vor kurzem erſchienenes Buch
von Jocza Savits, dem ehemaligen Oberregiſſeur der Münchener Hof.
bühnen, „Von der Abſicht des Dramas“ (München, Etzold u. Co). Es iſt
die Apologie einer vergangenen Bühnenreform, der ſog. Shakeſpeare⸗Bühne,
die, vom Prinzip möglichſter Vereinfachung und raſcher dramatiſcher Ab-
rollung ausgehend, von 1889 bis 1905 in Anwendung ſtand, jedoch in
ihren Wirkungen rein auf München beſchränkt blieb. Der junge Savits
war feiner Zeit von dem Wien Laubes, des großen Puritaners im Kuliſſen⸗
reich, gekommen. Craig iſt der Sohn der engliſchen Schauſpielerin Ellen
Terry, die im Kreiſe feinnerviger Künſtler und artiſtiſcher Seelen heimiſch
war. Darin wurzeln die Unterſchiede. Savits läßt, wie Meiſter Laube,
nur einen Künſtler in der Scheinwelt gelten: den Schauspieler. Er kennt
nur eine Stimmung: die Stimme, den Laut, der ſich aus der Kehle des
Helden ringt, alles in ſeinen Bann ſchlagend, er beugt den Nacken nur
einer Macht: dem Worte des Dichters.
Stellen wir dagegen Craig. Ihm iſt das Wort nebenſächlich, die Dich⸗
tung lediglich Literatur, Literatur als Bagatelle gefaßt. Der Tanz iſt die
wahre Poeſie der Handlung, und ihre Proſa iſt die ſchöne Geſte. Aus
wohl gemeſſenen Proportionen, aus dem Rhythmus der Bewegung, aus
Farbentönen, geſchwungenen Linien, faszinierenden Lichtſtrahlungen ſetzt
ſich das Bühnenkunſtwerk zuſammen. Es gibt nur einen Künſtler auf den
Brettern, das iſt der Regiſſeur.
Es iſt kein Zufall, daß Craig nach Berlin gerufen wurde. Dort wirkt
ja der große Regiſſeur, wie er ihn träumt und fordert, Max Reinhardt.
Dieſer hat vor Craig, vor Fuchs, vor Savits und all den Bühnenreforma⸗
toren eines voraus: er iſt kein Doktrinär, der ſich in die Sackgaſſe einer
Theorie verrennt. Dazu iſt ſein Geiſt zu beweglich, ſein Temperament zu
lebhaft, ſein praktiſcher Sinn zu klug berechnend. Seiner Strategie fehlt
zwar der ſichere, imponierende Tritt, aber ſie bringt Gärung in das künſt⸗
leriſche Getriebe, trägt tauſend neue Züge in die Regie und hält ſo ſtets
das Parkett in Atem und Spannung. Vor drei, vier Jahren galten ſeine
Bühnen als die Vollendung künſtleriſcher Illuſion, als Gipfel der Natur⸗
vortäuſchung: lebende Bäume in Blüte, ſamtweiche Raſenteppiche, blumen⸗
beſternte Hänge, Buſchwerk, Felſen, maſſive architektoniſche Aufbauten, ein
3. Theaterweſen. 393
umſpannender Himmel, ein Sonnenflimmern. Statt des Dekorativen er-
hielten wir greifbare Wirklichkeit, ſtatt des ſzeniſchen Ausſchnittes eine Welt
in Fülle prangend. „Der Sommernachtstraum“, „Der Kaufmann von
Venedig“, dann Dichtungen von Maeterlinck und Hofmannsthal erſtanden
als ſolche Offenbarungen.
Und wieder waren es Shakeſpeare und Maeterlinck, da griff er zu einer
andern Art der Inſzeneſetzung, da wurde das Leben der Dichtung zum Stil
erhoben, da wurde die Wirklichkeit zum Dekorativen, indem die Regie ſtatt
der realiſtiſchen Detaillierung einen koloriſtiſch einfachen, aber ſuggeſtiv
ſtarken Grundton gab. So ließ Reinhardt das „Wintermärchen“, die Alters-
dichtung des großen Briten, ſich innerhalb eines ſtreng ſtiliſierten Rahmens
entfalten. Manche Szenen ſchloß hier nur ein faltenreicher, in einſtimmenden
Farben gehaltener Vorhang ab. Ebenſo ward Maeterlincks „Aglavaine
und Gélyfette”, wo die Worte, vom Tode beſchattet, leiſe rinnen, bloß vor
einer Stoffwand geſpielt, ohne die Umkränzung der Kuliſſen. Das war
1906/1907.
In der letzten Saiſon nun ließ Reinhardt einen neuen Trick aufſchnellen:
„Was Ihr wollt“ auf offener Drehbühne. Hinter Gazeſchleiern vollziehen
ſich die Verwandlungen, ſo daß der ganze Mechanismus ſichtbar wird.
Dabei ziehen Bilder vorüber, die nicht Shakeſpeare, ſondern der künſtleriſche
Leiter auf die Bretter ſtellt, z. B. ein Mägdereigen, wandernde Fackelträger,
Malvolio, wie er ſich zur Szene aufputzt. Was Craig heiſcht, iſt hier
alſo verwirklicht worden: der Regiſſeur ſteigt zum Maler und Dichter
empor. Die Dichtung freilich ſinkt damit zum Spiel herab.
Aber wie geſagt, Reinhardt iſt zu klug, als daß er bei einem beſtimmten
Typ haften bliebe. Er denkt überhaupt nicht bloß an die Bühnenkunſt,
ſondern auch an die Bühnenkünſtler. Wenn er auch gegenwärtig noch über
keine von den großen darſtelleriſchen Kräften verfügt, ſo ſucht er ſie
wenigſtens in ſeinen Kreis hereinzuziehen. Vielleicht glückt ihm auch das
Heranziehen. Spezialitäten kann er heute ſchon aufweiſen, aber lediglich
Spezialitäten: Gertrud Eyſoldt in Wedekindrollen, Rudolf Schildkraut als
Shylock, Friedrich Kayßler für die Heldenjünglinge. Alexander Moiſſi, den
Italiener, hat er entdeckt, als er das Deutſche noch radebrechte. Seitdem
hat dieſer Südländer mit dem lebhaften Mienenſpiel und der federnden Be⸗
weglichkeit ſeiner Raſſe ſchon „eine ganze Galerie von Zuſammenbruchs⸗
geſtalten“ geſchaffen (Julius Bab u. Willi Handl, Deutſche Schau-
ſpieler. Berlin, Oeſterheld u. Co.). Nächſtens erhält Reinhardt von Brahm
noch Albert Baſſermann und Elſe Lehmann. Das ſind ſchon weit über⸗
ragende Talente, ſoweit man überhaupt von der Lehmann noch von
Talent und Rollen ſprechen darf und nicht von einem inſtinktiv er⸗
faßten, heiß durchpulſten Leben, von einem Einswerden mit allem Leid
und Weſen.
394 VII. Kunſt.
Ob ſich bei dieſem Zufluß aus den verſchiedenſten Quellen, bei dieſem
beſtändigen Ein⸗ und Abſtrömen ein harmoniſches Zuſammenſpiel bilden
kann, iſt eine andere Frage. Es gibt wohl einen ſog. Berliner Stil, aber
der iſt nicht aus einem kulturellen Boden herausgewachſen, ſondern kommt
in erſter Linie von der Literatur her, von feſtgelegten Programmen, von
erklügelten Theorien. Darum ſind es auch, wie Bab betont, einſeitig
geiſtig angeſpannte, rationaliſtiſche Juden geweſen, die der neuen veriſtiſchen
Spielweiſe Bahn brachen: Otto Brahm, damals Kritiker, jetzt Direktor des
Leſſingtheaters, und Emanuel Reicher aus Galizien, der „jüdiſche Schau⸗
ſpieler in Reinkultur“.
Ganz abſeits von dieſer Richtung hat ſich der Heldendarſteller des könig⸗
lichen Schauſpielhauſes gehalten. 1889 ſpottete der alte Fontane, der ſich
ſelbſt als Anti⸗Matkowsky bezeichnete, über den „ſchönen Mann“, fein Kopf.
werfen, ſeine rollenden Molltöne, ſein Kraftmeiertum. Und heute preiſt man
ihn ob derſelben mimiſchen und rhetoriſchen Ausdrucksmittel, ob desſelben
hinreißenden Temperamentsüberſchuſſes als den einzigen lebenden Shakeſpeare⸗
ſpieler ganz großen Stils. Hier iſt das Sic transit gloria einmal um-
geſtülpt worden. Matkowsky ſteht auf ſeiner Bühne ziemlich allein . Ein
Enſemble hat ſich um ihn nicht geſchloſſen. Ja man rühmt der königlichen
Schauſpielſtätte ſogar nach, daß ſie die Talente verkümmern ließe.
Auch am Münchener Hoftheater hat ſich kein eigener Kunſtſtil ein-
gewurzelt. Als Ernſt Poſſart aus dem Amte ſchied, ſchwand auch die
Deklamationsweiſe, die er gegeben hatte. Die letzten Jahre nun findet das
Enſemble nicht jene Ruhe, deren es zur inneren Befeſtigung bedarf, ſei es
nun, daß der Tod empfindliche Lücken reißt — Karl Häuſſer, Ferdinand
Suske ſind geſtorben —, ſei es, daß Berlin erſte Kräfte wegholt. So
haben wir an die Reichshauptſtadt Albert Heine verloren, den wunderbaren
Ibſen - und Hebbeldarſteller und vielleicht den größten Groteskkünſtler unter
den deutſchen Mimen der Gegenwart (der Teufel in Grabbes „Scherz,
Ironie und tiefere Bedeutung“ !). Nächſtens gehen Heinz Monnard, der
ſpezifiſch moderne Spieler, und Lina Loſſen zu Brahm.
Unter den deutſchen Hoftheatern gibt es wohl nur ein einziges, das auf
eine ehrwürdige Kultur gegründet iſt, das ſich auch eine ariſtokratiſche
Tradition geſchaffen hat: das Wiener Burgtheater. Hier ragen noch drei
Recken aus der Zeit Laubes, aus der Zeit des vollendetſten Enſembles:
Adolf Sonnenthal!, der Väterliche, der Gütige, der das Mildeſte im Na⸗
than geſpendet hat; Ernſt Hartmann mit ſeiner bezaubernden Eleganz, deſſen
Handbewegungen, wie Hermann Bahr ſagt, in allen Dichtungen Schnitzlers
fühlbar werden; endlich Bernhard Baumeiſter, der Kraftſtrotzende, der Ger.
mane, der Götz von Berlichingen. Einen vierten haben ſie vor nicht langem
1 Matkowsky ift inzwiſchen, am 16. März 1909, Sonnenthal am 4. April 1909 geftorben.
3. Theaterweſen. 395
begraben: Fritz Kraſtel, den Heldenliebhaber. Von der mittleren Generation
ſteht Joſeph Kainz auf erſtem Poſten. Den Virtuoſen der malenden Gebärde
nennt ihn Bahr. Vor allem ſcheint er mir der Meiſter elaſtiſcher Sprach⸗
technik. Sein Prinzip iſt, wie Ferdinand Gregori ſagt, ſo wenig Worte
wie irgend möglich zu betonen. Auf dieſe Art iſt er der Finder des
galoppierenden Redetempos geworden, das mit „Windeseile“ über ganze
Sätze und Verſe hinweggleitet. Siegfried Jacobſohn bezeichnet ihn als den
Analytiker und Neurotiker am Ende des 19. Jahrhunderts, und nach dieſer
Seite des Nervenſpieles und der Dekadenz hin hat Kainz im Reich und
außerhalb auch entſchieden Schule gemacht.
Bei der Bühne geht es wie im Wirtſchaftsleben: die großen Betriebe
unterdrücken die kleinen. Immer werden die weniger fundierten Spiel ⸗
ſtätten an darſtelleriſchen Kräften, an Komparſerie, an ſzeniſchen Mitteln,
an Dekorationen, kurzum an jenem Luxus zurückſtehen, der eben nur einer.
vermöglichen, nicht bloß klugen Hand geſtattet iſt. Nicht inferior brauchen
ſie aber zu ſein, wenn es gilt, literariſche Findigkeit zu zeigen, dramatiſche
Talente zu entdecken, vergeſſene Dichtungen wieder zu verlebendigen.
Tatſächlich haben denn auch in den letzten Wintermonden Bühnen, die
ſonſt nicht als tonangebend gelten, manchen kräftigen Vorſtoß gewagt. So
ſind es zwei rheiniſche Schauſpielhäuſer geweſen, die jene Dramen!, auf die
ſpäter der Schillerpreis fiel, zur Uraufführung brachten, Ernſt Hardts
„Tantris“ inſzenierte Marterſteig in Köln, „Die Erde“, das Tirolerſtück
Karl Schönherrs, Lindemann in Düſſeldorf. Hier, in der Stadt des
Malkaſtens, hat ſich um Lindemann, um den Dichter und Dramaturgen
Eulenberg und um Frau Dumont ein begeiſtertes Theatervölkchen geſchart.
Außer Schönherr brachte das Düſſeldorfer Schauſpielhaus noch den „Grafen
von Gleichen“ von Wilhelm Schmidtbonn, einem Dichter, der viel⸗
fach als Zukunftshoffnung eingeſchätzt wird. Das Kölner Schauſpielhaus
hob Herbert Eulenbergs kampfumtobten „Ulrich, Fürſten von Waldeck“
aus der Taufe. In Mainz kam Alinda Jacoby, eine vom chriſtlichen
Geiſte erfüllte Dichterin, mit dem bibliſchen Drama „Saulus“ zum Wort.
In Münſter griff man zu dem lieben Wandergeſellen Eichendorff zurück,
zu dem Luſtſpiel „Die Freier“, dem Dr Friedrich Caſtelle eine einführende
Rede vorausſchickte.
Von Wagemut beſeelt, obſchon nicht immer glücklich in der Ausleſe, iſt das
Frankfurter Schauſpielhaus. Von Erſtaufführungen wären hier zu nennen:
Kurt Neurode, „Moderne Diplomaten“; Erich Schlaikjer, „Aus der
Halbwelt“, von einem dortigen Kritiker als Kolportage⸗Erotik bezeichnet;
dann „Die Meiſterin“ von Johanna Wolff, ein Schauſpiel, das für den
1 Kritiſch gewürdigt findet man die wichtigſten Dramen, ſoweit ſie gedruckt vorliegen,
in dem Abſchnitte VI, 2: „Dramatiſche Literatur“.
396 VII. Kunſt.
Volksſchillerpreis in Betracht gezogen wurde. — Wedekinds Sexualſtücke
und Tragikomödien haben ihren heimatlichen Herd in Nürnbergs „In⸗
timem Theater“ gefunden, das unter der künſtleriſchen Leitung Meßthalers
ſteht. In Leipzig iſt nur der geſcheiterte Verſuch mit H. v. Gumppenbergs
Komödie „Die Einzige“ zu erwähnen. Von Dresden aus ging der Triumph
zug des Wied ſchen Satirſpiels „2 x 2 = 5“. Für Hamburg hat erſt Al.
fred Baron Berger ein würdiges Theaterinſtitut geſchaffen. Sein „Deutſches
Schauſpielhaus“ vermag nach langem wieder eine lediglich kommerziell ver-
anlagte Bevölkerungsſchicht mit rein künſtleriſchen Mitteln anzulocken (vgl. auch
Johannes Mayrhofer, Die Welt der Kuliſſen. Münſter, Alphonſus⸗
buchhandlung). Von bedeutenderen Uraufführungen iſt nur Max Halbes
Drama „Das wahre Geſicht“ zu regiſtrieren. Ganz hervorragend ſind
Bergers Inſzenierungen der Klaſſiker. Zuletzt ſtellte er in einem Zyklus,
der zehn Schöpfungen umſpannte, beinahe das geſamte Werk Hebbels auf
die Bretter. Dabei wagte er es, die Nibelungen⸗Trilogie an einem Tage
abzurollen, was eine Zeit von 1 Uhr mittags bis gegen Mitternacht be-
anſpruchte, eine zweiſtündige Pauſe miteingerechnet. — Als tüchtiger Re-
giſſeur hat ſich auch der Intendant des Mannheimer Hoftheaters, Karl
Hagemann, bewährt. Gerade an ſchweren bühnentechniſchen Problemen ver⸗
ſucht er ſich gerne. So errichtete er für den „Hamlet“ eine Art Shafefpeare-
bühne: Gobelins als Proſpekte, als Abſchluß auf beiden Seiten Würfel-
türme, auf der Bühne ſelbſt ein Treppenaufbau. Von dramatiſchen Neu⸗
heiten lancierte er Otto Falckenbergs Komödie „Doktor Eiſenbart“, ein
Stück, das ihm Gelegenheit zu einer lebendigen, brillanten Zuſammen⸗
ſtimmung der Maſſen gab. — Die Karlsruher Hofbühne bereitete dem
jüngſten Schauſpiel Rudolf Herzogs „Auf Niſſenskoog“ den Weg. —
In Stuttgart ging man an den intereſſanten Verſuch, die ganz auf Geiſtig⸗
keit eingeſtellten Renaiſſancedialoge Gobineaus ſzeniſch zu verkörpern. Trotz
der Bühneneinrichtung Ferdinand Gregoris, der ſelbſt als Michelangelo mit⸗
wirkte, ſcheiterte das Bemühen. — Die Münchener Hofbühnen waren diesmal
im Auslug nicht ſonderlich glücklich, doch haben fie wenigſtens einen ent-
deckt: Fr. Frekſa, deſſen „Ninon de l'Enclos, ein Spiel aus dem Barock“,
ſich das ganze Jahr über auf dem Plane behauptete. Das Münchener
„Schauſpielhaus“ hat im modernen Genre ein flottes Zuſammenſpiel, geht
aber pfadſuchend nicht mehr voran. Das „Volkstheater“ hat recht brav
einen Anzengruberzyklus abgeſpielt. Das „Künſtlertheater“ brachte Joſ.
Ruederers heftig umſtrittenes „Wolkenkuckucksheim“ heraus. — Kehren
wir nach der Wanderung im Reich zu den großen Zentralen zurück!
Reinhardt in Berlin öffnet den Neuromantikern willig die Tore. Im
letzten Jahre find das: K. G. Vollmoeller, „Die Gräfin von Armagnac
und ihre beiden Liebhaber“, Herb. Eulenberg, „Ulrich, Fürſt von
Waldeck“ (nach der Kölner Aufführung), und Leo Greiner, „Lyſiſtrata“
3. Theaterweſen. 397
(nach Ariſtophanes). Otto Brahm, der Ibſen⸗ und Hauptmann⸗Regiſſeur,
leiht immer noch den Realiſten das Ohr, ohne jedoch feuilletoniſtiſche Ta⸗
lente wie Felix Salten, „Vom andern Ufer“, Herm. Bahr, „Die gelbe
Nachtigall“, Franz Molnär, „Der Teufel“, zu verſchmähen. Selbftverftänd-
lich erlebte die Dichtung Gerh. Hauptmanns „Kaiſer Karls Geiſel“ ihre
Uraufführung im Leſſingtheater.
Das „Kleine Theater“ unter Viktor Barnowskys Leitung repräſentiert ſich
als die Ausländerbühne. Die Dänen Guſtav Wied, Guſtav Esman, Sven
Lange bilden hier das Repertoire. Ihnen ſchließt ſich der iriſche Spötter Shaw
an. Unter den deutſchen Aufführungen waren nur die drei Einakter Georg
Hirſchfelds „Die Getreuen“ von einiger Bedeutung. — Alfred Schmieden,
der Direktor des „Neuen Theaters“, hat viel Literatur vom Stapel gelaſſen,
eine Dichtung war nicht darunter. Lediglich regiſtriert ſeien hier die beiden
Stücke Henry Bernſteins: „Baccarat“ und „Simſon“, in der Konſtruktion
echt franzöſiſche Marke; außerdem noch die frenetiſch bejubelte Aufführung von
O. Borngräbers ſo ſchief geratener Dichtung „Die erſten Menſchen“. —
Alfred Halm, der Leiter des „Neuen Schauſpielhauſes“, war wenig um die
Entdeckung neuer Talente bemüht. Otto Erlers „Zar Peter“, der für den
Volksſchillerpreis vorgeſchlagen war, ging hier über die Bretter, hatte aber
ſchon vor dieſer Saiſon in Köln und Dresden das Rampenlicht erblickt.
Ein neues Bühnenunternehmen, das man ernſt zu nehmen hat, iſt das
„Hebbeltheater“. Der Bau in der Königgrätzerſtraße, von dem Architekten
Georg Kaufmann aufgeführt, iſt einfach, in ſtrengen Linien gehalten. Die
Eröffnung des Hauſes fand erſt in der zweiten Hälfte der Saiſon 1907/1908
ſtatt. Ebenfalls neu, wenn auch nicht in einem neuen Hauſe, iſt das „Theater
an der Spree“. Es ſoll der alten Berliner Poſſe dienſtbar ſein. Wie lange
wohl? Es erübrigt noch, der Entdeckerfahrten des königlichen Schauſpiel⸗
hauſes zu gedenken: — — —.
In dieſer Hinſicht iſt auch vom Burgtheater in Wien nicht ſonderlich
viel zu melden. Ganghofers „Sommernacht“ zu finden, war ſicher keine
Großtat. Bei Fuldas „Dummkopf“ toſten zwar Beifallsſtürme durch das
Haus, aber ſie galten wohl mehr Treßler als Fulda. Auch Sudermanns
„Roſen“ wollen nichts beſagen. Aber abgeſehen von dieſen Uraufführungen
gab Paul Schlenther doch Bedeutungsvolles. Er goß den zweiten Teil des
„Fauſt“ in eine Bühnenform. Er zog Grillparzers „Medea“ aus dem Archiv
hervor, er beſchwor Ibſens „John Gabriel Borkman“, obſchon er wußte,
daß die Wiener dem nordiſchen Grübler nie ſonderliche Sympathien entgegen-
gebracht haben, und endlich ließ er „Julius Cäſar“ inſzenieren. Die Regie
Hugo Thimigs war glänzend. 140 Römer lauſchten der Rede Marc Antons
(Kainz). Dabei war in der Forumfzene die Bühne tiefer geſenkt, fo daß
die Volksmenge nicht ganz ſichtbar wurde, ſondern nur die Oberkörper er-
ſchienen. — Schlenther hat in ſeinem Hauſe auch eine organiſatoriſche
398 VII. Runft.
Neuerung eingeführt: jeder Schauſpieler, der Luft und Liebe dazu hat,
darf Regie führen. Das Regiekollegium als ſolches iſt abgeſchafft.
Den Kultus des Modernen, aber ohne den neuromantiſchen Einſchlag,
pflegt in Wien das „Deutſche Volkstheater“. Eine beſtimmte literariſche
Prägung, noch beſſer einen Charakter, zeigt ſein Repertoire nicht. Da iſt
Raoul Auernheimer, der Feuilletoniſt, neben Felix Philippi, Wedekind und
Shaw neben Henry Bernſtein, dazu Rud. Lothar e tutti quanti. Das
„Bürgertheater“ ſcheidet mit ſeinen Pikanterien bei einem literariſchen
Maßſtab aus. Zu nennen wäre lediglich ein Zyklus von Neſtroy⸗Poſſen.
Das „Raimundtheater“ iſt Operettenbühne geworden, womit in der Walzer⸗
ſtadt eine gewiſſe Garantie für die Zukunft gegeben iſt. Ein findiger, ge⸗
ſcheiter Kopf, nicht bloß ein guter Schauſpieler, iſt Joſeph Jarno, der
Direktor des „Luftipiel-” und des „Joſephſtädtertheaters“. Er gab manche
literariſche Delikateſſe zu koſten: Guſtav Wieds Komödien „Thumme⸗
lumſen“ und „Der Stolz der Stadt“, endlich last not least von Nils
Kjär das Schauſpiel „Der Tag der Rechenſchaft“.
Nun ſind wir zum Ende gekommen Das Fazit: Kaum irgendwo eine
Premiere, die den Kampf der Meinungen über den Tag hinaus geſtreckt hätte,
kaum irgendwo ein Poet, der eine ſtärkere Zuverſicht oder gar ein jubelndes
Hoffen weckte, eher, daß wir am lieben Alten, am warm Gehegten irre
werden, nirgendwo ein Aufflammen agitatoriſcher Leidenſchaften, die an einer
literariſchen, geiſtigen Richtung entzündet worden wären. Darum zeigen
auch unſere Bühnen, ſoweit ſie das Keimende, Werdende pflegen, keine
ſcharf geprägte Phyſiognomie. Nur im Spielplan Brahms und wohl auch
Reinhardts hebt ſich eine Linie markanter ab. Eines aber will jetzt in
allen deutſchen Landen Gemeingut werden: die ſzeniſche Sorgfalt, die
ſzeniſche Kunſt, das ſzeniſche Gewiſſen. Und das macht uns froh für die
Zukunft.
VIII. Chronik.
Januar.
1. Hirtenbrief des ungar. Epiſkopats zum 11. Eröffnung des neuen Hoftheaters in
Papſtjubiläum.
Beſetzung der Kasba der Mediuna (Ma⸗
rokko) durch General Drude.
Abfahrt der Südpolarexpedition des
Leutnants Shackleton von Lyttleton
(Neuſeeland).
Fünfzigjähriges Schriftſtellerjubiläum
des Hofrats Franz Binder, Redakteurs
der „Hiſtoriſch⸗politiſchen Blätter“.
3. Urteil im Prozeß v. Moltke gegen Maxi⸗
milian Harden, der 4 Monate Ge⸗
fängnis erhält, welche Strafe nach
der Reviſion am 20. April 1909 auf
600 Mark Geldbuße ermäßigt wurde
(neue Reviſion eingelegt).
Herabſetzung des Diskonts der Bank
von England auf 6%.
4. Ausrufung Muley Hafids zum Sultan
in Fes.
6. Inthroniſation des Biſchofs Hulka von
Budweis.
8. Annahme des Mittelſtandsantrags Hom⸗
peſch im deutſchen Reichstag.
Eröffnung des niederöſterr. Landtags
(am 18. geſchloſſen).
Ernennung Schollaerts zum belg. Mi⸗
niſterpräſidenten.
Wahlrechtsdebatte im preuß. Landtag.
Ernennung des Frhrn Paul Rauch
von Nyeék zum Banus von Kroatien.
Zinsherabſetzung der Oſterreichiſch-⸗unga⸗
riſchen Bank auf 5%.
Bobsleighrennen in St Moritz (En⸗
gadin); Sieger H. Widmer aus
Zürich.
10.
12.
13.
14.
15.
Weimar.
Ausſtellungskonferenz zu Düſſeldorf.
Sozialdemokratiſche Wahlrechtsdemon⸗
ſtrationen in Berlin.
Januarrennen in Nizza; Sieger im
Großen Preis (100 000 Fr.) der
Hengſt „Hamed“ aus dem Stall
Lie nart.
Beilegung des ital.⸗abeſſin. Zwiſchenfalls
durch Entgegenkommen Meneliks.
Herabſetzung des Reichsbankdiskonts
auf 61/3 /.
Erwerbung des Deutſch⸗Archdeacon⸗
Preiſes zu Paris durch H. Farman,
der mit ſeiner Flugmaſchine einen
Kreis von 1 km Durchmeſſer fliegt.
Genehmigung der deutſch engl. Bahn
Tientſin zum Jangtzekiang.
Brand des Opernhauſes zu Boyerstown
(Pennſylvanien); 167 Tote (meiſt
Deutſche).
Eröffnung der franzöſ. und belg. Depu⸗
tiertenkammern.
Einnahme der marokkan. Stadt Settat
durch General d' Amade.
Poleninterpellation im deutſchen Reichs⸗
tag (nicht beantwortet).
Gründerverſammlung der Deutſchen Ver⸗
einigung zu Köln.
Feindſeliger Empfang des neuen Banus
Rauch zu Agram.
Einigung des Schahs von Perſien mit
ſeinem Parlament.
Eröffnung des ſchwed. Reichstags durch
den König.
400
VIII. Chronik.
16. Annahme der Literaturabkommen mit 24.— 26. Deutſcher Skiverbandswettlauf zu
Belgien und Italien durch den deut⸗
ſchen Reichstag.
Genehmigung einer Handelshochſchule
in München durch die Gemeinde⸗
Kohlgrub bei München; Sieger Bruno
Biehler.
24.— 28. Marokkodebatten in der franzöſ.
Kammer (Rede Delcaſſes).
bevollmächtigten. 25. Herabſetzung des Reichsbankdiskonts
18. Annahme der Polenvorlage (Enteig⸗ auf 6%.
nungsgeſetz) in dritter Leſung durch 26. Beſetzung von Sudſchbulak (Perſien)
das preuß. Abgeordnetenhaus. durch die Türken.
Beginn der päpſtlichen Jubiläums- Gründung des Katholiſchen Volksvereins
feiern. in Ungarn zu Budapeſt.
Vortrag des Profeſſors Wahrmund in 28. Proteſtſchreiben des marokkan. Gegen⸗
Innsbruck über katholiſche Welt⸗ ſultans an die Mächte.
anſchauung und freie Wiſſenſchaft Neues (demokratiſches) Kabinett Mali⸗
(Beginn der Wahrmund⸗Affäre). now in Bulgarien.
19. Gemeinſame Kundgebung des bayr. Ernennung des Frhrn Karl Heinold
Epiſkopats zum Goldenen Priefter- v. Udynski zum Statthalter in Mäh⸗
jubiläum des Papſtes. ren, des Grafen Max Coudenhove
Außerordentliche Hauptverſammlung des zum Landespräſidenten in Schleſien.
Deutſchen Flottenvereins zu Kaſſel 29. Eröffnung des engl. Parlaments.
(Rücktritt des Präſidiums). 30. Beginn der Sitzungen des erſten dent:
20. Deutſch⸗ruſſiſches Abkommen über den ſchen Jugendgerichtshofes zu Frankfurt
Zuckerverkehr. a. M.
21.—25. Mittelſchulenquete in Wien. Rücktritt des kapländ. Miniſterpräſi⸗
22. Beiſetzung des Großherzogs von Tos⸗ denten Dr Jameſon; Nachfolger der
kana in Wien. Bondführer Merriman.
23. Herabſetzung des Diskonts der Bank 31. Vernichtung einer Kompagnie der
von England auf 4%, Fremdenlegion durch einen Schnee ⸗
24. Chryſoſtomus⸗Akademie zu Wien. ſturm in Algier (81 Tote).
Februar.
1. Ermordung des Königs Karl I. und des
Kronprinzen Ludwig Philipp von Por:
tugal zu Liſſabon.
Abſchiedsgeſuch des deutſchen Reichsſchatz⸗
ſekretärs Frhrn v. Stengel.
2. Regierungsantritt des Königs Manuel II.
von Portugal.
Internationales Skirennen auf dem
Feldberg (Schwarzwald); Sieger im
Sprunglauf O. Mayer⸗Feldberg.
3. Schlappe der Franzoſen bei Dar- Kſibat
(Marokko).
Konzentrationsminiſterium Ferreira in
Portugal.
Zinsherabſetzung der Oſterreichiſch . un.
gariſchen Bank auf 4½ %.
5. Flucht des Diktators Franco aus Liſ⸗
ſabon.
5. Zurücknahme der Kongovorlage durch
die belg. Regierung.
Gründung eines Bundes deutſcher Privat ;
mädchenſchulen zu Berlin.
5.—7. Schiffahrtskonferenz zu London (Bil:
dung eines nordatlantiſchen Schiff.
fahrtsrings).
6. Ratifikation d. norw. Integritätsvertrags.
Auslieferung Mac Leans durch Raiſuli
in Tanger.
7. Regierungswechſel in Sachſen⸗Altenburg;
neuer Herzog Ernſt II., der Neffe des
verſtorbenen.
Beginn der Jubiläumsfeſte in Lourdes.
8. Totenfeier zu Liſſabon.
8.—12. Zentenarfeier des hl. Chryſoſtomus
zu Rom (am 13. päpſtliche Anſprache
an die Orientalen).
Februar — März.
10. Erklärung des bayr. Kultusminiſters
über das königliche Plazet und die
Stellung der Theologieprofeſſoren.
Urteil im Tiroler Irredentiſtenprozeß
(10 Angeklagte zu 1 Tag bis 2 Wochen
Kerkers verurteilt).
Chriſtlich⸗ fonfervatives Miniſterium
Heemskerk in den Niederlanden.
10.—12. „Frauenparlament“ in London; Un:
griff der Frauenrechtlerinnen auf das
Parlament.
12. Beiſetzung des Herzogs Ernſt von Alten⸗
burg.
Erklärung des öſterr. Unterrichtsmini⸗
ſters über Errichtung einer ital. Fa⸗
kultät in Wien.
14. Beſetzung von Mar Chica (Marokko)
durch die Spanier.
16. Alban Stolz⸗Feier zu Freiburg i. Br.
Abſchluß d. öſterr.⸗ſerb. Handelsvertrags.
16.—17. Verluſtreiche Kämpfe der Franzoſen
gegen die Marokkaner.
17. Deutſches Geſetz betr. die Majeſtäts⸗
beleidigung.
Auflöſung des deutſchen Kolonialrats.
XV. Frühjahrstagung des Bundes der
Landwirte zu Berlin.
19.—25. Landtagswahlen in Tirol; Sieg
der chriſtlichen Parteien.
19. (bis 21. Sept.). Ausſperrung in den Tyne⸗
werften (England).
20. Verurteilung des Generals Stöſſel zum
Tode (17. März zu 10 Jahren Feſtung
begnadigt).
Ernennung des Unterſtaatsſekretärs Sy⸗
dow zum Reichsſchatzſekretär und
preuß. Staatsminiſter.
401
20.— 21. XII. Hauptverſammlung des Deut -
ſchen Vereins für ländliche Wohl⸗
fahrts⸗ und Heimatpflege zu Berlin.
20.— 24. Internationales Skirennen auf dem
Holmenkollen bei Kriſtiania.
20. (bis 7. März). Landtagswahlen in Böh⸗
men; große Verluſte der Jungtſchechen
und Alldeutſchen Schönererſcher Rich⸗
tung.
21. LVIII. Hauptverſammlung der Deut⸗
ſchen Landwirtſchaftsgeſellſchaft zu
Berlin.
21. (bis 7. März). Landtagswahlen in Krain;
Sieg der chriſtlich⸗ſozialen ſloweniſchen
Volkspartei.
22. Endgültige Annahme des Scheckgeſetzes
im deutſchen Reichstag.
22.— 24. Räumung von Subſchbulak (Perſien)
durch die Türken.
24. Verurteilung des ehemaligen ital. Mi-
niſters Naſi zu 11 Monaten und
20 Tagen Gefängnis (wegen Amts⸗
veruntreuung).
25. Eröffnung des Hudſontunnels zwiſchen
Neuyork und Jerſey City.
25. (bis 7. März). Landtagswahlen in Ga⸗
lizien; Zweidrittelmehrheit der chriſt⸗
lichen Parteien.
26. Annahme der Oſtmarkenvorlage im preuß.
Herrenhaus.
27. (bis 10. März). Landtagswahlen in
Kroatien Slawonien; Niederlage des
Banus.
28. Mißglücktes Attentat auf den Schah
von Perſien.
29. Staublawine in Goppenſtein (Wallis);
12 Tote.
März.
1. Trauung des Fürſten von Bulgarien mit
Prinzeſſin Eleonore Reuß j. L. in der
Schloßkirche von Oſterſtein bei Gera.
Fünfundzwanzigjähriges Abgeordneten⸗
jubiläum des bayr. Kammerpräſidenten
v. Orterer.
Volksabſtimmung in Graubünden für
den Splügendurchſtich.
1.—14. Katechet.⸗pädagog. Kurs der Leo⸗
Geſellſchaft zu Wien.
Jahrbuch der Zeit- und Kulturgeſchichte. II.
1.—15. Biſchofsſynode in Tungjuenfang
(Schenſi, China).
2. Konfiskation der Wahrmundſchen Bro⸗
ſchüre.
3. Endgültige Annahme der im Herrenhaus
abgeänderten Polenvorlage im preuß.
Abgeordnetenhaus.
4. Schulbrand in North Collinwood bei
Cleveland (Ohio); 178 Kinder (/10
deutſche) tot.
26
402
VIII. Chronik.
5. Japan. Ultimatum an China wegen der 19. Ernennung des Carl of Dudley zum
Wegnahme des „Tatſu Maru“ (am
6. angenommen).
Diskontermäßigung der Bank von Eng:
land auf 3½ %,
Brand des Meininger Hoftheaters.
Veröffentlichung eines Briefes des Deut ⸗
ſchen Kaiſers an Lord Tweedmouth
in den Londoner „Times“.
5.—9, XXIX. Kongreß der Balneologiſchen
Geſellſchaft zu Breslau.
7. Ermäßigung des Reichsbankdiskonts
auf 5 / .
Verhängung d. großen Exkommunikation
über den franzöſ. Moderniſten Loiſy.
Gründungsverſammlung des Deutſchen
Vereins für Kunſtwiſſenſchaft zu
Frankfurt a. M.
8. Deutſcher Volkstag in Eger.
9.— 13. Internationale Konferenz zur Be:
kämpfung der Schlafkrankheit zu Lon⸗
don (ergebnislos).
11. Unterzeichnung des deutſchen Scheck⸗
geſetzes durch den Kaiſer.
13. Mandatsverlaͤngerung der mazedon. Re⸗
formorgane bis 1914 durch die Pforte.
13.—14. II. Generalverſammlung des Deut ⸗
ſchen und öſterr. Rechtsſchutzverbands
für Frauen zu Halle a. S.
Vertagung des zwei Tage vorher er⸗
öffneten kroat. Landtages.
Miniſterwechſel in Norwegen; radikales
Miniſterium Knudſen.
XXV. Generalverſammlung des Katho⸗
liſchen Univerſitätsvereins zu Salz⸗
burg (Ankündigung der demnächſtigen
Errichtung von zwei Fakultäten).
Hinrichtungen in Halti wegen angeb⸗
licher Verſchwörung gegen den Präſi⸗
denten.
Neuordnung der Ausbildung der Kan:
didaten des höheren Schulamts in
Preußen.
Verluſtreiche Eroberung der Werft Simon
Coppers (Deutſch⸗Südweſtafrikah.
16.—23. Franzöſ.⸗ſchweizer. Konferenz über
die Zufahrtslinien zum Simplon in
Bern (reſultatlos).
19. Fünfzigſte Wiederkehr des Tages der
Prieſterweihe Pius' X.
14.
15.
16.
Generalgouverneur von Auſtralien
(an Stelle des Lord Northcote).
Diskontherabſetzung der Bank von Eng⸗
land auf 3%.
Miniſterielle Genehmigung zur Ein-
führung des biologiſchen Unterrichts in
den oberen Klaſſen der höheren Lehr:
anſtalten Preußens.
19.—24. Journaliſtenſtreik im deutſchen
Reichstag.
20. Sanktion des preuß. Enteignungsgeſetzes
gegen die Polen.
20.— 21. XXXIV. Vollverſammlung des
Deutſchen Handelstags zu Berlin.
21. Ernennung des chriſtlich⸗ſozialen Abg.
Dr Geßmann zum Chef des neu er-
richteten Miniſteriums für öffentliche
Arbeiten.
Armeniermetzelei in Wan durch Kurden.
22. Boykottbewegung gegen Japan in
Kanton.
23. Untergang des japan. Dampfers „Matſu
Maru“ bei Hakodate; über 250 Tote.
23 ff. Gemeindewahlen in Wien; Sieg der
Chriſtlichſozialen.
23.— 27. I. Kongreß der ital. Großgewerbe⸗
treibenden zu Venedig.
23. (bis 17. April). Internationales Schach⸗
meiſterturnier zu Wien; Sieger U. Du⸗
ras - Prag, G. Maroczy⸗Peſt und
K. Schlechter⸗Wien zu gleichen Teilen.
24. Rede des öſterr. Unterrichtsminiſters
Marchet zu Gunſten Wahrmunds.
25. Generalverſammlung des Katholiſchen
Schulvereins zu Wien.
25.— 26. Zuſammenkunft des Deutſchen Kai⸗
ſers mit dem König von Italien zu
Venedig.
26. Einigung im deutſchen Baugewerbe über
das Schema des Tarifvertrags (zu
Berlin).
Zerſtörung der mexik. Stadt Chilapa
durch Erdbeben.
27. Ernennung des ital. Generals Robilant
zum mazedon. Gendarmeriechef.
Großes Steeplechaſe zu Liverpool; Sie ⸗
ger Major Douglas' „Rubio“.
28.—31. Nationaler Katholikenkongreß zu
Genua.
März — April.
403
29. Gründung eines Deutſch⸗franzöſ. Wirt- 31. Homeruledebatte im engl. Unterhaus;
ſchaftsvereins zu Frankfurt a. M.
29.— 30. Beſuch des Reichskanzlers v. Bülow
in Wien.
VII. Deutſch⸗öſterr. Volksbildungstag zu
Wien.
30. Durchſchlag des Rickentunnels der Boden:
ſee-Toggenburgbahn (Schweiz).
beſchränkte Selbſtverwaltung für Ir⸗
land in Ausſicht geſtellt.
Deputiertenwahlen in der Kapkolonie;
Sieg des Bond.
31. (bis 2. April). Biſchofsverſammlung in
Paris
April.
1. Aufhebung ber Kriegsgefangenſchaft der
Herero.
Inkrafttreten des neuen preuß. Schul ⸗
unterhaltungsgeſetzes.
Geſetz über Schaffung je einer katholiſchen
und proteſtantiſchen Univerſität in
Irland (endgültige Annahme am 25.
bzw. 31. Juli).
1. (bis 18. Juni). II. Deutſche Heimarbeiter;
ausſtellung zu Fraukfurt a. M.
2. Vereidigung der Großherzogin von
Luxemburg als Statthalterin zu
Sta Margherita Ligure.
Blutiger Zuſammenſtoß zwiſchen Poli⸗
zei und Arbeitern in Rom; 3 Tote,
44 Verwundete.
3. Wahl des Bürgermeiſters Burchard zum
Senatspräſidenten und Erften Birger:
meiſter von Hamburg; Zweiter Bürger-
meiſter wurde der Senator William
Henry O' Swald.
Untergang des engl. Torpedojägers
„Tiger“ infolge Zuſammenſtoßes mit
dem Kreuzer „Berwick“; 36 Tote.
3.—5. Generalſtreik in Rom (mißlungen).
4. Auflöſung des finn. Landtags.
Achterwettrudern zwiſchen den Univerſi⸗
täten Oxford und Cambridge (Sie⸗
gerin).
4. (bis 10. Mai). Stilllegung der Diamant:
induſtrie zu Amſterdam (gleichzeitig
auch zu Antwerpen).
5. Rücktritt des engl. Premierminiſters
Campbell - Bannerman; Nachfolger
Schatzkanzler Asquith (am 8.).
Corteswahlen in Portugal; Sieg der
monarchiſtiſchen Konzentration (136
von 155 Sitzen).
5.— 21. Bauarbeiterausſperrung zu Paris.
6. II. Generalverſammlung des Piusvereins
zu Wien.
6.— 7. Hochwaſſerkataſtrophe bei Hankon
(China); 5000 Tote.
6.—9. XXV. Kongreß für innere Medizin
zu Wien.
6.— 11. IV. Internationaler Mathematiker⸗
kongreß zu Rom.
7. Biſchofskonferenz (Univerſitätskomitee)
zu Wien.
8. Endgültige Annahme des Vereins und
Börſengeſetzes im deutſchen Reichs⸗
tag.
Penſionierung des württemb. Finanz
miniſters v. Zeyer; Nachfolger der Hof-
domänenkammerpräſident v. Geßler.
Reſignation des Biſchofs Battaglia von
Chur.
9. Schließung des preuß. Abgeordneten⸗
hauſes.
Annahme der neuen Geſchäftsordnung
im ungar. Abgeordnetenhaus.
Endgültige Erledigung der Novelle zum
franz. Trennungsgeſetz (Zuteilung der
Kirchengäter).
Zurücknahme der Rangprivilegien ber
katholiſchen Biſchöfe und Miſſionäre
durch den Kaiſer von China.
(bis 3. Mai). Aufenthalt des deutſchen
Kaiſerpaares auf Korfu.
Begebung von 650 Mill. Mark deutſcher
und preuß. Anleihe (nur knapp ge
zeichnet).
Umbildung des ſerb. Kabinetts Paſchitſch.
Hauptverſammlung des Internationalen
Vereins zur Bekämpfung der wiſſen⸗
ſchaftlichen Tierfolter zu Dresden.
11. (bis 16. Mai). Ausſperrung im ſüddeutſchen
Malergewerbe (3000 Arbeiter).
26 *
10.
10.
11.
404 VIII. Chronik.
20. Maſſenverſammlung (über 10 000 Be:
ſucher) gegen Wahrmund zu Brixen.
Bewilligung von 5 italieniſchen Poft-
ämtern in der Türkei durch die Pforte.
Zugzuſammenſtoß bei Braybrook (Bil:
toria, Auſtralien); über 50 Tote.
21. XVIII. Hauptverſammlung des Bundes
der deutſchen Bodenreformer zu Stutt-
gart.
21.—22. Generalverſammlung des Vereins-
bundes deutſcher Zahnärzte zu Berlin.
21.—24. XXXVII. Tagung der Deutſchen
Geſellſchaft für Chirurgie zu Berlin.
21.—25. I. Internationaler Laryngo - Rhino ·
logenkongreß zu Wien.
22.— 25. III. Kongreß der Geſellſchaft für
experimentelle Pſychologie zu Frank;
furt a. M.
XXII. Tagung ber Deutſchen anatomiſchen
Geſellſchaft zu Berlin.
23. Unterzeichnung des Nordſeeabkommens
zu Berlin und des Oſtſeeabkommens
zu St Petersburg unter Aufhebung
des Novembertraktats von 1855.
Wiederernennung des Dr Th. Kathrein
zum Landeshauptmann in Tirol.
23.—24. Bayr. Biſchofskonferenz zu Frei⸗
ſing; gemeinſamer Hirtenbrief an den
bayr. Klerus.
Kämpfe gegen die Mohmand an der
ind. Nordweſtgrenze.
24. Konferenz des ungar. Biſchofskollegiums
zu Budapeſt.
Feier des 80. Geburtstages des Erzabts
von Beuron, P. Plazidus Wolter.
Verheerender Zyklon im Südweſten der
Vereinigten Staaten (beſonders Miſ⸗
ſiſſippi); an 500 Tote.
Jahresverſammlung des Deutſchen Ver:
eins für Pſychiatrie zu Berlin.
25. Kongreß der Deutſchen Geſellſchaft für
orthopädiſche Chirurgie zu Berlin.
Zuſammenſtoß des engl. Kreuzers „Gla⸗
diator“ (der am Ufer ſtrandete) mit
dem Poſtdampfer „St Paul“ vor der
Weſtküſte von Wight; 35 Tote.
25.— 26. IV. Kongreß der Deutſchen Röntgen
Geſellſchaft zu Berlin.
25.— 30. I. Ital. Frauentag zu Rom (fatho-
likenfeindliche Haltung).
12. Ermordung des Statthalters von Ga-
lizien, Grafen Andreas Potocki, zu
Lemberg.
Großer Brand in der Boſtoner Vor⸗
ſtadt Chelſea (50 Tote, 1200 zerſtörte
Gebäude).
Deutſcher Volksvertretertag zu Komotau.
Amtsentſetzung des Domkapitels von
Wilna wegen Verweigerung der Wahl
eines Kapitelvikars.
I. Oſterr. Fiſchereitag zu Wien.
V. Delegiertentag der chriſtlich⸗ſozialen
Arbeiterorganiſation der Schweiz zu
Zürich.
12.—13. Kämpfe an der ruſſ.⸗perſ. Grenze.
13. Auflöſung der ſerb. Skupſchtina.
Brand der alten Berliner Garniſon⸗
kirche; Verluſt zahlreicher Sieges ⸗
trophäen.
13.—15. III. Verbandstag der akademiſch
gebildeten Lehrer Deutſchlands zu
Braunſchweig.
14. Annahme des allgemeinen Kommunal ⸗
wahlrechts für Frauen in Dänemark.
Eröffnung der XV. Berliner Segeffions-
ausſtellung.
15. Audienz des deutſchen Reichskanzlers
Fürſten Bülow beim Papſt.
Wahl von Richard Strauß zum Dirt:
genten der Berliner Symphonie ⸗
konzerte.
Kentern des Dampfers „Götaelf“ im
Hafen von Göteborg; an 20 Tote.
15.—16. I. Verſammlung der Deutſchen
tropenmediziniſchen Geſellſchaft zu
Hamburg.
16. Verluſtreicher Überfall eines franzöſ.
Militärlagers bei Menabha (Südoran)
durch Marokkaner.
Annahme der Amurbahn durch die ruff.
Duma.
18. Deutſch⸗franzöſ. Abkommen über die
Süd- und Oſtgrenze von Kamerun.
19. Sakrileg bei der Papſtmeſſe in der Siz:
tiniſchen Kapelle durch 3 jüdiſche Rom ;
beſucher aus Wien.
Bildung eines Berufungsgerichts für
Strafſachen in England.
19.—20. Internationales Fußballturnier
zu Turin; Sieger Genf.
April — Mai. 405
25. (bis 3. Mai). Internat. Blumenpreisaus- 27. Internationaler Poſitiviſtenkongreß zu
ſtellung zu Gent anläßlich der Hundert ⸗ Palermo.
jahrfeier der Genter Blumenfeſte 27.—28. Tagung des Tiroler Landtags.
(„Floralien“). 27.— 29. XIII. Kirchlich⸗ſozialer Kongreß zu
26. Konſtituierung des Zentralverbands öſter⸗ Bielefeld.
reichiſcher Kaufleute zu Wien. 27. (bis 3. Mai). Hundertjahrfeier der Didzefe
XXV. Generalverſammlung des Wer: Neuyork.
bandes deutſcher Handlungsgehilfen zu 28. Wahrmund Interpellation im öſterr.
Leipzig. Herrenhaus.
Tiroler Kaiſerjubiläumsſchützenfeſt zu Wahl des Lazariſtenpaters Ernſt Schmitz,
Bozen. Direktors des Prieſterſeminars in
Fünfundzwanzigjähriges Biſchofsjubi⸗ Funchal (Madeira), zum Direktor des
läum des ehem. Münchener Nuntius katholiſchen deutſchen Hoſpizes in Se
C. Caputo. ruſalem.
27. Schiedsſpruch im deutſchen Baugewerbe Eröffnung der internationalen diploma ;
(am 4. Mai angenommen). tiſchen Konferenz über das Waffenweſen
Herabſetzung des Diskonts der Deutſchen in Afrika zu Brüſſel (Mitte Juli ab-
Reichsbank auf 5%, gebrochen).
