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Princeton Universits.
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Fronmmirs.
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JAHRBÜCHER
NATIONALÖKONOMIE UND STATISTIK.
GEGRÜNDET VON
BRUNO HILDEBRAND.
HERAUSGEGEBEN VON
DR J}. CONRAD,
PROF. IN HALLE A, 8.,
IN VERBINDUNG MIT
DR. EDG. LOENING, DF- W. LEXIS, DR- H. WAENTIG,
PROF. IN HALLE A. 8., PROF. IN GÖTTINGEN, PROF. IN HALLE A, 8.
M. FOLGE. 33. BAND,
ERSTE FOLGE, BAND I—XXXIV; ZWEITE FOLGE, BAND XXXV—LV
ODER NEUE FOLGE, BAND I—XXI; DRITTE FOLGE, BAND LXXXVII (III. FOLGE,
BAND XXXII). `
JENA,
VERLAG VON GUSTAV FISCHER.
U. O, 1907.
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
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Inhalt d. XXXIII. Bd. Dritte Folge (LXXXVIII).
I. Abhandlungen.
Breseiani, Costantino, Ueber die Methoden der Einkommenverteilungsstatistik.
S. 577.
Hesse, Albert, Die Auskünfte der Arbeitgeber für Steuerzwecke und ihre Verwendung
für die Einkommen- und Lohnstatistik. S. 784.
Liefmann, Robert, Die heutige amerikanische Trustform und ihre Anwendbarkeit
in Deutschland. S. 325.
Lifschitz, F., Zur Methode der Wirtschaftswissenschaft bei D. Ricardo. S. 314.
Pabst, Fritz, Ist die Grundrente in der Peripherie der Stadt eine „allgemeine Mono-
polrente“? 8.1.
Buesch, H., Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. S. 21,
145.
Schaposehnicoff, N., Die Böhm-Bawerksche Kapitalzinstheorie. S. 433.
Schwarzschild, Otto, Die Großstadt als Standort der Gewerbe. S. 721.
Seutemann, Karl, Der Stand der Statistik der Bevölkerungsbewegung im Deutschen
Reiche und die Hauptzüge der Bevölkerungsentwickelung in den letzten 15 Jahren.
S. 289.
Wermert, Georg, Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden und die
Mittel zur Schaffung der Kurszettelwahrheit. S. 601.
Zahn, Friedrich, Der preußische Sparkassengesetzentwurf vom Standpunkt städti-
scher Finanzpolitik. S. 481.
Zimmermann, F. W. R., Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik
über dieselben. S. 452.
I. Nationalökonomische Gesetzgebung.
Brodnitz, Georg, Englands wirtschaftliche Gesetzgebung im Jahre 1905. 8. 58.
Geh rig, Hans, Frankreichs wirtschaftliche Gesetzgebung im Jahre 1905. 8. 178.
Hesse, Albert, Die wirtschaftliche Gesetzgebung des Deutschen Reiches im Jahre
1906. S. 350.
Derselbe, Die wirtschaftliche Gesetzgebung der deutschen Bundesstaaten im Jahre
1906. S. 508, 795.
š III. Miszellen.
Ce
Arnold, A. Das indische Geldwesen unter besonderer Berücksichtigung seiner Reformen
seit 1393. S. 393.
Bönisch, Sind die Einkommen- und Ergänzungssteuern richtig verteilt? S. 390.
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A" ab
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IV Inhalt.
Bunzel, Julius, Josef v. Körösy. S. 527.
Ergebnisse der Volkszählung in Preußen. S. 101.
Grünspecht, David, Die Entlastung der öffentlichen Armenpflege durch die Arbeiter-
versicherung. 8. 63, 364.
Haacke, Heinrich, Der Rückgang des Deutschtums in Budapest. S. 522.
Koch, Hans, Die Baumwollfrage. S. 681.
Krämer, G., Das Postbankwesen. S. 209.
Loeffler, Die notwendigen Aenderungen unseres Etats-, Kassen- und Rechnungswesens,
S. 195.
Mayer, Adolf, Ueber eine Umkehrung des „von Thünenschen Gesetzes“. S. 823.
Neve, Oscar, Der Tarifvertrag im Deutschen Reich. S. 89.
Preisaufgaben der Rubenow-Stiftung. S. 379.
Schneider, Karl, Das Gemeineigentum in den Pyrenäen und seine Wirkung. 8. 821.
Seutemann, Karl, Die finanzstatistische Arbeit in deutschen Städten, erläutert an
dem Material über die Kostensteigerung der höheren Schulen in Barmen. S. 663.
Stillich, Oscar, Ueber den Stellenwechsel der Dienstboten. S. 537.
Wagner, Moritz, Zur Versicherung der Privatbeamten. $S. 802.
Würzburger, Eugen, Die „Partei der Nichtwähler“. S. 381.
IV, Literatur.
Badtke, Walther, Zur Entwickelung des deutschen Bückergewerbes.. (Fritz
Schneider.) S. 833. '
Bajoński, Kritik und Reformen der deutschen Staatslotterien als Finanzregalien.
(v. Heckel.) S. 270.
Bellom, Maurice, Les Lois d’Assurance Ouvrière A l’Etranger. III. Assurance contre
Vinvaliditö. 2. Vols. (Alfred Manes.) S. 558.
Bernhard, Ludwig, Handbuch der Löhnungsmethoden. (Fritz Schneider.)
S. 835.
Bittner, Die Geschichte der direkten Staatssteuern im Erzstifte Salzburg bis zur Auf-
hebung der Landschaft unter Wolf Dietrich. I. Die ordentlichen Steuern. (v. Heckel.)
S. 270.
Boelcke, Die Entwickelung der Finanzen im Großherzogtum Sachsen-Weimar von
1851 bis zur Gegenwart. Finanzwissenschaftliche Studie. Abhandlungen des staats-
wissenschaftlichen Seminars zu Jena, herausgeg. v. Pierstorff. Bd. III, 1. (v. Heckel.)
S. 261.
Bogdan St. Markowitsch, Die Gemeinden und ihr Finanzwesen in Serbien.
Sammlung nat.-ökon. und statistischer Abhandlungen des staatswissenschaftlichen
Seminars zu Halle a./S., herausgeg. v. J. Conrad. Bd. 46. (v. Heckel.) S. 269.
Bosenick, A., Der Steinkohlenbergbau in Preußen und das Gesetz des abnehmenden
Ertrages. (Hermann Levy.) S. 825.
Brauns, Heinrich, Der Uebergang von der Handweberei zum Fabrikbetrieb in der
Niederrheinischen Samt- und Seidenindustrie und die Lage der Arbeiter in dieser
Periode. (Fritz Schneider.) S. 834.
Brocard, H., Les doctrines &conomiques et sociales du Marquis de Mirabeau dans
l’Ami des Hommes. (Karl Heldmann.) S. 545.
Brunhuber, Die Wertzuwachssteuer. Zur Praxis und Theorie. (v. Heckel.) S. 265.
Buonvino, Orazio, Il giornalismo contemporaneo. (v. Schullern.) S. 570.
v. Buschman, J. Ottokar, Das Salz, dessen Vorkommen und Verwertung in sämt-
lichen Staaten der Erde. II. Band. Asien, Afrika, Amerika und Australien mit
Ozeanien. Herausgeg. mit Unterstützung der Kais. Akademie der Wissenschaften in
Wien aus der Treitl-Stiftung. (E. Roth.) S. 412.
Busuiocescu, Das Tabakmonopol in Rumänien. Volkswirtschaftliche und wirtschafts-
geschichtliche Abhandlungen, herausgeg. v. Stieda. Neue Folge. 4. Heft. (v. Heckel.)
S. 265.
Collas, Der Staatsbankrott und seine Abwickelung. Münchener volkswirtschaftliche
Studien, herausgeg. v. Brentano u. Lotz. 68. Stück. (v. Heckel.) 8S. 266.
Croner, Johannes, Der Grundbesitzwechsel in Berlin und seinen Vororten (1895—
1904). Eine statistische Studie. Nach dem bei den Aeltesten der Kaufmannschaft
von Berlin gesammelten Material bearbeitet. (Karl Seutemann.) $. 569.
Inhalt. V
Damme, Das deutsche Patentrecht. Ein Handbuch für Praxis und Studium, (A. Elster.)
8:712:
Diehl, K., Neue Lehrbücher der Nationalökonomie. S. 102.
Dyhrenfurth, Gertrud, Ein schlesisches Dorf und Rittergut. Geschichte und soziale
Verfassung. (Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen. 25. Band, 2. Heft.)
(G. v. Below.) S. 838.
Emminghaus, Die Steuergesetzgebung der deutschen Bundesstaaten über das Ver-
sicherungswesen. Veröffentlichungen des Vereins für Versicherungswissenschaft, her-
ausgegeben v. Manes. Heft 6. (v. Heckel.) S. 270.
Zur neueren finanzwissenschaftlichen Literatur (1904—1906). (Max
von Heckel.) S. 260.
Fridrichowiez, Eugen, Kurzgefaßtes Kompendium der Staatswissenschaften in Frage
und Antwort. (Georg Brodnitz.) S. 410.
Fuisting, Finanzpolitische Zeit- und Streitfragen. 1. u. 2. Heft. (v. Heckel.)
8S. 262.
Garelli, Alessandro, Le imposte nello Stato moderno. Vol. I. L’Imposizione per-
sonale segondo il diritto finanziario positivo. (v. Heckel.) S. 271.
George, Paul, Das heutige Mexiko und seine Kulturfortschritte. (Paul Krische.)
S. 272.
Gehrke, Franz, Die neuere Entwickelung des Petroleumhandels in Deutschland.
(Fritz Schneider.) S. 834.
Gerecke, Bruno, Theodor Schmalz und seine Stellung in der Geschichte der National-
ökonomie. Ein Beitrag zur Geschichte der Physiokratie in Deutschland. (F. Lif-
schitz.) 5. 546.
Gerlach, Gemeindesteuerrecht. Neue Zeit- und Streitfragen, herausgeg. von der Gehe-
stiftung zu Dresden. Jahrg. II, 7—8. (v. Heckel.) 8. 268.
Zur Gewerbegeschichte und -politik. (Fritz Schneider.) S. 832.
Gide, Charles, Grundzüge der Nationalökonomie. Uebers. von Dr. Gustay Weiß
von Wellenstein. (K. Diehl.) S. 123.
Ghent, W. J., Mass and Class, a survey of social division. (Robert Schachner.)
S. 125.
Gorham Groat, George, Trade Unions and the law in New York. (Fritz Kest-
ner). S. 135.
Hauser, R., Die deutschen Ueberseebanken. (Abhandlungen des staatswissenschaft-
lichen Seminars zu Jena, herausgeg. von Prof. Dr. Pierstorff. 3. Band, Heft 4.) (Otto
Warschauer.) S. 420.
v. Heckel, Zur neueren finanzwissenschaftlichen Literatur. (1904—1906.) S. 260.
Heimann, R., Die neuere Entwickelung des Kalisyndikats. (Hermann Levy.)
S. 831.
Horn, Erfurts Stadtverfassung und Stadtwirtschaft. Sammlung nat.-ökon. u. statistischer
Abhandlungen des staatswissenschaftlichen Seminars zu Halle a./S., herausgeg. v. J.
Conrad, Bd. 45. (v. Heckel.) S. 268.
Hövermann, Zur Reform des Ftats-Kassen- und Rechnungswesens einschließlich der
Verhältnisse der Rechnungs- und Kassenbeamten. (v. Heckel.) S. 270.
Huber, F. C., 50 Jahre deutschen Wirtschaftslebens. Der gesetzgeberische Ausbau des
Deutschen Reiches und seine Wirtschaftspolitik. (J. Wernicke.) S. 552.
v. Jagemann, Zur Reichsfinanzreform. (v. Heckel.) S. 261.
Paar Die Reichsfinanzreform von 1906 und ihre neuen Steuern. (v. Heckel.)
. 261.
Die Jahresberichte der deutschen Gewerbeaufsichtsbeamten. (W. Kähler.) S. 241.
Kiesel, Die Gesellschaften mit beschränkter Haftung und ihre Heranziehung zur
Staatseinkommensteuer in Preußen. (v. Heckel.) S. 263.
Kirschberg, Manfred, Der Postscheck. Eine wirtschaftliche und juristische Studie.
Mit Berücksichtigung der österreichischen, deutschen und schweizerischen Verhältnisse.
(Otto Warschauer.) S. 561.
Lehr, J., Politische Oekonomie in gedrängter Fassung (Volkswirtschaftslehre u. Wirt-
schaftspolitik, Finanzwissenschaft, Statistik u. s. w.). 4. vermehrte Auflage. Besorgt
_von Prof. Dr. C. Neuburg. (K. Diehl.) S. 124.
Neue Lehrbücher der Nationalökonomie. (K. Diehl.) S. 102.
VI Inhalt.
Leontief, Wassilij, Die Lage der Baumwollarbeiter in St. Petersburg. (Fritz
Schneider.) S. 834.
Levy, Hermann, Literatur über die Produktions- und Absatzverhältnisse im Bergbau.
S. 825.
Liebmann, J., Kommentar zum Gesetz betr. die Gesellschaften mit beschränkter Haf-
tung. Fünfte, gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage nebst einem Anhange:
Die Einkommenbesteuerung der Ges. m. b. H. in Preußen und die Reichsstempelabgabe
auf die Tantiemen. (A. Elster.) S. 714.
Linschmann, Die Reichsfinanzreform von 1906. Bibliothek der Rechts- u. Staats-
kunde. Bd. 21a. (v. Heckel.) S. 261.
Lochmüller, W., Zur Entwickelung der Baumwollindustrie in Deutschland. (Fritz
Schneider.) S. 834.
Luschin von Ebengreuth, A., Allgemeine Münzkunde und Geldgeschichte des
Mittelalters und der Neueren Zeit. (v. Below und Meinecke, Handbuch der Mittel-
alterlichen und der Neueren Geschichte.) (Theo Sommerlad.) S. 551.
Marshall, Alfred, Handbuch der Volkswirtschaftslehre. Bd. I. Nach der 4. Aufl.
des engl. Orig. übers. von H. Ephraim und Arthur Salz. Mit einem Geleitwort von
Lujo Brentano. (K. Diehl.) S. 102.
Marcuse, Paul, Betrachtungen über das Notenbankwesen in den Vereinigten Staaten
von Amerika. (Otto Warschauer.) S. 558.
März, Joh., Die Fayencefabrik zu Mosbach in Baden (aus „Volkswirtsch. u. wirt-
schaftsgesch. Abhandl.“, herausgeg. v. W. Stieda, Neue Folge, Heft 7). (Fritz
Schneider.) 8. 707.
Meyer, Hermann, Die Einkommensteuerprojekte in Frankreich bis 1887. Berlin
1905. (v. Heckel.) S. 264.
von Myrbach-Rheinfeld, Freiherr, Grundriß des Finanzrechts. Grundriß des
österreichischen Rechts Bd. III, 7. Abt. (v. Heckel.) S. 202.
Naef, Tabakmonopol und Biersteuer. Ein Beitrag zur schweizerischen Wirtschafts-
und Finanzpolitik. Züricher volkswirtschaftliche Studien, hrsg. v. Herkner 3. Heft.
(v. Heckel.) S. 265.
Niedener, Die Ausgaben des preußischen Staats für die evangelische Landeskirche
in den älteren Provinzen. Kirchenrechtliche Abhandlungen, hrsg. von Stutz. 13.—
14. Heft. (v. Heckel.) S. 270.
Olep, Heinrich, Die deutsche Süßstoffgesctzgebung. Namentlich das Süßstoffgesetz
vom 7. VII. 1902. (Max von Heckel.) S. 137.
Ortloff, Hermann, Deutsche Konsumgenossenschaften im neuen Zentralverband und
die Hamburger Großeinkaufsgesellschaft. (J. Wernicke.) S. 279.
Pesch, Heinrich, 8. J., Lehrbuch der Nationalökonomie, Bd. I Grundlegung.
(K. Diehl.) S. 118.
v. Petrazycki, L., Aktienwesen und Spekulation. Eine ökonomische und rechts-
psychologische Untersuchung. Aus dem Russischen ins Deutsche übertragen unter
Redaktion und mit einem Vorwort des Verfassers. (Otto Warschauer.) S. 562.
Pometta, Daniele, Sanitäre Einriehtungen und ärztliche Erfahrungeu beim Bau des
Simplontunnels 1898—1906. (E. Roth.) 8. 233.
Posener, Paul, Besondere Volkswirtschaftslehre. 26. Band des Grundriß des ge-
samten deutschen Rechts in Einzeluusgaben. (Georg Brodnitz.) S. 410.
Pototzky, Hans, Ludwig Heinrich von Jakob als Nationalökonom. Ein Beitrag
zur Geschichte der Nationalökonomie Deutschlands im 19. Jahrhundert, (F. Lif-
schitz.) 8. 547.
Literatur über die Produktions- und Absatzverhältnisse im Bergbau.
(Hermann Levy.) S. 825.
Rabius, Wilhelm, Der Aachener Hütten-Aktien-Verein in Rote Erde 1846—1906.
(Fritz Schneider.) S. 833.
Raffel, Friedrich, Englische Freihändler vor Adam Smith. (Hermann Levy.)
S. 409,
Reimers, Charlotte, Die Berliner Filzschuhmacherei. (Fritz Schneider.) 8.855.
de Retz de Serviès, André, De l'impôt progressif dans Phistoire en France de
1739—1870. (v. Heckel.) S. 264.
Rheinboldt, Das Reichsfinanzwesen. Burschenschaftliche Bücherei. 2. Bd. 8. Heft.
(v. Heckel.) S. 260.
Inhalt. VII
Riesser, Das Bankdepotgesetz (Gesetz betr. die Pflichten der Kaufleute bei Aufbe-
wahrung fremder Wertpapiere, v. 5. Juli 1896). Für die Praxis erläutert. Zweite,
völlig umgearbeitete Auflage. (A. Elster.) S. 711.
Ripert, H., Le Marquis de Mirabeau, (L’Ami des Hommes.) Ses théories politiques
et économiques. (Thèse de doctorat.) (Karl Heldmann.) 8S. 545.
Rosenhaupt, Karl, Die Nürnberg-Fürther Metallspielwarenindustrie in geschicht-
licher und sozialpolitischer Beleuchtung. (Fritz Schneider.) S. 835.
Roscher, System der Armenpflege und Armenpolitik. 3. Auflage, ergänzt von Christian
J. Klumker. (Georg Brodnitz.) S. 422.
Sander, Paul, Die reichsstädtische Haltung Nürnbergs, dargestellt auf Grund ihres
Zustandes von 1431 bis 1440. 1. und 2. Halbbd. (Theo Sommerlad.) S. 413.
Sardemann, Das steuerfreie Existenzminimum als Beneficium competentiae und Ar-
mutsprophylaxe. (v. Heckel.) S. 263.
Schäffle, A., Abriß der Soziologie, herausgeg. von Karl Bücher. (Max Rind.)
S. 406.
Schneider, Fritz, Zur Gewerbegeschichte und -politik. 8. 832.
Schilder, Sigmund, Agrarische Bevölkerung und Staatseinnahmen in Oesterreich.
(H. Rauchberg.) S. 425.
Schriften des deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit, Heft 70/71.
(Georg Brodnitz.) S. 422.
Schröter, Die Steuern der Stadt Nordhausen und ihre Bedeutung für das Gemeinde-
finanz wesen historisch dargestellt. Sammlung nat.-ökon. u. statistischer Abhandlungen
des staatswissenschaftlichen Seminars zu Halle a./S., herausgeg. v. J. Conrad. Bd. 48.
(v. Heckel.) S. 269.
Seligman, Edwin R. A., Principles of Economics with special reference to Ameri-
can conditions. (K. Diehl.) S. 115.
Speck, E., Handelsgeschichte des Altertums. Dritter Band, 1. Hälfte: Die Kar-
thager. Die Etrusker. Die Römer bis zur Einigung Italiens 265 v. Chr. Dritter
Band, 2. Hälfte A: Die Römer von 265 bis 30 v. Chr. Dritter Band, 2. Hälfte B:
Die Römer von 30 v. Chr. bis 476 n. Chr. (Theo Sommerlad.) S. 549.
Statistisches Jahrbuch deutscher Städte. (J. C.) S. 281.
Stieda, Wilhelm, Die keramische Industrie in Bayern während des 18. Jahrhunderts.
(Bd. 14, No. 4 der Abhandl. der phil.-histor. Klasse der kgl. sächs. Gesellsch. der
Wissensch.) (Fritz Schneider.) S. 275.
Stillich, O., Steinkohlenindustrie. (Hermann Levy.) S. 827.
Stoepel,K. Th., Die deutsche Kaliindustrie und das Kalisyndikat. (Hermann Levy.)
S. 830.
Sunder, Das Finanzwesen der Stadt Osnabrück von 1648—1900. Sammlung nat,.-ökon.
u. statistischer Abhandlungen des staatswissenschaftlichen Seminars zu Halle a./S.,
herausgeg. v. J. Conrad, Bd. 47. (v. Heckel) S. 268.
Thomas, A., The Growth and Direction of our foreign Trade in Coal. (Hermann
Levy.) S. 829.
Trautvetter, Das neue deutsche Zolltarifrecht. Ein Leitfaden. (v. Heckel.)
S. 265.
Trescher, Die Entwickelung des Steuerwesens im Herzogtum Sachsen-Gotha. Ab-
handlungen des staatswissenschaftlichen Seminars zu Jena, herausgeg. v. Pierstorff,
Bd. II, 3. (v. Heckel.) S. 261.
Uhde, K., Die Produktionsbedingungen des deutschen und englischen Steinkohlenberg-
baues. (Hermann Levy.) 8. 829.
Uhlmann, Franz, Der deutsch-russische Holzhandel. (Sodoffsky.) S. 131.
Vossberg, Walter, Die deutsche Bau-Genossenschaftsbewegung. (J. Wernick e.)
S. 565.
Wagner, Adolf u. Preuss, Kommunale Steuerfragen. Zwei Referate erstattet der
Ortsgruppe Berlin der Gesellschaft für soziale Reform. Mit einer Vorbemerkung von
M. v. Schulz. (v. Heckel.) S. 267.
Weston, Stephen F., Principles of Justice in Taxation. (v. Heckel.) S. 271.
Wicksell, Knut, Föreläsningar i nationalekonomi. (M. Marcus.) S. 397.
Wismüller, Franz X., Die bayerische Moorkolonie Großkarolinenfeld. Im Auftrage
des Kgl. Bayerischen Staatsministeriums des Innern. Mit einer Karte und einer An-
sicht von Großkarolinenfeld. (P. Holdefleiss.) S. 415.
VIII Inhalt.
Zeitlin, Der Staat als Schuldner. Fünf Volkshochschulvorträge. (v. Heckel.)
S. 266.
Zorn, Ueber die Tilgung von Staatsschulden. Abhandlungen aus dem Staats-, Ver-
Der und Völkerrecht, herausgeg. v. Zorn und Stier-Somlo, Bd. I, 3. (v. Heckel.)
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des
Auslandes. S. 125. 272. 406. 545. 704. 837.
Die periodische Presse des Auslandes. S. 141. 285. 427. 572. 716. 850.
Die periodische Presse Deutschlands. S. 143. 287. 430. 574. 719. 853.
Bemerkung der Redaktion. S. 288.
Volkswirtschaftliche Chronik. S. 649. 707. 1. 55. 113. 197.
Fritz Pabst, Grundrente in der Peripherie der Stadt. 1
I.
Ist die Grundrente in der Peripherie der
Stadt eine „allgemeine Monopolrente“ ?
Von
Dr. Fritz Pabst, Berlin.
Gelegentlich einer Besprechung des Buches „Kleinhaus und
Mietkaserne“ von Andreas Voigt und Paul Geldner in der Zeitschrift
für die gesamte Staatswissenschaft (1906) Heft 2, S. 336 ff. weist
Dr. H. Jolles darauf hin, daß die Feststellung der Abhängigkeit der
Bodenpreise von den auf dem Grundstück erzielbaren Erträgen noch
nicht beweist, daß kein Monopol am Boden vorliegt oder möglich
ist. Er sagt mit Recht, „der Preis des monopolisierten Bodens ist
ganz ebenso eine Funktion des Mietertrages wie der Preis des freien
Bodens)“. Im Zusammenhang damit wird die Ansicht ausgesprochen,
daß „die Mieten monopolistische Höchstpreise und daher von der
Kostengestaltung ziemlich unabhängig“ seien. Diese Ansicht sucht
Jolles nunmehr in einer im 3. Heft der genannten Zeitschrift
(S. 433 ff.) veröffentlichten Untersuchung: „Die allgemeine Monopol-
rente von städtischem Grundbesitz“ näher zu begründen.
1. Bevor die von dem Verfasser aufgestellte Theorie untersucht
wird, sei zunächst der wesentlichste Inhalt seiner Ausführungen
kurz dargelegt. Jolles erinnert daran, daß die schon von Adam
Smith vertretene Vorstellung von der monopolistischen Natur der
städtischen Grundrente auch heute noch allgemeine Geltung in der
Staatswissenschaft und Nationalökonomie hat. Demgegenüber er-
scheinen die gegensätzlichen Ansichten von Andreas Voigt, Weber,
Pohle und auch von Philippovich?) „daß die städtische Grundrente
der Regel nach Differentialrente sei“, als eine die Regel bestätigende
Ausnahme. Die Ursache des Monopols finden die Vertreter der
communis opinio fast ausnahmslos in den Verhältnissen des Bodens,
besonders in dem beschränkten Vorkommen desselben, wobei einmal
an „eine allgemeine Beschränktheit allen Baulandes, andererseits an
die "Seltenheit einzelner besonders ausgezeichneter Lagen“ gedacht
1) Uebrigens wird das A. Voigt am ie bestreiten.
2) Die Belege vergl. Jolles a. a. O. S. 433.
Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIII. 1
2 Fritz Pabst,
wird. Diese Vorstellung knüpft an die Bodenpreisentwickelung in
der Peripherie der Stadt an. Nur die dort angeblich zum Ausdruck
gelangende „allgemeine Monopolrente“, die von „der Monopolnatur
einzelner besonders ausgezeichneter Lagen“ zu unterscheiden ist,
untersucht der Verfasser.
Er beginnt mit einem Ueberblick über die herrschenden
Vorstellungen der Monopoltheorie. Die „allgemeine Monopol-
rente“ soll sich bilden auch auf demjenigen Boden, „auf dem eine
Differentialrente unmöglich ist, auf dem schlechtesten jeweilig be-
bauten Boden“. Roscher und andere nehmen dies an, sowohl unter
der Voraussetzung, „daß der gesamte Boden zum Anbau erforderlich
ist“, als auch für den Fall, „daß der gesamte Boden juristisch okku-
piert ist“. Auf diese Ansicht von der „allgemeinen Monopolnatur
der städtischen Grundrente“ stützt sich die Spekulations- oder Aus-
sperrungstheorie, die ja die Anerkennung!) der meisten National-
ökonomen und vieler Praktiker gefunden hat.
Mit Recht führt nun Jolles aus: „Die monopolistische Macht des
Eigentums kann nur auf der besonderen Natur des Eigentums-
objektes beruhen.“ Er weist nach, unter Bezugnahme auf die Fest-
stellungen von Andreas Voigt und Weber, daß der städtische Boden
seiner wirtschaftlichen Natur nach nicht zu den monopolisierbaren
Gütern gehört und daß deshalb die Spekulationstheorie unzutreffend
ist. Diese Theorie kann auch nicht mit der Erwägung begründet
werden, daß „die Stadt mit ihrer Umgebung nur auf eine bestimmte
Entfernung hin wirtschaftlich in unmittelbare Beziehung gesetzt zu
werden vermag“. Die herrschende Vorstellung von der „allgemeinen
Monopolnatur des städtischen Baulandes“* ist also abzulehnen. Als
die Regel bestätigende Ausnahme führt der Verfasser an, „beson-
dere Geländeverhältnisse, z. B. bei Gebirgsorten und Inselstädten
und politische Baubeschränkungen namentlich in Festungsstädten“.
Er hätte noch hinzufügen können abnorme Eigentumsverhältnisse
und abnorme Eigentumsausnutzung, wie sie Weber in England in
seinem Buche: „Ueber Bodenrente und Bodenspekulation in der
modernen Stadt“ (1904) S. 82 nachgewiesen zu haben glaubt. Dort
würde in der Tat, wenn jene Schilderungen zutreffen, in einigen
Gemeinden eine Monopolrente, hervorgerufen durch Aussperrung des
zur Bebauung erforderlichen Bodens und damit eine Steigerung
des Bodenertrages bezw. der Mieten infolge der künstlich in die
Höhe getriebenen Bodenpreise vorliegen.
Im zweiten Teil seiner Ausführungen legt nun Jolles seine An-
sicht über das Wesen der „Peripheriegrundrente“ dar. Es handelt
sich dabei nach dem Verfasser in der Tat um ein Monopol, aber nicht
um ein Monopol der Bodeneigentümer, sondern um ein solches der
Hauseigentümer. Die Differentialrententheorie erklärt angeblich die
Gestaltung der Bodenpreise an der Stadtgrenze nicht hinlänglich.
Der Boden an der Stadtgrenze müßte, wie auch Henry George?)
1) Vergl. Jolles S. 435.
2) Vergl. Zitat bei Jolles a. a. O. S. 443.
Ist die Grundrente in der Peripherie der Stadt eine „allgemeine Monopolrente“? 3
hervorhebt, den landwirtschaftlichen Wert haben. Dies sei jedoch
nirgends der Fall, wie insbesondere von Möller !) und Feig?) nach-
gewiesen worden ist, obschon die Peripheriegrundrente eine Rente
letztklassigen Bodens darstelle. f
In dieser Peripheriegrundrente kommt nach Jolles ein all-
gemeines Monopol zum Ausdruck, welches durch die besondere
Natur des Baukapitals und durch die allgemeine Monopolstellung
der Hausbesitzer hervorgerufen wird.
Diese Ansicht sucht Verfasser folgendermaßen zu begründen:
Schon die Notwendigkeit, ein verhältnismäßig bedeutendes Quantum
von Kapital als stehendes Kapital fest anzulegen, beeinflusse das Ver-
hältnis von Angebot und Nachfrage bei der Gebäudeherstellung, in-
dem sie das Angebot zur Vorsicht und zu langsamem Nachfolgen
veranlasse. Die „städtische Kapitalverwendung“ sei aber noch in
anderer Beziehung hinsichtlich ihres Einflusses auf Angebot und
Nachfrage auf dem Häusermarkt eigenartig. Allgemein werde näm-
lich auf Grund der Ergebnisse der Wohnungsstatistik ein bestimmter
Vorrat von leerstehenden Wohnungen, etwa 3 Proz., als normal ge-
fordert. Es sei aber eine Tatsache, daß sich ein solcher Ueber-
schuß von leerstehenden Wohnungen (und anbaufertig hergestelltem
Lande) nicht bildet ë).
Jolles sagt, diese Forderung, einen solchen „konkurrierenden
Vorrat“ hervorzurufen, würde man eben nicht stellen, wenn auch nur
die Möglichkeit einer entsprechenden und ausreichenden Ausdehnung
des Angebots von Wohnungen bestände. Aus dieser unerfüllten
Forderung dürfe mit Recht auf monopolistisch gesteigerte Preise
geschlossen werden. Folgendes sei daher eine grundlegende Tat-
sache: „der jeweilig vorhandene Häuserbestand nimmt eine Monopol-
stellung ein, weil das Baukapitel seiner wirtschaftlichen Natur nach
nicht wesentlich (sie!) über die Nachfrage hinaus vermehrbar
ist“ (S. 446).
Auf Grund dieser unerwiesenen These behauptet Jolles, die
städtische Hausunternehmung sei als eine Art „unteilbarer Unter-
nehmung“ (nach Sax) zu betrachten. Sie genieße wie andere Unter-
nehmungen der Art, z. B. Eisenbahnen, Kanäle u. s. w. eine Monopol-
stellung. Wie bei diesen, habe auch hier die Konkurrenzunterneh-
1) Vergl. Möller: „Wohnungsnot und Grundrente, Jahrb. f. Nat.-Oek., Jena 1902,
3. Folge, 23. Bd., S. 31: „Im Umkreis der nach dem Stande der Verkehrsmittel er-
reichbaren Entfernungen, zur Zeit eine Meile, vervielfachen sich die Bodenpreise un-
bebauter Flächen auf 20 bis 40 M. für das Quadratmeter und höher. Die Preise in
ländlicher Lage betragen 0,04 bis 0,80 M. für das Quadratmeter.‘
2) Vergl. Feig: Schriften des Vereins für Sozialpolitik (1903) 111. Bd. S. 158:
„Die Verhältnisse des Grund- und Bodens in Düsseldorf unter dem Einflusse der Wirt-
schaftskrise von 1900“: In den wichtigsten Arbeiterwohnvierteln wie Oberbilk, Flingern,
Derendorf betragen die Durchschnittswerte der Baustellen etwa 300 bis 700 M.; in dem
noch entfernter vom Stadtmittelpunkt belegenen Lierenfeld etwa 140 M., ein Preis,
der auch für die besten Böden in dem Gemüsebau treibenden Außen-
orte Hamm bezahlt wird, während Ackerland in den anderen südlichen Außen-
orten mit 15 bis 20 M. für die Quadratrute bezahlt wird.“
3) Vergl. Jolles a. a. O. S. 449.
1*
4 Fritz Pabst,
mung nur die Wirkung, daß sie zu einer Zersplitterung der Nach-
frage führe und die Rentabilität der Hausunternehmungen allgemein
vernichte.
Wie bei anderen „unteilbaren Unternehmungen“, sei auch in
der Hausunternehmung eine Anpassung des Angebots an die Nach-
frage durch Verdrängung der schwächeren Unternehmungen „kaum
jemals“ (sic!) möglich. Der Grund für diese „Eigentümlichkeit der
Konkurrenzverhältnisse auf dem städtischen Häusermarkt“ aber ist
nach Jolles zu sehen in der „Unwandelbarkeit und Unzerstörbarkeit
der Hausunternehmung‘“, die wiederum auf der Tatsache beruht,
„daß in der Hausunternehmung das umlaufende Kapital, abgesehen
von dem unerheblichen Verwaltungsaufwande, vollständig fehlt“
(S. 447).
Während sonst durch Aenderung des umlaufenden Kapitals in
derselben Unternehmung das Angebot verändert werden könne ohne
Veränderung des stehenden Kapitals, also insbesondere auch ohne
Veränderung in der Zahl der Unternehmungen, sei dies bei der
Hausunternehmung nicht der Fall. Unwandelbarkeit und Unzerstör-
barkeit der Hausunternehmungen beschränken also nach dem Ver-
fasser die Konkurrenz auf „die völlig unzulängliche Form der
Vorratsproduktion“ und bewirken somit die Unmöglichkeit einer
wirksamen Konkurrenz auf dem Häusermarkt (vgl. S. 449). Der
Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage sei mithin nicht das Er-
gebnis, sondern die Grenze der Konkurrenz, diese „Konkurrenz-
beschränkung“ aber Ursache, nicht Folge der „spekulativen Ein-
schließung der Stadt“.
Der Verfasser kommt sonach zu dem Ergebnis: Die Peripherie-
grundrente ist eine allgemeine Monopolrente, ist nicht, wie die
Differentialrente Folge, sondern Ursache der Mietzinshöhe und end-
lich, weil auf Eigenschaften des Baukapitals beruhend, keine Boden-
sondern Häuserrente.
2) Einleitend sei bei der Kritik der Jolleschen Theorie hervor-
gehoben, daß ich die Meinung derjenigen teile, welche die städtische
Grundrente der Regel nach als Differentialrente ansehen. Eine
eigentliche Monopolrente, also eine „allgemeine Monopolrente“ ist
meines Erachtens nur vorhanden, wenn vermöge eines ausschließ-
lichen Bodeneigentums in der Peripherie der Stadt die Bodeneigen-
tümer das Angebot im Mißverhältnis zum tatsächlichen Bedarf ein-
schränken !). Weber will, wie schon dargetan, in England einige
derartige Fälle konstatiert haben.
Eine kurze Erörterung erfordert hierbei der Begriff des „Mono-
pols“. Ein „Monopol“ sehe ich also darin, wenn ein zur Befriedigung
der Nachfrage absolut erforderliches Bodenquantum, das durch keine
Konkurrenz ersetzt werden kann, von seinen Eigentümern zum
Zwecke der Preissteigerung künstlich zurückgehalten wird. Dagegen
1) Vergl. auch meine Ausführungen in: Kritik der Bodenreform, Berlin 1905,
S. 57 u. 67.
Ist die Grundrente in der Peripherie der Stadt eine „allgemeine Monopolrente“? 5
betrachte ich die Vorzugsstellung jedes Grundeigentümers derart,
daß der Fleck Boden, der ihm gehört, in seiner speziellen Lage nur
einmal vorkommt, nicht als „Monopol“. Wollte man das letztere
tun, so müßte man das Bodeneigentum überhaupt als einen mono-
polistischen Besitz und die Grundrente als eine Monopolrente be-
zeichnen.
Ueber die vermutliche Höhe der Bodenrente in dem Falle eines
solchen tatsächlichen Monopols sei noch folgendes bemerkt: Auch
wenn infolge Ausschlusses jeder Konkurrenz und durch Einschrän-
kung des Angebots ein bei freier Konkurrenz undenkbares Miß-
verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage entstanden ist, vermag
der Bodeneigentümer nicht einfach den Bodenpreis beliebig zu be-
stimmen; auch dann wird nicht der Zustand eintreten, den die Boden-
reformtheorie schon heute als vorhanden hinstellt, wonach der
Mehrertrag der steigenden volkswirtschaftlichen Produktion von der
steigenden Grundrente absorbiert wird.
Steigender Bodenwert setzt vielmehr Vermehrung der Bevölke-
rung und Erweiterung der Produktion voraus. Erst müssen Technik
und Volkswirtschaft fortschreiten, ehe nutzbringende Kapitalanlage
möglich sein wird und ihrerseits wieder die Höhe der Grundrente
steigert.t
Die Höhe der Grundrentensteigerung und damit der Wert-
zuwachs des Bodens, der ja nur die kapitalisierte Grundrente dar-
stellt, richtet sich erst als sekundäres Moment nach der Entwickelung
der Volkswirtschaft. Die Grundrente kann also nur solange ge-
deihen, wie die ganze Volkswirtschaft blüht. Gefährdet sie diese,
so untergräbt sie damit ihre eigene Existenz 1).
Allerdings werden bei einem wirklichen Monopol die jeweilig
höchstmöglichen Preise oder Mieten erzielt werden; sie sind viel-
leicht bedeutend höher, als es bei dem Zustande freier Konkurrenz
der Fall wäre. Aber eine Ueberspannung der Forderungen des
Monopolisten müßte einen Rückschlag auf den Bodenpreis ausüben.
Die Entwickelung würde durch Abwanderung der Bevölkerung auf
monopolfreien Boden gehemmt werden. Die Monopolisierung oder
besser die rücksichtslose Ausbeutung der Monopolstellung würde den
Monopolinhaber in erster Linie schädigen.
Besonders verhängnisvoll würden die nachteiligen Folgen für
den Monopolbesitz namentlich dann sein, wenn der Monopolist ein
Bodenspekulant wäre, der den Boden schon teuer vom „Urbesitzer“
erworben hat. — Den praktischen Beweis für die Richtigkeit dieser
Wirkung der Bodenmonopolausnutzung hat meines Erachtens Weber
an dem Beispiel der englischen Stadt Greenock erbracht.
Eine Monopolrente, wie ich sie hier geschildert habe, würde in
der Tat eine „allgemeine Rente“ darstellen, die mit der Differential-
rente nichts zu tun hat. Sie würde die Ursache des gestiegenen
Ertrages sein, während bei der Differentialrente der steigende Boden-
1) Vergl. Kritik der Bodenreform, S. 64. 74, 90.
6 Fritz Pabst,
preis sich aus dem natürlichen Wertvollerwerden des Bodens durch
die wachsende Nachfrage und sein beschränktes Vorkommen in be-
sonderer Lage ergibt.
Dies über die Möglichkeit einer Monopolrente beim Boden! —
Jolles hat nun die üblichen Monopolvorstellungen mit Geschick
zurückgewiesen, und es ist sehr erfreulich, daß er die doch allgemein
vertretene und insbesondere von den Bodenreformern und ihrer An-
hängerschaft im Tone absoluter Unfehlbarkcit gepredigte Lehre von
der Monopolnatur des städtischen Bodens so entschieden und rück-
haltslos abgelehnt hat: es zeugt dies unter heutigen Verhältnissen
von anerkennenswertem Mut. Aber seine neue Theorie, die unter
Anwendung eines ziemlich umfangreichen wissenschaftlichen Appa-
rates doch das Vorhandensein einer allgemeinen Boden- bezw. Häuser-
rente konstatieren zu können glaubt, muß meines Erachtens ebenso
entschieden wie die herrschenden Vorstellungen abgelehnt werden.
Zunächst ist die conditio sine qua non seiner Theorie — seine
Behauptung, daß ein konkurrierender Vorrat im allgemeinen auf dem
Wohnungsmarkt nicht bestehe, mit anderen Worten, daß im Laufe
einer längeren Periode durchschnittlich erheblich weniger als 3 Proz.
der Wohnungen leerstehen — unbewiesen geblieben. Mit einer
bloßen Vermutung ist nichts bewiesen, selbst wenn sie von Vielen
geteilt werden sollte. Ehe man sich anschickt, eine derartige funda-
mentale Theorie zu entwickeln, sollte man doch die Voraussetzungen,
auf welche sie sich stützt, auch induktiv recht sorgfältig untersuchen.
Jolles bringt aber z. B. absolut kein statistisches Material zum
Beweis seiner Behauptung bei. Es ist richtig, daß unsere Woh-
nungsstatistik leider — und höchst bedauerlicherweise — so ziem-
lich versagt, aber man hätte doch wohl einen Versuch induktiver
Beweisführung erwarten dürfen.
Im folgenden soll dies geschehen! Bei der ungenügenden Ent-
wickelung der Wohnungsstatistik muß man sich leider auf wenige
Städte beschränken und zwar werden im folgenden die von Pohle +)
mitgeteilten Zahlenangaben benutzt, welche noch, soweit möglich,
für die späteren Jahre ergänzt worden sind.
(Siehe Tabelle I auf S. 7.)
Danach betrug also der Anteilssatz der leerstehenden Wohnungen
durchschnittlich:
1. in Hamburg in den letzten 21 Jahren 4,583 Proz.
2. „ Leipzig RER = 16 a 3,482 y
8. „ Magdeburg „ » R 12 " 2,868 „
4. „ Berlin AR- A 10 A 2,693 p
5. „ Dresden 5 n 9 a6 5,194 »
6. „ Mannheim „ „ s 7 1.074088: +
In vier von diesen Gemeinden mit im allgemeinen starker, zum
Teil rapider Entwickelung hat also die Bautätigkeit im Durchschnitt
einer längeren Zeitdauer das als „normal“ betrachtete Angebot von
1) Vergl. Pohle, Der Wohnungsmarkt unter der Herrschaft der privaten Bau-
spekulation, Zeitschr. f. Sozialwissenschaft, 1904, Heft 10, 8. 623 ff.
Ist die Grundrente in der Peripherie der Stadt eine „allgemeine Monopolrente“? 7
Tabelle I.
Die Zahl der leerstehenden Wohnungen in Prozenten der Ge-
samtzahl betrug in folgenden Städten im Jahre:
Jahr | en | Leipzig ee Berlin?) | Dresden Mannheim
1885 2,23
1886 2,50
1887 2,38
1858 2,8%
1889 3.44
1890 4,64 6,74
1891 5,86 6,88
1892 8,38 6,32
1893 9,01 5,40
1894 9,00 4,52 6,98
1895 7,98 3,29 5,53
1896 6,37 1,51 3,90
1897 4,58 0,82 2,05
1898 3,51 1,03 1,16
1899 2,97 1,17 0,86 1,62
1900 2,51 1,68 6,17 1,40
1901 2,16 1,97 1,08 ) 5,12
1902 2,72 2,88 2,20 6,76
1903 3,54 3,99 3,08 6,61
1904 4,38 4,20 3,74 4,24
1905 4,80 3,96 3,10 2,09 7,08 2,71
leeren Wohnungen nicht nur erreicht, sondern zum Teil recht erheb-
lich überschritten! Nur Magdeburg und Berlin machen eine Aus-
nahme. Aber wenn auch hier der Durchschnittssatz von 3 Proz.
um ein weniges nicht voll erreicht wird, so wird man nicht be-
haupten können, daß dies ein Beweis für die Richtigkeit der Jolles-
schen Behauptung ist. Für Berlin kommt ferner, namentlich für
die letzten Jahre in Betracht, daß es mit seinen Vororten eine wirt-
schaftliche Einheit bildet und daher in Bezug auf den Wohnungs-
markt mit diesen zusammen betrachtet werden muß°). Leider fehlt
es noch immer an einer entsprechend ausgestalteten Statistik für
Groß-Berlin.
Allein aber auf die Gestaltung des Durchschnittsangebots
in einer längeren Periode kann es hier ankommen! Die
Wissenschaft wenigstens darf kein Verfahren anerkennen, wie es
1) Die Hamburger Statistik betrifft „die Gelasse‘“, umfaßt also Wohnungen ein-
schließlich der gewerblich benutzten Räume. Seit 1902 werden die leerstehenden Woh-
nungen gesondert festgestellt, Danach gestaltet sich das Ergebnis, wie folgt:
1902 2,2 1904 4,1
1903 3,1 1905 4,4
2) Die Resultate der Zählungen bis 1898 einschließlich sind nach der Angabe
des statistischen Amts der Stadt Berlin mit den späteren Zahlen vergleichbar, obwohl
das bis dahin geübte Verfahren von dem späteren etwas abweicht.
3) Vgl. dr. Baumert, Zum preußischen Wohnungsgesetzentwürf. Berlin 1905,
C. Heymanns Verlag, 8. 33.
8 Fritz Pubst,
z. B. der Verfasser des preußischen Wohnungsgesetzentwurfs beliebt
hat, der, obwohl ihm die entgegengesetzte Entwickelung nach dem
Jahre 1900 bekannt gewesen ist, dennoch aus den Zahlen einiger
Jahre eine allgemeine Tendenz zur Abnahme des Angebots an leeren
Wohnungen zu folgern, keinen Anstaud genommen hat!).
Eine so objektiv und bona fide geführte Untersuchung wie die
von Jolles läuft aber gleichfalls Gefahr, ihres wissenschaftlichen
Charakters verlustig zu gehen, wenn sie Schlagworten, die aller-
dings eine offizielle Bestätigung gefunden haben, vertrauend, vor-
handenes statistisches Material unbeachtet läßt.
Es ist sehr bedauerlich, daß das mitgeteilte Zahlenmaterial in
demselben Umfange nicht auch für andere Städte erhältlich ist. Die
folgende Tabelle II S. 9 enthält Zahlenmaterial für eine Reihe von
Großstädten, die im allgemeinen erst von 1900 ab oder noch später
die Zahl der leerstehenden Wohnungen feststellen bezw. für welche
frühere Zahlen nicht ermittelt werden konnten ?).
Die Erhebungen erfolgten in der einzelnen Gemeinde nicht
immer zu den Terminen der Vorjahre; die Ergebnisse sind trotz-
dem für unseren Zweck genügend vergleichbar.
Auch in diesen Gemeinden kommt ausnahmslos die von Pohle
hervorgehobene Tendenz der Wohnungsproduktion zum Ausdruck,
sich in entgegengesetzter Richtung wie das allgemeine Wirtschafts-
leben zu bewegen. In allen ist seit dem Jahre 1900, einem Jahre
hochgespannter wirtschaftlicher Entwickelung, eine Vermehrung des
Wohnungsangebots eingetreten; in allen, mit Ausnahme von Bremen
und Dortmund ist ferner der „normale“ Satz von 3 Proz. in
einzelnen Jahren überschritten oder wenigstens annähernd erreicht
worden. Aus diesen Zahlen soll jedoch nicht ohne weiteres der aus
der Tabelle I gefolgerte allgemeine Rückschluß gezogen werden.
Bremen und Dortmund nehmen unter ihnen eine Ausnahme-
stellung ein, was aber nicht etwa die Richtigkeit der Jollesschen
Behauptung von der unzureichenden Herstellung von Wohnungen
bewahrheitet. In Bremen erklärt sich der niedrige Prozentsatz
hauptsächlich aus dem dort vorherrschenden Kleinbau. Die „Mit-
teilungen des Bremischen Statistischen Amts“ (1905 No. 1) bemerken
dazu (vgl. S. 4: Man wird hiernach einen Betrag von
1,50—2,50 Proz. leerstehender Wohnungen für Bremen
je nach der Jahreszeit als normal ansehen dürfen. In
anderen Großstädten rechnet man gewöhnlich mit höheren Ziffern
1) Vergl. Entwurf, Begründung auf S. 13 ff. Siehe auch Pohle, a. a. O., S. 619 ff.
Dasselbe Verfahren ist übrigens auch bei Adolf Damaschke zu rügen. Vergl. Adolf
Damaschke, Die Bodenreform, S. 60.