Deutſch⸗öſterr.⸗ungar. Binnenſchiffahrts. 29. Ernennung des Geh. Rats Profeffor
kongreß zu Breslau (Kundgebung gegen Dr Michael Bobrzynski zum Statt⸗
das Schleppmonopol). halter und des Grafen Badeni zum
III. Deutſcher Volkshochſchultag zu Dres⸗ Landmarſchall in Galizien.
den. Eröffnung der portug. Cortes durch den
Jahresverſammlung des Deutſchen Ver⸗ König.
eins für Wohnungsreform zu Frank⸗ Erhebung der Wallfahrtskirche U. L. Frau
furt a. M. von Apparecida (Braſilien) zur Baſi⸗
Generalverſammlung der Oſterr. Zentral- lika.
ſtelle für Wohnungsreform zu Wien. Untergang des japan. Schulkreuzers
Jahresverſammlung des Katholiſchen „Matſuſchima“ bei den Pescadores⸗
Erziehungsvereins der Schweiz zu inſeln; über 200 Tote.
Zug. 29.—30. Atnaausbruch (der erſte ſeit 1892).
Feſtverſammlung des Piusvereins zu 30. Schluß der internationalen Ringkämpfe
Wien; Kundgebung für die katholiſche zu Frankfurt a. M.; Sieger Eberle⸗
Preſſe. Freiburg.
Gründung eines Deutſchen Handwerker. 30. (bis 5. Mai). Internationales Preisreiten
bundes zu Dortmund. für Offiziere aller Armeen zu Rom.
Mai.
1. Eröffnung der Berliner und Dresdener 2. Überſchreitung der ind. Nordweſtgrenze
Großen Kunſtausſtellung. durch eine ſtarke Streitmacht der Af⸗
Sperrung der Univerſität Agram infolge ghanen (am 4. beſiegt).
Studentenſtreiks (wegen Penſionierung Tod des deutſchfeindlichen Ovambo⸗
des Profeſſors Surmin). Häuptlings Nechale (Deutſch⸗Südweſt⸗
Generalſtreik der Landarbeiter (15000) afrika).
in der ital. Provinz Parma (Ende 2.—31. Ausſperrung in der engl. Schiffbau⸗
Juli ergebnislos verlaufen). induſtrie am Clyde und an der Mord:
X. Hauptverſammlung der Deutſchen oſtküſte (80 000 Arbeiter).
Orientgeſellſchaft zu Berlin. 3. Papſtfeier der deutſchen Katholiken zu
1. ff. Bankenquetekommiſſion in Berlin. Rom.
.406
3. Hirtenſchreiben der engl. katholiſchen
Biſchöfe über die ſozialiſtiſche Maifeier.
Große Demonſtrationen gegen die Re
gierung zu Agram.
Generalverſammlung des Oſterr. Flotten ⸗
vereins zu Wien.
Verſammlung der Deutſchen Goethe;
bünde zu Berlin; Reſolution für Frei⸗
heit der Wiſſenſchaft und Kunſt.
Eröffnung der Ausſtellung jüdiſcher
Kunſtdenkmäler zu Düſſeldorf.
Vermählung des Prinzen Wilhelm von
Schweden mit der Großfürſtin Maria
Paulowna zu Zarſkoje Selo.
Wahl des ehemaligen Geſandten Gua⸗
challa (liberal) zum Präſidenten von
Bolivia.
Brand des Hotels Aveline in Fort
Wayne (Vereinigte Staaten); 25 Tote.
3.—4. Kongreß katholiſcher Provinzial ⸗ und
Gemeinderäte zu Genua.
4. Deutſches Weißbuch über Marokko.
Ernennung des Abgeordneten Konſi⸗
ſtorialrats Joh. Nep. Hauſer zum
Landeshauptmann von Oberöſterreich.
Lärmſzenen an der Tierärztlichen Hoch
ſchule zu Wien.
4.—9. VII. Generalverſammlung des
Deutſch⸗evangeliſchen Frauenbunds zu
Potsdam.
4. (bis 11. Juni). X. Internationale Tele⸗
graphenkonferenz zu Liſſabon.
5. Urteil im Prozeß Polonyi⸗Lengyel (Buda⸗
peſt); Verurteilung Lengyels zu drei
Monaten Gefängnis und 1000 Kr.
Geldbuße.
6. Eidleiſtung des Königs von Portugal.
Ernennung des Abgeordneten Heinrich
Prade zum deutſchen Landsmann ⸗
miniſter in Oſterreich.
Gründung des Oſterr. Schifferverbands
zu Wien.
7. Beglückwünſchung des Kaiſers Franz
Joſeph I. von Oſterreich zu feinem
60. Regierungsjubiläum durch den
Deutſchen Kaiſer, zehn Bundesfürſten
und den Bürgermeiſter von Hamburg
im Luſtſchloß zu Schönbrunn.
Vertagung des deutſchen Reichstags (bis
20. Okt.).
VIII. Chronik.
7. Biſchofswahl in Chur; gewählt der bis⸗
herige Offizial und Regens des Prieſter⸗
ſeminars Dr Georg Schmid von
Grüneck.
Ermäßigung des Diskonts der Oſter⸗
reichiſch⸗ungariſchen Bank auf 4%,
8. Verhaftung des Fürſten Philipp zu
Eulenburg.
Annahme der Satzungen des Verkehrs⸗
verbands für Groß⸗Berlin durch die
Berliner Stadtverordneten.
Gewährung der Kultusfreiheit für die
bosn. Mohammedaner.
Achtzigſter Geburtstag von Henri Du-
nant, dem Begründer der Genfer
Konvention.
V. Generalverſammlung der Allgemei-
nen Antiduellliga für Oſterreich zu
Wien.
9. Dacheinſturz an der im Bau befindlichen
Muſikfeſthalle zu Görlitz; 17 Arbeiter
verunglückt (5 Tote).
9.— 10. Deutſcher Friedenskongreß zu Jena.
IV. Deutſcher Kalitag zu Nordhauſen.
10. Konſekration des Apoſtoliſchen De le
gaten für Konſtantinopel, Vincenzo
Sardi, zum Titularerzbiſchof von
Caͤſarea.
Gründung eines ſchweizer. Frauenſtimm ⸗
rechtsbundes zu Lauſanne.
XXXI. Vollverſammlung der Tierärzte
Oſterreichs zu Wien.
Wettrennen in Wien (Traberderby;
Siegerin K. Bartenſteins „Grete
und Budapeſt (Königspreis; Sieger
Baron G. Springers „Peregrin“).
Enthüllung eines Schiller⸗Denkmals in
Detroit (Michigan).
10. (bis 14. Sept.). Südafrikareiſe des deut⸗
ſchen Staatsſekretärs Dernburg.
11. Grundſteinlegung des Palaſtes des pan-
amerik. Bureaus zu Waſhington.
11.—12. II. Konferenz der Zentralſtelle für
Volkswohlfahrt zu Berlin.
IV. Allgemeiner Kongreß der Kranken ⸗
kaſſen Deutſchlauds zu Berlin.
12. Eröffnung des Verfaſſungslandtags
beider Mecklenburg.
Metzelei im Gefängnis von Selaterino-
ſlaw; 40 Tote.
Mai.
13. Halbamtlicher Empfang der Abgeſandten
des maroffan. Gegenſultans im Aus⸗
wärtigen Amt zu Berlin.
Einweihung der Hohkönigsburg (Elſaß)
in Gegenwart des Kaiſerpaares.
14. Eröffnung der Münchener Sezeſſions⸗,
der Prager Jubiläums. und der
Franzöſ.⸗engl. Ausſtellung zu Lon ⸗
don.
16. Ernennung des Generals Lyantey zum
franzöſ. Oberkommiſſär an der alge:
riſch⸗marokkan. Grenze.
Päpſtliches Schreiben an die franzöf.
Kardinäle wegen Verwerfung der
geiſtlichen Unterſtützungsvereine.
Stubentenbemonftrationen gegen die
katholiſchen Verbindungen in Wien
und Graz.
Grenz · und Handelsabkommen zwiſchen
Italien und Abeſſinien.
Ausreiſe der Hamburger Südſee⸗Ex⸗
pedition unter Profeſſor Fülleborn.
16.—18. Bach⸗Feſt zu Leipzig (Enthüllung des
Bach⸗Denkmals).
16. (bis 18. Okt.) Ausſtellung „München
1908”.
17. Seligſprechung ber ehrw. Maria Mag:
dalena Boftel, Stifterin der Genoſſen⸗
ſchaft der Schweſtern von den chriſtl.
Schulen der Barmherzigkeit.
Konſekration des Domdechanten Franz
Bruſak zum Weihbiſchof von Prag.
18.—19. Hauptverſammlung des Deutſchen
Verbands kaufmänniſcher Vereine zu
Frankfurt a. M.
Schließung der Univerſität Innsbruck
wegen Reibereien zwiſchen kathol. und
deutſchfreiſinnigen Studenten.
18.—23. VIII. Internationaler Architekten
kongreß (mit Baukunſtausſtellung, bis
15. Juni) zu Wien.
18. (bis 12. Juni). Internationales Schach⸗
turnier zu Prag; Sieger U. Duras⸗
Prag und K. Schlechter ⸗Wien.
19. XXV. Generalverſammlung des Ver⸗
bands der landwirtſchaftlichen Kon⸗
ſumvereine zu Karlsruhe (Baden).
20. Wahl des Erſten Definitors P. Pacificus
von Seggiano zum General des Kapu⸗
zinerordens.
407
20. ff. Scharfe Kämpfe gegen die Mohmand
an der ind.⸗afghan. Grenze.
21. Kinderhuldigung vor Kaiſer Franz Joſeph
zu Schönbrunn (82 000 Kinder).
Eiſenbahnunglück bei Contich (Belgien);
40 Tote, 324 Verwundete.
21.— 22. I. Internationaler Kongreß gegen
Pornographie zu Paris.
21.—29. Deutſch⸗ſchweizer. Zollkonferenz zu
Zürich (Mehlkonflikt nicht erledigt).
22. Bewilligung der Verlängerung der Bag:
dadbahn um 840 Kilometer durch
kaiſerliches Irade (Vertrag am 3. Juni
unterzeichnet).
23. Feierliche Eröffnung des Internationalen
Inſtituts für Ackerbau zu Rom.
Begründung einer Internationalen Ber-
einigung für Krebsforſchung zu Ber⸗
lin.
Tagung des Schweizer. ärztlichen Zentral
vereins zu Baſel.
23.—24. Verderblicher Wetterſturz (ſtarke
Schneefälle) in den Alpenländern.
23. (bis 31. Okt.). Heſſ. Landesausſtellung für
freie und angewandte Kunſt zu Darm⸗
ſtadt.
24. Seligſprechung der ehrw. Mutter Mag:
dalena Sophia Barat, Gründerin der
Kongregation der Damen vom hei⸗
ligſten Herzen Jeſu.
Parlamentswahlen in Belgien; katho⸗
liſche Mehrheit in beiden Kammern.
Slawenkongreß zu St Petersburg.
25. Blutige Zuſammenſtöße zwiſchen Bauern
und Gendarmen zu Czernikow (Gali⸗
zien); 9 Tote.
25.— 28. VII. Internationaler Textilarbeiter⸗
kongreß zu Wien.
25.— 29. Beſuch des Präſidenten Fallieres
in London.
25.—31. Blutige Kämpfe zwiſchen türk.
Truppen und der Bevölkerung von
Samos.
25. (bis 3. Juni). Sportfeſte zu Rom.
26. Abgeordnetenwahlen in Luxemburg;
kleiner Gewinn der Linksparteien.
Wahl des P. Geremia delle Sante Spine
zum General der Paſſioniſten.
Tagung der Deutſchen Geſellſchaft für
Volksbäder zu Eſſen.
408
VIII. Chronik.
26.— 29. Konferenz der Deutſchen Landes 29.— 30. Internationale Polarkonferenz zu
vereine vom Roten Kreuz zu Dresden
(Bildung eines Zentralkomitees in
Berlin).
26.— 30. VI. Internationaler Verlegerkon⸗
greß zu Madrid.
27. IV. Internationaler Luftſchiffertag zu
London.
XI. Generalverſammlung des Deutſchen
Zentralkomitees zur Bekämpfung der
Tuberkuloſe zu Berlin.
IX. Generalverſammlung des Oſterr.
Notarenvereins zu Wien.
27.— 28. Hochſchultag der kathol. deutſchen
Studentenſchaft Oſterreichs zu Wien.
27.— 30. V. Deutſcher Motorfahrertag zu
Bingen.
28. Konſekration von Dr Ivan Saric zum
Weihbiſchof von Serajewo.
28.— 30. V. Internationaler Azetylenkongreß
zu London.
VII. Hauptverſammlung der deutſchen
Nahrungsmittelchemiker zu Bad Nau ⸗
heim. 8
XLVII. Jahresverſammlung des Zentral-
vereins deutſcher Zahnärzte zu Köln.
29. Interkoloniale Konferenz zu Kapſtadt;
Erhaltung des Südafrikan. Soll:
vereins.
Generalverſammlung des Deutſchen Ver⸗
Brüffel (Bildung einer Ynternatio-
nalen Kommiſſion zur Förderung der
Polarforſchungen zu Brüſſel).
XV. Hauptverſammlung der Deutſchen
Bunſen⸗Geſellſchaft für angewandte
Chemie zu Wien.
30. IV. Deutſcher Hochſchultag zu Graz.
XVIII. Verbandstag der Deutſchen Be⸗
amtenvereine zu München.
Außerord. Generalverſammlung des
Bundes der Induſtriellen zu Eiſenach
(Austritt aus der Intereſſengemein ⸗
ſchaft mit dem Zentralverband).
30. (bis 1. Juni). IX. Tagung des Schweizer.
Tonkünſtlervereins zu Baden.
31. Seligſprechung des Paſſioniſten Gabriel
della Addolorata (Francesco Poffenti).
Franzöſ. Derby zu Chantilly bei Paris;
Totes Rennen zwiſchen W. K. Van ;
derbilts „Sea Sick“ und E. Deschamps
„Quintette“.
Großer Preis von Hamburg; Sieger
der Graditzer Hengſt „Anklang“.
Skupſchtinawahlen in Serbien; knapper
Sieg der Regierungspartei.
VII. Hauptverſammlung des Vereins
deutſcher Redakteure zu Berlin.
31. (bis 2. Juni). Beſuch des ſchwed. Königs ⸗
paares in Berlin.
eins zur Rettung Schiffbrüchiger zu 31. (bis 7. Juni). XI. Internationaler Binnen-
Ruhrort.
ſchiffahrtskongreß zu St Petersburg.
juni.
1. Eröffnung der Ausſtellung für Studenten-
kunſt zu Stuttgart und der Erzgebirgs⸗
ausſtellung auf dem Keilberg bei
Joachimstal.
1.—3. V. Internationaler Baumwollkongreß
zu Paris.
1.—5. XLIV. Jahresverſammlung und
Tonkünſtlerfeſt des Allgemeinen deut⸗
ſchen Muſikvereins zu München.
2.—4. Künſtlertag (der Allgemeinen deut⸗
ſchen Kunſtgenoſſenſchaft) zu München.
2.— 24. Siſtierung der Vorleſungen an
der Univerſität Innsbruck.
2. (bis 4. Okt.). Deutſche Schiff bauausſtellung
zu Berlin.
3. VI. Tagung des Internationalen Kolo-
nialinſtituts zu Paris.
Engl. Derby zu Epſom; Siegerin die
Stute „Signorinetta“ des ital. Sports.
manns Cavaliere Giniſtrelli.
3.—4. XXXVII. Hauptverſammlung des
Deutſchen Bühnenvereins zu Koburg
(Schaffung eines Bühnenvertrags).
Tagung des Vereins deutſcher Straf⸗
anſtaltsbeamten zu Köln.
3.—17. Internationale Ausſtellung von
Hilfsmitteln für Turnen und Spiel
zu Amſterdam.
4. Ablehnung der mecklenb. Verfaffungs-
vorlage durch die Ritterſchaft.
Suni.
4. Plötzliche Abreiſe des Schahs von Perſien
aus Teheran nach dem nahen Sommer:
ſitz Baga Schah.
Überführung der Leiche Zolas ins Pan-
theon zu Paris; Attentat des Jour-
naliſten Gregory auf Major Dreyfus.
Herabſetzung des Diskonts der Deutſchen
Reichsbank auf 4½ %.
4.—6. I. Internationaler Antiduellkongreß
zu Budapeſt.
4.— 22. Studentenſtreik auf den öſterr. Hoch ·
ſchulen.
5. Landtagswahlen in Coburg und Gotha.
6. Ablehnung des Flottenkredits durch die
ruſſ. Duma.
Exploſion in einer Zelluloidfabrik zu
Wien (Ottakring); 18 Tote.
Beginn der Internationalen Jubiläums⸗
wettſpiele zu Wien.
6.—7. XVII. Verſammlung der Deutſchen
otologiſchen Geſellſchaft zu Heidel⸗
berg.
6.—8. II. Mezzofanti⸗Tag zu Wiesbaden.
6.—10. V. Allgemeiner theoſophiſcher Kon-
greß zu Wiesbaden.
7. Einzug des marokkan. Gegenſultans
Muley Hafid in Fes.
Verhaftung mehrerer Großwürdenträger
durch den Schah von Perſien.
Sobranjewahlen in Bulgarien; großer
Sieg der Demokraten (Regierungs-
partei).
Gründung eines Deutſchböhm. Städte⸗
bunds zu Reichenberg.
Oſterr. Derby zu Wien; Sieger Fürſt
L. Lubomirſkis „Intrygant“.
Grand Steeple Chafe zu Paris⸗Auteuil;
Sieger E. Fiſchofs Hengſt „Dandolo“.
Entſcheidungskampf um die deutſche Fuß⸗
ballmeiſterſchaft; Siegerin „Biltoria”-
Berlin.
7.—9. XXIII. Hauptverſammlung des Ver⸗
eins katholiſcher deutſcher Lehrerinnen
zu München.
7.— 10. VIII. Verbandstag der katholiſchen
Lehrer Deutſchlands zu Breslau.
8.—10. X. Tagung der Deutſchen dermatolo-
giſchen Geſellſchaft zu Frankfurt a. M.
V. Allgemeiner Tag für deutſche Er⸗
ziehung zu Weimar.
409
8.—11. IV. Muſikpädagogiſcher Kongreß
zu Berlin.
8.—12. XIX. Internationaler Bergarbeiter
kongreß zu Paris.
XIII. Allgemeiner deutſcher Neuphilo⸗
logentag zu Hannover.
9. XXIX. Bundesverſammlung der Oſterr.
Geſellſchaft vom Roten Kreuz zu Wien.
Hauptverſammlung des Deutſchen Gym ⸗
naſialvereins zu Zwickau.
Nationaler Geſangwettſtreit zu Kreuz
nach; Sieger (Ehren und Kaiſerpreis)
der Quartettverein Köln-Ehrenfeld.
9.—10. Deutſcher Lehrertag zu Dortmund.
XI. Delegiertentag des Verbands katho
liſcher Arbeitervereine zu Berlin.
IV. Verbandstag der Katholiſchen Vereine
erwerbstätiger Frauen und Madchen
zu Berlin.
I. Generalverſammlung des Bundes
deutſcher Privatmädchenſchulen zu
Berlin.
9.—11. Engl.-ruſſ. Monarchenentrevue in
Reval.
IX. Jahresverſammlung des Deutſchen
Vereins für Schulgeſundheitspflege zu
Darmſtadt.
XVIII. Jahresverſammlung der Deut:
{den zoologiſchen Geſellſchaft zu Stutt
gart. 5
XIX. Evangeliſch - ſozialer Kongreß z
Deſſau.
9.—14. I. Internationaler Kongreß für
Rettungsweſen zu Frankfurt a. M.
(Errichtung eines permanenten inter⸗
nationalen Bureaus).
Hauptverſammlung des Bundes deutſcher
Verkehrsvereine zu Landshut.
9.—17. Prinz Heinrich⸗Fahrt für Wuto-
mobile (Berlin-Stettin-Kiel-Flens⸗
burg - Hamburg Bremen Hannover-
RdIn-Uachen- Trier- Frankfurt a. M.,
2215 km); Sieger Fritz ErleMann-
heim auf einem Benz⸗Wagen.
10. Großes Armeejagdrennen in Hoppe⸗
garten; Gewinner des Ehrenpreiſes
des Kaiſers Leutnant v. Mitzlaff auf
„Sven Hedin“, des „Silbernen
Schilds“ der Graditzer Hengſt „Süd⸗
ring“. |
410
10.—12. Hauptverſammlung des Allgemeinen
deutſchen Schulvereins zu Konſtanz.
Hauptverſammlung des Vereins deutſcher
Chemiker zu Jena.
11. Gründung der „Wilhelmſtiftung für
Gelehrte“ (am 21. Dez. „Friedrich
Althoff ⸗Stiftung“ benannt) zu Berlin.
11.—12. Europäifhe Fahrplankonferenz zu
Heidelberg.
IX. Deutſcher Bibliothekartag zu Eiſenach.
XII. Landes verſammlung der Inter⸗
nationalen kriminaliſtiſchen Bereini-
gung zu Poſen.
12. Kaiſerhuldigungsfeſtzug (12 000 er:
ſonen) zu Wien.
XXXVIII. Hauptverſammlung ber Deut:
ſchen Kolonialgeſellſchaft zu Bremen.
12.—13. XLII. Verſammlung des Vater⸗
ländiſchen Frauenvereins zu Berlin.
XVI. Jahresverſammlung des Verbands
deutſcher Elektrotechniker zu Erfurt.
Deutſcher Freidenkerkongreß zu Frank;
furt a. M.
13. Generalverſammlung der Goethe ⸗Geſell .
ſchaft zu Weimar.
Generalverſammlung des Schweizer.
Hotelvereins zu Baſel.
Wiedereröffnung des Schauſpielhauſes
zu Lauchſtädt.
13.— 14. XXIII. Internationale Regatta zu
Mainz; Sieger im Kaiſervierer der
Heidelberger Ruderklub.
13.—28. Internationale Kinematographen⸗
induſtrie⸗Ausſtellung zu Hamburg.
14. Konſekration des ehemaligen Kapuziner⸗
generals Bernhard Ehriften von An⸗
dermatt zum Titularerzbiſchof von
Stauropolis zu Rom.
Biſchofsweihe des neuen Generalvikars
von Vorarlberg und Weihbiſchofs
von Brixen, Dr Franz Egger, zu
Brixen.
Antrittsaudienz des neuen Botſchafters
der Vereinigten Staaten am Berliner
Hof, David J. Hill.
VIII. Hauptverſammlung des Deutſchen
Flottenvereins zu Danzig; friedliche
Einigung.
VIII. Deutſcher Samaritertag zu Frank⸗
furt a. M.
VIII. Chronik.
14. Grand Prix de Paris (290 000 Mark) zu
Longchamps; Sieger W. K. Vander:
bilts Hengſt „Northeaſt“.
Regatta bei Grünau; Sieger im Kaiſer⸗
vierer der Berliner Ruderklub Hellas,
im Wanderpreis der Akademiſche
Ruderverein Hannover.
15. Eintritt des Herzogs Ernſt Auguſt zu
Braunſchweig und Lüneburg in die
bayriſche Armee (am 9. veröffent-
licht).
Kundgebung der (16) öſterr. Hochſchul⸗
rektoren gegen den Studeutenſtreik.
15.—16. V. Tuberkuloſekongreß zu Mün⸗
chen.
15.—17. XXII. Berufsgenoſſenſchaftstag zu
Kiel.
15.—19. XLVIII. Jahresverſammlung des
Deutſchen Vereins von Gas- und
Waſſerfachmännern zu Berlin.
15.—20. II. Kongreß des Weltbunds für
Frauenſtimmrecht zu Amſterdam.
16. Abgeordnetenwahlen in Preußen; Stär-
kung der Rechten und des Zentrums.
Beſtätigung des Allruſſ. Nationalver .
bands durch die Behörden.
16.—17. XXXV. Deutſcher Gaſtwirtstag zu
Görlitz.
16.—20. Kongreß für gewerblichen Rechts:
ſchutz zu Leipzig.
16.—22. Pananglikaniſcher Kirchenkongreß
zu London.
17. Beilegung der Wahrmund⸗Affäre durch
Wahrmunds Verſetzung nach Prag.
Ernennung des Feldzeugmeiſters Fiedler
zum öſterr. Generaltruppeninſpektor.
18. Nominierung des Kriegsſekretärs Taft
zum Präſidentſchaftskandidaten der
Vereinigten Staaten durch den Re⸗
publikaniſchen Nationalkonvent zu
Chicago.
Demiſſion des ſerb. Kabinetts Paſchitſch;
proviſoriſches Miniſterium Welimiro⸗
witſch (18. Juli).
Herabſetzung des Diskonts der Deutſchen
Reichsbank auf 4%.
18.—19. Streik der ital. Kammerjournaliſten
zu Rom.
18.—21. Sängerfeft des Nordamerik. Sanger:
bunds zu Indianapolis.
Juni.
19. Blutiger Zuſammenſtoß zwiſchen franzöſ.
Truppen und chin. Reformiſten bei
Laokai (Tonkin).
19.—21. IX. Deutſcher Kongreß für Volks-
und Jugendſpiele zu Kiel.
Segelwettfahrt Dover-Helgolaud; Ge⸗
winnerin des Goldpokals des Deutſchen
Kaiſers die Jacht „Suſanne“.
20. Sieg der deutſchen Jacht „Windſpiel II.“
bei der Wettfahrt um den franzöſ.
Eintonnerpokal.
Einweihung der neuen Duisburg Ruhr:
orter Hafenanlage.
Generalverſammlung des Allgemeinen
Knappſchaftsvereins zu Bochum (An⸗
nahme der neuen Satzungen).
20.—21. XLIX. Jahresverſammlung des
Allgemeinen ſchweizer. Stenographen-
vereins zu St Gallen.
20.— 22. Internationale Ruderregatta zu
Frankfurt a. M.; Sieger im Kaiſer⸗
preis der Mainzer Ruderverein.
20.—25. XIII. Deutſches Bundeskegeln zu
Dresden.
21. Vollendung der deutſch⸗ſüdweſtafrik.
Südbahn (Lüderitzbucht Keetmans ⸗
hoop).
Brand des Dorfes Zirl bei Innsbruck;
10 Tote.
Auflöſung der Generalfechtſchule zu Lahr.
Motorradrennen im Sportpark Steglitz;
Gewinner des „Goldenen Motorrads“
Fritz Theile⸗Berlin.
II. Generalverſammlung der Schweizer.
Vereinigung für Heimatſchutz zu Baſel.
Goldene Hochzeit des Grafen Franz
K. Wolfgang Balleſtrem, ehem. Reichs ⸗
tagspräſidenten, und ſeiner Gattin
Hedwigis geb. Gräfin v. Saurma-
Jeltſch.
21.— 22. Kaiſerjubiläumsregatta zu Wien.
22.— 23. XVI. Bundestag deutſcher Saft
wirte zu Köln.
22.—24. V. Tagung des Zentral verbands
deutſcher Konſumvereine zu Eiſenach.
22.—27. VI. Kongreß der freien Gewerk
ſchaften Deutſchlands zu Hamburg.
22.—29. Kieler Motorbootrennen.
23. Staatsſtreich des Schahs von Perſien;
Beſchießung des Parlaments durch
411
Koſaken und Verhaftung vieler Ab⸗
geordneten und Politiker.
23. Schiffbruch des ſpan. Dampfers „Larache“
bei Vigo; an 90 Tote.
Abreiſe des Geſandten der Vereinigten
Staaten aus Venezuela (Abbruch der
diplomatiſchen Beziehungen).
Achtzigſter Geburtstag des Profeſſors
J. Schilling, des Schöpfers des Na ⸗
tionaldenkmals auf dem Niederwald.
23.—24. Studentenrevolte zu Graz.
24. fl. Unruhen im nördlichen Mexiko (Coa:
huila); der Führer Eſtrada am 6. Juli
gefangen.
25. Zerſtörung der kleinaſiat. Stadt Tokat
durch Hochwaſſer; an 2000 Tote.
Ernennung des Hiſtorikers P. Thureau⸗
Dangin zum ſtändigen Sekretär der
Franzöſ. Akademie.
VIII. Hauptverſammlung des Leipziger
Arzteverbands zu Straßburg i. E.
Hauptverſammlung des Vereins deutſcher
Zeitungsverleger zu Danzig.
25.—30. XXII. Wanderausſtellung der
Deutſchen Landwirtſchaftsgeſellſchaft
zu Stuttgart⸗Cannſtatt.
Allſlawiſcher Studentenkongreß zu Prag.
26. Eröffnung des neuen preuß. Landtags
(am 30. vertagt).
26.— 27. XXXVI. Deutſcher Arztetag zu
Danzig.
26. (bis 4. Juli). Kieler Woche.
27. Gründung des Bundes ſchweizer. Archi ·
tekten zu Olten.
27.— 28. Radfernfahrt Wien-Berlin; Sieger
H. Ludwig ⸗Soſſenheim (28 Stunden,
26 Minuten, 18 Sekunden).
27.— 29. IX. Vertretertag des Verbands der
Windthorſtbunde Deutſchlands zu
Karlsruhe (Baden).
Generalverſammlung des Schweizer.
Technikerverbands zu Schaffhauſen.
28. Deutſches Derby zu Hamburg: Horr;
Sieger Frhru v. Oppenheims Fuchs⸗
hengſt „Sieger“.
Internationale Jubiläums ruderregatta
zu Luzern.
II. Schweizer. Anwalttag zu Schwyz.
28.— 29. IV. Reichsverbandstag der chriſtl.
Arbeiterſchaft Oſterreichs zu Wien.
412
28.—30. Hauptverſammlung des Verbands
deutſcher Journaliſten⸗ und Schrift
ſtellervereine zu Worms.
28. (bis 1. Juli). XLIX. Hauptverſammlung
des Vereins deutſcher Ingenieure zu
Dresden.
28. (bis 7. Juli). Kaiſerjubiläumsſchießen zu
Wien; Gewinner des 1. Preiſes Karl
Heimann ⸗Celakowitz (Böhmen).
29. Päpſtliches Dekret über die Neuordnung
der römiſchen Kurie.
Ablehnung des von der Regierung er⸗
VIII. Chronik.
nannten Profeſſors Bernhard durch
die Berliner philoſophiſche Fakultät.
29. ff Prozeß Eulenburg (am 17. Juli wegen
Erkrankung des Fürſten abgebrochen).
29.— 30. Hauptverſammlung des Vereins
deutſcher Gartenkünſtler zu Leipzig.
30. Beſetzung der maroffan. Hafenſtadt Afem-
mur durch die Franzoſen.
Bildung eines Deutſch⸗öſterr. Gewerbe
bundes zu Wien. f
Wolkenbruch zu Alexandropol (Rußland);
über 100 Tote.
juli.
1. Zwölfſtündige Fernfahrt des Zeppelin⸗
Luftſchiffs (bis Luzern und Zürich).
Neuwahlen zum finn. Landtag (keine
weſentliche Verſchiebung).
Einführung der drahtloſen Telegraphie
im öffentlichen Verkehr des Deutſchen
Reiches.
Verbot des Gebrauchs der Guldenwährung
im Verkehr der Handel⸗ und Gewerbe⸗
treibenden mit dem Publikum in
Oſterreich.
Gasexploſion in einem Bergwerk bei
Juſowka (Gouvernement Sefaterino-
ſlaw); 264 Tote.
2. Wahl des Kanzelredners Alban Schach⸗
leiter zum Abt des Kloſters Emaus
(Prag).
Goldenes Prieſterjubiläum des Redemp⸗
toriſtengenerals P. Matthias Raus
zu Wien.
2.—4. Militärrevolte in Paraguay; an
Stelle des geſtürzten Präſidenten tritt
der Vizepräſident E. G. Naveiro.
3. Verzicht des Fürſten Salm auf das
Flottenvereinspräſidium; Großadmi⸗
ral v. Köſter nimmt die Wahl am 9.
an; Austritt des Fürſten Salm und
des Generals Keim.
Miniſterwechſel in Japan; neues Ka:
binett des Marquis Katſura.
4. Miniſterwechſel in Athen; neues Ka⸗
binett Theotokis.
4.—5. Schweizer. Preſſetag zu Zürich.
5. Volksabſtimmung über das Abfinth-
verbot in der Schweiz; Initiativ⸗
begehren angenommen.
6.—7. II. Deutſcher Städtetag zu München.
7. Automobilrennen in Dieppe; Gewinner
des Grand Prix der Deutſche Ch. Lauten ·
ſchläger auf einem Mercedes: Wagen.
7.—10. II. Allgemeiner Fürſorgeerziehungs⸗
tag zu Straßburg i. E.
7.—11. Demokratiſcher Nationalkonvent zu
Denver; Nominierung von Bryan
zum Präſidentſchaftskandidaten der
Vereinigten Staaten (am 10.).
8. Gründung eines Deutſchen Luftflotten:
vereins zu Mannheim.
Katholikenkongreß zu Johannesburg
(Südafrika).
8.—10. V. Verbandstag der Deutſchen ge
werblichen Genoſſenſchaften zu Berlin.
9. Einſturz der im Bau befindlichen Köl⸗
ner Rheinbrücke; 8 Tote.
Endgültige Annahme des Altersverſiche⸗
rungsgeſetzes im engl. Unterhauſe.
Generalverſammlung des Bonifatius⸗
Vereins zu Paderborn.
Tagung der Internationalen Heilſtätten⸗
kommiſſion zu Brüffel.
9.—10. XXIV. Deutſcher landwirtſchaft
licher Genoſſenſchaftstag zu Mainz.
10. Konſekration des Leiters der Franzis ⸗
kanermiſſion in Santarem (Braſilien),
P. Amandus Bahlmann, zum Titular⸗
biſchof von Argos zu Rom.
J. Allruſſ. Preſſekongreß zu St Peters: 10.—11. Internationale Konferenz für
burg.
Bibliographie (Anregung einer inter
Juli.
413
nationalen Organiſation des Biblio- 16. Hochwaſſerkataſtrophe in Juſzezyna (Ga:
thekenweſens).
10.—13. XVIII. Kongreß des Deutſchen
Vereins für Knabenhandarbeit zu
St Johann (Saar).
11. Zerſtörung des Graubündner Dorfes
Bonaduz durch Brand.
Einweihung der Meteorologiſchen Dra⸗
chenſtation zu Friedrichshafen.
11.—12. I. Jahresverſammlung des Deut⸗
ſchen Werkbunds zu München.
2. Zuſammenſchluß der aus dem Deutſchen
Kriegerbund ausgetretenen Militär⸗
vereine zu Barmen.
Pferderennen zu Hoppegarten; Ge⸗
winner des Großen Preiſes von Ber:
lin v. Weinbergs „Horizont II“.
Internationales Dauerradrennen (100
km) zu Köln; Sieger im Großen
Preis Bruno Demke⸗Berlin.
Deutſcher Notartag zu Köln.
Wahl von Joſé Domingo Obaldia zum
Präſidenten der Republik Panama.
13. Entlaſſungsgeſuch des deutſchen Lands⸗
mannminiſters in Oſterreich, Dr Prade.
Gründung einer „Osmaniſchen Liga für
Einheit und Fortſchritt“ (Jungtürk.
Partei) zu Monaſtir.
13.--18. Slawenkonferenz zu Prag zur Vor⸗
bereitung eines Allſlawentages (Be⸗
ſchluß aufgeſchoben).
13.—31. IV. Olympiſche Spiele im Londoner
Stadion; nur zwei deutſche Sieger:
Arno Bieberſtein Magdeburg im
100 m- Rückenſchwimmen und Al⸗
bert Zürner Hamburg im Waſſer⸗
ſpringen.
14. Kaiſerliches Edikt über die Bedingungen
der künftigen Parlamentswahlen in
China. |
14.— 16. Internationales Handel3- und Schiff⸗
fahrtsfeſt zu Rotterdam.
14.—23. Kurs für Heilpädagogik und Schul ⸗
hygiene zu München.
15. Dynamitexploſion auf der Grube „Ka⸗
rolus Magnus“ bei Borbeck; 11 Tote.
15.— 16. Kaiſerjubiläums⸗Armeepreisſchießen
zu Bruck a. L.
16. Diamantenes Prieſterjubiläum des Bi⸗
ſchofs von Leitmeritz, Dr Schöbl.
lizien); 26 Tote.
Ausreiſe Pearys aus Sydney (Neu ⸗
ſchottland) zur neuen Nordpolfahrt
(Dampfer „Rooſevelt“).
16.—18. XXXIX. Generalverſammlung des
Deutſchen und Oſterr. Alpenvereins
zu München.
16.— 20. Rheiniſche Motorbootwoche (Lanz⸗
Konkurrenz).
17.—20. Grütli⸗Zentralfeſt zu Zürich.
17.—21. Verſammlung des Zentralaus⸗
ſchuſſes für internationale Meeres⸗
forſchung zu Kopenhagen.
18. Enthüllung des Grabdenkmals für Pro-
feſſor Schell zu Würzburg.
18.—19. Wallenſtein⸗Feſtſpiele zu Eger.
18.—22. XI. Deutſches Turnfeſt zu Frank;
furt a. M.; Sieger im Sechskampf
B. Mahler⸗München, im Fünfkampf
J. Wagner⸗Bern.
18.—30. Internationale Regatten auf dem
Starnberger See.
18. (bis 4. Aug.). Nordlandreiſe des franzöſ.
Präſidenten Fallttres nach Kopen⸗
hagen (20.—22.), Stockholm (24.— 26.),
Reval (27.— 28.) und Kriſtiania (31.
bis 2. Aug.).
19. Schweizer. Abſtinententag zu Aarau.
19.—31. Dreihundertjahrfeier von Quebec
(Kanada).
20. Deutſchöſterr. Lehrertag zu Linz.
20.— 22. XVIII. Generalverſammlung des
Allgem. Cäcilien⸗Vereins zu Eich⸗
ſtätt.
22. Neubildung des türk. Kabinetts; Groß ⸗
weſir Kütſchük Said Paſcha.
Unterzeichnung der internationalen Ver⸗
einbarung wegen Verbots der Ein⸗
fuhr von Waffen und Munition nach
Weſtafrika zu Brüſſel.
Ausweiſung des niederländ. Geſandten
durch den Präſidenten Caſtro von
Venezuela.
23. Umbildung des dän. Kabinetts Chri-
ſtenſen.
24. Erneuerung der türk. Verfaſſung von
1876 durch den Sultan.
Waſſereinbruch im Cötſchbergtunnel
(Schweiz); 25 Tote.
414
24.—25. Brand ber ruff. Stadt Telſchi
(Gouvernement Rowno).
25.— 27. Internationales Turn- und Sport:
feſt katholiſcher Jugendvereine zu Ver⸗
viers.
26. (bis 1. Aug.).
Friedenskongreß zu London.
VIII. Chronik.
winner des deutſchen Kaiſerpreiſes
P. Satzger⸗Wien, des öſterr. A. Humpl
maher⸗München.
27. (bis 1. Aug). Internationale Blinden ⸗
konferenz zu Mancheſter.
XVII. Internationaler 27. (bis 6. Aug.). IX. Internationaler Geo-
graphenkongreß zu Genf.
27. Gründung eines Schiffahrtspools für 28. (bis 1. Aug.). Serb. Kirchenkongreß zu
Zwiſchendeckspreiſe der ſüdamerikan.
Dampferlinien zu Hamburg.
27.— 28. XXI. Hauptverſammlung des Deut-
ſchen Zentralverbands für Handel
Karlowitz; Wahl des Biſchofs von
Werſchetz, Gabriel Hmejanivic, zum
Patriarchen der ungarländiſchen ſerb.
Kirche (nicht beſtätigt).
und Gewerbe zu Bremen (zugleich 29. Hochwaſſerkataſtrophe in Tirol (Inntal).
VI. Hauptverſammlung der deutſchen 30. Streikunruhen zu Draveil und Bille:
Rabattſparvereine).
27.— 29. Gemeinſame Ubungsfahrt des öſterr.
neuve ⸗St⸗Georges bei Paris; 4 Tote,
über 200 Verwundete.
und deutſchen Freiwilligen Automobil- 31. (bis 1. Aug.). Dreihundertfünfzigjähriges
korps von Wien nach Berlin; Ge⸗
Jubiläum der Univerſität Jena.
Nuguſt.
1. Miniſterwechſel in Braunſchweig; den
Kultus übernimmt der Senatspräſi⸗
dent beim Herzoglichen Oberlandes⸗
gericht, Karl Wolff.
Eröffnung der Gartenbaukunſtausſtellung
zu Duisburg.
1.17. Große Waldbrände in Britiſch⸗
Columbia; 30 Tote, 40 Mill. Mark
Schaden.
1.— 20. XVI. Kongreß des Deutſchen Schach⸗
bundes zu Düſſeldorf; Sieger im
Meiſterturnier F. J. Marſhall.
2. Einführung des allgemeinen Schul⸗
zwangs in China.
Radrennen in Steglitz; Weltmeiſter im
100 km. Rennen der Deutſchſchweizer
Ryſer, im Fliegerfahren der Däne
Ellegaard.
3.—5. Beſuch des deutſchen Kaiſerpaares
in Stockholm.
I. Internationaler Kongreß chriſtlicher
Gewerkſchaftsführer zu Zürich.
XXXIX. Hauptverſammlung der Deut-
ſchen anthropologiſchen Geſellſchaft
zu Frankfurt a. M.
3.—12. Segelwoche in Comes und Ryde;
Gewinnerin des Königspokals die
Jacht „Brynhild“ des Sir James
Pender, des Deutſchen Kaiſerpokals
die Jacht „Germania“ des Herrn
Krupp v. Bohlen und Halbach.
4. Pius' X. Mahnung an den katholiſchen
Klerus (Haerent animo penitus).
Feierliche Profeß des Fürſten Löwen⸗
ſtein⸗Roſenberg⸗Wertheim im Domini:
kanerkloſter zu Venlo.
4.—6. XXX. Deutſcher Haus beſitzertag zu
Königsberg.
4.—7. I. Internationaler Freihandels⸗
kongreß zu London; Einſetzung eines
internationalen Freihandelskomitees.
5. Zerſtörung von Zeppelins Luftſchiff bei
Echterdingen (Württemberg).
Großfeuer in Donaueſchingen; 293 Ge⸗
bäude abgebrannt.
Goldene Hochzeit des Grafen Klemens
v. Droſte⸗Viſchering, Erbdroſten des
Fürſtentums Münſter, und ſeiner
Gattin Helene geb. Gräfin v. Galen
zu Münſter.
5.—7. Verſammlung der Ophthalmologi:
ſchen Geſellſchaft zu Heidelberg.
5.—8. LXXX. Verſammlung der Deut:
{chen geologischen Geſellſchaft zu Dres ⸗
den.
5.— 10. XXXI. Generalverſammlung der
Katholiſchen kaufmänniſchen Vereini⸗
gungen zu Trier.
Auguſt.
415
5. (bis 27. Sept.). Schweizer. nationale | 13. III. Deutſcher Winzergenoſſenſchaftstag
Kunſtausſtellung zu Baſel.
6. Neues türk. Kabinet unter Großweſir
Kiamil Paſcha.
6. ff. L. Panamerikan. Medizinerkongreß zu
Guatemala.
6.— 12. Internationaler Kongreß für hiſto⸗
riſche Wiſſenſchaft zu Berlin.
7.—8. Schiffahrtskonferenz der ſüdatlanti⸗
ſchen Dampferlinien zu Paris.
7.— 9. Bodenſeeregatta.
8. Einſturz eines Fabrikkamins zu Szegedin
(Ungarn); 6 Tote.
8.—12. LXXVI. Generalverſammlung des
Homsöopathiſchen Zentralvereins zu
Wiesbaden.
9. Eiſenbahnkataſtrophe bei Groß⸗Tarup
(Flensburg); 9 Tote.
10. Ernennung des Regierungspräſidenten
v. Valentini zum Leiter des Geheimen
Zivilkabinetts des Deutſchen Kaiſers.
Schlagwetterexploſion in der fiskaliſchen
Grube Dudweiler; 14 Tote.
Slawiſcher Lehrertag zu Prag.
10.—11. Großer Brand zu Usküp (Maze ⸗
donien).
XV. Jahres verſammlung des Sentral:
verbands von Ortskrankenkaſſen im
Deutſchen Reiche zu Braunſchweig.
10.— 13. II. Konferenz des Verbands der
katholiſchen Anſtalten Deutſchlands für
Geiſtesſchwache zu Waldbreitbach.
11. Zuſammenkunft des Deutſchen Kaiſers
und des Königs von England auf
Schloß Friedrichshof bei Kronberg.
IX. Internationaler Stenographenkon⸗
greß zu Darmſtadt; Gründung eines
Vereins deutſcherKammerſtenographen
zu Berlin.
11.—13. Biſchofskonferenz zu Fulda (Er⸗
gebenheitsſchreiben an den Heiligen
Vater, Hirtenbrief wider die Unſitt⸗
lichkeit).
12. Eröffnung der Nationalbraſil. Ausſtellung
zu Rio de Janeiro.
12.—13. Zuſammenkunft des Königs von
England mit dem Kaiſer von Oſter⸗
reich zu Iſchl.
12.— 23. I. Fachausſtellung der Schuh und
Lederinduſtrie zu Wien.
zu Mainz.
13.—20. XV. Internationaler Orientaliften-
kongreß zu Kopenhagen.
14. Eröffnung der Fern photographie (Syſtem
Korn) zwiſchen Berlin und Kopen ⸗
hagen.
VII. Deutſcher Taubſtummenkongreß zu
München.
14.—15. Proſperitätskongreß (zur Wieder⸗
belebung des Geſchäftsverkehrs) zu
Neuyork.
14.—16. Blutige Raſſenkämpfe zwiſchen
Negern und Weißen zu Springfield
(Illinois); 14 Tote, über 100 Schwer⸗
verwundete.
15. Ausreiſe der Zweiten franzöf. Südpol⸗
expedition unter J. Charcot von Le
Havre (Dampfer Pourquoi pas 7).
Begründung der Schweizer. Bereinigung
katholiſcher Publiziſten zu Luzern.
15.—16. XXV. Generalverſammlung der
Deutſchen Weinbauvereine zu Elt⸗
ville.
16. Ernennung von Sir William Goſhen
zum brit. Botſchafter in Berlin.
Begnadigung des „Hauptmanns von
Köpenick“.
Deutſcher Rudertag und Meiſterſchafts⸗
rennen zu Hamburg.
100 km. Rabrennen um den Großen
Preis von Berlin; Sieger Guignard⸗
Paris.
Deutſche Lawn Tennis ⸗Meiſterſchafts⸗
ſpiele zu Hamburg; Sieger in der
Herrenmeiſterſchaft J. M. Ritchie⸗
London.
II. Deutſcher Handelsgärtnertag zu
Frankfurt a. M.
16.— 20. LV. Generalverſammlung der
Katholiken Deutſchlands in Düſſel⸗
dorf.
17. Jahreskonferenz der ſchweizer. Biſchöfe
zu Luzern.
I. Internationaler Vegetarierkongreß zu
Dresden.
17.—23. IV. Internationaler Eſperanto⸗
kongreß zu Dresden.
17. (bis 5. Sept.). Internationaler Wirt
ſchaftskurſus der Internationalen
416
VIII. Chronik.
Geſellſchaft zur Förderung des kauf. 25. Konferenz ber nordatlantiſchen Dampfer⸗
männiſchen Unterrichtsweſens
Mannheim.
17. (bis 30. Sept.). Schachwettkampf Laster:
Tarraſch zu Düſſeldorf und München;
Sieger Lasker.
Miniſterwechſel in Oldenburg; Vor⸗
ſitzender der Finanzminiſter Ruh⸗
ſtrat I.
Exploſion in der Kohlengrube Maypole
bei Wigan (England); 73 Tote.
Neuordnung des höheren Mädchenſchul⸗
weſens in Preußen.
Entſcheidende Niederlage Abdu'l Aſis'
bei Kelaa (Marokko).
Endgültige Annahme der Kongovorlage
in der belg. Deputiertenkammer.
VII. Generalverſammlung des Gefamt-
verbands katholiſcher kaufmänniſcher
Gehilfinnen und Beamtinnen Deutſch⸗
lands zu Köln.
Wahl von Auguſto Leguia zum Präſi⸗
denten von Peru.
(bis 2. Nov.). Internationale kunſt⸗
gewerbliche Ausſtellung zu St Peters⸗
burg.
Proklamierung von Muley Hafid als
Sultan von Marokko zu Tanger.
Untergang des norw. Dampfers „Folge⸗
fonden“ bei Skaanevik; 30 Tote.
Rieſenbrand in Konſtantinopel (an
2500 Häufer).
Mitgliederverſammlung des Deutſchen
Schulſchiffvereins zu München.
24.— 25. Oſterr. Kaufmannstag zu Steyr.
24.— 26. IX. Handels und Gewerbekammer⸗
tag zu Breslau.
24.— 28. Internationaler Transportarbeiter⸗
kongreß zu Wien.
24.—29. XLIX. Allgemeiner deutſcher Ge⸗
noſſenſchaftstag zu Frankfurt a. M.
zu
18.
19.
20.
21.
21.
22.
23.
linien zu London.
Zukunftsrennen zu Baden⸗Baden; Sieger
der franz. Hengſt , Roquelaure’.
XXXVI. Wanderverſammlung des
Deutſchen Photographenverbands zu
Poſen (mit Ausſtellung).
26. Internationaler Kongreß für induſtriellen
Rechtsſchutz zu Stockholm.
27.— 29. Verbandstag deutſcher Gewerbe⸗
und Kaufmannsgerichte zu Jena.
28. Ernennung des Prinzen Ferdinand Lob⸗
kowitz zum Oberſtlaudmarſchall in
Böhmen.
28.—30. I. Präſideskonferenz für Maria⸗
niſche Kongregationen zu Innsbruck.
29. Großer Preis von Baden; Sieger
v. Weinbergs Fuchshengſt „Fauſt“.
29.—31. XXV. Verbandstag deutſcher Tou⸗
riſtenvereine zu Fulda.
29. (bis 1. Sept.). XXXVII. Abgeordneten;
(XVIII. Wander) Verſammlung des
Verbands deutſcher Architekten · und
Ingenieurvereine zu Danzig.
IV. Tſchechoſlaw. Katholikentag zu Prag.
29. (bis 3. Sept.). I. Kongreß der europäiſchen
Baptiſten zu Berlin.
29. (bis 4. Sept.). XVI. Internationaler
mediziniſcher Kongreß zu Budapeſt.
30. VIII. Europäiſche Meiſterſchaftsregatta
zu Luzern (zugleich Kongreß des
Europäiſchen Ruderverbands).
31. (bis 2. Sept.). XCI. Jahresverſammlung
der Schweizer. naturforſchenden Ge⸗
ſellſchaft zu Glarus.
31. (bis 4. Sept.). Tagung des Frauen⸗
weltbunds zu Genf.
31. (bis 5. Sept.). III. Internationaler Kon-
greß für Philoſophie zu Heidelberg.
31. (bis 12. Sept.). Informationskurs für
Jugendfürſorge zu Zürich.
September.
1. Inkrafttreten des neuen deutſchen Vogel⸗
ſchutzgeſetzes.
Eröffnung der Hedſchasbahn bis Medina.
Internationale Konferenz der Telephon⸗
und Telegraphentechniker zu Budapeſt.
1.—5. IV. Internationaler Kongreß für
mediziniſche Elektrologie und Radio⸗
logie zu Amſterdam.
2. Aufforderung der deutſchen Regierung
an die Signatarmächte von Algeciras,
den Sultan Muley Hafid von Marokko
anzuerkennen.
September. 417
2.—9. LXXVIII. Jahresverſammlung der
British Association zu Dublin.
3. Prieſterkongreß zu Mariazell.
Ungar. Biſchofskonferenz zu Budapeſt
(Ratholifenautonomie, Kongruafrage).
Zerſtörung der japan. Stadt Niigata
durch Feuer.
3.—6. Konferenz des Vereins deutſcher
Eiſenbahnverwaltungen zu Amſter⸗
dam.
II. Ital. Nationalkongreß des Verbands
katholiſcher Lehrer und Lehrerinnen zu
Venedig.
4.—8. Fünfhundertjähriges Jubiläum in
Mariazell. .
4.—9. Religionswiffen{dhaftlider Kurs für
katholiſche Lehrerinnen zu Boppard
a. Rh.
5.—6. Generalverſammlung des Bundes
ſchweizer. Frauenvereine zu Genf.
5.— 10. III. Internationaler Kongreß der
Handels und Gewerbekammern zu
Prag.
6. Zirkulardepeſche Muley Hafids über
Anerkennung der Algecirasakte.
Zuſammenſtöße zwiſchen Deutſchen und
Tſchechen anläßlich der Jahresver
ſammlung des Deutſchen Böhmerwald⸗
bundes zu Bergreichenſtein.
Beginn der Choleraepidemie in St
Petersburg (bis Mitte Okt. 3000 Tote).
Konferenz des Vereins deutſcher Arbeit:
geberverbände zu München (Aus⸗
dehnung der Arbeitsnachweiſe über
ganz Deutſchland).
IV. Allgemeine Verſammlung der Ver⸗
treter deutſcher Studenten ⸗ und Schüler
herbergen zu Hohenelbe.
6.—8. VII. Deutſchböhm. Katholikentag zu
Rumburg.
6.—13. III. Soziale Woche der holland.
Katholiken zu Rotterdam.
7. IV. Delegiertentag der nichtpolitiſchen
Zentralorganiſation öſterr. Katholiken
zu Mariazell.
7.—9. XXXVII. Hauptverſammlung des
Deutſchen Apothekervereins zu Darm⸗
ſtadt.
7.— 10. XV. Internationaler Straßen ⸗ und
Kleinbahnenkongreß zu München.
Jahrbuch der Zeit- und Kulturgeſchichte. IL
7.—11. Kongreß der Internationalen aboli-
tioniſtiſchen Föderation (zur Be⸗
kämpfung des Mädchenhandels) zu
Genf.
XLI. Kongreß der engl. Trade⸗Unions
zu Nottingham (Niederlage der So⸗
zialiſten).
7.—13. Soziale Woche der Katholiken
Italiens zu Breſcia.
8. Feierliche Krönung des Gnadenbildes
von Mariazell durch den Apoſtoliſchen
Nuntius Granito di Belmonte.
Weinbautag zu Korneuburg.
Gründung der Geſellſchaft „Luftſchiffbau⸗
Zeppelin“ in Friedrichshafen.
9. Achtzigſter Geburtstag des Grafen Leo
Tolſtoj (öffentliche Feier in Rußland
verboten).
9.— 12. XXIX. Deutſcher Juriſtentag zu
Karlsruhe (Baden).
9.—13. XIX. Internationaler euchariſti⸗
ſcher Kongreß zu London (päpſtlicher
Legat Kardinal Vinc. Vannutelli).
9.— 14. XVI. Internationaler Amerikaniſten⸗
kongreß zu Wien.
10.— 12. Diſtanzfahrt Berlin - München;
Sieger Legationsrat Felſing (49 Stun⸗
den 12 Minuten).
11.—12. Dreizehnſtündige Dauerfahrt des
Militärluftſchiffes (Major Groß); Ber⸗
lin Stendal Magdeburg Branden-
burg-Berlin.
XV. Deutſcher Sängertag zu Berlin.
12. Rücktritt des dan. Kabinetts Chri-
ſtenſen wegen der Veruntreuungen
des ehemaligen Juſtizminiſters Al⸗
berti.
Eröffnung des Sobieski⸗Nationalmu⸗
ſeums zu Lemberg.
Eröffnung der Kaiſerjubiläums⸗Möbel⸗
ausſtellung zu Wien.
XIII. Verbandstag der Feuerbeſtattungs⸗
vereine deutſcher Sprache zu Hagen
in Weſtf.
12.—23. Ausſtellung für Säuglings. und
Kinderpflege zu Solingen.
13.— 14. Verderblicher Orkan auf den Ba⸗
hamainſeln.
13.— 15. VIII. Ungar. Katholikentag zu
Budapeſt.
27
418
14. Franzöſ.⸗ſpan. Note über Anerkennung
Muley Haſids als Sultan von Ma⸗
rokko.
Ernennung des Miniſters a. D. Olivier
Marquis Bacquehem zum Präſidenten
des öſterr. Verwaltungsgerichtshofes.
XXXI. Hauptverſammlung des Vereins
zur Wahrung der Intereſſen für che-
miſche Induſtrie zu Freiburg i. Br.
Generalverſammlung des Vereins ſchwei⸗
zeriſcher Zeitungsverleger zu Bern.
14.—16. I. Internationale Wertreterfon-
ferenz des Seraphiſchen Liebeswerkes
zu Bregenz; Wahl von P. Cyprian
zum Generalpräſes.
X. Reichsverbandstag öſterr. Gaſtwirte
und Hoteliers zu Prag.
14.—17. XXV. Jahresverſammlung des
Deutſchen Vereins gegen den Miß⸗
brauch geiſtiger Getränke zu Kaſſel.
XII. Allgemeine evangeliſch⸗lutheriſche
Konferenz zu Hannover.
14.— 19. IX. Kongreß der Dante⸗Geſellſchaft
zu Aquila (Italien).
14.—20. I. Internationale Kautſchukaus⸗
ſtellung zu London.
15. Eröffnung der Landtage von Böhmen,
Mähren, Oſterr.⸗Schleſien, Galizien,
Steiermark, Kärnten, Salzburg und
Vorarlberg.
Einigung der deutſchen Parteien im böhm.
Landtag.
Zuſammentreffen des öſterr. und des ruſſ.
Miniſters des Auswärtigen zu Buchlau
(Mähren).
Dauerfahrt (11 ¼ Stunden) bes Parſe⸗
val⸗Luftſchiffes bei Berlin.
Ankunft des Forſchungsreiſenden Sven
v. Hedin in Simla (Britiſch⸗Indien).
Außerordentliche Generalverſammlung
des Mitteleuropäiſchen Wirtſchafts⸗
vereins in Deutſchland zu Mannheim
(Erweiterung des Arbeitsgebiets).
15.—17. XXII. Internationaler Aſtronomen⸗
kongreß zu Wien.
15.— 18. III. Internationaler Kongreß für
Religionsgeſchichte zu Oxford.
15.— 19. XXXIII. Kongreß des Deutſchen
Vereins für öffentliche Geſundheits⸗
pflege zu Wiesbaden.
VIII. Chronik.
16. Abſturz des Parſeval⸗Ballons bei Halen-
ſee im Grunewald.
17. Abſturz des Luftſchiffers Orville Wright
bei Fort Myer (Virginia).
17.—18. XXVIII. Jahresverſammlung des
Deutſchen Vereins für Armenpflege
und Wohltätigkeit zu Hannover.
Wanderverſammlung des Zentralvereins
für deutſche Binnenſchiffahrt zu
Worms.
17.—19. XV. Konferenz der Interparlamen⸗
tariſchen Union für das internationale
Schiedsgericht zu Berlin.
Kongreß der ital. katholiſchen Jugend-
vereinigungen zu Rom.
18. Tag des goldenen Prieſterjubiläums
Pius' X. (Feier auf den 16. Nov.
verlegt).
19. Wiederherſtellung der diplomatiſchen Ve:
ziehungen zwiſchen Griechenland und
Rumänien.
Wahl des Abts von Seckau, Ildefons
Schober, zum Erzabt der Beuroner
Kongregation.
19.— 20. Sloweniſche Ausſchreitungen gegen
die Deutſchen in Laibach; zwei Tote
(Slowenen).
Fünfhundertjähriges Jubiläum
Czernowitz (Bukowina).
I. Deutſcher Blindenkongreß zu Han ;
nover.
V. Delegiertenverſammlung des Zentral ⸗
verbands deutſcher Tonkünſtler zu
Köln.
19.—22. Konferenz deutſcher Städteſtatiſtiker
zu Aachen.
20. Wahl des Biſchofs von New Weſt⸗
minſter, Auguſtin Dontenwill aus
Biſchweiler, zum Generalobern der
Oblaten von der Unbefleckten Yung:
frau Maria.
Eröffnung der Landtage von Oberöſter⸗
reich, Tirol, Görz und Gradiska.
Rücktritt Schönerers aus dem öffent⸗
lichen Leben.
Beſetzung der bulgar. Orientbahnſtrecke
durch bulgar. Truppen.
Brand der Telephonzentrale zu Paris.
Zerſtörung der Städte Gagen und Wood:
boro (Wisconſin) durch Waldbrand.
von
September.
419
20. LX. Jahresverſammlung des Bayr. 22. Exploſion in einem Geſchützturm des
patriotiſchen Bauernvereins zu Tun:
tenhauſen.
IX. Internationales Bergrennen (für
Automobile) auf dem Semmering;
Sieger nur deutſche Wagen (im Haupt ·
rennen Salzer auf Mercedes).
Internationales Radrennen auf der
Pariſer Prinzenparkbahn; Gewinner
des Großen Preiſes der Republik der
Franzoſe Friol.
20.—21. V. Generalverſammlung der Deut⸗
ſchen Mittelſtandsvereinigung zu
Düſſeldorf.
VIII. Deutſcher Archivtag zu Lübeck.
I. Deutſchöſterr. Reichshandwerkertag
(mit Jubiläumsausſtellung) zu Graz.
20.— 24. Internationaler Kongreß für Bau ⸗
weſen zu Paris.
20.—30. Kochkunſt⸗ und gaſtwirtsgewerbliche
Ausſtellung zu Nürnberg.
21.—22. Jahresverſammlung des Geſamt⸗
vereins der deutſchen Geſchichts⸗ und
Altertums vereine zu Lübeck.
XVII. Hauptverſammlung des Verbandes
deutſcher Gewerbevereine zu Darm⸗
ſtadt.
21.—23. LX. Tagung des Guſtav⸗ Adolf.
Vereins zu Straßburg i. E.
II. Allgemeine Verbandskonferenz der
öſterr. Arbeitsvermittlungsanſtalten zu
Prag.
21.— 25. XII. Internationaler Preſſekongreß
zu Berlin.
II. Internationaler Kongreß für Chirur-
gie zu Brüſſel (mit Ausſtellung für
Krebsforſchung).
21.—26. LXXX. Verſammlung deutſcher
Naturforſcher und Arzte zu Köln.
21. (bis 3. Okt.). VII. Internationaler Tuber:
kuloſekongreß zu Waſhington.
21. (bis 7. Nov.). Betriebseinſtellung in der
Baumwollinduſtrie von Lancaſter
(140 000 Arbeiter, 54 Mill. Spindeln).
22. Deutſche Antwortnote wegen Anerkennung
Muley Hafids.
Dritte Patriarchenwahl in Karlowitz;
Wahl des Regierungskandidaten L.
Bogdanovic, Biſchofs von Ofen (am
8. Okt. inſtalliert).
franzöſ. Panzerſchiſſs „Latouche Tre-
ville“ zu Toulon; 15 Tote.
22.—23. V. Jahresverſammlung des Bundes
für Heimatſchutz zu Lübeck.
22.—25. XXV. Internationaler Rechts
kongreß zu Budapeſt.
IV. Internationaler Fiſchereikongreß zu
Waſhington.
23. Aufhebung der Unterſuchungshaft des
Fürſten Eulenburg (gegen 100000
Mark Kaution auf nachträgliches Ver⸗
langen des Kammergerichts).
23.— 24. II. Kongreß des Internationalen
Bundes landwirtſchaftlicher Genoffen-
ſchaften zu Piacenza.
XII. Jahresverſammlung des katholiſchen
Mädchenſchutzvereins der Schweiz zu
Lauſanne.
23.— 26. Internationales Schau ⸗ und Wett
turnen der katholiſchen Sportvereine
im Vatikan.
24.— 25. Stürmiſche Obſtruktion der Dent:
ſchen im böhm. Landtag. .
Zuſammentreffen des deutſchen und des
öſterr. Miniſters des Auswärtigen
zu Berchtesgaden.
IX. Tag für Denkmalspflege zu Lübeck.
24.— 26. 1. Internationaler Kongreß der
ſozialen Käuferligen zu Genf.
24.—27. Konferenz der Rektoren in der
deutſchen Seelſorge Italiens zu Rom.
25. Franzöſ.⸗deutſcher Zwiſchenfall (Angriff
auf deutſche Konſulatsperſonen) in
Caſablanca.
Untergang des Dampfers „Star of
Bengal“ an der Küſte von Alaska;
110 Tote (20 Weiße).
25.— 27. Schweizer. Städtetag zu Sitten.
25.—29. I. Internationaler Kongreß für
Moralpädagogik zu London.
25. (bis 11. Okt.). II. Gaſtwirts⸗ und Rod:
kunſtausſtellung zu Wien.
26. Zugzuſammenſtoß auf der Berliner Hoch⸗
bahn; 18 Tote.
26.—27. III. Hauptverſammlung des Ver⸗
eins deutſcher Arzte in Oſterreich zu
Graz.
26.— 30. Internationaler Marianiſcher Kon-
greß zu Saragoſſa.
27 *
420
26. (bis 5. Okt.). Internationale Ausſtellung
für Kochkunſt und Verpflegung zu
Kopenhagen.
27. Rieſendemonſtration (500 000 Perſonen)
gegen die engl. Schankvorlage zu
London.
100 km- Radrennen im Sportpark Steg;
litz; Gewinner des Großen Preiſes
von Europa Salzmann.
I. Hauptverſammlung der Internationa⸗
len Vereinigung zur Förderung der
Schiffbarmachung des Rheins bis zum
Bodenſee zu Konſtanz.
Jahresverſammlung der ſchweizer. Lan-
desgruppe der Internationalen krimi⸗
naliſtiſchen Vereinigung zu Zürich.
27.—28. IV. Niederöſterr. Katholikentag zu
St Pölten.
27.— 29. II. Deutſcher Hochſchullehrertag zu
Jena.
27.—30. XI. Allgemeine Verſammlung der
Deutſchen meteorologiſchen Geſell⸗
ſchaft zu Hamburg.
Schweizer. Juriſtentag zu Zürich.
27. (bis 4. Okt.). Soziale Woche des Katho⸗
liſchen Volksvereins zu Palermo.
Amtsantritt des neuernannten Apoſtol.
Vikars Kaſimir Michalkiewicz als
Diözeſanchef in Wilna (Rußland).
Rücktritt des engl. Marineminiſters Lord
Tweedmouth.
Ernennung des Grafen Levin Schaff⸗
gotſch zum Landespräſidenten in
Salzburg.
Ankunft des Dalai Lama in Peking.
Verderbliche Uberſchwemmungen im De:
kan (Haidarabad); weit über 1000 Tote.
Deutſcher Gewerbebundes⸗ und Bauern⸗
tag zu Budweis.
28.
VIII. Chronik.
28. Eröffnung des Segantini⸗Muſeums zu
St Moritz (Engadin).
28.—29. Zuſammentreffen des ital. und des
ruff. Miniſters des Auswärtigen zu
Deſio.
28.— 30. V. Generalverſammlung der Suter:
nationalen Vereinigung für geſetzlichen
Arbeiterſchutz zu Luzern.
IV. Internationaler Kongreß für Tha:
laſſotherapie zu Abbazia.
Kongreß der Association Littéraire et
Artistique Internationale zu Mainz.
28. (bis 1. Okt.). XVII. Jahresverſammlung
des Allgemeinen deutſchen Bäder ⸗
verbandes zu Oeynhauſen.
28. (bis 3. Okt.). Kongreß des Inſtituts für
internationales Recht zu Florenz.
29. XIII. Kongreß der öſterr. Arztekammern
zu Prag.
II. Schweizer. Juriſtentag zu Zürich.
Päpſtliche Konſtitution über Gründung
eines vatikaniſchen Amtsblattes (Nr 1
am 11. Jan. 1909).
29.— 30. III. Deutſcher Medizinalbeamten-
tag zu Berlin.
29. (bis 1. Okt.). I. Internationaler Kongreß
für hauswirtſchaftlichen Unterricht zu
Freiburg (Schweiz); Errichtung eines
ſtändigen internationalen Bureaus
für Hauswirtſchaft.
Schiffszuſammenſtoß im Hafen von
Smyrna; 90 Tote.
30. (bis 1. Okt.). Jahresverſammlung des
Deutſchen Muſeums zu München.
30. (bis 3. Okt.). I. Kongreß der Internatio⸗
nalen Geſellſchaft für Urologie zu Paris.
30. (bis 4. Okt.). VI. Kongreß des Deutſchen
Verbands für das kaufmänniſche
Unterrichtsweſen zu Danzig.
— 32 — —E—ͤ— —
30.
Oktober.
. Ungar. Biſchofskonferenz zu Budapeſt.
Amtsantritt des neuen Landesdirektors
von Waldeck und Pyrmont, des ehe⸗
maligen Rixdorfer Polizeipräſidenten
v. Glaſenapp.
Einführung des Pennyportos zwiſchen
England und den Vereinigten Staaten
von Amerika.
1. Eröffnung der erſten elektriſchen Fern⸗
bahn in Europa (Rotterdam-Haag).
Gründung eines Deutſchen Vereins zur
Förderung der Heimatkunſt zu Arnis
a. d. Schlei.
1.—5. VI. Deutſcher Abſtinententag (mit
Wander⸗Ausſtellung) zu Frankfurt
a. M.
Oktober.
1.— 10. Inſtruktions kurs der Leo⸗Geſellſchaft
zu Wien für kirchliche Kunſt.
2.—4. II. Internationaler Volksſchulkongreß
zu Paris.
II. Tagung des Verbands volkskund⸗
licher Vereine zu Berlin.
IX. Verbandstag deutſcher Mietervereine
zu Stuttgart.
3. Außerordentliche Generalverſammlung des
Verbands deutſcher Bühnenſchriftſteller
zu Berlin (Errichtung einer eigenen
Bühnenvertriebsſtelle).
3.—4. II. Jahresverſammlung der Geſell⸗
ſchaft dentſcher Nervenärzte zu Heidel ⸗
berg.
3.—5. XXXVIII. Hauptverſammlung der
Geſellſchaft für Verbreitung von
Volksbildung zu Darmſtadt.
IV. Deutſches Bach⸗Feſt zu Chemnitz.
3.— 12. I. Deutſche volkstümliche Kolonial ⸗
ausſtellung zu Lippſtadt.
4. Biſchofskonſekration in Chur.
Verbot des Duells im ital. Heere durch
den König.
IV. Kongreß des Reichsverbands der
deutſchen Gewerbevereine Oſterreichs
zu Wien.
421
5. Zurückziehung der europäiſchen Reform-
offiziere aus Mazedonien.
Einführung ber Silberwährung in China.
XXI. Chirurgenkongreß zu Paris.
6. Tagung des Franzöſ.⸗belg.⸗deutſch⸗ ruſſ.
Eiſenbahnverbands zu Paris.
XI. Generalverſammlung der Tierſchutz ⸗
vereine Deutſchlands zu Düſſeldorf.
Oſterr. Irrenärztetag zu Wien.
W. Wrights Stundenflug mit einem
Paſſagier; Erringung des 500 000 Fr.
Preiſes.
6.—9. VIII. Generalverſammlung des Bun⸗
des deutſcher Frauenvereine zu Breslau.
7. Proklamation der Vereinigung Kretas mit
Griechenland.
7.—10. III. Internationaler Kongreß für
Irrenpflege zu Wien.
8. Eröffnung der öſterr. und ungar. Dele:
gationen zu Budapeſt.
8.—9. VI. Deutſche Nationalkonferenz zur
internationalen Bekämpfung des Mäd⸗
chenhandels zu Breslau.
8.—10. J. Internationaler Kongreß für
Kälteinduſtrie zu Paris.
8. (bis 26. Febr. 1909). Türk. Boykott gegen
Oſterreich⸗Ungarn.
Wettrennen in München (Sieger im 9. Zuſammenſtoß des Hamburger Poft-
Bayernpreis der Graditzer Hengſt
„Kakadu I“) und Budapeſt (Sieger im
St-Leger J. v. Jankovichs „Maxim “).
4.—5. Schweizer. Mittelſchullehrertag zu
| Baden.
4.— 7. XXI. General dvderſammlung des Evan⸗
geliſchen Bunds zu Braunſchweig.
II. Internationaler Mittelſtands⸗
kongreß zu Wien.
Praktiſch⸗ſozialer Kurſus des Verbands
der katholiſchen Geſellenvereine der
Schweiz zu Luzern mit Jahreskonferenz
der Präſides (am 8.).
4.— 10. Feier der 225. Wiederkehr der Grün⸗
dung Philadelphias (Errichtung eines
Paſtorius⸗Denkmals zu Germantown).
5. Handſchreiben des Kaiſers von Oſterreich
über formelle Eingliederung Bosniens
und der Hercegovina in die Monarchie
(am 7. veröffentlicht).
4.98,
dampfers „Pretoria“ mit dem Stettiner
Dampfer „Nipponia“ an der holländ.
Küſte (Texel); 13 Tote.
Ende des Agramer Studentenſtreiks.
Hauspflegekonferenz zu Frankfurt a. M.;
Gründung eines Verbands.
10.— 11. X. Deutſcher Fortbildungsſchultag
zu Braunſchweig.
Hauptverſammlung des
Schillerbunds zu Weimar.
Schweizer. Lehrertag in Langental
(Kant. Bern).
10.— 12. Internationale Ballonwettfahrten
zu Schmargendorf bei Berlin; Sieger
bei der Zielfahrt P. Meckel mit Ballon
„Elberfeld“ (302 m vom Ziel), der
Weitfahrt (des Gorbon-Bennett-Ren-
nens) der ſchweiz. Ballon „Helvetia“
unter Oberſt Schäck, der Dauerfahrt
in allen vier Klaſſen deutſche Ballons.
Deutſchen
Erklärung Bulgariens zum unabhängigen 10.— 18. Internationale Gerften- und Hopfen⸗
Königreich (Bartum).
ausſtellung zu Berlin.
422
10.—19. Allgemeine Kochkunſtausſtellung zu
Wiesbaden.
11. Neubildung des ban. Kabinetts; Minifter-
präfibent Neergaard.
Ernennung des Erzherzogs Eugen zum
Generaltruppeninſpektor und Landes ⸗
verteidigungs⸗Oberkommandanten in
Tirol.
U. Generalverſammlung des Deutſchen
Klaſſenlehrervereins zu Eſſen.
Jahreskonferenz der Landesverbände für
Fremdenverkehr in Oſterreich zu Prag.
11.—18. I. Internationaler Straßenbau ⸗
kongreß (mit Ausſtellung) zu Paris.
12. Arbeitsloſenkundgebungen zu London.
III. Generalverſammlung der Katholi⸗
ſchen Mädchenſchutzvereine Deutſch⸗
lands zu Ravensburg (Wahl von Frant-
furt a. M. als Sitz der Zentrale).
XIX. Konferenz des Deutſchen Sittlich⸗
keitsvereins zu Frankfurt a. M.
Weltmeiſterſchaftsrudermatch auf der
Themſe; Sieger der Engländer E.
Barry.
12. ff. IV. Internationale Konferenz zur Felt:
ſetzung elektriſcher Einheiten und Maße
zu London.
12.— 14. XXVII. General verſammlung der
Görres⸗Geſellſchaft zu Limburg a. L.
XIII. Charitastag zu Ravensburg.
XI. Oſterr. Advokaten⸗ und I. Oſterr.
Alkoholgegnertag zu Wien.
12.—16. VIII. Internationaler Arbeiter ⸗
verſicherungskongreß zu Rom.
II. Theologiſcher Hochſchulkurſus zu
Freiburg i. Br.
13. Landtagswahlen in Oldenburg; un⸗
weſentlicher Erfolg der Agrarier.
14. Abgeordnetenwahlen in Anhalt; geringe
Stärkung der bürgerlichen Parteien.
Wiederwahl des P. Pius Mayer zum
Generalprior der Beſchuhten Karme⸗
liten.
14.—17. IV. Internationaler Muſikerkongreß
zu Berlin.
14 (bis 14. Nov.). II. Internationale Kon⸗
ferenz zur Reviſion der Berner Ur⸗
heberrechtskonvention zu Berlin.
15. Wahl des Senators Dr Eſchenburg zum
Regierenden Bürgermeiſter von Lübeck.
VIII. Chronik.
15. Vertagung des böhm. Landtags nach
ſtürmiſchen Raufſzenen; Rücktritt der
tſchech. Miniſter.
15.—16. Zweihundertjahrfeier (mit Denkmal ·
enthüllung) für Albrecht v. Haller zu
Bern.
16. Regentſchaftswechſel in Reuß ä. L.; neuer
Regent Erbprinz Heinrich XXVII. j. L.
Brand eines Hilfszuges im Waldbrand⸗
gebiet von Michigan; 16 Tote.
Sperrung des Caprivi⸗Zipfels (Deutſch
Gilbweftafrifa).
16.—17. Konferenz von Vertretern deutſcher
Hochſchulſtaaten zu Wismar.
17. Taifun in Südchina; in Tſchangtſchou
mehrere Hundert Tote.
18. Feierliche Enthüllung der Bismarckbüſte
in der Walhalla; Unfall des jungen
Fürſten Otto v. Bismarck.
Zuſammenſtöße zwiſchen Deutſchen und
Tſchechen zu Prag, Budweis, Teplitz
und Auſſig.
Pferderennen zu Berlin ⸗Karlshorſt;
Sieger im Großen Preis (für Herren-
reiter) K. v. Tepper⸗Laskis „Hans“
unter Leutnant Braun aus Saarburg.
Radrennen um den Großen Herbſtpreis
zu Steglitz; Sieger Stellbrink.
19. Übergabe der frangdf.-fpan. Note über
Anerkennung Muley Hafids an die
Algeciras mächte.
Rücktritt des franzöſ. Marineminiſters
Thomſon; Nachfolger Alfred Picard.
Generalverſammlung der Deutſchen Gar⸗
tenſtadt⸗Geſellſchaft zu Berlin.
19.—21. Kurſus zum Studium des Alko⸗
holismus in Köln.
19. ff. Kongreß der Bonne Presse zu Paris.
20. Eröffnung des preuß. Landtags durch
den König.
Veröffentlichung des Geſetzes über An⸗
gliederung des Kongoſtaats an Belgien.
Feierliche Eröffnung des Hamburger
Kolonialinſtituts.
Verabſchiedung des reichsländiſchen
Staatsſekretärs v. Köller; Nachfolger
der Unterſtaatsſekretär Zorn v. Bu⸗
lach.
21.—23. II. Generalverſammlung der Ver⸗
einigung der Hoteliers und Reſtaura⸗
21.
Oktober — November.
teure beutſcher Bade⸗ und Kurorte zu
Eiſenach.
21.—24. Erdbeben im Vogtland.
21. ff. Konferenz der brit.⸗ſüdafrikan. Kolonien
wegen Bildung eines Staatenbunds
zu Durban (vom 11. Nov. ab in
Kapſtadt).
22. Vermählung des Prinzen Auguſt Wil ⸗
helm von Preußen mit der Prinzeſſin
Alexandra Viktoria zu Schleswig ⸗
Holſtein⸗Sonderburg⸗ Glücksburg in
Berlin.
Feierliche Einkleidung der Prinzeſſin
Adelheid von Parma in der Bene⸗
diktinerinnenabtei St Cecilia bei Co-
wes (Wight).
Berliner Konferenz von Vertretern der
Krankenkaſſen über Abänderung der
Krankenverſicherung.
Schluß der Zeppelinſammlung (6 096 555
Marf).
Gründung einer Geſellſchaft fir Aus⸗
breitung deutſcher Kultur zu Rio de
Janeiro.
(bis 3. Nov.). II. Allgemeine Bureau⸗
ausſtellung zu Berlin.
Nationalratswahlen (49 Wahlkreiſe) in
der Schweiz; keine weſentliche Ver⸗
ſchiebung.
Erneuerte Straßenkrawalle des tſchech.
Pöbels gegen deutſche Studenten zu
Prag.
Pferderennen um den Auſtriapreis
(100 000 Kronen) zu Wien; Sieger
der v. Weinbergſche Hengſt „Fauſt“.
25.— 28. III. Generalverſammlung des Ra:
tholiſchen Frauenbundes zu Münſter
i. W.
23.
24.
24.
25.
423
26. Landtagswahlen in Wien; glänzender
Sieg der Chriſtlichſozialen (52 von
58 Mandaten).
Parlamentswahlen in Kanada; Sieg
der liberalen Regierung Sir Wilfried
Lauriers.
26.— 27. Internationaler Vogelzüchterkon⸗
greß (mit Ausſtellung) zu Montpellier.
27. Deutid-engl. Abkommen über gemein ⸗
ſame Bekämpfung der Schlafkrankheit
in Oſtafrika.
Gründung einer Oſterr. Geſellſchaft für
chriſtliche Kunft zu Wien.
28. Veröffentlichung von Äußerungen des
Deutſchen Kaiſers über ſein Verhältnis
zu England während des Burenkrieges
im „Daily Telegraph“; Kanzlerkriſe.
Räumung des Sandſchaks Novipaſar
durch die Oſterreicher.
Landtagswahlen (Urwahlen) in Heſſen;
Verluſt von 2 Sitzen bei den Sozial⸗
demokraten.
29.—31. Kongreß katholiſcher Rechtsgelehrter
zu Reims.
30. Ergänzung des belg. Kabinetts durch
Ernennung des Juſtizminiſters Jules
Renkin zum Kolonialminiſter und des
Deputierten Leon de Lantsheere zum
Juſtizminiſter.
Akroplanflug Farmans von Mourmelon
nach Reims (27 km in 20 Minuten).
30.—31. Konferenz der Mitteleuropaiſchen
Wirtſchaftsvereine von Deutſchland,
Oſterreich und Ungarn zu Nürnberg
(Vereinfachung der Zollabfertigung
und Reform des Retourwarenverkehrs).
31. Schließung der öſterr. und ungar. Dele⸗
gationen.
November.
2. Bedingungsweiſe Annahme einer Balkan;
konferenz durch die Pforte.
3. ff. Wiederholte ſtarke Erdbeben im Vogt:
land und in Nordweſtböhmen.
Botſchaft des Königs von England an 3.— 7. XIX. Allgemeine Koch und Nah⸗
das ind. Volk über Erweiterung der
Verfaſſungsrechte und Amneſtie.
3. Wahlmännerwahl für die amerikan.
Präſidentſchaft; Sieg Tafts (7 637 676
von insgeſamt 14 852 841 Stim⸗
men).
rungsmittelausſtellung zu London.
4. Wiederaufnahme der Sitzungen des
deutſchen Reichstags.
Fünfundzwanzigjähriges Biſchofsjubi⸗
läum des Biſchofs Joh. Joſ. Koppes
von Luxemburg.
424
VII. Chronik.
4. Jahresverſammlung des Schweizer. 10. Ernennung des Grafen Beruſtorff zum
Alpenklubs zu Olten.
4.—6. Beſuch des Deutſchen Kaiſers beim
öſterr. Thronfolger (in Eckartsau) und
beim Kaiſer (in Wien).
5. Niederöſterr. Landtagswahl in den Land-
ſtädten und gemeinden; Sieg der
Chriſtlichſozialen, die 41 von 46 Sitzen
und mit den übrigen Wahlergebniſſen
eine Dreiviertelmehrheit gewinnen.
. Stöckers Mandatsniederlegung (Aus
ſcheiden aus dem politiſchen Leben).
Begründung einer Vereinigung „Kolo⸗
nialakademie“
Halle a. S.
deutſchen Botſchafter in Waſhington,
des Grafen Tattenbach zum Bot ;
ſchafter in Madrid.
Zeppelins Aufſtieg in Gegenwart des
Deutſchen Kaiſers; Abnahme des Luft:
ſchiffs (Zeppelin I) durch das Reich;
Verleihung des Schwarzen Adler ⸗
ordens an Zeppelin.
Stapellauf des Lloyddampfers „George
Waſhington“, des größten Schiffs der
deutſchen Handelsmarine, auf der
Stettiner Vulkanwerft.
an der Univerſität 10.— 11. Interpellation über das Kaiſer⸗
interview im deutſchen Reichstag.
Eröffnung des Kertſch⸗Jenikale⸗Kanals 10.— 15. Kirchenmuſikal. Kongreß zuSevilla.
zwiſchen Schwarzem und Aſowſchem 11. Einbringung der Wahlreformvorlage im
Meer.
Delegiertenverſammlung des Zentral ⸗
verbands deutſcher Induſtrieller zu
Berlin (Reichs finanzreform).
Mißglückter Anſchlag auf den Gouver⸗
neur von Bengalen.
7.— 9. Internationaler Lebensmittelkongreß
7.— 12. XXXVII. Generalverſammlung des
10.
zu Gent.
Internationalen Hotelbeſitzervereins
zu Rom.
zum Regierenden Bürgermeiſter von
Lübeck.
I. Hauptverſammlung des Deutſch⸗franzöſ.
Wirtſchaftsvereins zu Frankfurt a. M.
Generalverſammlung der Deutſchen Anti ⸗
duellliga zu Leipzig.
. Einfegung des Prinzen Tſchun zum
Regenten von China.
Neukonſtituierung der Schweizer. konſer⸗
vativen (kathol iſchen) Volkspartei zu
Luzern.
ungar. Reichstag.
Demiſſion des öſterr. Kabinetts Beck. 12. Kohlenſtaubexploſion auf Sede, Radbod
bei Hamm; 341 Tote, 27 Verletzte
(8 geſtorben).
Fünfzigjähriges Regierungs jubiläum
des Fürſten Johann II. von und zu
Liechtenſtein.
Zuſammentreten des Bundesratsaus⸗
ſchuſſes für auswärtige Angelegen⸗
heiten zu Berlin.
Kabinettswechſel in Agypten; neuer
Premier Butros Paſcha.
Wahl des Landgerichtsrats Dr Lienau 12.— 13. V. Kongreß des Verbands deut.
ſcher Arbeitsnachweiſe zu Leipzig.
13. Ernennung der Großherzogin Maria
Anna zur Regentin von Luxemburg
(Eidesleiſtung am 19.).
Empfang der Sondergeſandtſchaften von
Deutſchland, Oſterreich, Spanien und
Portugal durch den Papſt.
14. Wahl des Generals Joſe Miguel Gomez
zum Präſidenten von Kuba.
Einbringung der Reichs finanzreform im
deutſchen Reichstag.
Verleihung des Staats. (an E. Hardt 15. Bildung eines öſterr. Beamtenkabinetts
und K. Schönherr) und Volks ⸗Schiller⸗
Preiſes (an E. Hardt).
Deutſch⸗franzöſ. Übereinkommen (am 24.
unterzeichnet) wegen der Caſablanca⸗
Affäre; Anrufung des Schiedsgerichts.
Demiſſion des auſtral. Bundesminiſte⸗
riums unter Deakin; Nachfolger der
Arbeiterführer Fiſher.
mit drei Landsmannminiſtern unter
Baron Bienerth.
Amtliche Übernahme des Kongoſtaats
durch Belgien.
Jahresverſammlung des Bundes öſterr.
Induſtrieller zu Wien.
15.—18. I. Amerikan. katholiſcher Miffions-
kongreß zu Chicago.
November.
16. Jubelmeſſe des Papſtes; Ende des gol-
denen Prieſter⸗, Beginn des filbernen
Biſchofsjubiläums.
Gründung einer Schweizer. Vereinigung
für Kinder⸗ und Arbeiterinnenſchutz
zu Olten.
17. Ausſprache Kaiſer Wilhelms mit dem
Reichskanzler zu Potsdam (Billigung
d. Erklärungen v. Bülows im Reichstag).
Regierungsantritt des dreijährigen Kai-
ſers Pudſchi (Regierungsname Hſuan⸗
tung) in China.
18. Adreſſe des öſterr. Epiſkopats an den Papſt.
Ernennung des Generalleutnants Frhrn
v. Lyncker zum Chef des Militar:
kabinetts in Berlin.
18.— 19. VI. Oſterr. Städtetag zu Wien.
19. Proklamation des Schahs von Perſien
über Zurückziehung der Verfaſſung
(auf Drängen Englands und Ruß ⸗
lands zurückgezogen).
19.—20. X. Hauptverſammlung der Schiff
bautechniſchen Geſellſchaft zu Char⸗
lottenburg.
20. Unterzeichnung des deutſch - portug.
Handelsvertrags.
Unterzeichnung des Übereinkommens
über Bildung eines Deutſchen Staats:
21.
ordnung in Gegenwart des Deutſchen
Kaiſers im Berliner Rathaus
. LI. Generalverſammlung des Deutſchen
Vereins vom Heiligen Land zu Pader⸗
born.
Gründung einer Schweizer. Liga für
Luftſchiffahrt zu Olten.
Blutige Kämpfe zwiſchen deutſchen und
ital. Studenten in der Wiener Uni-
verfität.
Unnahme ber Refolution von Lord
Roberts über Schaffung eines Heimat:
heeres von 1 Mill. Mann im engl.
Oberhaus.
Franzöſ. Gelbbuch über Marokko.
Delegiertenverſammlung der deutſchen
Rennvereine zu Berlin.
23.— 24. XIII. Jahresverſammlung des
Bundes der Induſtriellen zu Berlin.
bahnwagenverbands zu Frankfurt
a. M.
Hundertjahrfeier der preuß. Städte⸗
|
425
24.—27. Ofterr. Biſchofskonferenzen zu Wien
(u. a. Adreſſe an den Kaiſer).
25. Biſchofskonferenz zu Paris; Errichtung
einer philoſophiſchen Fakultät am
Katholiſchen Inſtitut.
Brand des ital. Dampfers „Sardinia“
(mit maroffan. Pilgern) vor Malta;
über 120 Tote.
25. (bis 5. Dez.). III. Interuationale Aus⸗
ſtellung für Kochkunſt zu Wien.
26. Wahl von Profeſſor Dr Auguſt Bludau
(Münſter) zum Biſchof von Ermland.
Wiedereröffnung des öſterr. Reichsrats
(Programmreden Bienerths).
Internationales Automobilrennen zu
Savannah um den amerikan. Grand
Prix; Sieger Wagner auf Fiat⸗Wagen
(faft gleichzeitig ein deutſcher Benz ⸗
Wagen).
26.—27. Oſterr. Apothekertag zu Wien.
27. Exploſion in dem Kohlenbergwerk „Mari⸗
anna“ bei Pittsburg (Pennſylvanien);
275 Tote.
28. Kundgebung des Großherzogs von
Mecklenburg Schwerin zur Ber:
faſſungsfrage.
Unterzeichnung des japan.⸗amerikan. Wb:
kommens über die Politik im Stillen
Ozean und die Integrität Chinas.
28. (bis 13. Dez.). XI. Internationale Auto:
mobilausſtellung zu Paris.
29. Bildung einer Beratenden Verſammlung
durch den Schah von Perſien.
Teilweiſer Miniſterwechſel in der Türkei
(im jungtürk. Sinn).
III. Deutſcher Bibliophilentag zu Leipzig.
Schwere Niederlage der perſ. Regierungs⸗
truppen vor Täbris.
30. VII. Hauptverſammlung des Deutſchen
volkswirtſchaftl. Verbands zu Berlin.
Internationale Verſammlung der Rad⸗
fahrerklubs zu Paris.
CCXLV. Jahresſitzung der Royal Society
zu London (Preisverteilung).
30. (bis 1. Dez.). XVI. Generalverſammlung
der Leo⸗Geſellſchaft zu Wien.
30. (bis 2. Dez.). II. Internationale Kon ⸗
ferenz des Ständigen Ausſtellungs⸗
komitees zu Brüſſel; Errichtung eines
Bureaus daſelbſt.
426
VIII. Chronik.
Dezember.
1.—4. Debatte über die Dreibundpolitik in 7.—9. Internationale Zuckerkonferenz zu
der ital. Kammer; Sieg Tittonis.
2. Feier des ſechzigjährigen Regierungs
jubiläums des Kaiſers von Oſterreich.
Krönung des neuen Kaiſers von China.
Wahl von W. H. Taft zum Präſidenten
der Vereinigten Staaten von Amerika
(321 von 483 Stimmen).
Flucht des Präſidenten Alexis Nord von
Haiti; Nachfolger General Simon.
2.—3. Deutſche Reichstagsdebatte über die
Miniſterverantwortlichkeitsanträge.
2.—15. Standrecht in Prag und Um:
gebung.
2.— 22. Niederländ. Flottendemonſtration
vor der Küſte von Venezuela.
3. Verbilligung des Weltbriefportos im
direkten Verkehr zwiſchen Deutſchland
und den Vereinigten Staaten um die
Hälfte (vom 1. Jan. 1909 ab).
Bergrutſch bei Pra (Provinz Belluno,
Italien); 27 Tote.
4. Jahresverſammlung des Zentralvereins
für das Wohl der arbeitenden Klaſſe
zu Berlin.
4.— 7. Sechsundſiebzigſtündige Fahrt des
Ballons „Cognac“ von Bitterfeld (Pro⸗
vinz Sachſen) bis Caſale (Italien).
4. (bis 26. Febr. 1909). Internationale
Seekriegsrechtskonferenz zu London.
5. Generalverſammlung des Deutſchen Ver⸗
eins für Verſicherungswiſſenſchaft zu
Berlin.
Jahresverſammlung des Deutſchen Spar⸗
kaſſenverbands zu Charlottenburg.
VI. Deutſcher Luftſchiffertag zu Frank⸗
furt a. M.
5.— 22. Internationale Automobilausſtel⸗
lung zu Berlin.
6. Amtsantritt des neuen katholiſchen Erz-
biſchofs und Metropoliten von Mo⸗
hilew, Apollinaris Wnukowski.
7. Begründung eines Reichsbunds
öſterr. Bezirksſchulinſpektoren
Wien.
Exploſion im Munitionslager von Dum⸗
ber
zu
dum bei Kalkutta (Indien); 11 Tote,
| verbands Ungarns zu Odenburg.
26 Schwerverletzte.
Brüſſel.
7.— 12. Sechstage⸗Radrennen zu Neuyork;
Sieger das amerifan. Paar Me Far⸗
land⸗Moran.
8. Begründung eines Deutſch⸗kanad. Wirt-
ſchaftsvereins zu Berlin.
9. Konſtituierung eines Internationalen
Verbands (mit Zentral bureau in
Budapeſt) gegen das Duell.
Kongreß der Hausbeſitzervereine Oſter⸗
reichs zu Wien.
I. Tagung des Deutſchen Luftflotten⸗
vereins zu Mannheim.
9.—11. Europaiſche Fahrplankonferenz zu
Nizza.
Delegiertenverſammlung der Genoſſen⸗
ſchaft deutſcher Bühnenangehöriger
zu Berlin; Ablehnung des neuen
Bühnenvertrags.
10. Verleihung der Nobelpreiſe: für Chemie
an E. Rutherford (Mancheſter), Phyſik
an O. Lippmann (Paris), Medizin an
E. Metſchnikow (Paris) und P. Chr
lich (Frankfurt a. M.), Literatur an
R. Eucken (Jena); Friedenspreis an
F. Bajer (Dänemark) und K. P. Ar⸗
noldſon (Schweden).
Erſetzung des beutiden Botſchafters in
Rom, Grafen Monts, durch den
Wirkl. Legationsrat Gottlieb v. Jagow.
12. Dynamitexploſion bei Obiſpo am Pa⸗
namakanal; 24 Tote.
13. Meuterei von 50 Fremdenlegionären in
Algerien.
14. Aufruhr in Caracas (Venezuela); An ;
kunft des Präſidenten Caſtro in
Berlin.
Landtagswahlen in Krain; Sieg der
chriſtlichſozialen Vertreter der ſlowe⸗
niſchen Volkspartei.
15. Bewilligung der Dringlichkeit des Budget ;
proviſoriums im öſterr. Abgeordneten-
haus.
J Generalverſammlung des Deutſchen
Künſtlerbunds zu Weimar.
Landeskongreß des Katholiſchen Volks⸗
Dezember.
427
16. Erlaß des öſterr. Minifterpräfidenten | 23.— 29. 1. Allruff. Frauentag zu St Beters-
gegen die nationale Boykottbewegung
in Böhmen und Mähren.
Zugzuſammenſtoß in einem Tunnel
zwiſchen Brive und Limoges (Frank ⸗
reich); 11 Tote.
17. Eröffnung des türk. Parlaments in Ge⸗
genwart des Sultans.
Wahl von Dr A. Deucher zum Schweizer
Bundespräſidenten.
18. Rücktritt des portug. Kabinetts Amaral;
neues Konzentrationsminiſterium de
Campos Henriques.
18.—20. Überfälle von Hottentotten in
Deutſch⸗Südweſtafrika; 7 Tote.
19. (bis 3. Jan. 1909). Ausſtellung für wiffen-
ſchaftliche und gewerbliche Projektion
und Automatik zu Berlin.
20. Proklamation des Vizepräſidenten Gomez
über Neubildung des Miniſteriums
(Sturz Caſtros).
Einweihung der neuen Univerſität zu
Kairo (Agypten).
Eröffnung der Zimelienausſtellung in
der Wiener Hofbibliothek.
21.— 23. I. Kongreß der Kinematographen-
beſitzer Deutſchlands zu Berlin.
23. Oſterr. Zirkularnote an die Mächte über
die Balkanfragen.
Annahme der Artillerievermehrung in
der franzöſ. Deputiertenkammer.
burg.
24. Ruſſ. Zirkulardepeſche an die Signatar-
mächte des Berliner Vertrags (über
Vorverhandlungen zwiſchen den Ka⸗
binetten).
24.—30. I. Internationale Ausſtellung für
aviatiſche Induſtrien (Luftſchiffahrt)
zu Paris.
25. Iswolskis große Balkanrede in der ruff.
Reichsduma.
Überfall auf den Präſidenten Fallitres
durch den ſtellenloſen Kellner J. Mattis.
25. (bis 5. Jan. 1909). I. Panamerikan.
wiſſenſchaftlicher Kongreß zu San ⸗
tiago (Chile).
27. Abſchluß der Jubiläumsfeier Pius’ X.
mit Tedeum in der Laterankirche.
Abſetzung des Patriarchen Damianos
von Jeruſalem (wegen angeblicher
Unfähigkeit) durch den griech. Synod.
Oſterr. Stenographentag zu Linz.
28. Furchtbare Erdbebenkataſtrophe in Unter-
italien (Reggio) und Sizilien (Meſ⸗
ſina); über 100000 Tote.
Eröffnung des ind. Nationalkongreſſes
zu Kalkutta.
28.— 29. Schultechniſcher Kongreß zu Berlin.
31. W. Wrights Motorflug über 123 km
in 2 Stunden und 19 Minuten (Ge⸗
winnung des Michelin ⸗Preiſes).
IX. Totenfchau.
en
Adler Friedrich, Wirkl. Geh. Oberban-
rat Dr ing., Berlin, 15. Sept. (geb. 15. Okt.
1827). 1863-1903 Prof. an der Techniſchen
Hochſchule Berlin-Charlottenburg, 1870 bis
1900 zugleich Vortragender Rat im preuß.
Arbeitsminiſterium, ſeit 1874 Mitglied der
Berliner Kunſtakademie. Schöpfer vieler
Kirchenbauten (u. a. Thomaskirche in Berlin
und Erlöſerkirche in Jeruſalem), Teilnehmer
an den Ausgrabungen zu Olympia (amtliche
Veröffentlichung mit E. Curtius), Forſcher
auf baugeſchichtlichem Gebiet (Biographie
Schlüters).
Adler Georg, Dr phil., außerord. Prof.
der Staatswiſſenſchaften an der Univerſität
Kiel, zugleich Dozent an der Marineakademie,
Berlin, 11. Juni (geb. 28. Mai 1863); Syſte⸗
matiker des Sozialismus.
Akunian (Frapan-), Schriftſtellerin, ſ. Le⸗
vien.
Alberdingk Thijm Katharina, Tochter
des Aſthetikers Joſeph Albert A. T., holländ.
Schriftſtellerin, Amſterdam, Mitte Jan. (geb.
29. Nov. 1848). Verfaßte zahlreiche Romane
und Kinderſchriften, auch charitativ verdient.
Alexis (Alexej) Alexandrowitſch,
ruſſ. Großfürſt, dritter Sohn Alexanders II.,
Paris, 14. Nov. (geb. 14. Jan. 1850). General-
admiral, Generaladjutant des Zaren, oberſter
Chef des Marinereſſorts und der Flotte, deren
ſchmähliches Verſagen im ruſſ.⸗japan. Krieg
ſeiner nachläſſigen Verwaltung hauptſächlich
zugeſchrieben wurde; daher nach der unglück⸗
lichen Schlacht von Tſuſchima (Mai 1905)
ſeiner Amter enthoben.