2) Die Ermittelung geschah durch eine am 6. September d. J. veranstaltete Um-
frage des preußischen Landesverbandes der Haus- und Grundbesitzervereine bei den
statistischen Aemtern bezw. Magistraten der deutschen Gemeinden mit über 100 000 Ein-
wohnern (Großstädte). Der Unterzeichnete nimmt an, daß aus seiner Stellung als
Generalsekretär des genannten Verbandes nicht die Folgerung gezogen wird, daß er zu
einer objektiven wissenschaftlichen Untersuchung unqunlifiziert sei.
Ist die Grundrente in der Peripherie der Stadt eine ‚allgemeine Monopolrente‘? 9
Tabelle II.
I
Stadt 1900 | 1901 | 1902 | 190s 1904 | 1905
— zZ —— L -— —
* Essen ®) 1,25 | 2,63 | 4,76 | 5,33 | 3,49 |1,09
Königsberg 2,84 | 3,19 | 2,83 | 3,98 4,32 | —
* Straßburg 2,14 — 1,40 | 2,29 2,44 | 2,86
* Kiel?) 0,0 | — — | 3,35 — | 2,88
Düsseldorf — 3,1 2,86 | 5,51 4,36 | 4,28
* Bremen !) 1,10 — — 2,33 1,77 | 2,06
* Chemnitz 1,15 — | 3,08 4,33 |4,45
* Wiesbaden — — — — — |349
Dortmund *) — | — — — 1,7 |1,62
* Posen 1,10! — — |2, 4,7 6,469)
* Barmen — — — 48 6,3
Rixdorf 0,50 ; 0,60 | 2,07 | 6,62 | 8,75 —
* Schöneberg — |3,60 3,01 ‚4,13
Charlottenburg j| — — — | 3,38 | 3,48 |2,98
Danzig 2,8 _ — |34ħ| — |—
* Duisburg -= — — | 3,98 — |—-
* Cassel — — — 4, — — |4,87
* Cöln®) — 391 | — — |464
In den mit * bezeichneten Gemeinden haben weitere Zählungen nicht statt-
gefunden,
und pflegt insbesondere den zulässigen Mindestbetrag der leer-
stehenden auf 3 Proz. aller Wohnungen zu veranschlagen. Wenn
wir in Bremen zu niedrigeren Ziffern gelangen, so dürfte das durch
die verhältnismäßig übersichtliche Gestaltung des
Wohnungsmarktes, das Fehlen versteckter Wohnungen
in Hinterhäusern, die weite Verbreitung des Eigen-
tums an Wohnhäusern erklärt werden.
Was endlich Dortmund anbelangt, so kann man aus dem dürf-
tigen Material natürlich keine allgemeine Folgerung ziehen.
1) Von je hundert „Privatwohnungen‘“. Der Bericht sagt (vergl. Mitteilungen des
Bremischen statistischen Amts im Jahre 1906, No. 1, S. 1): „Es kann nicht geleugnet
werden, daß schon seit einiger Zeit eher eine Ueberfüllung des Wohnungsmarktes zu
besorgen ist.“ Es wird dies begründet mit der starken Zunahme der im November
1905 an die Grenze der polizeilichen Abnahme gerückten Wohnungen!
2) Bei der Kieler Zählung ist zu beachten, daß im Jahre 1900 die Küchen nicht
als heizbare Zimmer gezählt wurden, wie im Jahre 1903 und 1905. Ferner ist nach
Mitteilung des statistischen Amts die Zahl der leerstehenden Wohnungen für 1905 ver-
mutlich zu klein!
3) Vorläufiges Ergebnis nach den „Monatsübersichten‘‘, Posen, No. 8 (1905).
4) Die im Dezember 1905 im Bau befindlichen Wohnungen Dortmunds be-
trugen zusammen mit den leerstehenden 4,09 Proz. aller Wohnungen.
5) Im Mai 1906 belief sich die Zahl der in Charlottenburg leerstehenden Woh-
nungen auf 3,40 Proz. Seit Mai 1898 werden dle leerstehenden Wohnungen festgestellt.
Für die Jahre bis 1903 sind jedoch die Relativzahlen nicht feststellbar.
6) Einschließlich des am 1. August 1905 eingemeindeten Rüttenscheid machten
die leerstehenden Wohnungen am 23. Oktober 1905 1,16 Proz. aus.
7) Resultat soll nach der Mitteilung des Magistrats nicht ganz zuverlässig sein.
8) Außerdem fand in Cöln im Jahre 1897 (gleichfalls am 1. Dezember) eine Zäh-
lung statt, welche den Prozentsatz von 4,12 Proz. ergab.
10 Fritz Pabst,
Zum Schluß seien in einer Tabelle III noch einige Zahlen über
die Städte Frankfurt a. M., Hannover, Breslau, Altona und München
mitgeteilt, welche die Entwickelung des Wohnungsmarktes in Ab-
ständen von je 5 Jahren beleuchten:
Tabelle III.
Jahr Frankfurt a. M. *Hannover!) *Breslau?) * Altona) * München
1880 _ 6,54 _ — —
1885 2,99 1,46 2,2 — 2,1
1890 3,29 1,25 8,0 — 5,7
1895 9,81 4,76 5,7 4,38 3,2
1900 1,94 1,47 1,9 1,10 5,0
1905 4,38 1,87 6,8 2,18 4,2
Auch sie zeigen die von Pohle hervorgehobene Gesetzmäßigkeit
der Gestaltung des Wohnungsangebots (entgegengesetzt der allge-
meinen wirtschaftlichen Entwickelung) und scheinen auch für unsere
Behauptung des zureichenden Angebots an leeren Wohnungen zu
sprechen. Jedenfalls erhellt auch aus ihnen ohne weiteres die Un-
richtigkeit der Jollesschen Behauptung, daß der Anteilssatz von 3 Proz.
im allgemeinen nicht erreicht wird ^4).
1) In Hannover haben bisher nur alle 5 Jahre in Verbindung mit der Volks-
zählung Wohnungszählungen stattgefunden,
2) Der Anteilssatz betrug in Breslau 1904 5,8 Proz.
3) Leerstehende Wohnungen einschließlich der mit Geschäftslokalen untrennbar
verbundenen. Die Zahl für 1905 ist durch Fortschreibung berechnet. Die anderen
Zahlen sind bei den Volkszählungen ermittelt worden.
4) Es sei hierbei erwähnt, daß die Städte Gelsenkirchen, Bochum, Braunschweig,
Crefeld, Rixdorf, Elberfeld, Aachen, Stettin und Nürnberg mitteilten, daß sie bisher
noch keine Zählungen der leerstehenden Wohnungen vorgenommen hätten bezw. nicht
oder noch nicht in der Lage seien, die erbetenen Angaben zu machen. Karlsruhe hat
seit 1897 derartige Feststellungen vorgenommen und swar von 1893 ab dreimal jähr-
lich im April, Juli und Oktober. Leider ist eine Aufnahme sämtlicher Wohnungen
erstmalig im Dezember 1905 erfolgt; infolgedessen lassen sich die Relativzahlen nicht
berechnen. Die absoluten Zahlen enthält anliegende Uebersicht:
Uebersicht über die in Karlsruhe leerstehenden Wohnungen
in den Jahren 1897 —1906.
Wohnungen mit . . . Zimmern
eA ae a Tie a
Jahrgang s 8
1 2 3 4 5 6 | u,mehr sammen
FG Aprilzählung
1897 _ - |- _ _ _ -| - —
1898 4 29 24 24 16 | 9 9 12 127
1899 4 52 37 | 66 45 26 13 8 301
1900 21I 77 83 i 63 38 23 19 15 339
1901 14 106 73 56 46 33 11 10 349
1902 31 189 109 52 38 27 8 12 466
1903 39 261 144 94 46 27 13 12 036
1904 23 198 151 106 44 24 10 10 566
1905 40 183 123 | 113 60 33 8 7 567
1906 45 293 229 | 157 79 so 2i 8 882
Ist die Grundrente in der Peripherie der Stadt eine „allgemeine Monopolrente‘‘? 11
Unsere induktive Untersuchung der Tatsachen berechtigt zu der
Annahme, daß ein konkurrierender Vorrat, wo es erforderlich ist,
nämlich in Gemeinden mit Entwickelung, auch besteht. In Ge-
meinden ohne Entwickelung fehlt natürlich ein solcher konkurrierender
Vorrat, aber man wird auch für diese daraus nicht das Bestehen
eines Häusermonopols folgern dürfen!) Ein Häusermonopol kann
dort um so weniger vermutet werden, als derartige Gemeinden häufig
sogar an Bewohnerzahl abnehmen, also die Nachfrage nach Woh-
mmgen und gewerblich genutzten Räumen sogar zurückgeht ?).
Jolles Annahme, daß der jeweilige Häuserbestand eine Monopol-
stellung einnehme, und somit eine Monopolstellung der Hausbesitzer
Wohnungen mit... . Zimmern
Jah Zu-
a 2 3 4 5 6 | 7 | 8 | sammen
u. mehr
Julizählung
1897 3 26 40 | 26 17 3 2 6 123
1898 2 25 37 729 26 15 rt 9 154
1899 14 50 8 | 58 42 21 7 9 282
1900 20 117 83 | 48 43 37 14 14 376
1901 18 159 82 | s4 | 44 33 13 10 413
1902 35 202 mı | -71 43 21 13 9 505
1908 25 agr 163 69 37 25 12 7 589
1904 39 207 130 100 59 29 18 10 592
1905 _ = = = = — = _ _
1906 24 = - |- — = = — ei
Oktoberzählung
1897 9 29 55 62 33 10 15 6 219
1898 8 48 79 47 32 36 29 12 291
1899 19 | 93 138 76 46 38 18 5 437
1900 27 |, 172 134 71 46 34 I 21 520
1901 40 198 105 66 44 37 I 8 516
1902 35 | 267 167 92 47 18 8 10 644
1908 43 | 253 225 113 52 | 20 13 13 732
1904 4 201 186 122 37 | 35 13 II 689
1905) | 58 | 365 | 299 | zıı 97 | 52 20 1 1113
1906 = | = = pi E =,
*) Zählung im Dezember.
In Halle betrug die Zahl der Wohnungen, welche „im vorangegangenen Kalender-
e" leerstanden „in Summa nach ganzen Jahren“:
1899 : 2,28 Proz. 1908 : 1,57 Pror
1900: 182 „ 1904: 2,22 „
1901; 9971 Altstadt 1905: 2,13 „
" 0,80] Vororte 1906: 1,94 „
1902: 0,91 Proz.
Von den befragten 41 Großstädten sind keine Antworten eingegangen von Planen i. V.
und Stuttgart.
1) Vergl. Dr. Baumert, a. a. O. S. 34, Wohnungsverhältnisse in Nauen und
Bernuan.
_ 2) Vergl. Zahn, Die Volkszählung 1900 und die Großstadtfrage. Conrads Jahr-
bücher 1903, Bd. 26, S. 191 ff.
12 Fritz Pabst,
besteht, ist also irrig. Damit aber fällt das ganze künstlich und
mühevoll konstruierte Gebäude seiner Monopolrententheorie zu-
sammen. —
Aber man braucht sich nicht auf diese induktive Widerlegung
zu beschränken. Der Nachweis der Unrichtigkeit der Theorie ist
auch auf dem Wege möglich, den der Verfasser ausschließlich in
seinen Ausführungen beschritten hat, dem Wege deduzierender Be-
trachtung. Jolles behauptet, wie gezeigt, daß das Baukapital seiner
wirtschaftlichen Natur nach „nicht wesentlich“ über die Nach-
frage hinaus vermehrbar sei und folgert daraus die angebliche
Monopolstellung der städtischen Hausunternehmung nach Analogie
der „unteilbaren Unternehmung“.
Trifft diese Ansicht über den Charakter des Baukapitals zu?
Zunächst ist im Interesse der Klarheit und der Möglichkeit ver-
nünftiger Auseinandersetzung zu tadeln, daß Jolles hier, dem Bei-
spiele der Bodenreformer und insbesondere dem Adolf Damaschkes !)
folgend, in diese These den Ausdruck „nicht wesentlich“ hinein-
bringt. Mit solchen Einschränkungen ist schließlich jede Behauptung
zu verteidigen. Man füge jeder These die Worte „im wesentlichen“
hinzu, so wird man unverletzbar sein und seine Definitionen und
Theorien unwiderleglich machen. Es ist deshalb zu begrüßen, wenn
Jolles später seine These genauer dahin formuliert, daß auf dem
Häusermarkt der Ausgleich von Angebot und Nachfrage die
Grenze der Konkurrenz darstelle. Danach ist also die These noch
dahin zu korrigieren — und damit zu verschärfen — daß das Bau-
kapital überhaupt nicht über die Nachfrage hinaus vermehrbar sei.
Die Beobachtung der tatsächlichen Verhältnisse des Baumarktes
ergibt nun aber — wie gezeigt — ohne weiteres das Gegenteil dieser
Annahme. In ihrer scharfen Formulierung erweist sich also die
These von vornherein als unzutreffend. Unsere statistischen Nachweise
haben dargetan, daß das Baukapital bezw. das Angebot auf dem
Wohnungs- und Häusermarkt im Gegenteil außerordentlich und mit
verhältnismäßig langer Dauer die Nachfrage zu überschreiten
vermag.
Die städtische Hausunternehmung kann deshalb — wenn jene
Eigentümlichkeit bei ihr nicht vorhanden ist — auch keine „unteil-
bare Unternehmung“ sein. Und dies ist auch in der Tat nicht der
Fall. Es kann keine Rede davon sein, daß die Konkurrenz auf dem
Häusermarkt die „Zersplitterung der Nachfrage und Beseitigung der
allgemeinen Rentabilität“ herbeiführt, wenn sie die ihr angeblich
gezogene Grenze — nämlich den Ausgleich zwischen Angebot
1) Vergl. A. Damaschke, a. a. O. S. 66: „Die Höhe der Wohnungsmieten hängt
verhältnismäßig wenig (sic) von dem Willen des einzelnen Hauseigentümers ab.
Der Preis ist „im wesentlichen“ (sic) dem Gesetz von Angebot und Nachfrage
unterworfen.“
Vergl. S. 81: „Eine solche Steuer würde die heutige Spekulation in den Außen-
terrains beendigen und „im wesentlichen“ den landwirtschaftlich gerechtfertigten
Preis für den Boden wieder herstellen.“
Ist die Grundrente in der Peripherie der Stadt eine „allgemeine Monopolrente‘“? 13
und Nachfrage — überschreitet. Wie die „alltägliche Erfahrung“
das Gegenteil erweisen soll, ist einfach unverständlich. Die Statistik !)
beweist — wenn noch einmal statistisches Material herangezogen
werden darf — im Gegenteil z. B. für Essen und Rixdorf folgendes:
Der Anteilssatz der leerstehenden Wohnungen in Essen betrug am
4. Nov. 1902 überhaupt 4,76 Proz. aller Wohnungen, am 26. Okt.
1903 überhaupt 5,33 Proz. Obwohl also ein mehr als normales An-
gebot im Jahre 1902 vorhanden war, wuchs dasselbe im nächsten
Jahre in dem Grade, daß die Zahl der leerstehenden Wohnungen
auf mehr als den 20. Teil aller Wohnungen stieg. In Rixdorf waren
die bezüglichen Zahlen sogar: am 1. Dez. 1903 6,62 Proz., am
1. April 1904 8,75 Proz.!
Die angebliche Tatsache, daß der Ausgleich von Angebot und
Nachfrage auf dem Wohnungs- bezw. Häusermarkt die Grenze
der Konkurrenz bildet, wird aber noch schlagender widerlegt
durch die tatsächliche Gestaltung der Marktlage für die kleinen
Wohnungen in diesen beiden Gemeinden. Der Anteilssatz der
Wohnungen mit 1 Zimmer in Essen, der sich am 1. Nov. 1901 auf
7,15 belief, stieg am 4. Nov. 1902 auf 18,95 und erreichte am
26. Okt. 1903 die erschreckende Ziffer von 23,46! An diesem Termin
stand also ca. der 4. Teil aller Kleinwohnungen dieser Art
leer?) Aehnlich stieg in Rixdorf das Angebot mit 2 Zimmer-
wohnungen von 1902 mit 2,94 auf 9,43 im Jahre 1903 und erhöhte
sich trotzdem im Jahre 1904 auf 13,09.
Die Bautätigkeit ist bisweilen eine so überspannte gewesen, daß
Gemeindebehörden sich veranlaßt gesehen haben, warnend ihre Stimme
zu erheben. So heißt es z. B. im Verwaltungsbericht der Stadt Leipzig
für 19033): „Die eingetretene Krisis auf dem Leipziger Grundstück-
markt wäre zu vermeiden gewesen, wenn die seit einer Reihe von
Jahren vom statistischen Amt an dieser Stelle wiederholt ausge-
sprochenen Warnungen vor einer zu großen Bautätigkeit mehr Be-
achtung gefunden hätten.“
Wie nachhaltig aber die Ueberproduktion an Wohnungen sein
kann, beweist am besten das Beispiel Dresdens. Dort hat sich der
Rat durch die schweren Schädigungen der Hauseigentümer, ihrer
Hypothekarier und damit auch weiterer, an sich unbeteiligter Kreise
der Bevölkerung veranlaßt gesehen, die Baustellenbesitzer, Baugeld-
geber u. s. w. durch einen Erlaß dringend zu bitten, „in dem Ver-
kauf von Baustellen und der Gewährung von Baugelddarlehen,
mindestens zunächst auf 2 Jahre, tunlichste Zurückhaltung zu üben“
1) Vergl. Tabelle auf S. 15 der Begründung zu dem Entwurf eines preußischen
Wohnungsgesetzes zur Verbesserung der Wohnungsverhältnisse.. Amtliche Veröffent-
lichung, Berlin 1904, C. Heymanns Verlag.
2) In den folgenden Jahren betrugen die bezüglichen Zahlen: 1904: 13,29; 1905:
6,98. Also immer noch ein die Normalzahl 3 Proz. weit überschreitendes Angebot!
Zu den Wohnräumen sind auch die Küchen und Mansarden gerechnet worden.
3) Vergl. Sonderabdruck desselben S. 11 und 12.
14 Fritz Pabst,
In dem Erlaß!) wird unter anderem hervorgehoben, daß selbst die
Zinsen der mit größter Vorsicht hypothekarisch ausgeliehenen Gelder
aus Stiftungen häufig nicht mehr regelmäßig bezahlt werden und
längere Zeit gestundet werden müssen.
Die in der statistischen Tabelle mitgeteilten Ziffern für Dresden
beweisen aufs evidenteste die Möglichkeit jahrelanger Ueber-
produktion von Wohnungen bezw. jahrelanger Andauer eines über-
mäßigen Angebots. Im Jahre 1899 betrug nämlich der Prozentsatz
der leerstehenden Wohnungen 3,12 Proz. Von diesem Zeitpunkt
an, also nicht weniger als 6 Jahre lang, ist diese „Normalgrenze‘ be-
ständig überschritten gewesen, in den letzten 3 Jahren durch die
abnormen Ziffern von >7 Proz. Diese Tatsachen beweisen, daß die
Hausunternehmung in Bezug auf die Gestaltung des Angebots und
die Konkurrenzverhältnisse durchaus nicht günstiger gestellt ist,
als andere Unternehmungen.
Auch eine weitere oben erwähnte Analogie, welche Jolles bei
den „unteilbaren Unternehmungen“ und der Hausunternehmung findet,
besteht in Wirklichkeit nicht. Auch von der sich darin bekundenden
„Eigentümlichkeit" der Konkurrenz auf dem städtischen Häuser-
markt, daß sie kaum jemals zur Verdrängung einer schwächeren
Unternehmung durch eine stärkere führt, kann keine Rede sein.
Zunächst erscheint es schon mißlich, Tätigkeiten der Stofiver-
änderung zu vergleichen mit Funktionen, die man ja auch als
„Gewerbe“ und „Produktion“ bezeichnen kann, nämlich mit einer
Tätigkeit des Vorrathaltens und Zurverfügungstellens.
Aber davon sei hier abgesehen. Jene nach Jolles unmögliche oder
kaum mögliche Verdrängung vollzieht sich auch auf dem Wohnungs-
und Häusermarkt. Diese wichtigste Form des Verdrängungsvorgangs
ist keineswegs technisch ausgeschlossen. Die Verdrängung vollzieht
sich hier nämlich durch Abbruch veralteter Gebäude und Wiederaufbau
in moderner Form. Das alte Gebäude mit mangelhaften oder gänz-
lich fehlenden hygienischen Einrichtungen aller Art wird durch das
moderne Haus ersetzt. Eine andere Form der Verdrängung der
schwächeren Hausunternehmung durch die stärkere äußert sich im
Umbau und in baulicher Neuausgestaltung. Gerade so, wie vielfach
im Kaufmannsladen die weniger vollkommene Ware durch bessere
verdrängt wird, verdrängt durch Neuaufbau oder Umbau des Ge-
bäudes die zweckmäßig ausgestattete Wohnung die weniger voll-
kommene.
Jolles behauptet weiter, daß eine derartige Verdrängung aus
dem Grunde nicht möglich sei, weil bei der Hausunternehmung das
Angebot nicht durch das umlaufende Kapital beeinflußt werden könne.
Dieses fehle, abgesehen von dem unerheblichen Verwaltungsaufwand,
fast vollständig. Zunächst ist jedoch die Frage sehr strittig, ob
Kapitalinvestierungen, wie Einbau von Klosett, Wasserleitung, Bade-
1) Vergl. Schreiben des Rates, Abgedruckt in den Schriften des Zentralverbandes
der städtischen Haus- und Grundbesitzervereine Deutschlands 1905, Heft 4, S. 29 ff.
Ist die Grundrente in der Peripherie der Stadt eine „allgemeine Monopolrente‘“‘? 15
einrichtung, von Gas, elektrischer Beleuchtung, Zentralheizung, von
Speisekammern u. s. w., die Ausstattung mit Tapeten, Malerei, An-
strich, Linoleum, nicht als Verwendung umlaufenden Kapitals be-
trachtet werden können. Faßt man aber die Ausstattung mit der-
artigen sich verhältnismäßig schnell abnutzenden Einrichtungen als
Verwendung stehenden Kapitals auf, so wird doch jedenfalls
dadurch dasselbe erreicht, was in der Stoffveredlung durch In-
vestierung umlaufenden Kapitals in Form von Maschinen u. s. w.
erreicht wird, bezw, erreicht werden kann oder soll, nämlich die
Verdrängung der schwächeren, weniger vollkommeneren Unter-
nehmung.
Nebenbei ist überhaupt die Annahme, daß das umlaufende
Kapital die Voraussetzung einer wirksamen Konkurrenz sei, wie
Jolles weiter behauptet, doch wohl sehr cum grano salis zu nehmen.
Eine wirksame Konkurrenz ist auch bei primitiven Produktionstätig-
keiten, wo wenig umlaufendes Kapital zur Verfügung gelangt, denk-
bar. Ja, Unternehmungen mit sehr geringem umlaufenden Kapital
können unter Umständen technisch hoch entwickelten, die ein sehr
hohes Quantum umlaufenden Kapitals benutzen, bis zur Verdrängung
der letzteren überlegen sein. Man denke z. B. an die erdrückende
Konkurrenz, die eine technisch tiefstehende Landwirtschaft einer
technisch hochentwickelten, viel umlaufendes Kapital verwendenden
bei großer Verschiedenheit der natürlichen Ausstattung des Bodens
an Fruchtbarkeit bereiten kann. Ein gleichartiges im Tagbau be-
triebenes Bergwerk wird einem mit viel umlaufendem Kapital
arbeitenden, unterirdisch betriebenen Bergwerk zum mindesten ge-
wachsen sein, gerade weil es weniger umlaufendes Kapital er-
fordert.
Auch insofern besteht keine grundlegende Verschiedenheit
zwischen der Hausunternehmung und gewerblicher Produktion ohne
Monopolcharakter, als auch in der Hausunternehmung durch Kapital-
verwendung in der geschilderten Weise das Angebot verändert werden
kann ohne Aenderung des stehenden Kapitals und der Zahl der
Unternehmungen. Das Angebot wird dabei nicht nur qualitativ,
sondern auch quantitativ verändert. Durch Einbau von Klosetts,
Badeeinrichtungen u. s. w. werden auch Aenderungen in Bezug auf
die Größe der Wohnungen eintreten, ohne daß die Zahl der Unter-
nehmungen sich ändert.
Wie wenig die „Unwandelbarkeit und die Unzerstörbarkeit der
Hausunternehmung“ eine wirtschaftlich vorteilhaftere Ausnutzung
des Bodens verhindern kann, zeigt deutlich die in den Großstädten
jetzt alltägliche Erscheinung, daß verhältnismäßig neue Wohnge-
bäude und andere geschäftlichen Zwecken dienende Häuser ver-
schwinden, um Gebäuden mit intensiver Lageausnutzung Platz zu
machen. Man denke an Warenhäuser, Musterlager, Restaurants und
Hotels. Die physische Dauerhaftigkeit und die verhältnismäßige
Größe des stehenden Kapitals verhindern z. B. nicht. daß ein noch
tadelloses Wohngebäude von einem Hotel verdrängt wird. Das
16 Fritz Pabst,
erstere wird in diesem Falle allerdings nicht wie ein Bergwerk
verlassen, sondern abgerissen und durch ein neues Gebäude ersetzt.
Allerdings muß das Wohnungs- und Häuserangebot insofern
vorsichtiger sein, und das gibt ja auch Jolles zu, als sein Risiko,
einerseits mit Rücksicht auf die verhältnismäßig bedeutende Fest-
legung von Kapital beim Häuserbau und die Dauerhaftigkeit des
Produktes, andererseits hinsichtlich der schwierigen Feststellbarkeit
des Wohnungsbedarfs, erheblich größer ist, als bei anderen Ge-
brauchsgütern, die schnellerer Abnutzung unterliegen und deren
Absatzverhältnisse leichter übersehbar sind.
Deshalb erscheint es fraglich, ob überhaupt die Forderung, daß
im Durchschnitt 3 Proz. aller Wohnungen immer leer stehen müssen,
nicht viel zu weit geht. In dieser allgemeinen Formulierung er-
scheint sie jedenfalls außerordentlich angreifbar. Es muß da doch
mindestens ein vernunftgemäßer Unterschied zwischen den einzelnen
Gemeinden hinsichtlich ihrer durch wirtschaftlichen Charakter und
andere Momente bedingten Entwickelung gemacht werden 1).
Der fundamentale Unterschied, den Jolles zwischen Hausunter-
nehmung und anderen monopolfreien „Gewerben“ annehmen zu müssen
glaubt, ist jedenfalls nicht vorhanden. Auch auf dem städtischen
Häusermarkt findet die Konkurrenz nicht ihre Grenze im Aus-
gleich von Angebot and Nachfrage. Auch hier ist eine längere
Zeit andauernde Ueberproduktion (an Wohnungen und Gebäuden)
möglich. Letzteres ist um so leichter möglich, als, was auch Pohle ?)
mit Recht hervorhebt, unter einer Ueberproduktion nicht die neuen
Gebäude, also das Baugewerbe, sondern die älteren Hausunterneh-
mungen, die Besitzer der veralteten Gebäude, leiden. Diese ver-
lieren in einer Zeit der Ueberproduktion ihre Mieter, welche in die
neuen, vollkommener und besser ausgestatteten Wohnungen in den
neuerbauten Häusern übersiedeln. Davon werden aber nicht nur
die Hauseigentümer betroffen, die unter Umständen ihr Eigentum
und damit ihr Vermögen verlieren, sondern auch die älteren Ge-
bäude, indem sie allmählich neuen und modern ausgestatteten Platz
machen.
Die Grundrente an der Peripherie kann also nicht aus dem
Grunde eine Monopolrente sein, weil angeblich der Hausbesitz eine
„unteilbare Unternehmung“ ist und die Konkurrenzverhältnisse auf
dem Häusermarkt von den sonst geltenden total verschieden sind.
1) Vergl. Pohle a. a. O. S. 628—635. Siehe auch Weber a. a. O. S. 72ff. Weber
bezeichnet mit Recht die Forderung, „die Zahl der leerstehenden Wohnungen müsse
3 Proz. der Gesamtzahl betragen“, als eine fast unbegreifliche sozialökonomische Ver-
irrung. — Das statistische Amt Bremens sieht in einem „Satz von 3 Proz. schon ein
Zeichen einer gewissen Ueberproduktion des Wohnungsmarkts‘“ für die dortigen Ver-
hältnisse (I). Vergl. „Mitteilungen“ 1906, No. 1, 8. 4.
2) Vergl. Pohle a. a. O. S. 632. Ebenso Verwaltungsbericht der Stadt Leipzig
für 1904. Siehe Sonderabdruck S. 11 (Tabelle IV): „Wie bisher entfällt die größte
Zahl der leeren Wohnungen, 3582, auf alte Häuser, während nur 930 in Neubauten
vorkommen.“
Ist die Grundrente in der Peripherie der Stadt eine „allgemeine Monopolrente‘“? 17
Es besteht daher auch keine Monopolstellung der Hausbesitzer bezw.
ihrer Gebäude.
3) Wie erklärt sich denn aber nun die Tatsache, daß das Peri-
pheriehaus nicht immer nur die Baukosten und den landwirtschaft-
lichen Bodenpreis verzinst, sonden eine Rente abwirft und daß der
Preis der Peripheriegrundstücke eben ihren agrarischen Nutzwert
überschreitet ?
Die Ursache dieser Erscheinung ist dieselbe, die im Zentrum
die Preissteigerung hervorruft. Die auf Wohn- oder Geschäftsboden
Tätigen erzielen im allgemeinen auf gleicher Bodenfläche einen
höheren Ertrag aus ihrer Arbeit, als die auf derselben Bodenfläche
bei landwirtschaftlicher Nutzung derselben Arbeitenden. Die Arbeit
in der Stadt liefert einen höheren Ertrag als die Tätigkeit auf dem
Lande; mit Ausnahmen, welche die Regel bestätigen. Dies gilt aber
für die in der Peripherie Wohnenden ebenso wie für die im Stadt-
zentrum tätigen und eventuell dort wohnenden Bewohner der Stadt,
wenn auch nicht in demselben Verhältnis. Infolgedessen kann der
Besitzer des Peripheriehauses bezw. der dortige Wohnungsmieter
einen höheren Boden- bezw. Mietpreis zahlen, als er nach dem land-
wirtschaftlichen Wert des Bodens gerechtfertigt wäre.
Daß dem Grundbesitzer aber ein höherer Preis geboten wird,
als ihn die agrarische Nutzung des Bodens bedingen würde, ist zu-
rückzuführen auf die Unvermehrbarkeit einer gegebenen Landtläche
2 ihrer besonderen Lage und die andererseits zunehmende Nach-
Tage.
So erklärt sich ganz natürlich das Wertvollerwerden günstig
gelegener Grundstücke, in diesem Falle des städtischen Bodens.
Je näher man dem Stadtinnern wohnt, um so größer sind die
Vorteile an Zeitersparnis, Ersparung von Fahrgeld, an körperlicher
Schonung u. s. w. für den Wohnungsmieter: Für den Mieter von
Geschäftsboden, den Kaufmann. den Gewerbetreibenden treten sie
in Gestalt höherer Reinerträge hervor. Der Boden wird also um so
wertvoller, je näher er dem Stadtzentrum liegt, der Wettbewerb der
Nachfragenden steigert an sich, ohne Eingreifen des Bodeneigen-
tümers den Bodenpreis. Selbsverständlich wird der Bodeneigentümer,
weil ihm das natürliche Wertvollerwerden des Bodens bekannt ist,
von selbst höhere Preise fordern. Den Preis bestimmt aber nicht
er selbst, sondern endgültig der auf dem Boden erzielbare Ertrag
der Arbeit des Wohnungs- und Geschäftsmieters.
Nun erscheint das Wertvollerwerden des Bodens und seine dem-
entsprechende Preissteigerung am begreiflichsten im Stadtinnern und
besonders beim Geschäftsboden. Aber was für diese Lagen und
diese Benutzungsweise des Bodens gilt, das gilt auch für den Wohn-
boden und für die Grundrente der Wohnhäuser an der Stadtgrenze.
Auch dort ist Boden von durchaus gleich vorteilhafter Lage in ge-
Tingerem Umfange vorhanden als Nachfrage danach besteht. Des-
alb muß sich auch dort eine Grundrente bilden. Je wohlhabender
die miteinander konkurrierende Bevölkerung ist, je günstiger die
Dritte Foige sd, XXXII (LXXXVIII). 2
18 Fritz Pabst,
Erwerbsaussichten für den einzelnen sind, je größer die Stadt end-
lieh ist, um so höher wird die Grundrente im allgemeinen steigen,
um so mehr wird diese Steigerung sich auch an der Stadtgrenze
bemerkbar machen.
Die Difterentialrente der Peripheriegrundstücke wird auch ver-
hältnismäßig um so höher sein, je rapider die Entwickelung der
Stadt sich gestaltet. Gemeinden mit sehr geringer Entwickelung
werden eine sehr unbedeutende Peripheriegrundrente haben, ebenso
wie dort die Differentialrente im Stadtzentrum verhältnismäßig un-
bedeutend ist. Bei solchen Gemeinden, deren Bewohner z. B. über-
wiegend von agrarischer Tätigkeit leben, wird wahrscheinlich über-
haupt keine erkennbare Peripheriegrundrente entstehen, d. h. es
werden die Peripheriehausgrundstücke nur den landwirtschaftlichen
Bodenwert und die Baukosten verzinsen.
Ja, es ist sogar nicht ausgeschlossen, daß in solchen Gemeinden
unter Umständen der landwirtschaftlich genutzte Boden höher im
Preise steht, als die entsprechende Bodenfläche eines Hausgrund-
stücks bezw. eines Geschäfts. Mit Recht schreibt Stein!): „Es ist
kein Natur- oder Wirtschaftsgesetz, daß Bauland höher im Werte
stehe als Ackerland, für städtische Verhältnisse bildet es eine Regel.
In Dörfern mit vorzüglichem Ackerboden und einer übergroßen Zahl
von Gehöften kehrt sich das Verhältnis um, wie ich in einer Dorf-
gemeinde im Taunus feststellen konnte.“
Jolles wird gegenüber der Behauptung, daß die Peripherierente:
als Lage-, daher als Differentialrente zu betrachten sei, einwenden,
daß diese Erklärung der Theorie Ricardos entgegen stehe. Denn
diese betrachtet ja als Bedingung für die Entstehung einer Diffe-
rentialrente das Vorhandensein einer Bodenklasse ohne Rente.
Eine solche Bodenklasse ist aber auch beim städtischen Haus-
boden vorhanden. Man darf sie nur nicht bei dem bereits als Bau-
land betrachteten Boden suchen. Sie kommt darin zum Ausdruck,
daß jeweilig in der Umgebung der Stadt Boden vorhanden ist, für
den augenblicklich nur ein seinem landwirtschaftlichen Nutzungswert
entsprechender Preis gezahlt werden wird. Dieser Boden kann aber
eben bei Gemeinden mit Entwickelung nicht in unmittelbarer Nähe
der Häusergrenze liegen, oder gar mit dem Boden der Peripherie-
grundstücke identisch sein.
Im baureifen Gebiet?) wird also bei allen Städten mit Ent-
wickelung eine als Differentialrente zu charakterisierende Grundrente
hervortreten.
Der noch nicht baureife, jedoch an sich bebaubare Boden aber
muß aus dieser Betrachtung ganz ausscheiden. Sein Preis kann
1) Vergl. Stein, Wohnungsfrage, Wohnungsreform und die wirtschaftlichen Momente.
(Bericht über den I. Allgemeinen Wohnungskongreß in Frankfurt a. M. Göttingen
1905, S. 430.)
2) Vergl. über die Begriffe „baureif“ und „bebaubar“ A. Voigt, Ueber kom-
munale Boden- und Wohnungspolitik. Volkswirtschaftliche Wochenschrift 1905. Sonder-
abdruck S. 15 ff., und Kleinhaus und Mietkaserne S. 137 ff.
lst die Grundrente in der Peripherie der Stadt eine „allgemeine Monopolrente“? 19
nicht zum Widerlegen des Gesagten benutzt werden; denn die bei
den Verkäufen erzielten Preise dürfen überhaupt nicht als Ausdruck
der späteren, dauernd erzielbaren Grundrente betrachtet werden.
Auch hierin stimme ich mit A. Voigt völlig überein. Die Preis-
gestaltung dieser Bodenklasse hat auf die nach seiner Bebauung auf
ihm erzielbare Grundrente überhaupt keinen Einfluß, abgesehen von
dem oben besprochenen einzigen Monopolfall!). Daß sie höher als
bei agrarischer Nutzung bewertet wird, ist einfach darauf zurück-
zuführen, daß dieser Boden in absehbarer Zeit denselben Ertrag
wie die heutigen Peripheriegrundstücke erzielen wird.
Wenn nach Feig?) in Hamm für Gemüseboden derselbe
Preis gezahlt wurde, wie für Bauland in dem als Arbeiterwohnviertel
bereits in Betracht kommenden Düsseldorfer Vorort Lierenfeld, so
beweist dieses Beispiel nicht nur die verhältnismäßig geringe Höhe
der Baulandrente in dem letztgenannten Ort, sondern zeigt zugleich
den von Jolles bestrittenen allmählichen Uebergang der Ackergrund-
rente zur Baulandgrundrente. —
Dieses allmähliche Ansteigen wird nur überall dort undeutlich
bezw. unsichtbar, wo die Bauspekulation einsetzt. Hierbei ist ferner
zu beachten, daß die Spekulation in der Peripherie — worauf der
Herr Herausgeber dieser Zeitschrift den Unterzeichneten mit Recht
hinwies — „eine viel größere Rolle spielt als im Zentrum und da-
durch die Preise dem Mietsertrage in höherem Maße vorauszueilen
pflegen“.
Es ist endlich zu beachten, daß man bei Untersuchung der
Peripheriegrundrente auch die während der notwendigen Vorberei-
tungszeit des Baulandes, z. B. für Freilegung und erste Einrichtung
der Straße, durch Zinsausfall u. s. w. entstehenden Kosten zu berück-
sichtigen hat. Diese verteuern den Bodenpreis weiter beim Spe-
kulanten und müssen in einer entsprechenden Rente des fertigen
Hauses zum Ausdruck gelangen. Sie gehören, streng genommen,
nicht zu den eigentlichen Baukosten. Diese Rente steckt in der
Differentialrente, ist schwer unterscheidbar von ihr, darf aber nicht
mit ihr verwechselt werden.
Die Rente der Peripheriehausgrundstücke ist also eine zunächst
noch wenig gefestigte Lagerente. Die grundrentenlose Zone, also
die schlechteste Bodenklasse, stellt das Gebiet der Stadtumgebung
dar, welches als Bauland noch nicht in Betracht kommt, wo die
Nachfrage also höchstens den agrarischen Bodenpreis bieten wird.
Weil die Peripherierente keine Monopolrente sondern lediglich
Differentialrente ist, bedingt durch das natürliche Wertvollerwerden
des Bodens bei zunehmender Ausdehnung der Stadt, ist schließlich
auch die Jollessche Vermutung unrichtig, daß der Boden an der
Peripherie einer beweglichen Stadt allgemein nur den landwirtschaft-
lichen Preis haben kann. Auch dort bietet das Wohnen an der un-
1) Vergl. Dr. F. Pabst, Gewinnsteuer und Grundsteuer nach dem gemeinen Wert.
Preuß. Verwaltungsblatt, Jahrg. er Sonderabdruck S. 20.
2) Vergl. Feig a. a. O., S. 158.
2x
20 Fritz Pabst, Grundrente in der Peripherie der Stadt.
mittelbaren Stadtgrenze größere wirtschaftliche Vorteile und An-
nehmlichkeiten für den betreffenden Mieter oder Hausbesitzer, als
wenn er mit seinem beweglichen Haus sich weiter von der Peri-
pherie entfernt. Dieser natürlichen höheren Wertschätzung ent-
spricht auch ein natürlicher höherer Boden- bezw. Pacht- oder
Mietspreis; es ist also dort eine Peripherierentenbildung ebensogut
möglich, wie bei unbeweglichen Häusern. Besonders gilt dies
natürlich wieder unter der Voraussetzung starker Entwickelung der
Stadt und des Wohlstandes ihrer Bewohner.
Im Gegensatz zu Jolles komme ich also zu folgendem Ergebnis:
Es existiert in der Tat an der Peripherie der sich entwickelnden
Stadt eine Grundrente, die höher ist, als die bei agrarischer Nutzung
des Bodens erzielbare. Aber diese Rente ist keine „allgemeine
Monopolrente“, sondern Differentialrente, sie ist nicht die Folge des
höheren Bodenpreises, sondern vielmehr die Ursache der höheren
Bewertung des Bodens; sie ist nicht auf Eigenschaften des Bau-
kapitals zurückzuführen, sondern auf den durch die besondere Lage
des Bodens gestiegenen natürlichen Gebrauchswert desselben, sie
ist keine Häuserrente, sondern eine Boden- und zwar eine Boden-
differentialrente.
H. Ruesch, Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 21
I.
Der Berliner Getreidehandel unter dem
deutschen Börsengesetz.
Von
H. Ruesch.
Inhalt. Einleitung. I. Entstehung des Börsengesetzes. II. Bedeutung des Ter-
minhandels. III. Auflösung und Wiederherstellung der Berliner Produktenbörse. IV. Die
Rechtsprechung des Reichsgerichts. V. Heutige Bedeutung des Berliner Lieferungs-
handels. VI. Wirkungen -auf die Getreidepreisbildung. VII. Schluß: Börsenreform.
Einleitung.
Zu einem der wichtigsten unserer sozial- und zugleich auch
wirtschaftspolitischen Gesetze des letzten Jahrzehnts gehört sicher
das Börsengesetz vom 22. Juni 1896. Das ersieht man schon an
der lebhaften Kritik, die dasselbe nicht nur in den Kreisen der
Interessenten, sondern auch bei zahlreichen Vertretern der Wissen-
schaft hervorgerufen hat. Neben den vielen Berichten und Petitionen der
verschiedensten Interessenvertretungen, besonders der Handelskam-
mern und kaufmännischen Korporationen, den alljährlich beim Etat wie-
derkehrenden Debatten über die Zweckmäßigkeit der getroffenen Bestim-
mungen, den zahllosen Artikeln der periodischen sowohl wie der
Tagespresse, hat sich die Fachliteratur in einem solchen Grade an-
gehäuft, daß es fast als ein undankbares Unternehmen erscheinen
könnte, sich mit dieser Materie noch einmal zu beschäftigen, zumal
von allen Seiten eine Reformbedürftigkeit anerkannt ist und sich
selbst die Feinde der Börse der Notwendigkeit einer Gesetzesände-
rung nicht länger verschließen können. Allerdings wird von letzterer
Seite das Heil in einer Verschärfung des Gesetzes durch Aufnahme
von Strafbestimmungen erhofft!), aber diese Tendenz hat doch so
wenig Aussicht auf wirklichen Erfolg, daß man vielmehr nach den
Reichstagsverhandlungen über die Börsennovelle eine wenn auch
nur kleine Erleichterung wenigstens für die Fondsbörse erwarten
1) Antrag von Wangenheim vom 20. 11. 1900: „Die verbündeten Regierungen zu
ersuchen, dem Reichstage baldigst einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch welchen die
im Börsengesetz vom 22. Juni 1896 verbotenen Termingeschäfte unter Strafe gestellt
werden“. Ferner Graf Reventlow in der 79. Sitzung vom 29. April 1904 über einen
Zusatzantrag zu § 78: ‚„Zuwiderhandlungen gegen die §§ 48, 50, 66 werden bestraft
mit Gefängnis bis zu 6 Monaten. Gleichzeitig ist zu erkennen auf Geldstrafe in Höhe
des Werts des Geschäftsgegenstandes und auf Ausschließung von sämtlichen deutschen
Börsen auf die Dauer von 1—10 Jahren“ (Verhandlungen des Reichstags 11. Leg.-Per.
1. Session, Bd. 3, S. 2514).
22 H. Ruesch,
kann. Dagegen scheint man die Produktenbörse ihrem Schicksal
überlassen zu wollen, trotzdem gerade hier der Verkehr heute fast
jeder rechtlichen Grundlage entbehrt, zu welchem Resultat wenig-
stens auch wir bei unserer Untersuchung gelangen. Unter diesen
Umständen ist es ganz zweckmäßig, sich noch einmal speziell mit
diesem Gebiet näher zu beschäftigen und zu untersuchen, welcher
Art hier die Wirkungen des Börsengesetzes gewesen sind und ob
nicht die Zustände an der Produktenbörse ebensosehr eine Reform
erheischen, wie die an der Fondsbörse. Und zwar wird sich die
folgende Darstellung auf den Berliner Getreidehandel beschränken
können, denn Berlin war damals die einzige Terminbörse Deutsch-
lands von bedeutenderem und die Grenzen des Landes hinausragen-
dem Einfluß und mußte so naturgemäß am intensivsten vom Verbot
des Terminhandels getroffen werden. Es wird sich allerdings zum
Zweck einer zusammenhängenden Darstellung nicht vermeiden lassen,
auch auf den Kampf gegen den Terminhandel und damit auf die
Entstehung des Gesetzes kurz zurückzukommen, wenn auch die
einzelnen Punkte schon meistens einer vielfachen, eingehenden Er-
örterung gewürdigt sind, so daß über die allgemeine volkswirtschaft-
liche Bedeutung der Termingeschäfte wohl nichts wesentlich Neues
gesagt werden kann. Da wir auch über die ersten Folgen des
Gesetzes, wie die Auflösung und später die Wiederherstellung'!) der
Produktenbörse hinreichend unterrichtet sind, so wird es sich haupt-
sächlich um die Schilderung der heutigen rechtlichen und wirtschaft-
lichen Zustände im Berliner Getreidehandel handeln unter beson-
derer Berücksichtigung der eventuellen Vorteile oder Nachteile, die
sich für unsere ganze Volkswirtschaft aus der Lahmlegung des
Börsenterminhandels ergeben haben.
I. Entstehung des Börsengesetzes.
Die neue deutsche Börsengesetzgebung erhielt ihren Anstoß
durch drei Initiativanträge des Reichstages im Jahre 1891, in welchen
die Regierung um die Einbringung eines Gesetzentwurfes gegen
den Mißbrauch des Börsenspiels noch in derselben Session ersucht
wird?). Anlaß dazu gaben die schon in den 80er Jahren infolge
einer kolossalen Ueberspekulation hervorgetretenen Ausschreitungen
an der Börse, gegen die sich zahllose Petitionen an den Reichstag
mit der Bitte um gesetzliches Eingreifen gewandt hatten. Ein weit-
gehendes Mißtrauen gegen das Treiben au den Börsen hatte zwar
schon lange bestanden, es war die Geringschätzung der Tätigkeit
des Kaufmanns überhaupt, die in diesen Kreisen auch den Haß
gegen die Börse, diese vollendetste Organisationsform des modernen
Großhandels, hervorrufen half. Aber erst die großen Verluste im
1) Vergl. insbesondere F. Goldenbaum, „Auflösung und Wiederherstellung der
Berliner Produktenbörse“ (in Schmollers Jahrbuch, Bd. 24, Heft 3, Bd. 25, Heft 1)
und G. Wermert, „Börse, Börsengesetz und Börsengeschäfte‘“, Leipzig 1904.
2) Verhandlungen des Reichstags 8. Leg.-Per. 1. Session, Anlagen Bd. 4, No. 528
und 531, Bd. 3, No. 342.
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 23
Börsenspiel Anfang der 90er Jahre und damit verbunden die Zu-
sammenbrüche einiger großer Bankfirmen ließen den Wunsch nach
einer durchgreifenden Reform des Börsenwesens allgemein aufleben
und „es entstand in weiten Kreisen das dringende Verlangen, daß
durch gesetzgeberisches Eingreifen den Auswüchsen des Geschäfts-
verkehrs an der Börse entgegengetreten und die zur Zeit unzuläng-
lichen Vorkehrungen zum Schutz des Publikums vervollständigt
werden möchten“ 1). Man sieht, die Bewegung war eine durchaus
sozialpolitische, es galt, die Schwachen und Unerfahrenen vor zu
großen Verlusten zu bewahren. Die Börse selbst hatte es nicht
vermocht, aus sich heraus die anerkannten Mißstände zu beseitigen,
und so erschien ein Eingreifen des Staates auch ganz berechtigt,
denn es ist kein Widerspruch mit der Gewerbefreiheit, wenn man
für den Handel in gemeingefährlichen Geschäften eigentümliche
Vorsichtsmaßregeln trifft 2).
Es kommt aber noch ein zweiter Punkt von großer Wichtig-
keit in Betracht. Die Umsätze und Preisfestsetzungen der Börse
sind weit über ihren Rahmen hinaus von größtem Einfluß auf das
Wohlergehen des ganzen Landes, und so sehr der Handel zur Er-
füllung seiner Aufgaben auch ganz besonders einer weitgehenden
Freiheit und Unbeschränktheit bedarf, hat die Gesetzgebung doch
die Verpflichtung, in das Getriebe des Börsenverkehrs ordnend einzu-
greifen, wenn die Interessen der Allgemeinheit es erfordern. „Schon
die bloße Tatsache der wirtschaftlichen Macht eines Marktes, wie sie
auch immer entstanden sein mag, ist Grund genug, um den Staat
zu veranlassen, diesen Markt streng zu beaufsichtigen, d. h. ihn
unter Börsenrecht zu stellen“ ?). Vorausgesetzt ist dabei natürlich,
daß die Eingriffe des Staats den Handel in der Ausübung seiner
wirtschaftlichen Tätigkeit nicht hemmen und die Börsen nicht unter-
drücken, und man wird sich daher bei einer Reform auf die not-
wendigsten Punkte beschränken müssen. Daß man hierauf bei der
deutschen Börsengesetzgebung nicht genügend Rücksicht genommen
hat, wird heute auch von der Wissenschaft ziemlich allgemein an-
erkannt.