Allemann Moritz, deutſch⸗argentin.
Journaliſt, Ilanz, 6. Sept. (geb. 1858).
Schweizer, 1874 nach Argentinien ausgewan-
dert, wo er das „Argentiniſche Tageblatt“,
die geleſenſte deutſche Zeitung daſelbſt, grün-
dete und bis 1905 leitete. Gründlicher Kenner
Argentiniens, für das er auch koloniſatoriſch
tätig war.
Allen Samuel Webſter, kathol. Bi⸗
ſchof von Shrewsbury (ſeit 1897), daſelbſt,
13. Mai (geb. 23. März 1844).
Althoff Friedrich, Wirkl. Geh. Ober-
regierungsrat, Exz., Steglitz, 20. Okt. (geb.
19. Febr. 1839). Juriſt bei der Regierung in
Straßburg, an der Neugründung der dortigen
Univerſität weſentlich beteiligt, 1871 außer
ord., 1880 ord. Prof. des Zivilrechts daſelbſt,
1882 als Univerſitätsreferent in das preuß.
Unterrichtsminiſterium berufen, 1897 Mini⸗
ſterialdirektor, 1907 verabſchiedet; lebens ⸗
längliches Mitglied des Herrenhauſes und
Kronſyndikus, Domherr von Merſeburg,
Ehrenmitglied der Berliner Akademie der
Wiſſenſchaften. Hochverdient um die Entwick⸗
lung der preuß. Univerſitäten durch Förde⸗
rung ihres äußeren Ausbaus, Gewinnung
ausgezeichneter Lehrer und Unterſtützung
ihrer wiſſenſchaftlichen Inſtitute und Biblio;
theken. Auch Organiſator des höheren Unter:
richtsweſens durch Aufrollung der Schul ⸗
reform (Gleichberechtigung der verſchiedenen
Schularten), Hebung des Lehrerſtandes und
Sicherſtellung der Witwen und Waiſen. Als
Direktor der Wiſſenſchaftlichen Deputation
für das Medizinalweſen beſorgt um die Be⸗
kämpfung der Volkskrankheiten (beſonders
der Tuberkuloſe) und die Fortbildung der
Arzte. Ein Verwaltungsgenie, deſſen über-
ragende Perſönlichkeit und Willensſtärke in⸗
neren Ausgleich fand an fein entwickeltem
Pflichtgefühl und religiöſem Bewußtſein.
IX. Totenſchau.
Wmicis Ed m. de ſ. De Amicis.
Anbreiansw Michael Theorowitſch,
ruff. Schriftſteller, Davos, Febr. (28 Jahre
alt). Eines der bedeutendſten Talente des
jungen Rußland, verfaßte Novellen, Ro⸗
mane und das Revolutionsdrama „Der
Keſſel“, weswegen er flüchten mußte.
Antoinette, Herzogin⸗Mutter von Anhalt,
geb. Prinzeſſin von Sachſen⸗Altenburg, Berch⸗
tesgaden, 13. Okt. (geb. 17. Okt. 1838).
Urne Emanuel, franz. Parlamen⸗
tarier und Schriftſteller, Le Fayet (Savoyen),
14. Aug. (geb. 1. Jan. 1856). Der politiſche
Hauptvertreter Korſikas, 1886 in der Depu⸗
tiertenkammer, ſeit 1897 im Senat; ein
ſchlagfertiger Journaliſt, auch Novelliſt und
Theaterdichter.
Armbruſter Emil, Amtsgerichtsdirektor
in Freiburg i. Br., daſelbſt, 18. Sept. (geb.
10. Febr. 1843). Seit 1897 Landtags-
abgeorbneter (Zentrum), hauptſächlich auf
ſozialem und charitativem Gebiet tätig.
Arnim Malvine v., Bismarcks einzige
Schweſter, ſeit 1844 Gemahlin des ehem.
Landrats Oskar v. Arnim, Berlin, 31. März
(geb. 29. Juni 1827).
Asbach Julius, Dr phil., Direktor des
Hohenzollerngymnaſiums in Düſſeldorf, da-
ſelbſt, 5. Febr. (geb. 24. Aug. 1854). Auch
Geſchichtſchreiber und Heine ⸗Forſcher.
Atkinſon Robert, Prof. Dr, Lehrer
des Sanskrit und der roman. Sprachen am
Trinity College zu Dublin, Präſident der
Iriſchen Akademie der Wiſſenſchaften, Dublin,
10. Jan.
Auer Anton, fürſterzbiſchöflicher Geiſt⸗
licher Rat Prof. Dr theol., ſeit 1878 Ordina⸗
rius für Moraltheologie an der Salzburger
theologiſchen Fakultät, Mitgründer und
Obmann des Prieſterunterſtützungsvereins,
Salzburg, 25. Febr. (geb. 28. Okt. 1841).
Auersperg, Prinzeſſin Erne ftine,
Sternkreuzordensdame und Dechantin des ab-
ligen Damenſtifts auf dem Hradſchin, Prag,
8. Aug. (geb. 28. April 1822).
Aufſeß Hermann, Frhr von und zu,
fürſtl. Domänenrat a. D., Senior der Fa-
milie, Schloß Aufſeß, 24. Okt. (geb. 22. Juni
1837). Seit 1871 katholiſch, Stifter des
Eliſabethinums in Regensburg.
429
Bacher Eduard, Dr phil., ſeit 1879
Herausgeber der „Neuen Freien Preſſe“ in
Wien, daſelbſt, 16. Jan. (geb. 7. März 1846).
Eifriger Vertreter der freiſinnigen Politik.
Bachſtein Hermann, Begründer des
deutſchen Kleinbahnweſens, Berlin, 4. Febr.
(74 Jahre alt).
Bally Otto, Kommerzienrat, Säckingen,
17. April (69 Jahre alt). Präſident des
Bad. Landesfeuerwehrverbands, Münz ⸗
ſammler.
Bandini, Fürſt Sigismund, ſ. Giu-
ſtiniani⸗B.
Baentſch Bruno, Geh. Kirchenrat Prof.
Dr theol. et phil., Ordinarius für alt
teſtamentliche Theologie an der Univerſität
Jena, bafelbft, 27. Okt. (geb. 25. März 1859).
Barbier de Meynard Adrien, franz.
Drientalift, Prof. für arab. Literatur am
College de France, 1878 Mitglied der Aka⸗
demie der Inſchriften, 1893 Präſident der
Aſiat. Geſellſchaft, Paris, 30. März (geb.
6. März 1826).
Barine Arvede, Schriftſtellerin, 1.
Vincens.
Barlöſtus Georg, Maler und Illu⸗
ſtrator, Charlottenburg, 10. Juli (geb.
8. Juni 1864). Wertvoll find feine künſt⸗
leriſchen Steinzeichnungen.
Barrili Anton Giulio, ital. Roman⸗
ſchriftſteller, Carcare bei Genua, 15. Aug.
(geb. 14. Dez. 1836). Ehem. Garibaldianer,
1876-1879 Deputierter, als welcher er vom
linken immer mehr zum rechten Flügel ab⸗
rückte, 1889 Prof. der Literatur in Genua.
Vielgeleſener Schriftſteller, beſonders glück
lich im Familienroman. Der Freimaurerei
entſagte er noch kurz vor dem Tod durch
Rückkehr zur Kirche.
Baſhford John, engl. Publiziſt, Brid-
port, 22. Dez. (geb. 21. Juli 1852). 1885
bis 1903 Berliner Korreſpondent des „Daily
Telegraph“, dann anderer Blätter, häufig für
Spezialmiſſionen verwandt, 1882 — 1890 auch
Lektor der engl. Sprache an der Univerſität
Berlin.
Baum Johann Peter, Dr phil., Re⸗
dakteur der „Germania“ und „Maͤrkiſchen
Volkszeitung“, Berlin, 6. Jan. (geb. 23. Dez.
1867).
430
Beawsrsw-Bawerswäli Emil Graf, öſterr.
Kämmerer und erbliches Mitglied des Reichs⸗
rats, Chef der I. Linie feines Hauſes, Wien,
9. Juli (geb. 24. Dez. 1864).
Becher Ernſt, Verwaltungsratspräſident
des Oſterr. Lloyd, Trieſt, 6. Dez. (geb. 1841).
Bed Konrad Auguſt, Biſchof der Herrn ⸗
huter Brüdergemeinde (ſeit 1888), Herrnhut,
24. Febr. (geb. 19. Okt. 1835).
Beck Maria Paula, Generaloberin
(ſeit 1901) der Lehrſchweſtern vom heiligen
Kreuz zu Menzingen, daſelbſt, 12. Juni (geb.
6. Mai 1861). Gründerin vieler Arbeiterinnen ·
und Mädchenheime, Miſſionsſchulen und be⸗
ſonders der Töchterakademie zum heiligen
Kreuz in Freiburg (Schweiz).
Beck Otto, Dr, Oberbürgermeiſter (ſeit
1891) von Mannheim, Mitglied der bad.
Erſten Kammer, Mannheim, 30. März (geb.
19. Mai 1846).
Bedh Hermann, Juſtizrat, kgl. Ad-
vokat und Rechtsanwalt, ehem. bayr. Land-
tags. und Reichstagsabgeordneter (frei ·
ſinniger Kulturkämpfer), Nürnberg, 1. April
(75 Jahre alt).
Benziger Nikolaus, ſchweiz. Verlags⸗
buchhändler und Parlamentarier, Einſiedeln,
24. Nov. (geb. 19. Febr. 1830). 1860-1886
Mitinhaber der Firma K. u. Nik. B., an
deren Emporblühen er weſentlichen Anteil
hatte, 1883— 1905 im Nationalrat, 1905 bis
1908 im Ständerat, Mitglied der konſer⸗
vativen Partei.
Bequignolles Hermann d Artis v.,
Lyriker, Dramatiker, Feuilletoniſt und
Theaterkritiker in Berlin, Meran, 15. Juli
(geb. 25. Nov. 1857).
Berg Leo, Schriftſteller, Berlin, 13. Juli
(geb. 29. April 1862). Scharfer, aber ge⸗
rechter Kritiker der modernen Literatur, die
er in ſeinem Buch „Der Übermenſch in der
modernen Literatur“ (1897) treffend ſchilderte.
Bergmann Julius v., General der In⸗
ſanterie z. D., zuletzt Gouverneur von Straß⸗
burg, Wiesbaden, 21. Nov. (geb. 4. Aug. 1834).
Bergne, Sir (John Henry) Gibbs, engl.
Diplomat, Delegierter bei vielen inter⸗
nationalen Konferenzen, zuletzt der Urheber⸗
rechtskonferenz in Berlin, daſelbſt, 15. Nov.
(geb. 12. Aug. 1842).
IX. Totenſchau.
Beruns, Frhr Alexander v., Kunſt⸗
mäcen, Heidelberg, 29. Jan. (geb. 1838).
Eigentümer des aus Goethes Leben und
durch die Rat Schloſſerſche Familie bekannten
Stifts Neuburg, Beſitzer einer wertvollen
Bilder und Manuſkriptſammlung (darunter
ein Original⸗Goethebild und Goethe⸗Hand⸗
ſchriften).
Bertini Saber, Biſchof von Montal-
cino (ſeit 1899), Siena, Ende Sept. (geb.
6. Juli 1839).
Bianderi Giuſeppe, Reftor der ital.
Parlamentarier, Rom, 26. Okt. (geb. 16. Febr.
1823). Schon 1853 Mitglied der ſardin.
(ſubalpiniſchen) Kammer, erſt Gegner, daun
Anhänger Cavours (gemäßigte Rechte), 1867
Marineminiſter, ſeit 1869 mit kurzen Unter:
brechungen bis Juni 1908 Bräfident der
Deputiertenkammer.
Biermann Gottlieb, Prof., Hiftorien-
und Porträtmaler, Berlin, 18. Okt. (geb.
13. Okt. 1824). Erhielt 1850 den Großen
preuß. Staatspreis, ging von den Schlachten ⸗
und Genrebildern allmählich zum Porträt
über (beſonders Kindergruppen und Damen
der hohen Ariſtokratie); ord. Mitglied der
Berliner Kunſtakademie.
Bigg Charles, Kanonikus und (feit
1901) Regius⸗Prof. der Kirchengeſchichte in
Oxford, daſelbſt, 15. Juli (geb. 1840). Be:
kannt durch feine Schriften über Neoplatonis-
mus und Chriſtentum.
Bikelas (Vikelas) Demetrios, neu⸗
griech. Dichter und Schriftſteller, Kephiſſia
bei Athen, 20. Juli (geb. 1835). Geſchmack⸗
voller Lyriker, Überfeger Shakeſpeares, Be
gründer eines Vereins zur Herausgabe nütz⸗
licher Bücher.
Bird Balham, engl. Altmeiſter d. Schad:
ſpiels, London, 14. April (geb. 14. Juli 1830).
Biſchoffsheim Henry Louis (Wiener
Herkunft), Bankier und Philanthrop, ein
Begründer der Krebsforſchungsſtiftung, Lon-
don, 11. März (geb. 1829).
Blanderg Heinrich Siegmund, Geh.
Kommerzienrat, Begründer der deutſchen
Stahlfederninduſtrie, Berlin, 7. Ang. (geb.
1823).
Blaydes Frederick, engl. klaſſiſcher
Philolog, Brighton, 7. Sept. (geb. 29. Sept.
IX. Totenſchau.
1818). Hervorragender Textkritiker, deſſen
Ausgaben des Aſchylos, Sophokles, Ariſto⸗
phanes zc. ſehr geſchätzt find.
Boch · Salhan René v., Geh. Kommerzien⸗
rat, feit 1878 Mitinhaber und General-
direktor der bekannten Steingut und Por:
zellanfabrik Villeroy u. Boch in Dresden und
Mettlach, Mettlach, 12. Dez. (geb. 27. Sept.
1843).
Böckel Ernſt, Geh. Hofrat Prof. Dr,
Direktor des Gymnaſiums in Heidelberg,
außerord. Mitglied des bad. Oberſchulrats,
Heidelberg, 18. Mai (geb. 28. Nov. 1847).
Herausgeber von Ciceros Briefen und einer
Biographie aus den Schriften von Hermann
Köchly.
Bogidic Valtazar (Balthaſar), flaw.
Juriſt, Rieka (Fiume), 27. März (geb. 1837).
Weſentlich beteiligt an der Geſetzgebung
Bulgariens und Montenegros, hier 1893 bis
1899 Juſtizminiſter; lebte meiſt in Paris,
wo er eine wertvolle ſlaw. Bibliothek
beſaß.
DBohrmann⸗Niegen Heinrich, Bühnen ⸗
ſchriftſteller, Wien, Ende Okt. (geb. 4. Juni
1842). War unter Laube Sekretär des Burg:
theaters und verfaßte eine große Anzahl
eigener Dramen, Luſtſpiele, Operntexte ꝛc.
ſowie Bearbeitungen anderer Werke.
Wsislisle Arthur de, franz. Hiſtoriker,
Paris, 18. März (geb. 24. Mai 1835).
Beſter Kenner der Verwaltung des alten
Regimes, Herausgeber der zwanzigbändigen
Ausgabe der Werke von St⸗Simon (unvoll⸗
endet), Mitglied der Akademie der In⸗
ſchriften.
Boiſſier Gaſton, franz. Philolog und
Archäolog, Viroflay, 10. Juni (geb. 15. Aug.
1823). Seit 1861 Prof. der röm. Literatur
am College de France, 1876 Mitglied der
Franz. Akademie, 1886 der Akademie der
Inſchriften, 1895 ſtändiger Sekretär des
Inſtitut de France; ſein klaſſiſches Buch
Cicéron et ses amis (1865) erlebte zwölf
Auflagen und wurde auch (von Döhler) ins
Deutſche überſetzt (1869).
Dompiani Roberto, der Neſtor der
röm. Künſtler, Rom, 19. Jan. (geb. 22. Febr.
1821). Erſt Bildhauer, dann Maler, als
ſolcher beeinflußt von F. Overbeck, {pater
431
von den deutſchen Koloriſten; lange Bräfi-
dent der Akademie von San Luca.
Bourgade Pierre, Erzbiſchof (ſeit 1899)
von Santa FE (Ver. Staaten), Chicago,
17. Mai (geb. 5. Jan. 1847).
Bourgoing Othon Baron de, Reichenau
bei Wien, 8. Sept. (geb. 21. Nov. 1839).
Zuerſt im franz. diplomatiſchen Dienſt, den
er mit dem Geſandtentitel verließ, dann
(als Gemahl der Gräſin Thereſe Kinsky) im
Verwaltungsrat zahlreicher öſterr. Geld⸗
und Induſtriegeſellſchaften.
Braun Hermann, Maler und Radierer,
Hausberge bei Minden, 29. Sept. (geb. 1861).
Ein Meiſter der Radiertechnik, bekannt durch
feine Sammlung „Deutſche Städtebilder“
(Leipzig, J. J. Weber).
Brewſter Henry, Metaphyfiter, Rom,
13. Juni. Die franzöſiſche Darlegung feines
Glaubens (L’Äme Palenne) hat viele Auf.
lagen erlebt.
Briſſon Aloiſius, Gründer (1872)
und Generaloberer der Oblaten und Obla⸗
tinnen des hl. Franz von Sales, Ehrenbom-
herr von Troyes, Plancy (Depart. Aube),
2. Febr. (geb. 23. Juni 1817).
Brufa Emilio, Prof. des Strafrechts
an der Univerſität Turin, Rom, 14. Dez.
(geb. 9. Sept. 1843).
Bücheler Franz, Geh. Regierungsrat
Prof. Dr phil. et iur., Bonn, 3. Mai (geb.
3. Juni 1837). 1858 an der Univerſität
Freiburg, 1866 in Greifswald, ſeit 1870
in Bonn. Glänzender Lehrer, deſſen Schule
die Mehrzahl der jetzigen deutſchen Hoch-
ſchulphilologen entſtammt, als gewandter
Latiniſt in Italien ebenſo bekannt wie in
Amerika, ſicherer Textkritiker, der eine große
Reihe von Klaſſikerausgaben beſorgte.
Büchner Adolf Emil, Komponiſt, 1866
Hofkapellmeiſter in Meiningen, dann Dirigent
des Sollerſchen Muſikvereins in Erfurt, da⸗
ſelbſt, 10. Juni (geb. 7. Dez. 1826).
Buller Sir Redvers, engl. General,
London, 2. Juni (geb. 7. Dez. 1839). Machte
1873 den Aichanti-, 1878/79 den Sulu⸗
feldzug, 1882 den ägypt. Krieg (Tel el⸗Kebir),
1884 / 85 den Mahdi ⸗Feldzug mit, wurde 1899
Oberbefehlshaber gegen die Buren, aber
nach der Niederlage bei Colenſo durch Lord
432
Roberts erſetzt; doch gelang ihm noch die
Befreiung von Ladyſmith.
Bumiller Lambert, Pfarrer von Dft-
rach und Dekan des Kapitels Sigmaringen,
1893-1896 Landtags- und Reichstagsab⸗
geordneter (für Hohenzollern), Bregenzer
Wald, 21. Aug. (geb. 15. Okt. 1852).
Buſch Wilhelm, Bilderhumoriſt, Mechts⸗
hauſen (Hannover), 9. Jan. (geb. 15. April
1832). Seine Meiſterſchaft in der humo ⸗
riſtiſchen Schilderung menſchlicher Schwächen
durch köſtliche Bilder und groteske Verſe
machte ihn zum „Klaſſiker der Karikatur“
und brachte ihm beiſpielloſe Erfolge.
Bnuſtillo Sanchez, ſpan. Finanzminiſter,
Madrid, 19. Sept. Seine allzu große Frei:
gebigkeit gegenüber Heer und Marine brachte
die von ſeinem Vorgänger Maverde an⸗
gebahnte Finanzreform wieder zum Stocken.
Caird Edward, engl. Religionsphilo⸗
ſoph, Oxford, 1. Nov. (geb. 22. März 1835).
1866 - 1893 Prof. der Moralphiloſophie in
Glasgow, dann bis 1907 Präſident des
Balliol College in Oxford; Hegelianer.
Campbell Lewis, engl. Gräziſt, 1863
bis 1892 Prof. an der Univerſität St An⸗
drews, daſelbſt, 25. Okt. (geb. 3. Sept. 1830).
Viel zitiert werden ſeine Arbeiten über die
griech. Tragiker.
Campbell Bannerman Sir Henry,
engl. Staatsmann, London, 22. April (geb.
7. Sept. 1836). 1868 von Stirling ins
Unterhaus gewählt, 1884 — 1886 Chef.
ſekretär für Irland, 1886 und 1892 bis
1895 Kriegsminiſter, Ende 1905 als Führer
(ſeit 1899) der Liberalen Premierminiſter,
welches Amt er aber wenige Wochen vor
feinem Tod krankheitshalber niederlegen
mußte. Gegner des Burenkriegs.
Canouico Tancredi, ehem.
Senatspräſident, Sarteano bei Siena,
15. Sept. (geb. 14. Mai 1828). Ein Alt⸗
liberaler guten Glaubens, der mit Wort
und Schrift für die Verſöhnung zwiſchen
Kirche und Staat eintrat.
Caputo Carlo, Titularerzbiſchof von
Nicomedia (ſeit 1897), Neapel, 25. Sept.
(geb. 5. Nov. 1843). 1883 Biſchof von
Monopoli, 1886 —1897 von Averſa, 1904
bis 1907 Nuntius in München.
ital.
IX. Totenſchau.
Garcani Aleſſaudro, Regens der
Apoſtol. Pönitenziarie, Auditor der Rota
Romana ꝛc., Rom, 20. Jan. (geb. 12. Mai
1827).
Carlos, König von Portugal, ſ. Karl I.
Gafali del Drage Giovanni Bat
tiſta, Kardinal, Rom, 17. März (geb.
30. Jan. 1838). Einer der ebelſten rö⸗
miſchen Patrizierfamilien entſtammend, 1895
latein. Patriarch von Konſtantinopel, 19. Juni
1899 Kardinal.
Caſalas u Pages Salvador, Kar
dinal, Barcelona, 27. Okt. (geb. 5. Sept.
1834). Im Waiſenhaus aufgezogen, 1879
Biſchof von Urgel, 29. Nov. 1885 Kardinal,
1901 Bifhof von Barcelona. 1905 ver⸗
eiteltes Attentat.
Caſtan Louis, Bildhauer, Gründer
(mit feinem Bruder Guftav) des bekannten
Berliner Panoptikums, zuletzt verarmt,
Schöneberg, 14. Juli.
Cech Svatopluk,
ſ. Czech.
Ghabaneau Camille, Romanift, Ron:
tron (Depart. Dordogne), 21. Juli (geb.
4. März 1831). 1879 Prof. in Mont:
pellier, Herausgeber zahreicher provenza⸗
liſcher Texte.
Cheetham Samuel, Erzdiakon und
Kanonikus von Rocheſter, Kirchenhiſtoriker
und Altertums forſcher, London, 19. Juli
(geb. 3. März 1827).
Chiarini Giuſeppe, ital. Dichter und
Literarhiſtoriker, Rom, 4. Aug. (geb. 17. Aug.
1833). Haupt der klaſſiſchen Schule der
Literarhiſtoriker, Anhänger Carduccis, Über⸗
ſetzer Heines.
Chriſt Paul, ord. Prof. der ſyſtema⸗
tiſchen und praktiſchen Theologie an der
Univerſität Zürich, daſelbſt, 15. Jan. (geb.
25. Okt. 1836).
Chueta Federico, ſpan. Volkskomponiſt,
der Meiſter der Zarzuela (Spieloper), Madrid,
20. Juni (geb. 5. Mai 1846).
Claar⸗Delia Hermine, Gattin des Inten⸗
danten des Frankfurter Schauſpielhauſes
Emil Claar, vor ihrer Vermählung (1871)
ſelbſt eine hervorragende Schauſpielerin, be-
ſonders im modernen Drama, Frankfurt a. M.,
21. Nov. (geb. 8. April 1848).
böhm. Dichter,
IX. Totenſchau.
Clak Guftav, 1878—1901 Prof. ber
Philoſophie in Erlangen, München, 21. Okt.
(geb. 15. Okt. 1836).
Cleveland Grover, ehem. Präſident der
Ver. Staaten, Princeton (N. J.), 24. Juni (geb.
18. März 1837). 1883 —1885 Gouverneur
von Neuyork, 1885 — 1889 und 1893 bis
1897 demokratiſcher Unionspräſident, 1899
Prof. der Staatswiſſenſchaften zu Princeton.
Hauptereigniſſe ſeiner Amtszeit ſind die Re⸗
form des Zivildienſts, die Aufhebung der
Freiſilberprägung und die Kriegsdrohung an
England wegen der Venezuelafrage (Monroe⸗
Doktrin).
Collins John Churton, ſeit 1904
Prof. der engl. Sprache und Literatur an
der Univerſität Birmingham, Oulton Broad
(Norfolf), 15. Sept. (geb. 26. März 1848).
Coppee Francois, franz. Dichter,
Paris, 23. Mai (geb. 26. Jan. 1842). Die
Auswahl feiner Stoffe aus dem kleinbürger⸗
lichen Leben und deren Behandlung in tabel-
loſen Verſen, die ihm als einem Haupt ;
vertreter der Dichterſchule der Parnassiens
vorzüglich gelangen, machten ihn trotz der
Mittelmäßigkeit des Gedankeninhalts und
Aufbaus zum volkstümlichſten aller modernen
Dichter Frankreichs. Unerhörten Erfolg hatte
1869 ſein Einakter Le passant, der zugleich
der Darſtellerin der Hauptrolle, Sarah Bern:
hardt, die Zukunft öffnete. Mitgründer und
Ehrenpräſident der Ligue de la patrie
francaise, religiös lange indifferent, bis ihn
eine Krankheit zur Bekehrung trieb (in La
bonne souffrance, 1898, geſchildert).
Gornely Rudolf, 8. J. (ſeit 1852),
Exeget, Trier 3. März (geb. 19. April 1830).
Gründer und (1872—1879) Redakteur der
„Stimmen aus Maria ⸗Laach“, 1873 der
„Katholiſchen Miſſionen“, 1879 — 1889 Prof.
an der Gregorianiſchen Univerſität zu Rom,
dann im Kloſter Blijenbeek (Holland), wo er
für die Ausgabe des Cursus Scripturae
Sacrae tätig war, feit 1902 in Trier.
Cremer, Sir William Randal, ein
Hauptvertreter der internationalen Friedens⸗
bewegung, London, 22. Juli (geb. 1838).
Von deutſcher Herkunft, Tiſchler, Autodidakt,
1885 — 1895 Mitglied des Unterhauſes, Mit-
begründer der Schiedsgerichtsliga und der
Jahrbuch der Zeit⸗ und Kulturgeſchichte. II.
433
interparlamentariſchen Konferenzen; erhielt
1903 den Nobelpreis (den er aber faſt ganz
den Friedensgeſellſchaften überwies), 1907
die Ritterwürde (die er ein Jahr vorher
abgelehnt hatte).
Cron Joſeph, Prof. Dr, geiſtlicher
Oberlehrer am biſchöflichen Gymnaſium in
Straßburg, daſelbſt, 23. Nov. (geb. 6. Mai
1859). Bekannt durch Veranſtaltung jähr.
licher Ferienpilgerzüge nach Lourdes, Ver ·
faſſer mehrerer Schriften über Lourdes,
Gründer und Herausgeber der Jugendzeit ;
ſchrift „St Nikolaus“.
Curtis Alfred Allen, Titularbiſchof
(ſeit 1896) von Echinus, Baltimore, 11. Juli
(geb. 4. Juli 1831) Urſprünglich proteft.-
epiffopaler Pfarrer, 1872 kathol.; 1886 bis
1896 Biſchof von Wilmington, bis 1897
Bistumsverweſer daſelbſt, 1898 Generalvikar
der Erzdiözeſe Baltimore.
Cech (Cech) Svatopluk, böhm. Dichter,
Prag, 23. Febr. (geb. 21. Febr. 1846). Erft
Advokat, dann Gründer und Redakteur der
belletriſtiſchen Monatsſchrift Kvéty, Haupt ·
vertreter nationaltſchech. Poeſie, beſonders
glücklich im Epos und politiſch⸗ſatiriſchen Ge⸗
dicht; am populärften feine „Sklavenlieder“.
Die Wahl ins Abgeordneten ⸗ und den Sitz
im Herrenhaus lehnte er ab.
Gjernin von und zu Chudenitz Jaromir
Graf, Regierer des Hauſes Neuhaus und
Chubenig, Oberſt⸗Erbmundſchenk des König⸗
reichs Böhmen, Kämmerer und Geh. Rat,
erbliches Mitglied des Herrenhauſes, Schloß
Petersburg bei Jechnitz, 26. Nov. (geb.
13. März 1818).
Dadaboy Byramjee, ind. Großkaufmann,
Gründer und Chef des Welthauſes Dadaboy
u. Co. in Bombay, Baden⸗Baden, 27. Dez.
(78 Jahre alt).
Dalberg Friedrich Frhr von und zu,
Kämmerer und erbliches Mitglied des öſterr.
Herrenhauſes, Datſchitz (Mähren), 19. Sept.
(geb. 9. Dez. 1822). Eifriger Förderer der
kathol.⸗patriotiſchen Beſtrebungen in Ofter:
reich; Ornitholog.
Danner Sebaſtian, infulierter Dom-
kuſtos in Salzburg und päpſtlicher Haus⸗
prälat, Salzburg, 8. Febr. (geb. 12. Jan.
1847). Ein Führer der Salzburger Konſer ;
28
434
vativen (Herausgeber der „Salzburger Ehro-
nik“), Vizepräſident des Kathol. Univerſitäts⸗
vereins.
Dauban Jules, franz. Kirchenmaler,
1849 — 1889 Konſervator des Muſeums von
Angers, Schloß Graveron (Gironde), 6. Sept.
(geb. 31. Mai 1822).
Dauſch Konſtant in, Bildhauer, ſeit
1869 in Rom, ehem. Präſident des Deut:
ſchen Künſtlervereins, Rom, 10. Juli (geb.
30. Nov. 1841).
David Pas cal, Journaliſt, Straßburg,
27. März (geb. 8. Dez. 1850). Poſtbeamter,
nach einer Maßregelung in die Redaktion
der „Kölniſchen Zeitung“ berufen und bei
Gründung (1882) der dem gleichen Verlag
gehörenden „Straßburger Poſt“ mit deren
Leitung betraut, die er in verſöhnendem
Sinn und mit feinem Sprachgefühl ausübte.
Day, Sir John Charles, Londoner
Richter, der „Schrecken der Hooligans“,
Newbury, 13. Juni (geb. 20. Juni 1826).
De Amicis Edmondo, ital. Schrift⸗
ſteller, Bordighera, 11. März (geb. 21. Okt.
1846). Erſt Offizier (Schlacht bei Cuſtoza,
Einnahme von Rom), ſeit 1871 auf Reiſen,
die ihm den Stoff zu feinen vielen Reife-
werken gaben, zuletzt in Turin. Der popu⸗
lärſte Schriftſteller des modernen Italien,
bekam Weltruf durch die Jugenderzählung
Il cuore („Das Herz“, Memoiren eines
Schulknaben), die gegen hundert Auflagen
erlebte und in die meiſten lebenden Sprachen
überſetzt wurde. Politiſch Sozialiſt, übte
ſein Abgeordnetenmandat aber nicht aus.
Decken Auguſte von der (Deckname:
A. von der Elbe), Majorswitwe und Schrift ⸗
ſtellerin, Hannover, 25. April (geb. 30. Nov.
1828). Der erfolgreichſte ihrer zahlreichen
Romane war „Brauſejahre (1885); ihre
Fortſetzung von Brentanos „Chronika eines
fahrenden Schülers“ erlebte zwölf Auf⸗
lagen.
De Giorgis Emilio, ital. General.
ſeit 1903 Chef der mazedon. Gendarmerie,
Rom, 13. März (geb. 16. Dez. 1844).
Degner Erich, Muſikdirektor, Komponiſt,
Direktor der großherzogl. Muſikſchule in
Weimar, daſelbſt, 18. Nov. (geb. 7. April
1858).
IX. Totenſchau.
Delleani Lorenzo, ital. Maler, Turin,
15. Nov. (geb. 17. Jan. 1840); erſt Hiftorien-,
dann Landſchaftsmaler.
Demsle Charles Etienne Emile,
franz. Politiker, 1886 Miniſter der öffent⸗
lichen Arbeiten, dann der Juſtiz, St⸗Julien⸗
de⸗Civry, 17. Juni (geb. 22. März 1828).
Dingen Henri Charles Dom,
Biſchof von Tulle (ſeit 1879), Tulle, 21. April
(geb. 19. Dez. 1832).
Derby, Graf Frederick Arthur Stanley,
engl. Staatsmann, Schloß Holwood (Kent),
14. Juni (geb. 15. Juli 1841). Konſervativer
Politiker, 1878-1880 Kriegs-, 1885 — 1886
Kolonial-, 1886 —1888 Handels miniſter,
18881893 Generalgouverneur von Kanada;
1908 Präſident der Franz.⸗engl. Aus ſtellung
in London.
Derenbourg Hartwig, franz. Semitiſt
(wie fein berühmter Vater J o ſ. D.), Prof.
des Arabiſchen an der Oriental. Schule und
an der Ecole des Hautes ⸗Etudes zu Paris,
ſeit 1900 Mitglied der Akademie der In⸗
ſchriften, Paris, 12. April (geb. 17. Juni 1844).
Deſſovie Wilhelm Edler v., Geh. Rat
und Feldzeugmeiſter, Bräfibent des Oberſten
Militärgerichtshofs in Wien, daſelbſt, 21. Nov.
(geb. 1845).
Devonſhire Spencer Compton Ca:
vendiſh, Herzog von, engl. Staatsmann,
Cannes, 23. März (geb. 23. Juli 1833).
1857—1891 im Unter-, ſeitdem im Ober:
haus; 1866 Kriegsſekretär, 1868 — 1871
Generalpoſtmeiſter, 1871 —1874 Chefſekretaͤr
für Irland, 1880 — 1882 Staatsſekretär für
Indien, 1882 — 1885 Kriegsminiſter, 1895
bis 1903 Vorſitzender des Privy Council.
Urſprünglich Anhänger Gladſtones, deſſen
Homerulepolitik er aber nicht mitmachen
wollte und den er durch Gründung der
neuen Partei der liberalen Unioniſten ſogar
ſtürzen half.
Deym Joſeph Graf v., Frhr v. Sttite},
bayr. Kämmerer und erblicher Reichsrat,
Arnſtorf (Niederbayern), 26. April (geb.
20. Dez. 1845).
Dieterich Albrecht, Geh. Hofrat Prof.
Dr, Ordinarius für klaſſiſche Philologie und
Religionsgeſchichte in Heidelberg, daſelbſt,
6. Mai (geb. 2. Mai 1866).
IX. Totenſchau.
Dietſche Fridolin, Bildhauer, Prof.
an der Kunſtgewerbeſchule zu Karlsruhe,
daſelbſt, 25. Juni (geb. 1861). Am be⸗
kannteſten ſeine Porträts (Hansjakob ꝛc.)
und architektoniſchen Plaſtiken (Monumental:
kreuz in der Karlsruher Chriſtuskirche).
Doppelbauer Franz, Biſchof von Linz,
päpſtlicher Hausprälat und Thronaſſiſtent,
Linz, 2. Dez. (geb. 21. Jan. 1845). 1868
Prieſter, 1887 Rektor der Anima in Rom,
11. Febr. 1889 präkoniſiert; Förderer des
kathol. Preſſe⸗ und Vereinsweſens und des
Linzer Dombaus, Erbauer des Kollegium
Petrinum (mit Gymnaſium) in Linz⸗Urfahr.
Dörr Wilhelm, Prof., Komponiſt,
Lehrer am Konſervatorium der Muſik und
Muſikinſpektor an der Thereſianiſchen Aka⸗
demie in Wien, daſelbſt, 30. Jan. (geb. 1851).
Douglas Wilhelm Graf, 1888 — 1897
Reichstagsabgeordneter (fonfervativ), Schloß
Gondelsheim bei Bretten, 22. April (geb.
8. Febr. 1849).
Drachmann Holger, dan. Dichter,
Hornbäk, 14. Jan. (geb. 9. Okt. 1846).
Urſprünglich Marinemaler, ging auf Zureden
von Georg Brandes zur Literatur über,
wobei ihm die Stoffe aus dem dan. Klein⸗
bürger, beſonders dem Schifferleben am
beſten gelangen; trefflich auch ſeine Märchen ·
und lyriſchen Dichtungen. Von der Regierung
erhielt er Dichtergehalt.
Droyſen Guſtav, Hiſtoriker, Sohn des
„Geſchichtſchreibers der preuß. Politik“, ſeit
1872 ord. Prof. für neuere Geſchichte an
der Univerſität Halle, daſelbſt, 11. Nov.
(geb. 10. April 1838).
Duimchen Theodor, Romanſchriftſteller
(ſozialer Richtung), Berlin, 5. Sept. (Selbſt⸗
mord); geb. 28. März 1853.
Dumreicher Armand Frhr v., öſterr.
Parlamentarier, Meran, 2. Nov. (geb.
12. Juni 1845). 1886— 1895 im Reichsrat,
energiſcher Vertreter des Deutſchtums.
Dürr Alfons, der Neſtor ber Verlags⸗
buchhändler Leipzigs, daſelbſt, 7. April (geb.
21. Jan. 1828).
Dürrenmatt Ulrich, ſchweiz. Journaliſt,
Herzogenbuchſee, 27. Juli (geb. 20. April
1849). Urſprünglich Lehrer, ſeit 1880 Re⸗
dakteur der „Berniſchen Volkszeitung“, die
— 3 — ee
435
er, der Proteſtant und frühere Radikale,
beſonders durch feine polemiſchen Titel ⸗
gedichte zu einem gefürchteten Gegner der
herrſchenden Partei machte. 1883 Mit⸗
gründer der konſervativ⸗demokratiſchen Volks.
partei, ſeit 1903 Nationalrat.
Duveen, Sir Joſeph, engl. Kunſt⸗
händler und Kunſtgönner, London, 9. Nov.
(64 Jahre alt).
Dyer Louis, amerik. engl. Gragift und
Archäolog, Oxford, Ende Juli (geb. 30. Sept.
1851).
Eckardt Julius v., Geh. Regierungs-
rat Dr, Journaliſt und Diplomat, Weimar,
20. Jan. (geb. 1. Aug. 1836). Balte, Heraus ⸗
geber der „Rigaſchen Zeitung“, ſeit 1867
in Deutſchland, bis 1870 Redakteur der
„Grenzboten“ (mit G. Freytag), bis 1874
des „Hamburger Korreſpondenten“, ſeit 1882
im deutſchen Staats-, beſonders Konfulats-
dienſt.
Eggenfdwiler Joſeph, Dompropſt in
Solothurn, daſelbſt, 5. April (geb. 15. März
1836). 1862 Prof. der Apologetik und
Dogmatik an der Solothurner theologiſchen
Lehranſtalt, 1885 Domherr, 1891 Dompropſt,
1906 (14. Mai bis 30. Sept.) Bistums:
verweſer.
Esli Emil, Dr theol., Prof. der Kirchen
geſchichte (ſeit 1893) an der Univerſität
Zürich, Sohn des bekannten Geographen,
Zürich, 31. Dez. (geb. 9. Jan. 1848). Zwingli
forſcher, ſeit 1897 Redakteur der Zeitſchrift
Zwingliana.
Ehlers Rudolf, Dr theol., Ober⸗
konſiſtorialrat, Pfarrer der evang.⸗ reform.
Gemeinde in Frankfurt a. M., daſelbſt,
7. Aug. (geb. 30. März 1834). 1879 bis
1892 mit Baſſermann Herausgeber der
„Zeitſchrift für praktiſche Theologie“.
Ehrhart Franz Joſeph, Tapezier⸗
meiſter und Politiker, Ludwigshafen a. Rh.,
20. Juli (geb. 6. Febr. 1853). Führer der
pfälz. Sozialdemokraten (der „rote Pfalz.
graf“), ſcharfer Gegner der Berliner Er-
tremen; ſeit 1893 im bayr. Landtag, ſeit
1898 im Reichstag.
Eichrodt Richard, bad. Hofſchauſpieler,
Bruder des bekannten Dichters, der Neſtor
des Mannheimer Hoftheaters, dem er ſeit
28 *
436
1861 angehörte, Mannheim, 14. April (geb.
9. März 1840).
Einig Petrus, Dr theol., Domkapitular,
Trier, 21. Juli (geb. 25. Mai 1852). 1886
Prof. der Dogmatik und Pädagogik, 1902
Domkapitular in Trier; Gründer (1888) und
Herausgeber der Zeitſchrift Pastor bonus.
Elbe A. von der, Schriftſtellerin, ſ. Decken.
Glifabeth, Prinzeſſin von Sachſen⸗
Weimar ⸗Eiſenach, feit 1886 Gemahlin des
Herzogs Johann Albrecht von Mecklen⸗
burg, jetzigen Regenten von Braunſchweig,
Schloß Wiligrad, 10. Juli (geb. 28. Febr.
1854).
Endres Bernhard, Domkapitular, Prä⸗
lat Dr theol., Trier, 23. April (geb. 20. Aug.
1828). 1859—1891 Direktor des biſchöflichen
Knabenkonvikts, ſeitdem Regens des Prieſter⸗
ſeminars in Trier; trat im Streit um die
Seminare und theologiſchen Fakultäten für
Beibehaltung beider ein.
Engefröm Nina v., Begründerin der
ſchwed. Hausweberei, unterrichtete in ihrer
Webſchule (1884 in Upſala, ſeit 1894 in
Orebro) über 700 Schülerinnen, Orebro,
Mitte Febr. (geb. 1836).
Erbach Erbadh, Graf Franz Arthur zu,
Erbach, 7. Juni (geb. 1. Sept. 1849).
Erbach ⸗Schönberg Guſtav Ernſt, erſter
Fürſt und Graf zu, Senior des Geſamthauſes,
erbliches Mitglied der heſſ. Erſten Kammer,
Darmſtadt, 29. Jan. (geb. 17. Aug. 1840).
Erlauger Guſta v, Komponiſt und Muſik⸗
ſchriftſteller, Frankfurt a. M., 23. Juni (geb.
19. Jan. 1842). Anhänger der Leipziger
Komponiſtenſchule (Reinecke ꝛc.), 1878—1889
Muſikreferent der „Frankfurter Zeitung“.
Ernft, Herzog von Sachſen⸗Altenburg,
preuß. und ſächſ. Generaloberſt, Altenburg,
7. Febr. (geb. 16. Sept. 1826). Seit 1853
Nachfolger ſeines Vaters Georg, 1853 ver⸗
mählt mit Prinzeſſin Agnes von Anhalt
(geſt. 1897); das einzige Kind, Prinzeſſin
Marie, Gemahlin des Prinzen Albrecht von
Preußen, ſtarb 1898.
Eſtreicher Nozbierski Karl Ritter v.,
Hofrat und ehem. Direktor (ſeit 1868) der
Univerſitätsbibliothek in Krakau, daſelbſt,
1. Okt. (geb. 22. Nov. 1827). Hauptwerk
IX. Totenſchau.
(17 Bbe, 1872—1899); Mitglied der Akademie
der Wiſſenſchaften zu Krakau.
vans, Sir John, engl. Archäolog,
Vater des Labyrinth ⸗Entdeckers von Kreta,
Britwell (Hertſhire), 31. Mai (geb. 17. Nov.
1823). Geolog, Münzſammler und Prä⸗
hiſtoriker, Präſident vieler gelehrten Gefell:
ſchaften.
Ewald Hermann Frederik, dan.
Schriftſteller, Verfaſſer zahlreicher Romane
und Novellen aus der bän. Geſchichte und
Geſellſchaft, Kopenhagen, 29. April (geb.
13. Dez. 1821). Sein Sohn Karl, Schrift:
ſteller, ſtarb Ende Febr. ebd.
Eylen Heinrich van, Liederkomponiſt,
eine Zeitlang Theorielehrer an der Berliner
Hochſchule für Muſik, Berlin, 27. Aug. (geb.
19. Juli 1861).
Faber Alexander, Seniorchef der
„Magdeburgiſchen Zeitung“, mehrjähriger
Vorſitzender des Vereins deutſcher Zeitungs⸗
verleger, Haſſerode, 2. Febr.
Fall Max, Dr, ungar. Publiziſt (Israe⸗
lit), Budapeſt, 10. Sept. (geb. 7. Okt. 1828).
Seit 1867 Chefredakteur des „Peſter Lloyd“,
als ſolcher eine Hauptſtütze der liberalen
Partei, ſeit 1869 im Reichstag (Förderer des
Ausgleichs); Verfaſſer zahlreicher hiſtoriſcher
Werke, Lehrer (1866—1867) der Kaiſerin
Eliſabeth in ungar. Sprache und Ge⸗
ſchichte.
Faſtenrath Johannes, Hofrat Dr iur.,
Dichter, Köln, 16. März (geb. 3. Mai 1839).
Urſprünglich Juriſt, lernte ſeit 1864 auf
wiederholten Reiſen in Spanien die Literatur
dieſes Landes kennen, die er durch zahlreiche
Werke den Deutſchen vermittelte, wie er
auch (1899) die Blumenſpiele nach Köln
verpflanzte.
Fattori Giovanni, ital. Schlachten:
und Genremaler, ſeit 1877 Prof. an der
Akademie in Florenz, daſelbſt, 30. Aug.
(geb. 28. Sept. 1825).
Fausböll Viggo, ber Neſtor der indo-
logiſchen Forſchung, Kopenhagen, 3. Juni
(geb. 22. Sept. 1821). Seine grundlegenden
Arbeiten über den Buddhismus machten ihn
in Indien ſehr populär.
Favart Marie, eigentlich Pierrette
eine monumentale polniſche Bibliographie | Ignace Pingaud, franz. Schauſpielerin,
IX. Totenſchau. 437
1848—1881 am Theéätre⸗Francais zu Paris,
gefeierte Tragödin, auch in Deutſchland
durch Gaſtſpiele bekannt, Paris, 11. Nov.
(geb. 16. Febr. 1833).
Felix Lia, franz. Schauſpielerin, dritte
Schweſter der berühmten Eliſa Rachel, Paris,
15. Jan. (geb. 6. Juli 1828).
Fell Winand, Dr theol. et phil., ſeit
1886 Prof. für altteſtamentliche Exegeſe an
der Hochſchule Münſter, daſelbſt, 5. Juli
(geb. 13. Dez. 1837). Auch als Orientaliſt
bekannt, beſonders durch ſeine Indices zu
Fleiſchers Korankommentar des Beidhawi
(1878); Mitherausgeber der „Bibliſchen
Studien“.
Ferdinand IV., Großherzog von Toskana
(der letzte dieſes Titels), Salzburg, 17. Jan.
(geb. 10. Juni 1835). Kam 21. Juli 1859
durch Abdankung ſeines Vaters Leopold II.
auf den Thron, konnte aber die Regierung
nicht mehr übernehmen, da ſchon am 16. Aug.
die Nationalverſammlung einſtimmig die
Abſetzung des Hauſes Lothringen und die
Vereinigung mit Sardinien erklärte; ſeitdem
in Salzburg und Lindau. Hinterläßt (aus
zweiter Ehe) vier Söhne und fünf Töchter,
von denen aber zwei („Leopold Wölfling“
und „Frau Toſelli“) aus dem Hauſe aus⸗
ſchieden.
Fiard Adolphe Frédéric, Bilchof
von Montauban (feit 1881), Paris, 10. Jan.
(geb. 12. Dez. 1821).
Fiedler Joſeph Ritter v., Hof und
Miniſterialrat, ehem. Vizedirektor des Haus⸗,
Hof und Staatsarchivs zu Wien, Mitglied
der Wiener Akademie und der Böhm. Ge⸗
ſellſchaft der Wiſſenſchaften in Prag, Baden
bei Wien, 1. Juli (geb. 17. März 1819).
Fiſchbach Friedrich, Ornamenten⸗
zeichner, 1883 — 1889 Direktor der Kunſt⸗
gewerbeſchule in St Gallen, Wiesbaden,
12. Sept. (geb. 10. Febr. 1839). Auch
Mythenforſcher, von deſſen vielen Werken
beſonders „Asgart und Mittgart mit den
ſchönſten Liedern der Edda“ (1902) ver⸗
breitet iſt.
Frank Julius, Hiſtorienmaler (Schüler
von Schraudolph), Sohn des Glasmalers
Sigismund F., München, 30. April (geb.
11. April 1826). Schuf zahlreiche Altar⸗
bilder, Wandgemälde (im alten Münchner
Nationalmuſeum), Fresken (Jeſuitenkirche in
Stonyhurſt) zc.
Frantz Adolf, Prof. des Staats. und
Kirchenrechts zu Kiel, daſelbſt, 19. Juni
(geb. 14. Okt. 1851). |
Frapan Ilſe, Schriftſtellerin, ſ. Levien.
Frechette Louis, kanad. Schriftſteller
und Politiker, Quebec, 21. Juni (geb.
16. Nov. 1839). Urſprünglich Rechtsanwalt,
1874 Abgeordneter, ſeit 1889 Sekretär des
Geſetzgebenden Rats; fruchtbarer Dichter
(Hauptwerk: Legende d'un peuple, das
kanad. Nationalepos, 1887), langjähriger
Präſident der Kgl. Geſellſchaft von Ka⸗
nada.
Frederking Hug o, Landmeſſer und Ver⸗
faſſer zahlreicher Romane und Sonette,
Kaſſel, 4. Sept. (geb. 23. Juli 1846).
Freinademetz Joſeph, Provikar von
Südſchantung, Jeutſchoufu, 27. Jan. (geb.
15. April 1852). Seit 1878 im Miſſions⸗
haus zu Steyl, 1879 in China, wiederholt
ſchrecklich mißhandelt; Mitbegründer der
Miſſion in Jentſchoufu.
Freytag⸗Soringhoven Alex ander Frhrv.,
Verfaſſer von Romanen, Novellen und
Dramen, Weimar, 10. Sept. (geb. 8. Mai
1849).
Fricke Guſtav Adolf, Geheimrat
Dr phil. et theol., proteſt. Theolog,
Leipzig, 30. März (geb. 23. Aug. 1822).
1851 Prof. in Kiel, 1867 in Leipzig, Senior
der Univerſität, Kapitular des Hochſtifts
Meißen, eifriger Förderer des Guſtav⸗Adolf⸗
Vereins und des Evang. Bundes.
Frölich Lorenz, dan. Genre: und Hi:
ſtorienmaler, auch Illuſtrator von Kinder⸗
büchern, Kopenhagen, 25. Okt. (geb. 25. Okt.
1820). ;
Fuiſting Bernhard, Wirkl. Geh. Ober:
regierungsrat Dr iur., Senatspräſident beim
Oberverwaltungsgericht in Berlin, daſelbſt,
14. Febr. (geb. 25. Sept. 1841). Größter
Kenner der preuß. Steuergeſetzgebung, wozu
er die beſten Kommentare lieferte.
Furrer Konrad, freiſinniger proteſt.
Theolog, ſeit 1885 Prof. der allgemeinen
Religionsgeſchichte an der Univerſität Zürich,
daſelbſt, 14. April (geb. 5. Nov. 1838).
—
438
Fürktenderg Stammheim Gisbert Egon
Graf v., preuß. Kammerherr und Schloß⸗
hauptmann von Koblenz, erbliches Mitglied
des Herrenhauſes und Vorſitzender des Rhei-
niſchen Provinziallandtags, Exz., Bonn,
28. März (geb. 29. März 1836).
Fürſtner Adolf, Senior der Berliner
Muſikverleger (Wagners „Rienzi“, „Fliegen⸗
den Holländer“, „Tannhäuſer“, R. Strauß'
„Salome“ und „Elektra“, Leoncavallos
„Bajazzo“), Bad Nauheim, 7. Juni (geb.
2. Jan. 1835).
Galen Maximilian Gereon Graf v.,
Titularbiſchof (ſeit 1895) von Myrina, päpft-
licher Hausprälat und Thronaſſiſtent, Dr
theol. et phil., Münſter, 5. Nov. (geb.
10. Okt. 1832). 1864 Subregens am Prieſter⸗
ſeminar, 1874 Rektor, dann Pfarrer von
St Chriſtoph in Mainz, 1884 Domkapitular,
1895 Weihbiſchof in Münſter.
Gallée Joh. Hendrik, holland. Sprach⸗
forſcher, ſeit 1882 Prof. in Utrecht, daſelbſt,
3. Febr. (geb. 9. Sept. 1847).
Gebhart Emile, franz. Schriftſteller,
Paris, 21. April (geb. 19. Juli 1839). 1879
Prof. der ſüdeuropäiſchen Literaturen an der
Sorbonne, 1896 Mitglied der Akademie der
IX. Totenſchau.
Inſtituts in Waſhington, Norwich (Conn.),
13. Okt. (geb. 6. Juli 1831).
Gisrgini Giovanni Battiſta, ital.
Politiker (Senator) und Rechtslehrer (Straf⸗
recht), Schwiegerſohn Manzonis, Maſſa,
Mitte März (geb. 13. Mai 1818). Feſſelnder
Parlamentsredner, trefflicher lateiniſcher
Poet.
Ginſtiniani⸗Bandini, Fürſt Sigismund,
Herzog von Mondragone, Earl of Newburgh
(als ſolcher engl. Peer) ıc., Rom, 4. Aug.
(geb. 30. Juni 1818). 1848 mit der Rö.
miſchen Legion bei Vicenza, kehrte aber aus
perſönlicher Verehrung für Pius IX. nach
Rom zurück und widmete ſich fortan haupt ⸗
ſächlich der Gemeindeverwaltung.
Glafer Eduard, Orientaliſt, München,
7. Mai (geb. 15. März 1855). Durchforſchte
ſeit 1882 wiederholt Südarabien, beſonders
das ehem. Sabäerreich, deſſen Geſchichte er
durch zahlreiche Inſchriften⸗ und Manuffript-
funde aufhellte.
Blenedl, Sir Algernon Borthwick,
Journaliſt, London, 25. Nov. (geb. 27. Dez.
1830). Erſt Leiter, dann Beſitzer des Londoner
Blattes „Morning Poſt“, das ſich unter
ihm aus einem liberalen Organ zum vor⸗
Wiſſenſchaften, 1904 auch der Franz. Aka- nehmen Toryblatt entwickelte, Mitgründer
demie; Kenner der ital. Renaiſſance.
Gehlſen Joachim, Publiziſt (der
„Reichsglöckner“), Charlottenburg, 2. Febr.
(geb. 1841). 1870— 1876 Herausgeber des
Berliner Skandalblatts „Deutſche Reichs ⸗
glocke“, zur Flucht ins Ausland gezwungen,
1895 wieder in Berlin als Herausgeber der
„Stadtlaterne“.
Gersdorff Hans Otto v., preuß. Groß⸗
grundbeſitzer, ſeit 1900 Reichstagsabgeord⸗
neter (konſervativ), Schloß Bauchwitz (Poſen),
17. Okt. (geb. 10. Jan. 1864).
Gevaert Francois Auguſte, belg.
Muſikgelehrter, Brüſſel, 24. Dez. (geb. 31. Juli
1828). Erhielt mit 16 Jahren den Prix
de Rome, wurde 1867 Muſikdirektor der
Großen Oper zu Paris, ſeit 1871 Direktor
des Brüſſeler Konſervatoriums, das er gründ-
lich reformierte.
Gilman Daniel Coit, erſter Präſident
(1875-1901) der John Hopkins⸗Univerſität
in Baltimore,
der „Primroſe Liga“, 1885 —1895 Parla:
mentsmitglied, 1887 geadelt, 1895 Peer.
Goldfaden Abraham, Dramatiker,
Schöpfer des jüdiſchen Jargontheaters, auch
Volksliederdichter, Neuyork, Mitte Jan.
(geb. 1847).
Golz Guſtav Adolf v., preuß. General,
Homburg v. d. H., 19. Juli (geb. 14. Ang.
1833). 1852 Pionieroffizier, im Krieg von
1870 / 71 im Großen Hauptquartier, 1888
bis 1897 Chef des Ingenieur- und Bionier:
korps und der Feſtungen, Schöpfer der
Verkehrstruppen; 1893 General der Sn:
fanterie, 1896 erblich geadelt.
Gitt Emil, Dichter, Verfaſſer des Luft-
ſpiels „Verbotene Früchte“ (ſpäter „Der
Schwarzkünſtler“ umbenannt) ꝛc., Frei⸗
burg i. Br., 13. April (geb. 13. Mai
1864).
Gitte Athanaſius, feit 1874 Mit-
glied des Franziskanerordens (1881 Prieſter),
ſeit 1902 des Carnegie: | feit 1882 in China, 1905 Titularbiſchof von
IX. Totenſchau.
Lampa und Apoftol. Vilar von Rord-Schenfi,
Ginganfu, 29. März (geb. 11. April 1857).
Göttmenn Karl, Bibliophile, Vizedirek⸗
tor der k. k. Hofbibliothek in Wien, daſelbſt,
25. Okt. (geb. 13. Jan. 1845).
Gottwald Benedikt, ein Großneffe
von Alban Stolz, Benediktiner (ſeit 1866)
in Engelberg, ſeit 1900 Spiritual des Do⸗
minikanerinnenkloſters in Wil bei St Gallen,
daſelbſt, 22. Febr. (geb. 21. Jan. 1845).
Hervorragender Kanzelredner und Gelehrter.
Götze Auguſte, weimar. Kammer-
ſängerin, Leipzig, 29. April (geb. 24. Febr.
1840). Nach Konzertreiſen Lehrerin am
Dresdener (1870 — 1889) und Leipziger Kon ⸗
ſervatorium (1891 — 1895); auch Bühnen.
dichterin.
Griffin, Sir Lepel Henry, engl. Schrift ⸗
ſteller, London, 9. März (geb. 1840). 1860
bis 1885 im Zivildienſt Britiſch⸗Indiens,
über das er wertvolle Arbeiten lieferte;
Begründer der Asiatic Quarterly Review.
Grobeder Auna, 1858 —1871 Operetten ⸗
fängerin in Wien (Karltheater), die beliebte
Vertreterin aller Offenbachſchen Heldinnen,
Klagenfurt, 26. Sept. (geb. 27. Juli 1829).
Grospellier Alexandre, Kanonikus,
Redakteur der Revue du chant grégorien,
bedeutender Choralgelehrter, Mitglied der
päpſtlichen Choralkommiſſion und Konſultor
der Ritenkongregation, Rom, 14. Juli (geb.
7. Okt. 1856).
Grube Wilhelm, Sinolog, ſeit 1892
außerord. Prof. für orientaliſche Sprachen
an der Univerſität Berlin, Halenſee, 3. Juli
(geb. 17. Aug. 1855).
Guadalla Fernando, erwählter Prä⸗
ſident von Bolivia, La Paz, 24. Juli (zwölf
Tage vor dem Amtsantritt).
Güldenpfennig Arnold, Geh. Baurat
und Dombaumeiſter in Paderborn, daſelbſt,
23. Sept. (geb. 13. Dez. 1830). Hervor⸗
ragender Gotiker, Meiſter auf dem Gebiet
der Reſtaurationsarbeiten (Dom von Baber-
born ꝛc.).
Haas Adolf, Mitbeſitzer des Literari⸗
ſchen Inſtituts von Haas u. Grabherr in
Augsburg, daſelbſt, 4. Sept. (geb. 29. Juni
1844). Urſprünglich Rechtsanwalt, ſeit 1871
in der Redaktion der „Augsburger Poſt
439
zeitung“, ſeit 1887 deren Verleger; ein
Menſchenalter hindurch die Seele der kathol.
Bewegung in Schwaben.
Haas Johannes Hubertus de, holl.
Tiermaler, Königswinter, Anfang Auguſt
(geb. 25. März 1832).
Habicht Ludwig, populärer Roman-
ſchriftſteller, Amalfi, Ende Dez. (geb. 23. Juli
1830). Seit 1881 in Italien.
Haidacher Sebaſtian, Dr theol.,
Dekan und Prof. der Kirchengeſchichte an
der theologiſchen Fakultät in Salzburg,
fürſterzbiſchöflicher Konſiſtorialrat, München,
27. Juli (geb. 7. Jan. 1866). Bedeutender
Chryſoſtomusforſcher.
Halevy Ludovic, franz. Romanſchrift
ſteller und Dramatiker, Neffe des berühmten
Opernkomponiſten, Paris, 8. Mai (geb.
1. Jan. 1834). Verfaßte (bis 1892) mit
Meilhac zahlreiche Poſſen, Operettentexte
(beſonders für Offenbach) ꝛc., allein humo⸗
riſtiſch⸗ſatiriſche Zeitbilder, Kriegserinne⸗
rungen und belletriſtiſche Arbeiten; ſeit 1884
Mitglied der Franz. Akademie.
Hallgarten Charles L., Bankier und
Philanthrop, Frankfurt a. M., 19. April
(geb. 18. Nov. 1838). Gründer oder Mit:
begründer vieler Wohlfahrtseinrichtungen
für alle Konfeſſionen, hochherziger Wohl⸗
täter ſeiner jüdiſchen Glaubensgenoſſen in
Rußland.
Hanauer A., Ehrendomherr Prof., ſeit
1882 Archivar und Bibliothekar der Stadt
Hagenau, daſelbſt, 23. Aug. (geb. 1828).
Vorzüglicher Kenner der alten elſäſſ. Kultur
geſchichte, wiederholt von der Franz. Akademie
preisgekrönt.
Häniſch Karl Ed. v., preuß. General
der Kavallerie z. D., Ritter des Schwarzen
Adlerordens, 1889 —1897 kommandierender
General des IV. Armeekorps, Charlotten:
burg, 5. Sept. (geb. 4. Jan. 1829).
Harcourt Henri Herzog v., Paris,
17. Mai (geb. 1. Aug. 1864).
Hardonin Viktor, franz. Journaliſt,
Montigny (Vogeſen), 18. Aug. (geb. 25. Okt.
1846). Seit 1897 Chefredakteur des Pariſer
Matin, für den er täglich die Propos
d'un Parisien, geiſtreiche Gloſſen über
Tagesfragen, lieferte.
440
Harrach, Gräfin Maria Therefia,
geborene Prinzeſſin von Thurn und Taxis,
zweite Gemahlin (1878) des Grafen Johann
H., letzte Oberſthofmeiſterin der Kaiſerin
Eliſabeth, ſpäter mit den gleichen Funktionen
am kaiſerl. Hofe betraut, Bruck a. d. Leitha,
20. Aug. (geb. 7. Jan. 1856).
Harris Joel Chandler, amerik.
Schriftſteller, eigenartiger Schilderer („Uncle
Remus“) des Negerlebens in Georgia, At⸗
lanta, 3. Juli (geb. 8. Dez. 1840).
Haffe Ernſt, Prof. Dr phil., Statiſtiker
und Politiker, Leipzig, 11. Jan. (geb. 14. Febr.
1846). Erſt Offizier, 1875 Direktor des
Statiſtiſchen Amts in Leipzig, ſeit 1886
zugleich außerord. Prof. an der Univerſität;
ſeit 1893 Vorſitzender des Alldeutſchen Ver⸗
bands, 1893— 1903 im deutſchen Reichstag
(extrem · nationalliberal).
Hauvette Amé dé e, franz. Graͤziſt, Prof.
für griech. Poeſie an der Sorbonne, Paris,
1. Febr. (geb. 10. Jan. 1856).
Haverland Anna, Tragödin, Blaſewitz,
3. Juli (geb. 8. Jan. 1851). Vertreterin
des Heldenfachs (Antigone, Iphigenie ꝛc.),
eine Hauptkraft der Meininger, zuletzt (bis
1899) Mitglied des Kgl. Schauſpielhauſes
in Berlin; auch Dichterin und Novelliſtin.
Ihr Arm diente Prof. Schilling als Modell
für die Germania des Niederwalddenkmals.
Headlam Walter George, Prof. der
griech. Sprache und Literatur an der Uni⸗
verfitit Cambridge (England), daſelbſt,
21. Juni (geb. 15. Febr. 1866).
Hebert Erneſt, franz. Genre. und
Bildnismaler, La Tronche (Depart. Iſere),
5. Nov. (geb. 3. Nov. 1817). 1867—1873
und 1885 — 1891 Direktor der Franz. Aka⸗
demie in Rom, ſeit 1874 Mitglied der
Kunſtakademie in Paris; wählte meiſt ital.
Stoffe.
Heckel Emil, Kunſt⸗ und Muſikalien⸗
händler, Freund Richard Wagners und Be⸗
gründer der deutſchen Wagnervereine, Mann⸗
heim, 29. März (geb. 1831).
Hedberg Frans Teodor, ſchwed.
Dichter, Stockholm, 10. Juni (geb. 2. März
1828). 1871 gl. Opernintendant, 1881—1883
Direktor des Göteborger Theaters, dann
Schriftſteller (über 80 Dramen und viele
IX. Totenſchau.
Überſetzungen, auch Gedichte, Novellen und
literarhiſtoriſche Abhandlungen).
Hedde Fritz, Advokat, der nach dem
unglücklichen Ausgang der ſchleswig⸗holſtein.
Befreiungskriege 1853 nach Amerika aus-
wanderte und die Stadt Grand Island
(Nebraska) gründete, daſelbſt, 7. März (geb.
1817). Einflußreicher Politiker des ameril.
Weſtens.
Hegumegi-Rig Aron v., reform. (hel vet.)
Biſchof in Debreczin, Mitglied des ungar.
Magnatenhauſes, Debreczin, 30. Mai
(geb. 2. Nov. 1815).
Held Franz ſ. Herzfeld.
Held Theodor, Schriftſteller, Erlau
(Böhmen), 4. Febr. (geb. 13. Juni 1822).
Ein Führer in den Berliner Freiheitskämpfen
von 1848, nach ſechsjähriger Feſtungshaft
induſtriell tätig in Böhmen, Verfaſſer von
Gedichten und Biographien (beſonders der
des Komponiſten Rob. Franz).
Helldorf Otto Heinrich v., preuß.
Kammerherr, Rittergutsbeſitzer und Politiker,
Schloß Bedra bei Neumark (Bez. Halle),
11. März (geb. 16. Aug. 1833). 1871—1874
und 1877—1892 Mitglied des Reichstags,
1884 des Staatsrats, 1890 des Herrenhauſes;
langjähriger Führer (bis 1892) der Deutſch⸗
konſervativen.
Hellmann Johann, Senatspräſident
des Oberſten Gerichts und Kaſſationshofes
in Wien, daſelbſt, 23. Dez. (geb. 1836).
Henckel v. Donnersmarck Hugo Graf,
Haupt der kathol. Linie der Familie, Brynneck⸗
Siemianowitz, 2. April (geb. 31. Juli
1832).
Henry Henry, kathol. Biſchof (ſeit 1895)
von Down und Connor (Irland), Belfaſt,
8. März (geb. 22. Mai 1846).
Herold Joſeph, Dr iur., Rechtsanwalt
und Parlamentarier, einflußreiches Mitglied
der jungtſchech. Partei, ſchroffer Verfechter
des tſchech. Staatsrechts, feit 1885 im Reichs ·
rat, Prag, 4. Mai (geb. 22. Okt. 1850).
Herries Marmaduke Conftable
Maxwell Baron, Peer von Schottland
und Großbritannien, das Haupt einer der
älteſten kathol. Familien des Landes, Evering-
ham Park bei Pork, 7. Okt. (geb. 4. Okt.
1837). Liberaler Unioniſt.
IX. Totenſchau.
Herzfeld Franz (Deckname: Franz Held),
Schriftſteller, ein Stürmer und Dränger des
jüngſten Deutſchland (Anhänger von Arno
Holz), ſeit 1890 in geiſtiger Umnachtung,
München, 4. Febr. (geb. 30. Mai 1862).
Heſch Wilhelm, öſterr. Kammerſänger
(Baſſiſt), ſeit 1895 Mitglied der Hofoper zu
Wien, daſelbſt, 4. Jan. (geb. 3. Juli 1860).
Oilbd Alexander, Bergwerksdirektor
und Parlamentarier, Dortmund, 15. Sept.
(geb. 17. Dez. 1841). 1898—1903 Mitglied
des Reichstags, ſeitdem des preuß. Landtags
(nationalliberal).
Hirſchhorn Fritz, Kommerzienrat,
Seniorchef der Tabakfabrik Julius Hirſchhorn,
Mitbegründer und Vorſitzender des Deutſchen
Tabakvereins, Mannheim, 3. Febr. (63 Jahre
alt).
Hlaͤrla Joſeph, Oberbaurat, Prag,
11. März (geb. 15. Febr. 1831). Freigebiger
Förderer der nationaltſchech. Beſtrebungen,
1883 im Reichsrat, 1891 im Herrenhaus;
Präſident der tſchech. Akademie der Wiſſen ;
ſchaften in Prag ſeit ihrer Gründung.
Hochſtraßer Kandid, ſchweiz. Advokat
und konſervativer Politiker, Willisau, 1. Jan.
(geb. 22. Nov. 1846). Führer der Luzerner
Bauern, ſeit 1881 Nationalrat.
Holleben Ernſt v., Kronſyndikus und
Kanzler im Königreich Preußen, Mitglied
des Herrenhauſes, Dr iur., Exz., Kaſſel,
24. April (geb. 8. April 1815). 1885 — 1899
Oberlandesgerichtspräſident in Königsberg;
verdient um die Organiſation des Roten
Kreuzes.
Holzhauſen Georg Frhr v., preuß.
Kammerherr, München, 4. März(geb. 11. März
1841). Bekannt als Beſitzer des großen
Parks ſeines Familienſtammgutes „die Ode“
im Norden von Frankfurt a. M. und durch
ſeine großen Jagdfahrten in Aſien, Afrika ꝛc.
Homeyer Paul, Orgelſpieler, Leipzig,
27. Juli (geb. 26. Okt. 1853). Organiſt des
Riedel⸗ und Bach⸗Vereins, dann am Leip⸗
ziger Gewandhaus und Lehrer am Kon:
ſervatorium.
Hönigl Dominik, infulierter Abt (feit
1868) des Stiftes Seitenſtetten und Senior
der Abte des Benediktinerordens, kaiſerl. Rat,
Seitenſtetten, 22. Sept. (geb. 9. April 1833).
441
Horny Anton, Prälat Dr theol., Dom⸗
dechant zu St Stephan in Wien, daſelbſt,
12. Okt. (geb. 28. April 1824). Früher
Prof. der Kirchengeſchichte an der ehem.
Univerſität Olmütz und in Wien.
Horſtmann Ignatius, BViſchof (ſeit
1891) von Cleveland (Ohio), Kanton, 13. Mai
geb. 16. Dez. 1840).
Hübſchmann Heinrich, ſeit 1877 Prof.
für vergleichende Sprachwiſſenſchaften in
Straßburg i. E., daſelbſt, 20. Jan. (geb.
1. Juli 1848). Hauptgebiete: Armeniſch
und Perſiſch.
Hughes Edward, engl. Bildnismaler,
London (Weſt⸗Kenſington), 14. Mai (79 Jahre
alt); bei den Damen der Ariſtokratie bevor-
zugt (Porträt der Königin Alexandra ꝛc.).
Hülſen⸗Haeſeler, Graf Dietrich v., Vor
tragender Generaladjutant des Deutſchen
Kaiſers und Chef des Militärkabinetts,
General der Infanterie, Exz., Donaueſchingen,
14. Nov. (geb. 13. Febr. 1852).
Huemer, P. Georg, O. 8. B., Mufit-
ſchriftſteller, ſeit 1874 Muſikdirektor des
Stifts Kremsmünſter, daſelbſt, 21. Jan.
(geb. 24. Juni 1837).
Ibbetſon, Sir Denzil, Leutnant-Gon-
verneur des Pandſchab (Oſtindien), über den
er mehrere wertvolle Werke ſchrieb, Lahor,
21. Febr. (geb. 30. Aug. 1847).
Ignatius, Pater, |. Lyne.
Iguatjew, Graf Nikolaj Pawlowitſch,
ruſſ. Staatsmann, St Petersburg, 3. Juli
(geb. 29. Jan. 1828). Skrupelloſer Diplomat,
der 1858 — 1860 China zur Abtretung des
Amurgebiets zwang, 1864 — 1876 als Ge⸗
ſandter in Konſtantinopel die türk. Regierung
ſeinem Willen beugte und zugleich die Balkan⸗
ſtaaten aufhetzte („Vater der Lüge“), nach
dem ruſſ.⸗türk. Krieg aber den Vertrag von
San Stefano (1878) nicht gegen die Mächte
durchſetzen konnte; als Miniſter des Innern
(1881—1882) Wiederherſteller des Abſolu⸗
tismus, ſeit 1888 Präſident der Slawiſchen
Wohltätigkeitsgeſellſchaft.
Inama⸗Sternegg Karl Theodor v.,
Geh. Rat Sektionschef Dr iur., Exz., Volks
wirt und Statiſtiker, Innsbruck, 29. Nov.
(geb. 20. Jan. 1843). 1868 Prof. in Inns⸗
bruck, 1880 in Prag, 1881 Leiter der ad⸗
442
miniſtrativen Statiſtik und Honorarprof. in
Wien, 1884 Präſident der Statiſtiſchen
Zentralkommiſſion, 1899 des Internationalen
Statiſtiſchen Inſtituts; ſeit 1877 Mitglied
der Akademie der Wiſſenſchaften in Wien,
ſeit 1891 im Herrenhaus. Als National-
ökonom Anhänger der hiſtoriſchen Schule
(Hauptwerk: „Deutſche Wirtſchaftsgeſchichte“,
3 Bde, 1879 — 1901), als Statiſtiker bahn-
brechend durch Einführung der elektriſchen
Maſchine zur Bearbeitung der Volkszählung
von 1890.
Jun und Knyphaufen Edzard erſter
Fürſt zu, Wirkl. Geh. Rat, Exz., Parla-
mentarier, Schloß Lütetsburg (Oſtfriesland),
16. Jan. (geb. 14. Dez. 1827). Bis 1878 Welfe
hannoverſcher Kammerherr), 1867 erbliches
Mitglied, ſeit 1904 Präſident des preuß.
Herrenhauſes, ſeit 1893 auch im Reichstag
(konſervativ), 1900 Fürſt; Befürworter der
Cumberlandſchen Nachfolge in Braunſchweig,
Gegner der Polenenteignung.
Juuje, Marquis, japan. Staatsmann,
Tokio, 5. Sept. (geb. 1836). Ein Führer
der Kaiſerpartei gegen das Schogunat, nach
deſſen Sturz wiederholt Miniſter und zu
auswärtigen Miſſionen verwandt, 1888
Gründer der erſten konſtitutionellen Partei
„Dſchidſchi“.
Ittenbach Max, Wirkl. Geh. Rat (Exz.)
Kronſyndikus Dr jur., Charlottenburg,
22. Okt. (geb. 18. April 1838). 1871 Ober-
prokurator in Metz, 1877 Vortragender Rat
im Reichsjuſtizamt. 1884 — 1900 General:
auditeur der Armee und Marine, 1885
Mitglied des Staatsrats, 1891 des Herren⸗
hauſes; verdient um die Reform der Militär⸗
gerichte und des Militärſtrafprozeſſes.
Jacsvacei Francesco, Direktor der
modernen Kunſtgalerie in Rom, daſelbſt,
27. Juni (70 Jahre alt). Sein Bild „Fall
der Republik Venedig“ erhielt die Goldene
Medaille.
Jacquet Achille, franz. Graveur, feit
1892 Mitglied der Kunſtakademie in Paris,
daſelbſt, 30. Okt. (geb. 28. Juli 1848).
Jahnke Hermann, Lehrer und Volks
ſchriftſteller, Begründer und Ehrenvorſitzender
des Deutſchen Lehrer ⸗Schriftſtellerbunds,
Pötzſcha bei Wehlen, Dez. (geb. 20. April 1845).
IX. Totenſchau.
Jambon Marcel, Dekorationsmaler,
Meiſter der Theatermalerei, Paris, 29. Sept.
(geb. 19. Okt. 1848).
Jan Hermann Ludwig v. (Deckname:
Herm. Ludwig), Kultur- und Muſikhiſtoriker
in Straßburg i. E., verunglückt am Kap
Pendennis (Scilly⸗Inſeln), 13. Okt. (geb.
22. Mai 1852).
Jauſſen Peter, Hiſtorienmaler, Düffel-
dorf, 19. Febr. (geb. 12. Dez. 1844). Beſter
Vertreter der hiſtor. Monumentalmalerei
(Fresken in der Bremer Börſe, Wandbilder
im Berliner Zeughaus ıc.), ſeit 1895 Direktor
der Düſſeldorfer Akademie.
Jefremow Peter Alexandrowitſch,
Literarhiſtoriker und Bibliograph, St Peters.
burg, 8. Jan. (geb. 1830). Beſitzer einer
wertvollen Privatbibliothek, Herausgeber von
Geſamtausgaben vieler ruſſiſchen Schrift-
ſteller, Mitglied der Petersburger Akademie
der Wiſſenſchaften.
Jenfen Otto, Geh. Juſtizrat, Parla
mentarier, Aurich, 7. Jan. (geb. 29. Aug.
1829). 1864 Leiter des Innern in der neu
gebildeten ſchleswig⸗holſtein. Regierung, Mit
glied des konſtituierenden Reichstags des
Norddeutſchen Bundes und des deutſchen
Reichstags (Partikulariſt), zuletzt Landgerichts.
direktor in Aurich.
Jeſup Morris Ketchum, Bankier und
Philanthrop, Neuyork, 19. Jan. (geb. 21. Juni
1830). Tatkräftiger Förderer von Kunſt und
Wiſſenſchaft, beſonders der Erforſchung der
nordamerik. Fauna und Flora und der Ethno-
logie, Hauptſtütze der amerik. Polarforſchung
(Peary).
Jonak v. Freyenwald Guſtav, öfterr.
General der Kavallerie, Landwehr ⸗Kavallerie⸗
inſpektor, Wien, 24. Febr. (geb. 2. Nov. 1841).
Jones William Weft, anglikan. Ery
biſchof von Kapſtadt und Metropolit von
Südafrika, Kapſtadt, 21. Mai.
ſcaiſer Auguſt, Prof. an der Landwirt ·
ſchaftlichen Landesmittelſchule in Oberherms⸗
dorf, ſeit 1888 im öſterr. Reichsrat (Deutfche
Volkspartei), zuletzt Vizepräſident des Ab⸗
geordnetenhauſes, Jauernig, 7. April (geb.
1850).
Karafin Nikolaj, ruff. Illuſtrator und
Schriftſteller, St Petersburg, 19. Dez. (geb.
IX. Totenſchau.
1842). Offizier, 1877—1878 Kriegsbericht ·
erſtatter, gewandter belletriſtiſcher Plauderer.
Karl (Carlos) I., König von Portugal,
ermordet Liſſabon, 1. Febr. (geb. 28. Sept.
1863). Folgte 1889 feinem Vater Ludwig l.,
überließ aber die Regierung ſeinen Mini⸗
ſtern; ſeit 1886 vermählt mit Prinzeſſin
Marie Amalie von Frankreich (Bourbon -
Orléans), Tochter des Grafen Ludwig Philipp
von Paris (geb. 28. Sept. 1865). Von ihren
zwei Söhnen wurde der ältere, Kronprinz
Ludwig Philipp (geb. 21. März 1887)
gleichzeitig ermordet, der jüngere, Infant
Manuel, beſtieg den Thron.
Karl Borwin, Herzog von Mecklenburg ⸗
Strelitz, der jüngſte Sohn des Großherzogs,
Ban-Saint Martin bei Metz, 24. Aug. (geb.
10. Okt. 1888).
Rarften Guſtav E., Sprachforſcher, Ur-
bana (Illinois), 28. Jan. (geb. 22. Mai
1859). Weſtpreuße, 1886 Prof. der mo⸗
dernen Sprachen an der Staatsuniverſität
von Indiana (Bloomington), ſeit 1906 an
der von Illinois; Begründer des Journal
of English and Germanic Philology (1896).
Kaufmann Fritz v., Rittergutsbeſitzer
und Reichstagsabgeordneter (ſeit 1898),
Hoſpitant der Nationalliberalen, Linden
bei Wolfenbüttel, 17. Juli (geb. 9. Jan.
1854).
Kaufmann Richard v., Geh. Regierungs-
rat Prof. Dr iur. et phil., Volkswirt, Char:
lottenburg, 12. März (geb. 29. März 1849).
1879 Prof. an der Techniſchen Hochſchule
Aachen, 1889 in Charlottenburg; auch
Archaͤolog.
Kelle Johann v., hervorragender Ger⸗
maniſt, ehem. ord. Profeſſor für deutſche
Sprache und Literatur an der deutſchen
Univerſität in Prag, Hofrat Dr phil., be:
kannt beſonders durch ſeine Arbeiten über
Notker und Otfrieds Evangelienbuch, 30. Nov.
(geb. 15. März 1829).
Keller Philipp, Gutsbeſitzer und (wild⸗
liberaler) Reichstagsabgeordneter (ſeit 1907),
Stein⸗Bockenheim, 20. Dez. (geb. 4. Sept.
1858).
Kette Hermann, Wirkl. Geh. Ober:
regierungsrat Dr jur., 18911902 Präſi⸗
dent der Generalkommiſſion in Kaſſel, auch
443
Bühnendichter, Steglitz, 29. Dez. (geb.
13. Febr. 1828).
Rielborn Franz, Sanskritiſt, Göttingen,
19. Marz (geb. 31. Mai 1840). 1866 bis
1881 Prof. in Buna (Provinz Bombay),
ſeit 1882 für indiſche Philologie in Göt⸗
tingen; Begründer der Bombay Sanskrit
Series (wichtige Sanskrittexte).
Riugfton Charles, auſtral. Staats:
mann, Sydney, 11. Mai (geb. 22. Okt.
1850). 1893 —1899 Premierminiſter von
Südauſtralien, 1901 — 1903 Bundeshandels⸗
miniſter, fortſchrittlich liberal.
ſeirchhoff Adolf, Geh. Regierungsrat
Dr phil., Philolog und Archäolog, ſeit 1865
Prof. an der Univerſität Berlin, daſelbſt,
27. März (geb. 6. Jan. 1826). Bahn⸗
brechend für die griech. Epigraphik durch
ſeine „Studien zur Geſchichte des griech.
Alphabets“ (1863) und die meiſterhafte Be⸗
arbeitung des Corpus inscriptionum atti-
carum (I 1873).
Rig Aron v. ſ. Hegymegi⸗Kiß.
Klammt Melchiora, ſeit 1886 General ⸗
oberin der Grauen Schweſtern, Breslau,
29. März (geb. 7. Febr. 1842).
Klein Max, Bildhauer, Grunewald.
6. Sept. (geb. 21. Jan. 1847). Von ihm
ſtammen u. a. eine Giebelgruppe am Reichs⸗
tagsgebäude, Fürſt Bismarck und v. Helm-
holtz in der Berliner Nationalgalerie und
der Marmorbrunnen vor dieſer.
Klein Wilhelm, Wirkl. Geh. Regierungs⸗
rat Dr iur., Vianden, 22. Aug. (geb. 15. Juli
1834). 1862— 1877 Rechtsanwalt, dann bei
der Rheiniſchen Provinzialverwaltung, 1882
bis 1903 Landesdirektor bzw. Landeshaupt ⸗
mann; Mitglied des Herrenhauſes. Seit
Anfang 1908 ſtellvertretender Vorſitzender
des Vereins vom heiligen Lande, wohin er
1907 eine Pilgerfahrt geleitet hatte.
Klinkhardt Robert Julius, Verlags⸗
buchhändler, Seniorchef der Firma Julius
Klinkhardt in Leipzig, daſelbſt. 6. März
(geb. 16. Jan. 1841).
Klönne Auguſt, Fabrikbeſitzer (Gas⸗
techniker) und Pferdezüchter, der das bedeu⸗
tendſte Geſtüt Weſtfalens (Unna) und eine
Flachrennbahn in Hoppegarten unterhielt,
Unna, 30. Dez. (geb. 21. Aug. 1849).
444
Knorr Joſephine Freiin v., öſterr.
Dichterin, Schloß Stiebar (Niederöſterreich),
30. Mai (geb. 16. April 1827). Ihre lyriſchen
Dichtungen zeigen einen melancholiſch⸗ſchwär⸗
meriſchen Grundton.
ſcuswles Sir James, engl. Journaliſt,
Brighton, 13. Febr. (geb. 13. Okt. 1831).
Urſprünglich Architekt (Tennyſons Schloß
Aldworth, Kenſington Houſe ꝛc.), 1870 bis
1877 Herausgeber der Contemporary Re-
view, dann Gründer und Redakteur des
Nineteenth Century; 1869 Gründer der
Metaphysical Society.
Kaderle Juſtus, Dr theol., ſeit 1904
Prof. für altteſtamentliche Exegeſe und jü-
diſche Religionsgeſchichte zu Roſtock, daſelbſt,
7. Febr. (geb. 27. Juni 1871).
Komarow Wiſſarion W., ruff. Publi⸗
gift, St Petersburg, 4. Jan. (geb. 1838).
Extremer Panſlawiſt, Feind der ruff. Frei⸗
heitsbewegung, Deutſchenhaſſer, Gründer
und Chefredakteur des „Swjet“, der erſten
billigen Tageszeitung in Rußland.
Rranjtevié Silvije, ber bedeutendfte
zeitgenöſſiſche Dichter der Kroaten, Prof.
an der Lehrerbildungsanſtalt in Sarajevo,
daſelbſt, 29. Okt. (geb. 1863). Urſprünglich
Theolog (in Rom), dann Lehrer, ſeit 1886
in Bosnien; ſeine Dichtungen (1885 und
1898) tragen peſſimiſtiſchen Charakter.
Krasnopolski Horaz, Hofrat Dr iur.,
Prof. des Zivilrechts an der Deutſchen Uni⸗
verſität Prag, Gmunden, 28. Aug. (geb.
8. Nov. 1842).
Kraſſelt Alfred, großherzogl. ſächſ.
Konzertmeiſter, auf Kunſtreiſen gefeierter
Geigenvirtuos, Weimar, 27. Sept. (geb.
3. Juni 1872).
Kraſtel Friedrich, Hofſchauſpieler und
Regiſſeur am Burgtheater in Wien, da⸗
ſelbſt, 12. Febr. (geb. 6. April 1839). Erſt
Theolog, dann Ballettänzer, zuletzt Helden⸗
darſteller, das Prototyp des romantiſchen
Liebhabers der pathetiſchen Schule; auch
Bühnendichter.
Kretihmer Edmund, Hofrat Prof.,
Komponiſt, Dresden, 13. Sept. (geb. 31. Aug.
1830). 1863 Hoforganift, 1880 — 1900 Diri⸗
gent an der Dresdener Hofkirche; ſchuf neben
zahlreichen kirchlichen Kompoſitionen auch
II. Totenſchau.
Bühnenwerke, beſonders „Die Folkunger“
(1874).
Kruſe Georg (Deckname: F. Sileſins),
Bühnenſchriftſteller, Berlin, 19. Dez. (geb.
13. Okt. 1830). Gründer des Berliner
Thalia, ſpäter Leiter des Nationaltheaters;
fruchtbarer Theaterdichter (beſonders patrio⸗
tiſche Volksſtücke).
Kuang Hf, Kaiſer von China, vorher
Tſaitikn, Peking, 14. Nov. (geb. 2. Aug.
1872). Folgte 1875 ſeinem Vetter Tungtſchi,
bis 1889 unter Vormundſchaft ſeiner Mutter
(Tzean) und Tante (Tſe Hſi), dann ſelbſtändig,
aber unter ſtarken Einſchränkungen. Die
extremen Reformen, zu denen ihn 1896
Kangjuwei überredete, veranlaßten Te Hſi
1898, die Regierung wieder ſelbſt in die
Hand zu nehmen; ſeither führte er ein
Schattendaſein.
gühſchelm Joſeph, Geiſtl. Rat, Dechant
und Pfarrer in Guntersdorf (Niederöſter⸗
reich), Reichsratsabgeordneter chriſtlichſoziah,
Guntersdorf, 11. Febr. (geb. 27. Juli 1855).
Künzli Arnold, ſchweiz. Offizier und
Politiker, Murgental, 9. Nov. (geb. 20. Juni
1832). 1875 Oberſtbrigadier, 1904 Rom:
mandant des IV. Armeekorps; ſeit 1864
Nationalrat, 1880 und 1890 eidgenöſſiſcher
Kommiſſär im Teſſin, Vertreter auf der
erſten Friedenskonferenz und bei allen
Handelsvertragsverhandlungen der letzten
Zeit; Führer der radikaldemokratiſchen,
ſpäter freifinnig-bemofratifden Partei.
RKvicala Johann, Hofrat Prof. Dr phil.,
tſchech. Philolog, Pottenſtein, 10. Juni
(geb. 6. Mai 1834). 1860 — 1905 Prof. der
klaſſiſchen Philologie an der tſchech. Uni⸗
verſität Prag, Mitglied der Akademie der
Wiſſenſchaften zu Wien und Prag; tüchtiger
Textkritiker.
Laink Armand, franz. Juriſt, feit
1879 Prof. für internationales Privatrecht
an der Pariſer Univerſität, Vertreter Frank⸗
reichs bei den Haager Privatrechtkonferenzen
von 1900 und 1904, Paris, 17. Nov. (geb.
10. Okt. 1841).
Lambeanx Jef, belg. Bildhauer, Brüſſel,
6. Juni (geb. 13. Febr. 1852). Meiſter der
Körperbehandlung, virtuoſer Realiſt, kühn
bis zur Zügelloſigkeit; viele Werke auf den
IX. Totenſchau.
öffentlichen Plätzen von Brüſſel, Ant⸗
werpen 2c.
Samberg Hubert, Reichsgraf v., Oberft-
erblandkämmerer und -jagermeifter in Oſter
reich ob der Enns ꝛc., Grande von Spanien
1. Klaſſe, Magnat von Ungarn, Oberndorf,
21. Dez. (geb. 12. Aug. 1848).
Saudau Wilhelm Frhr v., Dr phil.,
Forſchungsreiſender (Weltreiſe 1879—1887)
und tatkräftiger Förderer der orientaliſchen
Wiſſenſchaften (Ausgrabungen auf den Phil ⸗
ippinen und in Vorderaſien), Mitbegründer
der Vorderaſiat. Geſellſchaft, Berlin, 17. Nov.
(geb. 13. Sept. 1848).
Sandelle Charles, franz. Maler (haupt
ſächlich religidfe Bilder), Chennevieres · ſur ·
Marne, 13. Okt. (geb. 2. Juni 1821).
Sange Johannes, Kirchenmaler in
Aachen, daſelbſt, 19. April (geb. 25. März
1823). Zuerſt Landſchafts⸗, dann Figuren-
maler, der zahlreiche glaubensinnige Altar
werke und Kreuzwegbilder geſchaffen hat.
Sanger Edmund, Prieſter und Schloß
archivar in Tetſchen (Böhmen), bekannt durch
ſeine kirchenmuſikaliſchen Schriften, Tetſchen,
21. Sept. (geb. 3. April 1834).
Langguth Adolf, Dr phil., Bibliothekar
an der Kgl. Bibliothek in Berlin, Verfaſſer
zahlreicher pädagogiſcher, literarhiſtoriſcher
und biographiſcher Werke, Berlin, 6. Febr.
(geb. 10. Sept. 1851).
Sa Rodefoucauld Soſthene Graf v.,
Herzog von Doudeauville und Biſaccia,
Schloß Bonnetable (Depart. Sarthe), 27. Aug.
(geb. 1. Sept. 1825). Führer der Mon-
archiſten, 1871-1898 Deputierter, 1873
Botſchafter in London, welchen Poſten
er aber bald aufgab, um die Wiederher⸗
ſtellung der Monarchie in der Kammer zu
beantragen.
8˙Arronge Adolf, Schriftſteller, Ron:
ſtanz, 25. Mai (geb. 8. März 1838). Ham⸗
burger, zuerſt Opernkapellmeiſter, 1866
Theaterdirektor in Breslau, 1883 Gründer
und (bis 1894) Leiter des „Deutſchen Thea⸗
ters“ in Berlin; fruchtbarer und erfolgreicher
Theaterdichter, deſſen halb humoriſtiſche halb
ſentimentale Volksſtücke „Mein Leopold“,
„Haſemanns Töchter“, „Doktor Klaus“ u. a.
heute noch zugkräftig ſind.
445
Saflen B., Journaliſt und dan. Finanz ⸗
miniſter (ſeit 1905), Kopenhagen, 6. April;
Freihandelsagrarier.
Secot Victor, Kardinal (feit 1893),
Chambery, 19. Dez. (geb. 3. Jan. 1831),
1870/71 Felbkaplan, 1886 Biſchof von Dijon,
1890 Erzbiſchof von Bordeaux; verſöhnlicher
Geiſt, der zwiſchen dem Vatikan und der
Republik zu vermitteln ſuchte, ſtarb auf der
Rückreiſe von Rom, wo er ſich Inſtruktion
geholt hatte, zu einer Biſchofsverſammlung
in Lyon.
Seiftifow Walter, Prof., Landſchafts⸗
maler, Schlachtenſee bei Berlin, 24. Juli
(geb. 25. Okt. 1865). Ein Begründer der
Berliner Sezeſſion, deſſen dekorative Auf:
faſſung am beſten die zahlreichen Bilder aus
der märkiſchen Landſchaft zeigen (der „Grune⸗
waldmaler“); daneben lieferte er auch tunft-
gewerbliche Entwürfe.
Seitner Franz Xaver, Dr theol.,
Prälat und Domkapitular, ehem. General:
vikar des Biſchofs Ignatius von Seneſtrey,
deſſen Hirtenbriefe er inſpirierte, Regens⸗
burg, 2. Juni (geb. 5. Jan. 1844).
Lepel-Gnig Bruno v., preuß. Rammer:
herr und Intendant des Kgl. Theaters in
Hannover, Berlin, 11. Juni (geb. 16. Juli
1843).
Seffing Julius, Geh. Regierungsrat
Prof. Dr, Kunſtſchriftſteller, Berlin, 14. März
(geb. 20. Sept. 1843), Mitbegründer (1867)
und Direktor (ſeit 1872) des Berliner Runt:
gewerbemuſeums, 1871 — 1897 zugleich Prof.
an der Techniſchen Hochſchule; bei mehreren
Weltausſtellungen umfaſſend tätig.
Revien Il ſe, bekannter unter dem Na:
men Frapan⸗Akunian, Schriftſtellerin,
Genf, 2. Dez. (Selbſtmord; geb. 3. Febr.
1852). Urſprünglich Lehrerin, realiſtiſche
Erzählerin (Romane, Novellen), doch zu⸗
nehmend nervös und haſtig, Verfechterin
der Frauenemanzipation.
Levyſohn Arthur, Journaliſt, 27 Jahre
lang (bis 1906) Chefredakteur des „Ber⸗
liner Tageblatts“, Meran, 11. April (geb.
23. März 1841).
Levyſohn Ulrich, langjähriger Direktor
des „Berliner Börſen - Courier”, Berlin,
17. Okt. (geb. 22. Mai 1846).
446
Sewal Jules Louis, franz. General,
1885 Kriegsminiſter, Senlis, 22. Jan. (geb.
13. Dez. 1823); bedeutender Taktiker.
Seydet Victor, franz. Parlamentarier,
1881 in der Deputiertenkammer, 1897 im
Senat, 1906 deſſen Vizepräſident, Paris
21. Okt. (geb. 3. Juli 1845); radikaler
Parteiführer.
Lie Jonas, norweg. Schriftſteller, Kri⸗
ſtiania, 5. Juli (geb. 6. Nov. 1833). Erſt
Rechtsanwalt, nach geſchäftlichen Mißerfolgen
Journaliſt und Schriftſteller, als ſolcher ge⸗
mäßigter Anhänger der realiſtiſchen Schule,
der aber auch die Traum⸗ und Märchen⸗
ſtimmung der Nordlandnatur trefflich zu
ſchildern verſtand; die meiſten feiner Ro⸗
mane und Erzählungen ſind ins Deutſche
überſetzt.
Liechtenſtein Rudolf Fürſt von und
zu, Herzog von Troppau und Jägerndorf,
Erſter Oberſthofmeiſter und beauftragter
Oberſtſtallmeiſter des Kaiſers von Oſterreich,
Geh. Rat und Kämmerer, Oberſt ſämtlicher
Leibgarden, General der Kavallerie, erb⸗
liches Herrenhausmitglied, Schloß Kromau
(Mähren), 15. Dez. (geb. 18. April 1838).
Eine der glänzendſten und liebenswürdigſten
Erſcheinungen des Wiener Hoflebens; mit
ihm ſtirbt die zweite Linie des fürſtlichen
Hauſes im Mannesſtamm aus.
Linjewitſch Nikolaj, ruff. General,
St Petersburg, 21. April (geb. 24. Nov.
1838). 1900 Führer der Verbündeten bei der
Befreiung der europäiſchen Geſandtſchaften
in Peking, im ruſſ.⸗japan. Krieg Kommandeur
der I. Armee, 1905 Kuropatkins Nachfolger
im Oberkommando, ohne daß er noch Ge⸗
legenheit zu größeren Operationen gefunden
hätte. .
Linluihgew John Adrian Louis
Hope Marquis v., engl. Staatsmann, der
erſte Generalgouverneur von Auſtralien
(1900 — 1902), Hopetoun Houſe (Schottland),
29. Febr. (geb. 25. Sept. 1860).
Lippe, Prinz Leopold zur, preuß.
Generalleutnant & la suite der Armee, Hei ⸗
delberg, 28. Jan. (geb. 12. Mai 1846).
Lippe⸗Weißenfeld, Graf Arnold zur,
Dr theol., fürſterzbiſchöflicher Konſiſtorialrat
II. Totenſchau.
(geb. 21. Aug. 1842). Verdient um das
katholiſche Vereinsleben Wiens.
Lob Otto, lange Muſikdirigent in Chi⸗
cago, Komponiſt beliebter Kommersbnuch⸗
lieder (Filia hospitalis, Aura acade-
mica), Neckargemünd, 11. Sept. (74 Jahre
alt).
Lobkswitz Georg Chriſtian Fürſt v.,
Haupt der jüngeren Linie, öſterr. Staats:
mann, Geh. Rat, Prag, 21. Dez. (geb. 14. Mai
1835). Juriſt, 1865 im böhm. Landtag,
1873 im Reichsrat, 1883 erbliches Mitglied
des öſterr. Herrenhauſes, 1871 und 1883
bis 1907 Oberſtlandmarſchall in Böhmen;
kathol.⸗konſervativer Tſchechenführer.
Lobkowitz Rudolf Prinz, Geh. Rat
und Kämmerer, erbliches Mitglied des un-
gar. Magnatenhauſes, Feldzeugmeifter, Wien,
9. April (geb. 16. Aug. 1840).
Secella Wilhelm Baron, ital. Dante:
Forſcher, Vizekonſul in Dresden, Mailand,
10. Juni (geb. 26. Jan. 1848).
Lok Walter Frhr v., preuß. General -
feldmarſchall (ſeit 1904), Exz., Bonn, 6. Juli
(geb. 9. Sept. 1828). 1848 Offizier, 1861
Flügeladjutant des Königs, 1880 General:
adjutant, 1884 — 1895 kommandierender Ge⸗
neral des VIII. Armeekorps, 1886 General der
Kavallerie, 1893 Generaloberſt, 1895 — 1897
Oberbefehlshaber in den Marken; 1901 Mit⸗
glied des Herrenhauſes, 1893 und 1903
Spezialgeſandter an den Papſt.
Loritz Joſeph, Kammerſänger, München,
27. Dez. (geb. 14. Aug. 1869). Schüler von
Eugen Gura, populär in den deutſchen Konzert
ſälen, mit faſt beiſpielloſem Stimmumfang;
auch Geſangspädagog.
Sucanus Hermann v., Dr iur. et med.,
Wirkl. Rat und Geh. Kabinettsrat, Exz.,
Potsdam, 3. Aug. (geb. 24. Mai 1831).
Juriſt, 1881 Unterſtaatsſekretär im Kultus⸗
miniſterium, 1888 Chef des kaiſerl. Geh.
Zivilkabinetts (gleichzeitig geadelt), Domherr
von Merſeburg.
Luca Pauline, verw. Baronin
v. Wallhofen, Kammerſängerin (Sopran),
Wien, 28. Febr. (geb. 25. April 1844).