Um nun für den Gesetzentwurf die nötigen Grundlagen zu
erhalten, beschloß die Reichsregierung eine Enquete zu veranstalten,
in welcher die auf den Börsenverkehr und die Stellung der Börsen
im allgemeinen bezüglichen tatsächlichen und rechtlichen Fragen
einer eingehenden Prüfung unterzogen werden sollten®). Neben
Staatsbeamten und 3 Professoren der Staatswissenschaften und der
Rechte wurden in die Börsenenquetekommission berufen Bankfach-
männer, Vertreter des Handels, der Industrie und der Landwirt-
schaft. Die Kommission trat am 6. April 1892 zusammen und er-
ledigte ihre Aufgabe unter Vernehmung von insgesamt 115 Sachver-
1) Entwurf eines Börsengesetzes vom 3. Februar 1895 (9. Leg.-Per. 4. Session,
Bd. 1, Anl. No, 14).
2) G. Cohn, „Beiträge zur deutschen Börsenreform“, S. 49.
3) Cosack, Lehrbuch des Handelsrechts, S. 322.
4) Wermuth und Brendel, „Börsengesetz“, S. 1.
24 H. Ruesch,
ständigen in 93 Sitzungen. Am 11. November 1893 wurde dann
der Bericht dem Reichskanzler übergeben, und die darin enthaltenen
Vorschläge bildeten das Gerippe für das spätere Börsengesetz.
Das Verfahren der Enquete ist vielfach angegriffen worden !), aber
es darf doch nicht verkannt werden, daß sie zur Kenntnis des deut-
schen Börsenwesens viel beigetragen hat. Dagegen erachten wir
es für einen Grundfehler, sich noch heute immer wieder auf die
Ergebnisse der Enquete von 1893 zu berufen und dieselben zur
Beurteilung der Börsen heranzuziehen. In unserer heutigen rasch-
lebigen Zeit, wo man auf allen Gebieten ein rastloses Fortschreiten
und Neubilden fast täglich beobachten kann, wäre es doch wunderbar,
wenn nicht auch der Handel, der sich vermöge seiner Beweglichkeit
schneller wie irgend ein anderer Beruf jeder Veränderung rasch
anpassen kann, in seiner Organisation, seiner Technik und nicht zum
mindesten in seinen moralischen Anschauungen große Wandlungen
durchgemacht hätte. Man darf eben nicht vergessen, daß seitdem
bereits 13 Jahre verflossen sind, und daß schon das Börsengesetz
selbst wesentliche Aenderungen veranlaßt hat.
Die Verhältnisse haben sich heute gegen damals total verändert,
und speziell an der Produktenbörse würde man vergeblich nach
einem der damals so scharf verurteilten Mißbräuche suchen. Die Ver-
handlungen der Börsenenquetekommisson haben daher für uns nur
noch historischen Wert, und da findet man dann allerdings, daß die
Anklagen gegen die Börse eines gewichtigen Grundes nicht entbehrten,
ja die eben abgeschlossene Untersuchung hatte das bedeutsame Er-
gebnis gehabt, daß alle namhaften Vertreter der Berliner Börse die
Reformbedürftigkeit anerkannten ?).
Das Börsenspiel hatte immer weitere Kreise ergriffen, die wirt-
schaftlich weder Anlaß noch Vermögen zu Börsenspekulationen
hatten, und eine Menge von kleinen und mittleren Existenzen hatte
ihr letztes Hab und Gut dabei verlieren müssen. Eine verheerende
Wirkung war in dieser Richtung der von manchem gewissenlosen
Börsenagenten geübten Praxis zuzuschreiben, in einer großen Zahl
von Provinzplätzen pekuniär minderbegüterte und somit ihrer wirt-
schaftlichen Lage nach völlig ungeeignete Personen in die Termin-
spekulation hineinzuziehen. Die hier entstehenden großen Verluste
mußten natürlich den Gesetzgeber aufmerksam machen. Aber auch
den besseren Kreisen an der Börse war ein derartiges Treiben
durchaus unerwünscht, waren sie es doch, die alle Vorwürfe gegen
jene unsauberen Elemente mit auf sich nehmen und so als Un-
schuldige doppelt leiden mußten. Man kann daher mit Recht an-
nehmen, daß seitens dieser Kreise schon von selbst eine kräftige
Reaktion gegen jenes Treiben eingesetzt hätte, wenn nicht das
Börsengesetz gleich allzu scharf jede Möglichkeit zu selbständigem
Einschreiten abgeschnitten hätte, indem es sich gegen alle in gleicher
Weise wandte. Wenn es auch sehr zu beklagen war, daß das Börsen-
1) Vergl. insbesondere Pfleger und Gschwindt, „Bösenreform“ I, S. 1—18.
2) G. Cohn a. a. O., S. 47.
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 25
spiel in weite Schichten der Bevölkerung getragen war, die ledig-
lich die Absicht hatten, „durch Aufwendung relativ kleiner Mittel
an möglichst großen Kursdifferenzen zu gewinnen“ und die sich mit
Beträgen engagierten, die in keinem Verhältnis zu ihrem Vermögen
standen, so hätte man sich hier wohl damit begnügen können, gegen
die gewohnheitsmäßige Ausnutzung des Leichtsinns und der Uner-
fahrenheit des Publikums einzuschreiten, wenn z. B. Bedenken damit
beschwichtigt wurden, es handele sich bei den Geschäften ja nur
um die Differenz !).
Im übrigen bieten sich aber so viele Gelegenheiten zum Spiel,
daß es ein aussichtsloses Unternehmen sein mußte, durch Einschrän-
kung der Börsenspekulation irgend welche Besserung erzielen zu
tonnen.
Wichtiger als diese Verleitung zum Spiel war jedenfalls die Ge-
fahr, daß durch diese Teilnahme unberufener Personen an der Preis-
bildung die natürliche und richtige Bewertung der Waren gestört
wurde, und das war nachher auch eins der Hauptargumente gegen
den Terminhandel an der Produktenbörse.
Im allgemeinen hatten sonst, wie schon ausgeführt, mehr die
Verhältnisse an der Fondsbörse den Anstoß zur breiteren Erörte-
rung der Börsenreformfrage gegeben, aber es waren doch auch an
der Berliner Produktenbörse mancherlei Mißstände, die zur Kritik
herausforderten und von den Beteiligten keineswegs geleugnet wurden.
Bei der verhältnismäßig erst kurzen Entwickelung des dortigen
Terminhandels war es schließlich nicht zu verwundern, daß dem-
selben noch manche Kinderkrankheiten anhafteten.
Erwähnt mag hier werden, daß z. B. Scheinkündigungen?), d. h.
Kündigungen ohne vorhandene Ware oder mehrfache Benutzung
derselben Ware zu gleichzeitigen Kündigungen, wenn auch nur bei
minderwertigen Firmen, nichts Außergewöhnliches gewesen sein
sollen, und es ist klar, wie durch derartige Machenschaften die Preis-
gestaltung zeitweise stark gestört werden konnte. Von den Müllern
wurde außerdem mehrfach über die schlechte Lieferungsqualität des
Berliner Terminmarktes geklagt, wenn auch seit 1589 durch Herauf-
setzung des Mindestgewichts erhebliche Verbesserungen eingetreten
waren. Ein Grund für diese Klage ist aber jedenfalls mit in dem
Umstande zu suchen, daß besonders die kleinen Mühlen mit ihren
unentwickelten technischen Einrichtungen nur bestimmte Qualitäten
und Provenienzen zu vermahlen vermögen, und daher für sie die
nur nach Gewicht bestimmte Ware oft absolut unbrauchbar ist.
Daß aber auch direkt mit der Andienung unkontraktlicher Ware
von gewissen Händlern viel Unfug getrieben wurde, zeigt sich, wenn
1892 von 65050 t nach Ankündigung besichtigten Weizens 47 000 t
und von 62000 t besichtigten Roggens 23 200 t für unkontraktlich
erklärt werden mußten), es soll sich schließlich ein spezifisches
1) Bericht der Börsenenquetekommission, 8. 131.
2) Sitzungsprotokolle der BEK., S. 315.
3) Bericht der BEK. Statistische Anlagen, S. 340.
26 H. Ruesch,
Termingetreide herausgebildet haben, welches seine Aufgabe in An-
kündigungen erschöpfte !).
Man darf aber diese Fälle nicht so verallgemeinern, wie dies
oft geschehen ist. Es waren nur wenige skrupellose Händler, die
sich zu solchen Praktiken herabließen. Der große Prozentsatz un-
kontraktlicher Ware wird schon erklärlicher, wenn man berücksichtigt,
daß eine Besichtigung der Ware nur stattfand, wenn der Abnehmer
dieselbe für nicht einwandfrei hielt, so daß sich in den obigen
Zahlen nicht die ungeheuren Mengen widerspiegeln, die von vorn-
herein ohne Besichtigung durch die Sachverständigenkommission ab-
genommen wurden.
Da nun damals nach den Berliner Preisnotierungen der größte
Teil der deutschen Ernte bewertet wurde (d. h. bei Verkäufen in
der Provinz wurde immer der Terminpreis abzüglich der Transport-
kosten bis zum Orte der Terminbörse zu Grunde gelegt), so mußten
es die Produzenten um so mehr als Härte empfinden, von der Preis-
bildung ganz ausgeschlossen zu sein, als sie sahen, daß an der Börse
unberechtigte Einflüsse auf den Preis einwirken konnten, und die
Folge war schließlich, daß der anfangs sozialpolitische Kern der Be-
wegung immer mehr zurücktrat und wirtschaftliche Interessen den
Ausschlag gaben. Der Stein war jedenfalls ins Rollen gekommen,
und schon am 19. April 1894 beschloß der Reichstag: „Die ver-
bündeten Regierungen zu ersuchen, auf Grund der Börsenenquete
ein Börsengesetz tunlichst bald vorzulegen.“
Der Zweck eines Börsengesetzes mußte nun sein, pekuniär und
beruflich ungeeignete Personen vom Börsenspiel möglichst fernzuhalten
und dadurch die Preisbildung von unberechtigten Faktoren unabhängig
zu machen, im Interesse der Börse war ferner für sichere Rechts-
verhältnisse zu sorgen, die man gerade damals infolge der ver-
schiedenen Auffassung der sogenannten Differenzgeschäfte durch die
Gerichte sehr vermissen mußte. Natürlich war es sehr schwer, bei
dem lebhaften Widerstreit der Meinungen allen Interessen gerecht
zu werden, und der Entwurf eines Börsengesetzes vom 3. Dezember
1895 bezeichnet es als seine Hauptaufgabe, „die Entfernung der
Auswüchse herbeizuführen, ohne die Börse in ihren nutzbringenden
und notwendigen Funktionen zu stören“. Sagte doch auch der
Vertreter der verbündeten Regierungen, der Reichsbankpräsident
Dr. Koch in der Sitzung vom 9. Januar 1896: „Der Handelsstand
darf das Vertrauen zu dem Bundesrat und zu den Regierungen
haben, daß die Maßnahmen, zu welchen sie durch den Entwurf er-
mächtigt werden, niemals auf eine Schädigung des Handels und
damit des Landeswohls abzielen werden, sondern daß die ver-
bündeten Regierungen immer die allgemeinen Interessen im Auge
behalten werden.“
Aber gerade hier gingen die Anschauungen der verschiedenen
1) H. Schumacher, „Der Getreidehandel in den Vereinigten Staaten von Amerika
und seine Organisation“ (in Conrads Jahrbüchern, 3. F. Bd. 11 S. 167).
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 27
Parteien weit auseinander. Was speziell den wichtigsten Punkt für
den Getreidehandel, den Terminhandel anbelangt, so glaubte die
Regierung, daß derselbe mehr Vorteile als Nachteile mit sich bringt,
und an ein Verbot war in dem Entwurf ebensowenig gedacht, wie
in dem Bericht der Börsenenquetekommission Derartiges verlangt
war. Vielmehr hoffte man durch Verschärfung der Börsendisziplin
und durch Einführung eines Terminregisters für Waren die Teil-
nahme unberufener Personen an der Preisbildung verhindern zu
können. Aber der Reichstag gab sich damit nicht zufrieden, be-
sonders bei dem allgemeinen Widerwillen der Agrarier gegen die
Tätigkeit der Börse überhaupt, die den internationalen Charakter
des Getreidehandels am vollendetsten zum Ausdruck brachte, ge-
wannen die Bestrebungen für ein Verbot des Terminhandels immer
mehr an Boden.
„Dazu kam die Unkenntnis des Börsenwesens in weiten Kreisen
der maßgebenden Persönlichkeiten und eine heftige Agitation, welche
die Leidenschaften derart entflammt und eine solche Flut von Be-
hauptungen und sinnlosen Vorwürfen umhergeworfen hatte, daß auch
klarer Blickende in diesem Wirrsal des rechten Weges verfehlten“ }).
Die Regierung versuchte vergeblich diesen unüberlegten Schritt eines
Terminhandelsverbotes zu verhindern; während es in der Kommission
noch gelungen war, den anfangs schon gefaßten Beschluß wieder
rückgängig zu machen, indem die Regierung den Antrag energisch
bekämpfte, nahm die dritte Lesung denselben wieder auf, und zwar
wurde der Paragraph, der das Verbot des Terminhandels in Getreide
und Mühlenfabrikaten aussprach, mit der stattlichen Majorität von
200 gegen 39 Stimmen angenommen, obgleich es an Warnungen
wahrlich nicht gefehlt hatte?). Nicht mehr volkswirtschaftliche Er-
wägungen, sondern politische Machtverhältnisse gaben den Aus-
schlag ®), und die krasseste Interessenpolitik trat offen zu Tage.
Man hoffte, so in der Preisbildung vom Einfluß des Weltmarktes
unabhängig zu werden, und die heimische Produktion bei derselben
wieder zur vollen Geltung zu bringen, was bei der Betrachtung des
Terminhandels im nächsten Abschnitt noch deutlicher werden wird.
Von Bedeutung für die Produktenbörse sollte ferner noch der
$ 4 des Gesetzes werden. Es war schon lange auch von der Regie-
rung als eine nicht ganz unberechtigte Forderung der Landwirte
angesehen worden, bei der Entscheidung von Fragen. die, wie
die Festsetzung der Preise und der Lieferungsqualität, für sie von
1) G. Wermert a. a. O., S. 191.
2) So schrieb z. B. Eschenbach, den sicher der Vorwurf eines Börsenfreundes
nicht treffen kann, in Bd. 68 der Preußischen Jahrbücher (S. 517): „Ein Verbot des
Terminhandels würde in letzter Linie die juristische Ungültigkeit überhaupt aller Zeit-
bez. Fixgeschäfte involvieren, eine Möglichkeit, die für viele Zweige des modernen
Wirtschaftslebens geradezu zum Ruin führen müßte.“ Mit Recht sagt derselbe Autor
an anderer Stelle („Zur Börsenreform‘, S. 45), der Gedanke, überhaupt das Termin-
und Zeitgeschäft ganz zu verbieten, zeuge von einer so ungeheuerlichen Ignoranz und
Kurzsichtigkeit, daß auf ihn näher einzugehen wohl überhaupt nicht nötig sei.
3) F. Goldenbaum a. a. O. in Schmollers Jahrbuch Bd. 24, S. 223.
28 H. Ruesch,
großer Wichtigkeit waren, durch Eintritt in die Börsenorgane mit-
wirken zu können. Diesem Wunsche ist nun insofern entsprochen
worden, als die Landesregierungen eine Vorschrift in die Börsen-
ordnungen hineinbringen können, daß in den Vorständen der Pro-
duktenbörsen die Landwirtschaft, die landwirtschaftlichen Neben-
gewerbe und die Müllerei eine entsprechende Vertretung finden.
In Preußen ist dieser Bestimmung durch $ 2 Abs. 4 des Gesetzes
über die Landwirtschaftskammern vom 30. Juni 1894 entsprochen
worden durch die Bestimmung, daß den Landwirtschaftskammern
eine Mitwirkung bei der Verwaltung und den Preisnotierungen der
Produktenbörsen nach Maßgabe der für die Börsen zu erlassenden
Bestimmungen übertragen wird!). Die Ausführung dieser Anord-
nung führte dann ja bekanntlich zu der Auflösung der bedeutend-
sten Produktenbörsen, auf die noch zurückzukommen sein wird.
Diese beiden Aenderungen, das Verbot des Terminhandels und
die Aufnahme nichtkaufmännischer Mitglieder in den Börsenvorstand,
mußten tief in die Lebensbedingungen der Produktenbörsen ein-
schneiden. Es war überhaupt die Frage, ob der Handel mit diesen
Beschränkungen seine wichtige Aufgabe noch ausreichend erfüllen
konnte. Jedenfalls wäre es wohl möglich gewesen, auf andere Weise
die vorhandenen Mißstände zu beseitigen, ohne dem Terminhandel
gleich ganz den Garaus zu machen. Die Gesamtheit mußte so büßen,
was nur einige Wenige an gewissenlosen und unlauteren Geschäfts-
manipulationen gesündigt hatten.
Auch in Handelskreisen war man einer Reform durchaus nicht
abgeneigt gewesen ?), wie schon aus den Verhandlungen der Börsen-
enquete ersichtlich wird, aber bei dem großen volkswirtschaftlichen
Wert, den heute im Zeitalter des Weltverkehrs eine kräftige Zentral-
börse bedeutet, durfte man auch dem Handel keine zu großen Hemm-
nisse in den Weg legen, wenn man überhaupt dessen nutzbringende
Bedeutung anerkannte. Solche radikalen Eingriffe in die Börsen-
tätigkeit hatte jedenfalls bis zum letzten Augenblick niemand er-
wartet. Jetzt zeigte sich, daß man die Anschuldigungen der Agrarier
für viel zu leicht und unhaltbar genommen hatte, indem man es
nicht für nötig hielt. denselben von Anfang an energisch entgegen-
zutreten. „Man hatte übersehen, daß die öffentliche Meinung auch
durch die unsinnigsten Schlagworte beeinflußt werden und der unrich-
tigsten Ansicht zum Siege verhelfen könne“ 3).
II. Bedeutung des Terminhandels.
Fragt man sich nun nach den tieferen Gründen, die zu einer
so radikalen Maßnahme eines Terminhandelsverbots führen konnten,
1) Wermuth und Brendel a. a O., S. 33.
2) So heißt es z. B. in einem Gutachten der Aeltesten der Berliner Kaufmann-
schaft von 1904: „Auch wir teilen den Wunsch, daß diejenigen Kreise, die durch
Beruf und Mittel nicht dazu berechtigt sind, nicht nur vom Terminhandel in Waren,
sondern von Spekulationsgeschäften jeder Art sich fernhalten.“
3) J. Bunzel, „Der Terminhandel, seine volkswirtschaftliche Bedeutung und Reform“.
Zeitschrift für Volkswirtsch., Sozialpol. und Verw., Bd. 6, S. 386.
Der Berliner Getreidehandal unter dem deutschen Börsengesetz. 29
so werden die vorhandenen Mißstände, besonders an der Berliner
Börse, an und für sich ein derartiges Vorgehen ebensowenig recht-
fertigen können, wie dies die vorhandene börsenfeindliche Stimmung
allein vermöchte. Die ganze Frage drehte sich überhaupt sowohl
in der Enquete als auch nachher in der Regierungsvorlage nur darum,
ob und welche Einschränkungen der Getreideterminhandel erfahren
sollte, und wie insbesondere dessen mißbräuchliche Ausnutzung durch
Heranziehung des Privatpublikums verhütet werden konnte.
Weshalb ist man nun auf die dahingehenden Vorschläge nicht
eingegangen und glaubte den Terminhandel ganz abschaffen zu müssen ?
Die wahre Ursache des Verbots wird wohl eben in dem Wesen des
Terminhandels liegen, nämlich in der Internationalität des Getreide-
handels, die er am reinsten zum Ausdruck bringt!). An und für sich
ist der Terminhandel nichts anderes als eine verfeinerte Technik
des individuellen Zeitgeschäfts, dem Bedürfnis des Handels nach
Erleichterung und Beschleunigung des Verkehrs entsprungen. Wäh-
rend beim einfachen Lieferungsgeschäft noch alle Vertragspunkte
dem freien Uebereinkommen der Kontrahenten überlassen sind, ist
beim Börsentermingeschäft der Vertragsinhalt, mit Ausnahme des
zu zahlenden Preises und der Quanten, wobei auch eine Minimal-
menge usancemäßig feststeht, dem Belieben der Kontrahenten ent-
rückt?). Alle wichtigen Bestandteile des Kaufvertrags sind gleich-
mäßig durch Börsenusancen, meist verdichtet zur Börsenbedingung,
festgestellt, und so ist hier im vollendetsten Maße die Fungibili-
sierung durchgeführt, alle Geschäfte werden nach derselben Schablone
abgeschlossen. Natürlich kann es sich dabei nur um Massengüter von
gleicher Beschaffenheit handeln, um sogenannte vertretbare Güter,
zu denen auch das Getreide rechnet.
Vermöge dieser Gleichartigkeit aller Geschäfte ist es nun
ermöglicht, zu den festen Bedingungen der Termingeschäfte jeder-
zeit einen Käufer und Verkäufer zu finden und jede günstige
Konjunktur augenblicklich durch Termindeckung auszunutzen. Der
Kaufmann kann jetzt mit größter Leichtigkeit einen günstigen Mo-
ment zum Ankauf verwenden, ohne schon einen bestimmten Käufer
zu haben, und er kann verkaufen, ohne schon genau zu wissen,
woher er sich die Ware beschaffen wird. Dies mußte für den Han-
del natürlich eine große Erleichterung sein; „das technische Moment
der Uebertragung ist auf das möglichste vereinfacht, und die ökono-
mische Ueberlegung über die Verwendung der Waren findet in dem
zeitlichen Raume zwischen dem Augenblicke des Geschäftsabschlusses
und dem Tage der Lieferung die Gelegenheit zur freien Entfaltung
ihrer Wirksamkeit ohne das Anhängsel der körperlichen Gestalt der
Waren, die für diesen Zweck vielmehr nur eine Last ist“). Der
Terminhandel ist eben einem wesentlichen Bedürfnis des Handels
1) Wiedenfeld, Art. „Getreidehandel‘“ im Handwörterbuch der Staatswissenschaften,
2) Wiedenfeld, „Die Börse in ihren wirtschaftlichen Funktionen und ihrer recht-
lichen Gestaltung vor und unter dem Börsengesetz“, S. 37.
3) G. Cohn, „Nationalökonomie des Handels und des Verkehrswesens“, S. 362.
30 H. Ruesch,
entsprungen und keine bloße Erfindung der Börse zur Förderung
des Spiels, was eigentlich kaum erwähnt zu werden brauchte.
Bei der immer feineren Ausbildung des Nachrichtenwesens wird
so auch die Preisbildung eine weit richtigere, zumal bei den usance-
mäßigen Vertragsbedingungen jeder seine Meinung über den Vorrat
und Bedarf des Weltmarktes mit in die Wagschale werfen kann und
bei der Vielseitigkeit der Teilnahme unvorhergesehene Preisbewe-
gungen immer seltener werden. Besonders die für den Termin-
handel sehr wichtige Teilnahme des Kapitals wird durch diese Er-
übrigung einer speziellen Warenkenntnis gewährleistet. Oertliche
und zeitliche Differenzen werden immer mehr vermieden, alle Mög-
lichkeiten, die nach Maßgabe der augenblicklichen Verhältnisse auf
den Weltmarkt einwirken könnten, werden schon vorweg eskomp-
tiert, und schließlich spricht sich so im Terminpreis das Fazit der
allerverschiedensten in- und ausländischen Einflüsse aus, man hat
gleichsam einen Barometer, an dem man die Veränderungen ab-
liest). Die Hauptaufgabe des Terminhandels ist überhaupt mehr
die Preisbestimmung als die tatsächliche direkte Befriedigung des
Bedarfs, und daher bringt denn auch eine kräftige Produktenbörse
die Interessen einer Volkswirtschaft geschlossen auf dem Weltmarkt
zum Ausdruck.
Von besonderer Wichtigkeit muß ein solches Mitwirken an der
internationalen Preisbildung für ein Importland wie Deutschland
sein. Bis zum Erlaß des Börsengesetzes nahm Berlin diese Stellung
ein. „In Berlin kouzentrierte sich zusehends der endgültige inter-
lokale und intertemporale Ausgleich von Angebot und Nachfrage,
die Nivellierung und Feststellung der Preise, hier wurde Deutsch-
land als wirtschaftliche Einheit dem Auslande gegenüber repräsen-
tiert“ ?). Berlins Meinung gab damals in der Preisbildung für Roggen
sogar den Ausschlag. Der deutsche Getreidehandel konnte durch
die Berliner Terminbörse so mit Erfolg sein Gegengewicht gegen
die überseeische Konkurrenz geltend machen und bei der inter-
nationalen Preisbildung bestimmend mitwirken. Mit jedem be-
deutenden Handelsgebiet waren Verbindungen angeknüpft, und Berlin
hatte mit diesem durch ansehnliche Kapitalien unterstützten Ge-
schäft allmählich eine der ersten Stellen auf dem Weltmarkt für
Getreide errungen’).
Für den effektiven Getreidehandel hatte der Terminhandel nun
noch aus dem Umstande eine besondere Bedeutung, als er dem
Händler die Gelegenheit bot, sich gegen die durch zeitliche Schwan-
kungen entstehenden Verluste zu sichern. Diese Versicherungs-
möglichkeit setzt den Handel überhaupt erst in stand, im Herbst
die gewaltigen Massen der heimischen Ernte ohne Preisdruck auf-
1) Emil Meyer, „Berichte über den Weizen-, Roggen- und Spiritushandel von
Berlin und seine internationalen Beziehungen“, 1897.
2) W. Borgius, „Mannheim und die Entwickelung des südwestdeutschen Getreide-
"handels“, S. 111. Volksw. Abhandl. d. bad. Hochschulen, Bd. 2, Heft 1.
3) Jahresbericht der Aeltesten der Berliner Kaufmannschaft 1897, S. 94.
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 31
zunehmen und dann allmählich im Laufe des Jahres in den Konsum
überzuführen oder aus Gegenden mit Ueberfluß an Getreide in
solche zu befördern, wo Bedarf herrscht. So wird durch den Ter-
minhandel die wirtschaftlichste Verteilung der Waren über Raum
und Zeit erreicht.
Zur Zeit der steigenden Getreidepreise bis in die 60er Jahre
des vorigen Jahrhundert hinein, wo Deutschland auch seinen Be-
darf an Brotgetreide noch selbst produzierte, war allerdings eine
solche Preissicherung von geringerer Bedeutung. Aber seitdem wir
für Roggen schon seit 1860, für Weizen seit 1875 Importland ge-
worden sind und das Getreide sich immer mehr zu einem der
wichtigsten Welthandelsartikel herausgebildet hat, mußte der solide
Handel sich gegen die durch die täglich veränderte Geschäftslage
erzeugten Schwankungen, zumal durch die Erschließung neuer Pro-
duktionsländer ein Zeitalter sinkender Getreidepreise einsetzte, auch
eine dementsprechende Sicherung verschaffen, wollte er nicht zum
wilden Spekulanten werden und jeden Tag sein Hab und Gut in den
oft recht beträchtlichen Warenmengen aufs Spiel setzen. Das Inter-
esse an einer Gelegenheit, sich für jeden Augenblick einen vorteil-
haften Preis zu sichern, mußte aber um so stärker werden, als
sich durch die verbesserten Verkehrsmittel die Einwirkung der Pro-
duktionsländer aufeinander verschärfte und das Verhältnis zwischen
Vorrat und Bedarf von Jahr zu Jahr unübersichtlicher wurde. Ohne
diese Preissicherung wäre es überhaupt nur den größten Firmen
möglich zu importieren, da diese sich bei dem großen Umfang ihrer
Geschäfte eventuell in sich selbst sichern können, indem gute Jahre
die schlechten mit tragen helfen.
Nun ist andererseits nicht zu leugnen, daß mit dem Termin-
handel auch allerlei Uebelstände verbunden sein können. Es fragt
sich aber doch, ob man die Segnungen der Verkehrsformen be-
seitigen soll, weil sie von wenigen mißbraucht werden. Es ist hier
besonders die Gefahr zu nennen, die in der schon geschilderten Be-
teiligung von Kreisen und Personen liegt, die vermöge ihres Be-
rufs oder ihres geringen Vermögens keineswegs die Tragweite der
eingegangenen Geschäfte beurteilen können und oft schon durch das
Fehlschlagen eines Termingeschäftes von geringem Umfange dem
wirtschaftlichen Ruin zugeführt werden. Derartige Elemente ohne
Sachkenntnis und Urteilsfähigkeit vermögen dann auch die Preis-
bildung um so mehr zu stören, als sie in Zeiten der Erregung die
herrschende Richtung zu verstärken pflegen !), und der Preis ent-
spricht schließlich nicht mehr den tatsächlichen Verhältnissen.
Da nun aber’ der Terminpreis für die Produzenten ein wesent-
licher Faktor für die Bewertung ihrer Erzeugnisse war, so kann
man allerdings begreifen, wie in diesen Kreisen auch ein Interesse
an den Vorgängen an der Produktenbörse wach werden mußte.
——
8 T Wiedenfeld, „Der deutsche Getreidehandel“, in Conrads Jahrb, 3. F. Bd. 7,
32 H. Ruesch,
Wenn das Termingeschäft für den Konsumenten, den Produzenten
und den Händler wirtschaftlich gesund funktionieren soll, so müssen
eben unberechtigte Einflüsse des Terminhandels auf die Preisgestal-
tung der Waren beseitigt und die Beteiligung des außerhalb der
Börse stehenden Privatpublikums eingeschränkt werden 1).
Noch manche andere Einwände sind gegen den Terminhandel
erhoben worden, die aber zum größten Teil einer mangelhaften
Kenntnis des Börsenwesens entspringen ?) oder Mißbräuche betreffen,
die mit der Form des Termingeschäfts an und für sich nichts zu
tun haben und beseitigt werden können, ohne seine Funktionen zu
stören. Besonders wurde immer über die Baissetendenz geklagt,
obgleich der Nachweis einer solchen bisher noch nicht gelungen ist
und wohl auch nie gelingen wird®). Durch den Terminhandel soll
der Händler einen Antrieb erhalten, fremdes Getreide über Bedarf
ins Land zu schicken und damit Preisdruck auszuüben *). Dieser
Vorwurf wird schon durch die einfache Tatsache widerlegt, daß dann
ja die Preise infolge des Ueberangebots unter den Weltmarktpreis
sinken müßten und eine Ausfuhr lohnend würde. Die Arbitrage
wird es aber zu einer solchen Preisdifferenz gar nicht erst kommen
lassen. Weil eben die ganze Welt sich an dem Terminhandel be-
teiligt, müssen sich notwendigerweise auch die Inlandpreise zu den
Auslandpreisen regulieren. Steht der Preis hier niedriger, so kauft
das Ausland, umgekehrt kauft der hiesige Händler, und das Aus-
land tritt mit Verkaufsordres auf den Markt, bis dann sofort die
Differenz wieder beseitigt ist. Je größer der Markt und je viel-
seitiger die Teilnahme ist, desto weniger wird sich ein Preis im
Widerspruch mit dem Weltmarkt halten können. „Wenn der Han-
delsstand auf den Gang der Preise Einfluß gewinnen wollte, dann
hätte er seine Börse nicht errichten dürfen, an der Nachfrage ebenso
wie das Angebot aus den Tausenden von Ein- und Verkaufsquellen
zusammenströmt, an der die gewaltigen Einflüsse der Ernteaussichten
und der Lage des Weltmarkts maßgebend eine Rolle spielen, und
an denen zu gleichen Preisen jeden Augenblick gekauft und ver-
kauft werden kann“ 5).
Was man mit dem Verbot des Terminhandels erreichen wollte,
war vielmehr etwas ganz anderes. Die vermeintliche Baissetendenz
lag wohl darin, daß an Stelle der Produktionskosten jetzt die Kon-
junktur für die Preisbestimmung den Ausschlag gab, und diese Kon-
junktur brachte der Terminpreis am reinsten zum Ausdruck. Der
Terminhandel war es, der den Konnex mit dem Weltmarkt am eng-
1) Oest. Enq. Sachverst. Prot., S. 465 (Dr. Horovitz).
2) Vergl. Wermert a. a. O., 8. 195 ff.
3) G. Cohn (Nationalökon. d. Handels u. Verkehrswesens, 8. 366) sagt: „Ich habe
kein Wort über die Ansicht verloren, daß der Terminhandel den Preisdruck bei dem
Korn verschulde. Diese Ansicht liegt unterhalb jeder wissenschaftlichen Diskussion.“
4) Verhandl. d. Reichstags 9. Leg.-Per., 4. Session (Paasche in der 97. Sitzung
yom 5. Juni 1896).
5) Emil Meyer 1895.
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 33
sten darstellte und es hauptsächlich den Importeuren ermöglichte,
das ausländische Getreide zu den jeweiligen Weltmarktspreisen ohne
besonderes Risiko herbeizuschaffen, durch dessen niedriges Preis-
niveau die ganze heimische Ernte in Mitleidenschaft gezogen wurde.
Wenn man den Terminhandel beseitigen konnte, so war die
Einfuhr wenn auch nicht unterbunden, so doch bedeutend erschwert,
und die Preise mußten sich wieder mehr nach den inländischen
Produktionskosten richten, denn es fehlte ja die Terminbörse, die
die Veränderung des Weltmarktes zur Geltung bringen konnte. Der
Handel würde auch, argumentierte man, ohnedem im stande sein,
effektives Bedürfnis und effektive Nachfrage zu befriedigen. Der
Importeur würde wieder naturgemäßer Haussier, Weltmarkt und
Verkehrsverhältnisse würden die Hausse schon zurückhalten. Wie
aber der Händler diese Hausse zu Zeiten sinkender Getreide-
preise durchsetzen kann, darüber bleiben uns die Gegner des
Terminhandels die Antwort schuldig. Man hatte noch immer die
Meinung, der Handel könne die Preise seinen Interessen gemäß
willkürlich gestalten, und der Terminhandel sei eine wesentliche
Ursache des niedrigen Preisniveaus.
Es war ein Kampf zwischen Weltwirtschaft und nationaler Wirt-
schaft, und was im Antrag Kanitz nicht gelungen war, hoffte man
so auf Umwegen durch das Terminhandelsverbot zu erreichen: Un-
abhängig von der Weltpreiskonjunktur sollten wieder die heimischen
Erzeugungskosten des Getreides für die Preisbildung maßgebend sein.
Nun befand sich die Landwirtschaft sicher in einer sehr schwie-
rigen Lage. Die Riesenproduktion in Amerika, Argentinien und
anderen überseeischen Ländern hatte einen verderblichen Preisdruck
hervorgerufen, der durch die Ausgestaltung des raschen und billigen
Transports noch wesentlich verschärft wurde. Bei der hervor-
ragenden Bedeutung einer kräftigen Landwirtschaft für jedes Staats-
wesen hat nun der Staat auch die Pflicht, der Landwirtschaft helfend
zur Seite zu stehen, da sie aus eigenen Kräften nicht so wie die
Industrie die Konjunktur selbständig von sich abwenden kann. Aber
auch hier gibt es eine Grenze, wenn das Wohl der Allgemeinheit
allzusehr Interessen einzelner geopfert werden muß. Es wäre im
höchsten Grade gefährlich, einen Staat wie Deutschland mit be-
trächtlichem Importbedürfnis an Getreide von der Außenwelt abzu-
schließen und die Versorgung des Volkes mit den wichtigsten Nah-
rungsmitteln aufs Spiel zu setzen. Denn darüber läßt sich nicht
mehr hinwegdeuteln: Deutschland ist heute Getreideimportland, und
es könnte, zumal im Falle einer Mißernte oder eines Krieges, von
den schlimmsten Folgen sein, wenn man die notwendige Einfuhr
erschweren wollte.
Deutschland ist nun einmal mit seinem starken Importbedürfnis,
das sich in den letzten Jahren ziemlich ständig auf ein Sechstel
des Gesamtbedarfs an Brotgetreide beziffert (vergl. Tab. I), und
seinem regen Getreideexport seit Aufhebung des Identitätsnachweises
naturgemäß aufs intensivste mit dem Weltmarkt verknüpft, und eine
Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII). 3
34 H. Ruesch,
Politik der wirtschaftlichen Abschließung ist heute für den industriell
am weitesten entwickelten Staat auf dem europäischen Kontinent
ein Unding.
Tab. 1. Konsum an Brotgetreide in Deutschland.
(Tonnen zu 1000 kg.)
Inlands: | gintuhr
Erntejahr vorrat Ansiahr Verfügbar Kilogramm
(1./7.—30./6.) ee in das deutsche Zollgebiet | pro. Kopf
Weizen.
1893/94 3 054 739 746 622 18 599 3 782 762 74,1
1894/95 2 997 315 1 280 331 108 785 4 168 861 80,7
1895/96 2 841 061 1537 069 71852 4 306 278 82,3
1896/97 3 090 169 1493 432 148 136 4 435 465 83,5
1897/98 2 934 551 1 289 313 269 284 3 954 580 73,4
1898/99 3 270 833 I 602 791 179 355 4 694 269 85,8
1899/00 3 502 759 1371557 308 370 4 565 946 82,3
1900,01 3 490 818 1512 976 276 370 4727 424 83,8
1901/02 2 225 646 2 319 833 48 721 4496 758 78,5
1902/03 3573 259 2 006 264 179 340 5 400 183 92,8
1903/04 3 244 227 2 055 334 195 405 5 104 156 86,6.
1904/05 3 476 642 2 035 042 318 556 5 193 128 86,8
Roggen.
1893/94 7919035 155 559 13 850 8.060 744 158,0
1894/95 7 315 456 681 418 91 531 7 905 343 153,0
1895/96 6 722 991 886 751 59 673 7 550 069 144,3
1896/97 7 517 065 973 723 214 344 8 276 444 155,8
1897/98 7 156 159 894 603 304 296 7 746 466 143,7
1898/99 8 021493 728 349 295 765 8 454 077 154,5
1899/00 7677710 628 336 278 883 8 027 163 144,6
1900/01 7 538 314 972 686 187 574 8 323 426 147,6
1901/02 7 174 597 872 439 157 970 7 889 066 137,7
1902,03 8 447 877 1030 294 266 484 9 211 687 158,3
1903/04 8 882 314 612 602 368 454 9 126 462 154,8
1904/05 9 023 886 399 693 631610 8 791 969 147,0
Es ist natürlich für die Getreideproduzenten sehr unangenehm,
daß der inländische Preis lediglich von demjenigen abhängt, zu
welchem die ausländischen Zufuhren angeboten werden und sich
sogar im Widerspruch mit dem Ergebnis der heimischen Ernte ge-
stalten kann. Aber es gibt schließlich viele andere Mittel, durch
die der Staat es der Landwirtschaft erleichtern kann, über Krisen
hinwegzukommen, und das haben wir in Deutschland mit der Er-
höhung der Schutzzölle auch in hinreichendem Maße getan.
Wenn oft von agrarischer Seite behauptet wird, bei besseren
Preisen, die auf die Herstellungskosten der heimischen Produzenten
basierten, sei die Landwirtschaft wohl im stande, das für den Ge-
brauch der Bevölkerung notwendige Getreide selbst hervorzubringen,
so ist vielleicht kaum daran zu zweifeln, daß der deutsche Boden
bei intensiver Wirtschaft das für die Gegenwart noch zu leisten
Der Berliner Getreidehundel unter dem deutschen Börsengesetz. 35
vermöchte, aber Conrad sagt mit Recht!), daß um dem Boden das
fehlende Quantum noch abzugewinnen, eine Intelligenz gehört, welche
der großen Masse der deutschen Landwirte bis jetzt noch fehlt, und
bis es gelungen ist, sie entsprechend zu heben, wird so viel Zeit
vergehen, daß durch die Volkszunahme der Bedarf wieder um ein
Beträchtliches gesteigert ist, ganz abgesehen davon, daß die je-
weilige Witterung den Ernteausfall eventuell stark verändern kann
und ein Importbedürfnis auch schon aus Rücksichten auf die Quali-
tät nicht zu vermeiden ist, und gar nicht zu reden von kriegerischen
Ereignissen, die eine geordnete Bedarfsversorgung vor allem zur
Voraussetzung haben. Ob man nun überhaupt durch ein Termin-
handelsverbot einen derartigen Abschluß vom Weltmarkt erreichen
konnte, blieb zum mindesten sehr zweifelhaft, denn der Handel kann
sich sehr rasch in seinen Formen den gegebenen Verhältnissen an-
passen, und gerade im Börsengesetz vom 22. Juni 1896 war eine
Umgehung außerordentlich leicht gemacht. Jedenfalls versuchen
wollte man es, auf diese Weise sich vom Weltmarkt unabhängig zu
machen, wenn man auch nach außen allerlei andere Beschwerden
gegen den bösen Terminhandel vorbrachte.
Ein Unglück war für die Berliner Börse, daß sich damals ge-
rade hier so manche Mißstände fanden, so daß Unbeteiligte glauben
mußten, derartiges wäre überhaupt mit dem Terminhandel verbunden
und helfen könnte nur eine vollständige Beseitigung des Uebels.
Als typisch galten immer die Fälle Cohn & Rosenberg und Ritter &
Blumenfeld. Wenn man aber bedenkt, daß die einen bei ihren Ge-
schäftsmanipulationen in kürzester Frist ihren Ruin fanden, während
der andere nach kurzer Börsentätigkeit im Irrenhaus endigte, so
waren das doch sicher Ausnahmen, die man billig nicht so verall-
gemeinern kann. Denn Auswüchse finden sich auf jedem Gebiet.
Den Landwirten waren aber alle diese Vorfälle äußerst will-
kommen, jetzt hatte man Beweise, welch eine Gefahr für die ganze
Volkswirtschaft im Terminhandel liegt. Die Spekulanten warfen
beliebig große Produktenmassen nominell auf den Markt, dann
wieder sperrten sie alles Getreide ein und verursachten so beliebig
große Preisschwankungen, bei denen sie mühelos ihre Gewinne ein-
heimsten. Dies und vieles andere wurde dann gutwillig geglaubt,
und die handelsfeindliche Strömung hatte schließlich ihr Ziel erreicht.
Während es vorher die amerikanische Konkurrenz und die Gold-
währung war, wurde jetzt der Terminhandel als der Sündenbock
hingestellt, der die Schuld an der schlechten Lage der Landwirt-
schaft trug.
Ob allerdings der erwünschte Erfolg eingetreten ist, bleibt eine
andere Frage, auf die noch zurückzukommen sein wird. Jedenfalls
ist es sehr interessant, wie sich der Handel mit den gesetzlichen
Vorschriften abzufinden wußte, und zwar wird in folgendem speziell
1) Conrad in seinen Jahrbüchern, 3. F. Bd. 15, S. 657.
3*+
36 H. Ruesch,
geschildert werden, wie sich der Einfluß des Börsengesetzes auf den
Berliner Getreidehandel gestaltet hat.
II. Auflösung und Wiederherstellung der Berliner
Produktenbörse.
Was bestimmt nun das Gesetz hinsichtlich des Terminhandels ?
Nach $ 50 Abs. 3 ist der börsenmäßige Terminhandel in Getreide
und Mühlenfabrikaten untersagt, und in $ 51 sind dann als Folgen
des Verbots festgesetzt, daß Börsentermingeschäfte in den betroffenen
Waren von der Benutzung der Börseneinrichtungen ausgeschlossen
sind und von den Kursmaklern nicht vermittelt werden dürfen. Auch
dürfen für solche Geschäfte, sofern sie im Inlande abgeschlossen sind,
Preislisten nicht veröffentlicht oder in mechanisch hergestellter Ver-
vielfältigung verbreitet werden. Desgleichen ist ein von der Mit-
wirkung der Börsenorgane unabhängiger Terminhandel von der
Börse ausgeschlossen, so weit er sich in den für Börsentermin-
geschäfte üblichen Formen vollzieht.
Zweierlei also hatte der Handel zu berücksichtigen, wollte er
nicht von der Börse ausgeschlossen werden. Er mußte alles ver-
meiden, was als für Börsentermingeschäfte übliche Form angesehen
wurde, worüber man natürlich im einzelnen streitig sein konnte,
und zweitens durfte er keine Börsentermingeschäfte mehr abschließen,
ein Begriff, der durch das Gesetz näher umschrieben ist, so daß
man hier einen besseren Anhaltspunkt hatte. Man hatte nämlich,
wie es in dem Entwurf eines Börsengesetzes heißt, eine Grundlage
haben wollen für die ganzen Bestimmungen über das Termingeschäft,
und am Anfang des Abschnittes IV ($ 48) findet sich daher eine
Definition, nach welcher als Börsentermingeschäfte in Waren oder
Wertpapieren gelten sollen: Kauf- oder sonstige Anschaffungsge-
schäfte a) auf eine festbestimmte Lieferungszeit oder eine festbestimmte
Lieferungsfrist, b) wenn sie nach Geschäftsbedingungen geschlossen
werden, die von dem Börsenvorstand für den Terminhandel fest-
gesetzt sind, und c) wenn für die an der betreffenden Börse ge-
schlossenen Geschäfte solcher Art eine amtliche Feststellung von
Terminpreisen erfolgt.
Wenn nun der Terminhandel eine wirtschaftliche Notwendigkeit
bedeutete, so mußte sich der Handel auch mit diesen gesetzlichen
Beschränkungen zurechtfinden und Formen ausfindig machen, die
es ihm ermöglichten, auch fernerhin auf solidem Wege unter der
Möglichkeit einer Preissicherung die Vermittlung zwischen Vorrat
und Bedarf zu übernehmen und für die nötige Deckung des vor-
handenen Defizits Sorge zu tragen.
Der Wortlaut des Gesetzes kam dabei den Händlern sehr zu
statten, denn wirtschaftlich traf der $ 48 keineswegs das Wesen der
Börsentermingeschäfte. Die amtliche oder nichtamtliche Preisnotie-
rung ist z. B. für die täglichen Börsenbesucher ganz unerheblich.
Diese kennen ohnehin die Lage des Marktes und können so eine
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 37
Feststellung von Preisen überhaupt ganz entbehren. Populisiert doch
ein detaillierter offizieller Bericht oft ein Kapital mühsam er-
worbener Geschäftserfahrungen, das meist für die Erwerber größeren
Wert hat, wenn es auf den Kreis der Wissenden beschränkt bleibt !).
So fehlt an dem Chicagoer board of trade jede amtliche Kundgebung
durch öffentliche Organe, ja die Börse ist sogar bemüht, eine Kund-
gebung von Preisen zu verhindern ?). Von Wichtigkeit sind die amt-
lichen Notierungen nur für die auswärtigen Händler und das Privat-
publikum, um diese über die Lage des Marktes zu orientieren. So
kann schließlich das Fehlen solcher Preisnotizen zu einer Verenge-
rung des Terminmarktes führen, ja vielleicht seine Leistungsfähigkeit
derart schwächen, daß er den Bedürfnissen des Handels nicht mehr
genügt. Denkbar wäre aber auch hier ein Zustand, bei dem private
Kursberichte und telegraphische Mitteilungen mehrerer sich gegen-
seitig kontrollierender Kommissionäre Außenstehende über die Ge-
schäftslage unterrichteten 3).
Auch brauchen die Bedingungen des Börsenterminhandels durch-
aus nicht immer vom Börsenvorstand festgesetzt zu sein, es genügt,
wenn die Usancen nur tatsächlich der Gewohnheit gemäß von allen
geschäftsführenden Teilen angewandt werden.
Es wird überhaupt kaum möglich sein, eine erschöpfende Defi-
nition des Börsenterminhandels zu geben. An Stelle des bisher
geübten Brauchs wird man stets mit Erfolg andere Formen ausfin-
dig machen, die zum selben Ziel führen. Die österreichischen
Agrarier haben sich denn auch den Mißerfolg des deutschen Börsen-
gesetzes zu nutze gemacht und auf eine Definition des Termin-
geschäftes ganz verzichtet. Nach dem dortigen Gesetz vom 4. Ja-
nuar 1903 ist den Börsenleitungen die Feststellung von Geschäfts-
bedingungen für Börsentermingeschäfte in Getreide- und Mühlen-
fabrikaten, sowie von Bestimmungen über deren Abwickelung unter-
sagt, besonders wenn sie eine Vorschrift enthalten, durch welche
von vornherein für den Geschäftsabschluß eine einheitlich anzuwen-
dende Getreidetype festgestellt wird und die überhaupt geeignet ist,
den einzelnen Geschäften einen tunlichst gleichen Inhalt zu geben.
Um auch Umgehungsformen zu verhindern, haben die Ministerien
derartige Formen im Verordnungswege zu verbieten.
Solehe Bestimmungen, die den Börsenterminhandel wirklich ver-
nichten, hat aber das deutsche Gesetz nicht‘), und es war ganz
selbstverständlich, daß der Handel aus dem Gesetz seine Konse-
quenzen zog und sich den Wortlaut desselben zum Vorteil machte,
hatten doch auch weder Regierung noch Reichstag den reellen Liefe-
Tungshandel auf Zeit irgendwie verbieten wollen.
1) H. Schumacher a. a. O. (Conrad, Bd. 11), S. 198.
2) Derselbe S. 195 ff.
3) Vergl. auch Goldenbaum a. a. O., S. 232 f.
4) Eine sehr feine Kritik der ganz unklaren Bestimmungen über den Termin-
handel bei Max Weber „Art. Börsengesetz“ im 2. Supplementband des Handw. d.
Staatsw. (1. Aufl.).
38 H. Ruesch,
Die Hauptsache war natürlich, daß man auch weiter die Mög-
lichkeit behielt, das namentlich bei dem Importgeschäft entstehende
Risiko abzuwälzen und sich einen breiten Markt in fungibler Ware
zu erhalten. Diesen Anforderungen entsprach vollkommen ein neuer
Schlußschein, der von der Freien Vereinigung der Produktenhändler
ausging. So war die Festsetzung von Börsenbedingungen vermieden,
denn die neuen Kontrakte konnten natürlich von der Vereinigung
nur empfohlen werden, das Gefühl der Solidarität bewirkte aber,
daß sie auch tatsächlich zur Anwendung gelangten und alle Ge-
schäfte nach diesen Usancen abgeschlossen wurden. Man verließ
sich darauf, daß der Gemeinsinn und das gemeinsame Interesse ge-
nügende Stützen für den Bau abgeben würden, und darin hatte man
sich auch nicht getäuscht‘). Man hatte durchaus festgehalten an
der typischen Lieferungsqualität, Mindestquantum und Lieferungs-
frist waren dieselben wie beim bisherigen Termingeschäfte. Dagegen
war die Form des Fixgeschäftes fallen gelassen, indem für den Verzug
die Bestimmungen des Handelsgesetzbuches Art. 354/56 und 343,
die handelsrechtlichen Lieferungsgeschäfte betreffend, in Anwendung
kamen, wenn man auch tatsächlich in allen Fällen des Verzugs oder
der Nichterfüllung die gegenseitigen Ansprüche durch freundschaft-
liches Schiedsgericht regelte?).
Die börsenmäßigen Einrichtungen des Kündigungsbüros und der
obligatorischen Sachverständigenkommissionen wurden vermieden,
und äußerlich war die Form der alten gegenüber so unähnlich wie
möglich. Von der Definition des § 48 war so gut wie nichts mehr
geblieben, da man auch die amtlichen Preisnotierungen aufgab, und
doch konnte wirtschaftlich der neue Schlußschein dieselben Bedin-
gungen erfüllen wie der alte. Allerdings niemand konnte hindern,
daß einzelne Interessenten von den allgemeinen Bedingungen ab-
weichende Punkte in den Schlußschein aufnahmen, aber wenn hier
von der Freien Vereinigung feste Bedingungen in den Schlußschein
aufgenommen waren, so wurde dadurch den Kaufleuten die Gefahr
ad oculos geführt, die aus einem Auseinandergehen in bestimmten
Punkten sich für den Lieferungshandel ergeben könnten, und so
kamen denn auch die neuen Kontrakte trotz des Fehlens einer legi-
timierten Autorität allgemein zur Anwendung’).
Auf die einzelnen Punkte hier näher einzugehen, erübrigt sich,
da wir in der Arbeit von Goldenbaum in Schmollers Jahrbüchern
1900 und 1901 eine eingehende und interessante Schilderung der
damaligen Sachlage haben und an späterer Stelle auch noch an der
Hand des jetzt geltenden Schlußscheines, der sich nur wenig von
dem 1896 in Kraft getretenen unterscheidet, das Wesentliche gesagt
werden wird.
Allerdings waren mit der Schaffung dieses Schlußscheins für
1) F. Goldenbaum a. a. O., Bd. 24, Heft 3, S. 273.
2) Derselbe, S. 257.
3) F. Goldenbaum a. a. O., S. 261.
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 39
den Berliner Getreidehandel die Schwierigkeiten noch nicht erschöpft.
Es handelte sich noch um die oktroyierte Börsenordnung vom
23. Dezember 1896, in der besonders 2 Punkte den Händlern unan-
nehmbar schienen, die Ernennung von 5 Vertretern der Landwirt-
schaft durch den Landwirtschaftsminıster und 2 Vertretern des Müllerei-
gewerbes durch den Handelsminister und ferner das praktisch uner-
füllbare Verlangen, in den Preisnotierungen bei den verschiedenen
Getreidegattungen die Sorten nach Ursprung, Gattung, Qualitäts-
gewicht, Beschaffenheit (Farbe, Trockenheit, Geruch) und Erntezeit
zu unterscheiden, ebenso die Angabe der gehandelten Mengen und
außer den höchsten und niedrigsten dafür gezahlten Preisen noch
die unerledigten Aufträge anzugeben, Bestimmungen, durch welche
die Fungibilität der Lieferungsware einfach vernichtet worden wäre.
Doch die Hauptrolle sollte der erste Punkt spielen, und so wird es
sich nicht vermeiden lassen, auch auf diese Frage der Hineindelegie-
rung nichtkaufmännischer Mitglieder in den Börsenvorstand etwas
näher einzugehen, obgleich an und für sich diese Sache heute von
ziemlich geringer Bedeutung erscheint, da man sich ja schließlich
nach Verlauf von 3 Jahren ganz friedlich geeinigt hat und das zu-
gestand, was man vorher für unmöglich erklärt hatte. Die ganze
Entrüstung von damals wird also wohl vielmehr auf die so wie so
erregte Stimmung zurückzuführen sein, unkonsequent erscheint aber
die Haltung der Händler auf jeden Fall.
Allerdings wird auch ein objektiver Beurteiler der Dinge zugeben
müssen, daß die dem Handel gestellten Zumutungen nach dem so-
eben erfolgten Schlag des Terminhandelsverbots etwas reichlich stark
waren. Es ist absolut nicht zu verwundern, wenn man in den Kreisen
der Getreidehändler unmöglich an ein gedeihliches Zusammenwirken
mit Personen denken konnte, die noch kurz vorher die unbegrün-
detsten Verdächtigungen gegen ihren Stand ausgestoßen hatten. Wäh-
rend alle kaufmännischen Mitglieder des Börsenvorstandes aus der
freien Wahl der an dem Verkehr der Produktenbörse teilnehmenden
Korporationsmitglieder hervorgingen, sollten hier vom Ministerium
Leute hineindelegiert werden, von denen man annehmen mußte, daß
sie nur als Aufsichtsorgan funktionieren würden, was um so mehr
wahrscheinlich war, als der Börse im Laufe des Kampfs wiederholt
falsche Preisnotierung vorgeworfen war. Hier galt es die Ehre des
Standes zu wahren, wollte man nicht selbst zugeben, daß die Notie-
rung nicht den tatsächlichen Verhältnissen entsprach. War doch
schließlich durch die Ernennung des Staatskommissars von seiten
des Staats für genügende Aufsicht gesorgt. Man merkte eben die
Absicht, Berlin seine Bedeutung als Zentralbörse überhaupt zu
nehmen und es zu einem Lokalmarkt wie jeden anderen zu machen.
Eine derartige Funktion hat aber Berlin nie ausgeübt, hierfür diente
bestenfalls der Frühmarkt. Und vollends eine Mitarbeiterschaft
der Landwirte konnten sich die Getreidehändler bei der ganzen
Organisation und dem Wesen der Berliner Produktenbörse noch
weniger vorstellen. Sie wußten nicht, wie da rein kaufmännische
40 H. Ruesch,
Angelegenheiten, deren Führung eine lange Erfahrung und ein ge-
reiftes Urteil auf kaufmännischem Gebiet verlangt, von Personen
erledigt werden sollten, denen infolge ihrer Beschäftigung in einem
ganz anderen Beruf diese Fähigkeiten abgehen müssen !), nach ihrer
Ansicht diente eben die Berliner Börse lediglich den Interessen des
Handels?). Aber sicher hätte man allein aus diesem einen Grunde
die Produktenbörse noch nicht zu verlassen brauchen. Man wird
diesen folgenschweren Entschluß erst recht verstehen, wenn man
die ganzen anderen Eingriffe in den Getreidehandel mit in Betracht
zieht. Jetzt schien das Maß voll, man faßte es als Ehrensache auf,
hier nicht nachzugeben, und so wurde beschlossen, die Tätigkeit an
der Produktenbörse lieber ganz aufzugeben. Der Geschäftsverkehr
nahm dann im sogenannten Feenpalast seinen Fortgang. Aber schon
am 31. Juni 1897 war auch dies vorbei infolge eines Verbots der
Zusammenkünfte durch den Polizeipräsidenten, wogegen man aller-
dings beim Bezirksausschuß Berufung einlegte. Es handelte sich
um die Frage, ob die täglichen Versammlungen als Börse anzusehen
waren und somit einer Staatsgenehmigung bedurften, oder ob ein
Börsencharakter nicht vorlag. Jedenfalls galt es, rechtzeitige Vor-
bereitungen gegen etwaige neue gesetzliche oder polizeiliche Maß-
nahmen zu treffen, und man mußte einen Weg ausfindig machen,
der den Geschäften auch weiteren Bestand verlieh. Waren Ver-
sammlungen der Masse verboten, so stellte der Handel die Behörden
vor die neue Aufgabe, ihnen das Recht streitig zu machen, sich in
einem gemeinsamen Hause eine große Anzahl von Zimmern neben-
einander zu mieten, wodurch ihnen die Möglichkeit einer schnellen
Besprechung und Abschließung der Geschäfte verblieb. Man sie-
delte daher in das frühere Hospital zum Heiligen Geist über, wo
der geschäftliche Verkehr dann von Kontor zu Kontor gepflegt wurde,
so daß man hier schlechterdings von einer Börse nicht mehr sprechen
konnte.
Jetzt zeigte sich erst, welchen Wert der Berliner Notiz bisher
im Lande gehabt hatte. an ihr hatte jeder Interessent täglich die
Veränderungen des Weltmarkts ablesen können. Nach Einstellung
der Notierungen fehlte der Ersatz. Eine allgemeine Verwirrung in
1) Jahresbericht der Aeltesten d. Kaufm., 1896.
2) Im übrigen ist es natürlich sehr verständlich, wenn die Landwirte die enorme
Wichtigkeit der Getreidepreise für ihre wirtschaftliche Lage betonen und einen Anteil
an der Preisbildung fordern. Wie sie aber dabei ihr Interesse geltend machen wollen
oder überhaupt können, das ist ein dem Kaufmann ziemlich unbegreiflicher Standpunkt.
Denn wenn schon jedes einzelne Geschäft nur zu stande kommen kann durch Gegen-
überstellung eines Käufers und Verkäufers und demgemäß die Tausende der an der
Börse abgeschlossenen Geschäfte nur durch Gegenüberstellung einer ebensolchen An-
zahl von Käufern und Verkäufern, so verbürgt dies, daß der Widerstreit der Interessen
gerade auf diese Weise wie auf einer Goldwage abgewogen den jeweilig allerkorrekte-
sten Marktpreis hervorrufen muß, an dem ebensowenig das Interesse einer Minderzahl
von Kaufleuten wie von Landwirten sich auf rechtlichem und geradem Wege Geltung
verschaffen kann. Und dann muß man noch bedenken, daß das Getreide beute eines
der wichtigsten Welthandelsartikel ist, auf dessen internationale Bewertung ein Gebiet
wie Deutschland mit seiner Ernte so gut wie gar keinen Einfluß auszuüben vermag.
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 41
der Preisbildung trat ein. Niemand wußte, wie er kaufen oder ver-
kaufen sollte. Die Marktberichte des Kaiserlichen Statistischen Amtes
und der Zentralnotierungsstelle der Preußischen Landwirtschafts-
kammern genügten keineswegs den Ansprüchen, und so mußte dieser
unerquickliche Zustand bald bei allen beteiligten Kreisen und nicht
zum wenigsten bei der Regierung, den lebhaften Wunsch nach einer
Wiederherstellung der Berliner Produktenbörse wachrufen.
Es waren langwierige Unterhandlungen, die hier zu führen waren.
Besonders über die Art der Beteiligung der Landwirtschaft an der
Börsenleitung herrschten noch immer große Meinungsdifferenzen,
aber mit einigem guten Willen gelang es doch schließlich zu einem
modus vivendi zu kommen, am 15. Januar 1900 wurden die Ver-
handlungen geschlossen und die Börse auf einer die Beteiligten
leidlich befriedigenden Grundlage wiederhergestellt.e. Die Einigung
ist im wesentlichen das Verdienst des Staatskommissars an der Ber-
liner Börse, Hemptenmacher, der vom 7. Februar 1898 bis zum
15. Januar 1900 im ganzen 11 vertrauliche Besprechungen mit Ver-
tretern der Landwirtschaft und des Getreidehandels veranstaltete 1).
Für die von der Landwirtschaft gemäß $ 4 Abs. 2 des Börsen-
gesetzes und $ 2 Abs. 4 des Gesetzes über die Landwirtschafts-
kammern geforderte Vertretung im Börsenvorstand einigte man sich
schließlich dahin, daß vom Preußischen Landesökonomiekollegium
10 Landwirte vorzuschlagen sind, aus welchen die am Verkehr der
Produktenbörse teilnehmenden Korporationsmitglieder 5 auf 3 Jahre
zu wählen haben und von den 12 Vertretern der Kaufmannschaft sollen
2 dem Müllereigewerbe angehören. Die Form der Aufnahme der
Landwirte hatte damit ihre gehässige Art verloren, schließlich konnte
ihr Einfluß auch nicht allzu bedeutend werden, und die Kaufleute
konnten so zeigen, daß an der Börse nichts zu verheimlichen ist,
ja. es mußte sogar in ihrem Interesse liegen, wenn auf diese Weise
die haltlosen Ansichten der agrarischen Kreise über das Treiben
an der Börse geklärt würden.
Was die Befugnisse der landwirtschaftlichen Vertreter anbelangt,
so können dieselben an den Beratungen des Vorstandes der Pro-
duktenbörse teilnehmen, und zwar nur in Angelegenheiten des Han-
dels mit landwirtschaftlichen Produkten und Nebenprodukten. Außer-
dem sind bei der Preisfeststellung für landwirtschaftliche Produkte
meist 2 Vertreter der Landwirtschaft, der landwirtschaftlichen Neben-
gewerbe oder anderen Berufsstände im Börsenvorstand zur Mitwir-
kung heranzuziehen. Die Leitung der Preisfeststellung liegt jedoch
immer in den Händen eines der dazu bestimmten kaufmännischen
Mitglieder des Börsenvorstandes, deren Namen von Anfang bis Schluß
des Monats durch öffentlichen Aushang an der Produktenbörse be-
kannt gemacht sind. Da bei Meinungsverschiedenheiten unter den
mitwirkenden Vorstandsmitgliedern die Mehrheit entscheidet, so haben
es die Landwirte nicht in der Hand, nach ihrem Willen einen Preis
1) Vergl. Wermert a. a. O., S. 64.
42 H. Ruesch,
durchzusetzen, Angebot und Nachfrage sind nach wie vor allein
maßgegend.
Wie sehr überhaupt die ganze Beteiligung der Landwirtschaft
an der Preisnotierung illusorisch sein sollte, sieht man schon daraus,
daß in den ersten 2 Monaten, April und Mai, zwar einer der beiden
designierten Vertreter der Landwirtschaft erschienen ist und sich
dafür interessiert hat, wie die Kurse gemacht werden, aber dann
von Juni ab erschien auf lange Zeit hinaus kein einziger Landwirt
mehr, und trotz wiederholter Aufforderung der Börsenverwaltung an
die betreffenden Herren ist keiner mehr zum Kursmachen gekommen ;
schließlich hat das Oberpräsidium das letzte Mittel versucht, die
Herren aufzufordern, aber ohne Erfolg‘).
Auch heute hat man meistens nur mit dem Erscheinen eines
einzigen Landwirtes zu rechnen. Die Landwirte hätten nun in den
5 Jahren Erfahrungen genug sammeln und ihre Beschwerden vor-
bringen können, sie haben aber nie Anlaß genommen, ihre Ansichten
zu äußern nnd etwas zu tadeln.
Auch die praktisch unbrauchbaren $$ 29a bis f der Börsen-
ordnung über die Spezialisierung bei den Notierungen wurden in
den erwähnten Konferenzen beseitigt, und $ 29a und b (§ 35 und
36 der jetzigen Börsenordnung) erhielten folgende Fassung:
$ 29a (35). In den zur Veröffentlichung gelangenden amt-
lichen Preisnotierungen sind die bei den verschiedenen Getreide-
gattungen (Weizen, Roggen u. a. m.) nach der Lage des Geschäfts-
verkehrs an der Börse hauptsächlich in Betracht kommenden Sorten
mit Unterscheidung nach inländisch und ausländisch, nach Qualitäts-
gewicht, nach Beschaffenheit in Farbe, Geruch und Trockenheit,
nach alter und neuer Ernte zu bezeichnen, soweit diese Unter-
scheidungsmerkmale festzustellen sind.
$ 29b (36). Für jede einzelne der gemäß $ 35 zur Notierung
gelangenden Getreidesorten sind die dafür wirklich gezahlten Preise
zu notieren, soweit dies festzustellen ist.
Insoweit sich diese Notierungen auf Abschlüsse über besonders
geringe Qualitäten beziehen oder sonst besondere Verhältnisse vor-
liegen, ist dies bei der Notierung kenntlich zu machen.
Die in $ 29a aufgestellten Merkmale kommen natürlich nur
bei den Lokopreisen und daher besonders in den Notierungen des
Frühmarktes zur Geltung. An der Börse selbst handelt es sich
mehr um Lieferungsgeschäfte, und da ist es nun nicht gelungen,
den Lieferungshandel in genereller Ware zu vernichten, wie es von
den Agrariern durch die eingehende Spezialisierung erstrebt wurde.
In dem neuen Schlußschein, der aus den Verhandlungen hervor-
gegangen ist, bleibt die typische Qualität, wie sie auch früher ge-
handelt wurde. Lieferbar ist nur Weizen, gesund, trocken und für
Müllereizwecke gut verwendbar, mit einem Normalgewicht von 755 g
per Liter. Ausgeschlossen von der Lieferung sind: Rauhweizen,
1) Sachverst.-Protok. d. Oester. Enq., I, S. 233 (Experte von Weiß).
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 43
Kubanka und andere ausländische Hart- (Gries-) Weizen, ferner künst-
liche Mischungen von weißem und rotem (gelbem) Weizen. Der
Andienung unkontraktlicher Ware ist dadurch vorgebeugt, daß jeder
Posten frühestens am Tage vor der Andienung von 3 Sachverstän-
digen zu begutachten ist und bei Lieferbarkeit eine Beutelprobe von
mindestens 2 kg im Wägeramt zu hinterlegen ist.
Diese Besichtigung vor der Andienung ist einer der wichtigsten
Punkte, denn hierdurch ist den meisten der früheren Angriffe die
Spitze abgebrochent), zumal der Käufer auch noch bei 2 M. Mehr-
oder Minderwert zur Annahme verpflichtet ist und daher die effek-
tive Erfüllung der Geschäfte eine bedeutende Erleichterung erfahren
hat. Im allgemeinen ist die Qualitätsfrage so zur Zufriedenheit
aller Beteiligten gelöst; da nur für Müllereizwecke gut verwendbarer
Weizen oder Roggen geliefert werden darf, sind auch die Klagen
der Konsumenten über unbrauchbare Ware verstummt.
In einem Einfuhrgebiet wie Deutschland, zumal mit seinem
eigenen Sortenreichtum, läßt sich überhaupt eine derartige Qualitäts-
bezeichnung nicht durchführen, wie etwa in den Vereinigten Staaten,
wo das Termingeschäft zugleich auf dem generellen Charakter der
Ware schon an und für sich beruht und sich als organischer Be-
standteil des Ganzen darstellt. Wir müssen uns mit einem Mindest-
gewicht und dem Ausschluß bestimmter Provenienzen begnügen ?),
um eine für den Lieferungshandel genügende Menge von gleich-
mäßiger Ware zur Verfügung zu habeu. Für gute Ware wird sich
immer eine höhere Bewertung erzielen lassen, die Bedingungen für
den Berliner Lieferungshandel sind nun aber schon so hoch be-
messen, daß die inländische Ware sogar oft den Anforderungen nicht
mehr entspricht, von der gefürchteten „Berliner Lieferungsqualität“
kann heute schlechterdings nicht mehr geredet werden.
Auch das Verlangen, die Lieferungsqualität nach den durch-
schnittlichen Ergebnissen der heimischen Ernte von Zeit zu Zeit
festzustellen 3), würde schon an der oben erwähnten Mannigfaltigkeit
der Sorten scheitern und kann einer gedeihlichen Entwickelung des
Lieferungshandels nur hinderlich sein. Natürlich darf die Qualität
desselben nicht dauernd im Widerspruch mit den Ergebnissen der
im Inland geernteten Sorten stehen. Eine solche Klage ist aber,
wie schon oben gesagt, heute nicht möglich.
Als Schluß, d. h. Mindestquantum bei jedem Abschluß, gelten
auch heute nach altem Herkommen noch 50 t, wenn auch im Schluß-
schein nur 30 t verlangt werden.
Die Lieferungsfrist ist die einmonatliche geblieben. Als Haupt-
termine sind September, Oktober, Dezember und Mai, Juli zu
1) Der Direktor des Verbandes deutscher Müller, van den Wyngaerdt, sagt in
einem Bericht über die Lieferbarkeit anzukündigenden Getreides (Stat. Anl. der BEK.
8. 349): „Die Vorprüfung ist die Gesundung der Börse.“
2) Wiedenfeld, „Wesen und Wert der Zentralproduktenbörsen‘“, in Schmollers
Jahrbuch, Bd. 27, S. 165.
3) Bericht der BEK. S. 120.
44 H. Ruesch,
nennen. Im September und Oktober kommen die Erzeugnisse der
heimischen Ernte zuerst in erheblichem Umfang auf den Markt, im
Dezember tritt im allgemeinen der Schluß der Schiffahrt ein, während
Anfang Mai die ersten großen Zufuhren aus dem Ausland eintreffen,
und der Julitermin ist insofern von großer Bedeutung, als vor der
Ernte bei den erschöpften Beständen ein größerer Bedarf vorhanden
zu sein pflegt.
Im Andienungsschreiben, dem die Bescheinigung der Sach-
verständigen beigefügt sein muß, ist bei Lieferung vom Kahn anzu-
geben: 1) das Datum, 2) der Name des Schiffers, die Nummer des
Kahns und der Ort der Abladung, 3) der Standort des Kahns und
bei Lieferung vom Boden 1) das Datum, 2) die genaue Bezeichnung
der Partie nach Lagerraum und Menge. j
Ergibt sich bei der Abnahme eines überwiesenen Postens ein
Fehlgewicht, das nicht über 5 Proz. betragen darf, so wird das-
selbe zum Preise des Abnahmetages bezw., falls die Abnahme nach
Ablauf der vertragsmäßigen 6 Tage erfolgt, zum Preise des letzten
Tages der vertragsmäßigen Abnahmefrist berechnet.
Die Andienung liegt in Wahl des Verkäufers und muß dem
Käufer an einem Werktage bis 12 Uhr mittags zugestellt werden.
Dieser sogenannte Dispositionsschein kann Dritten überwiesen
werden, die Umlaufszeit endigt am Tage der Ausstellung nachmittags
6 Uhr.
Während nun vor dem Börsengesetz durch das Kündigungsamt
im Scontrationsverfahren die Erfüllung aus Termingeschäften wesent-
lich erleichtert war, hatte man dies Verfahren als Börseneinrichtung
aufgeben müssen. Hieraus konnten große Schwierigkeiten für die
glatte Erledigung der Geschäfte entstehen. Die Folge war, daß im
Feenpalast und später im Kontorhaus eine Person, die früher im
Kündigungsbureau der Produktenbörse angestellt war, die Abwicke-
lung der Geschäfte auf private Rechnung übernahm und den einzelnen
Firmen ihre Dienste anbot). Damit war wieder eine gewisse Zen-
tralisation des Kündigungswesens erreicht und doch die Form des
Börsenbrauchs vermieden, denn es war eine rein private Tätigkeit
eines unabhängigen Kaufmanns.
Derselbe setzte nun auch an der wiederhergestellten Produkten-
börse die Abwickelung der Geschäfte als eine Art Kündigungs-
kommissar fort. In der Arbeit von Goldenbaum war diese Tätig-
keit des näheren mit ihren Vorteilen für den Handel geschildert ?),
doch dies sollte das Ende der erleichternden Form bedeuten °’).
Am 17. Dezember 1900 fragte der Oberpräsident bei den
Aeltesten an, ob an der Produktenbörse ein Kündigungskommissar
zur Abwickelung einer größeren Zahl von Geschäften benutzt werde,
im bejahenden Falle wäre die Börsenaufsicht auf diese als Kün-
1) Goldenbaum, Bd. 1, 8. 249.
2) Derselbe S. 242 ff.
3) Vergl. Korrespordenz der Aeltesten 1901, No. 10.
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 45
digungsbureau anzusehende Tätigkeit auszudehnen. Die, Aeltesten
antworteten dann unter dem 17. Januar 1901, daß der sogenannte
Kündigungskommissar lediglich private Botendienste versehe, so daß
eine Ausdehnung der Börsenaufsicht auf denselben unstatthaft wäre.
Der Oberpräsident war aber anderer Ansicht und forderte die
Aeltesten auf, gemäß § 1 Abs. 3 des Börsengesetzes ihre Aufsicht
auf die Tätigkeit des Kündigungskommissars auszudehnen. Dieser
lehnte es jedoch ab, als unabhängiger Kaufmann seine Firma unter
Aufsicht zu stellen und gab daher seine Tätigkeit auf, so daß jetzt
wieder die schwerfällige Kündigung von Bureau zu Bureau statt-
findet, indem A dem B, B dem C, C dem D kündigt, bis endlich
derjenige Kontrahent gefunden wird, der die Ware tatsächlich über-
nimmt. Da auch die Zahl der abgeschlossenen Geschäfte und der
Kreis der Personen kein allzugroßer mehr ist, so läßt sich das An-
dienungsverfahren auf diese primitive Weise schließlich ohne große
Schwierigkeiten bewerkstelligen.
Wesentlich an dem Schlußschein ist dann noch, daß für den
Verzug die Bestimmungen der §§ 325.und 326 BGB. und 373 HGB.
über das handelsrechtliche Lieferungsgeschäft in Anwendung kommen
und zwar mit der Maßnahme, daß der Nichtsäumige dem Säumigen
zur Bewirkung der Leistung unter allen Umständen eine ange-
messene Frist gemäß $ 326 BGB. Abs. 1 gewähren muß, womit dem
Einwand des Vorliegens von Fixgeschäften ein für allemal begegnet
ist. Natürlich bedeutet dies für den Handelsverkehr .eine große
Erschwerung, besonders das Rüchtrittsrecht des § 325 BGB. könnte
zu den größten Unzuträglichkeiten führen. Die Solidarität und Ge-
samkeit der Interessen hat dann dazu geführt, daß keiner wagen
kann, von seinen einmal eingegangenen Verpflichtungen zurück-
zutreten, er würde sich dadurch ehrlos machen und müßte seine
Tätigkeit einfach einstellen, da niemand noch mit ihm Geschäfte ab-
schließen würde. Auch Nachfrist wird nur in wirklich unver-
schuldeten Fällen gefordert, unberechtigte Ansprüche kommen nicht
vor. Der Kaufmann ist an Pünktlichkeit gewöhnt und kann sich
nicht auf unbegrenzte Lieferungsfristen einlassen, jede Kalkulation
würde sonst unmöglich gemacht.
Die langen Kämpfe haben eben die verschiedensten Inter-
essenten fester denn je zusammengeschmiedet, und die unlauteren
Elemente haben bald weichen müssen. Man kann sagen, daß heute
der Grundsatz strengster Pflichterfüllung im handelsrechtlichen Liefe-
rungsgeschäft herrscht, und unmoralische Handlungen würden einen
Händler einfach unmöglich machen, was um so bewundernswürdiger
ist, als sich der kaufmännische Stand mehr als jeder andere Beruf
aus den verschiedensten Gesellschaftsklassen zusammensetzt.
Schließlich konnte man auch sonst mit dem vorläufigen Resultat
zufrieden sein. Der Lieferungshandel in typischer Ware war, wenn
auch unter sehr schwerfälligen Formen, gerettet und somit die Mög-
lichkeit einer Risikoversicherung geblieben. Man konnte wieder das
Börsenlokal beziehen und hatte wenigstens die Regierung klar über-
46 H. Ruesch,
zeugt, daß volkswirtschaftlich eine kräftige Produktenbörse nicht zu
entbehren sei. Andererseits hatten die Agrarier von ihren extremen
Forderungen fast nichts erreicht. Die Produktenbörse blieb nach
wie vor mit der Fondsbörse eng verbunden und erhielt nicht die
vom Bund der Landwirte gewünschte selbständige Organisation. Der
Einfluß der Landwirte im Börsenvorstand mußte schon bei der
kleinen Vertreterzahl äußerst gering bleiben, und so war auch keine
Rede davon, daß die Landwirte in jeder Verwaltungsinstanz den
gleichen Einfluß wie der Handel erlangten, was sie gerne erreicht
hätten. Die Börse blieb nach wie vor eine Spezialeinrichtung der
Kaufmannschaft. Auch alle anderen, den Handel beschränkenden
Forderungen wie Deklarationszwang, Aufstellung von Qualitätstypen
und Nachweis des Charakters von Effektivgeschäften gelangten nicht
zur Erfüllung. Schließlich ist es vor allen Dingen den Agrariern
nicht gelungen, den Getreideimport zu hemmen und Deutschland
vom Weltmarkt abzusperren. Auch heute noch gelingt es dem
Handel, das in Deutschland vorhandene Defizit an Brotgetreide zu
Weltmarktpreisen herbeizuschaffen. Erreicht ist nur eine Erschwerung
der Handelstätigkeit, die aber den Landwirten sicher keinen Vorteil
gebracht, wenn nicht sogar direkten Schaden zugefügt hat.
IV. Die Rechtsprechung des Beichsgerichts.
Aus der ganzen Technik des handelsrechtlichen Lieferungs-
geschäfts, wie es heute an der Produktenbörse geübt wird, und be-
sonders aus dem Zweck, den dasselbe zu erfüllen sucht, geht un-
zweifelhaft hervor, daß wirtschaftlich kein wesentlicher Unterschied
mit den früheren Termingeschäften besteht, wie auch allgemein von
Sachkennern zugegeben wird. Der jetzt geltende Schlußschein legt
keine individuellen Warenposten zu Grunde, sondern nach generellen
Merkmalen gekennzeichnetes Getreide, alle Geschäfte werden uach
derselben Schablone abgeschlossen, und so ist die Möglichkeit ge-
blieben, seine Verpflichtungen zu erfüllen, ohne daß jeder Käufer
die Unkosten des effektiven Empfangs der Ware zu tragen braucht.
Freilich ist die ganze Form schwerfälliger wie früher, es fehlt
die schnelle Form der Abwickelung durch ein mechanisches Kündi-
gungsverfahren, beim Verzug ist eine schnelle Erledigung durch
Selbsthilfekauf oder -verkauf nicht gewährleistet, aber was das Wesent-
liche ist, es bleibt der breite Markt, für die Lieferungsqualität kann
jederzeit ein Käufer und Verkäufer gefunden werden.
Juristisch dürfte allerdings eine Identifizierung mit dem ver-
botenen Terminhandel wohl kaum möglich sein. Das jetzt geübte
handelsrechtliche Lieferungsgeschäft ist weder Fixgeschäft, noch sind
seine Bedingungen vom Börsenvorstand festgesetzt, vielmehr ist es
hervorgegangen aus der freien Vereinbarung von Regierung, Land-
wirten und Händlern. Auch die für Börsentermingeschäfte üblichen
Formen, wie Kündigungsbureau und Schiedsgericht, sind vermieden,
so daß es wohl kaum möglich ist, diese Geschäftsform unter den
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 47
Begriff des verbotenen Börsenterminhandels zu subsumieren. So
könnte man denn annehmen, das handelsrechtliche Lieferungsgeschäft
vermöchte unter den gegebenen Verhältnissen sehr gut die Bedürf-
nisse des Handels zu befriedigen, und dem wäre auch so, wenn nicht
die rechtliche Unsicherheit den Lieferungshandel so gut wie lahm
legte. Auf Grund der neuen Formen hat sich an der Berliner Börse
ein Geschäftsverkehr entwickelt, an dem weder Regierung, Landwirte
noch Müllerei etwas auszusetzen haben. Die vielen früher beklagten
Mißstände sind teils durch die Bestimmungen des neuen Schluß-
scheins, teils durch die Einschränkung der Teilnehmerzahl auf die
beteiligten Kreise beseitigt, und der Verkehr bewegt sich auf durch-
aus solider Basis. Da muß man es um so mehr bedauern, daß
den handelsrechtlichen Lieferungsgeschäften in Getreide und Mühlen-
fabrikaten nach dem Stand der heutigen Rechtsprechung des Reichs-
gerichts fast jede rechtliche Grundlage genommen ist.
Es kommen hier besonders die Entscheidungen vom 12. Oktober
1898, 28. Oktober 1899 und 1. Dezember 1900 in Betracht!). In
allen drei Fällen handelte es sich allerdings nicht um Geschäfte der
Produktenbörse, aber aus der Begründung der Urteile läßt sich leicht
schließen, welch einem Schicksal der Lieferungshandel an der Ber-
liner Produktenbörse ausgesetzt wäre, wenn sich das Reichsgericht
mit einem derartigen Fall zu befassen hätte.
Das Reichsgericht geht von dem Gedanken aus, von Anfang an
sei das Bestreben der beteiligten Kreise gewesen, das Gesetz illu-
sorisch zu machen. Es komme aber nicht auf die Terminologie des
Gesetzes an, sondern auf den wirtschaftlichen Charakter der Ge-
schäfte. Man habe an die Stelle des der bisherigen Uebung ent-
sprechenden Tatbestandes einen anderen gesetzt, mit welchem man
im übrigen dasselbe erreichte, und hier habe nun der Richter den
Willen des Gesetzes zum Ausdruck zu bringen und jede Umgehung
zu vereiteln.
Das ist ja auch im großen und ganzen richtig, daß der Richter,
besonders bei den sozialpolitischen Gesetzen, aus dem Geist des
Gesetzes zu ermitteln und dieses so auszulegen hat. daß der Zweck
erreicht werde °). Nun hatte aber hier der Gesetzgeber mit unzwei-
deutiger Sicherheit den Begriff „Börsentermingeschäft“ fest umgrenzt,
und aus der ganzen Geschichte des Börsengesetzes geht unzweifel-
haft hervor, daß man keineswegs alle Lieferungsgeschäfte auf Zeit
treffen wollte, sondern nur die genau umschriebenen des $ 48 Börsen-
gesetz.
Es darf doch nicht dahin kommen, daß der Richter an die
Stelle des Gesetzgebers tritt, indem er die Gesetze so auslegt, wie
er am besten den Zweck zu erreichen glaubt, ohne sich um den
Wortlaut zu kümmern. Dann brauchte man heute keine Gesetze
mehr zu machen, sondern könnte einfach einen Grundsatz aufstellen,
1) Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen, Bd. 42, 44, 47.
2) Freund in der Deutschen Juristenzeitung, Jahrg. 1900, No. 23.
48 H. Ruesch,
den der Richter dann zu verwirklichen hätte. So haben sich auch
angesehene Juristen!) wie Riesser, Laband, Staub, Keyßner u.a. m.
mit Recht entschieden gegen diese Auffassung des Reichsgerichts
gewandt.
Von ganz besonderer Bedeutung für unsere Materie war die
letzte der drei Entscheidungen vom 1. Dezember 1900, da es sich hier
um ein verbotenes Termingeschäft und zwar in Bergwerksanteilen
handelte. Es wird hier nämlich ausgesprochen, daß der Zweck des
Gesetzes, die Spekulation zu unterdrücken, unerfüllt bleiben müsse,
wenn nicht die durch $ 50 Börsengesetz untersagten Geschäfte ge-
mäß § 134 BGB. für nichtig erklärt würden und deshalb keine
Verbindlichkeit erzeugten. Es kann aber hier als feststehend be-
trachtet werden, daß der Gesetzgeber eine solche Absicht nicht hatte,
sondern nur die Folgen des $ 51 BG. eintreten lassen wollte. Auf
einen Antrag Graf Arnim und Genossen: Auf Grund des Börsen-
gesetzes verbotene, im Auslande geschlossene börsenmäßige Termin-
geschäfte für unklagbar und unvollstreeckbar zu erklären, äußerte
sich nämlich der Vertreter des Bundesrats, Reichsbankpräsident
Dr. Koch am 6. Juni 18962): „Der Entwurf bestimmt... ... die
Wirkungen der von ihm vorgesehenen objektiven Verbote in § 51
meiner Ansicht nach erschöpfend“, und weiter: „Die vorliegenden
Verbote beruhen darauf, daß aus wirtschaftlichen Gründen die deut-
schen Börseneinrichtungen sich den verbotenen Termingeschäften zu
versagen haben. Damit ist alles Nötige erreicht.“
Der Reichstag hat es denn auch so belassen und keinen weiter-
gehenden Beschluß gefaßt. Es ist unerfindlich, wie das Reichs-
gericht zu der Anwendung des § 134 BGB. schreiten konnte,
nach dem verbotene Gesetze nichtig sind, wenn sich nicht aus dem
Gesetz etwas anderes ergibt. Aus dem $ 51 Börsengesetz wie aus
der Absicht des Gesetzgebers ergibt sich aber, daß nur die Folgen
des $ 51 gewollt waren, was zudem auch ganz klar dem Wortlaut
des Gesetzes entspricht. Die Folgen des $ 134 konnte der Gesetz-
geber überhaupt noch gar nicht im Auge haben, da das BGB. erst
drei Jahre nach dem Börsengesetz in Kraft getreten ist; wenn sich
eben Lücken im Gesetz befinden, so muß man an eine Revision des-
selben treten, um klar zu zeigen, was der Gesetzgeber will. So ist
jedenfalls aus dem Gesetz nicht zu ersehen, daß die verbotenen
Termingeschäfte rechtsunwirksam sein sollen.
Ebenso sehr interessiert die Frage, was das Reichsgericht unter
börsenmäßigem Terminhandel im Sinne des § 51 Abs. 3 versteht.
Schon im Urteil von 1599 war an eine Definition der fraglichen
Geschäfte gedacht, indem gesagt wurde, daß im Gegensatz zum ge-
wöhnlichen Fixgeschäft die Geschäfte im börsenmäßigen Termin-
1) Riesser, Die handlungsrechtlichen Lieferungsgeschäfte. Berlin 1900.
Laband und Staub in No. 6 der Deutschen Juristenzeitung vom 15. März 1904.
Staub ebenda, Jahrg. 5, No. 15.
Keißner in Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht, N. F., Bd. 34.
2) Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, 4. Session, Bd. 4, S. 2449.
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 49
handel einen allgemeinen, schablonenhaften Charakter dadurch er-
halten hätten, daß sie nach vorher an der Börse für alle Geschäfte
dieser Art festgesetzten gemeinsamen Bedingungen, auf dieselbe fest
bestimmte Zeit über feste Mengeneinheiten geschlossen, und daß für
sie an der Börse fortdauernd Terminpreise amtlich festgestellt und
veröffentlicht würden. „Auf dieser Gleichartigkeit aller Geschäfte“,
heißt es dann weiter, „nach Menge, Termin, Terminpreis beruht die
Möglichkeit der Deckung jedes Kontrahenten durch Gegengeschäft,
der Lösung durch bloße Differenzzahlung, die Möglichkeit der Be-
teiligung weiter Kreise an den Geschäften ohne den Besitz von
Mitteln zur Effektiverfüllung, die stets umgangen werden kann, die
Möglichkeit der Benutzung dieser Geschäfte zu einfachen Differenz-
und Spielgeschäften.“*
In der Entscheidung vom 1. Dezember 1900 heißt es dagegen:
„Wesentlich ist nur, daß das Geschäft zu einem festen Termin ohne
Rücksicht auf besondere persönliche Bedürfnisse der Parteien, also
mit typischem Inhalt geschlossen wird und zu einem Preise, der sich
an der Börse infolge des Zusammentreffens und Zusammenwirkens
der Börsenbesucher ergibt. Wie dagegen dieser Preis festgestellt,
und ob das Geschäft genau an der Börse selbst geschlossen wird,
ist wiederum unerheblich.“ Man sieht, feste Mengeneinheiten sind
nach dem letzten Urteil nicht mehr erforderlich, und so ist es durchaus
nicht ausgeschlossen, daß der feste Termin auch nicht mehr nötig
ist. Heißt es doch schon im Urteil von 1899, daß der Fixcharakter
für die börsenmäßigen Termingeschäfte im weiteren Sinne unwesent-
lich sei, und wurde ein handelsrechtliches Lieferungsgeschäft mit
2 Tagen Nachfrist als ein Börsentermingeschäft nach $ 48 ange-
sehen, d. h. als ein Geschäft „auf eine festbestimmte Lieferungszeit
oder eine festbestimmte Lieferungsfrist“.
Da ist es denn kein Wunder, wenn die Getreidehändler sich
bisher gescheut haben, eine Sache beim Reichsgericht durchzufechten ;
sie könnten die ganze augenblicklich geübte Technik des handels-
rechtlichen Lieferungsgeschäfts in Frage stellen; denn fiele die Ent-
scheidung zu ihren Ungunsten aus, so würde damit das handels-
rechtliche Lieferungsgeschäft als börsenmäßiger Terminhandel von
der Börse gemäß $ 51 Abs. 3 ausgeschlossen, und der Handel will
sich vor eine solche Alternative nicht stellen, solange er das Be-
mühen der Regierung sieht, ihm auf gesetzgeberischem Wege den
rechtlichen Schutz wiederzuverschaffen, auf den jeder Stand im
Staat gleichmäßigen Anspruch hat.
Jedenfalls ist es nach der bisherigen Judikatur nicht ganz un-
wahrscheinlich, daß das Reichsgericht in dem handelsrechtlichen
Lieferungsgeschäft der Produktenbörse eine Umgehung des Gesetzes
erblickt, wenn es auch juristisch unter die bisherigen Entscheidungen
nicht fallen würde.
Das Reichsgericht geht eben von der Auffassung aus, der Gesetz-
geber habe auf jeden Fall die Spekulation unterdrücken wollen.
Sind die gesetzlichen Bestimmungen hierzu mangelhaft, so hat der
Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII). 4
50 H. Ruesch,
Richter das Gesetz zu ergänzen, indem er das, was der Gesetzgeber
verboten haben würde, wenn er es gewußt hätte, selbst verbietet.
So ist besonders nach dem Urteil vom 1. Dezember 1900 ein recht
unerquicklicher Rechtszustand eingetreten. Unter Zustimmung der
Regierung und selbst der agrarischen Vertreter entwickelt sich an
der Berliner Börse auf Grund des neuen Schlußscheins ein durch-
aus reeller Geschäftsverkehr ohne die früheren Auswüchse, und doch
entbehren alle diese Geschäfte des rechtlichen Schutzes, auf den der
Handel ganz sicher glaubte rechnen zu können, nachdem er bei
der Verständigung auf die Wünsche der Regierung und der Pro-
duzenten bereitwilligst eingegangen war.
Neben dem Differenzeinwand aus $ 764 BGB. ist der Getreide-
händler jetzt noch dem Einwand der Nichtigkeit der Geschäfte aus-
gesetzt. Ein Schuldverhältnis wird durch ein solches Geschäft nicht
begründet, bestellte Sicherheiten können zurückgefordert, ja sogar
das endgültig Geleistete kann noch auf 30 Jahre in Frage gestellt
werden.
Zu welchen Konsequenzen dieser Zustand führt, zeigt ein Fall,
der in einer Eingabe des Vereins Berliner Getreide- und Produkten-
händler an den Reichstag vom 25. März 1905 Erwähnung findet:
„Ein Provinzhändler, der in Berlin 150 t Weizen bei seinem Kom-
missionär zu Lager gegeben hat, läßt durch ihn diesen Weizen im
Januar zur Ablieferung im Mai verkaufen, weil er dadurch besser
als bei einem Loco-Verkauf fährt. Bald hiernach gerät der Auftrag-
geber in Konkurs. Der Konkursverwalter gibt im Februar, nachdem
eine größere Preissteigerung erfolgt ist, an die Kommissionsfirma
den Auftrag, die auf dem Speicher liegenden 150 t Weizen loco zu
verkaufen. Diese lehnt es mit der Begründung, daß der Weizen
bereits zur Ablieferung im Mai gegeben sei, ab. Seitens des Kon-
kursverwalters wird Klage erhoben; er verlangt für die Masse den
Vorteil des gestiegenen Preises für die 150 t Lagerweizen, erhebt
aber gleichzeitig für den gleich großen Schaden aus dem Verkauf
des Maiweizens, den der Kommissionär geltend macht, den Einwand
der Nichtigkeit dieses Geschäfts.“
Ehrlose und minderwertige Elemente werden geradezu ange-
reizt, eingegangene Verpflichtungen auf Grund der Reichsgerichts-
entscheidung von 1900 abzustreiten, und Treu und Glauben im
Getreidehandel wird immer mehr untergraben, trotzdem von allen
Seiten anerkannt wird, daß das handelsrechtliche Lieferungsgeschäft
für den reellen Getreidehandel absolut notwendig ist.
Und zwar steht der oben erwähnte Fall durchaus nicht verein-
zelt da. Wiederholt sind Berliner Getreidehändler dadurch geschä-
digt worden, daß der Einwand der Nichtigkeit von ihren Gegen-
kontrahenten oder deren Rechtsnachfolgern mit Erfolg gerichtlich
erhoben wurde. Vormünder oder Konkursverwalter werden ja ge-
radezu vor einen Gewissenskonflikt gestellt und sehen sich oft im
Interesse ihrer Klienten gezwungen, Einwände zu machen, die der
derzeitige Kontrahent nie gemacht haben würde. Es herrscht jeden-
Der Berliner Getreidehandel unfer dem deutschen Börsengesetz. 5
falls augenblicklich ein Zustand, wie er gar nicht schlimmer gedacht
werden kann, dessen besondere Wirkungen im nächsten Abschnitt
noch ausführlicher geschildert werden sollen. Die Händler tragen
lieber einen großen Verlust, wenn sie sich gütlich mit ihren Gegen-
kontrahenten einigen können, als daß sie an die Gerichte gehen,
da ihnen hier doch wenig Aussicht auf Erfolg zu hoffen bleibt.
Nicht nur im Interesse des Handels und der ganzen Volks-
wirtschaft, sondern auch, um sein eigenes Ansehen zu wahren, hätte
daher der Gesetzgeber alle Veranlassung, möglichst schnell eine
gesetzliche Aenderung eintreten zu lassen; denn es ist ein unhalt-
barer Zustand, daß sich unter den Augen und der stillschweigenden
Zustimmung der Regierung ein Geschäftsverkehr entwickelt, dem
die ordentlichen Gerichte den Rechtsschutz versagen und welcher
nach der Judikatur des höchsten Gerichtshofes als ein gesetzlich
verbotener Terminhandel angesehen werden kann. Die Rechts-
sprechung des Reichsgerichts ist um so gefährlicher, als sie nicht
nur einen jeden Augenblick schwankenden, sondern unter Umständen
sogar entgegengesetzten Standpunkt einnehmen kann. Die Autorität
des Staates könnte in einem solchen Falle jedenfalls sehr leiden.
Welche Wirkungen kann es schließlich auf das Rechtsbewußtsein
im Volk ausüben, wenn offen eine Gesetzumgehung geduldet wird.
Und schließlich muß auch das Ausland das Vertrauen zum deutschen
Kaufmann verlieren, wenn es weiß, daß in Deutschland ein Gesetz
besteht, welches sogar dem Kaufmann gestattet, auf Grund einer
formalen Bestimmung sich seinen Verpflichtungen zu entziehen.
(Kaempf in der 77. Sitzung des Reichstags 1904.)
Will die Regierung die Konsequenzen auf sich nehmen, so mag
sie das handelsrechtliche Lieferungsgeschäft verbieten. Erkennt sie
aber die Notwendigkeit des Lieferungshandels an, dann muß sie
auch für geordnete Rechtsverhältnisse Sorge tragen und an eine
Gesetzesrevision schreiten. Es ist allerdings weniger die Regierung
af die Volksvertretung, die sich hier der nötigen Einsicht ver-
schließt.