1861—1872 gefeierte Primadonna der Ver:
liner Hofoper, dann auf ausgedehnten Gaft-
und Domkapitular in Wien, daſelbſt, 3. Okt. ſpielreiſen, zuletzt in Wien (Geſangmeiſterin),
IX. Totenſchau.
verband prächtige Stimmittel mit hinreißen-
der Leidenſchaft des Ausdrucks.
Sudaire Achille, franz. Hiſtoriker,
Paris, 13. Nov. (geb. 24. Okt. 1846). Seit
1889 Prof. für mittelalterliche Geſchichte an
der Sorbonne, 1895 Mitglied der Akademie
der Wiſſenſchaften; erhielt kurz vor ſeinem
Tod den Prix Jean Reynaud (10 000 Fr.)
für fein ſechsbäͤndiges Werk über Inno⸗
zenz III.
Liber’ Hermann, Maler und Schrift⸗
ſteller, Großlichterfelde, 27. Nov. (geb. 25. Nov.
1836). Begleiter des Kronprinzen Albert von
Sachſen auf den Feldzügen von 1866 und
1870 / 71, dann der drei Deutſchen Kaiſer
auf vielen Reiſen; geſchätzter Mitarbeiter
für illuſtrierte Zeitungen.
Ludwig Philipp, Kronprinz von Portu-
gal, |. Karl I.
Zuſſezewska Jadwiga (Deckname: Deo-
tyma), poln. Dichterin, Warſchau, Sept.
(geb. 1834). Begleitete als junges Mädchen
ihren Vater in die Verbannung nach Sibi⸗
rien, ſeit 1865 in Warſchau, wo ihr litera⸗
riſcher Salon berühmt war; die Stoffe zu
ihren Epen, Romanen ꝛc. entnahm ſie der
Geſchichte Polens.
Syne Joſeph Leiceſter, der als
„Pater Ignatius“ bekannte Vorkämpfer der
Mönchsidee im anglikan. England, Camber⸗
ley, 16. Okt. (geb. 23. Nov. 1837).
Machswel Edward Alexander,
amerik. Komponiſt und Pianiſt, 1896 bis
1904 Prof. der Muſik an der Columbia⸗
Univerſität in Neuyork, daſelbſt, 24. Jan.
(geb. 18. Dez. 1861); Förderer nationaler
Kunſtbeſtrebungen.
Magnuſſen Harro, Bildhauer, Grune:
wald, 3. Nov. (geb. 14. Mai 1861). Schüler
von R. Begas, ſchuf zahlreiche Denkmäler,
Porträtbuͤſten zc.
Maignan Albert, franz. Hiftorien-
maler. St-⸗Prix (Depart. Seine ⸗et⸗Oiſe),
28. Sept. (geb. 15. Dez. 1844). Urſprüng⸗
lich Juriſt, dann Schüler von Laurens,
Schöpfer des Plafonds und der Panneaus
in der „Komiſchen Oper“ zu Paris.
Malet, Sir Edward, brit. Diplomat,
Chorley Wood (Hertſhire), 29. Juni (geb.
10. Okt. 1837). 1868 — 1870 Botſchafts⸗
447
ſekretär in Paris, als welcher er das engl.
Friedensvermittlungsangebot überbrachte
und die Zuſammenkunft Bismarcks mit Jules
Favre herbeiführte, 1878/79 bevollmächtigter
Miniſter in Konſtantinopel, 1880 — 1882 in
Kairo, 1884 —1895 Botſchafter in Berlin;
engl. Vertreter auf der Kongokonferenz,
1900—1906 Mitglied des Haager Schieds-
gerichtshofs.
Malsburg Hans von der, Dr jur.,
Wirkl. Geh. Rat (Exz.), Rittergutsbeſitzer
auf Eſcheberg, preuß. Kammerherr, Vize⸗
marſchall der altheſſ. Ritterſchaft, Mitglied
des Herrenhauſes, Kaſſel, 30. Jan. (geb.
5. Juni 1831).
Manau Jean Pierre, ehem. General:
prokurator am franz. Kaſſationshof, Vernon,
2. Febr. (geb. 1822).
Mauga Bell, „König“ der Duala (Fa⸗
merun), Sohn und Nachfolger (1897) des
bei der deutſchen Beſitzergreifung regierenden
Oberhäuptlings Bell, in England erzogen
und getauft, den Deutſchen geneigt, Duala,
2. Sept. (geb. 1855). Nachfolger ſein in
Ulm ausgebildeter Sohn Rudolf Bell.
Marchefi Salvatore, eigentlich Sal⸗
vatore de Caſtrone, Marcheſe della Rajate,
Konzertſänger und Geſangspädagog, Paris,
20. Febr. (geb. 15. Jan. 1822). Urſprüng⸗
lich Offizier der neapolitan. Nobelgarde,
dann Juriſt, 1852 vermählt mit der Sängerin
Mathilde Graumann, mit der er Kunſtreifen
machte und dann in Wien, Köln und Paris
wirkte; überſetzte R. Wagners „Tannhäuſer“,
„Lohengrin“ und „Fliegenden Holländer“
ins Franzöſiſche.
Marty Georges, franz. Komponiſt,
Paris, 11. Okt. (geb. 16. Mai 1860). Her⸗
vorragendes Inſtrumentationstalent, 1900
Dirigent der Komiſchen Oper, 1903 der
Konſervatoriumskonzerte; komponierte außer
einer Oper Orcheſterwerke, Klavierſtücke,
Lieder.
Marukjeuls Emile, franz. Staats-
mann (radikal), ſeit 1889 Deputierter, 1898
Handels, 1902— 1905 Arbeitsminiſter, Triou⸗
lou (Depart. Aveyron), 22. Okt. (geb. 4. Aug.
1837).
Matavulj Simon, ſerb. Dichter, Bel:
grad, 4. März (geb. 1852). Schildert be⸗
448
ſonders Typen und Sitten der Küſtenſerben; 8. Dez. (geb. 12. Nov. 1841).
Mitglied der Serb. Akademie.
Mathew, Sir James, engl. Lord⸗
Appellationsrichter (1901 — 1906), London,
9. Nov. (geb. 10. Juli 1830). Beliebter
Volksrichter.
Mathien Francois Défiré, franz.
Kurienkardinal, London, 26. Okt. (geb.
28. Mai 1839). Sohn eines lothring.
Pächters, 1863 Prieſter, 1893 Biſchof von
Angers, 1896 Erzbiſchof von Toulouſe, 1899
Kardinal; obſchon als Vertrauensmann der
franz. Regierung zum Purpur berufen, trat
er doch ſtets entſchieden für die Rechte der
Kirche ein. Auch geiſtvoller Gelehrter (be⸗
ſonders auf dem Gebiet der Kirchengeſchichte
und des Kirchenrechts), dem ſein Werk über
das Konkordat (1903) einen Sitz in der
Franz. Akademie verſchaffte (1906). Er ſtarb
an den Folgen einer Steinoperation, die
gleich nach dem Euchariſtiſchen Kongreß,
an dem er teilgenommen hatte, notwendig
wurde.
Maurer Joh. Baptiſt, Domkapitular
in Bamberg und (ſeit 1903) Generalvikar,
Bamberg, 14. März (geb. 29. Aug. 1851).
Maurovit Anton, päpftlicher Hausprälat
und Thronaſſiſtent Dr theol., Biſchof von
Zengg⸗Modrus (feit 1895), Mitglied des
kroat. Landtags und ungar. Magnatenhauſes,
Zengg, 8. Febr. (geb. 8. Sept. 1851).
Mayr Johann Georg, fürſterzbiſchöf.
licher Konſiſtorialrat, infulierter Domdechant
in Salzburg, daſelbſt, 19. Febr. (geb. 30. März
1830).
Meldahl Ferdinand, dän. Kammer⸗
herr und Etatsrat, Architekt, Kopenhagen,
3. Febr. (geb. 16. März 1827). Autodidakt
(Schmied), ſchon mit 31 Jahren Mitglied
der dän. Kunſtakademie, 30 Jahre lang
deren Direktor, zugleich der des Thorwaldſen⸗
Muſeums, von größtem Einfluß im bän.
Kunſtleben; von feinen Bauten am bekann⸗
teſten Schloß Frederiksborg (Umbau) und
die Marmorkirche in Kopenhagen (Boll-
endung).
Menda Johann, päpſtlicher Protonotar
und fürſterzbiſchöflicher Konſiſtorialrat, Dom⸗
kapitular, Stadtdechant und infulierter Bropft-
pfarrer an der Votivkirche zu Wien, daſelbſt,
IX. Totenſchau.
Eifriger
Förderer aller charitativen Beſtrebungen.
Mengewein Karl, Muſikdirektor, Groß⸗
lichterfelde, 7. April (geb. 9. Sept. 1852).
1886— 1896 Leiter einer Muſikſchule in Ver:
lin, Begründer des Oratorienvereins (1889)
und Chorregent daſelbſt; auch Komponiſt.
Merode, Graf Henri v., Marquis
von Weſterloo, 5. Prinz von Grimberghe,
belg. Staatsmann, Lauſanne, 13. Juli (geb.
28. Dez. 1856). Einflußreiches Mitglied der
kathol.⸗konſervativen Partei, 1884 — 1896 Ub-
geordneter, 1892— 1895 Miniſter des Aus⸗
wärtigen, 1900 Senator, 1903 Senats⸗
präſident.
Merz Oskar, Muſikſchriftſteller, Zürich,
20. Okt. (geb. 11. Sept. 1851). Urſprüng⸗
lich Kaufmann, fpäter bei Vorbereitung der
Bayreuther Feſtſpiele tätig, unermüdlicher
Vorkämpfer für Richard Wagner, ein Viertel ⸗
jahrhundert Muſikreferent der „Münchener
Neueſten Nachrichten“.
Metſch Franz, 1865 — 1905 Chefredak ·
teur der „Illuſtrierten Zeitung“ (Leipzig),
Bad Wildungen, 13. Okt. (geb. 24. April 1834).
Meyer Alexander, Dr iur., Journaliſt
und Parlamentarier (freiſinnig), ſeit 1876
preuß. Landtags-, 1881— 1893 Reichstags
abgeordneter, Friedenau bei Berlin, 27. Juni
(geb. 22. Febr. 1832).
Meyer Elard Hugo, Prof. Dr, Ger-
maniſt, Freiburg i. Br., 11. Febr. (geb.
6. Okt. 1837). Bis 1882 Realgymnafiums-
direktor in Bremen, ſeitdem in Freiburg
(1890 Honorarprof. an der Univerſität); viele
mythologiſche und volkskundliche Arbeiten.
Michand John Stephen, Biſchof
von Burlington (ſeit 1899, Titularbiſchof
ſeit 1892), Neuyork, 22. Dez. (geb. 23. Jan.
1843).
Michele Wilhelm, päpſtlicher Ehren:
kämmerer, Pfarrer in Wien, daſelbſt, 21. Mai
(geb. 24. Aug. 1860). Hochverdient um
das kathol. Vereinsweſen Wiens, Diözeſan⸗
präſes des Kathol. Geſellenvereins. |
Milizevié Milan, ferb. Schriftſteller,
Belgrad, 18. Nov. (geb. 7. Mai 1831). Ur-
ſprünglich Lehrer, dann Miniſterialbeamter,
bis 1899 Direktor der Nationalbibliothek;
ſchrieb zahlreiche geographiſche, ethnogra-
IX. Totenſchau.
phiſche und pädagogiſche Werke, auch No-
vellen; Mitglied (Präſident 1896/97) der
Serb. Akademie der Wiſſenſchaften.
Mohammed el⸗Torres, ein Vierteljahr ⸗
hundert der Vertreter des Sultans von
Marokko in Tanger, treuer Patriot und
unbeſtechlicher Charakter, Tanger, 12. Sept.
(geb. um 1830).
Mönckeberg Johann Georg, Dr iur.,
Rechtsanwalt und Senator in Hamburg,
ſeit 1889 jedes dritte Jahr Erſter Bürger⸗
meiſter (fo auch 1908), Hamburg, 27. März
(geb. 22. Aug. 1839).
Montecuccoli (Laderchi) Maximilian
Graf, Haupt des Hauſes, öſterr. Geh. Rat
und Kämmerer. Mitglied des Herrenhauſes,
Präſidentſtellvertreter der Staatsſchulden⸗
Kontrollkommiſſion, Gouverneur der Oſter⸗
reichiſchen Länderbank, Hofgaſtein, 17. Sept.
Müller Hermann v., preuß. General ⸗
leutnant a. D. und Militärſchriftſteller, Ber:
lin, 9. Jan. (geb. 2. Juli 1832). 1879 bis
1888 Abteilungschef im Kriegsminiſterium,
1888 Inſpektor der 2. Fußartillerieinſpektion,
1890 Bräfes der Artillerieprüfungskom⸗
miſſion, 1890— 1893 Direktor des Waffen ⸗
departements im Kriegsminiſterium; 1895
erblich geadelt. Weſentlich beteiligt bei
Schaffung des Feldartilleriegeſchützes 0/73
und des jetzigen Feldgeſchützes.
Miler: Hartung Karl, Geh. Hofrat
Prof., Komponiſt, Charlottenburg, 11. Juni
(geb. 19. Mai 1834). Urſprünglich Theolog,
1865 — 1903 Kirchenmuſikdirektor, Hofkapell |
(geb. 14. Sept. 1840). |
|
449
Mnuſtafa Kamel, das Haupt der ägyp⸗
tiſchen Nationalpartei, auch Schriftſteller,
Kairo, 10. Febr. (geb. 14. Aug. 1874).
Nagel Karl, Kammervirtuos (Bratſche),
der Letzte des ehem. „Quartetts Kömpel“,
Lehrer an der Großherzogl. Muſikſchule in
Weimar, daſelbſt, 9. Jan. (geb. 23. Okt. 1844).
Nayhanß⸗Cormons Julius Graf v.,
Parlamentarier, 1874—1887 Reichstags⸗
abgeordneter (Zentrum), Warmbrunn, 5. Mai
(geb. 3. Aug. 1821).
Rebe Karl, Kammerſänger, feit 1900
Baſſiſt an der Kgl. Oper zu Berlin, da⸗
ſelbſt, 7. Febr. (geb. 3. Jan. 1859).
Neide Emil, Maler, 1872—1901 Prof.
an der Kunſtakademie zu Königsberg, Dres⸗
den, 30. April (geb. 28. Dez. 1843). Schuf
hauptſächlich mythologiſche Genrebilder und
ſenſationelle Effektſtücke (am bekannteſten
„Die Lebensmüden“).
Niedhammer Joſeph, Domkapellmeiſter
in Speier, daſelbſt, 29. Juni (geb. 18. März
1851). 1869-1905 Seminarlehrer, ſeit 1887
zugleich Domkapellmeiſter, Orgelvirtuos und
Komponiſt vieler Meſſen und eines Kaiſer
requiems.
Niethammer Albert, Geh. Kommerzien⸗
rat Dr ing., ſächſ. Großinduſtrieller (Papier;
fabrifen in Kriebſtein), 1881 —- 1894 und 1887
bis 1890 Reichstagsabgeordneter (national:
liberal), Kriebſtein, 17. April (geb. 29. Sept.
1833). Auch ſozial verdient (Ausſchußmit
glied des „Zentralvereins für das Wohl
der arbeitenden Klaſſen“).
Nocella Carlo, Kurienkardinal, Rom,
meifter und Leiter der Großherzogl. Muſik- 22. Juli (geb. 26. Nov. 1826). 1849 Priefter,
ſchule in Weimar; bekannt durch ſeine
Motetten und Orgelſonaten, auch Muſik⸗
theoretiker.
Münzer Georg, Dr phil., Mufil- und
Romanſchriftſteller, Berlin, 23. April (geb.
4. Sept. 1866).
Murawiew, Graf Nikolaj, ruſſ. Staats⸗
mann, Rom, 14. Dez. (geb. 1850). Juriſt,
Staatsanwalt bei den Kaiſermordverhand⸗
lungen, 1881— 1884 Oberprokurator in
St Petersburg (zahlreiche Verſchickungen),
1894 Juſtizminiſter, 1905 Botſchafter beim
Quirinal (ital.⸗ruſſ. Entente). Politiſch reak⸗
tionär. |
Jahrbuch der Zeit- und Kulturgeſchichte. II.
1899 Titular⸗Patriarch von Antiochia, 1901
von Konſtantinopel, 1903 Kardinal; auch
Archäolog.
Nodſu (Nodzu), Marquis (ſeit 1907) Mit:
ſchitſura, japan. Marſchall, Tokio, 16. Okt.
(geb. 30. Nov. 1841). Divifions-, fpäter
Korpskommandeur und Oberbefehlshaber im
japan.-chinef. Feldzug von 1894/95, dann
kommandierender General und General:
inſpekteur des Militärbildungsweſens, im
ruſſ. japan. Kriege 1904/05 Führer der
4. Armee, als welcher er Hauptanteil an
den Schlachten von Liaujang und Mukden
hatte.
29
450
Noltſch Wenzel Ottokar, Hiftorien-
und Porträtmaler, auch humorvoller Dichter
und Erzähler, früher Prof. an ber Tech
niſchen Hochſchule in Wien, Mitglied des
Direktoriums der Leo-Geſellſchaft, Inns |
bruck, 30. Okt. (geb. 28. Febr. 1835).
Norton Charles Eliot, amerik.
Kunſthiſtoriker, 1874 — 1898 Prof. an der
Harvard ⸗Univerſität, Gründer (1879) und
Leiter (bis 1890) des Archäologiſchen In⸗
ftitut3 von Amerika, auch Dante Forder,
Cambridge, 21. Okt. (geb. 16. Nov. 1827).
Oberſchall Adolf, Geh. Rat, Präſident
der Kgl. Kurie in Budapeſt, Mitglied des
Magnatenhauſes, Roſenberg, 10. Sept. (geb.
18. April 1839).
O' Conor, Sir Nicholas Roderick, engl.
Diplomat (kathol. Irländer), Konſtantinopel,
19. März geb. 3. Juli 1843). 1886 polit.
Agent in Sofia, 1892 Geſandter in Peking,
1895 Botſchafter in St Petersburg, ſeit
1898 in Konſtantinopel.
Olbrich Joſeph Maria, Architekt,
Düſſeldorf, 8. Aug. (geb. 22. Dez. 1867).
1899 aus Wien an die „Künſtlerkolonie“
in Darmſtadt berufen, wo er als Bau- und
Dekorationskünſtler eine vielumſtrittene Tätig⸗ |
keit entwickelte („Darmſtädter Stil”).
Oppert Guftan Salomon, Bruder
von Julius O., gleich dieſem Sanskritiſt,
18721894 Prof. in Madras, ſeit 1895
Privatdozent an der Univerſität Berlin,
daſelbſt, 16. März (geb. 30. Juli 1836).
\
IX. Totenſchau.
Pällit Bela, ungar. Maler (Porträts,
Tierbilder zc.), Thurzö⸗Füred (Zips), 26. Juli
(geb. 2. Febr. 1845).
Pallulon Wieczys law, päpſtlicher
Thronaſſiſtent, Biſchof von Samogitien (feit
1883), Kowno, Mitte Mai (geb. 19. Nov.
1834).
Palma Eſtrada, der erſte Präſident
von Kuba, Santiago, 4. Nov. (73 Jahre alt).
Alter Freiheitskämpfer, ſchon 1877 zum
Präſidenten ausgerufen, aber von den Spa⸗
niern gefangen, 1902 anerkannt, 1906 wieder⸗
gewählt, aber im gleichen Jahr durch einen
Aufſtand, der die Okkupation zur Folge hatte,
zum Rücktritt gezwungen.
Paulſen Friedrich, Dr phil., Philo⸗
ſoph und Pädagog, ſeit 1878 Prof. an der
Univerſität Berlin (1896 Ordinarius, als
Nachfolger Zellers), Steglitz, 14. Aug. (geb.
16. Juli 1846). Als Philoſoph auf Kant
(nach ihm der „Philoſoph des Proteſtantis⸗
mus“) fußend, vertritt er in feinem „Syſtem
des objektiven Idealismus“ einen idealiſtiſchen
Monismus unter Zugrundelegung einer pan⸗
theiſtiſchen Metaphyſik und optimiſtiſchen
Ethik. In ſeinen vielgeleſenen („Einleitung
in die Philoſophie“ 1892 — 1907 in 19 Auf:
lagen) philoſophiſchen Schriften verbindet
er ſtrenge Sachlichkeit mit leichtfaßlicher
und anziehender Darſtellung; als Denker
war er weniger eigenartig, übte aber gro-
ßen Einfluß durch ſeine Perſönlichkeit aus.
Am nachhaltigſten war ſein Wirken auf
Oſann Artur, Geh. Juſtizrat Dr iur., pädagogiſchem Gebiet, worin er eine führende
Rechtsanwalt und Parlamentarier, lang Stellung einnahm nicht nur durch ſeine „Ge⸗
jähriger Führer der heſſ. Nationalliberalen, ſchichte des gelehrten Unterrichts ſeit Aus⸗
1890 —1898 Reichstagsabgeordneter, Darm gang des Mittelalters“ (1885, 6. Aufl. 1903),
ſtadt, 30. Sept. (geb. 4. Nov. 1829). |
Ouida, Schriftitellerin, ſ. Ramee. |
Pach Oskar, Schriftſteller, |. Prochaska.
Palack) Johann, Dr iur. et phil.,
früher Prof. der vergleichenden Geſchichte
an der tſchech. Univerſität Prag, Sohn von
Franz P., Prag, 24. Febr. (geb. 10. Okt.
1830). Gegner der radikalen Jungtſchechen.
Pälffy v. Erdöd Johann Graf, Geh.
Rat und Kämmerer, einer der reichſten
ungar. Großgrundbeſitzer (86 000 ha), Mit,
glied des Magnatenhauſes, Wien, 2. Juni
ſondern auch durch eifrige Förderung des
deutſchen Univerſitätsweſens und der Gleich⸗
ſtellung der drei Mittelſchulformen. Er
ſcheute ſich auch nicht, in Tagesfragen ein-
zugreifen (z. B. gegen Haeckel, für die ſexuelle
Sittlichkeit ꝛc.); in religiöſen Fragen wahrte
er vornehme Haltung und ſeltene Unbefangen-
heit, wie er denn auch als Proteſtant dem
Katholizismus gerecht zu werden ſuchte, wenn
auch nicht immer mit Erfolg.
Paulus, eigentlich Jean Paul Habans.
franz. Volksſänger, St⸗Mandeé, 1. Juni (geb.
(geb. 12. Aug. 1829). Eifriger Kunſtſammler. 6. Febr. 1845). Erſt Konzertſänger, dann
IX. Totenſchau. 451
Farben⸗ und Drogenhändler in Marſeille, Plener Ignaz Edler v., der Neſtor der
endlich der Sänger des Boulangismus öſterr. Staatsmänner, Geh. Rat, Mitglied
(Boulangiſtenhymne En revenant de la des Herrenhauſes, Wien, 17. Febr. (geb.
revue), mit dem er fiel. 21. Mai 1810). Seit 1836 im Staatsdienſt,
Peſchka Franz, deutſch⸗böhm. Landwirt 1852 Finanzlandesdirektor in Preßburg,
und Politiker, Wien, 1. Mai (geb. 14. Aug. 1857 in Lemberg, 1860—1865 Finanz ⸗
1856). Seit 1891 im öſterr. Abgeordneten⸗ miniſter im erſten konſtitutionellen Mini⸗
haus, zuerſt Mitglied der deutſchen Fort: | ſterium (Schmerling), 1867 — 1870 Handels
ſchrittspartei, dann Führer der deutſchen miniſter im Bürgerminiſterium (Auersperg).
Agrarier, 1907 deutſcher Landsmannminiſter.
Pohle Leon, Geh. Hofrat, ſächſ. Bildnis⸗
Peſtel E d. v., preuß. Generalmajor a. D., maler, 1877 —1903 Prof. an der Dresdener
der heldenmütige Verteidiger Saarbrückens Akademie, Dresden, 27. Febr. (geb. 1. Dez.
(1870), Wiesbaden, 25. März.
Pfeiffer Philipp v., Dompropſt in
Speier, 1905 Kapitularvikar, Speier, 5. Nov.
(geb. 19. Jan. 1830).
Pfleiderer Otto, älterer Bruder des
Philoſophen Edm. v. P., Dr theol., Reli ⸗
gionsphiloſoph, ſeit 1875 Prof. an der Uni⸗
verſität Berlin, Großlichterfelde, 18. Juli
(geb. 1. Sept. 1839). Hauptvertreter der
rabifal-liberalen proteſt. Theologie; wirkte
auch eine Zeitlang in Großbritannien (1904
Gifford⸗Vorleſungen in Edinburgh).
Pfyffer (Heer) Niklaus, ſchweiz.
Landſchaftsmaler, Luzern, 22. Mai (geb.
4. Aug. 1836). Vertreter der älteren Schule,
deſſen meiſt der engeren Heimat entnommene
Bilder faſt alle ins Ausland (beſonders Eng⸗
land) gingen.
Philios Demetrios, griech. Archäolog,
Ephor der Altertümer auf der Akropolis,
Athen, 29. Jan.; Hauptleiſtungen des in
Deutſchland ausgebildeten Gelehrten ſind die
Ausgrabungen in Eleuſis (Myſterientempel).
Pieper Anton, Dr theol., ſeit 1896
außerord., 1899 ord. Prof. der Kirchen⸗
geſchichte in Münſter, daſelbſt, 24. Dez. (geb.
20. März 1854); auch Lokalhiſtoriker.
Piſchel Richard, Geh. Regierungsrat
Prof. Dr, Sanskritiſt, Madras, 27. Dez.
(geb. 18. Jan. 1849). 1875 Prof. in Kiel,
1885 in Halle, ſeit 1902 in Berlin; Mit⸗
glied der Berliner Akademie der Wiſſen⸗
ſchaften. Autorität im Prakrit, verband
1841).
Popen Nikolaus, Bifdof (feit 1889)
der griech.⸗oriental.⸗romän. Diözeſe Karän⸗
ſebes, Mitglied des ungar. Magnatenhauſes,
Karänſebes, 8. Aug. (geb. 1826); auch Schrift
ſteller.
Portanova Gennaro, Kardinal, Reggio
di Calabria, 25. April (geb. 11. Okt. 1845).
1869 Prieſter, 1883 Weihbiſchof (Titel von
Roſea) und 1885 Biſchof von Ischia, 1866
Erzbiſchof von Reggio di Calabria, 1899
Kardinal; bekannt durch ſeine aufopfernde
Wirkſamkeit bei den Erdbeben von 1884
(Ischia) und 1907 (Kalabrien).
Poſchinger Michael Ritter v., Kom-
merzienrat, bayr. Großinduſtrieller (Beſitzer
vieler Glashütten), Tutzing, 19. Febr.
(74 Jahre alt).
Potjechin Alexej. ruff. Schriftſteller,
St Petersburg, 29. Okt. (geb. 13. [1.] Juli
1829); Dramaturg und Romancier, Vor⸗
ſitzender des Literariſchen Komitees der kaiſerl.
Theater. Ehrenmitglied der Ruſſ. Akademie
der Wiſſenſchaften.
Potocki Andreas Graf, Geh. Rat und
Kämmerer, Dr jur., Statthalter von Galizien,
Mitglied des Herrenhauſes, ermordet zu
Lemberg, 12. April (geb. 10. Juni 1861).
Potter Henry Cod man, proteft.-epi-
ſkopaler Biſchof (ſeit 1883) von Neuyork,
Cooperstown, 21. Juli (geb. 25. Mai 1835).
Prinetti, Marcheſe (ſeit 1903) Giulio,
ital. Staatsmann, Rom, 9. Juni (geb. 6. Mai
ungewöhnliches Lehrtalent mit umfaſſender 1848). Urſprünglich Ingenieur (Fahrräder),
Beleſenheit.
ſeit 1882 Deputierter, 1896/97 Miniſter der
Pleithner Franz Xaver, Dr theol., öffentlichen Arbeiten, 1901 — 1903 des Auße-
Prof. der Dogmatik am Lyzeum zu Freiſing, ren, als welcher er trotz ſeiner Vorliebe für
daſelbſt, 17. Nov. (geb. 10. Jan. 1852).
Frankreich 1902 den Dreibund erneuerte.
29
452
Prochaska Franz Joſeph (Deckname:
Oskar Pach), Schriftfteller und Dichter, Bor-
ſitzender des deutſchen und öſterr. Scheffel ⸗
bunds, Wien, 9. Okt. (geb. 7. Okt. 1865).
Puddicombe Ada Beynon (Deckname:
Allen Raine), engl. Schriftſtellerin, Bron⸗
mor (Cardiganſhire), 21. Juni (58 Jahre
alt). Ihre aus der Sage und alten Geſchichte
von Wales geſchöpften Romane und No-
vellen erzielten rieſigen Erfolg (A Welsh
Singer über 300 000 Exemplare).
Naab Kurt v., ſächſ. General der In.
fanterie z. D., Dr phil., vogtländ. Geſchicht⸗
ſchreiber, Dresden, 1. Jan. (geb. 15. Juli
1834).
Rade Nikola, kathol. Politiker, eifriger
Vertreter der kathol. Intereſſen im Kultur⸗
kampf, verdient um das kathol. Vereins-
weſen, bekannter Redner auf Katholiken⸗
tagen ꝛc., ermordet von feinem geiſteskranken
Sohn, Mainz, 25. Dez. (geb. 11. Jan. 1847).
Raine Allen, Schriftſtellerin, |. Bubbi-
combe.
Raméle Louiſe de la (Deckname: Ouida,
d. i. die kindliche Ausſprache von Louiſa), engl.
Romanſchriftſtellerin, Viareggio, 24. Jan.
(geb. 1840). In den ſiebziger und achtziger
Jahren in England ſehr beliebt (heute noch
bei den Benützern der Leihbibliotheken),
ſpäter infolge ihrer Exzentrizitäten verarmt;
ihre feſſelnden Schilderungen des kosmo⸗
politiſchen Geſellſchaftslebens arteten zuletzt
ins Senſationelle aus.
Rane Arthur, franzöſ. Politiker, Paris,
10. Aug. (geb. 20. Dez. 1831). 1853 nach
Algier deportiert, aber entflohen, nach der
Amneſtie von 1859 oppoſitioneller Journaliſt,
1870/71 Gehilfe Gambettas, ſpäter treueſter
Vertreter ſeiner Ideen, 1873 als Kommunard
in contumaciam zum Tod verurteilt und
bis 1879 in Belgien. 1871 und 1873 Mit-
glied der Nationalverſammlung, 1881—1885
Deputierter, 1891 — 1900 und feit 1903 Se⸗
nator; nach Clemenceaus Regierungsüber⸗
nahme Chefredakteur der „Aurore“.
Reiß Karl, Muſikdirigent, Frankfurt
a. M., 4. April (geb. 24. April 1829). 1854
Kapellmeiſter in Mainz, 1856 in Kaſſel, 1857
Hofkapellmeiſter daſelbſt (Spohrs Nachfolger),
1881—1886 in gleicher Stellung in Wies⸗
IX. Totenſchau.
baden; auch Komponiſt (Oper „Otto der
Schütz“).
Neuther Karl, bad. Großinduſtrieller,
Gründer und Chef der Weltfirma Bopp
u. R. in Mannheim (Maſchinen ꝛc.), ba
ſelbſt, 13. Juni (geb. 13. Okt. 1846).
Neville Jean, wie ſein Vater Albert
liberaler proteſt. Theolog und Religions:
hiſtoriker, ſeit 1885 Herausgeber der führen:
den Revue de l'histoire des religions, Paris,
5. Mai (geb. 6. Nov. 1855).
Rhena Roſalie Luiſe Gräfin v.,
Witwe des Prinzen Karl von Baden, ge⸗
borene Freiin v. Beuſt, bekannt durch ihre
große Wohltätigkeit, Karlsruhe, 15. Okt.
(geb. 10. Juni 1845). Ihr Sohn Friedrich
Graf v. R., Dr jur., Legationsſekretär in
Bern, verunglückte daſelbſt 20. Nov. (geb.
29. Jan. 1877).
Richard Francois, Kardinal und Erz ⸗
biſchof von Paris, daſelbſt, 27. Jan. (geb.
1. März 1819). Aus altadeliger Familie,
1844 Prieſter, 1849 — 1869 Generalvikar in
Nantes, 1871 Biſchof von Belley, 1875
Koadjutor (Titel von Liſſa), 1886 Nachfolger
des Erzbiſchofs Guibert von Paris, 1889
Kardinal; von makelloſem Lebenswandel,
ein freigebiger Wohltäter der Armen und
Kranken. Auch Hagiograph.
Ridter Maximilian, Wirkl. Geh.
Rat (Exz.) Dr theol., 1887 1905 evang.
Feldpropſt der Armee, zugleich Mitglied des
Oberkirchenrats und Vortragender Rat im
preuß. Kultusminiſterium, Hirſchberg i. Schl.,
12. Okt. (geb. 31. Aug. 1842).
Richter Otto v., ruff. General der In ⸗
fanterie und Generalabjutant des Zaren,
einflußreich und wegen feiner Gerechtigkeit be-
liebt, St Petersburg, 15. März (78 Jahre alt).
Niffarth Heinrich, Großinduſtrieller,
Begründer des Berliner Hauſes der Firma
Meiſenbach, Riffarth u. Co., Berlin⸗Wil⸗
mersdorf, 21. Jan. (geb. 10. Aug. 1860).
Auch bekannter Schmetterlingsſammler.
Nimski⸗ſtorſſakow Nikolaj, ruff. Rom:
poniſt, St Petersburg, 21. Juni (geb.
18. März 1844). Erſt der Familientradition
entſprechend in der Marine, 1871 Prof. am
St Petersburger Konſervatorium; vorzüg-
licher koloriſtiſcher Schilderer und Juſtru ;
IX. Totenſchau.
mentator (der „ruſſ. Berlioz“), auch Muſik⸗
theoretiker („Prakt. Lehrbuch der Harmonie“,
deutſch 1895).
Nintelen Viktor, Geh. Oberjuſtizrat
Dr iur., Kammergerichtsrat und Mitglied
des Kompetenzgerichtshofs, Parlamentarier,
Berlin⸗Friedenau, 20. Sept. (geb. 17. Aug.
1826). 1871 Appellationsgerichtsrat in Hamm,
1877 Obertribunalsrat in Berlin, 1880 bis
1882 beim Hilfsſenat des Reichsgerichts,
ſeitdem beim Kammergericht; hervorragendes
Mitglied der Zentrumsfraktion im preuß.
Landtag (18831908) und im Reichstag
(1884 —1907). Scharfſinniger juriſtiſcher
Schriftſteller.
Nitſchard Johann, ſchweiz. radikaler
Politiker, Bern, 26. Okt. (geb. 1845). Advokat,
1873-1878 und ſeit 1893 in der Berner
Regierung (Leiter des Erziehungsweſens),
1872 National-, 1894 Stände⸗, feit 1903
wieder Nationalrat; ehem. Kulturkämpfer,
deſſen Gerechtigkeitsgefühl aber die Wieder⸗
herſtellung der unterdrückten kathol. Jura;
gemeinden auswirkte.
Reehtig Ludwig Otto, Orientaliſt,
ſeit 1853 in den Ver. Staaten, 1869 bis
1885 Prof. für Sanskrit an der Cornell,
1895 für ſemit. Sprachen an der Stan⸗
ford-Univerfität, Paſadena, 15. Juli (geb.
19. Juni 1839). Auch Komponiſt.
Reman Ronetti, rumän. Schriftſteller,
Jaſſy, 20. Jan. (geb. 1852). Hauptwerk
das dem rumän.⸗jüd. Milieu entnommene
Drama „Manaſſe
Roos Mathilde, ſchwed. Romanſchrift⸗
ſtellerin, Stockholm, 17. Juli (geb. 1852).
Ihre Schilderungen der Stockholmer Geſell⸗
ſchaft zeigen vielfach ſtarke Satire.
Noſen Viktor Frhr v., ruff. Orientaliſt,
St Petersburg, 23. Jan. (geb. 5. März
1849). Hervorragender Kenner der arab.
Sprache und Geſchichte, 1885 Prof. an der
Univerſität St Petersburg, zugleich Mitglied
der Akademie der Wiſſenſchaften und Di⸗
rektor der morgenländiſchen Abteilung der
Kaiſerl. ruſſ. archäologiſchen Geſellſchaft.
Rourel Guſtave Auguſtin, Titular⸗
biſchof von Curium und Weihbiſchof von
Neuorltans (feit 1899), daſelbſt, 17. März
(geb. 2. Febr. 1840).
453
Nudini Antonio, Marcheſe di Starabba,
ital. Staatsmann, Rom, 7. Aug. (geb. 6. April
1839). 1865 Bürgermeiſter von Palermo,
1868 Praͤfekt von Neapel, 1869 Miniſter
des Innern, ſeit 1870 ununterbrochen Depu-
tierter (Führer der Rechten); 1891/92 (Er-
neuerung des Dreibunds) und 1896— 1898
(Frieden mit Abeſſinien, Unterdrückung des
Mailänder Aufſtands) Miniſterpräſident;
machte ſich durch ſeine ſchwankende, oft
zweideutige Politik unmöglich.
Saint⸗Julien Klemens v., Graf v.
Walſee, öſterr. Geh. Rat und Kämmerer,
feit 1898 Lanbedspradfident in Salzburg, da⸗
ſelbſt, 23. Aug. (geb. 25. Sept. 1845).
Saldern Konrad v., Diplomat, kaiſerl.
Geſandter z. D., nach verſchiedenen Ronfulats-
ſtellungen 1898 Miniſterreſident in Bangkok
(Siam), 1903 — 1906 in Söul (Korea), Char⸗
lottenburg, 8. Juni (geb. 3. Jan. 1847).
Salmeron (-Alonſo) Nicolas, fpan.
Politiker, Pau, 20. Sept. (geb. 1838).
Journaliſt, ſeit 1871 Mitglied der Cortes
(Republikaner), 1873 Juſtizminiſter und Chef
der Exekutive, nach ſeinem Rücktritt Präſi⸗
dent der Cortes, ſeit dem Staatsſtreich von
1874 im Ausland; 1881 Prof. der Philo-
ſophie in Madrid, ſeit 1882 wieder in den
Cortes als Führer der Republikaner.
Salm⸗Salm Leopold Fürſt m, erb-
liches Mitglied des Herrenhauſes, Anhalt,
16. Febr. (geb. 18. Juli 1838).
Santarelli Giovanni Maria, Erg:
biſchof (ſeit 1904) von Urbino, Mitglied des
Franziskanerordens, Urbino, Ende Sept.
(geb. 23. Aug. 1863).
Garafate (⸗Navascues) Pablo de,
ſpan. Violinvirtuos, Biarritz, 21. Sept.
(geb. 10. März 1844). Trat ſchon mit
6 Jahren in die Offentlichkeit, bildete ſich
aber dann am Pariſer Konſervatorium aus
(bei J. Alard) und begann 1860 feine Kunft-
reiſen, die ihn durch die ganze Welt führten
(ſeit 1876 auch nach Deutſchland) und zum
allbekannten „Geigerkönig“ machten; er ver⸗
band blendende Technik mit beſtrickend ſchöͤ⸗
nem Ton. Auch Komponiſt (Zigeunerweiſen
und Tänze). :
Sardon Victorien, franz. Dramatiker,
Paris, 8. Nov. (geb. 7. Sept. 1831). Ur.
454 IX. Totenſchau.
ſprünglich Mediziner, ſchrieb für das Theater und forſtwirtſchaftlichen Muſtergut; 1893
der Dejazet einige Stücke, hatte aber erſt bis 1894 in der Erſten Kammer.
1860 mit Les pattes de mouche (Der letzte Schelling Hermann v., jüngſter Sohn
Brief) durchſchlagenden Erfolg, der ihm fortan des Philoſophen Fr. W. J. v. Sch., Zurift,
bei ſeinen zahlreichen Bühnenwerken (über 75, Dr iur. et phil., Mitglied des Staats rats und
zum großen Teil für Sarah Bernhardt ge- Herrenhauſes, Kronſyndikus. Berlin 15. Nov.
ſchrieben, außerdem Operntexte uſw.) treu (geb. 19. April 1824). 1866 Vortragender Rat
blieb; in Deutſchland wurde am bekannteſten im preuß. Juſtizminiſterium, 1879 Staats⸗
Madame Sans-Géne. Nachfolger Scribes, ſekretär des Reichsjuſtizamts, 1889 — 1894
mit glänzender Technik, geiſtſprühender Juſtizminiſter, leitete die Arbeiten für das
Sprache und feſſelndem Dialog, der aller- neue Bürgerliche Geſetzbuch ein; auch Über-
dings den Bühneneffekt gegenüber der künſt⸗ ſetzer antiker Meiſterwerke.
leriſchen Vollendung bevorzugte; ſeit 1877 Schlieben Joachim Kaſpar Anton
Mitglied der Franz. Akademie. Richard, 1906/1907 ſächſ. Kultus miniſter,
Sauter Benedikt, Dr theol., der erſte Schloß Taubenheim a. d. Spree, 7. Febr.
Novize (1861) der neuen Beuroner Bene: (geb. 23. Juli 1848).
diktinerkongregation, 1885 Abt von Emaus Schlumberger Johann v., Wirkl. Geh.
in Prag, daſelbſt, 7. Juni (geb. 24. Aug. Rat (Exz.) Dr phil., Großinduſtrieller und
1835). Schöpfer des Beuroner Choralgeſangs Politiker, Gebweiler, 13. Sept. (geb. 24. Febr.
und fruchtbarer aszetiſcher Schriftſteller, ſeit 1819). 1843 — 1902 Teilhaber der von ſei⸗
einigen Jahren erblindet. nem Vater gegründeten Weltfirma N. Schlum ;
Schaefer Georg, Geh. Hofrat Prof. berger zu Gebweiler, 1875 1903 Präſident
Dr phil., Kunſthiſtoriker, Darmſtadt, 15. Aug. des elſaß⸗lothr. Landesausſchuſſes, ſeit 1879
(geb. 13. April 1823). 1849 — 1859 Gou- auch im Staatsrat; 1895 erblich geadelt.
verneur der Prinzen von Hohenzollern, Schmitt Gottfried Ritter v., ehem.
1869 - 1902 Prof. an der Techniſchen Hoch- Präſident des bayr. Oberſten Landesgerichts,
ſchule Darmſtadt; verdient um die Erforſchung | Dr iur., lebenslänglicher Reichsrat der Krone
der heſſ. Kunſtdenkmäler, entdeckte 1863 | Bayern, Exz., bei Ebern (Unterfranken).
H. Holbeins d. A. große Paſſionsfolge für | 25. Aug. (geb. 1827). An der Ausarbeitung
bie Frankfurter Dominikanerkirche und 1873 des Bürgerlichen Geſetzbuches weſentlich be.
die Einhardsbaſilika von Steinbach. teiligt (Erbrecht), 1863—1869 Mitglied der
Schäfer Karl, Oberbaurat Prof. Dr ing., bayr. Abgeordnetenkammer (liberal). — Sein
Architekt und Kunſtſchriftſteller, Halle a. S, Bruder Joſeph, Geh. Hof, und Juſtizrat,
5. Mai (geb. 18. Jan. 1844). 1870 Uni. Dr iur., fgl. Advokat, Präſident des Land
verſitätsbaumeiſter in Marburg, 1884 Prof. rats von Oberfranken und Vorſitzender der
an der Techniſchen Hochſchule in Charlotten⸗ Anwaltskammer Bamberg, daſelbſt, 16. April
burg, 1894 in Karlsruhe; bahnbrechender (geb. 4. Mai 1838).
Vertreter der mittelalterlichen Baukunſt, Schneider Ceslaus, theolog. Schrift -
deſſen Reſtaurationen (Jung St Peter in ſteller, Floisdorf, 18. März Geb. 5. Mai 1840).
Straßburg, Friedrichsbau in Heidelberg und Schneller Chriſtian, Hofrat Dr phil.,
Haupttürme des Meißener Doms) allerdings | ber Neſtor der Tiroler Literatur, Cornacalda
vielfach angefeindet wurden. bei Rovereto, 5. Aug. (geb. 5. Nov. 1831).
Schäfer Wilhelm, Prof. Dr phil., 1872 1856 Gymnaſiallehrer, 1869 Landesſchul ⸗
bis 1908 Dozent der National- und Gewerbe- inſpektor für die Volksſchulen, 1874 — 1897
ökonomie an der Techniſchen Hochſchule Han⸗ für die Mittelſchulen Tirols, zugleich Mit⸗
nover, daſelbſt, 16. Dez. (geb. 16. Juni 1834). glied der Statiſtiſchen Zentralkommiſſion in
Schauenburg (und Mähriſchen Budweiß) Wien; fruchtbarer und origineller Tiroler⸗
Emil Frhr v., bad. Grundherr, Gaisbach dichter, Landes und Sprachenforſcher.
bei Oberkirch (Baden), 10. Juli (geb. 12. Okt. Scholz Anton Ritter v., Geheimrat
1826). Machte fein Majorat zu einem land⸗ Dr theol., ſeit 1872 Prof. für altteftament:
IX. Totenſchau.
liche Exegeſe an der Univerſität Würzburg
und deren Senior, Würzburg, 30. Sept.
(geb. 25. Febr. 1829). Gegner Schells.
Schön Ernft Chriftian Johannes,
Dr iur., Rechtsanwalt, Bürgermeiſter und
Senatspräſident in Lübeck, daſelbſt, 13. Okt.
(geb. 24. Juni 1843).
Schoenaich⸗Carolath (Schilden) Emil
Prinz von, Dichter, Haſeldorf bei Ueterſen,
30. April (geb. 8. April 1852). Lyriker,
Epiker und Novelliſt; der in ſeinen erſten
Dichtungen vorherrſchende Weltſchmerz wich
allmählich einer chriſtlich weltverſöhnten
Grundſtimmung.
Schönberg Guſt av v., Staatsrat Dr phil.,
Volkswirt, Tübingen, 3. Jan. (geb. 21. Juli
1839). 1868 Prof. in Baſel, 1870 in Frei⸗
burg i. Br., 1873 in Tübingen, 1900 zu⸗
gleich Univerſitätskanzler; Vertreter der
neueren hiſtoriſchen Schule der National⸗
ökonomie, Herausgeber des „Handbuchs der
politiſchen Okonomie“ (1882 ff).
Schönborn Karl Graf, Chef der jüng-
ſten Linie des Hauſes, öſterr. Geh. Rat und
Kämmerer, Neuhof bei Neukirchen (Bezirk
Eger), 29. Mai (geb. 10. April 1840).
Schönhoff Leopold, Berliner Theater⸗
kritiker, Wiesbaden, 1. Mai (geb. 1853).
Veröffentlichte die Sammlung „Zehn Jahre
Berliner Theater“.
Schönlein Hermann, Verlagsbuch⸗
händler, Begründer und Herausgeber der
populären Zeitſchriften „Buch für Alle“ (1865),
„Illuſtrierte Chronik der Zeit“ (1871) uſw.
und der „Bibliothek der Unterhaltung und
des Wiſſens“ (1876), Stuttgart, 11. Sept.
(geb. 2. Dez. 1833). Seine Firma wurde
1890 mit der „Union Deutſche Verlags⸗
geſellſchaft“ verſchmolzen.
Schrader Eberhard, Geh. Regierungs⸗
rat Prof. Dr theol. et phil., Orientaliſt,
Berlin, 4. Juli (geb. 5. Jan. 1836). 1863
Prof. der Theologie in Zürich, 1870 in
Gießen, 1873 in Jena, ſeit 1875 für orien-
taliſche Sprachen in Berlin, übte aber ſeit
10 Jahren, da er gelähmt war, ſeine Lehr⸗
tätigkeit nicht mehr aus; 1876 Mitglied der
Berliner Akademie der Wiſſenſchaften. Er
führte die Aſſyriologie in Deutſchland ein
und erforſchte beſonders die Keilinſchriften.
455
Schramm ⸗ Macdonald Marie, Lyrikerin,
Dramatikerin und Rezitatorin, Dresden,
7. Febr. (geb. 11. April 1846).
Schulenburg Karl Graf von der, Fidei-
kommißbeſitzer auf Trampe (Kreis Ober-
barnim), Mitglied des preuß. Herrenhauſes,
Trampe, 28. April (geb. 12. Aug. 1840).
Schultze Fritz, Geh. Hofrat Dr phil.,
ſeit 1876 Prof. für Philoſophie und Päd⸗
agogik an der Techniſchen Hochſchule Dres:
den, daſelbſt, 22. Aug. (geb. 7. Mai 1846).
Neukantianer mit darwiniſtiſchem Einſchlag.
Schumacher Ferdinand, deutſch⸗amerik.
Großinduſtrieller (Frühſtückspräparate aus
Getreide), der „Hafermehlkönig“, der mit
ſeinen Quaker⸗Oats⸗Büchſen ganz Europa
überſchwemmte, Akron (Ohio), 16. April
(geb. 30. März 1822).
Schütz Friedrich, Publiziſt und Drama⸗
tiker, langjähriger Redakteur der „Neuen
Freien Preſſe“ in Wien, daſelbſt, 22. Dez.
(geb. 25. April 1845).
Schuwalow Graf Paul, ruf. Militär
und Diplomat, Jalta, 20. April (geb. 1830).
1863 General ſtabschef, 1877 1878 im
Türkenkrieg Diviſionskommandeur, 1881
Oberbefehlshaber der Petersburger Garde,
1885 - 1894 Botſchafter in Berlin (in deutſch⸗
freundlichem Sinn), 1895— 1897 General:
gouverneur von Polen.
Schwabe Ludwig v., Dr phil., ſeit
1872 Prof. für klaſſiſche Philologie an der
Univerſität Tübingen, daſelbſt, 20. Febr.
(geb. 24. Juni 1835). Neubearbeiter von
Teuffels „Geſchichte der röm. Literatur“.
Seitz Ludwig (Ludovico), Maler und
Baumeiſter, künſtleriſcher Direktor der päpſt⸗
lichen Galerien, Albano, 11. Sept. (geb.