V. Heutige Bedeutung des Berliner Lieferungshandels.
Was nun die speziellen Wirkungen des Börsengesetzes auf den
Umfang und die Tätigkeit des Handels anbetrifft, so sind diese wohl
mehr auf die oben geschilderte Rechtsprechung zurückzuführen,
als auf das Terminhandelsverbot, da man ja einen Ersatz in dem
handelsrechtlichen Lieferungsgeschäft gefunden hatte, welches unter
verändertem Namen und in veränderter Form volkswirtschaftlich
ganz leidlich die Funktionen des börsenmäßigen Termingeschäfts
ausfüllen könnte, obgleich man dasselbe natürlich nur als Notbehelf
ansehen darf.
Wenn auch von 1897—1900 der Handel schon sehr zurückgegangen
war und Berlin von seiner Bedeutung als Terminbörse viel einge-
büßt hatte, so lag dies mehr an der Unübersichtlichkeit der abge-
4*
52 H. Ruesch,
schlossenen Geschäfte im Feenpalast und im Kontorhaus, zumal
Fernerstehenden durch das Aufhören der amtlichen Terminnotie-
rungen jede Orientierung unmöglich gemacht war. Aber an der
wiederhergestellten Produktenbörse durfte man doch an eine Wieder-
genesung des Lieferungshandels denken. Da kam nun das Urteil
vom 1. Dezember 1900. Die hierdurch geschaffene Rechtslage mußte
selbstverständlich auf die Getreidebörse äußerst lähmend wirken, an
die Stelle der ausgleichenden Tendenz über Raum und Zeit trat
eine Geschäftsunlust, wie sie für eine Zentralbörse und somit für
die ganze Volkswirtschaft im höchsten Maße gefährlich werden kann.
Bei der heutigen Rechtslage muß sich jeder, der sich nicht
großen Gefahren aussetzen will, im Lieferungshandel seinen Gegen-
kontrahenten erst genau ansehen, ehe er mit ihm abschließt, und die
Folge ist, daß der Kreis der am Lieferungshandel beteiligten Per-
sonen ein immer kleinerer geworden ist, und zwar so klein, daß er
für die Zwecke des Lieferungshandels kaum mehr ausreicht. Viele
Firmen haben ihre Tätigkeit gänzlich eingestellt oder auch teilweise
auf andere Gebiete übertragen). Der Verein Berliner Getreide- und
Produktenhändler, dem die meisten der an der Produktenbörse
tätigen Firmen angehören, hat seit dem Jahre 1897 etwa ein Viertel
der Mitglieder verloren ?). Die Produktenbörse hat zeitweilig fast
den Charakter eines Lokalmarktes angenommen, so sehr macht sich
der Rückgang der Geschäfte bemerkbar. Ganz besonders fehlt auch
die Beteiligung des Großkapitals, welches sich früher in der Form
des Reportgeschäfts lebhaft betätigte.
Als im Winter 1900/01 ein erheblicher Teil des angebauten
Wintergetreides ausgewintert war, rüstete sich der Handel, das vor-
aussichtliche Defizit aus dem Ausland herbeizuschaffen. Nun waren
aber die Nachrichten des Königlich Preußischen Statistischen Bureaus
über den Umfang der Auswinterung stark übertrieben, und die Folge
war natürlich ein zu starker Import. Der Handel hatte jetzt nicht
genügend flüssige Mittel, um seiner Aufgabe gerecht zu werden und
die gewaltigen Getreidemassen aufzunehmen, und er wandte sich des-
halb an das Kapital, welches sich aber durch die veränderte Geschäfts-
lage allmählich von der Produktenbörse fortgewöhnt hatte und seine
Mithilfe versagte. So müssen sehr oft kolossale Warenmengen ohne
Deckungsverkäufe aufgenommen werden, und die Händler werden
ohne ihren Willen zu Spekulanten allerersten Ranges gemacht.
Durch diese Dezimierung der Zahl der Händler und besonders
durch die geringe Beteiligung des Kapitals an dem Zeitgeschäft ist
eben die Aufnahmefähigkeit des Marktes ganz bedeutend geschwächt,
und es ist den Importeuren und großen Effektivhändlern oft ganz
unmöglich, sich für ihre Anschaffungen an der Berliner Börse zu
sichern. Während dieselbe früher für jedes Quantum aufnahme- und
abgabefähig war), konnte nunmehr ein größerer Posten, wie die
1) Aeltestenbericht, 1898, S. 58—59.
2) Ministerialblatt der Handels- und Gewerbeverwaltung, 1901, S. 260.
3) Emil Meyer, 1897.
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz, 53
Ladung eines Ozeandampfers, oft gar nicht untergebracht werden,
ohne einen erheblichen Preisdruck hervorzurufen, während anderer-
seitsein Deckungskauf von ein paar tausend Tonnen bisweilen eine nicht
voll in Rechnung gezogene Preissteigerung hervorzurufen vermag.
Welche Rückwirkungen solche Unlust auf den Handel haben
muß, ist ganz klar. So ist z. B. den Berliner Händlern das früher
blühende Weltvermittelungsgeschäft fast gänzlich genommen. Denn da-
zu gehörte eine starke Terminbörse, um die kleinen Konjunkturen
rasch ausnutzen zu können. Der Kaufmann ist darauf angewiesen,
seine Entschlüsse schnell zu fassen. Hat z. B. ein Importeur eine
Schiffsladung Weizen unterwegs und sich an der Berliner Börse einen
Preis von 180 M. pro 1000 kg gesichert, so kann ihm vielleicht aus
London telegraphisch ein Preis von 182 M., auf Berlin umgerechnet,
geboten werden. Er versucht, diese Konjunktur auszunutzen, indem
er die Ware nach London offeriert, um sich bei Annahme der Offerte
in Berlin für seinen Lieferungsverkauf zurückzudecken. Dazu ge-
hört aber ein großer Markt, und der fehlt heute, Der betreffende
Händler weiß nicht, ob er den Posten überhaupt erhalten wird und
muß jedenfalls damit rechnen, daß dieser Deckungskauf den Preis
erheblich erhöhen wird. So muß er das gewinnbringende Geschäft
unterlassen, nur die kleinsten Mengen können noch gehandelt werden,
ohne gleich den Preis unberechtigt zu drücken oder zu heben.
Es gibt nun schon einige sehr große Firmen, die wegen der
Schwierigkeiten, welche damit verbunden sind, eine Preissicherung
an der Terminbörse ganz entbehren zu können glauben, und die-
selben haben dabei, unterstützt durch einige Jahre stabilerer, ja so-
gar steigender Preise, nicht unerhebliche Gewinne erzielt. Im all-
gemeinen halten jedoch die soliden Firmen ein solches Verfahren
für eine sehr gefährliche Spekulation und begnügen sich lieber mit
einem kleineren, aber sicheren Gewinn, weshalb auch vom Verein
Berliner Getreide- und Produktenhändler immer wieder für die Her-
stellung geordneter Rechtsverhältnisse plaidiert wird, denn heute ist
kein Kaufmann mehr in der Lage, einen Ueberblick über sein Ge-
schäft und sein Vermögen zu gewinnen.
Es ist ganz unverkennbar, daß bei der heutigen Sachlage die
oben erwähnten 2--3 großen Firmen auch einen immer wachsenden
Anteil des ganzen Geschäfts an sich reißen. Durch die Gesetz-
gebung wird "hier die Konzentration ebenso begünstigt, wie eine solche
im Bankgewerbe auf dieselbe Weise zu Tage getreten ist. Es ist sehr
zu bezweifeln, ob diese Entwickelung denjenigen, welche das Gesetz
als einen so großen Erfolg preisen, wirklich auf die Dauer gefallen
wird. Für die Erzielung möglichst günstiger Preise wird wohl jeden-
falls eine vielseitige Konkurrenz den Landwirten weit bessere Ga-
rantien bieten, als wenn schließlich ein paar Riesenfirmen die Preise
diktieren können.
Da nun hier der breite Terminmarkt fehlt, so ging man viel-
fach dazu über, an auswärtigen, besonders amerikanischen Börsen
Deckung für die Engagements zu suchen, wenn auch bei der großen
54 H. Ruesch,
Entfernung die Vorteile der kleinen Schwankungen nicht so ausgenutzt
werden können und nicht unerhebliche Kosten an Kommissions-
spesen entstehen. Für Roggen ist diese Preissicherung außerhalb
Berlins kaum möglich, da Berlin hierfür allein wirkliche Bedeu-
tung hat.
Vorsichtige Händler sind auch schon aus einem anderen Grunde
von diesen Termindeckungen an auswärtigen Plätzen zurückgekommen.
Es konnte nämlich vorkommen, daß sie statt der gehofften Preis-
sicherung einen doppelten Verlust zu erleiden hatten. Nicht immer
gehen die Preisbewegungen zur selben Zeit auf allen Weltmärkten
Hand in Hand. Lokale Einflüsse, wie z. B. der Ausfall der heimi-
schen Ernte, können eine Zeitlang sehr gut von anderen Börsen
abweichende Preise hervorrufen, besonders wo man die internationale
Arbitrage derart mit Fesseln belegt hat, wie bei uns.
Auch Amerika mit seinen großen Terminbörsen kann sich als
Exportland gelegentlich von den Einflüssen der anderen Welt ab-
schließen, zumal ein verhältnismäßig hoher Zoll einen Getreideimport
erst möglich macht, wenn die Preise dort über Weltmarktspreis plus
Zoll gestiegen sind. Dies wird aber in einem Exportland, wie die
Ver. Staaten es auch heute noch sind, nur in ganz außergewöhnlichen
Fällen zutreffen. So hatten z. B. im Jahre 1904 die amerikanischen
Börsen vom Weltmarkt völlig unabhängige Preisschwankungen;
gegenüber 638 Mill. Bushels im Vorjahr betrug die Ernte diesmal
nur 552 Mill. Bushels, und daher ging der Export auch ganz erheb-
lich zurück. Die New Yorker Preise konnten damals zeitweilig so-
gar über Berliner Notiz steigen. Die Preisentwickelung gestaltete
sich in der in Betracht kommenden Zeit folgendermaßen:
Berlin New York
1904 (Mark pr. 1000 kg)
(Juni) (173,3) (169,3)
Juli 173,3 164,5 —
August 178,9 + 165,2 +
September 178,3 — 177,6 +
Oktober 177,7 — 182,8 +
November 176,3 — 184,7 +
Dezember 178,5 + 182,5 —
1905
Januar 177,0 — 186,9 +
Februar 176,5 — 189,5 +
März 173,7 — 182,3 —
April 171,9 — 163,6 —
Mai 175,0 + 153,7 —
Juni 173,9 — 164,0 +
In den 12 Monaten ging also die Preisbewegung auf den beiden
Plätzen 9mal in verschiedener Richtung. So mußten sich natürlich
gewaltige Verluste für diejenigen ergeben, die an den amerikanischen
Börsen Sicherung für ihre Geschäfte genommen hatten. Hatte z. B.
ein Berliner Händler eine Schiffsladung Weizen in Argentinien ge-
kauft und sich vielleicht an der Chicagoer oder New Yorker Börse
einen bestimmten Preis durch einen Terminverkauf gesichert, so
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 55
konnte es sehr leicht vorkommen, daß bis zum Tage der Ankunft
der Berliner Preis gesunken war, während andererseits der Termin-
preis in New York sich in steigender Richtung bewegte, so daß der be-
treffende Händler sich nun dort mit Verlust eindecken mußte, während
er zugleich die Ware selbst zu gesunkenen Preisen loszuschlagen ge-
nötigt war. So ist es ganz erklärlich, daß diese Termindeckungen an den
amerikanischen Börsen im Nachlassen begriffen sind, obgleich sogar
amerikanische Getreidefirmen ihre Commis voyageurs hierher schicken,
um Händler und Müller zu veranlassen, dort ihre Geschäfte zu
machen !). Zeitweise war das dann auch in großem Umfange der Fall,
aber die vielen erlittenen Verluste machten dem deutschen Händler
bald klar, daß man am Markt selbst sein muß, um den ganzen Ge-
schäftsverkehr übersehen zu können. In Amerika spielen bei der
Spekulation oft so gewaltige Kapitalmächte mit, daß es unmöglich
ist, von hier aus in das Getriebe des dortigen Börsenlebens hinein-
zublicken. Nur Berlin vermag den deutschen Händlern eine wirklich
gesunde und rechnungsmäßige Arbitrage zu bieten.
Nicht unerwähnt darf hier noch bleiben, daß die kolossalen
Summen, die früher den Berliner Kommissionären von Inländern und
Ausländern für die Abwicklung der Geschäfte an Kommission gezahlt
wurden, fortfallen und jetzt ins Ausland wandern, ohne Berücksich-
tigung der vielen Spesen, die der deutsche Handel selbst jetzt für
Kommission ans Ausland zu zahlen hat.
Nun ist aber nicht nur für die Kaufleute die Gelegenheit einer
Preissicherung von großem Vorteil, sondern in nicht geringerem
Maße bedienen sich die Mühlenindustrie und besonders auch die
landwirtschaftlichen Genossenschaften, wie auch einzelne Landwirte
des Lieferungshandels, um sich gegen etwaige Verluste zu sichern.
Die von den Landwirten so sehr gepriesenen Genossenschaften
können ihren Geschäftsbetrieb nur dann auf eine solide kauf-
männische Grundlage stellen, wenn sie für die von ihren Mitgliedern
gemachten Einkäufe Sicherung an der Berliner Produktenbörse
nehmen, und dies ist auch tatsächlich in bedeutendem Umfang der
Fall. Es ist geradezu eine Ironie, wenn diejenigen Kreise, die als
Politiker am heftigsten die Börse und den Terminhandel befehdeten,
in ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit den weitgehendsten Gebrauch von
den Vorteilen der Börseneinrichtungen machen.
Ebenso müssen die großen Mühlen zur Aufrechterhaltung eines
gleichmäßigen Geschäftsbetriebs Vorausverkäufe in Mehl oft auf lange
Zeit hinaus machen und bedürfen zu diesem Zweck eines breiten
Lieferungsmarktes, um sich dort für ihre Verkäufe zu decken. Auch
kann sich so der Müller für längere Zeit die Ware für seinen Be-
trieb sichern, wenn ihm die Preislage gerade angemessen erscheint.
Es ist aber durchaus nicht notwendig, daß er nachher die Ware dort
auch wirklich abnimmt. Vielmehr wird er sich in der Provinz oder
im Ausland je nach Bedarf die Qualitäten suchen, die er zur Ver-
1) W. Mancke, Die Bewertung des Weizens und Roggens, 1902.
56 H. Ruesch,
mahlung gerade am besten gebrauchen kann, während er jedesmal
in der Höhe des gekauften Postens sein Lieferungsgeschäft an der
Börse realisiert und so auf jeden Fall gegen die Preisschwankungen
gesichert ist. Auf diese Weise können die Mühlen ihren Einkauf
auf mehrere Wochen und Monate sachgemäß verteilen. Ein ein-
maliger großer Ankauf auf dem Effektivmarkt würde sich gar nicht ohne
Zahlung eines höheren Preises bewirken lassen, ungerechnet die
Zinsverluste für das auszulegende Kapital, die Lagerspesen, die
Kosten des Schaufelns u. s. w. 1).
Das Unterlassen derartiger preissichernder Geschäfte würde jeden
Händler, wie die Mühlen und Genossenschaften zu Spekulanten
stempeln. Und doch liegt die Möglichkeit vor, daß der Richter in
einem Geschäft, das nicht durch die Lieferung oder Abnahme der
verkauften oder gekauften Ware ausgeglichen wird, ein Differenz-
geschäft findet.
Aber auch für die Provinzhändler, und somit auch schließlich
wieder die Produzenten muß ein gesund funktionierender Lieferungs-
handel einen ebenso großen Wert haben wie für den Importhändler
und Müller.
Wie sollte es überhaupt anders möglich sein, im Herbst die ge-
waltigen Massen der heimischen Ernte ohne Preisdruck aufzunehmen,
wenn der Handel nicht durch die Versicherungsmöglichkeit aufnahme-
fähig bliebe! „Wenn diese Möglichkeit in der Jahreszeit, wo etwa
die Hälfte der heimischen Produkte auf den Markt gebracht wird,
nicht bestünde, so würde nur mehr der kapitalkräftige Spekulant in
der Lage sein, die über den momentanen Konsumbedarf hinaus-
gehende Erntemenge anzukaufen, und es ist selbstverständlich, daß
diese Spekulantengruppe für die momentan nicht verwendbare Ernte-
menge nicht den vollen Marktpreis, sondern einen erheblich geringeren
Preis bezahlen würde, weil sie immer in Rechnung stellen müßte,
daß sie die Gefahr eines etwaigen Preisrückgangs bis zur Absatz-
möglichkeit tragen müßte“ ?).
So wird z. B. bei uns in der Provinz Sachsen viel Weizen ge-
baut, und es werden besonders im Herbst größere Posten von den
Händlern angekauft, die dann die gekaufte Ware einlagern und zur
Preissicherung per Lieferung nach Berlin verkaufen, da sich ge-
wöhnlich eine Verschiffung im Winter wegen der Eisverhältnisse
nicht mehr ermöglichen läßt. Im Warthe- und Netzedistrikt wird
andererseits viel Roggen gebaut und im Winter in die Kähne ein-
geladen, die dann im Frühjahr nach Eröffnung der Schiffahrt teils
nach den Seehäfen zum Export, teils nach Berlin dirigiert werden.
Wie sollte hier der Landwirt sein Getreide überhaupt los werden,
wenn dem Händler die Möglichkeit genommen wird, sich am Termin-
markt zu sichern. Mindestens würde sich der Händler eine erheb-
1) J. Bunzel, a. a. O. S. 129.
2) Horovitz, Die Effektivgeschäfte und börsenmäßigen Termingeschäfte an der
Wiener Produktenbörse. Schmollers Jahrb., Bd. 27, S. 193.
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 57
liche Risikoprämie berechnen und diese dem Landwirt bei der Preis-
berechnung abziehen. Und zwar sind diese Provinzhändler um so
mehr am Lieferungsgeschäft interessiert, als sich ihnen durch den
Terminverkauf die Möglichkeit bietet, die Ware günstig zu lombar-
dieren, da dieselbe schon zu einem festen Preise verkauft ist und
daher nicht mehr durch einen Preissturz an Wert verlieren kann.
So wird dann der Händler wieder kapitalkräftig und ist im stande,
neue Posten Getreide den Produzenten zu guten Preisen abzunehmen.
Natürlich läßt sich auch nicht bestreiten, daß die Provinzhändler
andererseits beim Fehlen einer aufnahmefähigen Terminbörse durch
die höhere Risikoprämie wieder erhebliche Gewinne erzielen können,
zumal bei steigenden Konjunkturen, und daher oft Gegner einer
kräftigen Zentralbörse sind. Diesen Provinzhändlern paßte es teil-
weise ganz schön, als sie keine feste Berliner Notiz sahen, konnten
sie doch so im Trüben Preise geben, wie sie ihnen gerade paßten,
so daß man auch hier sieht, wie sehr sich die Landwirte durch eine
Lahmlegung des Terminhandels in ihr eigenes Fleisch schnitten.
(Fortsetzung folgt.)
58 Nationalökonomische Gesetzgebung.
Nationalökonomische Gesetzgebung.
I.
Englands wirtschaftliche Gesetzgebung im Jahre 1905.
Von Georg Brodnitz, Halle a. S.
Das letzte Jahr der unionistischen Regierung hat kein großes
Ergebnis auf gesetzgeberischem Gebiete gebracht. Der Etat hält sich
in den bisherigen Grenzen, doch mußten die Mittel für den regelmäßigen
Zinsendienst weiter auf 28 Mill. £ erhöht werden, während sie 1902
erst 23 Mill. £ betragen hatten. Das Markenschutzgesetz lehnt sich
eng an die bisherige Gesetzgebung von 1883—1889 an.
Sozialpolitisch bedeutsam ist die Durchbrechung manchesterlicher
Anschauungen durch die Anordnung der Arbeitslosenfürsorge, die sich
aber in recht engen Grenzen hält und von irgend einer Lösung des
Problems weit entfernt ist. Internationale Interessen berührt das Ein-
wanderungsgesetz, das aber für uns nur sekundäre Bedeutung behalten
wird, während es sich bei scharfer Handhabung den osteuropäischen
Einwanderern unangenehm fühlbar machen kann. Sein prinzipieller
Einfluß liegt darin, daß es ein weiterer Schritt im Umbau der engli-
schen Wirtschaftspolitik ist und symptomatische Bedeutung auch für
uns hat.
I. Finanzen und Zölle.
1) Etat für 1905/1906: Appropriation Act, 1905, 5 Edw. 7,
ch. 17; Consolidated Fund (No. 1) Act, 1905; 5 Edw. 7, ch. 1; Consoli-
dated Fund (No. 2) Act, 1905, 5 Edw. 7, ch. 6.
(Siehe Tabelle auf S. 59.)
2) Bewilligungnichtfeststehender Einnahmen. Finance
Act, 1905, 5 Edw.”7, ch. 4; Isle of Man (Customs) Act, 1905, 5 Edw.
7, ch. 16.
l. Der Teezoll beträgt vom 1. Juli 1905 bis 1. Juli 1906 6 d. für das Pfund.
Die erhöhten Zölle und Abgaben für Tabak, Bier und Spirituosen bleiben in Kraft,
auch auf der Insel Man.
II. Aufgehoben wird der Stempel auf Gütertransportverträge und Lieferungs-
anweisungen (Stempelgesetz von 1891).
III. Die Einkommensteuer für 1905 beträgt 1 sh.
IV. Zur Einlösung der 1905 fälligen (aus Anlaß des südafrikanischen Krieges
ausgegebenen) Schatzscheine dürfen bis 10 Mill. £ neue Schatzscheine, amortisier-
bar in 10 Jahren, ausgegeben werden. .
Dem Schatzamt werden für den regelmäßigen Zinsendienst jährlich 28 Mill. £
überwiesen.
Nationalökonomische Gesetzgebung. 59
Ordinarium Zuschuß
£ sj|d £ | s | d
1903-—1904—1905.
Nachtrag für die Flotte 1903/04 100 | 00 97 850| 15| 5
rA für die Zivilverwaltung 1903/04 1345 |17| 4 96| 9| 4
An für das Heer 1904/05 550000 | o| o 600 000| o| o
a für die Zivilverwaltung 1904/05 76630 | ol o 11490| O| o
628075 |17| 4 709437| 4| 9
1905—1906.
Flotte 33 389500 | o| o | 1688 687| o| o
Heer 29 813000 | o| o | 3557 725| olo
Heer, Werkstätten und Material 100 | o| o | 3350000 0| o
63 202600 | o| o | 8596412| o| o
Zivilverwaltung:
1) Königliche Paläste, öffentliche Gebäude 2700861 | o| o 102 204| 0| o
2) Parlament, Ministerien, Münz- und Staats-
schuldenverwaltung, Irland 2738163 | o|o 578 722| 0| o
3) Justizverwaltung 3860 206 | 0| o 791968 o| o
4) Unterricht einschl. Museen 16 330337 | 0| o 28 368| o| o
5) Auswärtiger Dienst 1927445 | ojo 164040 0| o
6) Pensionen, Unterstützungen 816502 | 0) o 147| 0,0
7) Besondere Ausgaben für Kommissionen, |
Reisen, für Irland = 292359| oļo| 5 400| o| o
28 665 873 | o| o | 1670849 olo
Revenüenverwaltung: Zoll-, Steuer-, Post-, |
Telegraphenverwaltung Å 19435475 | o|o 503255 0 0
Gesamtbewilligungen | 111932023 |17| 4 11479953 4,9
3) Beibehaltung der Landsteuern. Agricultural Rates
Act, 1896, ete. Continuance Act, 1905, 5 Edw. 7, ch. 8.
Das Landsteuergesetz von 1896 bleibt bis 1910 in Kraft.
4) Bewilligung von Mitteln für öffentliche Arbeiten.
Publie Works Loans Act, 1905; 5 Edw. 7, ch. 22.
Es werden für England und Schottland 4 500 000 £ und für Irland 900 000 £
angewiesen für Bauten und Meliorationen.
5) Vergl. unter VI. i.
I. Handel und Gewerbe.
1) Markenschutzgesetz. Trade Marks Act, 1905, 5 Edw.
7, ch. 15.
I. Marken im Sinne dieses Gesetzes sind Kennsprüche, Zeichen, Namen,
Etikettes, Aufschriften, Unterschriften, Worte, Buchstaben und Ziffern. Waren-
zeichen sind diejenigen Marken, die ihren Eigentümer als Verfertiger oder Händler
der bezeichneten Waren kennzeichnen sollen. Sie werden in das Warenzeichen-
register des Patentamts eingetragen, das zur Einsicht offen zu halten ist. Die Ein-
tragung setzt voraus, daß das Warenzeichen enthält entweder den Namen einer
Gesellschaft, einer Einzelperson oder Firma, oder den Namenszug des Antrag-
stellers bezw. seines Geschäftsvorgängers, oder ein oder mehrere Worte, die frei er-
funden sind oder wenigstens weder Qualitäts- und Quantitätsbezeichnungen noch
geographische Namen sind. Ausnahmen kann das Handelsamt gestatten. Be-
sondere Farbengebung ist gestattet, sonst gilt die Eintragung für alle Farben.
Ausgeschlossen sind täuschende oder anstößige Zeichen.
60 Nationalökonomische Gesetzgebung.
II. Der Antrag auf Eintragung muß schriftlich gestellt werden. Gegen seine
Ablehnung besteht Berufung wahlweise an das Handelsamt oder den High Court
in London. Wird der Antrag angenommen, so ist er zu veröffentlichen. Es kann
dann gegen die Eintragung Einspruch erhoben werden, der vor der Register-
behörde zu verhandeln ist (Berufung wie oben). Erfolgt kein Einspruch, so ist
die Eintragung vorzunehmen und dem Antragsteller zu bescheinigen.
III. Ein eingetragenes Warenzeichen kann nur mit dem Geschäft zugleich
übertragen werden. Sind mehrere Personen Rechtsfolger, so werden sie sämtlich
eingetragen.
Es können Markenserien für einen Eigentümer eingetragen werden, deren
Bestandteile sich nur in der Farbe oder in Samene- oder Zahlenangaben vonein-
ander unterscheiden. Marken mit geringen Abweichungen können für einen
Eigentümer als „zusammengehörige Marken“ eingetragen werden und sind dann
nur im Zusammenhang übertragbar.
IV. Die Eintragung gilt für 14 Jahre und kann dann stets für die gleiche
Periode erneuert werden. Vor Ablauf der Schutzfrist ist der Eigentümer zu be-
nachrichtigen. Erfolgt keine Erneuerung, so ist die Marke zu streichen, darf aber
erst nach Ablauf eines Jahres für einen anderen neu eingetragen werden, es sei
denn, daß sie innerhalb der letzten 2 Jahre nıcht benutzt worden ist. Die Löschung
kann jederzeit auf Antrag erfolgen, wenn nachgewiesen wird, daß der Eigentümer
sie nicht benutzen wollte, oder innerhalb der letzten 5 Jahre nicht benutzt hat.
Die Eintragung einer Marke kann nach Ablauf von 7 Jahren nicht mehr ange-
fochten werden, es sei denn, daß sie durch Betrug erlangt war. Die Eintragung
einer Marke gibt dem Eigentümer das ausschließliche Benutzungerecht. Nicht
eingetragene Marken geben dies Recht nur, wenn sie vor 1897 bereits in Gebrauch
waren und ihre Eintragung abgelehnt worden ist.
V. Die Ausführung des Gesetzes und die Festsetzung der Gebühren liegt dem
Handelsamte ob.
VI. Die Spezialregister der Meßmacherinnung in Sheffield und der Patentamts-
abteilung in Manchester (für den Baumwollhandel) bleiben bestehen. Neueintra-
gungen sind auch im Hauptregister in London zu verzeichnen.
VII. Betrügerische Herbeiführung einer Eintragung wird strafrechtlich ver-
folgt. Fälschliche Bezeichnung eines Warenzeichens als „eingetragen“ wird mit
Geldstrafe bis zu 5 £ belegt. Besonders verboten ist die nicht autorisierte Ver-
wendung königlicher Wappen oder ähnlicher Abzeichen für Warenzeichen.
2) Einschränkung des Schankbetriebes in Irland.
Licensing (Ireland) Act, 1905, 5 Edw. 7, ch. 3.
Die bisher für einzelne Stunden des Weihnachtstages bestehenden Beschrän-
knngen des Schankbetriebes in Irland werden auf den ganzen Tag ausgedehnt.
3) Ergänzungsbestimmungen fürdie Wahlder Wiege-
kontrolleure in den Kohlengruben. Coal Mines (Weighing of
Minerals) Act, 1905, 5 Edw. G ch. 9.
Außer dem Wiegekontrolleur (check weigher) darf ein Stellvertreter gewählt
werden. Die Bergleute haben für sein Unterkommen, für Schreibgelegenheit und
Gewichte zu sorgen. Von jeder Wahl ist der Grubeneigentümer oder sein Vertreter
sogleich zu benachrichtigen. Das Wahlrecht wird auf alle Personen ausgedehnt,
die nach dem Gewichte der Kohlen entlohnt werden. Jede Wahl ist den Berechtigten
in geeigneter Weise vorher anzukündigen.
III. Verkehrswesen.
1) Einwanderungsgesetz. Aliens Act, 1905, 5. Edw. 7, ch. 13.
I. Regulierung der Einwanderung.
Einwanderer dürfen von Einwandererschiffen nur in Häfen gelandet werden,
in denen sich Einwandererbeamte befinden, und nur mit deren Erlaubnis. Gegen
Verweigerung der Erlaubnis steht dem Einwanderer und dem Schiffseigentümer
Nationalökonomische Gesetzgebung. 61
bezw. seinem Stellvertreter Berufung an das Einwanderungsamt des betr. Hafens
zu. Als unerwünschte Einwanderer gelten: wer nicht die nötigen Mittel hat oder
erlangen kann, um sich und seine Angehörigen angemessen zu erhalten; wer geistes-
paor idiotisch oder so krank ist, daß er voraussichtlich der Armenpflege zur
st fällt oder sonst Schaden anrichten kann; wer in einem fremden Staat, mit dem
ein Auslieferungsvertrag besteht, wegen einer nicht politischen, die Auslieferung
rechtfertigenden Straftat verurteilt ist; gegen wen bereits früher ein Ausweisungs-
befehl auf Grund dieses Gesetzes ergangen ist. Wegen unzureichender Mittel darf
nicht zurückgewiesen werden: wer einwandert, um sich gegen Strafverfolgung wegen
politischer oder religiöser Straftat oder gegen Verfolgung und Lebensgefahr aus
religiösen Gründen zu schützen; wer in einem fremden Lande von der Einwande-
rung zurückgewiesen wurde, sofern er unmittelbar vorher mindestens 6 Monate in
England gelebt hat, und wer in England als Sohn eines Engländers geboren
worden ist.
Der Staatssekretär kann Einwandererschiffe widerruflich von diesen Vorschriften
befreien, wenn von ihnen keine Landung unerwünschter Einwanderer (außer auf
der Durchreise) zu erwarten steht.
Strafbar ist, wer entgegen dem Gesetze einwandert oder Einwanderer landet.
Das Einwanderungsamt jedes Hafens hat aus 3 Personen zu bestehen ; nähere
Vorschrift auch bezüglich des Verfahrens erläßt der Staatssekretär.
II. Ausweisung unerwünschter Einwanderer.
Der Staatssekretär kann einen Ausweisungsbefehl erlassen gegen einen Ein-
wanderer, wenn er von einem Gerichtshof zu Gefängnis verurteilt ist und dieser
seine Ausweisung empfohlen hat, oder wenn innerhalb 12 Monaten nach der
Einwanderung ein Gerichtshof erweist, daß er 3 Monate ohne Subsistenzmittel
war, oder wenn er in einem fremden Staate wegen einer die Auslieferung recht-
fertigenden nicht politischen Straftat verurteilt war, sofern er nach Erlaß dieses
Gesetzes eingewandert ist. Die Kosten der Ausweisung kann der Staatssekretär
übernehmen; erfolgt sie innerhalb 6 Monaten nach der Einwanderung, hat der
Kapitän die Auslagen zu ersetzen und den Ausgewiesenen nach dem Einschiffungs-
baten zurückzubringen.
III. Allgemeine Bestimmungen.
Jeder Schiffskapitän, der im Vereinigten Königreich Einwanderer landet oder
einschifft, hat nach näherer Vorschrift den Behörden die erforderlichen Angaben
zu machen.
Uebertretungen des Gesetzes und falsche Angaben sind strafbar.
Als Einwanderer gelten nur Zwischendeckspassagiere mit Ausnahme derjenigen,
dıe das Vereinigte Königreich nur auf der Durchreise berühren. Als Einwanderer-
schiffe gelten nur solche, die mindestens 20 Einwanderer an Bord haben. Die
Auslegung des Gesetzes steht dem Staatssekretär zu.
Das Gesetz tritt am 1. Januar 1906 in Kraft.
2) Haftung der Eisenbahnen für Feuerschäden. Railway
Fires Act, 1905, 5 Edw. 7, ch. 11.
Die Eisenbahngesellschaften haften für Feuerschäden, die von Lokomotiven
auf Feldern oder ın Waldungen angerichtet werden, wofern binnen 7 Tagen An-
zeige erfolgt ist.
3) Haftung der Reeder für Unfälle. Shipowners’ Negli-
gence (Remedies) Act, 1905, 5 Edw. 7, ch. 10.
Erleidet jemand in einem Hafen des Ey e Königreichs an seiner Person
Schaden auf einem oder durch ein Schiff oder durch Nachlässigkeit des Reeders,
Kapitäns oder der Mannschaft, so kann das Schiff, wenn es sich in einem Hafen.
einem Fluß des Vereinigten Königreichs oder innerhalb drei Seemeilen befindet,
von jedem Richter bis zur Sicherheitsleistung beschlagnahmt werden, wenn ihm die
Haftung des Reeders wahrscheinlich gemacht wird und keiner der Reeder im Ver-
einigten Königreich seinen Wohnsitz hat.
4) Vergl. VI. 1.
62 Nationalökonomische Gesetzgebung.
IV. Agrarpolitik.
Vergl. oben 1, 3. x
V. Sozialpolitik.
1) Organisationder Arbeitslosenunterstützung. Unem-
ployed Workmen Act, 1905, 5 Edw. 7, ch. 18.
Auf Anordnung der Zentralbehörde (Local Government Board) sind in allen
Distrikten Londons und allen Landgemeinden und Städten mit mehr als 50000
Einwohnern (auf Antrag auch in Orten mit weniger als 50000, aber mehr als
10000 Einwohnern) Notstandskommissionen einzurichten, die sich aus Mitgliedern
der Gemeinde- und Armenverwaltung zusammensetzen. Die Kommissionen haben
sich mit den Arbeitsverhältnissen ihres Bezirkes zu beschäftigen. Arbeitslosen, die
ohne Verschulden keine Arbeit erlangen können und für die Armenpflege nicht
eeignet erscheinen, sollen sie Arbeit zu verschaffen suchen. Zur Unterstützung
er Kommissionen werden in London und den Provinzen Zentralkommissionen ge-
bildet, die Uebersichten über den Arbeitsmarkt zu führen und den Kommissionen
mitzuteilen haben. Die Zentralkommissionen können auch die Uebersiedelung des
Arbeitslosen und seiner Angehörigen nach anderen Plätzen veranlassen oder ge-
eignete Notstandsarbeiten einrichten, wozu sie auch Land erwerben dürfen. Die
Kosten sind durch freiwillige Stiftungen und Beiträge der Kommunen, die nicht
mehr als 1 d auf das £ steuerbaren Wertes betragen dürfen, zu decken. Unter-
stützung unter diesem Gesetze nimmt dem Empfänger nicht das
Stimmrecht in der Staats-, Gemeinde- und Kirchenverwaltung.
Die Regelung des Verfahrens und alle weiteren Ausführungen liegen der
Zentralbehörde ob.
Das Gesetz tritt sofort in Kraft, aber nur für die Dauer von 3 Jahren.
2) Vergl. oben II, 3.
VI. Kolonialpolitik.
1) Eisenbahnbau in Indien. East India Loans (Railways)
Act, 1905, 5 Edw. 7, ch. 19.
Der Staatssekretär für Indien wird ermächtigt, bis zu 20 Mill. £ aufzunehmen
für Zwecke des Eisenbahnbaues in Indien durch den Staat oder durch Gesellschaften.
Miszellen. 63
Miszellen.
I.
Die Entlastung der öffentlichen Armenpflege dureh die
Arbeiterversicherung.
Von David Grünspecht.
Inhaltsverzeichnis. Teil I. Einleitung. $& 1. Allgemeine Einleitung.
$ 2. Ueber die Erhebungen des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit
und des Reichsamts des Innern und die Frage der Zu- und Abnahme der Armenlasten.
$ 3. Allgemeines über die Einwirkung der Arbeiterversicherung auf die öffentliche
Armenpflege.
Teil II. Die Einwirkung der Arbeiterversicherung auf die Armenpflege.
$ 1. Krankenversicherung und Armenpflege. § 2. Unfallversicherung und Armenpflege.
$ 3. Invaliditäts- und Altersversicherung und Armenpflege.
Teil III. Schluß. Der Ausbau der bestehenden Arbeiterversicherung zum Zwecke
weitgehenderer Entlastung der Armenpflege.
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Leipzig 1905.
Miszellen. 65
Teil I
i
Die Armenverbände haben nach dem Gesetze vom 6. Juni 1870
die Verpflichtung, alle Personen, die in ihrem Bezirke „hilfsbedürftig“
werden, zu unterstützen. Durch die drei sozialpolitischen Gesetze, das
Krankenversicherungsgesetz, die Unfallversicherungsgesetze und das
Invalidenversicherungsgesetz, die wir unter dem Namen Arbeiterver-
sicherungsgesetze zusammenfassen, werden nun für hervorragende Gründe
der „Hilfsbedürftigkeit“ im Wege der Versicherung Vorkehrungen ge-
troffen. Diese sozialpolitische Gesetzgebung verfolgt ja vornehmlich
den Zweck, die arbeitende Klasse gegen die Gefahr der Erwerbs-
unfähigkeit zu schützen, herbeigeführt durch Alter, Unfall oder Invali-
dität. Sie soll somit vorbeugend wirken gegen einen Zustand, in dem
Tausende und Abertausende Angehöriger jener Volksschichten der Sorge
der Armenpflege anheimfallen. Es müssen somit zwischen Armenpflege
und Arbeiterversicherung Beziehungen bestehen, die zu ergründen der
Zweck folgender Ausführungen sein soll.
Oberflächliche Beobachter erkennen in der fast überall stetig zu-
nehmenden Armenlast den „sicheren“ Beweis dafür, daß die Arbeiter-
versicherung nicht ihren Zweck erreicht hat. Sie gehen bei dieser Be-
urteilung also von der Annahme aus, Arbeiterversicherung und Armen-
pflege seien zwei kommunizierende Gefäße, dergestalt, daß die Mittel der
einen Institution, ein Zufluß, den sie erhält, sich zahlenmäßig ausdrück-
bar (in einem bestimmten Verhältnisse) der anderen mitteilen müßten.
Unzweifelbaft steht fest, daß trotz der Wirksamkeit der Arbeiterver-
sicherung die Ausgaben für die Armenpflege in den letzten Jahrzehnten
fast überall im Steigen begriffen sind, und es dürfte verlohnen, bei
dieser auffallenden Tatsache etwas zu verweilen, dient sie doch gerade
dazu, jeden entlastenden Einfluß der Arbeiterversicherung auf die öffent-
liche Armenpflege zu negieren.
§ 2.
Um die Wechselwirkung von Arbeiterversicherung und Armenpflege
kennen zu lernen, sind bereits zwei umfangreiche Erhebungen veran-
staltet worden. Der Deutsche Verein für Armenpflege und Wohltätig-
keit ist dieser Frage in seiner Erhebung vom Jahre 1894 näher ge-
treten. Ihm gebührt das Verdienst, diesem Gegenstande frühzeitig -
seine Aufmerksamkeit geschenkt und hierdurch vor allem den Anstoß
dazu gegeben zu haben, daß das Reichsamt des Innern im Jahre 1895
eine Enquete veranstaltete, deren Ergebnisse — vom Kaiserlichen
Statistischen Amt bearbeitet — 1897 veröffentlicht wurden.
Diese Erhebungen können jedoch für unser Problem keineswegs
Befriedigendes leisten, ist doch hier, abgesehen von den Mängeln jeder
derartigen Veranstaltung, der Verschiedenartigkeit der Zählung in
mancherlei Beziehung der denkbar weiteste Spielraum gelassen, ein
Umstand, der den Ueberblick erschweren, das Urteil trüben muß, Sagt
doch das Reichsamt des Innern selbst über seine Erhebung, „daß zur
Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII). 5
66 Miszellen.
Beantwortung der Frage, inwieweit die Versicherungsgesetzgebung auf
die Armenpflege eingewirkt habe, ihr nur ein geringer Anhalt zu ent-
nehmen sei“. Es ist somit einem Urteil, das sich nur auf jene Zahlen
stützt, wenig Gewicht beizumessen. Ich möchte an dieser Stelle einen
derartigen Versuch des amerikanischen Professors W. Farnam erwähnen,
der in der von ihm redigierten Yale Review mit N. Pinkus über dieses
Problem polemisiert. „Die offizielle Zusammenfassung der Enquete von
1895 behaupte, so sagt — frei übersetzt — Farnam, der weitaus größte
Teil der befragten Armenverwaltungen konstatiere, daß die Arbeiterver-
sicherung auf die Armenpflege entlastend eingewirkt habe; jedoch zeigt
uns eine genaue Zählung, daß von der Totalzahl der eingegangenen
Antworten 44 Proz. eine einfache Bejahung geben u. s. w. ... Doch
wenn wir fragen, ob eine Verminderung in der Summe der Aufwendungen
eingetreten ist, so finden wir, daß 160 von 276, also 58 Proz., keine
solche Abnahme feststellen können . . .“
Hiermit glaubt Farnam die optimistischen Anschauungen des Reichs-
amts des Innern endgültig und schlagend aus seinen eigenen Auf-
stellungen heraus widerlegt zu haben. Wie irreleitend eine derartige
Beweisführung sein kann, wurde bereits einleitend hervorgehoben, sie
geht auch — rein mathematisch betrachtet — aus der falschen Vor-
aussetzung hervor, alle Antworten als absolut gleichwertig zu betrachten.
Um die Resultate einer Erhebung einer mathematischen Berechnung zu
Grunde legen zu können, müßte man zuerst jede einzelne Zahl mit einem
Faktor versehen, der das ihr zukommende „Gewicht“ zum Ausdruck
bringen sollte; ein Beginnen, das augentällig den Stempel des Unaus-
führbaren in sich trägt.
Es sollte uns zuerst die Frage interessieren, worin die erwähnte Ver-
mehrung der Armenlasten ihren Grund hat. In den Antwortschreiben
der bei den Erhebungen beteiligten Armenverwaltungen sind die ver-
schiedensten Ursachen hierfür angegeben.
Die Aufwendungen der Armenverwaltungen sind naturgemäß von
der in den letzten Dezennien eingetretenen Teuerung der Lebensmittel
stark beeinflußt worden. Wenngleich wir zu weit gehen würden, wenn
wir annähmen, überall sei der Gedanke zum Siege gekommen, intolge
dieser Preissteigerung sei eine Erhöhung der einzelnen Armenunter-
stützung unerläßlich, so muß doch beim Budget der geschlossenen
Armenpflege — wie im privaten Haushalte — diese Verteuerung unbe-
dingt zum Ausdrucke kommen. In Fulda haben sich nach amtlicher
Aufstellung in den letzten 25 Jahren die Fleischpreise durchschnittlich
gerade um 331/, Proz. erhöht (s. Tabelle 1 S. 67).
Dies bedeutet für die Ausgaben der dortigen Armenverwaltung um
so mehr, als gerade die Naturalunterstützungen in ihren Etats den größten
Rauın einnehmen. Es war zuerst in Elberfeld, wo die Armendeputation —
in der richtigen Erwägung, daß die Armen mit den bisher gewährten
Unterstützungen bei den veränderten Verhältnissen keineswegs mehr
das Allernötigste bestreiten könnten — vom 1. Januar 1891 ab eine
Erhöhung jeder Armenleistung um 17 Proz. eintreten ließ. Manche
anderen Städte sind diesem guten Beispiele gefolgt. Oldenburgs Armen-
verwaltung erklärt z. B. — frei zitiert — die Erhöhung der Armenunter-
Miszellen. 67
Tabelle 1.
Die Fleischpreise in Fulda während der letzten 25 Jahre
1880—1905.
(Kilo.)
Jans 1 rn 2 Kalbfleisch | Hammelfleisch | Schweinefleisch
M. | Pfg. | M. | Pf. | M. | Pig. | M. | Pe. | M. | Pig.
1830 ı | r Ih 2 1,02 = 59 = 98 I 25
1885 1 | 22 ı | 10 — | 75 1 10 I 30
1890 I 32 I 20 — 95 I 16 I 45
1895 1 40 I | 24 I 16 I 20 I 30
1900 I 32 1 10 I 20 I Io I 25
1903 I 45 I | 20 I 40 I 25 I 45
1905 1 65 I 45 I 40 I 35 I 55
stützungen trete um so lieber ein, als die Arbeiterversicherung eine
weitere Zunahme der Armenlasten verhindere; wohingegen Berlin, dessen
Armenverwaltung für das Jahr 1891/92 eine Erhöhung der Almosen und
Pflegegelder um insgesamt 344 730 M. hat eintreten lassen, den Zusammen-
hang mit einer Entlastung durch die Arbeiterversicherung abstreitet.
Sicher sind die Armenverwaltungen nur durch die Arbeiterver-
sicherung in den Stand gesetzt worden, in freierer Bewegung die ein-
gehenden Unterstützungsgesuche zu behandeln, „was ihnen bei der
größten Liberalität nicht möglich gewesen wäre, hätte der Armenetat
das Bild der Belastung geboten, das er ohne die Einwirkung der Ar-
beiterversicherung hätte haben müssen“ !). „Ist vorher trotz Armenpflege
viele Not nicht behoben worden, so ist der Armenpflege jetzt die Mög-
lichkeit gegeben, intensiver zu arbeiten, die Versicherungsrenteneinkommen
zu ergänzen und nicht mehr bloß die Hungrigen zu befriedigen, sondern
dazu auch bessere Wohnung und Kleidung zu schaffen“ 2).
Auch auf die Organe der Armenpflege selbst hat die Sozialgesetz-
gebung rückgewirkt: „Das lebhafter gewordene Pflichtgefühl gegenüber
den unbemittelten Klassen, welches zum Erlaß der sozialpolitischen Ge-
setze führte, macht sich auch bei einem Teil der Träger der hiesigen
Armenpflege geltend und findet seinen Ausdruck in der auskömmlicheren
Bemessung mancher Unterstützung.“ (Armenverwaltung Wiesbaden in
der Erhebung des „Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätig-
keit“ 1894.)
Die Zunahme der unehelichen Geburten wird auch vereinzelt als
Grund für die Erhöhung der Armenlasten angeführt; jedoch die Vor-
aussetzung trifft außer für einige Orte noch höchstens für Bayern zu,
wo eine, wenn auch geringe, Zunahme der unehelichen Geburten im
Berichtsdezennium zu verzeichnen war — und zwar von 13,3 Proz. auf
14,1 Proz., während im Reiche die Zahl der unehelichen Geburten von
9,5 Proz. auf 9 Proz. sämtlicher Geburten herabging.
Mehr Gewicht ist dem Umstande beizumessen, daß das preußische
1) Dr. Freund in Heft 21 der Schriften des „Deutschen Vereins für Armenpflege
und Wohltätigkeit‘“.
2) Zwiedineck-Südenhorst, Arbeiterschutz und Arbeiterversicherung. Leipzig 1905.
5*
Ə
68 Miszellen.
Gesetz vom 11. Juli 1891 „Abänderung des Gesetzes zur Ausführung
des Gesetzes über den Unterstützungswohnsitz vom 8. März 1871“ die
Landarmenverbände verpflichtet, für die Bewachung, Kur und Pflege
der hilfsbedürftigen Geisteskranken, Idioten, Epileptiker, Taubstummen
und Blinden, sobald sie der Anstaltspflege bedürfen, in geeigneten An-
stalten Fürsorge zu treffen. Hiernach mußten beispielsweise in Schlesien
1893/94 nicht weniger als 899 derartige Unterstützungsbedürftige mit
einem Kostenaufwande von 92664 M. in Anstalten untergebracht werden.
Am meisten wird wohl die Armenverwaltung der Städte belastet
durch den Zuzug Arbeitsuchender. Die ländlichen Arbeiter blicken
neidisch auf die höheren Löhne, die die Arbeiterschaft der Städte be-
zieht; sie sind sich jedoch nicht bewußt, daß auch deren Ausgaben ent-
sprechend höher sind. Uebereilterweise verlassen sie mit Kind und
Kegel die ländliche Heimat, und nur zu oft bereuen sie bitter das, was
sie getan. Sie finden, da sie sehr bescheidene Ansprüche stellen, wohl
Arbeit, solange durch günstige Konjunkturen viel Arbeitskräfte in der
Stadt gebraucht werden. Es tritt ein Rückschlag ein — Beschäftigungs-
losigkeit der weniger tüchtigen, minder geübten Arbeiter ist die Folge.
Aber die Ausgaben gehen trotz mangelnden Einkommens weiter. Die
Armenpflege wird angerufen, sie muß eingreifen — eine schwere Belastung
ihrer Etats ist herbeigeführt. Sehr oft aber ist Krankheit des Arbeits-
losen oder seiner Angehörigen eine Folge der schlechteren Ernährung,
eine Ursache dauernder Inanspruchnahme der öffentlichen Armenpflege.
Es dürfte sogar vorkommen, daß die höheren Leistungen der Armen-
pflege in den Städten den Zuzug begünstigen. So strömt die arme
Rhönbevölkerung nach Fulda herein, und man kann fast mit Bestimmt-
heit annehmen, daß, wenn sie 2 Jahre in der Stadt wohnt, den gesetz-
lichen Unterstützungswohnsitz erworben hat, auch von diesem erlangten
Rechte ausgiebigsten Gebrauch macht. Sie rechnet hierbei auf die ihr
bekannte Liberalität der Armenverwaltung, die wohl hauptsächlich
darauf beruhte, daß die Stadt nur verhältnismäßig geringe Zuschüsse
zur Generalarmenkasse zu leisten hatte, die bis vor einigen Jahren ihre
Ausgaben mindestens zur Hälfte aus den Zinseinkünften größerer
Stiftungen bestritt. Das Fallen der Kurse mehrerer Wertpapiere —
Hand in Hand mit der Verteuerung der Lebensmittel — haben nun-
mehr darin auch Wandel geschaffen.
Gegen die Arbeiterversicherung wird von seiten einiger Ärmenver-
waltungen der Vorwurf erhoben, sie habe in manchen Fällen auf die
Armenpflege belastend rückgewirkt:
1) Der nicht versicherte Arbeiter, insbesondere die nicht versicherte
Familie des Versicherten, erkennen den wohltätigen Einfluß sofortiger
ärztlicher Hilfe, vor allem auch in den Fällen, in denen sie dieselbe
früher nicht in Anspruch zu nehmen gewohnt waren. Sie verlangen
von der Armenpflege ein rechtzeitiges Eingreifen und eine gründliche
und geordnete Durchführung der Krankenpflege. Nicht zu vergessen
sind hierbei diejenigen Personen, welche die Wohltaten der Versiche-
rung genossen haben, die aber, einerlei aus welchen Gründen, aus dem
versicherungspflichtigen Berufe und wohl immer — da ihnen Trieb und
Mittel zur „Weiterversicherung“ fehlten — auch aus der Versicherung
Miszellen. 69
selbst ausgeschieden sind. Sie dürften nicht die letzten sein, die im
Falle einer Erkrankung vor die Armenverwaltung mit dem bestimmten
Verlangen nach Bewilligung eines Arztes und Gewährung intensiver
Krankenpflege hintreten. Der Armenverband Colmar!) äußert hierzu
folgendes: „Die Krankenversicherung hatte auch die an sich recht gute
Folge, daß die Arbeiter sich mehr an die Zuziehung ärztlicher Hilfe
bei Erkrankungen in ihrer Familie gewöhnten. Für die hierdurch er-
wachsenden Ausgaben hatte die Armenpflege dann aufzukommen. Die
durch die Versicherung der Häupter eingetretene Ersparnis wurde durch
die Erweiterung des Kreises der Armenkrankenpflege somit mehr wie
aufgewogen. Die Armenkrankenpflege mußte infolge der starken Inan-
spruchnahme seitens der Arbeiter für ihre Familien völlig umgewandelt
werden, eine Umwandlung, welche die Verdoppelung der diesbezüg-
lichen Ausgaben im Gefolge hatte“. Wir dürfen wohl mit Colmar diesen
„belastenden Einfluß der Krankenversicherung“ als eine „gute Folge“
der Arbeiterversicherung bezeichnen, und wir können nur wünschen,
daß diese Erkenntnis — selbst mit noch größeren Opfern der Armen-
verwaltungen — sich immer mehr ausbreiten möchte, zum Wohle unserer
Arbeiterschaft und zum Segen für das Vaterland!
2) Die höheren Leistungen der Arbeiterversicherung veranlassen
viele, die bereits unterstützt worden sind, mehr als bisher zu verlangen,
andere, auch um eine Unterstützung einzukommen. In der Erhebung
des „Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit“ charakte-
risieren zwei kleine Verbände diesen belastenden Einfluß der Arbeiter-
versicherung, indem sie von einer Begehrlichkeit der beteiligten Kreise
sprechen, durch welche der Druck auf die Armenverwaltung überhaupt
und auch mehr zu gewähren, gewachsen sei. Psychologisch erklärlich
ist es, daß die Leistungen der Arbeiterversicherung die „beteiligten
Kreise“ veranlassen, sich auch entsprechende Unterstützungen, sei es in
Form einer Rente der Arbeiterversicherung selbst oder als Leistung
der Armenpflege zu verschaffen. Jedoch liegt hierin noch nicht ohne
weiteres die Gefahr der „Mehrbelastung“ der Armenpflege; d. h.
„Mehrbelastung“ in Bezug auf ihre Ausgaben. Eine Mehrbelastung ihrer
Organe durch eine größere Zahl eingehender Gesuche dürfte meines
Erachtens die einzige belastende Rückwirkung der Arbeiterversicherung
auf die Armenpflege sein. Bei gewissenhafter Prüfung der Berech-
tigung jedes Gesuches wird eine weise Armenpflege der beregten Ge-
fahr schon aus dem Wege zu gehen wissen.
Es muß noch davor gewarnt werden, eine Abnahme in der Summe
der Aufwendungen der Armenverwaltungen ohne weiteres auf das
Konto der Arbeiterversicherung zu setzen. Es können hierfür auch
Gründe zur Geltung kommen, die ganz außerhalb der Arbeiterver-
sicherung liegen. In manchen Armenverbänden sollen Organisations-
änderungen die Ursache des Rückgangs der Ausgaben sein; meist
handelt es sich in solchen Fällen um die Einführung des „Elberfelder
Systems“. Günstige Lage des Arbeitsmarktes, auch milde Winter
mindern sehr die Zahl der Beschäftigungslosen und ersparen der
1) Schriften des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit, Heft 21.
70 Miszellen.
Armenpflege somit manches Opfer. In Industriestädten unmittelbar
benachbarten Landgemeinden mag wohl in der Verbesserung der Kom-
munikationsmittel und der hierdurch herbeigeführten größeren Gelegen-
heit zu lohnender Arbeit die Ursache eines Rückgangs der Belastung
der Armenpflege zu suchen sein. Einen deutlichen Beweis hierfür
liefert die nähere Umgebung Fuldas: Manche kommunale Armenhäuser
sind leer, einige sind sogar niedergerissen; hingegen sieht man in jenen
Orten massive Häuser entstehen, deren Besitzer früher die ländlichen
Armen bildeten, jetzt aber durch den höheren und gleichmäßigen Ver-
dienst in der Stadt in den Stand gesetzt sind, sich durch ihrer Hände
Arbeit zu einer gewissen Wohlhabenheit emporzuschwingen.
§ 3.
Unter den einzelnen Arten der Versicherung finden wir — selbst
noch verschieden in Städten und auf dem platten Lande — in Bezug auf
ihre Einwirkung auf die Armenpflege die größten Verschiedenheiten.
In den Städten, vor allem den Großstädten, tritt dieser Einfluß am
stärksten in die Erscheinung, wohnen doch in ihnen Tausende und
Abertausende versicherungspflichtiger Personen. (Die freiwillig Ver-
sicherten kommen wohl kaum in Betracht, da sie in zu geringer An-
zahl vorhanden und gewöhnlich in verhältnismäßig besserer Vermögens-
lage sind.) Der großstädtische Arbeiter bezieht fast durchweg einen
höheren Lohn als der kleinstädtische, jedoch seine Ausgaben (vor allem
für Miete) sind auch bedeutend größer.
Das statistische Amt der Stadt Leipzig hat für das Jahr 1900
folgende Prozente des Anteils der Miete am Einkommen festgestellt:
23 Proz. bei den Einkommensklassen bis 1100 M.
19,30 u n»n » ” 1100— 2200 „,
19,02 n »n n 2200—2400 „u. f.
Wenngleich es erst spezieller Untersuchungen bedürfte — die für
manche Orte sicherlich ganz andere Verhältniszahlen liefern würden —
ehe man die obigen statistischen Angaben verallgemeinern, als Regel
erklären könnte, so darf man wohl als feststehend annehmen, daß es
viele, viele Städte gibt, in denen die Arbeiter in ähnlicher Weise durch
die Ausgaben für Miete belastet, ja überlastet sind. Sicher ist jeden-
falls, daß in Großstädten der Arbeiter meist sonnenlose Hinterhäuser,
unfreundliche Keller- und Mansardenwohnungen innehat, die oft nur
aus einem einzigen Raum bestehen, dessen Wert in sittlicher und
sanitärer Hinsicht durch Schlafstellenvermieten, Heimarbeit u. s. w.
noch bedeutend herabgedrückt wird. Außer diesen ungesunden Woh-
nungsverhältnissen wirkt auch das ganze Getriebe der Großstadt, durch
ihre Verlockungen zur Ausschweitung, ihren großen Entfernungen mit,
- den großstädtischen Arbeiter leichter zu erschöpfen und eher . aufzu-
reiben als den kleinstädtischen. Den in Großstädten bedeutend erhöhten
Lebensansprüchen kann die Arbeiterversicherung nicht genügend Rech-
nung tragen, deshalb erfordern die Leistungen derselben in den großen
Städten oft das ergänzende Eingreifen der Armenpflege.
In mittleren und kleineren Städten sind die Arbeiter meist in
einigen wenigen größeren Etablissements vereinigt, die schon zum Teil
Miszellen. 71
vor dem Erlaß der Arbeiterversicherungsgesetze ihre Arbeiter gegen
Krankheit und auch gegen Unfall versichert hatten, so daß im Budget
der Armenpflege in jenen Orten schon vor unserer Sozialgesetzgebung
sich ähnliche Einflüsse geltend machten.
Auf dem platten Lande mit vorwiegend landwirtschaftlicher Be-
völkerung gibt es überhaupt noch keinen allgemeinen Versicherungs-
zwang, was die Verfolgung des Einflusses bedeutend erschwert.
Für die Beurteilung am wichtigsten, und der Feststellung des ent-
lastenden Einflusses der Arbeiterversicherung auf die Armenpflege am
meisten widerstrebend ist der Umstand, daß die von den beiden Insti-
tutionen, der Arbeiterversicherung einerseits und der Armenpflege ander-
seits, erfaßten Personenkreise keineswegs identisch sind. Arbeiterversiche-
rung und Armenpflege haben wohl unverkennbar enge Beziehungen zuein-
ander, jedoch wenn auch der Motivenbericht zu dem ersten im Jahre
1881 dem deutschen Reichstage unterbreiteten Gesetzesentwurf betont,
„es handele sich bei den Maßnahmen, welche zur Besserung der Lage der
besitzIosen Klassen ergriffen werden können, nur um eine weitere Ent-
wickelung der Idee, welche der staatlichen Armenpflege zu Grunde liegt“,
so ist gerade die grundverschiedene Tendenz der beiden Institutionen
die Ursache der mangelnden Identität der von beiden erfaßten Personen-
kreise. Leistet doch die Arbeiterversicherung lediglich für einen durch
größere oder geringere Erwerbsunfähigkeit herbeigeführten Rückgang
oder Wegfall des Einkommens Ersatz, oder sichert sie in der Alters-
versicherung den „Veteranen der Arbeit“ ein Auskommen im Greisen-
alter, so ist die Armenpflege berufen, allen denjenigen helfend die Hand
zu reichen, die — einerlei aus welchen Gründen — entweder gar kein
oder nur ein unzureichendes Einkommen besitzen. Somit dürfte ein
Armenverband gar nicht mit Unrecht betonen, daß „die Leistungen, der
, auf Grund der sozialpolitischen Gesetze ins Leben gerufenen verschiedenen
Kassen zumeist anderen Kategorien von Leuten zu gute kommen, als den-
jenigen, aus welchen sich die Kostgänger der Armenpflege rekrutieren.“
Teil IL
8.
Von allen Zweigen der Arbeiterversicherung hat die Kranken-
versicherung zweifellos am meisten einen entlastenden Einfluß auf
die Armenpflege ausgeübt. „Die Krankheitskosten wirken für die
Familienwirtschaft wie die Kriege und ähnliches für die Staatswirt-
schaft. Sie kommen unregelmäßig und unerwartet; das gewöhnliche
Budget ist nicht für sie eingerichtet!).“ Erhöhte Ausgaben bei mangeln-
dem Einkommen zwingen die Beteiligten in einer großen Zahl der Fälle,
die Hilfe der öffentlichen Armenpflege in Anspruch zu nehmen. Sehr
bedeutend ist daher die Zahl der wegen „Krankheit“ aus Armenmitteln
Unterstützten. Sie machen fast überall mehr als !/, aller Armenpfleg-
linge aus. Somit ist es einleuchtend, daß sich hier gerade ein Feld
bot für eine bedeutende, nachhaltige Entlastung der Armenpflege durch
1) Schmoller, G., Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre. 2. Teil.
Leipzig 1904.
72 Miszellen.
die Arbeiterversicherung. Treffendes hierzu führten schon die Motive
zum Krankenversicherungsgesetz aus:
„Die Verarmung zahlreicher Arbeiterfamilien hat ihren Grund darin,
daß sie in Zeiten der Krankheit ihrer Ernährer eine ausreichende Unter-
stützung nicht erhalten. Sind diese, weil gegen Krankheit nicht ver-
sichert, auf die öffentliche Armenpflege angewiesen, so erhalten sie eine
Unterstützung in der Regel erst dann, wenn alles, was sie an Erspar-
nissen, an häuslicher Einrichtung, Arbeitsgerät und Kleidungsstücken
besitzen, für die Krankenpflege und den notdürftigsten Unterhalt der
Familie geopfert ist. Und selbst dann, wenn die Armenpflege mit ihrer
Hilfe früher eintritt oder der Erkrankte einer Krankenkasse angehört, ist
die Unterstützung meistens so ungenügend, daß sie eine ausreichende Pilege
des Kranken nicht ermöglicht und den Ruin seiner Wirtschaft nicht zu
verhindern vermag. Bei vielen Arbeitern ist daher eine ernstliche Krank-
heit die Quelle einer Minderung der Erwerbsfähigkeit, wenn nicht völliger
Erwerbsunfähigkeit für die ganze Lebenszeit; und selbst diejenigen,
welche ihre volle Erwerbsfähigkeit wiedererlangen, können meist nur
durch jahrelange Anstrengung und Entbehrung das während der Krank-
heit Verlorene soweit ersetzen. Dazu fehlt aber der Mehrzahl unserer
Arbeiter die erforderliche Energie und Umsicht. Eine durch Krankheit
und namentlich durch wiederholte Krankheit heruntergekommene Ar-
beiterfamilie gelangt daher nur selten wieder zu geordneten wirtschaft-
lichen Verhältnissen. Die Zahl der Arbeiterfamilien sowie der Witwen
und Waisen, welche der Not und der öffentlichen Armenpflege dauernd
anheimfallen, weil ihre Wirtschaft durch mangelhafte Unterstützung in
Krankheitszeiten zerrüttet, oder ihr Ernährer infolge mangelhafter Pflege
erwerbsunfähig geworden oder gestorben ist, dürfte größer sein als die
Zahl derjenigen, welche durch die Folgen von Unfällen bedürftig werden.“
Der Einfluß der staatlichen Krankenversicherung wird sich nicht
nur bei der offenen und geschlossenen Krankenpflege, sondern vor allem
auch beim Beerdigungswesen bemerkbar machen müssen. Die für uns
maßgebendsten Armenverbände, diejenigen der Großstädte, äußern sich
über diesen Punkt fast alle übereinstimmend, indem sie „einen sehr
wesentlichen Einfluß der Krankenversicherung anerkennen“. Niemand
wird leugnen, daß die bedeutenden Aufwendungen der Krankenkassen
manche Arbeitskraft gerettet, hierdurch manchen, der sonst dem Siech-
tum verfallen, vor der dauernden Inanspruchnahme der Armenpflege
bewahrt haben. Die durch die Institutionen der staatlichen Kranken-
versicherung weiten Volkskreisen gewährte ärztliche Hilfe, die be-
willigten Heilmittel, die ermöglichte Herausnahme Kranker aus ärmlich
eingerichteten, ungesunden Wohnungen zum Zwecke gründlicher Be-
handlung in gesunden, bequem ausgestatteten und sachverständig ge-
leiteten Heilanstalten, die gewährten Krankenrenten für die Zeit der
Erwerbsunfähigkeit bis — seit 1903 — zur Dauer eines halben Jahres,
sollte dies alles der öffentlichen Armenpflege nicht manche Last von
den Schultern — als direkte Wirkung — genommen haben? Sollten
die beiden Milliarden, die bis 1903 schon für die genannten Zwecke
verausgabt waren, nicht mitgewirkt haben an der Hebung der Volks-
Miszellen. 73
gesundheit und somit mittelbar nicht entlastend auf die Armenpflege
eingewirkt haben durch Schwindenlassen mancher Verarmungsursache ?
Hervorzuheben ist vor allem ein nicht ziffernmälig feststellbarer,
doch sicherer vorbeugender Einfluß des Krankenversicherungsgesetzes.
Der Arbeiter gewöhnt sich daran, bei allen, auch den „leichten“ Er-
krankungen rechtzeitig ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen; und
gerade das rechtzeitige Eingreifen ärztlicher Kunst ist ja für den
Ausgang so mancher Krankheit von entscheidendem Einfluß. Nicht
zögern wird ein gegen Krankheit versicherter Arbeiter, wenn er sich
krank fühlt, die Arbeit einzustellen. Er wird nicht bis zur völligen
Erschöpfung seiner Kräfte arbeiten, sondern bestrebt sein, seine Gesund-
heit wiederherzustellen, ungeachtet des Ausfalles an Lohn, bestehend
in der Differenz seines früheren Tagelohnes und der Gesamtleistung der
Krankenkasse. Unter der Einwirkung der Arbeiterversicherung muß
somit ein gesünderes und widerstandsfühigeres Geschlecht heranwachsen,
eine Einwirkung, die erst nach Jahrzehnten voll und ganz in die Er-
scheinung treten wird. Die Wirkung der Krankenversicherung auf den
nichtversicherten Teil der ärmeren Bevölkerung wurde bereits erwähnt.
Es wird hier einem Uebel mit großen Opfern vorgebeugt, dessen Folgen
ungleich höhere Opfer gefordert haben würden.
Für den Einflaß der staatlichen Krankenversicherung in Sachsen
bietet der „Kalender und Statistisches Jahrbuch für das Königreich
Sachsen auf das Jahr 18941)“ folgende interessante Daten:
Die Gesamtzahl der infolge von Krankheit Unterstützten betrug‘
1880 25 070 Personen
1885 nur 21612 ed
1890 nur noch 18959 ĝ
Die Zahl der Selbstunterstützten infolge von Krankheit hat
sich folgendermaßen vermindert. Sie betrug:
1880 16 683 Personen
1885 14 741 ü und sank
1890 auf 12783
Der prozentuale Anteil der Ursache „Krankheit“ an der Gesamt-
unterstützungsziffer sank von
26,76 Proz. auf
24,3 „» bezw. auf
ZZi n
und an der Selbstunterstützungsziffer von
31,08 Proz. auf
27,71 „ bezw. auf
25,58 7
Beim Eingehen auf dauernde und vorübergehende Unterstützung
zigen die dauernd Unterstützten eine geringe Zunahme, während sich
nur für die vorübergehend Unterstützten sehr beträchtliche Abnahmen
der wegen Krankheit Unterstützten ergeben.
Dauernd Selbst- und Mitunterstützte:
9910 (1880)
10 029 (1885) und
10 103 (1590).
1) Kalender und Statistisches Jahrbuch für das Königreich Sachsen auf das Jahr
1894, Dresden 1893.
74 Miszellen.
Vorübergehend Selbst- und Mitunterstützte :
15 160 (1880)
11 583 (1885) und
8 856 (1890).
Dauernd Selbstunterstützte:
5742 (1880)
6315 (1885) und
6319 (1890).
Vorübergehend Selbst unterstützte :
10941 (1880)
8 426 (1885) und
6 464 (1890).
Um das obige Zahlenmaterial deutlicher, wirksamer zu gestalten,
möge noch folgende auf 10000 Einwohner des Königreichs Sachsen
bezogene Aufstellung folgen:
Wegen Krankheit
1) Dauernd Selbst- und Mitunterstützte:
1880 33,30
1885 31,50
1890 28,80.
2) Vorübergehend Selbst- und Mitunterstützte :
1880 51,00
1885 36,40
1890 25,30.
Diese auffallenden Verschiedenheiten erklären sich leicht, und gerade
sie bestätigen am deutlichsten die wohltuende, entlastende Einwirkung
der Arbeiterversicherung auf die Armenpflege. Der Grund dieses ver-
schiedenen Verhaltens ist darin zu finden, daß das Krankenversicherungs-
gesetz anfangs nur 13 Wochen Unterstützung vorschrieb, die länger -
Kranken der Sorge der Armenpflege überantwortend, die durch die-
selben lange und schwer belastet werden mußte.
Ziffernmäßig weist auch Berlin den entlastenden Einfluß des Kranken-
versicherungsgesetzes etwa folgendermaßen nach 1):
„Im Berichtsdezennium ist die Zahl der in die zwei städtischen
Krankenhäuser (am Friedrichshain und Moabit) aufgenommenen Kranken-
kassenmitglieder von 564 auf 4612 gestiegen, während im gleichen Zeit-
raume eine Abnahme der Zahl der Armen, welche der geschlossenen
Armenpflege anheimtielen, von 4592 auf 3196 eingetreten ist. Nach
Ablauf der statutarischen Unterhaltungspflicht der Kassen verbleiben
der Armenpflege noch 2,2 bis 2,3 Proz. der Kranken. Die.Zahl der
Hauskranken, welche die städtischen Bezirksarmenärzte in Anspruch
nehmen mußten, ist von 4,46 Proz. der Bevölkerung im Jahre 1883 auf
3,76 Proz. der Bevölkerung im Jahre 1893 zurückgegangen.“
Der Einfluß der staatlichen Krankenversicherung wurde stark ge-
trübt dadurch, daß schon vor Einführung des Versicherungszwanges ein
Teil der Arbeiter gegen Krankheit bei Fabrikkrankenkassen und Hilfs-
kassen auf Gegenseitigkeit versichert war. Seit 1876 konnte sogar durch
Ortsstatut — laut Gesetz vom 8. April 1876 — die Einrichtung von
1) Erhebung des Reichsamts des Innern, „Vierteljahrshefte zur Statistik des
Deutschen Reiches“, 1897, II.
Miszellen. 75
Hilfskassen angeordnet und auf demselben Wege auch ein Beitritts-
zwang für Arbeiter, die das 16. Lebensjahr überschritten haben, an-
geordnet werden. Ende 1876 waren in Deutschland bereits 5239 Kranken-
kassen mit 896000 Mitgliedern vorhanden. Die Mitgliederzahl nahm in
der Folgezeit, wohl beeinflußt durch das oben erwähnte Gesetz, sehr
stark zu, so daß man in Preußen allein im Jahre 1880 die Zahl der bei
Krankenkassen versicherten Arbeiter auf 1!/, Millionen Personen an-
schlug. Das Gesetz von 1876 hat somit wohl einigen Erfolg zu ver-
zeichnen gehabt — in einigen Gemeinden führte es sogar zur Zwangs-
versicherung aller Arbeiter gegen Krankheit — jedoch bis zur um-
fassenden Regelung dieser Materie bedurfte es noch einer geraumen
Zeit. Nachdem in Bayern schon über 14 Jahre eine Art obligatorischer
Krankenversicherung segensreich gewirkt, kam für unser ganzes Vater-
land am 15. Juni 1883 eine Zwangsversicherung gegen Krankheit für
die gewerblichen Arbeiter zu stande. Was dieses Krankenversicherungs-
gesetz für die Entlastung der Armenpflege leisten kann, bringt die Ar-
menverwaltung Elberfelds in ihrem Bericht an das Reichsamt des Innern
in folgenden interessanten Details zum Ausdruck:
1) Eine Familie, die aus Mann, Frau und 3 Kindern im Alter von
5, 3 und 1 Jahr bestehen möge, bedarf nach den Grundsätzen der
hiesigen Armenverwaltung zum notdürftigen Unterhalte pro Woche
9,90 M., welcher Betrag bei Krankheit des Mannes und gänzlich man-
gelndem Einkommen der Familie als Unterstützung zu gewähren wäre.
Ist nun der Mann versichert, so zahlt die Krankenkasse ein wöchent-
liches Krankengeld von 7 M. 50 Pf., so daß die Armenverwaltung nur
noch den überschießenden Betrag von 2,40 M. zu entrichten hat. Ferner
darf nicht außer acht gelassen werden, daß die Krankenkasse die Kosten
auch für Arznei und Arzt und die sogenannten „kleinen Heilmittel“
liquidiert, welche im anderen Falle der Armenverband zu tragen hätte.
2) Ueberweist nun die Kasse den erkrankten Ehemann dem Kranken-
hause, so wäre, da die Frau der kleinen Kinder wegen einem lohnenden
Erwerbe nicht nachgehen kann, der Familie eine Unterstützung von
7,40 M. zu gewähren. Die gesetzliche Familienunterstützung beträgt
nun die Hälfte des ursprünglichen Krankengeldes, also 3,75 M. wöchent-
lich. Die zu leistende Unterstützung der Armenpflege beträgt demnach
nur 3,65 M. für die Woche.
Solche und ähnliche Fälle kommen teils mehr, teils weniger vor. Ab-
hängig ist die größere oder geringere Entlastung von der Lage des Arbeits-
marktes, da bei Erwerbsstockung viele Arbeiter aus der Versicherung
ausgeschieden sind und nunmehr der Armenpflege allein anheimfallen,
Was den Einfluß der Krankenversicherung auf die Almosenpflege
betrifft, so läßt sich der Anteil, den sie an einer etwaigen Entlastung
trägt, schwer bestimmen, da hier Unfallversicherung und auch Invaliden-
versicherung konkurrieren.
Sicherlich hat die Krankenversicherung einen bedeutenden Einfluß
ausgeübt auf das Armenbeerdigungswesen. Die arbeitende Klasse —
die in den weitaus meisten Fällen von der Hand in den Mund lebt,
falls sie überhaupt ohne Unterstützung auskommen kann, auch alles für
das Allernötigste aufwenden muß — kann selten die größere Ausgabe
76 Miszellen.
für die Beerdigung eines Mitgliedes der Familie selbst tragen. Dies
trifft natürlich wohl immer da zu, wo eine längere Krankheit die letzten
Spargroschen der Familie aufgezehrt hat, gar, wo der Verstorbene der
Ernährer gewesen. Hier mußte die Armenpflege in einer großen Zahl
der Fälle eingreifen, indem sie die entstehenden, oft nicht unbedeutenden
Kosten auf sich übernahm. Die Krankenversicherung, die ihren Mit-
gliedern ein Sterbegeld gewährt, hat naturgemäß ganz beträchtliche Ver-
änderungen herbeiführen können. Aus den Berichten der einzelnen
Armenverwaltungen kann man mit großer Wahrscheinlichkeit in der
Abnahme der Armenbegräbnisse seit Wirksamkeit des Gesetzes den
Einfluß der Krankenversicherung erkennen. Die Tatsache, daß — sofort,
als in den Jahren 1891—1892 eine Erwerbsstockung eintrat, die zur
Folge hatte, daß viele Arbeiter aus der Versicherung ausschieden —
die Zahl der Armenbegräbnisse wieder stieg, spricht sehr für die Richtig-
keit unserer Ansicht (s. Tabelle 2).
Tabelle 2.
Armenbeerdigungen. (Heft 21 Schriften des Deutschen Vereins
für Armenpflege und Wohltätigkeit. Leipzig 1895.)
Ort | 1880 | 1885 1890 1893
Aachen 807 ( 85) 666 ( 95) | 5o01 ( 104) 619 (112)
Altona 240 ( 91) 240 ( 104) 200 ( 143) 300 (150)
Barmen 340 ( 95) 190 ( 103) | `120 ( 120) 160 (123)
Berlin 3) 2500 (1300) | 2400 (1500) | © 3y
Bielefeld ) 82 ( 34) 76 ( 39) 77 ( 44)
Danzig 915 (102) 814 ( 108) 797 ( 114) 669 !)
Dessau 55 ( 24) 47 ( 27) 40( 37) 50 ( 38)
Dortmund 360 ( 66) 270( 77) 150 ( 89) 170 ( 96)
Düsseldorf 800 ( 91) | 560 ( 114) 500 ( 141) 570 (152)
Elberfeld 240 ( 92) | 190( 109) 150 ( 125) 150 ')
Elbing 78(35) | 69( 38) 75( 41) 2)
Erfurt 190 ( 50) 130 ( 56) 120 ( 70) 160 ( 70)
Frankfurt a. O. 110 ( 51) 88 ( 54) 56( 55) 63 2)
Metz 500 ( 43) 460( 42) | 300( 44) | 430 (45)
Plauen i. V. 59 ( 35) 25( 42)| 43( 47) | 64( 50)
Rostock 196 ( 37) 148 ( 38) 189 ( 44) 182 1!)
Schwerin 10 ( 30) 16 ( 31) 10 ( 33) 16 !)
Zittau 71 ( 21) 66 ( 21) 44 ( 23) 37 ( 23)
Es zeigt sich in vielen Fällen eine nicht unbedeutende absolute
Abnahme in der Zahl der Armenbeerdigungen, der eine sehr erhebliche
relative Abnahme derselben entspricht, da die Bevölkerung in diesen
Städten sich im Berichtsdezennium bedeutend vermehrt hat (s. die ent-
sprechenden Angaben in Tabelle 2).
Es ist nicht ausgeschlossen, daß der hierin zu erblickende Einfluß
der Krankenversicherung noch viel deutlicher aus den Zahlen hervor-
ginge, wenn man sie für die beiden Geschlechter getrennt anführen
würde, da ja die Männer verhältnismäßig mehr. von der Versicherungs-
pflicht erfaßt werden, als die Frauen. Waren doch z. B. 1903 bei
1) Die betreffende Angabe fehlt in der Erhebung. Die eingeklammerten Zahlen
bedeuten die Einwohnerzahl in Tausenden.
Miszellen. 77
allen der Aufsicht des Reichsversicherungsamtes unterstehenden Kassen-
einrichtungen 8357 109 Männer, aber nur 2557824 Frauen versichert.
Die Zusammenstellung der Erhebung von 1894 enthält eine hierfür
brauchbare getrennte Aufstellung nur sehr vereinzelt (s. Tabelle 3).
Tabelle 3.
Armenbeerdigungen. (Heft 21 Schriften des Deutschen Vereins
für Armenpflege und Wohltätigkeit. Leipzig 1895.)
o Männer | Frauen
rt — a -— :
Á = {1880 | 1885 | 1890 | 1893 | 1880 | 1885 | 1890 | 1893
Bautzen 26 17 | 10 | 16 12 | 26 | 12 | 23
pasel 92 72 58 | 50 77 73 52 i 56
olmar 62 Ag AB 29. 44 57 35 | 43
Gnesen 36. 1.42 | 5f | 21 42 | 50 59 | 42
Magdeburg 42 | 51 , 66 | 62 35 48 | 81 79
Thorn rooi) 89 | 57 |) m 53 | 45 | 47 1)
Diese können die Ansicht bestätigen, daß, wo überhaupt eine Ab-
nahme der Armenbeerdigungen zu konstatieren ist, beim männlichen
Geschlecht ein größerer Rückgang eingetreten ist als beim weiblichen.
Die verhältnismäßige Zunahme in Magdeburg ist auch dementsprechend.
Sei es mir gestattet, hier eine Bemerkung wiederzugeben, welche
die Armenverwaltung Berlins zu diesem Punkte macht, nachdem sie
die entlastende Wirkung der Krankenversicherung anerkannte: „Es ist
zu berücksichtigen, daß bei einem Teil der ärmeren seßhaften Bevölke-
rung sich das Bestreben zeigt, durch Mitgliedschaft bei einer auf Frei-
willigkeit beruhenden Sterbekasse“ (wie sie in lokalen Verbänden schon
von altersher bestanden) „sich ein angemessenes Begräbnis zu sichern,
das Armenbegräbnis zu vermeiden“. Sicherlich ist hierin ein hoch-
wichtiger erzieherischer Einfluß unserer Sozialgesetzgebung zu erblicken,
welche durch Leistung eines Sterbegeldes an ihre Mitglieder den nicht-
versicherten Teil der ärmeren Bevölkerung zur Vermeidung des Armen-
begräbnisses anregt.
Diejenigen Träger der Krankenversicherung, die nach dem Gesetze
vom 10. April 1892 und der Novelle hierzu vom 25. Mai 1903 zur
Leistung einer Wöchnerinnenunterstützung verpflichtet sind, haben
sicherlich vielmals die Armenpflege ihres Ortes entlasten können. Ge-
nauere Erhebungen, um positives Material für diese spezielle Frage zu
sammeln, haben noch nicht stattgefunden. Nicht ungerügt darf hierbei
eine große Lücke des Krankenversicherungsgesetzes bleiben:
Die Gemeindekrankenversicherung ist nicht gesetzlich zur Leistung
einer Wöchnerinnenunterstützung an ihre Versicherten verpflichtet. Nun
entfällt aber ein großer Teil der gegen Krankheit versicherten Frauen
gerade auf die Gemeindekrankenversicherung, die 1903 mehr als 36 Proz.
aller Kassen überhaupt ausmachten und über 13 v. H. aller Versicherten
umfaßten. Somit wäre eine Verpflichtung dieser Art der Zwangsorgani-
sationen der staatlichen Krankenversicherung vom sozialpolitischen
1) Die Angabe für das Jahr 1893 fehlt in der Erhebung.
78 Miszellen.
Standpunkte aus ebenso wünschenswert, wie sie in hygienischer Be-
ziehung einem dringenden Bedürfnisse abhelfen würde.
Ein weiterer Uebelstand besteht in Bezug auf die Gewährung von
Krankengeld an solche Krankenkassenmitglieder, welche an Geschlechts-
krankheiten leiden. Die meisten Kassen sind zwar jetzt davon abge-
kommen, den an Geschlechtskrankheiten leidenden Mitgliedern auf Grund
der §§ 6a, bezw. 26a, des Krankenversicherungsgesetzes das Kranken-
geld zu sperren oder zu kürzen, wie es früher allgemein üblich war.
Gesetzlich steht ihnen aber nach wie vor nichts im Wege, statutarisch
einen Anspruch auf Krankengeld in diesen Fällen auszuschließen oder
zu kürzen, während gerade eine allgemeine gesetzliche Verpflichtung zur
Zahlung von Krankengeld bei Leiden dieser Art dringend erforderlich
wäre. Wie die Motive zur Novelle des Krankenversicherungsgesetzes
vom 25. Mai 1903 richtig ausführen, „haben sie eine solche Ausdeh-
nung genommen, daß dadurch der allgemeine Gesundheitszustand, der
Wohlstand und die Wehrhaftigkeit der Bevölkerung in einem größeren
Umfange gefährdet werden“. Somit „gehört die schnelle und wirksame
Heilung von Geschlechtskrankheiten zu den dringendsten Erfordernissen
der allgemeinen Wohlfahrt“. Nimmt man noch hinzu, daß die aus nahe-
liegenden Gründen bei Geschlechtsleiden häufig vorkommenden Verheim-
lichungen (woraus nicht allein eine dauernde Schädigung des Versicherten
selbst, sondern eine fortwährende Vermehrung jenes Uebels resultieren
muß, Unglück für viele, ständige Gefahr für die Gesamtheit!) lediglich
durch einen Anspruch auf Krankengeld vermindert werden können, so
ergibt sich die Notwendigkeit einer ausdrücklichen gesetzlichen Aner-
kennung dieses Anspruches.
Ich kann mich daher nicht mit der Ansicht van der Borghts befreunden,
der der Sperrung des Krankengeldes bei Geschlechtskrankheiten einen
erzieherischen Einfluß auf die Arbeiter zuschreibt. „Es ist wertvoll,
daß derartige einem unsittlichen Verhalten feindliche Bestimmungen in
den Gesetzen stehen. Je mehr der Arbeiter mit den Einzelheiten der
Versicherungsgesetze vertraut wird, desto eher ist es möglich, daß mancher,
der sich noch vor dem Hinabgleiten schützen kann, wenn er seine Kräfte
zusammennimmt, zu einem entsprechenden Verhalten veranlaßt wird“ 1).
Bei Arbeitern, die sittlich sehr gefestigt, kann wohl von einem Erfolge
in dieser Hinsicht manchesmal die Rede sein; aber in der Regel dürften
die beregten Gefahren doch zur Vorsicht mahnen! Man kann erziehe-
risch auf andere Weise, mit „unschädlicheren“ Mitteln auf die Arbeiter-
schaft einwirken, ohne Gefahr zu laufen, das Wohl der Gesamtheit so
sehr aufs Spiel zu setzen.
Verschiedene äußere Umstände stehen der genauen Feststellung des
entlastenden Einflusses der Krankenversicherung auf die Armenpflege
hindernd im Wege:
Die Kommunalverbände kommen der Verwaltung der Krankenver-
sicherung in manchen Fällen entgegen, indem sie (jedenfalls in Aner-
1) v. d. Borght, Die soziale Bedeutung der deutschen Arbeiterversicherung.
Jena 1898.
Miszellen. 79
kennung der ihrer Armenpflege durch die Versicherung gewordenen
Entlastung) einen Teil der Kosten der Krankenhauspflege von Kranken-
kassenmitgliedern auf sich übernehmen, indem sie sich nicht die vollen
Selbstkosten erstatten lassen. So liquidiert z. B. Magdeburg für ein
Krankenkassenmitglied bei seiner Aufnahme ins städtische Krankenhaus
pro Tag nur 1,50 M., wohingegen dieser Kranke der Stadt rund 2,13 M.
Selbstkosten verursacht. In Straßburg i. E. verzichtet das Spital zu
Gunsten bedürftiger Angehöriger von Krankenkassenmitgliedern gewöhn-
lich auf die Hälfte der Pflegekosten. Oftmals haben Stadtverwaltungen
besondere Privilegien in den Staats- oder Provinzialkrankenhäusern
am Orte. So hat Fulda überhaupt keine Ausgaben für die geschlossene
Armenkrankenpflege, da die Stadt nie alle ihr nach alten Rechten zu-
stehenden Freiplätze im Landkrankenhause besetzt hat.
Es haften dem Krankenversicherungsgesetz selbst auch Mängel an,
die für unser Problem sehr störend wirken, da sie den entlastenden
Einfluß des Gesetzes auf die Armenpflege trüben.
Es ist hier vor allem zu erwähnen, daß der Kreis der Versicherten
des Krankenversicherungsgesetzes verhältnismäßig zu eng begrenzt ist,
und oft die Versicherung von einem ÖOrtsstatut oder Landesgesetz ab-
hängig macht, wo eine straffe Regelung von Reichswegen nur zu sehr
am Platze wäre. Dies betrifft vor allem die Arbeiter in land- und
forstwirtschaftlichen Betrieben. Wer die Verhältnisse auf dem Lande
kennt, der weiß, wie segensreich hier eine Krankenversicherung wirken
könnte. Stundenweit ist der Arzt entfernt, ein meilenlanger Weg führt
zur Apotheke. Und wie muß erst die Gefahr angewachsen sein, bevor
der ländliche Arbeiter sich dazu entschließt, den Arzt holen zu lassen!
Es hängt dies zuvörderst mit der mangelnden Einsicht zusammen, daß
es dringend nötig ist, bei allen Krankheiten einen Arzt zu Rate zu
ziehen und nicht angebracht ist, mit Hausmitteln das Uebel zu „kurieren“.
Hauptsächlich sind jedoch die sehr bedeutenden Unkosten daran schuld,
daß auf dem Lande Krankheiten so oft durch Verschleppung dauerndes
Siechtum herbeiführen müssen. Durch Schaffen einer Praxis für einen
Arzt, durch Unterbringung der Kranken in geeigneten Heilanstalten
könnte durch Krankenversicherung der ländlichen Armenpflege manches
Opfer erspart werden. Aehnliches gilt für die Dienstboten, für welche
bislang noch kein allgemeiner Versicherungszwang existiert.
Daß die gesetzliche „Familienunterstützung“ nicht immer ausreicht,
um die Bedürfnisse der Familie des in geschlossener Krankenpflege
befindlichen Versicherten zu bestreiten, ist nur auf eine nicht indivi-
dualisierende Behandlung der Unterstützungsfälle zurückzuführen. Be-
denkt man, daß bei Krankheit des versicherten Ehemannes eine selbst
erwerbende Frau ohne Kinder (jedesmal ein gleiches Einkommen des
Mannes vorausgesetzt, das der Berechnung des Krankengeldes zu Grunde
gelegt wurde) genau soviel erhält wie eine kinderreiche Familie, so
liegt in der Individualisierung sicherlich ein Mittel, durch leicht zu
machende Ersparnisse wohl immer mehr die oftmals nötigen Zuschüsse
der Armenpflege überflüssig zu machen — unbeeinflußt dadurch, daß die
in der Praxis vorkommenden Fälle gewöhnlich nicht so extrem liegen.
80 Miszellen.
Es wäre dies, was die individuelle Behandlung jedes Falles angeht,
kein Sprung ins Dunkele, bot doch die Invalidenversicherungsanstalt
Berlin, die dies Verfahren bei den Familien der in Sanatorien aufzu-
nehmenden Invaliden schon lange eingeführt hat, bereits 1895 einen
deutlichen praktischen Beweis für die Durchführbarkeit und die Nütz-
lichkeit dieses Systems.
Würde überdies die gesetzliche Unterhaltspflicht der Krankenkassen
noch mehr erweitert oder käme, was das Erstrebenswerte wäre, eine
Beschränkung überhaupt in Fortfall, so würde sich gewiß eine noch
bedeutendere Entlastung der von der Krankenversicherung berührten
Zweige der öffentlichen Armenpflege bald bemerkbar machen. Die
Novelle zum Krankenversicherungsgesetz vom 25. Mai 1903 erweiterte
die gesetzlichen Mindestleistungen der Krankenkassen auf 26 Wochen,
von welchem Tage ab bei einer großen Anzahl der Krankheitsfälle die
Krankenfürsorge auf die Organe der Invalidenversicherung übergeht.
Immer jedoch gibt es noch Fälle, in denen beim Aufhören der Kassen-
leistung die Armenpflege eingreifen mul.
Die Uebergabe von Versicherten an die Armenpflege ist vom
sozialpolitischen Standpunkte aus mit Recht als Angriffspunkt gegen
die Krankenversicherung benutzt worden. Meines Erachtens spricht aber
der Umstand ebenso sehr, ebenso dringend für die Beseitigung jeder
zeitlichen Beschränkung der Kassenleistungen, daß hierdurch oftmals
ein noch möglicher Heilerfolg sehr in Frage gestellt werden kann.
Die Ausdehnung der Krankenversicherungspflicht auf die Familien
der Versicherten, wie sie schon bei manchen Trügern der Krankenver-
sicherung mit gutem Erfolge durchgeführt wurde, eröffnet in Bezug
auf eine direkte und indirekte Entlastung der Armenpflege durch die
Krankenversicherung weitere Perspektiven.
Unter der Einwirkung der staatlichen Krankenversicherung ist
auch eine neue Art der Armenkrankenpflege überhaupt erst entstanden. Es
ist dies die Rekonvaleszentenpflege. In der Erkenntnis, daß der durch
längere Krankheit geschwächte Körper, wenn er zu bald den Strapazen
der Arbeit wieder ausgesetzt wird, fruchtbaren Nährboden für alle möglichen
Krankheitskeime bietet, machen viele leistungsfähige Krankenkassen
von dem ihnen zustehenden Rechte Gebrauch, ihren Versicherten „für
die Dauer eines Jahres von Beendigung der Krankenunterstützung ab“
eine Genesendenfürsorge oder Aufnahme in eine Rekonvaleszentenanstalt
zu gewähren ($ 21,3a KVG.). Sie vollzieht sich entweder in besonderen
Rekonvaleszentenanstalten oder besteht in Badekuren, Landaufenthalt
und ähnlichem. Die Armenpflege kannte derartige Maßnahmen nicht.
Ihr lag nur daran, ihre Unterstützten möglichst bald in den Stand
zu setzen, ihre gewohnte Arbeit wieder aufzunehmen.
Wie sehr nun eine derartige rationelle Methode der Krankheits-
behandlung entlastend auf die öffentliche Armenpflege wirken muß, ist
einleuchtend, trägt sie doch zu ihrem Teile dazu bei, eine der Haupt-
ursachen der Verarmung schwinden zu lassen!
Miszellen. 81
§ 2.
Chronologisch folgten dem Krankenversicherungsgesetz die ver-
schiedenen Unfallversicherungsgesetze; jedoch steht die Un-
fallversicherung, was ihre Wirkung auf die Armenpflege anlangt, keines-
wegs in der Reihe nach der Krankenversicherung, der wir den größten
Einfluß auf die Armenpflege zuschrieben.
Als schädigend für die Feststellung des entlastenden Einflusses der
Unfallversicherung auf die öffentliche Armenpflege muß vor allem er-
wähnt werden, daß die Armenverbände in den weitaus meisten Fällen
keine Kenntnis von den erfolgten Rentenbewilligungen erhalten. Da
überdies die Renten der Unfallversicherung meist so reichlich bemessen
sind, daß sie ein ergänzendes Eingreifen der Armenpflege unter nor-
malen Verhältnissen gewöhnlich überflüssig machen, so laufen die
Armenverbände Gefahr, diesen Einfluß zu unterschätzen. Es erklärt
sich auch hierdurch die Vorsicht, mit der sie sich darüber äußern.
Meines Erachtens besteht aber keine Schwierigkeit, daß die Armenver-
waltung sich die so nötige Kenntnis verschaffe. Zuerst könnte man
die Berufsgenossenschaften verpflichten, die Namen ihrer Rentenempfänger
und die Höhe der Rente, auf welche sie Anspruch haben, in periodischen
Nachweisungen zu veröffentlichen. Die Armenbehörde kann sich auch
jederzeit bei der Postdienststelle, welche die Renten auszahlt, genauestens
über die Rentenempfänger ihres Bezirkes informieren.
Die oft und mit Recht angefeindete Schwerfälligkeit der Berufs-
genossenschaften bei Festsetzung der Renten liefert viel Material für
die Armenpflege. Viele, die diese vorläufige Hilfe in Anspruch nehmen
mußten, scheiden nach erfolgter Rentenbewilligung wieder aus der
Armenpflege aus. Es wäre nun ganz falsch, hierin allein die Sphäre
des Einflusses erblicken zu wollen. Es ist vielmehr zu beachten, daß
in vielen Fällen die Rentenbewilligung schnell erfolgt, in anderen die
Rentenberechtigten — wegen ihres Anspruchs — im stande sind, Dar-
lehen aufzunehmen, Kredit für die notwendigen Lebensmittel zu erhalten.
Andere werden von Verwandten unterstützt oder verschleudern und
versetzen alles nur einigermaßen Entbehrliche aus Scheu vor dem
Almosennehmen. Unter der Zahl jener, die in den Rentengenuß ge-
treten sind, ohne mit der Armenpflege in Berührung gekommen zu sein,
gibt es sicherlich eine ganze Reihe solcher, die beim Fehlen der Rente
über kurz oder lang ihr doch schließlich anheimgefallen wären. Man
muß hierbei beachten, daß schon seit dem Haftpflichtgesetz vom 7. Juni
1871 die Unternehmer für eine ganze Reihe von Unfällen zu Schaden-
ersatz verpflichtet waren; manche kamen sogar durch Versicherung
ihrer Arbeiter gegen Unfall bei privaten Gesellschaften für alle
— auch die nicht haftpflichtigen — Unfälle auf. Es muß auch noch
des für die Beurteilung so wichtigen Umstandes Erwähnung getan
werden, daß ein großer Teil derjenigen, die einen Unfall erlitten, über-
haupt nicht erwerbsunfähig und daher nicht so hilfsbedürftig ist, um
die Hilfe der öffentlichen Armenpflege in Anspruch nehmen zu müssen.
Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIII). 6
$
82 Miszellen.
Nur eine genaue Untersuchung der wirtschaftlichen Verhältnisse aller
Unfallrentner könnte zahlenmäßig diesen entlastenden Einfluß ergeben.
Material, auf solchen Untersuchungen fußend, fehlt in den Erhebungen
vollkommen.
sehr unsicher, da ihnen die Unterlage fehlt.
Für die Frage der Einwirkung der Unfallversicherung auf die
öffentliche Armenpflege bietet die Unfallstatistik einigen Anhalt.
können wir entnehmen:
Tabelle 4.
Schätzungen sind zwar vereinzelt vorhanden, sind jedoch
Ihr
Verletzte in versicherungspflichtigen Betrieben, für welche bei ent-
schädigungspflichtigen Unfällen erstmalig Entschädigungen fest-
gestellt sind.