11. Juni 1844). Geborener Römer, aber
von deutſchen Eltern, ſchon früh, zuerſt mit
ſeinem Vater Alex. Max. Seitz, mit Kirchen⸗
malereien im Stile der „Nazarener“ be:
ſchäftigt, entwickelte er ſich infolge ſeiner
idealen Auffaſſung zum Regenerator der
chriſtlichen Kunſt; ſeine Stärke war das
Fresko. Hauptwerke ſind die Reſtauration
der Deckenmalereien Michelangelos in der
Sixtiniſchen Kapelle und der Malereien
Pinturicchios in den Appartamenti Borgia
im Vatikan, die Krönung Mariä im Mün⸗
456 II. Totenſchau.
ſter zu Freiburg i. Br., die Deckenbilder 1898 Botſchaftsſekretär in Waſhington, 1899
in der Galleria dei Candelabri im Vatikan, Mitglied der ſamoan. Oberkommiſſion, 1903
beſonders aber die Ausmalung der „Deut⸗ Botſchafter in Waſhington; vertrauter Freund
ſchen Kapelle“ in der Wallfahrtskirche von des Präſidenten Rooſevelt.
Loreto, die den beſten quattrozentiſtiſchen Spiegl Edgar Frhr v. Thuruſee,
Werken der Monumentalmalerei gleichzu⸗ Journaliſt, Präſident des Wiener Schrift⸗
ſtellen iſt. Seine letzte Arbeit war die Neu- | fteller- und Journaliſtenvereins „Concordia“,
ordnung der Vatikaniſchen Pinakothek. Vorſitzender des Urheberrechts ⸗Sachverſtän
Sickel Theodor Ritter v., Sektionschef, digenkollegiums in Wien, Gainfarn, 29. Juni
Dr phil. et iur., Geſchichtsforſcher, Meran, (geb. 1. Mai 1839); wegen ſeiner humanitären
21. April (geb. 18. Dez. 1826). 1856—1891 Verdienſte geadelt.
am Inſtitut für öſterr. Geſchichtsforſchung Spreckels Claus, deutſch⸗amerik. Groß⸗
zu Wien (ſeit 1869 als Vorſtand), 1890 — 1902 induſtrieller, Hannoveraner, ſeit 1846 in Ame⸗
Direktor des Oſterr. Inſtituts für Geſchichts⸗ | rita, Beſitzer zahlreicher Zuckerfarmen u. -raffi-
forſchung zu Rom, zugleich 1857— 1892
Prof. für hiſtoriſche Hilfswiſſenſchaften an
der Univerfität Wien, 1875 — 1892 Mitglied
der Zentraldirektion der Monumenta Ger-
maniac historica; Mitglied der Akademie
der Wiſſenſchaften in Wien und der Kgl.
böhm. Geſellſchaft der Wiſſenſchaften in
Prag, 1884 geadelt, 1889 lebenslängliches
Herrenhausmitglied. Schöpfer der modernen
Diplomatik (Urkundenlehre).
Sinkel Heinrich, holländ. Hiſtorien⸗
und Porträtmaler (im Charakter der Naza⸗
rener), Düſſeldorf, 15. Jan. (geb. 6. Jan. 1835).
Sohn Rudolf Karl, wie ſein Vater
Karl bedeutender Bildnismaler, Düſſeldorf,
30. Aug. (geb. 21. Juli 1845).
Soler Mariano, Erzbiſchof (ſeit 1897,
ſeit 1891 Biſchof) von Montevideo, auf hoher
See bei Gibraltar, 26. Sept. (geb. 25. März
1846). Schöpfer der kathol.⸗ſozialen Be:
wegung in Uruguay.
Solms-Laubach Ernſt Graf zu, kaiſerl.
Geh. Regierungsrat, ehem. Kreisdirektor von
Straßburg⸗Land, Domherr von Naumburg,
daſelbſt, 11. Aug. (geb. 24. April 1837).
Sörenſen Johannes, Kunſtſchriftſteller,
aus proteſt., 1861 kathol. Familie, ſeit
nerien, San Francisco, 26. Dez. (geb. 1828).
Stadion (Stadion ⸗Thannhauſen) Phi ⸗
lipp Graf v., der letzte männliche Vertreter
des Geſchlechts, erblicher bayr. Reichsrat,
Knuth bei Pilſen, 13. Sept. (geb. 4. Okt. 1847).
Stahl Ludwig, Schauſpieler (Bon-
vivant und Charakterdarſteller), Oberregiſſeur
am Dresdener Hoftheater, Blankenberghe,
23. Aug. (geb. 4. April 1856).
Stapfer Edmond, Dekan und Prof.
für neuteſtamentliche Exegeſe an der Freien
proteſt.⸗theologiſchen Fakultät zu Paris,
daſelbſt, 15. Dez. (geb. 7. Sept. 1844); ein
Hauptvertreter des franz. Proteſtantismus.
Stedman Edmund Clarence, amerik.
Bankier, Dichter und Kritiker, Neuyork,
18. Jan. (geb. 8. Okt. 1833). Veröffentlichte
außer zahlreichen kritiſchen Werken über
moderne engl. und amerik. Poeſie ein Dutzend
Bände eigener Gedichte und Anthologien
ſowie eine zehnbändige Ausgabe von Edgar
Allen Poe.
Steinheil Guſtav v., General der In⸗
fanterie und ehem. württemb. Kriegsminiſter
(1885 — 1892), Stuttgart, 13. März (geb.
3. März 1832).
Stiefel Julius, Dr phil., Prof. der
1880 Jeſuit, Düſſeldorf, 17. Jan. (geb. deutſchen Literatur am Polytechnikum und
16. Sept. 1862).
Specht Franz, Geiſtl. Rat Dr theol.,
ſeit 1888 Domkapitular in München, daſelbſt,
an der Univerſität Zürich, daſelbſt, 24. Juni
(geb. 5. Mai 1847).
Stöcker Heinrich, Okonomierat, 1881
20. Febr. (geb. 19. Juni 1847). Fruchtbarer bis 1904 und 1906 — 1908 im bayr. Land
theologiſcher und pädagogiſcher Schriftſteller. tag, 1884—1889 im Reichstag (national:
Speck Frhr v. Sternburg Hermann, liberal), Erlangen, 25. Febr. (geb. 11. Dez.
Diplomat, Heidelberg, 23. Aug. (geb. 21. Aug. 1845); verdient um die Bodenzinsablöſung
1852). Seit 1891 im diplomatiſchen Dienſt. in Bayern.
IX. Totenſchau. 457
Etddert Fanny, Jugendſchriftſtellerin, Großwardein (ſeit 1908), Mitglied bes ungar.
Verfaſſerin von „Gertruds Tagebuch“, „Prin | Magnatenhauſes, St Moritz (Schweiz), 8. Aug.
zeſſin Beate”, „Tante Dorothee“ u. a., (geb. 9. Febr. 1845). 1891—1903 Biſchof
Potsdam, 5. Sept. (geb. 5. Febr. 1844). von Zips.
Stoffel Severin, Bräfident der Gott: Tacoli Achilles Marcheſe, öſterr. Geh.
hardbahndirektion (ſeit 1891), Zürich, 17. April Rat und herzogl. Kämmerer, ehem. Kammer:
(66 Jahre alt). vorſteher des Herzogs Franz V. von Modena,
Stoerk Felix, Geh. Juſtizrat Dr iur., nach deſſen Tod Oberſthofmeiſter feiner Witwe,
ſeit 1882 Prof. für öffentliches Recht an der der Erzherzogin Adelgunde, der letzte mo⸗
Univerfität Greifswald, Vizepräſident des deneſiſche Offizier (bis 1866), Wien, 12. Dez.
Institut de droit international, Greifswald, (geb. 28. Dez. 1827).
18. Jan. (geb. 20. Okt. 1851). Taffanel Paul, franz. Muſikdirigent
Stratimirevié (de Kalpin), Georg, und Flötenvirtuos, Paris, 12. Nov. (geb.
Generalmajor, 1848—1849 Führer der 16. Sept. 1844). Prof. am Pariſer Kon⸗
Serben in Südungarn, auch Dichter, Wien, ſervatorium, 1890 — 1906 Leiter der Großen
15. Dez. (geb. 7. Febr. 1822). Oper, 1892 — 1901 auch der Konſervatoriums⸗
Streubel Joh. Ferdinand, der konzerte; Gründer der „Geſellſchaft für Blas⸗
„holländ. Turnvater“, ein Sachſe, der 1882 | inftrumente” (1879), bürgerte Wagner in
eine deutſche Schule in Amſterdam gründete Paris ein.
und bis 1896 leitete, Blaſewitz bei Dresden, Taylor Charles, Dr theol., Prafident
17. Jan. (geb. 6. Febr. 1836). am St John's College in Cambridge (Eng:
Etritt Albert, Opernſänger (Helden. land), vorzüglicher Hebraiſt, Nürnberg,
tenor), Dresden, 11. Febr. (geb. 9. März 12. Aug. (geb. 1840).
1847); 1901-1907 Prof. am Konſervatorium Teutſch Eduard, lothring. Politiker,
und Regiſſeur an der Hofoper in Wien. Schloß Hochberg bei Wingen, 15. Okt. (geb.
Strubberg Otto v., preuß. General, 1833). Vor dem Krieg als Republikaner
Berlin, 8. Nov. (geb. 16. Sept. 1821). 1861 | proffribiert, 1870 Abgeordneter zur National:
Flügeladjutant Wilhelms I., 1870—1871 verſammlung in Bordeaux, 1874 im Reichstag,
Brigadekommandeur (Gravelotte), 1880 bis wo er die Proteſterklärung d. Elſaß⸗Lothringer
1890 Generalinſpekteur des Militär⸗Erzieh⸗ verlas, ſeit 1879 Generalrendant in Nancy.
ungs⸗ und Bildungsweſens, 1883 General Thiel Andreas, Dr theol., päpſtlicher
der Infanterie; 1858 geadelt. Thronaſſiſtent, Biſchof von Ermland, Frauen:
Sucher Joſeph, Prof., Muſikdirigent, burg, 17. Juli (geb. 28. Sept. 1826). 1855
Berlin, 4. April (geb. 23. Nov. 1843). Prof. für Kirchengeſchichte in Braunsberg,
1876 Kapellmeiſter in Leipzig, 1878 in Ham- 1870 Domherr in Frauenburg, 1885 Biſchof
burg, 1888— 1899 Hofkapellmeiſter in Berlin; (geweiht 1886); gelehrter Schriftſteller (be⸗
ſonders über die Geſchichte von Ermland);
Eufmanu-Helborn Louis, Bildhauer, ſeine groß angelegten Papſtbriefe (Epistolae
1882—1886 künſtleriſcher Leiter der Berliner Romanorum Pontificum) find nicht über den
Porzellanmanufaktur, Berlin, 15. Aug. (geb. | erften Band (1868) hinausgekommen.
28. März 1828). Thielen Peter Heinrich, kgl. Muſik⸗
Szalay Peter v., Staatsſekretär, Prä- direktor, Goch, 9. Jan. (geb. 1840). Seit
ſident der ungar. Boft- und Zelegraphen- 1874 Organiſt und Chordirektor in Goch,
Generaldirektion, Budapeſt, 9. Nov. (geb. Referent des Allgemeinen Cäcilienvereins,
6. Okt. 1846). fruchtbarer kirchenmuſikaliſcher Komponiſt.
Szechenyi Franz Graf, erbliches Mit⸗ Thoma Rudolf, kgl. Muſikdirektor,
glied des ungar. Magnatenhauſes, Tarnöcza, Prof., Direktor des Konſervatoriums und
Ende Sept. (geb. 4. März 1835). Präfekt des ſchleſ. Evang. Kirchenmuſik⸗
Szmrecſaͤnyi (v. Szmrecſaͤny) Paul, vereins zu Breslau, daſelbſt, 21. Okt. (geb.
Geh. Rat Dr theol., (röm.) kathol. Biſchof von 22. Febr. 1829).
vorzüglicher Wagnerinterpret, auch Komponiſt.
458 IX. Totenſchau.
Thumann Paul, Zeichner und Maler, | Wolf anſchloß, trotzdem deſſen unehrenhaftes
Berlin, 19. Febr. (geb. 5. Okt. 1834). Ur: Verhalten gegenüber Tſchans Tochter die
ſprünglich Lithograph und Kartograph, Urſache der Spaltung zwiſchen Wolf und
1866—1870 Prof. an der Weimarer Kunft- | Schönerer war.
ſchule, 1875—1884 und ſeit 1891 an der Tſchigorin Michael, ruſſ. Schachmeiſter,
Berliner Kunſtakademie, ſeit 1880 deren ord. der in Turnieren und Einzelwettkämpfen
Mitglied; ſeine Illuſtrationen (etwa 3000, zahlreiche Erfolge errang und ſelbſt Lasker
beſonders für deutſche Klaſſiker) und Bilder und Steinitz beſiegte, Lublin, 26. Jan. (geb.
(Lutherzyklus auf der Wartburg ꝛc.) wirken 12. Nov. 1850).
bei aller Anmut ſtark ſüßlich. Tſchirſchky⸗Renard Mortimer Graf v.,
Tierney Michael, kathol. Biſchof von preuß. Majoratsherr und Mitglied des Herren:
Hartford (ſeit 1893), daſelbſt, 4. Okt. (geb. hauſes, Groß ⸗Strehlitz, 18. März (geb.
29. Sept. 1839). 17. Sept. 1844).
Tige Erneſtine Gräfin v., Erſte Re: The HK (Tſuhſi), Kaiſerin von China,
gentin des Herzogl. ſavoyenſchen Damen- Peking, 15. Nov. (geb. 17. Nov. 1834).
ſtifts in Wien, daſelbſt, 4. April (geb. 21. Nov. Urſprünglich Nebenweib, nach der Geburt
1824); bekannt durch ihr ſegensreiches Wirken eines Sohnes, des jpäteren Kaiſers Tſaitſchun
in charitativen Vereinen und Anſtalten, auch (Tungtſchi), „weſtliche Kaiſerin“, 1861—1881
Sternkreuzordensdame. Mitregentin, 1881—1889 und ſeit 1898
Tornielli (-Brufati di Vergano), Graf Regentin von China; zuerſt europafeindlich,
Giuſeppe, ital. Staatsmann, Botſchafter ſpäter einer vernünftigen Reform geneigt.
in Paris, daſelbſt, 9. April (geb. 12. Febr. Türr Stephan, ungar. Rebellenführer,
1836). Geſandter in Athen, Belgrad und Budapeſt, 2. Mai (geb. 10. Aug. 1825).
Bukareſt, Botſchafter in Madrid, London Sein abenteuerliches Leben, das mit der
und Paris (ſeit 1895); tatkräftiger Mit-. Fahnenflucht aus dem öſterr. Heer begann
arbeiter an der Einheit Italiens, deſſen Ver (1849), führte ihn als Revolutionskämpfer
treter auf beiden Haager Friedenskonferenzen. in vieler Herren Länder (Baden, Oberitalien.
Tornquiſt Ernſt, Großkaufmann (der Balkanhalbinſel, Ungarn), 1859 — 1860 auch
„argentin. Rothſchild“), Buenos Aires, zu Garibaldi, wo er ſich (als „General“)
17. Juni. Deutſcher Herkunft, in Deutich- ſeine Volkstümlichkeit erwarb; 1869 —1870
land ausgebildet, begründete 1874 das jetzige zeigte er ſein Ungeſchick als Agent für die
Welthaus (Großbank, Zucker- und Fleiſch⸗ franz. ital.⸗öſterr. Bündnisverhandlungen
extraktfabriken, Koloniſationsländereien). und widmete ſich dann induſtriellen Unter⸗
Trede Paul, fchleswig-holft. Dichter nehmungen (Franzenskanal, Kanal von Ko⸗
(meiſt plattdeutich), Bremen, 29. Juni (geb. rinth); zuletzt eifriger Vertreter der Friedens.
19. Aug. 1829). bewegung und der Duellbekämpfung.
Treller Franz, Schriftſteller, Kaſſel, Uechtritz und Steinkirch Kuno v., Prof.,
29. Juni (geb. 15. Okt. 1843). Bis 1884 Bildhauer, Berlin⸗Wilmersdorf, 29. Juli
Schauſpieler, dann dramatiſcher Dichter (zahl- (geb. 3. Juli 1856). Schuf zahlreiche Monu⸗
reiche Volksbühnenfeſtſpiele, beſonders „Gu⸗ mentalbrunnen und Denkmäler, wie den
ſtav Adolf“), Jugend und Romanſchriftſteller Hubertusbrunnen im Berliner Tiergarten,
(„Vergeſſene Helden“). | das Georg⸗Wilhelm⸗Denkmal in der Sieges⸗
Tröndlin Karl Bruno, Juſtizrat Dr allee, Moltke⸗Denkmal in Breslau rc.
iur. et phil., Oberbürgermeiſter von Leipzig | Valente Antonio Sebaftiano, päpft-
und Mitglied der ſächſ. Erſten Kammer, licher Thronaſſiſtent, Erzbiſchof (ſeit 1881)
Dresden, 27. Mai (geb. 26. Mai 1835); von Goa und Patriarch (1886) von Of:
1884 1890 im Reichstag (nationalliberal). indien, Goa, Ende Jan. (geb. 20. Jan. 1846).
Tſchan Joſeph, Dr iur. und Advokat, Vecchioni Auguſt, bayr. Politiker,
Innsbruck, 2. Juni. 1901 — 1907 im öſterr. München, 14. Febr. (geb. 10. Jan. 1826).
Reichsrat, Schönererianer, der ſich 1902 an 1848 wütender Revolutionär, der ſich all ⸗
—— 4 S ——
IX. Totenſchau.
mählich mit dem bürgerlichen Liberalismus,
459
ſchaften in St Petersburg, daſelbſt, 16. Juli
deſſen Führer er lange war, zum ruhigen (geb. 1831). Vermittler zwiſchen der deutſchen
Politiker umwandelte, 1862 — 1881 Chef.
redakteur der „Münchener Neueſten Nach⸗
richten“.
Bega de Armijo, Marques de la, ſpan.
Staatsmann, Grande von Spanien, Madrid,
12. Juni (geb. 1826). Seit 1854 im politiſchen
Leben (Mitglied der Cortes), war er wieder⸗
holt Miniſter, Cortespräſident und Geſandter,
1906 Miniſterpräſident, der letzte Vertreter
des alten Liberalismus.
Vilas William Freeman, amerikan.
Politiker (Demokrat), Madiſon (Wisconſin),
Anfang Sept. (geb. 9. Juli 1840). Rechts-
anwalt, 1885—1888 Generalpoſtmeiſter,
und ruff. Literatur (Überſetzer Heines, Bör⸗
nes ꝛc.), Begründer des politiſchen Feuilletons
in Rußland, Präſident des einflußreichen
„Literaturfonds“.
Werner Fritz, Prof., Genremaler,
Berlin, 16. April (geb. 3. Dez. 1825). Ur-
ſprünglich Kupferſtecher, dann einziger Schüler
Menzels, ſpäter von Meiſſonier beeinflußt,
Meiſter der Landſchaft, des Genres und des
Rokokokoſtümbilds; ſeit 1880 ord. Mitglied
der Berliner Kunſtakademie.
Wiefinger Aug uſt, Oberkonſiſtorialrat
Prof. Dr theol., 1860—1898 Ordinarius
für neuteſtamentliche Exegeſe und praktiſche
1888 1889 Staatsſekretär des Innern, Theologie an der Univerſität Göttingen,
18911897 Senator; den größten Teil
(120 Mill. Mark) feines durch Holzſpekulation
daſelbſt, 9. Febr. (geb. 7. Aug. 1818).
Wigger Heinrich, päpſtlicher Haus⸗
erworbenen Rieſenvermögens vermachte er prälat und Apoſtol. Protonotar, Dompropſt
der Univerſität von Wisconſin. und langjähriger Generalvikar in Paderborn,
Bincens Cécile (Deckname: Arvede | daſelbſt, 18. Jan. (geb. 25. Dez. 1827).
Barine), franz. Schriftstellerin, Paris, Wilhelmj Auguſt, Prof., Geigenkünſtler,
14. Nov. (geb. 17. Sept. 1840). Enkelin London, 22. Jan. (geb. 21. Sept. 1845).
Stapfers, ſeit 1899 ſtändige Mitarbeiterin des Seit 1865 auf erfolgreichen Konzertreiſen in
„Figaro“ für Frauenfragen; auch Biographin. allen Erdteilen, 1876 erſter Konzertmeiſter
Bleek Väclav, tſchech. Romanſchriftſteller in Bayreuth, ſeit 1894 Lehrer an der Guild:
und Dramatiker (meiſt hiſtor. Stoffe), Rebak | hall⸗Muſikſchule in London; verband un:
teur und Herausgeber verſchiedener tſchech. fehlbare Technik mit klaſſiſcher Vortragskunſt.
Zeitſchriften, Prag, 17. Aug. (geb. 1839).
Vogel Emil, Muſikhiſtoriker, Organi:
ſator und 1893—1901 Bibliothekar der
„Muſikbibliothek Peters“ in Leipzig und
Herausgeber ihres „Jahrbuchs“, Nicolasſee
bei Berlin, 18. Juni (geb. 21. Jan. 1859).
Wachler Ludwig, Generalſtaatsanwalt
Dr iur., Oberſtaatsanwalt (ſeit 1892) beim
Kammergericht in Berlin, daſelbſt, 11. Nov.
(geb. 26. Nov. 1835).
Walton, Sir John Lawſon, engl.
Generalſtaatsanwalt (ſeit 1905) und Parla-
Verfaſſer der vorzüglichen „Großen Violin⸗
ſchule“ (1903).
Winterfeldt (Menkin), Ulrich v.,
Geh. Regierungsrat, Mitglied des preuß.
Herrenhauſes und (ſeit 1890) des Reichstags
(konſervativ, 1903 und 1907 Alterspräſident),
Menkin, 16. Juni (geb. 2. März 1823).
Wladimirow, Wirkl. Staatsrat, Direktor
für fremde Kulte im ruſſ. Miniſterium des
Innern, St Petersburg, 20. Okt.; ergebener
Anhänger Pobjedonoszews, erbitterter Feind
der kathol. Kirche und der weſteuropäiſchen
mentsmitglied (ſeit 1892), London, 18. Jan. Konſtitution.
(geb. 1852).
Wolff, Sir Henry Drummond, engl.
Wedekind Donald, Bruder von Frank Diplomat, Brighton, 11. Okt. (geb. 12. Okt
und Erika W., Schriftſteller (Romane, No⸗
vellen ꝛc.), zuletzt Dramaturg des Züricher
Stadttheaters, Wien, 4. Juli (Selbſtmord;
geb. 4. Nov. 1871).
Weinberg Peter, ruff. Schriftiteller,
Mitglied der kaiſerl. Akademie der Wiſſen .
1830). Enkel H. Walpoles, 1874 — 1878 im
Unterhaus (Anhänger Disraelis und ſpäter
R. Churchills), dann Bevollmächtigter in Oſt⸗
rumelien, 1885 Geſandter in Konſtantinopel
(Verhandlungen über Agypten), 1888 in
Teheran, 1891 in Bukareſt, 1892-1900
460
Botſchafter in Madrid. Diplomat der alten
Schule, auch Schriftſteller.
Wölfflin Eduard Ritter v., Geh. Rat
Prof. Dr phil., klaſſiſcher Philolog, Baſel,
8. Nov. (geb. 1. Jan. 1831). Aus altem
Basler Geſchlecht, erſt Gymnaſiallehrer, 1869
Univerfitäts-Brof. in Zürich, 1875 in Er-
langen, 1880 —1904 in München; bochver-
dient um die geſchichtliche Erforſchung des
lateiniſchen Sprachgebrauchs (meiſt in dem
von ihm begründeten „Archiv für lateiniſche
Grammatik und Lexikographie“) und als
Mitbegründer des Thesaurus linguae la-
tinae; ſeit 1879 Mitglied der Akademie der
Wiſſenſchaften in München.
Wolter Plazidus (Ernſt), Erzabt
von Beuron, treuer Gehilfe und Nachfolger
ſeines Bruders Maurus, Beuron, 13. Sept.
(geb. 24. April 1828). 1851 Prieſter, 1855
Benediktiner in St Paul (Rom), 1869 bis
1871 Prior in Arnſtein, 1874 Prior, 1878
erſter Abt von Maredſous, 1890 Erzabt von
Beuron; hervorragender Organiſator, Grün⸗
der der Abteien Maria⸗Laach, Regina coeli
in Löwen, St Joſeph bei Koesfeld, Sion,
der Frauenabteien St Scholaſtika in Maredret
und St Hildegard in Eibingen, Miterneuerer
der braſil. Kongregation.
Wright John Henry. Gräzift, Prof.
des Griechiſchen (ſeit 1887) und Dekan der
Graduiertenſchule (ſeit 1895) der Harvard⸗
Univerſität, Cambridge (Maſſachuſetts),
25. Nov. (geb. 4. Febr. 1852).
Wundtle Max, Verfaſſer einer Anzahl
Gedicht ⸗ und Novellenbände, Dresden, 30. Okt.
(geb. 8. Aug. 1863).
Wuthenow Alwine, Deutſchlands älteſte
Dichterin, deren meiſt ſchwermütige platt ⸗
deutſche Poeſien unter dem Decknamen „Anne⸗
marieken Schulten“ herauskamen, Greifs⸗
wald, 9. Jan. (geb. 16. Sept. 1820).
Satesti Stanislaus, 8. J., Verfaſſer
einer fünfbändigen Geſchichte des Jeſuiten⸗
ordens in Polen, Krakau, Aug. (geb. 1843).
IX. Totenſchau.
Zedtwitz (Schönbach) Karl Max Graf v.,
öſterr. Geh. Rat, ehem. Reichsrats⸗ und
Landtagsabgeordneter, Prag, 25. März (geb.
25. Juni 1844).
Sedtwig (-Duppau), Kurt Graf v.,
öſterr. Geh. Rat und Kämmerer, ſeit 1881
Mitglied des Herrenhauſes, Preßburg,
19. Nov. (geb. 3. Okt. 1822).
Zeller Eduard, Wirkl. Geh. Rat (Exz.)
Prof., Dr der vier Fakultäten, Philoſoph
und Theolog, Stuttgart, 19. März (geb.
22. Jan. 1814). 1847 Prof. der Theologie
in Bern, 1849 in Marburg, wo er wegen
ſeines extremen Liberalismus in die philo-
ſophiſche Fakultät verſetzt wurde, 1862 Prof.
der Philoſophie in Heidelberg, 1872— 1894
in Berlin; Mitglied der Berliner, Münchener,
Moskauer ꝛc. Akademien. Urſprünglich He⸗
gelianer, beſchränkte ſich aber immer mehr
auf das Sondergebiet der Geſchichte der
Philoſophie (beſonders mit der grundlegenden
„Philoſophie der Griechen“, 1844 — 1852,
3.—5. Aufl. 1869 —1903 in 5 Bänden),
deren anerkannter Meiſter er wurde; Mit:
begründer des „Archivs für Geſchichte der
Philoſophie“.
Zemp Joſeph, ſchweiz. Staatsmann,
Bern, 8. Dez. (geb. 2. Sept. 1834). Rechts ⸗
anwalt, feit 1862 konſervativ⸗demokratiſcher
Volksführer, 1871 Stände,, 1873 National“,
1891 Bundesrat (erfter Minderheits vertreter),
1895 und 1902 Bundespräſident; fein
Werk iſt die Verſtaatlichung der ſchweiz.
Bahnen.
Zindler Max, Gutsbeſitzer, preuß. Land⸗
tags (ſeit 1890) und Reichstagsabgeordneter
(konſervativ, ſeit 1903), Schönlanke, 15. April
(geb. 5. Juni 1852).
Zwierowicz Stephan, Biſchof von San:
domir (ſeit 1902), daſelbſt, 4. Jan. (geb. 7. Jan.
1844). Vorher (ſeit 1897) Biſchof von Wilna,
von der Regierung wegen „politiſcher Machen ⸗
ſchaften“ nach Twer verbannt.
Aall A. 188.
Abdu'l⸗Aſis 53.
Abiturientenexamen 116.
Ackermann R. 244 Anm.
Adam K. 164.
Adler F. 120.
Agrarfrage 91 f.
Aguilo y Fufter M. 263.
Agypten 56 f 59 226.
0 Frhr v. 47 f 50.
Aicher Gg. 153.
Alaleona a) 374.
Alberti 2. B. 259.
Albing A. 167 172.
Algeciras 53 f.
Alhambra 358.
Aelius Donatus 219.
Alkoholismus, Kurſus zum
Studium des 97.
Almeida Em. d' 205.
Alpertus Mettenſis 222.
Alt Rud. v. 347.
Altenburg Wilh. 388 Anm.
Altheim Wilh. 344.
Althoff Friedr. 120.
Amade, General d' 53.
Aman⸗Jean E. 344 349.
Amerika 65 69 77 112 114
120 181 f.
Amira K. v. 119.
Andreas W. 213.
Andrejanoff Mich. 308.
Anraury
Anti⸗ Alkoholbewegung 95
bis 97.
Anzeigenſteuer 136 f.
Anzengruber L. 298.
Apel M. 195.
Appia Ad. 383 Anm.
Apuleius 219.
Münchener
Aquarelliſten,
344.
Arbeiterfrage 20f 84 —87.
Archäologie 223.
Archilochos 216.
Regiſter.
— ee
Ardin, Erzbiſchof 27.
Arens Fr. 154.
Argentinien 64.
Ariſtophanes 216 397.
Ariſtoteles 192 194.
Arminius W. 321.
Arndt E. 191.
— M. 228.
Arnheim Fr. 206.
Arnim H. v. 217.
Aſch Schalom 308.
Aſchylus 220 317f.
. „Premierminiſter 10
Aßlaber P. 156.
Apberger L. 161.
Aubry P. 369.
Auernheimer R. 398.
Auguſtin A. 175.
Auguſtinus, hl. 152 164 f.
a 145 224 bis
Deutſche
Ausſtellung, Große Mün⸗
chener 345.
Auſtralien 64 85 273.
Automobilgeſetz 278.
Avenarius Ferd. 284.
B.
Bab Jul. 301 305 313 393f.
Bach vn Geb. 373.
— Joſ. 203.
Bacher W. 193.
Baden 38f 76 79 95 111
118 134 269 278.
Bader M. 159.
Bahr Herm. 332 394 f 397.
Baini G. 372.
Baiſt Gottfr. 250 260.
Balkan 6 47 51 57.
Balmer Wilh. 350.
Balzac H. de 341.
Bang Herm. 339.
— W. 241.
eh chulen,
113.
Bankenenquetekommiſſion
78.
Bantgelepnovelle 7 78.
Bannwart Cl.
Bär J. 346.
Baer Hs. 195.
Barat Magd. Sophia 10.
Bardenhewer O. 12 f.
Barnowsky V. 397.
Barres Maur. 255.
Bartholomew A. T. 221.
Bartoli P. 24.
— M. 248.
Bartſch R. Hs. 325.
Barwig Fr. 345 348.
Baſſermann Alb. 393.
Bath, Marquis v. 244.
Batka Rich. 381.
Battiſti C. 257.
Bauch Br. 194.
Bauer Leo 343.
Baum Jul. 361.
Baumann Jul. 178.
Baumeiſter Bernh. 394.
Baumgarten P. M. 153f.
Baeumker Cl. 192 — 194.
Baur K. H. v. 343.
Bayern 38 68f 76 79 91
95 113—115 121 123 134
156 207 269 274 278.
Beamtengeſetz 274.
Beaumont 242 244.
Beccari C. 205.
Becher Er. 188.
Bechtel Fr. 221.
2 M. Wlad. Frhr v. 42
— 1h. 192.
Becker Joſ. 219.
— Ph. A. 254.
Beckmann G. 201.
— K. 138.
Bedier Joſ. 254.
Beer⸗Walbrunn Ant. 381 f.
Behrens D. 256.
Belgien 63 202.
Bellay J. du 253.
462
Bellesheim A. 159.
Belſer Joh. 149 153.
Beltrami L. 356.
Benrubi J. 183.
Benſon R. H. 340.
Beradt M. 322.
Berger A. E. 208.
— Alfr. Frhr v. 389 396.
Bergmann H. 190.
Bergſon H. 183.
Berlin 55 75 80 88 103 f
109 111 115 118 121 f
132 139 198.
Berliner Vertrag 47 49f.
Bermann C. Ad. 345.
Bernadini G. 357.
Bernardakis G. 220.
Berner E. 206.
Bernhard v. Andermatt 11.
— M. v. Jeſu 11.
— L. 119.
Bernheim C. 203.
Bernini Lor. 357.
Bernſtein Elſa 306.
— Henry 307 397f.
Bertram E. 232.
Bertrand M. 382.
Besnard P. Alb. 344.
Beth K. 168.
Bewerunge H. 367 f.
Bezeeny Em. 372.
Bezold Fr. v. 208.
Bibel-Babel-Frage 148 f.
Bienerth Rich. Frhr v. 46.
Bierbach A. 139.
le Unterricht in der
115.
Bires Chm. 256.
e G. 166.
Biſchofsverſammlung, Pa-
riſer 27.
Bismarck, Fürſt 37 199 214f.
Biſſolati, Abgeordneter 23.
Bittner Jul. 382.
Blake Will. 244.
Blanche J. E. 344.
Blech Leo 381.
Bloch Herm. 200.
— Leo 212.
Bludau A. 145.
Blum 68. 207.
P . Bil Ka 154.
Boas F. ©.
Bode Herm. 138
Bodin L. 217.
Boehe 388.
Böhlau Hel. 332.
Böhme Lothar 232.
Böhmen 44f.
Boll F. 221.
Bondy W. 344.
Bonelli Giuſ. 222.
Regiſter.
Boni A. 225.
Bonnard P. 343.
Bonnat L. 349.
Bonus Art. 339.
Bonvin L. 370.
Boole G. 182.
Borinski K. 355.
Borngräber O. 309 397.
Borromäus-Verein 17 123.
Börſengeſetznovelle 32.
Börſenrecht 79 267.
Boscan J. 261.
Boeſch Paul 223.
Bosnien 46 48 50 f 57;
Annexion 46—51 57.
Botet y Sifo J. 263.
Boetzke C. 186.
Bourget P. 341.
Bourne, Erzbiſchof 10.
Boutrour E. 183.
Boykottbewegung 49 66 73.
Bracht Eug. 346.
Bradley H. 237 240.
Bram Otto 393 f 397 f.
Braig K. 161 163 215.
Braithwaite W. 243.
Brandi K. 203 212.
Brandl A. 235 249.
Braſilien 64 74.
Braß A. 120.
Braun Joſ. 156 361.
— Otto 178.
— Wilh. 168.
Brauſewetter Art. 333.
Breccia E. 216.
Bredenbrücker R. 325.
Breiter Th. 220.
Brenet Mich. 372.
Brennwald H. 205.
. Franz 187.
Breßlau H. 197 203.
Breymann H. 250.
Breyſig K. 197.
Brink Bernh. ten 235.
Brod Max 334.
Brommer Ferd. 165.
Brotanek R. 240.
Brück H. 156.
Brühl Norb. 188.
Brüne Heinr. 344.
Brunhuber Rob. 138.
Bruyne de 147 Anm.
Buchenau Art. 194.
Buchheit H. 357.
Buchwald Rud. 173.
Buffa 25.
Bühler K. 189.
Bukowski A. 167.
Bulgarien 40 57.
Bullen A. H. 244 Anm.
Bülow, Fürſt B. 34—37.
Buol M. 325.
Burckhard, Abg. 136.
— Max 332.
Burckhardt G. Ed. 195.
Burda A. 357.
Burkitt 152.
Burrell D. J. 168.
Buſch W. 361.
Buſolt Gg. 218.
C.
Cäcilienverein, Allg. 372.
Cagnat R. 223.
Calderon 312 316.
Camòes 250.
Campbell K. 238 Anm.
Candidus 185.
Capillas Fr. de 11.
Carlos I. von Portugal 62.
Carnegie Andr. 73.
Caro G. 197.
Carpenter Edw. 186.
Caſablanca 53 281.
Caſali, Kardinal 11.
Cafaftas, Kardinal 11.
Caſtelar Em. 262.
Caſtelle Fr. 395.
Caſtets Ferd. 259.
Caſtro 63.
Cauer Paul 116.
Cavennaghi L. 355 f.
Cernik Berth. 157.
Cervantes 250.
Cézanne P. 346 349 f.
Chambers E. K. 241 244.
Champol R. 340.
Chapman G. 241.
Charitastag 17.
Charmatz Rich. 214.
Charpentier G. 379 f.
Chaſſèriau 350.
Chatelain Em. 222.
— H. 256.
Chaucer G. 239.
Cheramy P. A. 255.
Chevalier U. 203.
Chiaradia Eug. N. 258.
China 64.
Chryſoſtomusfeier 9 156.
Church A. K. 352.
Cicero 218.
Cichorius Konr. 220.
Cladel Jud. 362.
Clarke H. A. 242.
Claſſen J. 186.
Claudius Ptolemäus 218.
— M. 228.
— Wilh. 346.
Clemen P. 359.
Clemenceau 61.
Cockayne O. 236.
Cohen H. 191.
Cohn Jonas 184.
— Will. 362.
Collier J. P. 2
Colombiere Cl. 155 la 171.
Combes 61.
Comité Commercial Franco-
Allemand 72.
Commer Clara 293.
— E. 162.
— Fr. 372.
Comparetti Dom. 216.
Conrad W. 267.
Cormon F. 349.
Cornu F. 250.
Coſter Ad. 261.
Coulon V. 218.
Courthope J. W. B. 240.
Couturat L. 182— 184.
Cowley Abr. 243.
Cracken H. N. Me 238.
Craig E. G. 392.
— W. J. 242.
Craigie W. A. 240.
Cranach L. 360.
Crawford A. W. 241.
Creizenach W. 241.
Creuzinger P. 213.
Crignis A. de 292.
Croiſet M. 217.
Croiſſant⸗Ruſt A. 328.
Croner Elfe 333.
Crönert W. 216 f.
Cyprian, hl. 165.
D.
Dahn Felix 209.
D' Albert Eug. 377 Anm.
381.
Dalmann G. 148.
Dalmatien 51.
Dalmeyda G. 218.
Dante 258 283.
Dargomiſchski 382.
Darmſtaedter P. 211.
Daumier H. 362.
Dauſch P. 149 151.
David J. J. 228.
Davidſohn R. 212.
Davis W. M. 120.
Dawkins R. M. 224.
Dayot A. 362.
Debuſſy Cl. 379 f 384.
Dechevrens A. 370.
Deharbe Joſ. 177.
Dehmel Rich. 286.
Deichert H. 201.
Deißmann Ad. 147.
Delamarre Jul. 222.
Delisle L. 202.
Delitzſch Fr. 148.
Regiſter.
Delphi 224.
Denifle Heinr. 168.
Denis Maur. 350.
Denk Joſ. 152.
e 24 278 f 363
— 9 Verein für
Pesce Eb. 149.
Denzinger 9. 163.
Deonna W. 223.
Dernburg Bernh. 81.
Descartes René 182 194.
Dettmann Ludw. 343.
Deuſſen P. 190.
Deutinger M. 170.
Deutſchland 6 11— 17 19 31
bis 39 40 51f 58 67f
71 74f 77 84f 92—96
100 f 104f 111—114 119
121 123f 132—139 155 f
162 178 181 201 227 251
265 269 275 279—281
370 386.
Deutſch⸗Südweſtafrika 81 f.
Devolutionsgeſetz 26 60.
Dewey J. 181.
Diederichs E. 207.
Diels H. 191.
Diercks G. 262.
Dieterich K. 211.
Diez Jul. 390.
Diözeſankongreß, Lyoner 27.
Di Pauli A. v. 158.
Dobell B. 243.
Doeberl M. 206 209.
Doebler Joh. 381.
Döller Joh. 146 Anm.
Domanig K. 296 300 360.
Dominicus⸗Straßburg 88.
Dorn Otto 381.
Dörpfeld W. 224.
Doerr O. 292.
Dorſch Em. 164.
Dorſchel G. 213.
Doumic R. 256.
Drerup E. 211.
Dreves G. M. 374.
Drews A. 177 192.
Droyſen H. 206.
Dryden 243.
Ducros L. 255.
Dufan Cl. 350.
Dukas P. 380.
Duns Scotus 166 193.
Dürer Albrecht 359 f.
Dürerbund 117 365.
Dürr E. 189.
Duval 350.
Dvokäk M. 357.
Dyce Al. 244.
Dyroff Ad. 178 187.
463
E.
Ebbinghaus H. 187.
Ebed⸗Jahve⸗ Frage 150.
Ebenhoch Alfr. 312.
Eberhard O. 176.
Ebhardt B. 364.
Ebner Vikt. v. 128.
Ederer K. 348.
Eduard VII. von England
55 58 159.
Egelhaaf G. 215.
Ehedekret Ne temere 158 f.
Ehrhard Alb. 11f 162.
„ Joſ. Frhr v. 228f
Eichert Fr. 287 296.
Eichler R. M. 345.
Eigl Leop. 156.
Eingemeindungsfrage 80.
Eiſenbahnweſen 75— 77 82.
Eiſengrein M. 156.
Eisler Rud. 184.
Elſter Ernſt 231.
N! Joſ. A. 192 f.
Engel 8. f. 195.
— Gg. 335.
England 10 30 35f 40 48
50 53—60 63 f 71f 74f
77 85 94 100 112 121
181f 251 272f 279 281
386.
Enking O. 330.
e snovelle 276.
Enzyklika Supremi 174.
— Pascendi 11f 12 14f 17
23 27 161. |
— Rerum novarum 86.
Ephrem III. Rahmani 9.
Epigraphik 222.
Epiſkopat, Konferenz des
deutſchen 15
Erhardt Fr. 194.
Erler Fr. 345 390 f.
— Otto 397.
Ernſt A. 381.
— Otto 320.
Erziehungs- und Schul⸗
Aland he für
deutſche
Escobar er U. de
169 f.
Esman G. 397.
Espagne Fr. 372.
Eſſer, Gerh. 163.
l Kongreß 9 30
Enden Rud. 180 f.
Eudes Joh. 11.
464
Eulenberg Herb. 305 395 f.
Eulenburg Fr. 119.
— Fürft Ph. 35.
Eulenburgprozeß 35.
Euripides 216 218 f.
Evans Arthur 225.
Ewald Osk. 195.
Eyſoldt Gertrud 393.
F.
Fabri de Fabris R. 381.
e rhea 304 f 396.
— Rich. 1
Falke Guſt 86 322.
— Konr. 301.
Farinelli Art. 258.
Fatigati E. S. 358.
Fauchille 279.
Federici V. 222.
Federn K. 186.
Feldmann L. 343.
Fellinger Ferd. 254.
Ferrara Joh. 219.
Ferrari A., ata 24.
Ferreres J. B. 172.
Feſter Rich. 196 199.
e E. Frhr v.
svenillceat 241.
53.
Fez
Fichte J. G. 178.
on: Ant. Avertino
Finanzweſen 79.
Finke H. 199 204.
Fiſchart Joh. 229.
Fiſcher oi Kardinal 16.
1 Kelly J. 261.
Flaiſchlen C. 288 290.
Flameng Fr. 349.
Flandrin J. H. 350.
Flaskamp Chr. 290.
Flaubert Guſt. 341.
Fleiſcher O. 369.
Fletcher Gil. 243.
— Phin. 243.
— R. H. 238 Anm.
Fleury Alex. 370.
Flügel Ew. 238 — 240.
Fonck Leop. 126.
Fontane Th. 285 394.
Fontenelle Bern. le Bovier
de 253.
Forch C. 187.
Forel A. 118.
Forſchner K. 161.
Förſter Max 236.
— W. 248.
Foerſter F. W. 117 173.
Regiſter.
Forſtwirtſchaft 64 f.
Fortbildungsſchulen 102
108f 132.
Fortbildungsſchultag, Deut;
ſcher 108.
Fournier Aug. 213.
Grandi be’ Cavalieri Pio
Franco 63.
Francotte H. 211.
Franke, Hptm. 81.
Fränkel H. 285.
Frankfurter R. O.
Frankreich 10 25 27 52—54
60f 72 77 84 120f 133
200 264 273 280 f 369
373 386.
Franz Ferdinand, Erzherzog⸗
Thronfolger 40.
Franz Solent I. von Öfter-
a 39—41 48 52
— e 22
39—41 347.
e Katholiſcher 17
5 16 97—101.
Frauenſtudium 121.
Freerlogion 146 f.
Freie Schule, Verein 131.
Freihandelsidee 72.
Freiſtudententum 122.
Frekſa Fr. 396.
Freudenberg F. K. 95.
Frey Karl 355.
— Viktor 328.
Fried A. H. 281.
R. 92
Friedemann R. 206.
Friedenskongreß 281.
Friedjung Heinr. 214.
Friedmann Wilh. 259.
Friedrich Ernſt 254.
— Ph. 165.
Fröbes J. 186 f.
Frommel O. 323.
Fronner Fr. 262.
. 95.
Suds © . 361 390 392.
K. G. 93.
a Gebh. 344.
Fulda Ludw. 297 308
397.
Funder Fr. 20.
Sunfentelegraphji 77 277
9 1 H. H. 242.
Furnivall F. J. 239 242 f.
Fürſorgeerziehung, Geſetz⸗
entwurf über die 125.
Furtwängler A. 224.
Fuzet, Erzbiſchof 26.
Gabriel della Addolorata 11.
Gainsborough Th. 351.
Galaterfrage 152.
Gallwitz B. 234.
Ganghofer Ludw. 306 397.
Ganguin P. 349 f.
Garriguet L. 86.
Gascoigne G. 243.
Gaſſendi P. 194.
Gaſteiger M. 86.
Gaftoué Am. 369.
Gaul A. 346.
Gauß O. 375.
Gebhard Ernſt 344.
1 IN v. 343 346.
Geijerſtam G. af 338.
Geißler Max 288 290 296
325.
Gengel A. 209.
Genieſſe J. B. 172.
Gennari, Kardinal 159.
Gerdes Heinr. 209.
Geſchichtskunde, Geſellſch. für
ältere deutſche 200.
Getreidemonopol 68.
Geucke K. 308.
Gevaert Fr. Aug. 369.
Gewerbenovelle 88.
Gewerbeordnung 32.
Gewerkſchaftsbewegung 14
20f 86—88.
Gewin 346.
Geymüller, Frhr H. v. 264.
Giacomo Salvatore di 260.
Giehlow K. 360.
Gigli Giuſ. 259.
Gilbert O. 191.
Ginnecken T. van 190.
Glagau Hs. 213.
Glaſer Kurt 360.
Glinka M. J. 382.
Gloßner M. 162.
Glover A. 244.
Godin M. A. v. 325.
Gogh V. v. 346 349 f.
Goldmark C. 382.
Goldoni Carlo 259.
Gollancz J. 238 242.
Gomperz Heinr. 190.
— Th. 191.
Gorki M. 341.
Gorra Ed. 260.
„ 16 83 166
Goethe 195 230 285.
Gothein E. 208.
Göttler J. 176.
Gottſchewski Ad. 355.
Gottſelig Leop. 193.
A
gr
Goetz W. 201 365.
Götzl A. 381.
Grabbe Chr. D. 228.
Graber E. 203.
Graefe F. 362.
Gralbewegung 296.
Grammont M. 256.
Gran Dan. 157.
Grandidier Ph. A. 200.
Gratian 160.
Grau G. 239.
Grautoff O. 362.
Graz (Univerſität) 127.
Greg W. 241.
Gregor von Tours 173.
Gregori Ferd. 395 f.
Gregory C. R. 146 153.
Greiner L. 318 396.
Greinz Rud. 326.
Grenfell B. P. 146 Anm., 215.
Greßmann H. 146 Anm.
Grillparzer 91 a
Grimme H. 2
Genen 3. J. Chr.
Grdber er 248—250 260.
Groller M. 227.
Gronau G. 357.
Grönert W. 218.
Großbritannien 72 74.
Gruber Karl 250.
Grueber Erw. 265.
Grünbaum A. A. 189.
Gruner, Kaplan 153.
Grünwald 280.
Grupp Gg. 207.
Guidoni B. 204.
Guiney L. J. 244 Anm.
Gumppenberg H. v. 396.
Günter 119.
Günther Rud. 293.
Gurlitt Corn. 171 363.
— Ludw. 117.
Gutberlet K. 182 186.
Gutzkow K. 228.
Gymnaſium 114.
Gyſtrow E. 297.
9.
Haack Fr. 296.
Haag, e 53 281.
Haaſe F. 1
Haberl F. A 372.
Haberlin P. 182.
Habermann H. v. 344.
Habich G. 357.
Haeckel E. 120 123 126.
Haeckmann G. 239.
Hagemann K. 389 396.
Hagenbund 343 346 348.
Hahn Otto 333.
Regiſter.
Hahr Aug. 360.
Halbe Max 396.
Hale Mr. 36.
Hall Stanley 112.
Hallwyl, Graf H. v. 168.
Halm Alfr. 397.
— Ph. M. 346 360.
Hamelmann Herm. 201.
Hamm Fr. 170.
Hammer H. 361.
Hampe K. 209.
Haendcke Berth. 352.
Handel und Gewerbe, Deut⸗
oe Zentralverband für
Pr ⸗Mazzetti E. v. 287.
Handelsrealſchulen 114.
Handelsſtandfrage 92 f.
Handelsverträge 71.
Handl Jak. 372 f.
— Willi 393.
Handwerkerfrage 89— 91.
Haenel E. 366.
Häpke Rud. 212.
Haraszti J. 253.
Harden M. 35.
Hardt 15 298 300 f 395.
Harlan 322.
un Db. 146 153f 163
Hartmann E. v. 192.
— Ernſt 394
— L. Mor. 202 210.
Hattler Fr. S. 171.
Hatvany L. 114.
Hauck Alb. 197.
— K. 206.
Hauffen A. 229.
Hauptmann Gerh. 297 f 300
304 306 389 397.
— Karl 323.
Hausegger S. v. 384.
Hauſer Otto 294 324.
Häußer K. 394.
Hauviller E. 364.
Headlam W. 217.
Hebbel Fr. 301 304 311
396.
Hecht H. 236.
Heemskerk 63.
Heer Joſ. M. 152.
Hegenbarth Em. 346.
Heiberg J. L. 218.
Heichert O. 343.
. Schloßbaufrage
Heidi E. 359.
Heilborn Ernſt 228 318.
Heile W. 166.
Heilmann A. 155.
Heine Alb. 394.
— Heinrich 234.
Jahrbuch der Zeit⸗ und Kulturgeſchichte. II.
465
Heine Th. Th. 390 f.
Heiner Fr. X. 158 f.
Heiniſch P. 149 151.
Heinrici C. F. 147 Anm.
Heiſenberg A. 199.
Heitz Paul 363.
Ye Frhr. Joſ. v. 22.
ellinghaus O. 285.
Hellraeth H. 14.
Helmolt H. F. 206 209.
Henne am Rhyn O. 207.