Zahl und Folgen der Unfälle in den Jahren 1886—1903
Auf 1000 Versicherte
k und zwar: und zwar:
Ezi —
EN | 4
& Z o dauernd vorüber- |
3 ae R Jo P gehend 2l g
E über- |7 & Getötete völlig teilweise Erwerbs- 2/38
© | haupt | o Erwerbsunfähige unfähige E S
ea 55° |
sache 3 = é F r ad Erwerbs-
er | ab- | in | ab- | in | ab- | in ab- | in ‚= iät 27
AS solutProz.| solut,Proz.| solut |Proz.| solut |Proz. ADIRMEE
es Si N J7 oe hs fs ar Z Mi, T > I; T OT
1886| 10540| 100 2716/25,77| 1778.16,87) 3 961137,58 2 085 19,78 [2,83 0,73/0,48 1,06 0,36
1887 | 17 102| 162 '3270 19,12 3166 18,51' 8462'49,48| 2 204 12,89 |4,15 0,79|0,77|2,05 0,54
1888 | 21057 200 3645|17,31| 2203 10,46 11 023|52,35! 4 186 |19,88 |2,04 0,35|0,21 1,07 | 0,41
1889 | 31019| 294 5185|16,72 2882, 9,2916 337 52,67| 6615 ‚21,32 [2,32 0,39|0,22|1,22 | 0,49
1890| 41420 393 5958|14,38 26811 6,4722 615 54,60|10 166 |24,55 [3,04 0,44/0,20 1,66 | 0,74
1891| 50507 | 479 6346|12,56 2561, 5,0727 788 55,02113 812 27,35 12,80 0,35j0,14| 1,54 | 0,77
1892 | 54 827 520 5811 10,60 2640 4,81|30 569 55,76 15 807 |28,83 [3,04 0,32/0,15|1,69 | 0,88
1893| 61874 | 587 6245|10,09 2487| 4,0236 236 58,57|16 906 ‚27,32 [3,41 0,34|0,14 2,00 | 0,93
1894| 68677 | 652 6250| 9,10, 1752, 2,55 38 952 56,72|21 723 31,63 3,78/0,34/0,10|2,14 | 1,20
1895| 74467 | 707 6335| 8,51. 1608| 2,24 40 527 54,42.25 937 134,83 [4,05 0,35|0,09 2,20 | 1,41
1896 | 85 272) 809 6489| 8,20 1524, 1,79|44 373 52,03 32 380 37,98 [4,84 0,39|0,09|2,52 | 1,84
1897 | grızı| 865 7287| 7,99 1452 1,5046 489151,00 35 943 39,42 |5,08 0,41 0,08|2,59 2,00
1898| 96774 | 918 7848| 8,11 1109) 1,1547 764 49,36|40 053 141,38 [5,30 0,43/0,06]2,62 | 2,19
1599 104 811 994 7999| 7,83 1297| 1.24 51 240 48,89|44 275 42,24 5,63/0,43 0,07,2,75 | 2,38
1900 | 106 447 | 1010 8449| 7,94 1366| 1,28,51 11148,02|45 521 42,76 |5,63/0,45/0,07|2,70 | 2,41
1901 | 116089 | 1101 8359| 7,20 1416| 1,22 54 340 46,81|51 974 44,77 |6,15/0,4410,082,88 | 2,75
1902 | 119 901 | 1138 17842] 6,54 1396| 1,16 55 264 46,09|55 399 46,21 6,28/0,41|0,07|2,90 | 2,90
1903 | 127 947 | 1214 |8236 6, 1517| 1,19|58 129/45,42|60 065 46,95 6,5719,42 0,08|2,99 | 3,08
(Entnommen dem Stat. Jahrbuch für das Deutsche Reich. Jaurg. 1905, Die Prozent-
zahlen sind der besseren Uebersicht halber von mir berechnet.)
Die Fälle dauernder völliger Invalidität sind in steter Abnahme
begriffen, jedenfalls unter dem Einflusse einer gründlichen Krankenfür-
sorge, welche die Berufsgenossenschaften ihren Versicherten angedeihen
lassen. Ihre Zahl ist von 16,87 Proz. aller entschädigten Unfälle des
Jahres 1886 auf 1,19 Proz. der Unfälle des Rechnungsjahres 1903
herabgegangen. Der größte Prozentsatz, im Mittel immer 45—50 Proz.
aller Unfallverletzten entfällt auf die dauernd teilweise Erwerbsunfähigen.
Wenn in der Erhebung des Reichsamtes des Innern ein Armenverband
Miszellen. 83
die Ansicht äußert, diese Halbinvaliden würden in den Betrieben, in
denen sie den Unfall erlitten, gerne als Laufburschen oder Portiers
beschäftigt, so ist dies eine sehr erfreuliche Tatsache, die ein gutes
Licht auf das sittliche Empfinden dieser Unternehmer wirft; leider ist
dies aber keineswegs die Regel. Bei dem starken Angebot von voll-
ständig Arbeitsfähigen fällt es denjenigen, die eine Einbuße an ihrer
Erwerbsfähigkeit erlitten, schwer, eine lohnende Beschäftigung zu finden.
Nur zu oft sind diese daher in die traurige Lage versetzt, die Hilfe
der öffentlichen Armenpflege anrufen zu müssen. Somit dürfte hieraus
gerade eine recht beträchtliche Entlastung der Armenpflege durch die
Unfallversicherung, in zunehmendem Schutz vor Mehrbelastung, mit
ziemlicher Sicherheit zu folgern sein. Derjenige Zweig der öffentlichen
Armenpflege, der den dauernd zu Unterstützenden seine Hilfe bietet,
ist die Almosenpflege.e Um die Einwirkung der Unfallversicherung auf
diesen Zweig der Armenpflege deutlicher zum Ausdruck bringen zu
können, dürfte es sich empfehlen, die Almosenpfleglinge nach Ge-
schlechtern getrennt aufzuführen, ist es doch eine unbestrittene Tat-
sache, daß fast überall die Almosenempfänger zumeist dem weiblichen
Geschlechte angehören. Ferner ist nur — im Verhältnis zu der Zahl
der gegen Unfall versicherten Männer — eine geringe Anzahl Frauen
gegen diese Gefahr durch Versicherung gedeckt. Die Zahl der bei
den Berufsgenossenschaften versicherten Arbeiter wird dem Geschlechte
nach zwar nicht getrennt nachgewiesen: doch nimmt man an offizieller
Stelle an, daß z. B. für 19031) 12 964000 Männer, aber nur 5 001 000
Frauen gegen Unfall versichert waren. Da also die Männer verhältnis-
mälig mehr von der Versicherungspflicht erfaßt werden wie die Frauen,
so müßte sich bei ihnen auch die Einwirkung am deutlichsten nachweisen
lassen. Zu diesem Zwecke entnehmen wir der Erhebung des Deutschen
Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit die entsprechenden „ge-
trennten“ Daten, und wir finden bei einer großen Anzahl von Armen-
verbänden unsere Ansicht bestätigt: bei den Almosenempfängern männ-
lichen Geschlechtes ist ein schnellerer Rückgang, ein langsameres Steigen
feststellbar als bei der Zahl der weiblichen Unterstützten. Dort, wo
dies Verhältnis nicht besteht, haben die Berichterstatter fast immer die
Möglichkeit gehabt, außerhalb der Arbeiterversicherung liegende Gründe
für die Mehrbelastung beizubringen. Für diejenigen Orte, die keine
getrennten Nachweisungen liefern, „ist die Wahrscheinlichkeit vor-
handen, daß auch hier die Steigerung lediglich auf den weiblichen
Teil entfällt“. (Freund, a. a. O.)
Im Armenbeerdigungswesen ist der Einfluß der Unfallversicherung
wohl lange nicht so fühlbar als der der Krankenversicherung. Hierfür
dürfte wohl schon ein Beweis in einer bloßen Nebeneinanderstellung der
Leistungen der beiden Zweige der Arbeiterversicherung an Sterbegeld
liegen. Von sämtlichen Trägern der deutschen Unfallversicherung sind
1) Die deutsche Arbeiterversicherung als soziale Einrichtung, II. Aufl., Berlin
1905, 8. 39.
6*
84 Miszellen.
an Sterbegeld 1885—1903 6312315 M. gezahlt worden, wohingegen
die Aufwendungen der sämtlichen Krankenkassen für diesen Zweck im
nämlichen Zeitraume über 77000000 M. betrugen, und dabei ist wohl
auch hervorzuheben, daß die Unfallversicherung einen um mehrere
Millionen größeren Kreis von Versicherten umfaßt.
Wenngleich uns die Unfallstatistik anzeigt, daß der prozentuelle
Anteil der Unfälle tödlichen Ausgangs an der Gesamtheit der Unfälle
immer mehr zurückgeht, so lehrt sie uns auch zugleich die traurige
Tatsache, daß doch jährlich Tausende von Arbeitern Betriebsunfällen
zum Opfer fallen. Wie schrecklich war die Lage der Hinterbliebenen
vor unserer Sozialgesetzgebung! Nach dem Haftpflichtgesetz von 1871
mußte der Unternehmer für durch seinen Betrieb verursachte Unfälle
nur dann Schadenersatz leisten, wenn seines Vertreters Verschulden klar
bewiesen war, was zu einer großen Anzahl endloser Prozesse Veranlassung
gab. Welch bange Wochen für die arme Familie! „Heut ist jedoch
die bejammernswerte Frau, der die Bahre des im Bergwerk oder in der
Fabrik verunglückten Mannes ins Haus getragen wird, sicher, daß sie
und ihre Kinder nicht der Not und dem Hunger — notdürftig gemindert
nur durch die Armenpflege — preisgegeben sein werden !)!“
Die Witwen- und Waisenversorgung der Unfallversicherung ($ 16
des Gewerbeunfallversicherungsgesetzes und die Parallelparagraphen)
muß unbedingt die Armenpflege entlastet haben; denn sie hat es sicher-
lich mancher Witwe ermöglicht, ohne Inanspruchnahme öffentlicher Wohl-
tätigkeit, sich und ihre Kinder zu ernähren (s. weiter unten. Wenn-
gleich die für das einzelne Kind gewährte Rente nicht immer ausreicht,
um seine Pflegegelder zu begleichen, so weist in solchen Fällen die
dann wohl nötige Zulage von seiten der Armenverwaltung mittelbar,
vor allem jedoch der oft beobachtete Rückgang in der Zahl der der
Armenpflege zur Last fallenden Waisenkinder mit großer Wahrscheinlich-
keit auf eine stattgehabte Entlastung durch die Unfallversicherung hin.
In Fulda würde z. B. ein alleinstehendes Kind bis zur Novelle des
Unfallversicherungsgesetzes von 1900 die Hilfe der Armenpflege haben
anrufen müssen (vorausgesetzt, daß ihm keine andere Unterstützungs-
möglichkeit zur Verfügung stand), wenn sein durch Unfall verstorbener
Ernährer — die Novelle schließt ja auch nicht die Unterstützung von
Enkeln aus, wenn sie Doppelwaisen sind — nicht mindestens 720 M.
verdiente. Nun, da das Pflegegeld um 66?/, Proz. gestiegen, müßte
das Jahresarbeitsverdienst des durch Unfall Getöteten gar 900 M. be-
tragen haben, damit die Rente, die sein Kind beanspruchen kann, allen-
falls die Kosten der Aufnahme in eine Familie decke. Ich erwähnte
bereits oben, daß es eine ganze Anzahl Orte gübe, in denen seit Inkraft-
treten der Unfallversicherungsgesetze ein beträchtlicher Rückgang in
der Zahl der auf Armenkosten zu verpflegenden Waisen sich bemerkbar
gemacht hat. Die Antwortschreiben der bei der Erhebung des Deutschen
Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit beteiligten Armenverbände
1) Rosin, Umschau und Vorschau auf dem Gebiete der Arbeiterversicherung,
Freiburg 1897.
Miszellen. 85
enthalten eine ganze Reihe hierfür brauchbarer Angaben, die sich auf
die Jahre 1880, 1885, 1890 und 1893 beziehen. (S. Tabelle 5.)
Tabelle 5.
Auf Kosten der Armenpflege zu verpflegende Waisen. (Aus Heft 21
der Schriften des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit,
Leipzig 1895).
Ort | 1880 1885 1890 1893
|
Aachen D | 167 | 18 1)
Barmen 93 71 45 44
Bielefeld 145 205 120 93
Bromberg 197 181 149 138
Cassel 95 100 45 50
Dortmund 320 460 300 320
Erfurt 80 66 42 56
Rostock 19 31 24 | 31
Marburg 24 16 20 29
Zittau 19 16 10 15
Für diejenigen Orte, in denen kein Rückgang in der Zahl der auf
Armenkosten verpflegten Waisen, vielleicht sogar noch eine Zunahme
eingetreten ist, da lassen sich gewöhnlich Gründe finden, deren be-
lastender Einfluß auf die Armenpflege von der Arbeiterversicherung nicht
paralysiert werden kann (Influenzaepidemie). In Bezug auf eine mehr-
mals beobachtete Zunahme in der Zahl der auf Armenkosten zu ver-
pflegenden Waisen während des Trienniums 1890—1893 dürfte es
wohl genügen, daß ich auf die analogen Verhältnisse bei der Frage der
Armenbeerdigungen (s. „Krankenversicherung“) verweise. Auch für
Berlin ist ein Rückgang in der Zahl der der Armenpflege zur Last ge-
fallenen Waisen von 0,34 Proz. der Bevölkerung des Jahres 1883 auf
0,29 Proz. der Bevölkerung im Jahre 1891 eingetreten.
Weniger markant wird dieser Einfluß in jenen Gegenden sein
müssen, in denen schon lange vor dem Erlaß unserer Sozialgesetze die
Arbeiter sich in Genossenschaften vereint hatten, um — oft unterstützt
von ihrem Lohnherrn — die Folgen von Unfällen zu entschädigen
(Knappschaftskassen). Die Unfallversicherung hat zweifelsohne einen
entlastenden Einfluß ausgeübt auf die Armenkrankenpflege. Diese ihre
Wirkung wurde jedoch anfänglich von der Krankenversicherung voll-
kommen in den Schatten gestellt. Erst in allerneuester Zeit, man kann
sagen in den letzten 15 Jahren, hat die Krankenfürsorgetätigkeit der
Unfallversicherung durch Einrichtung von Unfallstationen und -kranken-
häusern seitens der Berufsgenossenschaften einen bedeutenden Auf-
schwung genommen. In der richtigen Erkenntnis, daß der erste Ver-
band das Schicksal der Wunde entscheidet, daß von der bedrohten
Arbeitskraft um so mehr zu retten ist, je früher eine gründliche zweck-
entsprechende Heilmethode einsetzt, übernehmen viele Berufsgenossen-
schaften gegebenenfalls sofort nach dem Unfall das Heilverfahren.
1) Diese Angaben fehlen in der Erhebung.
86 Miszellen.
Nach 8 9 des Gewerbeunfallversicherungsgesetzes und den entsprechenden
Paragraphen der übrigen Unfallversicherungsgesetze hat ja die Berufs-
genossenschaft die Verpflichtung erst „vom Beginn der 14. Woche nach
dem Unfall“ freie ärztliche Behandlung, Arznei und sonstige Heilmittel
zu gewähren. Sie ist jedoch nach $ 76c des Krankenversicherungsgesetzes
berechtigt, „in Erkrankungsfällen, welche durch Unfall herbeigeführt
werden“ sofort nach dem Unfall „das Heilverfahren auf ihre Kosten zu
übernehmen“. Wie sehr die Berufsgenossenschaften den hohen Wert
einer sachgemäßen Heilbehandlung Unfallverletzter für die Wiederher-
stellung der Erwerbsfähigkeit erkannt haben, das beweist die fort-
währende Zunahme ihrer Ausgaben für diesen Zweig ihrer Tätigkeit.
Noch 1885 standen ganze 19 M. auf dem Ausgabeetat der Berufsge-
nossenschaften unter dem Titel „Krankenfürsorge“, jedoch die Folgezeit
brachte ganz andere Summen als Aufwendungen für Heilbehandlung in
den Rechnungsaufstellungen zum Vorschein. Und die folgende Tabelle
redet eine deutliche Sprache, daß die Berufsgenossenschaften in ihrem
eigenen Interesse bestrebt sind, für eine möglichst sorgfältige Behand-
lung bei den durch Unfall Verletzten zu sorgen:
Pflege in einer
7 Kraukenfürsorge (mit
Jahr Angehörigenrente
seit 1886) Heilanstalt
1885 19 =
1890 2071294 931 182
1595 4 646 328 2 396 995
1900 6 919 962 3 350 177
1903 8 809 081 4 219 461
Dafür spricht vor allem die rasche Zunahme der Ausgaben der
Berutsgenossenschaften für die Heilbehandlung innerhalb der ersten
13 Wochen nach dem Unfall:
1885 —
1390 36 096
1895 316 355
1900 701614
1903 666 377
Das Heilbehandlungsverfahren der Unfallversicherung kann bedeu-
tend intensiver gestaltet werden als das der Krankenkasse, die sehr oft
nur mit beschränkten Mitteln arbeitet. Braucht doch die Berufsgenossen-
schaft selbst nicht große Opfer zu scheuen, wo die Möglichkeit vor-
handen ist, einem Unfallverletzten seine Erwerbsfähigkeit erhalten oder
wiedergeben zu können, d. h. der drohenden Rentenlast vorzubeugen.
Ihren Zweck glaubten die Berufsgenossenschaften am besten da-
durch zu erreichen, daß sie besondere Krankenhäuser für ihre Unfall-
verletzten erbauten. So sind die Heilanstalt „Bergmannsheil“ zu Bochum,
das Krankenhaus „Bergmannstrost“ zu Halle a. S., das Kranken- und
Rekonvaleszentenhaus der Norddeutschen Holzberufsgenossenschaft zu
Neu-Rahnsdorf (Wilhelmshagen) bei Berlin u. a. geradezu bekannte
Musteranstalten dieser Art. Andere Berufsgenossenschaften, die keine
Miszellen. 87
eigenen Heilanstalten bislang errichtet haben, stellen öfters — durch
Verträge mit den Gemeinden oder anderen Körperschaften — ihren
Versicherten selbständige Abteilungen zur gründlichen Behandlung in
Krankenhäusern, auch den Kliniken der Universitäten, zur Verfügung.
Es darf auch nicht unerwähnt bleiben, daß die Heilbestrebungen der
Organe der Unfallversicherung vielfach Anregung gegeben haben zur
Errichtung sogenannter medico -mechanischer Heilanstalten für durch
Unfall Verletzte, die von den Berufsgenossenschaften sehr in Anspruch
genommen werden. Somit können die Bedauernswerten, denen ein Be-
triebsunfall einen Teil ihrer Erwerbsfähigkeit raubte, sicher sein, daß
ihnen von seiten der Berufsgenossenschaft eine Behandlung zu teil
werden wird, wie sie ihnen besser gar nicht gewährt werden könnte.
Und wie wohltuend muß diese Leistung der Träger der Unfallversiche-
rung auf die Armenpflege wirken!
Interessant sind für die Frage der Entlastung der Armenpflege
durch die Unfallversicherung folgende — gekürzt wiedergegebene —
Ausführungen des Kalenders und Statistischen Jahrbuchs für das König-
reich Sachsen !):
„Die Gesamtzahl der infolge von „Unfall“ (im weiteren Sinne des
Wortes) Unterstützten betrug im Jahre
1880 2443
1885 2400
1890 1378
Hierunter sind Selbstunterstützte enthalten
1880 1079
1885 1142
1890 617 (!)
Dieser ganz außerordentliche Rückgang in der Zahl der Gesamt-,
sowie der Selbstunterstützten in der Periode von 1885 zu 1890 auf
beinahe die Hälfte, kann auf nichts anderes als auf die Unfallversiche-
rung der Arbeiter zurückgeführt werden. Auch der prozentuale Anteil
der Unterstützungsursache „Unfall“ an der Gesamtheit ist von 1885
zu 1890 zurückgegangen, während nämlich
1880 2,60 Proz.
1885 271 9
aller Unterstützten auf diese Ursache entfallen, brauchten
1890 nur 1,70 Proz.
aller Unterstützten wegen „Unfall“ aus Armenmitteln unterstützt zu
werden.
Bei den Selbstunterstützten finden wir
1880 2,01 Proz.
1885 2,15 s»
und 1890 nur noch its 5
wegen Unfalls Unterstützte.
1) Dresden 1893.
88 Miszellen.
Auf 10 000 Einwohner des Königreichs Sachsen entfallen wegen
Unfall
1) dauernd
Selbst- und Mitunterstützte:
1880 5,5
1885 5,2
1890 2,8
2) vorübergehend
Selbst- und Mitunterstützte:
1880 2,7
1885 2,3
1890 1,1
Hiernach haben sich im Jahrzehnt 1880/1890 die wegen Unfall
dauernd Unterstützten auf fast die Hälfte verringert, die Zahl der
vorübergehend Unterstützten auf mehr als die Hälfte. Der haupt-
sächlichste Rückgang findet sich im Jahrfünft 1885/1890, in welches
der Beginn der Wirksamkeit der Unfallversicherung fällt.“ Diese au-
thentischen Zahlen dürften einen deutlichen Beweis dafür liefern, daß
tatsächlich eine nicht zu unterschätzende Entlastung der Armenpflege
durch die Unfallversicherung stattgefunden hat. Schließlich hat auch
die Unfallversicherung insofern der Armenpflege manches Opfer erspart,
als sie Vorkehrungen trifft, um die Zahl und Wirkung der Unfälle
möglichst zu mindern. Die Berufsgenossenschaften sind zu diesem
Ende befugt, sogenannte „Unfallverhütungsvorschriften“ zu erlassen,
und haben auch ein gesetzliches Recht, ihre Mitglieder, die den Vor-
schriften „über die in ihrem Betriebe zu treffenden Einrichtungen und
Anordnungen“ zuwiderhandeln, sehr empfindlich zu disziplinieren. Wenn-
gleich auch die Unfallstatistik keine Abnahme in der Zahl der Unfälle
anzeigte, so mag doch mancher Unfall hierdurch verhütet, mögen andere
Unfälle in ihren Wirkungen abgeschwächt worden sein. Diese Tätigkeit
der Berufsgenossenschalten hat ferner unzweifelhaft in hervorragendem
Maße zur Verhinderung von Krankheiten beigetragen, wie sie sich im
Anschluß an gewisse Arbeiten so olt und mit solch traurigen Folgen
entwickelten: sogenannte „Berufskrankheiten“.
Somit wird man dem früheren Präsidenten des Reichsversicherungs-
amtes, Dr. Bödiker, völlig beipilichten, wenn er sagte: „Die obligato-
rische Unfallversicherung hat in der Tat eine bessere Heilung der Ver-
letzten und folgeweise die möglichste Verminderung des Grades ihrer
Erwerbsunfähigkeit zur Folge gehabt. Es wird dadurch in den Familien
viel Schmerz, Kummer und Sorge beseitigt. Wo sonst der Tod ein-
trat, wird das Leben erhalten; wo sonst Verkrüppelung die Folge ge-
wesen wäre, tritt jetzt die Erhaltung gerader Gliedmaßen ein. Aus
Hunderten, ja Tausenden von ganz oder teilweise Erwerbsunfähigen
werden arbeitende, nützliche Glieder der Gesellschaft gemacht und an
die Stelle der Last, Krüppel zu erhalten, tritt die produzierende Kraft
des Genesenen !“
(Fortsetzung folgt.)
Miszellen. 89
II.
Der Tarifvertrag im Deutschen Reich.
Von Oscar N eve- Berlin.
Das Problem des Tarifvertrages bedeutet unter den volkswirt-
schaftlichen Erscheinungen der Gegenwart dasjenige, das nicht allein
innerhalb der neuen industriellen Entwickelung für Arbeitgeber und
Arbeitnehmer ständig wachsende Tragweite erlangt hat, sondern auch
die nationalökonomische und die Rechtswissenschaft darf in gewissem
Sinne die Frage der kollektiven Regelung der Arbeitsbedingungen als
ein Novum ansehen.
In eine systematische Darstellung des Tarifvertrages in
Deutschland wie in eine Würdigung der damit zusammenhängenden
historischen, theoretischen und sonstigen Fragen eingetreten zu sein,
ist das Verdienst des Kaiserlichen Statistischen Amts, dessen
Abteilung für Arbeiterstatistik vor kurzem mit einer hierauf bezüg-
lichen Veröffentlichung die Reihe der „Beiträge zur Arbeiterstatistik*
in den No. 3—5 fortsetzt!).
Die hauptsächlichsten Ergebnisse dieser amtlichen Publikation ge-
langen nachstehend im Zusammenhang zur Vorführung.
Die Entstehungsgeschichte der umfangreichen, großzügig angelegten
Arbeit reicht 3 Jahre zurück. Im Juni 1903 brachte das vom Kaiser-
lichen Statistischen Amt herausgegebene „Reichs-Arbeitsblatt“ ein erstes
an alle Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände und die sonst in Be-
tracht kommenden Organisationen und Stellen gerichtetes Ersuchen,
der arbeiterstatistischen Abteilung die für eine Sammlung von Tarif-
verträgen erforderlichen Unterlagen zur Verfügung zu stellen. Bei der
ursprünglichen Idee, lediglich das daraufhin eingegangene Material in
einer Zusammenstellung zu publizieren, ist es aber sodann nicht ver-
blieben. Von einem solchen Plan, dessen Ausführung nur von bedingtem
Wert gewesen wäre, ging das Kaiserliche Statistische Amt später viel-
mehr ab, um eine systematische Bearbeitung des Stoffes vorzunehmen.
Diese gibt der 2. Band. Daneben ergab sich die Notwendigkeit einer
theoretischen Einführung, die in eine kurze Darlegung der für die Be-
urteilung des Problems in Betracht kommenden historischen, volks-
1) Der Tarifvertragim Deutschen Reich. Referent: Regierungsrat Dr. Leo, Bd. 1—3.
8%. (180— 406—424 Seiten.) Berlin, Carl Heymann, 1906. 8 M.
90 Miszellen.
wirtschaftlichen, juristischen u. s. w. Fragen einzutreten hatte, und die
Band 1 enthält. Der 3. Band bringt das Material selbst. Dabei konnte
von der Wiedergabe sämtlicher dem Kaiserlichen Statistischen Amt
zur Verfügung stehenden Tarife Abstand genommen werden, da einer-
seits die textliche Verarbeitung der gesamten Unterlagen erfolgt ist,
andererseits ein besonderer nach Gewerben gegliederter Index alle
gesammelten Tarife berücksichtigt.
Um vorweg auch einen ziffernmäßigen Anhalt zu geben, sei mit-
geteilt, daß die amtliche Sammlung nahezu 1600 Exemplare zählt. Sie
ist damit noch keine absolut erschöpfende, umfaßt aber den weitaus
größeren Teil aller im Deutschen Reich bestehenden Tarifverträge, und
bot der Bearbeitung die ausreichende Grundlage. Die Zahl der an
diesen Verträgen paktierenden Arbeiter wird auf rund eine halbe
Million veranschlagt.
Die Arbeit leitet den 1. Band ein mit einer Darstellung der volks-
wirtschaftlichen Entwickelung, des Wesens und der Be-
deutung des Tarifvertrags.
Bemerkenswert für den Gang der Entwickelung ist die Stellung-
nahme der Interessenten, die nicht immer eine einheitliche gewesen ist.
Was die Arbeitnehmer anlangt, so wird auf die ausgesprochen ableh-
nende Haltung früherer Zeiten verwiesen, wie sie beispielsweise eine
Protestresolution des Leipziger Gewerkschaftskartells gegen tarifliche
Vereinbarungen aus dem Jahre 1897 noch zum Ausdruck brachte. Seit
dem Jahre 1899 gelangt indessen gerade die gegenteilige Anschauung
zum Durchbruch, die den Weg und das Ziel der kollektiven Regelung
der Arbeitsbedingungen als gangbar und erstrebenswert bezeichnet. Auf
seiten der Arbeitgeber hat man sich bis heute, wenn auch nicht aus-
schließlich, so doch überwiegend tariflichen Vereinbarungen gegenüber
zumeist ablehnend verhalten. Diese abweichende Stellungnahme der
Parteien findet ihre natürliche Erklärung in der Verschiedenartigkeit
der Auffassungen von Vorteil und Nachteil tariflicher Abmachungen,
die sich für Arbeitnehmer wie Arbeitgeber von ebenso verschieden-
artigen Gesichtspunkten entwickeln lassen. Erinnert sei hinsichtlich
der Vorzüge nur an die aus der einheitlichen Festsetzung resultierende
Ständigkeit der Löhne und Arbeitsbedingungen, die Unabhängigkeit
von den Schwankungen der Konjunktur, die in der Regel bestehende
Aussicht weiterer Lohnaufbesserung nach Ablanf des Vertrages. Auch
der Arbeitgeber hat hieran Teil durch die Sicherung vor Lohn- und
Arbeitsdifferenzen, womit gleichzeitig die geschäftliche Lage vor Er-
schütterungen bewahrt bleibt, und wenn das tarifliche Geltungsgebiet
ein genügend ausgedehntes ist, durch die Ausschaltung der Preisunter-
bietung seitens der Konkurrenten. Entsprechend ergeben sich die Nach-
teile: Für den Arbeitnehmer der Mangel jedweder Individualisierung;
der über das Durchschnittsmaß tüchtige Arbeiter kann den höheren
Lohn, den an sich zu erzielen ihm möglich wäre, nicht erlangen, der
untüchtige Arbeiter, dessen Leistungen nicht dem Lohn entsprechen,
wird entlassen. Für den Arbeitgeber die bei konstant zu haltenden
Löhnen und Arbeitsverhältnissen ständig bestehenden Schwierigkeiten
Miszellen. 91
der Anpassung an die wechselnde Konjunktur, insbesondere beim Wett-
bewerb auf dem internationalen Markt und durch die schon gestreifte
Nivellierung der Arbeitsbedingungen, da sie individuelle Höchstlei-
stungen unterbindet. Weiter wird hingewiesen auf die mit der kollek-
tiven Regelung für einzelne Gewerbe eintretenden Hemmungen und
Behinderungen, besonders bei stetig sich ändernder Technik, z. B. die
Maschinenindustrie, auf das immer wieder beobachtete Hinauftreiben
der Lohnforderungen nach Ablauf der Verträge, auf die politischen
Momente, die seitens der organisierten Arbeiterschaft hineingetragen
werden, endlich auf den Mangel eines einheitlich klaren Tarifver-
traysrechts.
Die Gewerbe, welche in Deutschland den Tarifgedanken verwirk-
licht haben, lassen sich in zwei Gruppen scheiden. Soweit er
älteren Datums ist, hat sich das Handwerk bemüht — abgesehen vom
Buchdruckergewerbe, in dem der Tarifgedanke zurückgeht bis in die
Zeit der ersten sozialpolitischen Arbeiterbewegung des Jahres 1848 —
der Entwickelung zur Großindustrie gegenüber seinerseits fester sich
zusammenzuschließen. Die amtliche Untersuchung bezeichnet als hierher
gehörig die „Schlägergewerbe“ (Feingold-, Silber- und Metallschläger)
sowie die Solinger Gewerbe. Für die neuzeitliche Annahme des
Tarifsystems, soweit es die modernen großen Arbeiterorgani-
sationen in ihr Programm aufgenommen haben, kommen hauptsäch-
lich die holzverarbeitenden Gewerbe (Tischler, Parkettleger, Böttcher),
die Nahrungsmittel- und Bekleidungsgewerbe (Bäcker, Schneider, Schuh-
macher u. s. w.) und das Baugewerbe in Betracht. Im übrigen besteht
anscheinend die Entwickelungstendenz einer allmählichen Uebertragung
der Tarifbewegung von den handwerklichen auf die großindustriellen
Gewerbe. Auch das Ausland gibt hierfür die Bestätigung, im beson-
deren England und die Vereinigten Staaten, hier findet sich der Tarif-
vertrag speziell im Kohlenbergbau, in der Eisen- und Baumwollen-
industrie vertreten.
An die Vorführung der für die Entwickelungsgeschichte des kol-
lektiven Arbeitsvertrages bemerkenswerten Tatsachen knüpft die amt-
liche Untersuchung eine Erörterung über die volkswirtschaftliche
Bedeutung.
Die Idee des Tarifvertrages, in die Praxis übersetzt, stellt sich
dar als das Mittel, die Störungen der Volkswirtschaft, wie sie Streiks
und Aussperrungen und alle sonstigen gewaltsamen Auseinandersetzungen
zwischen den Interessenten des Produktionsprozesses bedeuten, im In-
teresse einer friedlichen Entwickelung zu vermeiden und auszuschalten.
In gleicher Weise sollen auch die im Anschluß an tarifliche Vereinba-
rungen in der Regel entstehenden Tarifämter, Schlichtungskommissionen
u. s. w. hauptsächlich die Aufgabe übernehmen, für den Endtermin der
Verträge die neu festzusetzenden Regelungen auf friedlichem Wege anzu-
bahnen, um somit gewaltsame Auseinandersetzungen und die ultima
ratio des Streiks zu vermeiden. Die Frage dagegen, ob der Tarifver-
trag das Mittel ist und sein wird, Lohn- und Arbeitsdifferenzen über-
haupt aus der Welt und damit einen dauernden gewerblichen
92 Miszellen.
Frieden zu schaffen, verneint die Untersuchung!). Er bedeute in der
Praxis immer nur einen „vorübergehenden Interessenausgleich, einen
bewaffneten Waffenstillstand“.
Die gegebenen historischen Beiträge zur Tarifbewegung in
Deutschland behandeln besonders ausführlich das Buchdruckgewerbe,
das bekanntlich auf die älteste Tarifgeschichte zurückblickt. Sodann
wird auf den tariflichen Entwickelungsgang in den übrigen graphischen
Gewerben und in der Buchbinderei eingegangen, um abschließend die
Verhältnisse in den Schlägergewerben der Metallindustrie und im Bau-
gewerbe zur Vorführung zu bringen. Auf eine nähere Darlegung aller
dieser zerstreuten geschichtlichen Einzelheiten muß hier mit Rücksicht
auf den zu Gebote stehenden nur knappen Raum verzichtet werden.
Es sei hierfür auf die Spezialliteratur verwiesen, die auch in der Ver-
öffentlichung zur Grundlage gedient hat?). Zusammenfassend führt die
amtliche Untersuchung zu diesen geschichtlichen Mitteilungen folgen-
des aus. „Die Darstellung wird geeignet sein der Einsicht zum Durch-
bruch zu verhelfen, daß erfolgreiche Durchführung von Tarifverträgen,
abgesehen von bestimmten wirtschaftlichen und organisatorischen Vor-
aussetzungen, von inneren psychologischen Faktoren auf beiden Seiten
abhängig ist, die nicht ohne weiteres überall vorhanden sind und daß
der Geschichte des Tarifvertrages auch die Geschichte des Tarifbruchs
von der einen oder der anderen Seite nicht ganz fremd ist, so daß die
Geschichte des Tarifvertrags gleichzeitig auch eine Geschichte der dem
Tarifvertrag vorangehenden oder ihn unterbrechenden Lohn- und Tarif-
kämpfe ist.“ In Bezug auf das Buchdruckgewerbe und die Vorbe-
dingungen der dortigen Tarifdurchführung — der bei beiden Parteien
vorhandene gute Wille zur Innehaltung der Verträge, die als gerechter
Ausgleich der Interessen empfunden werden müssen, und die gegen-
seitire gleichwertige Anerkennung der Parteien — wird abschließend
resnmiert: „Diese Vorbedingungen, die beiderseits ein großes Maß von
1) Kennzeichnend ist hier die Stellungnahme der freien (sozialdemokratischen)
Gewerkschaften. Das „Korrespondenzbl. d. Generalkom. d. Gewerksch.“ schreibt hierüber in
der Nummer vom 29. Juli 1905 u. a.: „Für den Unternehmer bleibt das treibende Motiv
der Vertragschließung das Bedürfnis nach Ruhe — für die Gewerkschaften die Voraus-
setzung zur Durchführung weiterer Forderungen. Wo andere Motive die Arbeiter be-
herrschen, als die des kämpfenden Fortschritts, wo sie sich leiten lassen von dem Idol
eines dauernden Friedens, da hört die Tarifgemeinschaft auf, eine Etappe des Klassen-
kumpfes zu sein, da gerät sie in den Sumpf des Zünftlertums. Der Gegensatz zwischen
Unternehmertum und Arbeiterklasse schließt ihn“ — den Tarifvertrag — „als Traktat
eines dauernden Friedens ganz von selbst aus. Unsere Gewerkschaften und vor allem
ihre leitenden Kreise sind einig in der Bewertung der Tarifgemeinschaften als
Werkzeuge des Emanzipationskampfes der Arbeiter auf wirtschaftlichem
Gebiet. Sie weisen daher auch die Illusion gewerblicher Friedensverträge im Sinne
bürgerlicher Friedensschwärmer zurück.“
2) Fanny Imle, Gewerbliche Friedensdokumente, Jena 1905. Friedrich Zahn, Die
Organisation der Prinzipale und Gehülfen im deutschen Buchdruckgewerbe. (Schrift. d.
V. f. Sozialp. XLIV.) Leipzig 1890. Ludwig Rexhäuser, Zur Geschichte des Verbandes
der deutschen Buchdrucker. Statistik des Tarifamts der deutschen Buchdrucker 1906.
Der deutsche Buchbinderverbaud im Jahre 1900, 1901. Stuttgart 1901 und 1902. A.
Knoll, Die Arbeiterschaft des Steinsetzergewerbes. Berlin 1904. Fritz Paeplow, Die
Organisation der Maurer Deutschlands 1869—1899. Hamburg 1900 u. s. w.
Miszellen. 93
a
Erziehung, Disziplin und Mäßigung voraussetzen, sind keineswegs überall
gegeben, und sie sind auch in der sehr bewegten Tarifgeschichte des
Buchdruckgewerbes keineswegs immer vorhanden gewesen, sondern
sie sind auch in diesem Gewerbe im wesentlichen erst eine Errungen-
schaft des letzten Jahrzehnts.“
Für die Beurteilung des Rechtsproblems geht die Untersachung
von dem Gesichtspunkte aus, daß der Tarifvertrag kein Arbeits-
vertrag ist, da er nur die Bedingungen, unter denen gearbeitet
werden soll, einheitlich festlegt, nicht aber die Arbeitsleistung zum
Gegenstande hat. In zweiter Linie charakterisiert er sich immer als
Kollektivvertrag, da immer eine Mehrzahl von Personen Kontrahent ist.
Zwei Arten vertraglicher Regelung müssen unterschieden werden:
entweder schließen die einzelnen Personen der beiderseitigen Mehrheiten
den Vertrag — wie bei den Buchdruckern — oder es wird paktiert
von der einzelnen Person zur Gesamtheit bezw. von Verband zu Ver-
band. Im ersteren Falle kann der einzelne Arbeitgeber oder Arbeit-
nehmer jederzeit aus der Tarifgemeinschaft ausscheiden, im zweiten
bleiben die Kontrahenten für die Dauer der Verträge an ihren Inhalt
gebunden.
Hieraus fließt die Frage nach dem Rechtscharakter tariflicher
Vereinbarungen. Bei dem Mangel der Möglichkeit einer festen juri-
stischen Klassifizierung mußte sich die Arbeit darauf beschränken, zu
definieren, was der Tarifvertrag nicht ist. Daß er keinen Arbeitsvertrag
darstellt, war schon angeführt worden. Er kann auch als Arbeits-
ordnung nicht angesehen werden, die ja einseitig festgesetzt wird und
zumeist Lohnbestimmungen nicht aufnimmt, er kann weiter nicht als
Koalition gelten, die sich als Verabredung darstellt zur Erlangung
günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, weil er selber diese Bedin-
gungen enthält, ebenso scheiden aus die Begriffe des Vergleichs, der
stets eine Leistung zur Voraussetzung hat, wie sie der Tarifvertrag eben
nicht kennt, und der Usance, da es um Einführung neuer Arbeitsbedin-
gungen sich handelt. Endlich kann der Tarifvertrag nicht angesprochen
werden als Gesellschaft, da nicht gemeinsame Zwecke, sondern entgegen-
gesetzte Interessen bestehen, vor allem auch wieder das Merkmal der
Leistung fehlt.
Trotz der Schwierigkeit seiner juristischen Klassifizierung bleibt der
Tarifvertrag „ein Rechtsgeschäft mit rechtsverbindlicher Kraft“, was
übrigens die Mehrzahl der Tarife besonders noch zum Ausdruck bringt.
Daß ihn das BGB. nicht kennt, bedarf nicht besonderer Erwähnung.
Aus diesem Mangel der privatrechtlichen Regelung resultieren für die
praktische Rechtsprechung ständige Schwierigkeiten.
Sie treten von neuem zu Tage bei der Frage der Rechts-
wirkung des Tarifvertrags.. Auf der einen Seite wird die Theorie
vertreten, daß sie eine absolute sei, und daß die tarifliche Vereinbarung
die Arbeitsverträge der Kontrahenten ergänze und für sie maßgebend
sei, auf der anderen Seite ist die praktische Rechtsprechung zumeist
von diesem Grundsatz abgegangen und hat sich für die Derogierbarkeit
der Verträge ausgesprochen. Daneben wird noch eine vermittelnde
94 Miszellen.
b
dritte Ansicht vertreten, daß nämlich Sonderabreden zwar zu Recht be-
stehen können, daß aber im Klagewege die Aufhebung der in den Arbeits-
vertrag übernommenen den tariflichen Vereinbarungen zuwiderlaufenden
Bedingungen erzwungen werden kann.
Was den Geltungsbereich des Tarifvertrags anlangt, so werden
die daran teilnehmenden Personen, da er ein Rechtsgeschäft ist, vermöge
ausdrücklicher oder stillschweigender Willenserklärung ihm unterworfen.
An die letztere knüpfen sich wieder strittige Fragen: ein Nichtkontrahent,
der unter einem auf tariflicher Regelung beruhenden Arbeitsvertrag
arbeitet, soll nicht eo ipso auch unter den Festsetzungen der ersteren
stehen. Zweifelhaft ist es ferner, ob ein Arbeiter, der aus einer Orga-
nisation, die eine Kollektivvereinbarung abschloß, ausscheidet, auch
weiterhin noch unter dem Tarife steht. De lege ferenda wird die Frage
bejaht, de lege lata steht sie offen. Für den örtlichen Geltungsbereich
pflegt man entsprechend zu trennen in Firmen-, Lokal- und National-
oder Generaltarite. Die zeitliche Geltung legt der Tarit zumeist aus-
drücklich fest, sie ändert sich mit den jeweiligen Interessen der Kon-
trahenten.
Die rechtliche Sicherung der Tarifverträge durch Klage
und Schadenersatzanspruch stößt sich an der Frage der Rechtstühigkeit
der Parteien. Besonders wo auf seiten der Arbeitnehmer die großen
Berufsverbände kontrahieren, die in der Regel die Rechtsfähigkeit nicht
besitzen, ergeben sich Schwierigkeiten, da solche Verbände auch nicht
parteifähig sind ($ 50 CPO.) Ebenso scheitert die Durchführung von
Schadenersatzansprüchen, wiewohl de jure eine Haftung der Verbände
vorhanden ist, gewöhnlich in der Praxis; das Verbandsvermögen wird
anderweitig sicher gestellt, der Verband löst sich auf u. s. w.
Bemerkenswert ist in dieser Beziehung der kürzlich neu abge-
schlossene Tarif der Buchdrucker. Er stellt den Grundsatz auf und
spricht ihn besonders aus, daß für die Anerkennung der Urteile der
Schiedsinstanzen der Verein, dem der Verurteilte angehört, mit seinem
Vermögen haftet. Der Verband übernimmt hier tatsächlich eine Ga-
rantie für die Handlungen seiner Mitglieder.
Im allgemeinen aber muß die rechtliche Seite des Tarif-
vertrags als durchaus noch nicht geklärt angesehen werden. Aus dieser
Erkenntnis heraus erklären sich auch die seitens der Verbände zum Teil
eingerichteten Schlichtungskommissionen, paritätischen Einigungsämter
u. s. w., die oben schon erwähnt wurden. Sie dienen der Beilegung der
aus tariflichen Vereinbarungen oft sich ergebenden Ditierenzen der
Kontrahenten besser als es im Wege der Klage vor den ordentlichen Ge-
richten möglich ist. Denn „der Taritvertrag schwebt zurzeit hinsichtlich
seiner Durchführbarkeit rechtlich in der Luft. Seine Durchführung ist
letzten Endes eine Machtfrage. Die Rechtswissenschaft steht dabei
nicht am Ende, sondern am Anfang ihrer Aufgabe.“ Bekanntlich setzte
der letzte deutsche Juristentag das Rechtsproblem des Taritvertrags auf
seine Tagesordnung.
Was das Ausland anlangt, so ist die rechtliche Regelung eine
widersprechende. Die tariflichen Vereinbarungen in England sind bei-
Miszellen. 95
spielsweise lediglich privatrechtlicher Natur, ihre Durchführung ist rein
moralische Pflicht und die Gerichte können wegen der Innehaltung über-
haupt nicht in Anspruch genommen werden. Das Gegenteil liegt vor
für Australien und Neuseeland. Wie überhaupt in diesen Ländern das
Prinzip der staatlichen Regelung der Arbeitsbedingungen besteht, so hat
auch der Tarifvertrag öffentlich-rechtliche Bedeutung. Zwischen diesen
Grenzen bewegen sich in den einzelnen anderen Staaten die Abstufungen
und Variationen hinsichtlich der rechtlichen Auffassung. Die gegebene
internationale Uebersicht, auf deren Einzelheiten hier nicht näher ein-
gegangen werden kann, führt daneben zu der allgemeinen Erkenntnis,
daß überall etwa die gleichen Kräfte im Spiele sind, die die allmähliche
Ueberführung der individuellen Vertragsschließung in die Form der
kollektiven bewirken. Mit der Ausbildung des Tarifvertrages hat in
allen Ländern ein bestimmter wirtschaftlicher Prozeß eingesetzt, dessen
Merkmale sich kurz so kennzeichnen lassen, daß überall das soziale
Interesse in den Vordergrund rückt, das individuelle aber zurücktritt.
Die systematische Bearbeitung des gesammelten Tarifmaterials, wie
sie Band 2 enthält, bringt in ihrem einleitenden Teil unter anderem
eine interessante tabellarische Uebersicht, welche die dem Amt vorge-
legenen Tarife, sowie die mit ihnen erfaßten Betriebe und Arbeiter auf
die Berufsgruppen der Reichsstatistik verteilt. Dabei ergibt sich, daß
mit Tarifverträgen überhaupt noch nicht vertreten sind die land- und
forstwirtschaftlichen Betriebe, der Bergbau, die chemische Industrie, die
Industrie der Leuchtstoffe, das Handels- und Versicherungsgewerbe, Be-
herbergung und Erquickung und etliche andere. Wenn man von den
letztaufgeführten Gruppen absieht, ist es somit in Deutschland die
Großindustrie, in die der Tarifvertrag bisher noch keinen Ein-
gang gefunden hat. Auch die Textilindustrie ist nur mit wenigen
Verträgen beteiligt; eine größere Anzahl weist zwar die Metallindustrie
auf, es handelt sich aber dabei nur um eine scheinbare Ausnahme, ein
beträchtlicher Teil sind Firmentarife, ein Drittel etwa betrifft die
Klempnerei, also ein zumeist handswerksmäßig betriebenes Gewerbe.
Am meisten ausgebildet erscheint der Tarifvertrag bei den
polygraphischen Gewerben, die durchgängig Generaltarife auf-
weisen. Hier hat also eine einheitliche das ganze Gewerbe umfassende
Regelung der Arbeitsverhältnisse durch den Tarifvertrag stattgefunden.
Mit der größten Zahl der eingegangenen Tarife war das Baugewerbe
vertreten (606), daran schließen an die Industrie der Nahrungs- und Ge-
nubmittel (194), Bekleidung und Reinigung (176), die Industrie der
Steine und Erden (151), Holz- und Schnitzstoffe (130) u. s. w. Eine
ähnliche Reihenfolge ergibt die Gruppierung der Industrien nach der
Zahl der beteiligten Arbeiter.
Nach diesen allgemein orientierenden Angaben wird zunächst zur
Untersuchung der Regelung der Arbeitszeit in den Tarifverträgen
geschritten 1). Soweit hierüber in die Verträge Bestimmungen aufge-
ne Die amtliche Publikation hat die materielle Bearbeitung des Stoffes in Bd. 2
für die einzelnen Teile so angelegt, daß die allgemeine Zusammenfassung der Ergebnisse
96 Miszellen.
nommen sind, was nicht durchgängig der Fall ist, überwog im Durch-
schnitt der Zehnstundentag. Von 1175 Tarifen galt er für 701, das ist
59,67 Proz. Der Rest enthält in der Mehrzahl noch kürzere Arbeits-
zeiten.
Das nachstehende Tableau illustriert die interessanten Einzelheiten:
Stunden
Angaben
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| 5 E 3|o|
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Einer Erörterung bedarf diese Uebersicht nicht.
Eine graphische Darstellung der durchschnittlichen Arbeitszeit in
den verschiedenen betrachteten Gewerben, wie sie in Form einer Kurve
zur Darstellung gelangt, gibt ein entsprechendes Bild, sie steigt nur
ausnahmsweise über die Zehn-, bezw. fällt unter die Neunstundenlinie.