Hennemann K. 162.
enslowe Ph. 241.
eraeus W. 219.
Herbert M. 286 2885 294
296 331 f.
Hercegovina 46 48 50 f.
Herfurth K. 215.
Herkner H. 86.
Herodot 216 218.
Herre P. 198 Anm.
Herrera F. de 261.
Herrig Ludw. 249.
Hertling, Frhr. Gg. v. 16.
Herwerden H. van 217.
Herzog Rud. 396.
Heſſe Herm. 328.
Heſſelboom 344.
Heſſen 111 121.
Heßler A. 365.
Hetzenauer M. 151.
Heu Joſ. 348.
Heuß A. 373.
Hewelcke M. R. 231.
Heyck Ed. 360.
Heyne M. 208.
Heyſe Paul 331.
Hick R. 192.
Hieronymus, hl. 152.
Hilgenfeld H. 169.
Hilger Joſ. 292.
Hill D. J. 199.
— Rich. 240.
Hiller J. A. 377 384.
— v. Gaertringen 222.
Hinneberg P. 247.
Hintze O. 197 206.
Hirn Joſ. 214.
Hirſchfeld Gg. 397.
Hippokrates 192.
Hiſtoriker, Verſammlung
deutſcher 196.
anal Kommiſſionen 200
— Bienen, Kongreß
8e Inſtitut, Kgl.
201.
Preuß. (Rom)
= der Görres-Gefellich.
Hitze F. 9
Hart &. 296.
30
466
Hoberg G. 150 163.
Hobza A. 158.
Hochſchulen 118 121.
Hochſchulkurſus, Zweiter
theol. 17 163.
e weiter
deutſcher 12
Hochſchulſtreik 17
Hodler Ferd. 350 f.
n „Graf P. v. 126f
Hofer Karl 346.
Höffding H. 187.
Hoffensthal Hs. v. 325.
Hoffmann Adalb. 230.
— 3915 H. v. 279.
348.
n v. Fallersleben
Sorfler Mar 250.
Hofmann L. v. 346.
Th. 356
Hofmannsthal Hugo v. 317f
393.
Hofmeiſter Ad. 112.
Hohkönigsburg 363.
Höhler M. 154.
Holder⸗Egger O. 200 204.
Hölderlin 232.
Holitſcher Art. 309.
Holland 16 63.
1 A. 365.
— Feli
Holthausen 8 F. 236.
Holz Arno 389.
Homanner Wilh. 151.
Homolle 224.
Hompel ae ten 14.
Hoen M. v. 214.
Sanden 9, 15 Anm., 150.
Hopfl H. 1
Hopfner sr 292
Hoppe Herm. 327.
Hoppner J. 351.
Horn W. 239.
Horſchick J. J. 335.
Hoſemann Th. 346.
Hotzſch O. 206.
Houdard G. 370.
Hübner Rud. 265.
Huch Rud. 323.
Hude K. 218.
Hudſon 242.
ee Graf D. v.
Saved werd. 349.
Humboldt W. v. 179.
Humperdinck E. 388.
Hunt A. S. 146 Anm., 215.
Hurter H. 171.
Hutchinſon Th. 244.
Huyſkens Alb. 204.
Regiſter.
J (i).
Ibſen 397.
Ignatius, hl. 171.
Indexbewegung 14.
ndien 59.
Indy V. d 388
Innitzer Th. 1
Innsbruck Gntverſttnt) 126
bis 128.
Institut d' Estudis Catalans
Irland 30. 263.
Iswolski 50 62.
Italien 7 23—25 44 50 52
57 61 f 84 181 f 225f 279
281 373.
J (i.
Jaberg Karl 252.
Jacobius Helene 254.
Jacobſohn S. 395.
Jacoby Al. 311f 395.
Jagdverpachtung 69.
Jahns 278
Janmot L. F. 350.
Janſen Karl 236.
Janſſen, Dr 16.
— P. 343.
Japan 64 279.
Jarno Joſ. 398.
Jean Paul 232.
Jericho 145.
Jesperſen O. 240.
Jodl Friedr. 128 187.
Yoel Karl 190.
Johannes Chryſoſtomus 9;
vgl. Chryſoſtomusfeier.
Johner D. 371.
Jones J. 240.
— W. L. 236.
Jonſon Ben 241.
Jordan Leo 254.
Jorgo N. 211.
Joujet P. 223.
Journaliſtenſtand 136 144.
Jouſſet P. 262.
Juanſchikai 64.
Jubiläumsfeſtzug (Wien) 40.
Jud Joſ. 293.
Jugendfreundvereine, Ka⸗
thol. 17.
Jugendfürſorge 16 89 272.
Jugendgerichte 84 269 271 f.
Jugendvereinigungen, Erſter
röm. Diözeſankongreß der
24.
Jung J. 9
unte P. 344.
ngla8 P. 154.
Jungmann K. 194.
Juriſtentag, Deutſcher 264.
Juſti K. 358.
— L. 357.
Juſtizreform 268.
K.
Kaffeevaloriſation 74.
Kaftan Th. 167.
Kainz Jos. 395 397.
Kaiſer Iſabelle 288 290 336.
Kaiſer⸗Interview 36.
Kalckreuth, Graf L. v. 346.
Kant 194 f.
Kapland 59.
Kardinalkongregation 8.
Kardinalskolleg 11.
Karſt J. 159.
Kartellweſen 69 71 74.
Kaſſner Rud. 192.
Katechetiſcher Kurs, Mün-
chener 176.
Katechetiſch⸗ bäbagogüicher
Kurs, Wiener 22 176.
Ratedjismustongre Pariſer
ee Italien.
Ratgitento , Diiffeldorfer
— 1Sechſer allg. öſterr. 126.
— Siebter allg. öſterr. 20.
een Oſterr. Lan ⸗
des- 19 f 141.
Katſchthaler, l 175.
Käuferbund 9
Kaufmann G. 199.
— Gg. 397.
Kaufmänniſche Vereinigun⸗
gen, Kathol. 92.
Kaufmänniſches Unterrichts⸗
weſen, Deutſcher Verband
für 102 111 114.
Kavvadias P. 225.
Kayßler Fr. 393.
Keats John 244.
F. 199.
H.
Leder Alb. v. 342 344.
— Gottfr. 232.
— Heinr. 321.
Kellermann B. 335.
Kellner H. 152.
— Leon 244.
Kemmerich M. 353.
Kentenich G. 205.
Keplerbund 120.
Keppler, 2.00) v. 107.
Ker W. P. 237 243.
Keſternich, abe. 103.
Keutgens F. 197.
Keyſerling E. v. 330.
Kiefer O. 192.
Kiefl F. X. 162.
Kiekebuſch A. 208.
Kienzl Wilh. 381.
Kienzle H. 207.
Kihn Heinr. 151.
Kinderleſehallen 104.
Kingery H. M. 219.
Kinkel W. 191.
Kircheiſen F. M. 213.
1 Hs. 334.
zung Yoh. B
Kittel 146 5
Kjar shits 308 398.
Klameth G. 150.
Klein Franz 125.
— 342
Ph. 342.
Klimke Gr 182.
Klimt Guſt. 348.
Kloſe 388.
Klöß A. 278.
Kloſſowski E. 362.
Klotz A. 219.
Knapp Fr. SE
Knauth J. 354
ie Fr. J., Weihbiſchof
BR Ph. 162 f.
Kneller K. 157.
Köberle 147 Anm.
— 9. 93 147.
e 111f.
Köhne 205.
— Paul 269.
Kolb K. 165 192.
Kolonialweſen 81 f.
Kommunalweſen 80 f.
Kongoſtaat 63.
a „Marianiſche
König Ed. 151.
— Joſ. 233.
Konrad H. A. 288.
Korn A. 265.
Kornemann E. 217.
Körte A. 217.
Kortleitner Fr. X. 150.
Koſch Wilh. 228 f.
Koſer R. 206 208.
Kotſchenreiter H. 343.
Krägelin P. 202.
Kralik Rich. v. 284 286 292
296 313—316.
Kraze Fr.
Regiſter.
Krämer J. O. 348.
Krane, Freiin Anna v. 336.
Kraſtel Fr. 395.
Kraus F. X. 354 f.
Kraus⸗Geſellſchaft 162.
H. 329.
Krebs Ph. 221.
Kreibig J. K. 184.
Kremer Joſ. 93.
Kretzſchmar H. 374 386 Anm.
Krieg Corn. 163.
Kriminaliſtiſche Vereinigung,
Internationale 270.
Kroatien 51.
Kröger Timm 328.
Kroll Wilh. 218 220.
Kromayer Joh. 197 226.
Kronenberg M. 179.
Kropatſchek Fr. 149.
Kroſe H. A. 94 177.
Kroſius Aug. 188.
Kroyer Th. 372.
Krug M. 311.
Krüger P. 207.
Krumbacher K. 211.
Krumbholtz R. 205.
Kuang Hſü 64.
Küchler W. 255.
Kuehl G. 346.
Kühn E. 230.
Kühnel E. 358.
Kultuspfennig 25.
Kummer Br. 15
— K.
nag ere. Beledlhafe f.
Sunfausfehungen, Baſel
— Berlin 346 f 351.
— Darmſtadt 345 f.
— Dresden 346.
— Kloſterneuburg 349.
— München 341 — 345 351.
— Paris 349 f.
— Petersburg 350 f.
— Wien 347 —349.
Künſtle K. 358.
Künſtlertheater 383 389 bis
391 396.
— Iſolde 291.
Kyrillos VIII., Patriarch von
Antiochien 9.
2.
Lachelier J. 184.
Laſite C. 381.
Lagerlöf S. 338.
467
Lambrecht Nanny 326 f.
Lamprecht K. 197 209 309.
Landenberger Chr. 343.
Landeserziehungsheime 113f.
Landeslehrerakademie 130.
Landsberger Fr. 361.
Landwirtſchaft 67 f.
eee ee
Deutſche 9 |
Lang Herm. 345
— H. R. 248.
Lange Hel. 97 99 f.
— Sven 397.
Langland Will. 237.
Laparra R. 382.
Larſſon K. 344.
La Touche G. 349.
Laube Heinr. 228.
Laubmann G. 206.
Lauer Amalie 89.
— Herm. 154.
Laviſſe E. 210.
Lazarus J. 139.
Lazzaroni Mich. 356.
Leathes St. 210 235.
Lechner Joh. 204.
Lecot, Kardinal 11.
Leeuwens J. van 217 219.
Lefebvre J. 349
Legrand E. 217.
Lehaͤr Fr. 377.
Lehmann Elſe 393.
350.
Lehrer, Vereinsverband ata:
demiſch gebildeter 113.
brer und Lehrerinnen, Ver:
band katholiſcher (Zweiter
Nationalkongreß) 25.
Lehrerbildungsanſtalten 130.
sas eae Deutſch⸗öſterr.
3 108.
Lehrerverband, Kathol. 105.
Lehrerverein, Kathol., Wirt:
tembergs 107.
Leibl Wilh. 347 361.
Leibniz 182 f.
Leichentritt H. 374.
Leimbach K. A. 148 150.
Leiſtikow W. 346.
Lemaitre J. 254.
Lemire, Abbe 26.
Lenzen M. 292.
Leo XIII. 7 10 86 153.
Leo Fr. 217 219.
— H. 202 210.
Leo-Geſellſchaft 21 f.
— — pädagog. Sektion 130.
Leonardo da Vinci 257 355f.
Leonhard Rud. 120.
30 *
468
Leitner M. 159.
Leppin P. 334.
Lercher Ludw. 172.
Levi Eug. 258.
Lexikographie 221 236 239.
Lezius H. 279.
er Emft 345.
346.
Liechtenſtein, Prinz Alois 0
Lieſe W. 177. 51.
Lietz H. 114.
Lietzmann H. 146 169.
Lilien E. M. 366.
Lilieneron D. v. 286 f 324.
Lill Gg. 360.
Lindemann 395.
Linden Jak. 177.
Lindenborn Heinr. 138.
Lindſay W. M. 221.
Lippert Wold. 206.
Lipps Th. 185 188.
Liſzt Fr. v. 281.
Littmann Max 345 390.
Livius 218.
Llandaff, Lord 10.
Lobſien Wilh. 233.
Löffler Kl. 201.
Löfftz L. 346.
Loga Val. v. 362.
Lohmeyer K. 210.
Loiſy Alf. 27.
London 9f 30 54 72 118.
Lo Parco Fr. 249.
Lorenz J. 87 Anm., 95 Anm.
Lorenzo il Magnifico 257.
Lorinſer Fr. 316 f.
Loerke Osk. 335.
ieee 18f
Loſſen L. 394.
Lothar Rud. 398.
Lucilius 220.
Lucretius 222.
Ludwig Em. 303 f.
— Vinz. 157.
Ludwig Philipp, Kronprinz
von Portugal 63.
Lueger Karl 126.
Luftrecht 279.
Luginbühl R. 205.
Luitpoldgruppe 344.
Luther M. 168 208.
Lydgate John 238 f.
Lyon, Prof. 145.
M.
Maartens M. 340.
Mabillon J. 202.
Macaliſter R. A. S. 145.
Macauley G. C. 237.
Mackowsky Hs. 355.
Regiſter.
ä 98 109
bis 1
i 17.
Maddalena Edg. 259.
Mader 153.
Magne Em. 255.
Mahler G. 384 388.
Mahn Paul 256.
Maier Heinr. 189.
— Pius M. 11.
Maignan Alb. 349.
Manacorda G. 249.
Mancini G. 259.
Manén J. 382.
Manes, Künſtlerbund 348.
Mangold Ant. 343.
Manilius 220.
Manly Joſ. 237 f.
Mantuani Joſ. 372.
. König von Portu⸗
Marchet Guſt. 127.
Marcks E. 199.
Marconi -⸗Geſellſchaft 279.
Marcuſe 117.
Marczali H. 199.
Marées Hs. v. 351.
Mariazell, Krönung des Gna⸗
denbildes 20.
Marokko 52—54 61.
Marr K. .
Martens K. 304.
Martin H. 350.
Marty A. 190.
Marvell Andr. 244 Anm.
Masqueray P. 219.
Maeterlinck 303 380 393.
Mathies, Baron v. P., |. Al ⸗
ing.
Mathieu, Kardinal 11.
Matitevit St. 185.
Matkowsky Ad. 394.
Matſchoß A. 215.
Mattiſſe H. 350.
Maturitätsprüfung 129.
Maurenbrecher B. 221.
— M. 169.
Maurice P. 382.
Mausbach Joſ. 15.
Marx Wilh. 15.
Mar, ie pon Sadfen
815 Alfr. 151.
— Aug. L. 358.
— Joh. Gg. 154.
Mayhew A. L. 239.
Mayr Jul. 361.
— K. 201.
— Otto 278.
Mayreder Roſa 290.
* Joh. 290 311 f
Mazedonien 6 47f 55.
Mazon P. 217.
Mecklenburg 273.
Medicus Fr. 178.
Meier E. v. 214.
Meili Fr. 280.
Meinertz M. 152.
Meinhold J. 150.
— Joh. Wilh. 228.
Menander 216 f.
Menge G. 155.
Menſchikow 30.
Menſi A. v. 191.
Mentz A. 222.
Menzel Ad. 343 347.
Mercier, Kardinal 161.
Meredith G. 340.
Mérimée E. 261.
Merimée Pr. 341.
Meringer Rud. 190.
Merkle S. 199.
Meſchler Mor. 172.
Meß A. v. 218.
Meſſel K. 346.
Meſſer Aug. 189 195.
Meſſina 62.
Meßthaler 396.
Metrikfrage 150.
Metzner Fr. 348.
Meumann E. 188 — 190.
Mexiko 279.
Meyer Claus 346.
— Eduard 211.
— K. oe oe
— Kuno 2
— R. M. 245 Anm., 286 298
305.
— Lübke Wilh. 248 250
bis 252.
Michaltſchew D. 185.
Michel Wilh. 361.
Michelangelo 355.
Mietervereine, Verbandstag
deutſcher 93.
Miketta K. 149.
Minges Parth. 165 193.
Minocchi, Prof. 24.
Minor Jak. 228.
Mißbrauch geiſtiger Getränke,
Deutſcher Verein gegen 97.
5 nee Orthodoxer
Mittelſchulen, Oſterr. 129.
Mocquereau, Dom 370.
Modernismus 3 12 14f 23
30 161 —164.
Mohl 80.
Möhler A. 374.
Moiſſi Alex. 393.
Möller Hs. 230.
Molnar Fr. 397.
Mommert K. 148.
Mommſen Th. 197 202.
Monnard H. 394.
Montaninduſtrie 70.
Montenegro 49 57.
9 Graf M. Joſ.
8 Kongreß,
Erſter internationaler 104.
Morandi L. 257.
Moerchen F. 170.
Mordtmann A. J. 337.
* Heinr. 247 249
Morsbach L. 239.
Moſer Kolo 348.
Moske E. 151.
Moſt Helene 292.
Möſt Herm. 343.
Mottez L. V. 350.
Mücke G. 234.
Mühlbacher E. 204.
Mühle Fr. von der 95.
Mühlenſyndikat 68.
Muley Hafid 53.
Müller G. A. 336.
— Herm. 147 Anm.
Müller⸗Simonis 27.
Münch P. Gg. 321.
— W. 112 199.
. 80 88 98 114
Mundt Alb. 354.
Munerati D. 86.
Mufoz Ant. 356.
Münſterberg Osk. 362.
Münzer Ad. 345.
Muratori L. 196 204.
Murray J. A. H. 240.
Murri Romolo 23.
Muſikverein, Tonkünſtlerfeſt
des Allgemeinen 383.
Muſil bate 147 f.
Mutheſius K. 195.
. 17
N.
Nabl Fr. 335.
Naendrup Hub. 279.
Nanſen P. 339.
Natorp P. 105 191 194.
Naturforſcher und Arzte,
Verſammlung deutſcher,
in Köln 115.
Naumann Vikt. (Pilatus)
126.
Regiſter.
a J. P. 254.
Neff
Nelſon L. 185,
Neſtle Wilh. 191.
Neuenborn P. 345.
Neumann Wilh. 365.
Neumark D. 193.
Neurode Kurt 395.
Newman, Kardinal 30.
Nicole G. 223
Niemann Aug. 335.
Nietzſche Fr. 117 311.
Nikel E. 371.
— J. 145 146 Anm., 149.
as II. von Rußland
Nippold Otfr. 281.
Nirrnheim O. 215.
Nocella, Kardinal 11.
Noldin Hier. 159.
Norwegen 63.
Novalis 228 291.
Novibaſar (Sandſchah 49 57.
Novotny F. 227.
Nyrop Kr. 252.
O.
Oberrealſchulen 114.
Obrecht Jak. 373.
Ochoa C. de 261.
Oechelhäuſer Ad. v. 363.
ee Edw. Th., Biſchof
Offner M. 188.
Oehl Wilh. 287 292.
Ohmann Fr. 232.
Olbrich Joſ. 346.
Olmſtead, Prof. 112.
Olympia 224.
Omont H. 202.
Ompteda, Frhr Gg. v. 329.
Onillon R. 253.
Orelli K. v. 150.
a ce Deutſche
Orlik Em. 348.
Orterer v. 105.
Ortolani G. 259.
Osborn Max 362 365.
Osgood Ch. G. 238.
Oſterreich 6 18—24 32 39
bis 52 57 f 61 66 71 — 76
788 84 116 124 132 139
bis 144 156 162 174 214 f
227 272 281 347 372.
un, 199 352.
Ott = oe
r 146
15.
Jahrbuch der Zeit⸗ und Kulturgeſchichte. IL
469
P.
Pacificus da Seggiano 11.
Pädagogik, Verein d. Freunde
Herbartſcher 108.
Padelford F. M. 240.
Pages A. de 260.
Paleſtrina G. P. da 372.
Pallmann H. 230.
Pape R. 86.
Pappadopoulos J. P. 213.
Paris 27 54 121 157 175
206.
Parrot T. M. 241.
Pascal 253.
Pasquetti G. 374.
Paſſerini G. L. 258.
Pattai Rob. 42.
Patzak Bernh. 356.
Pauker W. 157.
Paul Herm. 235.
Paulſen Friedr. 116— 118.
Paulus Diaconus 220.
Paupe Ad. 255.
Pelayo M. M. y 260 f.
Pell Gg. 164.
Pendzig P. 194.
Pentateuchfrage 149 f.
Penzler Joh. 214.
Percopo E. 259.
Peéricaud L. 255.
Perroneau J.⸗B. 350.
Perſien 55f 58 64 279.
Peſch Chr. 161.
— H. 14 86 Anm.
Peters A. J. 129 163.
— Norb. 148.
Petersburg 29.
ae ni 365.
Petit . Je. 253 257.
Petra 1
Petrarca ah f.
Petrich P. 344
Pez B. 157.
Pfättiſch Joh. M. 154.
a Harttung J. v. 209
Pfeiffer ven 157.
Pfleger L. 156
Pfleiderer 163.
Philipp Alb. 213.
Philippi F. 398.
Philippovich E. v. 83.
Philippſon M. 215.
Picard 61.
Pichler stb. 131.
P
Pidal M. 260.
Pieper Aug. 89 173.
Pierce Ch. 181.
30 ee
470
Pieters Joſ. 95 Anm.
ag Paves 158.
Pijnacker Hordijt C. 222.
Piombo Seb. del 357.
Piontek F. 157.
Piper O. 363.
Pisko G. 361.
Pitollet E. 261.
Pius X. 7—10 15 23 143
174 366—368 374; Ex-
hortatio ad clerum catho-
licum 7; Konſtitution
Promulgandi 9; Konſti⸗
tution Sapienti consilio
8f; Motuproprio vom
22. November 1903 366
374; Offizium Lamenta-
bili sane exitu 27; Prie⸗
ſterjubiläum 7 f 15; Syl⸗
labus 14. Vgl. Enzy⸗
klika.
eee 20 143 f.
Pizzi E. 382.
Plasberg O. 219.
Plaßmann J. 14.
Platon 191 f.
Plotin 192.
Polifka Joh. 175.
Pollack E. 212.
Pollak Fr. 357.
Pollitzer Luiſe 344.
Pöllmann Ansg. 230.
Pomtow H. 224.
Poncelet A. 202.
Pontoppidan H. 339.
Poppelreuter Joſ. 354.
Portanova, Kardinal 11.
Porter Ch. 242.
Portugal 62 71 205 279.
Poſcher Rob. 244 Anm.
Pöſchl A. 160.
Poſchmann B. 165.
Poſſart, E. v. 394.
Poſtel M. Magd. 10.
Poſtſcheckverkehr 77 f 267.
Pothier, Dom 367.
Potocki, Graf Andreas 44.
Prag 46 127 f.
Praſchma, Graf Hs. 15.
Preiſendanz K. 192.
Preiſigke Fr. 217.
Preſſe, Katholiſche 134 140
bis 144.
— Polniſche 135.
— Proteſtantiſche 134.
— Sozialdemokratiſche 135.
Preſſe⸗Kongreß, Internatio⸗
naler 136.
Preßgeſetz, Chineſiſches 276.
Preßverein, Bayriſcher 123.
Preuſchen E. 146 221.
Regiſter.
Preußen 32 38 68 f 75 78
103 f 106 108 f 112 f 115
118—121 134.
Prévdt René 162.
Prieſterhilfskaſſen 26.
nme Stal.
Benet 349.
Pringsheim N. H. 112.
Prior Matth. 244.
Profeſſorenaustauſch 120.
Proelß Joh. 288
Promnitz K. 215.
Proske R. 372.
Prothero G. W. 210 235.
Prumler R. Eug. 287 f.
Prutz Rob. 139.
. Prinz von China
Buitlomer Jesko v. 328.
Putz Leo 361.
Q.
Quentin de la Tour M. 350.
N.
Raabe Wilh. 231.
Rabattſparverein 93.
Raeburn H. 351.
Rademacher A. 167.
Rademaker Fr. 194.
Rafael L. 327.
Raff Jul. 302.
Raffael 356.
Raffaelli F. J. 344
Raible F. 173.
Raithel Hs. 327.
Raleigh W. 242 244.
Rantzau, Gräfin H. 336.
Rauch J. N. 372.
Raupp K. 346.
Rauſchen Gerh. 164.
Rechenauer C. M. 172.
l Bund deutſcher
An Realgumnafien 130.
Reformſchule 115.
Reger M. 378 384.
Reider Em. 394.
Reichsfinanzreform 32 79.
Reide, Bürgermeifter 80.
Rein Jena 108.
Reinach ©. 225.
Reinhard Ew. 230
ai M. 389 392 396
Reinhold Ferd. 182.
— Gg. 166
Reinicke R. 344.
Re Joh. 186.
Rektoratſchulen 112 f.
Rektorenverſammlung, Brew:
ßiſche 14 127.
Reliefbühne 389 f.
Renz Br.
Reynier G. 254.
Reynolds J. 351 362.
Rhamm K. 208.
Rheinfried H. 293.
un F. M., Kardinal
cin Kardinal 7.
Richter Lndw. 347.
— Raoul 186.
Rick K. 232.
Rickert Heinr. 139.
Riegl Al. 357.
Riehl Joh. 167.
Riemann H. 369.
Rieſer Ferd. 229.
Rieth P. 344.
Rigal Eug. 254.
Rimski⸗Korſſakow 382.
Ritter Mor. 209.
Robert K. 217 f.
Roberts, Lord 58.
Röder M. 86.
Rodin Aug. 362.
Rohland W. v. 281.
Rohr J. 145 149.
Röhrsheim Ludw. 257.
Rom 7 24 26 68 201.
Romanus H. 333.
Romney G. 351.
Roos 192.
Rooſevelt 63 f 69.
Ropp, Baron Ed. von der,
Biſchof 28 f.
Röſch C. 151.
Roſegger P. 325.
Rosmer E. 306.
Roeßler be a
Roſt Hs. 9
Röthisberger E. 139.
Rotte K. 344.
Röttger K. 293.
Rouſſel X. 343.
Rubenſohn O. 146 217.
Rubio y Lluch A. 263.
Rudolf Ferd. 172.
Ruederer Joſ. 396.
Ruef Th. 157.
Ruland Wilh. 293.
Rumänien 47.
Ruſſel B. 182 184.
Rußland 47 f 50 54—58 62
64 74 f 273.
Rygier⸗Nalkowska Z. 341.
Sachau E. Bee
Sachs Jul. 112.
Sachſen 38 75 107 f 115
134 198 oar
Sägmüller J. B. 159.
Saint⸗Simon 253.
„ G. 237 241
Salimbene de Adam 200.
Salomon Alice 98.
— Ludw. 138.
Salten F.
Si 119 126 129 141
Samberger L. 344.
Sampſon⸗Raleigh 244.
Sandſchakbahn 48 57.
Sandt E. 335.
Sandys O. F. 236.
e Gräfin L.
Sartory A. 312.
Saſſen sot 155.
Sattel Gg. 170.
Sauer U. 228 233.
— Joſ. 354 f.
Savary 388.
Savits J. 392.
Scala F. v. 300 312.
Scapinelli, Conte C. 326.
Schädel Bernh. 246 250.
Schäfer Dietr. 209.
Schanz Fr. 328 331.
Scharnagl Ant. 160.
Schaukal Rich. 294 296 341.
Scheckrecht 265.
Scheckverkehr 77f 265 f.
Scheffel Joſ. V. v. 288
Scheglmann A. 156.
Scheinert M. 179.
Schelandre J. de 253.
Schell H. 162.
Schelling Fr. W. J. v
178.
— Herm. v. 317.
Schenkendorff E. v. 118.
Schering A. 373.
nn, L. 216.
Schick J
ade N. 334
Schiedsgericht 280 f.
Schiedsverträge 281.
Schiele Fr. M. 149.
Schiemann Th. 210f.
Schieſtl M. 284.
Schildkraut Rud. 393.
Schiller F. C. S. 181.
Schillerpreis 298 301 303
395 f 397.
Regiſter.
Schilling a 388.
— O. 169
Schipper J. 244 Anm.
Schirmer U. 294 296.
Schlaikjer E. 395.
Schlenther P. 397.
Schlotteroſe O. 236.
Schmalz J. H. 221.
Schmarſow ras 354.
an Fr. A. 178.
Wilh. 220.
Schmidt C. 169.
— Eri
g.
Sauahtbous Wilh. 395.
Schmieden A. 397.
Schmitthenner A. 337.
Schmitz Herm. 365.
Schmöger Al. 159.
Schmoller G. 83 206.
Schneegans H. 250.
Schnehen, Frhr. R. v. 337.
em oom Yof. 234.
Shoei d A. 374.
ss Hof. 11—13 119
Schnitzler Art. 325 394.
Scholle, Künſtlerbund 344 f.
Scholz Wilh. v. 171.
Schönherr K. 298— 300 395.
Schreyvogel Sof 1916
Schrörs F. H. 1
Schrott ⸗Fiechtl Pe 325.
Schrötter, Frhr. F. v
— Gg. 361.
Schubart W. 217.
Schubert Otto 358.
Schuchardt H. 248.
Schulaufſichtsfrage 105 108.
Schülerſelbſtmorde 117.
Schulgeſundheitspflege, Deut ⸗
ſcher Verein für 117.
Schulte Ad. 147 Anm., 150.
— Aloys 197.
Schulten A. 226.
ä
Schulverein, Kathol. 20 107.
— — für Oſterreich 131.
Schulz Alfons 150.
— Fr. Traug. 354.
Schumacher 145.
Schumann Fr. 187.
— Gg. 385.
Schur E. 334.
Schuſſen Wilh. 328.
Schuſter G. 196. its.
471
Schwartz R. 373.
Schwarz Kaſpar 131.
Schwechler K. 144.
Schweitzer A. 373 386.
Schweiz 54 63 68 73 76 87
278 f.
Scotus Eringena 193.
Sdralek M. 157.
Seche L. 255.
Seeberg D. ae
wag aes E. G. 3
Seipel 855 169.
Seitz A. 163 167.
— Joſ. 158.
Seligſprechungen 11.
Gélincourt E. de 244.
Sellin E. 145 149.
Seneca 219.
Seppelt Fr. X. 157.
Serao Mat. 341.
Serbien 46 49 f 57 72.
Serti es A. D. 101.
Seuffer G. 233.
Seuffert Rob. 343.
Sevin, Biſchof 26.
Sexuelle Aufklärung 117.
l 342 344 346 349
5 242 f 339 393.
Shaw Bern. 301 307 339
397 f.
Sheehan U. 7
Shelley P. B
Siczynski M. 44
Sieffert Fr. 152 Anm.
Siegel C. 182
Sieglin L. 279.
Sievers Joh. 362.
Simon Lucien 349.
Simonsfeld H. 200.
Sinclair U. ;
Singer E. 225.
— H. W. 360
Siren O. 356.
Skutſch Fr. 219.
Slevogt M. 346.
Smith G. G. 237.
— Gregory 243.
Société des anciens Textes
francais 253.
— des Textes francais mo-
dernes 253.
— des instruments 386.
— internationale de Dia-
lectologie romane 246.
Solowieff 174.
Sommer D. 248 254.
Sommerfeld €. v. 354.
Sommerlad Th. 169.
Sonnenſchein Karl 123.
Sonnenthal Ad. 394.
412
Sophokles 317.
Sorbelli Alb. 204.
Spanien 40 53 71 120 226.
Speyer Marie 231 f.
Spiegelberg W. 217.
Spingarn J. E. 243.
Spliedt E. 148.
Spranger Ed. 179.
Springer M. 371.
Städteordnung 80.
Städtetage 80.
Stählin O. 220.
Stampfl L. 160.
Stanley Th. 244 Anm.
Starck E. v. 212.
Statius 219.
Stauber Rich. 213.
Stein Ludw. 182.
Steinbeck J. 167.
Steinhauſen Wilh. 344.
Steinmann Alf. 152.
— E. 355
Stemolak K. 348.
Stendhal 255.
Stengel Edm. 250.
— Frhr. Herm. v. 33.
Sterl Rob. 346.
Stern L. Chr. 247.
Stevenſon G. 239.
Stieve F. 201.
Stifter Adalb. 228.
Stilgebauer E. 333.
Stiller Otto 230.
Stoffels Eliſ. 99.
— Joſ. 171.
Stolypin 62.
Stolze W. 206.
Stoelzel E. 191.
Störring G. 189.
Strafprozeßreform 270.
Stratz Rud. 330.
Strauß Rich. 378 f 388.
Strecker Reinh. 195.
Streitwolf 388.
Strindberg Aug. 338.
Strobl Joſ. 230.
Strode Will. 243.
Strzygowski Joſ. 353.
Stuck Fr. 344.
Stucken Ed. 303.
.
Stumpf K. 190.
Suchier Herm. 248 250 254.
Südamerika 64.
em Herm. 306 330
Sudhaus S. 217.
Sudnarb M. 206.
Suske Ferd. 394.
Sutter Konr. 346.
Swarcz Joh. 157.
Soziale
Regiſter.
Swarzenski Gg. 353.
Swoboda Heinr. 22.
1 Reichsſchatzſekretaͤr
Szezepanski Lad. 148.
Sztuka, Künſtlerbund 348.
T.
Taft W. How. 63.
Tange M. 200 203.
Tarifvertrag 264.
Telch C. 151.
Tenneroni A. 257.
Tepe van Heemſtede L. 309
bis 311.
Theaterweſen, Berliner 392
bis 394 396 f.
e 389— 392 394
— Pariſer 350.
— Wiener 394 f 397 f.
Theobald Leonh. 230.
5 Erzbiſchof 162.
Thibaut J. 369.
Thiel W. 363 Anm.
Thimig we 55
Thode H. 35
Thoma 93. 118 361.
a von Aquin 155 165
— Paul 219.
Thompſon, Domherr 159.
Thomſon J. 244.
Thraſolt E. 288 f 296.
Thukydides 216.
Thümmel W. 119.
Tibitanzl Joſ. 169 176.
Tierhalterparagraph 264.
Tille A. 149.
Tillmann Fr. 149.
Tiſchbein Wilh. 361.
Tittoni 50
Tizian 357.
Tobler Ad. 252.
e Beſeitigung der
Tolſtoj L. 383.
Tooby Ch. 342.
Torre Arn. della 259.
Toerring, Graf v. 68.
Trabalza C. 256 f.
Traherne Th. 243.
Traube L. 221.
Trautmann M. 236.
Traver H. 238 Anm.
Trebitſch Rud. 253.
Troxler Joſ. 166.
Trübner Wilh. 346 361.
Trullaniſche Synode 159.
Truſchel L. 188.
Tſchaikowski P. J. 382 f.
Tſcharmann H. 366.
N Prinz von China
Tſe Hſi, Kaiſerinwitwe von
ina 64.
Tſundas Chr. 223.
Tuch Karl 346.
Tucker Brooke C. F. 244.
= &. 220
Türkei 47—49 54—58 73.
Tweedmouth, Lord 35.
1
Uhde Fr. v.
Ullmann E. v. oh:
Underhill G. E. 218.
Ungarn vn 66 71 79
199 281.
Unione economica sociale
Urban J. 346 348.
Urheberrecht 280.
Urquhart J. 148.
Vaihinger Hs. 194.
Vallaton F. 343.
Vannutelli Vinc., Kardinal 9.
Veltze A. 214.
Venezuela 63.
Verdaguer Jac. 293.
Vereinigte Staaten 9 63 69
71 119 279 281.
Vereinsgeſetz 31f 263.
— Chineſiſches 276.
Vereins und Berfammlungs-
recht 275.
Vergil 219.
Berral A. W. 220.
Verrier A. J. 253.
Verſicherungsvertrag 264.
Verſicherungsweſen 84f 87
96 100 136 264.
Verworn M. 185.
Vettius Valens 218.
Viebig Clara 326.
Vierkandt A. 203.
Viktor 242.
Villa Rodr. 260.
Villers Ch. de 255.
Villetard H. 370.
Vinzenz⸗Vereine 123.
Vitelli G. 216.
sie ald Schell, Baron M.
b da Feltre 115.
Vogels H. J. 152.
Vogelſchutzgeſetz 278.
Vogt P. 171 f.
Volksbibliotheken 123.
Volksbildung, Geſellſch. für
Verbreitung von 123.
Volkshochſchulbewegung 123.
Volksſchulgeſetzentwurf, Ol⸗
denburg. 106.
— Württemb. 107.
ie 102 —107
Bolts = 0 dipl 118.
Volksverein für das kathol.
Deutſchland 16.
Voll Karl 352.
Vollmer Fr. 219.
Vollmoeller Karl 249f 317.
Guſtav ah 396.
Volz G. B. 206
Voß Rich. 333.
Voßler K. 258 260.
Vuillard Ed. 343.
Vulgatafrage 152.
W.
Wachler E. 287.
Wagner M. L. 248.
Otto
348.
— iy 368 370 374.
— . 384.
— Ster 381.
a Udalb. 213.
Wahlrecht 38 41—43 139 273.
Wahrmund L. 18 42 44 119
126— 128 162.
Waldis Joh. J. 151.
Walther v. d. Vogelweide
282 f.
Walzel O. 233.
Ward A. W. 210 235.
Warnecke Fr. 195.
Wasmann E. 186.
Waſſermann Jak. 324.
Waſſerrecht 278.
Waetzoldt Wilh. 353.
Wauer Will. 392.
Weber A. 95 Anm.
Regiſter.
Weber ⸗Simon 163.
Wechſelrecht 265.
Wecker O. 149.
Wecklein Nik. 218.
9 Frank 301 307
Weigand Wilh. 306.
Weinberger W. 222.
Weingartner F. v.
383 Anm., 388.
380
Weingeſetz 68.
Weisgerber A. 343.
Weiß E. R. 346.
— K. 169.
— O. 178.
Wekerle Alex. 43 51.
Wells H. G. 340.
Welti Alb. 350.
Wentzke P. 202.
Werner Heinr. 205.
y C. 222.
Wickhoff Fr.
Wied Guſt. 307 396—3g8.
Wiedenhöfer Yof. 292.
Wieland Fr. 164.
Wielandt Mt. 357.
Wien 215 40f 48 127 bis
131 140—142 176.
Wiefer Seb. 292.
Wilamowitz U. v. 217 f.
Wilbrandt Ad. 330.
Wildenbruch E. v. 287 297,
Wilhelm II. 35 297.
Wilken U. 218.
Willmann O. 131 179.
Wilna 27— 29.
Windelband W. 183.
Winter Fr. 223.
Winternitz Rich. 343.
Winthagen W. 157.
Wirth Wilh. 187.
Wirtſchaftsverein,
franzöſiſcher 71.
Wirz Ad. 15.
Witaſek St. 187.
Witelo 193.
Witkop Ph. 291.
Witt Th. de 372.
Wittmer L. 255.
Wnukowski Apollinaris, Erz-
biſchof 28.
Deutſch⸗
— — . —ꝛ —
473
Wohlmannſtetter Hs. 92.
Wohnungsfrage 93—95.
Wojucki E. 1
Wolf G. 209.
— Joh. 373.
— Jul. 82f.
Wolff Johanna 395.
— M. J. 242.
— O. L. B. 285.
Wölfflin Heinr. 358 f.
Wolfsgruber Cöl. 175.
Wopfner H. 205.
Wordsworth Will. 244.
Worringer W. 352 360.
Woyrſch F. 385.
Wright Ch. 146 Anm.
Wunderle G. 191.
Wundt Max 191.
— W. 182 185 187—189.
Wurm Al. 391.
Württemberg 38 68 75f 96
111 134.
Wuſtmann G. 284.
K.
Xenophon 217.
3.
Zahn Jig 171.
— Th. 1
Zauner 1 260.
Zehnter J. 264.
Beitungs-Mufeum 138.
Zeitungsweſen 132 — 140.
Zeppelin, Graf v. 279.
Benantawanganeriahren
Zierſch W. 332.
Zieſché K. 193.
Zimmer Heinr. 247.
ay M. Gg. 361.
Zingerle Ant. 218.
Zola Em. 255.
ae a Rich. 258
316.
Zoepf Ludw. 202.
815 A. 344.
uderfonvention 74.
Zügel Heinr. v. 343 f.
Zwintſcher Osk. 346
283
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reim ausläßt, dem Dichter, ſoweit es der
In der Herderſchen Verlagshandlung zu Freiburg im Breisgau find erſchienen und
können durch alle Buchhandlungen bezogen werden:
Dantes poetiſche Werke — Opere poetiche di Dante. Neu übertragen und
mit Originaltext verſehen von Richard Zoozmann. Vier Bände. 80
(XL u. 1386) Geb. in Orig.⸗Einband: Leinwand M 18.—, in Perga⸗
ment M 28.—
I-III: Die göttliche Komödie — La Divina Commedia. (I: Hölle — Inferno;
II: Länterungsberg — Purgatorio; III: Paradies — Paradiso.)
IV: Das Rene Leben. Gedichte — La Vita nuova. Rime liriche.
Ihre Majeſtät die Königin Margherita von Italien hat die Widmung dieſes Werkes
; angenommen.
Der Überſetzer ſucht unter 1 fog. Schlegelterzine, die den Mittel-
hythmus erlaubt, wortwörtlich zu folgen,
kein auch nur einigermaßen wichtiges Wort zu unterdrücken, aber auch — eine noch
ſchwierigere Aufgabe — keines hinzuzufügen und möglichſt die Zeilen mit dem Worte
der Urſchrift zu beginnen oder damit zu beenden.
„Ein ganz ſeltenes Ereignis auf dem Gebiete der Überſetzungskunſt. Zoozmann, der
ſich in feiner früher erſchienenen Ausgabe Dantes und einem Auswahl⸗Band als meiſter⸗
licher Verdeutſcher des gigantiſchen Werkes von Den ſowie als tiefgründiger Renner
feiner Welt erwieſen, hat nun eine noch vollendetere Überſetzung folgen laſſen, die alle
bisher erſchienenen zwanzig deutſchen Überſetzungen antiquiert. Sie ſchenkt uns die Werke
Dantes geradezu als deutſche Originaldichtungen mit allen Schönheiten ſeiner unvergleichlich
bilderreichen Phantafie und dem prachtvollen Fluß feiner Verſe (ſog. Schlegel⸗Terzinen).
Mit ihr iſt Dante für die deutſche Literatur fo gewonnen wie Shale
ſpeare durch die Schlegelſche Üb erſetzung. Vollendete poetiſche Freiheit und
abſolute Treue, faſt bis aufs Wort, das Wunder dieſer Syntheſe, an der bisher alle
ſcheiterten, iſt hier gelungen. Die Einwirkung auf die literariſche Produktion wird nicht
auf ſich warten laſſen.“ (IAuſtrierte Zeitung, Leipzig 1909, 7. Januar.)
Dantes letzte Tage. Eine Dichtung von Richard Zoozmann. Mit Dantes
Bildnis von Joſeph Sattler. 80 (VIII u. 122) M 2.—; geb. in
Orig.⸗Einband: Leinwand M 2.80
Herders Konverſations-Lexikon. Dritte Auflage. Reich illuſtriert durch
Textabbildungen, Tafeln und Karten. Acht Bände. Lex.⸗80 (LXIV S.
u. 14 454 Sp. Text, 73 Karten, 189 zum Teil farbige Tafeln, 132 Text⸗
beilagen, 6540 Abbildungen im Text und auf den Tafeln.) Geb. in Orig.⸗
Einband: Halbfranz M 100.—; Prachteinband: Halbſaffian mit Goldſchnitt
M 128.—. Wandregal dazu in Eiche M 18.—, in Nußbaum M 20.—
(je mit Verpackung).
„Es iſt geradezu erflaunlich, in welchem Maße das Lexikon mit feinem geringeren
Umfang Fälle und erſchöpfende Überſicht verbindet.“
(Hamburgiſcher Correſpondent, 20. Dezember 1908.)
Staatslexikon. Dritte, neu bearbeitete Auflage. Unter Mitwirkung
von Fachmännern herausgegeben im Auftrag der Gdrres-Gefellfdaft zur
Pflege der Wiſſenſchaft im katholiſchen Deutſchland von Dr Julius
Bachem. Fünf Bände. Lex. 80
I: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (X S. u. 1584 Sp.) M 15.—; geb. in Orig.⸗
Einband: Halbfranz M 18.—
Die übrigen Bände werden in raſcher Folge erſcheinen.
„. . . Sieht man zunächſt von der Frage ab, ob ein ſolches Unternehmen den Grund
der Berechtigung in ſich trägt, und ob ferner die Möglichkeit gegeben iſt, all dieſe Stoffe
in den Brennpunkt einer ſpezifiſchen Weltanſchauung zu ſtellen, und hält man fid lediglich
an der Ausführung des Unternehmens, ſo kann man Herausgebern und den Verlegern
den Ausdruck der Anerkennung nicht verſagen. Sie haben ein Werk geſchaffen,
das in ſeiner Art als vollendet anzuſprechen iſt, von dem aufgebotenen
Fleiß und Wiſſen angefangen bis zu der vornehm gediegenen Ausſtattung, die geeignet
iſt, ſchon rein äußerlich auf die Bedeutung des Inhalts vorzubereiten
(Kölniſche Zeitung 1908, 14. November.)
In der Herderſchen Verlagshandlung zu Freiburg im Breisgau find erſchienen und
können durch alle Buchhandlungen bezogen werden:
Kirchliches Handbuch. In Verbindung mit Domvikar P. Weber, Dr W. Lieſe
und Dr K. Mayer herausgegeben von H. A. Kroſe S. J. I. Band:
1907—1908. gr. 8° (XVI u. 472) Geb. in biegſamem Original
Leinwandband & 6.— (Der zweite Band befindet ſich unter der Preſſe.)
Will eine kurze, aber zuverläſſige Orientierung bieten über die wichtigſten Fragen
des kirchlichen Lebens, über die Organiſation der Kirche im Deutſchen Reich, ihren Bes
ſtand an Mitgliedern und deren Verteilung über die einzelnen Gebietsteile, ihr Wachs ⸗
tum und die Umſtände, die fördernd oder hemmend darauf einwirken, über die kirchliche
Verſorgung durch Welt- und Ordensklerus, die kirchlichen Anſtalten und Ordensnieder⸗
laſſungen, die charitativ⸗ſoziale Tätigkeit der Kirche, das kirchliche Vereinsweſen, die kirch⸗
liche Geſetzgebung uſw. In erſter Linie iſt die Lage der Kirche im Deutſchen Reich be⸗
ridfidtigt worden, aber es iſt ein beſonderer Abſchnitt hinzugefügt über die Lage der
Kirche in Oſterreich und Frankreich und ein weiterer über den Beſtand und die Fort.
ſchritte der katholiſchen Heidenmiffion.
Das Handbuch ſoll in periodiſcher Folge durch weitere Bände ergänzt werden, um
die Leſer und Benutzer fortlaufend über den jeweiligen Stand des kirchlichen Lebens zu
orientieren.
„Ein katholiſches Parallelwerk zu dem vom Rezenſenten herausgegebenen Kirchlichen
Jahrbuch“, deſſen Herausgabe auch ſeitens der evangeliſchen Kirche dankbar begrüßt
werden kann, weil die Exiſtenz beider Werke nebeneinander für die vergleichende Ron ⸗
feſſionskunde der Gegenwart von Wert fein wird... Wohltuend berührt die Art der
Darſtellung aus der Feder des Herausgebers. Auch wo Kroſe polemifiert — es geſchieht
das oft gegen unſer Jahrbuch —, verläßt er nie den Boden der Vornehmheit und Wiſſen⸗
ſchaftlichkeit. Natürlich beurteilt er alles vom Standpunkt ſeiner Kirche aus, als treuer
Sohn ſeiner Kirche; ſachlich mag man da manches beanſtanden — wir unterlaſſen hier,
Einzelheiten anzuführen — aber er ſteigt nie herab zum vulgären Ton der Polemik.
Unſere Kirchenbehörden und alle, die literariſch mit kirchlichen Zeitfragen zu tun haben,
werden an dem Kirchlichen Handbuch' nicht vorübergehen können.“
(Pfarrer J. Schneider in Elberfeld im Theolog. Literaturbericht. Gütersloh 1908, Nr 12.)
Literariſche Nundſchau für das katholiſche Deutſchland. Herausgegeben von
Dr Joſeph Sauer.
Erſcheint ſeit 1875. Jährlich 12 Nummern. 4° Preis für den Jahrgang M 10.—
Einzelne Nummern je M —.90 Bezug im Buchhandel oder auch durch die Poſt.
„Auf dieſes vornehmſte katholiſche Rezenflonsorgan ſei gelegentlich hingewieſen. Es
verdient in Leſezirkeln und Leſehallen auch bei uns aufgelegt zu werden. Das
Blatt iſt vorzüglich redigiert. Mitarbeiter find faft alle namhaften katholiſchen Gelehrten.
Es iſt eine Revue über alle literariſchen Gebiete, aus der man das katholiſche Urteil kennen
lernt, aber auch in bequemer Form pofitiv viel Wiſſenswertes zuſammengeſtellt findet.“
(Neue Preuß. [Kreuz ⸗J Zeitung, Berlin 1906, Nr 402.)
Stimmen aus Maria⸗Laach. Katholiſche Blätter. Jährlich 10 Hefte oder
Zwei Bände. gr. 8° M 10.80
Alle fünf Wochen erſcheint ein Heft. Fünf Hefte (Halbjahr) bilden einen Band,
ehn Hefte einen Jahrgang. Preis für das Halbjahr bei Bezug im Buchhandel oder
durch die Poſt M 5.40, für den Jahrgang M 10.80. Einbanddecken in Leinwand für
den Band M 1.—
Die Jahrgänge 1874 —1888 können zum ermäßigten Preis von M 3.— für das
Halbjahr, M 6.— für den Jahrgang, die Jahrgänge 1889 ff zu M 5.40 für das Halb-
jahr oder M 10.80 für den Jahrgang nachbezogen werden.
„Die ‚Stimmen aus Maria⸗Laach“ genießen ſchon ſeit längerer Zeit des Rufes, die ges
diegenſte und ſtiliſtiſch eleganteſte katholiſche Zeitſchrift zu fein.... Ein unbefangenes Urteil
wird nicht umhin können, zu geſtehen, daß die wiſſenſchaftlichen Arbeiten, welche in der
Zeitſchrift vorliegen, faſt durchgängig von einem Ernſt der Gefinnung und einer Schärfe
des Denkens zeugen, wodurch ſie ſich von dem oberflächlichen und zerfahrenen Feuille⸗
tonismus mancher beliebten Revuen vorteilhaft abheben.
(Norddeutſche Allgemeine Zeitung, Berlin 1897, Nr 417.)
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