Ueberstunden wollen die Tarife anscheinend nach Möglichkeit be-
seitigen bezw. beschränken, besonders das Baugewerbe tritt in dieser
Richtung hervor. Sehr mannigfaltig im Gegensatz dazu sind die über
die Arbeitspausen getroffenen Festsetzungen. Die größte ist die Mittags-
pause, die normal auf 1 Stunde, neben Schwankungen zwischen !/, und
2 Stunden, bemessen wird. Die Tageslichtausnutzung (Baugewerbe),
die Schwere der Arbeit (Steinsetzer) oder auch eine Anrechnung auf die
Vesperzeit (Braugewerbe) sind einige der Gründe, die hier mit hinein-
spielen. Die \/,-stündige Frühstückspause besteht fast ohne Ausnahme,
eine Vesperpause ist nicht allgemein üblich. Die Summe aller Arbeits-
pausen beträgt beim Zehnstundentag in der Regel 2 Stunden.
Noch einige allgemeine Ergebnisse sind anschließend in Bezug auf
die Regelung der Arbeitszeit aufzuführen,
der Sonderuntersuchung der verschiedenen Gewerbe vorangestellt wird. Auf diese sehr
ausführlichen speziellen Darlegungen, die die einzelnen Berufe betreffen, kann hier
nicht eingegangen werden.
1) Hierin sind die Tarife mit wechselnden Arbeitszeiten mit einbegriffen.
Miszellen. 97
Ordnet man zunächst die Orte, für die die Tarife gelten, nach
ihrer geographischen Lage, so tritt eine Zunahme der täglichen
Arbeitszeit in der Richtung von Westen nach Osten zutage.
Während der Maurer in Krefeld, in Cassel, in Ratherow den Zehn-
stundentag hat, arbeitet er in Langenbielau 10!/, Std. in Rawitsch
ll Std. Der Zimmerer ist in Düsseldorf 9!/, Std. beschäftigt, in Cassel
10 Std., in Schneidemühl 101/, Std. u. s. w. Die Großstädte machen
allerdings hiervon eine Ausnahme. Dies führt zu einem Teil bereits
auf eine andere Erscheinung, auf welche die Arbeit ebenfalls hinweist,
daß nämlich die Arbeitsdauer in umgekehrtem Verhältnis steht zur
Ortsgröüße. In entgegengesetztem Sinne bewegt sich die Gestaltung
der Löhne; je größer der Ort je höher der Lohn, so daß das Resultat
erscheint, daß die höheren Löhne bei der kürzeren Arbeitszeit gezahlt
werden.
Die Verteilung von Lohnhöhe und Arbeitsdauer auf die einzelnen
Gebiete Deutschlands zeigt folgende Reihenfolge. Die niedrigsten Löhne
vertreten Pommern und Schlesien, daran schließen an Sachsen und Posen,
dann folgen Brandenburg, weiter Hannover und Hessen, dann mit den
höchsten Löhnen die Westgebiete!), Das Maximum bedeuten die Städte
Berlin und Hamburg.
Eine letzte Frage drängt sich im Zusammenhang damit auf, die
nach dem Verhältnis der Lohnhöhe zu den Kosten der Lebenshaltung
innerhalb ein und desselben Gewerbes. Sie konnte im Rahmen dieser
Arbeit systematisch allerdings nicht untersucht werden, es zeigt sich
aber ohne weiteres, daß die Löhne da niedrig sich normieren, wo die
Lebenshaltung billig ist, also in Pommern, u. s. w., in Gebieten mit
noch gering entwickelter Industrie, in denen noch die Landwirtschaft
im Vordergrund steht. Auf der anderen Seite steigt die Lohnhöhe je
näher man den großen Industriezentren des Westens kommt, unter gleich-
zeitigem Steigen der Kosten der Lebenshaltung.
Was die Regelung der Arbeitslöhne durch die tarifliche Ver-
einbarung anlangt, so scheiden sich die Gewerbe nach drei Gruppen,
je nachdem in ihnen Zeit- oder Stücklohn oder beide Arten von
Lohnsystemen Verwendung finden, Um einige Beispiele anzuführen, so
fallen nach dem amtlichen Material in die erste Gruppe das (engere)
Baugewerbe, Steinsetzer, Brauer, Bäcker, von den Generaltaritlern die
Lichtdrucker, Formstecher, der zweiten sind zuzuweisen Stukkateure, Holz-
arbeiter, Töpfer, Steinmetzen, Böttcher, Schneider, Schuhmacher, Buch-
binder, Eisen- und Zinngießer, Feilenhauer, Buchdrucker, Notenstecher in
der letzten erscheinen Glaser, Tapezierer, Klempner, Bau- und Maschinen-
schlosser. Eine Erklärung für die Verschiedenartigkeit der üblichen Lohn-
systeme läßt sich allgemein so geben, daß der Zeitlohn den Gewerben mit
relativ gleichmäßiger Arbeit eigentümlich ist, in denen „eine Spezialisierung
der vorkommenden Arbeiten im Sinne einer weit ins einzelne gehenden
Arbeitsteilung weniger vorhanden ist“ (Maurer, Steinsetzer). Akkord-
3 1) Ost- und Westpreußen weisen so wenig Tarifabschlüsse auf, daß sie für diese
Vergleiche ausscheiden mußten.
Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII). T
98 Miszellen.
löhne sind auf der anderen Seite da zu finden, wo die einschlägigen
Arbeiten voneinander sehr abweichen, in denen also „der Arbeits-
prozeß sich in zahlreiche Teile auflöst und die spezielle Fertigkeit des
einzelnen Arbeiters für den Arbeitserfolg erheblich ins Gewicht fällt“.
Auch die Frage wie die Arbeiter zur Frage der Zeit- oder
Akkordlöhnung sich stellen, streift die amtliche Arbeit!) und gelangt
hierfür zu dem Eindruck, daß „die Arbeiter in der Mehrheit der Ge-
werbe die Zeitlöbnung vor der Akkordlöhnung bevorzugen“, und damit
die letztere, „allerdings nicht in allen Gewerben mit gleichem Nach-
druck, bekämpfen“. Die Erscheinung findet in den Tarifen in der
Regel ihren Ausdruck durch besondere Festsetzungen, welche die Akkord-
löhnung zum Teil beschränken, zum Teil auch direkt untersagen, so bei
den Dachdeckern, Steinsetzern u. s. w. Solchen Entwickelungstendenzen
entspricht es, daß für die obengenannte dritte Gruppe, in welche die
(Gewerbe rangieren, die den Zeitlohn neben dem Akkordlohn haben,
die Bekämpfung des Akkordsystems besonders deutlich hervortritt.
Beispielsweise verbieten von den Tarifen der Klempner !/,, bei den
Tapezierern mehr als !/, die Akkordlöbnung. Die Beispiele ließen sich
beliebig vermehren. Insgesamt weisen die augenblicklichen Verhältnisse
der künftigen Entwickelung etwa den Weg, daß die heutigen Gewerbe
des Zeitlohns zu diesem System immer ausschließlicher übergehen, daß
besonders auch die Gewerbe der dritten Gruppe hierin mit einbezogen
werden, daß dagegen der Akkordlohn, sofern er gerecht geregelt wird,
in den Gewerben schließlich dauernd Fuß fassen wird, die für die ge-
sonderten Arbeitsvorgänge abgestufte oder qualifiziertere Leistungen
verlangen.
Hinsichtlich der Höhe der Löhne konnte die Untersuchung
naturgemäß zu allgemeineren Ergebnissen nicht gelangen. In der Dar-
stellung der Einzelgewerbe ist aber nach Möglichkeit versucht worden,
über den Durchschnittslohn des jeweiligen Berufs Angaben zu machen;
dafür muß auf die Lektüre der Arbeit selbst verwiesen werden. Da-
gegen bestehen zusammenfassende Angaben über die Lohnform, im
besonderen den Naturallohn, wie sich über ihn Festsetzungen finden
bei den Brauern, 'Bäckern, Schneidern und Schuhmachern. Die Tarife
sehen hier in der Regel einen bestimmten Lohnabzug für „Kost und
Logis“ vor. Bekannt ist auch der „Freitrunk“ im Braugewerbe, der
zum Teil übrigens in neuerer Zeit — auch wohl ein Verdienst der
Antialkoholbewegung — durch Bargeld abgelöst wird.
Auch die Heimarbeit wird bisweilen in die tarifliche Regelung
mit einbezogen. Die Heimarbeiter der Schuhmacher erhalten höhere
Löhne als die in der Werkstatt arbeitenden Berufsgenossen, die
Schneider — zu einem Teil auch die Schuhmacher — dringen im Gegen-
satz hierzu auf Abschaffung der Heimarbeit. Ebenso verbieten sie die
Tarife der Lithographen.
Sofern Bestimmungen über Ueberstunden aufgenommen sind,
1) Sie verweist zugleich auf die Arbeit von Dr. Ludwig Bernhard, „Die Akkord-
arbeit in Deutschland‘.
Miszellen. 99
werden durchweg erhöhte Löhne in Form von Zuschlägen zu den
vereinbarten Zeitlöhnen gezahlt. Sie betragen 10—33 Proz., für Nacht-
und Sonntagsarbeit 25—100 Proz.
Der Lohnzahlungstermin ist überwiegend der Sonnabend, bei
den Bäckern wird stellenweise auch am Sonntag vormittag und Montag
gelohnt, bei den Chemigraphen und Kupferdruckern übrigens am Sonn-
abend ausdrücklich nicht. Zahlungsort ist die Werkstatt oder das
Kontor des Arbeitgebers, beim Baugewerbe in der Regel der Bauplatz.
Die Lohnperioden endlich sind, wo sie überhaupt Gegenstand der
Abmachung bilden, dementsprechend zumeist wöchentlich fixierte, aus-
nahmsweise wird auch alle 14 Tage oder monatlich abgerechnet. Eine
Sonderstellung nehmen in Bezug hierauf noch die Akkordlohngewerbe
ein; bei langfristigen Akkorden, soweit sie über eine Woche sich hinaus-
ziehen, werden gewöhnlich allwöchentliche Abschlagszahlungen in Höhe
des zu Grunde gelegten Zeitlohns geleistet, nach Fertigstellung des Ak-
kords wird dann der Rest ausbezahlt.
Der letzte Teil des 2. Bandes behandelt zusammenfassend den
übrigen Inhalt der Tarifverträge, speziell ihre Bestimmungen
sozialpolitischer Natur. Soweit derartige Festsetzungen in die
tariflichen Vereinbarungen mit aufgenommen werden, sind sie haupt-
sächlich in denjenigen Gewerben zu finden, bei denen auf beiden Seiten
der Kontrahenten der Tarifgedanke schon in erheblicherem Umfange
Fuß gefaßt hat oder zu ausgedehnterer Entwickelung gelangt ist. Die
Abmachungen über die Schaffung von Einrichtungen zur Ueberwachung
des Tarifs und zur Schlichtung von Streitigkeiten stehen hier im Vorder-
grund. Je nachdem es um Firmen-, Lokal- oder Generaltarife sich
handelt, sind die Organisation, die Funktionen, die Kompetenzen dieser
Tarifschiedsgerichte (Schlichtungskommissionen, Lohnkommis-
sionen) verschiedenartig.
Die einfachste Form zeigt der Firmentarif. Die Arbeit bezeichnet
die hier vorgesehenen Schiedsgerichte als eine einfache „Vermittelungs-
instanz“, der die Arbeiter ihre Wünsche und Beschwerden vorzutragen
haben; hält die Schiedskommission die letzteren für berechtigt, so bringt
sie sie dem Arbeitgeber zur Kenntnis. Da die Entscheidung hierauf
aber stets in seinen Händen liegt, so ist dieser Firmentarifinstitution
eine eigentlich schiedsgerichtliche Tätigkeit in Wirklichkeit nicht bei-
zumessen.
Bildeten das Schiedsgericht dieser Form nur Arbeitnehmer, so
setzen sich die der Lokaltarife unterschiedlich hiervon aus Arbeitgebern
und Arbeitern paritätisch zusammen. Die Mitgliederzahl ist in der
Regel 3—5, sie steigt aber auch bis zu 9 Personen. Der aus der Mitte
der Kommission gewählte Verhandlungsleiter ist zumeist ein Arbeit-
geber, bisweilen aber auch ein „Unparteiischer“ (der Vorsitzeude des
Gewerbegerichts, der Handelskammersyndikus, ein Mitglied der Ge-
meindeverwaltung u. s. w.), der entweder das Stimmrecht der übrigen
Mitglieder oder das Recht der Entscheidung bei Stimmengleichheit be-
sitzt. Bis zum Spruch des Schiedsgericht sollen in der Regel alle ge-
waltsamen Auseinandersetzungen durch Streik u. s. w., ebenso wie alle
7*
100 Miszellen.
Beinflussungen durch die Verbandspresse unterbleiben. Daneben sehen
in einer Anzahl von Fällen die Tarife für den Fall der Anfechtung
der getroffenen schiedsgerichtlichen Entscheidung noch eine Berufs-
instanz vor, die das Gewerbegericht — als Einigungsamt — bildet.
Das Schiedsgericht in seiner vollkommensten Form geht aus den
Generaltarifen hervor, besonders der Buchdruckertarif ist hier vorbild-
lich gewesen. Die untere Instanz sind die lokalen paritätisch einge-
richteten Schiedsgerichte (mit mindestens 2 Prinzipalen und 2 Gechilfen
besetzt), die Berufungsinstanz, deren Entscheidung unbedingt verbindlich
ist, bildet das aus drei Prinzipalen und drei Gehilfen zusammengesetzte
„Jaritamt“.
Neben den Festsetzungen über die Schiedsgerichte legen die Taril-
verträge namentlich auch Wert auf Wahrung des Koalitionsrechts.
Maßregelungen oder Entlassung wegen der Zugehörigkeit zu einem Ver-
bande sollen — dieser Grundsatz wird aufgestellt — ausgeschlossen
sein. Oft wird eine besondere Erklärung darüber noch aufgenommen,
dab seitens der Arbeitgeber die Organisation der Arbeiter als gleich-
berechtigter Verhandlungsfaktor ausdrücklich anerkannt wird.
Vereinzelt sind in die Tarifverträge auch Bestimmungen über Ur-
laubgewährung aufgenommen, so wiederholentlich im Braugewerbe und
beim Handels- und Transportarbeiterverband. Die Länge des Urlaubs
beträgt 3—10 Tage, der Lohn wird währenddem weiter gezahlt. Wo
auch der 1. Mai als Feiertag seitens der Arbeitgeber zugestanden wird,
findet dagegen Lohnabzug statt.
Bestimmten Gewerben sind dann besondere Abmachungen eigen
über Innehaltung der Unfallverhütungsvorschriften (Bau-
gewerbe), über Bereithaltung von Verbandskästen, über Reinigung
der Arbeitsräume, Waschgelegenheit und über sonstige hygie-
nische Anforderungen an die Werkstatt (Schneider, Schuhmacher).
Rücksichtlich der Kündigung des Arbeitsverhältnisses besteht
anscheinend auf der Arbeiterseite das Bestreben, an der gesetzlichen
14-tägigen Kündigungsfrist nicht festzuhalten, vielmehr an ihre Stelle
die 24-stündige zu setzen; in den Akkordlohngewerben sollen aber an-
gefangene Akkorde bei 24-stündiger Kündigungsfrist erst fertiggestellt
werden, so bei den Holzarbeitern, auch bei den Töpfern.
Die Kündigungsfrist für den Tarifvertrag wird über-
wiegend auf 3—6 Monate festgesetzt, im Steinsetzgewerbe dagegen ist
die jährliche Kündigungsfrist die übliche. Ein großer Teil der Ver-
träge enthält übrigens hinsichtlich der Dauer überhaupt keine Angaben,
womit häufig Anlaß zu Streitigkeiten gegeben ist.
Soweit der sonstige, sozialpolitische Inhalt der Tarifverträge; bei
der so verschiedenartigen Gestaltung im einzelnen kommt ihm natur-
gemäß die Bedeutung nicht zu, wie sie dem eigentlichen Kern aller
Tarifvereinbarungen, den Bestimmungen über die einheitliche Regelung
der Arbeitszeit und des Arbeitslohnes, beizumessen ist.
Von einer Besprechung des 3. Bandes, der ausgewähltes Tarif-
material zum Abdruck bringt, wird Abstand genommen.
s-a s
Miszellen. 101
III.
Ergebnisse der Volkszählung in Preussen.
Das Königliche Statistische Landesamt in Berlin veröffentlicht in
einer Sondernummer der Statistischen Korrespondenz vom 26. September
die hauptsächlichsten endgültigen Ergebnisse der Volkszählung vom
l. Dezember 1905. Die wichtigsten Resultate daraus seien hier wieder-
gegeben. i
Die Zahl der Juden hat sich seit der letzten Volkszählung vom
2. Dezember 1900, wo sie 392 322 betrug, um 17179 auf 409 501 ver-
mebrt. Diese Zunahme ist schwächer als bei allen anderen Kon-
fessionen ;
denn sie betrug nur 43,79 Proz., dagegen bei den
Evangelischen 69,85 „
Katholiken 102,26 ,„
anderen Christen und Dissidenten 311,99 ,„
Personen nicht christlicher Konfession (ohne Juden) 456,02 „
Personen mit anderer unbestimmter Angabe der Religion 186,86 „,
Personen ohne Angabe der Religion 395,69 „
Die Folge ist, daß der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung
wiederum, wie schon seit Jahrzehnten, zurückgegangen ist; er betrug
1871 1,32 Proz. 1895 1,19 Proz.
1880 1,33 „ 1900 114 „
1885 1,29 „ 1905. 1,10
1890 1,24 „
Ueber die Entwickelung in den einzelnen Provinzen gibt die folgende
Tabelle Auskunft:
Zahl der Juden bei der Volkszählung!) in Preußen.
Gebiet | 1871 | 1880 1890 | 1900 1905
|
Provinz Ostpreußen 14425 — 18218 14 411 13 877 13 553
„ Westpreußen 26 632 26 547 21 750 18 226 16 139
Stadt Berlin 36015 , 53949 79 286 92 206 98 893
Provinz Brandenburg 11469 12 296 13 775 25 766 40 427
„ Pommern 13037 | 13886 12 246 10 880 9 660
„ Posen 61982 | 56609 44 346 35 227 30 433
Schlesien 46 619 52 682 48 003 47 586 46 845
Sachsen 5958 | 6 700 7 949 8 047 8050
Schleswig-Holstein 3729 | 3 522 3571 3 486 3 270
Hannover 12 790 14 790 15 112 15 393 15 581
Westfalen 17 245 18 810 19 172 20 640 20 757
Hessen-Nassau 36 390 41316 44 543 48 105 50 016
» Bheinland 38 424 43 694 47 234 52 251 55 408
Hohenzollern 721 771 661 532 469
Summa für Preußen | 325436 | 363790 | 372059 | 392322 | 409501
8 1) Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden 1906, II. Jahrg., Heft 11,
166.
102 Literatur.
Literatur.
I.
Neue Lehrbücher der Nationalökonomie.
Besprochen von Karl Diehl- Königsberg.
1) Alfred Marshall, Handbuch der Volkswirtschaftslehre.
Bd. I. Nach der 4. Auflage des englischen Originals mit Genehmigung
des Verfassers übersetzt von Hugo Ephraim und Arthur Salz.
Mit einem Geleitwort von Lujo Brentano. 717 SS. Stuttgart und
Berlin (J. G. Cottasche Buchhandlung Nachfolger) 1905
2) Edwin R. A. Seligmann, Professor of political economy
Columbia University, Autoor of „Essays in taxation“, „the economic
interpretation of history etc.“ Principles of Economics with special
reference to American conditions. 613 SS. Longmans, Green and Co.
91 and 93 fifth Avenue, N. Y., London and Bombay, 1905.
3) Heinrich Pesch, S. Jọ, Lehrbuch der Nationalökonomie.
Bd. I: Grundlegung. 485 SS. Freiburg i. Br., Herdersche Verlagshandlung.
4) Charles Gide, Grundzüge der Nationalökonomie. Mit Zu-
stimmung des Verfassers übersetzt und für den deutschen Leser ein-
gerichtet von Dr. Gustav Weiß von Wellenstein. Wien 384 SS.
(Manzsche K. u. K. Große Verlags- und Universitäts-Buchhandlung) 1905.
5) J. Lehrs Politische Oekonomie in gedrängter Fassung (Volkswirt-
schaftslehre und Wirtschattspolitik, Finanzwissenschaft, Statistik u. s. w.).
Vierte vermehrte Auflage. Besorgt von Dr. C. Neuburg, Professor
an der Universität Erlangen. 176 SS. München .(J. Lindauersche Buch-
handlung [Schöpping]) 1905.
Einer besonderen Empfehlung bedarf Marshalls Handbuch der
Volkswirtschaftslehre nicht. Schon seit langer Zeit ist dies Werk dem
deutschen akademischen Studium zu gute gekommen. Lehrer wie Studie-
rende haben aus dem reichen Schatz an Wissensstoff, der dort enthalten
ist, mit Vorliebe geschöpft. Wie Marshalls Werk in England das
verbreitetste nationalökonomische Lehrbuch ist, so gibt es wohl auch
in Deutschland kein national-ökonomisches Lehrbuch in fremder Sprache,
welches sich gleicher Beliebtheit erfreut.
Welchem Umstande verdankt Marshalls Werk diese Beliebtheit?
Literatur. 103
Mir scheint in erster Linie seiner Vielseitigkeit. Es ist
für den Studierenden der Nationalökonomie so wertvoll, weil es, wie
kaum ein anderes Werk, ein getreues Spiegelbild der verschiedenen
wissenschaftlichen Strömungen abgibt, die für unser Fach von Wichtig-
keit sind. Vom Geiste der klassischen Nationalökonomie, wie von der
historischen Schule spürt man den Hauch, aber auch die österreichische
Grenzuutzen-Theorie kommt zu ihrem Recht, und schließlich hat auch
die Darwinistische naturwissenschaftliche Richtung großen Einfluß auf
die Gedankengänge des Verfassers gehabt. —
Auf der Basis breitester Literaturkenntnis, die nicht nur die englische
Literatur, sondern auch die deutsche, französische, amerikanische
und italienische Literatur umfaßt, gibt der Verfasser ein Bild der Er-
gebnisse der wissenschaftlichen Forschung aller Länder. Es ist daher
mit großer Freude zu begrüßen, daß dieses vortreffliche Werk durch
die deutsche Uebersetzung noch weiteren Kreisen als bisher zugängig
gemacht wird. Die Uebersetzung ist, soweit ich nachprüfen konnte,
zuverlässig. Die schwierige Aufgabe, die oft sehr verwickelten Gedanken-
gänge des Autors in angenehm lesbarem Deutsch wiederzugeben, ist
den Debersetzern gut gelungen. Zwar sollte vorausgesetzt werden,
daß diejenigen, die ein so weitgehendes Interesse für unser Fach haben,
wie es zum Studium dieses Werkes notwendig ist, genügend englisch
verstehen, um einer Uebersetzung nicht zu bedürfen. Aber die Er-
fahrung, die man als akademischer Lehrer täglich aufs neue macht,
zeigt, daß diese Sprachkenntnis leider noch sehr ungenügend verbreitet
ist, so daß auch aus diesem Grunde eine Uebersetzung wünschenswert
erschien.
Für den deutschen Studierenden ist Marshalls Werk deshalb
besonders wertvoll, weil er hier eine vertiefte Betrachtung ge-
rade der schwierigsten Themata der theoretischen Nationalökonomie
findet. Namentlich der Verteilungsprozeß, die Zusammenhänge zwischen
Lohn, Rente, Zins und Gewinn und ähnliche Probleme sind viel ein-
gehender und gründlicher behandelt, als es sonst in Grundrissen üblich
ist. Als gute geistige Gymnastik wird daher den deutschen Studierenden
das Durcharbeiten des Marshallschen Werkes zu empfehlen sein.
Ich möchte besonders auf das 5. Buch: „Die Theorie des Gleichgewichts
von Angebot und Nachfrage“ und das 6. Buch: „Wert oder Verteilung
und Tausch“ hinweisen. —
Bei der rückhaltlosen Anerkennung, die ich in den bisherigen
Ausführungen dem Werke des verehrten englischen Autors zolite, ist
es auch notwendig, auf gewisse Mängel hinzuweisen. Zum Lehren und
Lesen ist das Werk — wie bereits erwähnt — vorzüglich geeignet;
als Führer nach der methodologischen und sozialphilosophischen Seite
kann es nicht unbedingt empfohlen werden. Es kann nur Nutzen
stiften, wenn es nach dieser Richtung hin mit Kritik gelesen und
studiert wird, denn der eigene Standpunkt des Verfassers
ist bei dem eklektischen Verfahren, welches er einschlägt, leider oft
ein verschwommener. Gerade die Vielseitigkeit, die ich dem Werke
nachrühme, bringt allzu leicht die Gefahr mit sich, welcher der
104 Literatur.
Verfasser keineswegs ganz entgangen ist, daß grundverschiedene Stand-
punkte versöhnt werden sollen, daß versucht wird, allen möglichen
Parteien recht zu geben. Eine weitgehende Sucht, Kompromisse zu
schließen und Richtungsunterschiede zu versöhnen, hat dahin geführt,
daß man oft vergebens nach einer scharfen, logisch einwandfreien
Stellungnahme zu wichtigen Problemen sucht. Ich habe bereits bei
anderer Gelegenheit (Ueber die nationalökonomischen Lehrbücher von
Wagner, Schmoller, Dietzel und Philippovich mit besonderer
Rücksicht auf die Methodenfrage in der Sozialwissenschaft, in diesen
Jahrbüchern 1902 und in meinen Erläuterungen zu Ricardo Bd. I,
S. 89ff.) auf diese Kompromißucht Marshalls hingewiesen, möchte
aber heute noch einiges zur Charakteristik dieser Eigentümlichkeit
hinzufügen.
Unbefriedigend ist vor allem die methodologische Einleitung. Hier,
wo es darauf ankam, die eigentliche systematische Grundlegung dieses
ganzen Wissensgebietes zu geben, die Abgrenzung der politischen Oekono-
mie gegenüber den andern Wissenschaften vorzunehmen, vermisse ich
besonders eine klare und widerspruchslose Aussprache. Einiges zum
Beleg meiner Ansicht. —
Schon gleich der erste Satz, mit dem das Werk beginnt, gibt zu
Bedenken Anlaß; er lautet: „Die politische Oekonomie oder Wirtschafts-
lehre ist eine Untersuchung des Menschen in seinen gewöhnlichen
Lebensverrichtungen;; sie betrachtet die Tätigkeit des einzelnen und
der Gesellschaft, soweit sie sich auf die Gewinnung und den Verbrauch
der Mittel zum materiellen Wohlstand erstreckt.“
Ist wirklich die politische Oekonomie eine Untersuchung „des
Menschen“ und des „einzelnen“? Ich sollte meinen, wenn etwas an
den Anfang aller nationalökonomischen Propädeutik zu stellen wäre, so
wäre es gerade die Feststellung, daß die Volkswirtschaftslehre es nicht
mit dem „einzelnen“ und nicht mit „dem Menschen“, sondern nur mit
menschlichen Gemeinschaften, mit sozialen Erscheinungen zu tun hat.
Marshall weiß aber wohl auch die Bedenken zu würdigen, die
seiner Auffassung entgegen stehen, daher schwächt er diesen Satz wieder
ab und versieht ihn, wie er das überhaupt liebt, mit bestimmten
Klauseln; er sagt nämlich an anderer Stelle: „Die Nationalökonomen
erforschen die Handlungen der Individuen, aber mehr in Bezug auf das
soziale Leben, als auf das individuelle“ (S. 78); und an anderer Stelle:
„Bei den meisten wirtschaftlichen Problemen findet man den besten
Ausgangspunkt in den Motiven, welche den einzelnen bewegen, wobei
letzterer nicht als isoliertes Atom, sondern als Glied
einer besonderen Erwerbs- oder Wirtschaftsklasse be-
handelt wird.“
In seiner Methodenlehre geht Marshall von dem Satz aus, daß
der Vorteil der Wirtschaftslehre gegenüber den anderen Zweigen
der Sozialpolitik darin bestände, daß sie sich hauptsächlich mit den
Wünschen, Bestrebungen und anderen Affekten der menschlichen
Natur beschäftige. Die äußeren Erscheinungsformen der „menschlichen
Natur“ seien leicht meßbar und daher für die wissenschaftliche Methode
Literatur. 105
„besonders geeignet“. Er bezeichnet direkt als Ausgangspunkt der
Wirtschaftslehre das Studium des Maßstabes der menschlichen
Genüsse. Bei der Annahme eines genügend breiten Durchschnittes,
der die persönlichen Eigentümlichkeiten der Individuen ausgleiche, sei
das Geld, welches Leute mit gleichem Einkommen zur Erlangung eines
Genusses oder zur Vermeidung einer Unannehmlichkeit hergäben, ein
guter Maßstab des betreffenden Genusses oder der betreffenden Un-
annehmlichkeit. Die Nationalökonomie sull aber keineswegs etwa im
Sinne der klassischen Nationalökonomie zum Ausgangspunkt das
egoistische Streben nach eigenem materiellen Vorteil nehmen, sondern
das Geld bedeute zwar Verfügung über materiellen Reichtum, könne
aber auch in den Dienst der edelsten menschlichen Zwecke
gestellt werden.
Den ausschlaggebenden Grund dafür, daß die Nationalökonomie
eme Wissenschaft sei, erblickt Marshall in dem Umstand, daß die
Motive des menschlichen Handelns korrekt genug meßbar seien, um zu
einem sicheren Resultat zu gelangen. „Mit Hilfe der Statistik und
anderer Mittel stellt sie fest, wieviel Geld die (lieder einer besonderen
Gruppe, welche sie beobachten, im Durchschnitt, gerade noch bereit
sind, als Preis eines bestimmten Dinges, das ihnen genehm ist, zu be-
zahlen, oder wieviel ihnen angeboten werden muß, um sie zu einer
gewissen Mühe oder Entsagung, die ihnen nicht genehm ist, zu ver-
anlassen.“
„So z. B. können sie sehr genau abschätzen, wieviel man zahlen
muß, um für ein an irgend einem Platze zu errichtendes Geschäft das
entsprechende Angebot an Arbeit niedrigster und höchster Art hervor-
zubringen: wenn sie eine Fabrik irgend einer Art besuchten, die sie
niemals vorher gesehen haben, können sie genau bis auf 1—2 Schilling
pro Woche sagen, was ein Arbeiter verdient, indem sie nur beobachten,
bis zu welchem Grade seine Beschäftigung der Uebung bedart und
welche Ansprüche an seine körperliche, geistige und moralische Fähigkeit
gestellt werden und sie können mit ziemlicher Genauigkeit die Preis-
steigerung voraussagen, die einer gegebenen Angebotsverminderung bei
einem gewissen Gute folgt und wie dieser erhöhte Preis auf diese An-
gebote zurückwirken wird.“
Die Nationalökonomen brauchten hierbei keineswegs von einem
abstrakten Wirtschaftsmenschen auszugehen: „Sie befassen sich mit
dem Menschen, wie er ist. Aber da sie sich in der Hauptsache mit
denjenigen Seiten des menschlichen Lebens befassen, in denen die
Wirksamkeit des Motivs so regelmäßig ist, daß sie vorausgesagt werden,
und bei denen die Bewertung der Triebkräfte an Resultaten berechnet
werden kann, haben sie ihre Arbeit auf einer wissenschaftlichen Basis
erbaut.
Denn an erster Stelle befassen sie sich mit Tatsachen, welche
beobachtet werden können und mit Quantitäten, die man messen und
deren Größe man fixieren kann, so daß bei etwaigen Meinungsverschieden-
heiten öffentliche Beweise und wohleingerichtete Aufzeichnungen heran-
gezogen werden können; auf diese Weise erhält die Wissenschaft eine
106 Literatur.
solide Grundlage für ihre Arbeit. Zweitens findet man, daß die Probleme,
welche man zusammen als wirtschaftliche bezeichnen darf, weil sie sich
besonders auf das Verhalten des Menschen und den Einfluß von Motiven,
welche durch Geldpreise meßbar sind, beziehen, eine ziemlich gleich-
artige Gruppe ausmachen.“
In Bezug auf die wissenschaftliche Methode will Marshall jede
Einseitigkeit vermieden wissen. Sowohl das deduktive wie das induktive
Verfahren seien berechtigt; durch induktiv erlangtes Material müßten
die deduktiv abgeleiteten Sätze modifiziert und eingeengt werden. Er
erklärt die Möglichkeit beider Methoden einmal folgendermaßen: Er
meint, die Lehre von den Gezeiten biete eine gute Analogie zur Wirt-
schaftslehre; bei beiden übten gewisse zu Grunde liegende Kräfte einen
sichtbaren, teilweise ausschlaggebenden Einfluß auf fast jede Bewegung
aus. Bei der Lehre von den Gezeiten sei es die Anziehungskraft von
Mond und Sonne, in der Wirtschaftslehre sei es das Streben, möglichst
gute Befriedigung auf billigstem Wege zu erzielen. In beiden Fällen
würde ein rein deduktives Studium der isolierten oder mit anderen
verbundenen Wirksamkeit der führenden Kräfte Resultate zutage bringen,
welche vielleicht von wissenschaftlichem Interesse, aber von keinem
praktischen Nutzen wären. Aber in jedem Falle seien derartige
Deduktionen insofern von Nutzen, als sie die beobachteten Tatsachen
belebten, miteinander verknüpften und auf diese Weise zum Aufbau
sekundärer Gesetze für die Wissenschaft beitrügen.
Da Marshall aus der „menschlichen Natur“ bestimmte wirtschaft-
liche Sätze ableitet, hält er es auch für möglich, wirtschaftliche Gesetze
aufzustellen, und zwar unterscheidet er, je nach der Strenge, wirt-
schaftliche und soziale Gesetze. Die strengeren Gesetze seien
die wirtschaftlichen Gesetze, nämlich jene, welche sich auf Handlungen
bezögen, bei welchen die Stärke der hauptsächlich in Frage kommenden
Motive durch Geldespreis bemessen werden könne. Ein soziales Gesetz
sei die Feststellung, daß eine bestimmte Verhaltungsweise unter be-
stimmten Umständen von den Gliedern einer sozialen Gruppe erwartet
werden könne.
Es würde viel zu weit führen, wollte ich an dieser Stelle versuchen,
eine ausführliche Kritik der methodologischen Grundanschanungen
Marshalls zu geben. Da Marshall einerseits die Methode der
isolierenden Abstraktion der klassischen Volkswirtschaftslehre, andererseits
die detailpsychologische Analyse der Grenznutzentheoretiker und zwar
in ihrer feinsten mathematischen Ausgestaltung, nach dem Vorgange
von Cournot, Walras, Jevons, Patten, Wicksteed acceptiert,
so kaun ich auf meine Kritik dieser Methoden an den oben zitierten
Stellen verwiesen. Hier nur kurz folgendes:
Wenn Marshall den Ausgangspunkt der Wirtschaftslehre von
der menschlichen Natur nimmt, so scheint mir dies verfehlt. Er
behauptet zwar, daß die menschliche Natur immer gleich sei, da der
fundamentale Kern der wirtschaftlichen Organisation hauptsächlich von
denjenigen Bedürfnissen, Handlungen, Neigungen und Abneigungen ab-
hänge, die sich überall beim Menschen finden; diese Bedürfnisse ete.
Literatur. 107
seien nicht immer gleich in Form, auch nicht einmal ganz gleich im
Inhalt, aber sie bildeten doch ein genügend dauerndes und all-
gemeines Element, um bis zu einem gewissen Grade in allgemeinen
Sätzen zusammengefaßt werden zu können. Dies bestreite ich. Kann
man wirklich aus der menschlichen Natur wirtschaftliche Sätze ableiten,
die sowohl für die Periode des Feudalismus, wie für die des Kapitalis-
mus, für die Zeit der unfreien Arbeit, wie die der freien Arbeit passen ?
Es muß doch stets der historische Charakter der Wirtschaftslehre
insoweit festgehalten werden, als es sich immer für uns nur um Fest-
stellungen von Tatbeständen handeln kann, die für einzelne Epochen
oder Perioden des Wirtschaftslebens zutreffen, die aber je nach dem
Stande der rechtlichen Ordnung, dem Stande der Technik u. s. f. durchaus
verschieden sind. Damit fällt auch die Möglichkeit von ewigen
wirtschaftlichen Gesetzen von selbst fort. Wenn Marshall
meint, daß die Existenzberechtigung der Nationalökonomie als besonderer
Wissenschaft darin begründet sei, daß sie sich hauptsächlich mit dem
Teil der menschlichen Tätigkeit befasse, welcher am meisten unter
Kontrolle meßbarer Motive stände, so stünde es um die Wissen-
schaftlichkeit unseres Faches sehr schlecht, denn gerade die Meßbarkeit
dieser Motive ist durchaus nicht vorhanden. Es wird selbst von Fach-
psychologen kaum bestritten werden, daß die Meßbarkeit der Lust- und
Unlustgefühle, die Marshallim Auge hat, durchaus unsicher ist. Daher
sind auch solche Fragen, deren exakte Beantwortung Marshall
unserer Wissenschaft zuweist, wie z. B.: „Welcher Zuwachs an Wohl-
befinden wird sich mit apriorischer Wahrscheinlichkeit aus einer ge-
gebenen Vermehrung des Reichtums irgend einer sozialen Klasse er-
geben (S. 95)“, für uns gar nicht lösbar.
Aus diesem Grunde ist auch die Annahme sozialer Gesetze im
Sinne Marshalls unmöglich. Der Vergleich (S. 80), den er zwischen
der Anziehungskraft von Mond und Sonne und dem ökonomischen
Prinzip anstellt, hinkt ebenso, wie die an anderer Stelle einmal gebrachte
Analogie: „Das Vorhandensein eines großen Arbeitsangebots von Streich-
holzschachteln zu einem sehr niedrigen Lohnsatze ist in derselben Weise
normal, als die Krümmung der Knochen ein normales Resultat ist, wenn
man Strychnin genommen hat (S. 89)“. In beiden Fällen werden exakt
festzustellende naturgesetzliche Verknüpfungen in eine Linie gestellt
mit einer durchaus wandelbaren, exakter Beobachtung und Fest-
stellung gar nicht zugänglichen wirtschaftlichen Erscheinung.
Von sehr problematischem Werte scheinen mir auch die zahlreichen
mathematischen Formeln zu sein, dieMarshall zur Illustration seiner
psychologischen Detailanalyse gibt. Ich kann nicht finden, daß das Wert-
und Preisproblem durch Kurven, welche die Nachfrage eines Menschen
nach einem Gute durch die Intensität seiner Kauflust für ein gewisses Quan-
tum darstellen soll, befördert wird. Wenn nun gar im Kapitel „über die
Elastizität der Bedürfnisse“ uns eine Kurve der Elastizität der Nach-
frage vorgeführt wird, so daß wir genau ablesen können, wie stark die
Nachfrage nach grünen Erbsen zu Beginn und zu Ende der Saison,
und wieder verschieden je nach den verschiedenen sozialen Bevölke-
108 Literatur.
rungsschichten sich gestaltet, so kann man nur bedauern, daß so viel
Mühe und Geist in unfruchtbarer Weise angewandt wird.
Die Anhänger der Grenznutzentheorie werden solche Ausführungen
allerdings höher schützen, wie auch die Freunde der klassischen Natio-
nalökonomie die Partien seines Werkes, in denen er mehr ihren Ideen
folgt, anerkennen werden. Was aber jedenfalls alle Richtungen unbe-
friedigt läßt, ist sein Versuch der Verschmelzung grundverschiedener
Methoden. Ich verweise hier nochmals auf meine Kritik des Marshall-
schen Versuchs der Versöhnung der klassischen Werttheorie und der
Grenznutzentheorie. Das Ergebnis, zu dem Marshall gekommen, ist,
daß es auf die Länge der Zeitperiode ankommt, welche in Be-
tracht gezogen wird. Bei längeren Zeiten sollen die Produktions-
kosten, bei kürzeren Zeiten der Grenznutzen maßgebend sein. Wie
unbestimmt ist alles dies! Was soll man unter längeren und kür-
zeren Zeitperioden verstehen ?
Auch eine weitgehende Verwertung’ der naturwissenschaftlich-bio-
logischen Entwickelungsgesetze nach dem Vorgange von Herbert
Spencer für die Sozialwissenschaft halte ich für verfehlt. So meint
Marshall einmal geradezu, die Wirtschaftslehre sei eine Wissenschaft
des Lebendigen und daher eher der Biologie als der Technik ver-
wandt (!!) (S. 7); und ein anderes Mal spricht er von einer einheit-
lichen Wirksamkeit der Naturgesetze in der physikalischen und in der
moralischen Welt (S. 269).
Die Lehre vom Kampf ums Dasein wird direkt für die Volkswirt-
schaftslehre verwertet. Er acceptiert das „Gesetz vom Ueberleben des
Geeignetsten“ auch für die politische Oekonomie; es bedeute für die
Volkswirtschaft, daß die Existenz derjenigen Organismen sich fort-
pflanzen lasse, welche am besten ausgerüstet seien, aus ihrer Umgebung
Nutzen zu ziehen“ (S. 270).
Auch in dem den „Grundbegriffen“ gewidmeten Kapitel tritt das
Bestreben des Verfassers, Gegensätze möglichst auszugleichen, ausein-
andergehende Definitionen zu versöhnen, dem Sprachgebrauch des ge-
wöhnlichen Lebens möglichst weite Konzessionen zu machen, störend
hervor. Denn die Klarheit und Schärfe der Begriffe muß notwendiger-
weise darunter leiden. Tatsächlich sind die von Marshall gegebenen
Definitionen in der Regel keineswegs ein Muster logisch einwandfreier
Begriffe. Doch Marshall selbst hat sich in wünschenswerter Offenheit
über die Grundsätze, von denen er sich bei der Aufstellung von De-
finitionen hat leiten lassen, ausgesprochen.
Er meint, im gewöhnlichen Gebrauch habe fest jedes Wort viele
Schattierungen seiner Bedeutung und müsse daher aus dem Zusammen-
hang erklärt werden: wie Bagehot gezeist habe, müßten sogar die
formvollendetsten nationalökonomischen Schriftsteller diesem Beispiele
folgen, um genügend Worte zu ihrer Verfügung zu haben. Gewöhn-
lich gäbe es für jeden Ausdruck eine Bedeutung, welche Hauptbedeu-
tung genannt zu werden verdiene, weil sie für die Zwecke der modernen
Wissenschaft von größerer Bedeutung sei, als irgend eine sonstige ge-
bräuchliche; sie soll dann als wahre Bedeutung des betreffenden Aus-
Literatur. 109
drucks aufgestellt werden, wenn nichts anderes ausdrücklich bestimmt
oder vom Zusammenhang gefordert wird; daneben soll es aber diesen
Begriff noch im engeren oder weiteren Sinne geben. Da sich immer
eine gewisse Neinungsverschiedenheit über die genaue Abfassung einer
Definition unter den Nationalükonomen fände, müsse ein gewisser
„strittiger Spielraum“ bleiben (S. 101). Charakteristisch für diese Auf-
fassung sind auch die Sätze, die er schon in seiner Vorrede ausspricht:
„je einfacher und absoluter eine Wirtschaftstheorie ist, um so größer
wird die Kontusion sein, die sie bei den Versuchen verursacht , Wirt-
schaftstheorien auf die Praxis anzuwenden, wenn die Scheidelinien, aut
die sie Bezug nimmt, im wirklichen Leben nicht gefunden werden
können. Im wirklichen Leben gibt es keine deutlichen Scheidelinien
zwischen den Dingen, die Kapital sind, und denen, die es nicht sind,
oder zwischen denen, die Existenzbedarf darstellen, und denen, die es
nicht tun, oder schließlich zwischen Arbeit, die produktiv ist, und solcher,
die es nicht ist.“
Ich möchte nur einige Beispiele aus dem Marshallschen Lehr-
buch dafür anführen, wie diese eklektische Manier zur Verschwommen-
heit führt: z. B. will Marshall den Begriff „Güter“ so weit getaßt
wissen, dab auch die Gelegenheit zu schönen Reisen, zum Besuche
schöner Landschaften, Museen ete. dazu gehört. Auch „Erwerbsfähig-
keiten“ sind nach Marshall Güter, und zwar deshalb, weil ihr Wert
in der Regel gewissermaßen indirekt meßbar sei. Den Begriff des
Reichtums will Marshall so weit gefaßt wissen, daß auch „die
Geschicklichkeit des Zimmermannes“ darunter fällt. Besonders zu
Bedenken Anlaß gibt die Kapitaldefinition von Marshall. Wie kann
ein Student zu einer klaren Vorstellung vom Wesen des Kapitals kommen,
wenn er liest: „Das Kapital besteht zum großen Teil aus Kenntnissen
und Einrichtungen, die wir Organisation nennen wollen, und diese sind
wiederum teils Privateigentum, teils nicht.“ Auch der Mensch wird
von Marshall als Produktionsfaktor bezeichnet: in gewissem Sinne
seien „die Natur und der Mensch zwei Produktionsfaktoren“.
Ausdrücke, die sich als feste und klare Bezeichnungen für bestimmte
Erscheinungen in der Nationalökonomie ein gewisses Bürgerrecht er-
worben haben, liebt Marshall auf wesensverwandte, aber prinzipiell
durchaus verschiedene Erscheinungen anzuwenden. Auch hierfür einige
Beispiele:
Das Gesetz des abnehmenden Bodenertrages ist kein
nationalökonomisches, sondern ein naturwissenschattliches Gesetz, das auf
exakten, natürlichen Tatsachen beruht. Marshall konstatiert noch eine
Reihe weiterer solcher Gesetze und zwar das Gesetz des abnehmenden
Grenznutzens, das Gesetz vom zunehmenden Ertrag und das Gesetz vom
konstanten Ertrag. Das erste Gesetz lautet: „Der Grenznutzen eines
Gutes nimmt mit jeder Vermehrung des bereits vorhandenen Vorrates
ab“; das zweite lautet: „Eine Vermehrung von Kapital und Arbeit führt
gewöhnlich zu einer verbesserten Organisation, welche die Wirksamkeit
von Kapital und Arbeit erhöht. Daher gibt in denjenigen Erwerbs-
zweigen, welche sich nicht mit der Gewinnung von Rohprodukten be-
110 Literatur.
fassen, eine Vermehrung von Kapital und Arbeit im allgemeinen über
Verhältnis großen Ertrag; und weiterhin hat diese verbesserte Orga-
nisation das Bestreben, jeden gesteigerten Widerstand, den die Natur
der Gewinnung größerer Rohproduktenmengen entgegensetzt, zu ver-
mindern oder sogar zu überwinden.“ Und schließlich, wenn die Wir-
kungen der Gesetze vom steigenden und abnehmenden Ertrage sich das
Gleichgewicht halten, dann haben wir drittens das Gesetz vom kon-
stanten Ertrag vor uns: „Jede Mehrproduktion wird durch Arbeit und
Opfer erlangt, welche im gleichen Verhältnis vermehrt sind.“
Es muß zu den größten Mißverständnissen führen, wenn solche toto
coelo verschiedene Erscheinungen in einer einheitlichen Gruppe von
Gesetzen aufgestellt werden. Nur bei dem Gesetz vom abnehmenden
Bodenertrag kann man wirklich von einem Gesetz im strengen Sinne
eines Naturgesetzes sprechen. Unabhängig von menschlichen Organisa-
tionen muß dieses Gesetz in allen Zeiten immer das gleiche bleiben.
Dagegen handelt es sich bei dem sogenanuten „Gesetz vom abnehmenden
Grenznutzen“ nur um Tatsachen, die auf Beobachtungen des mensch-
lichen Seelenlebens beruhen, Tatsachen, die aber keineswegs so allge-
meingültig sind, daß sie zu einem „Gesetz“ in Analogie des genannten
Naturgesetzes formuliert werden können. Nur in sehr eingeengter und
sorgfältig abgegrenzter Form könnte hier von einer Gesetzmälßigkeit
überhaupt die Rede sein. Vollends aber gilt dies für das sogenannte
„Gesetz vom zunehmenden Ertrag“. Hier handelt es sich überhaupt
nicht um eine allgemeine gesetzmäßige Erscheinung, sondern nur um eine
Tatsache aus einer bestimmten Periode des Wirtschaftslebens für eine
bestimmte Tätigkeit des Menschen, nämlich die industrielle, und auch
hier nur für eine bestimmte ÖOrganisationsform, nämlich den kapitali-
stischen Großbetrieb. Auch da kann man durchaus nicht ausnahmslos
behaupten, daß mit der zunehmenden Größe der Betriebe auch ein
Wachstum der Ertragsfähigkeit parallel geht. Marshall zieht aber in
seinem umfangreichen Werke fortwährend diese Gesetze heran, er illu-
striert sie auch durch mathematische Formeln, kurz, er behandelt diese
sogenannten Gesetze so, als ob es sich in allen vier Fällen um so exakte
und ausnahmslose Erscheinungen handelt, wie bei dem zuerst genannten
Naturgesetz.
Auch der von Marshall in Analogie zur Rente konstruierte
Konsumentengewinn — er nennt ihn auch Konsumentenrente — scheint
mir zur Unklarheit zu führen. Er versteht darunter folgendes: da der
Preis, den jemand für eine Sache bezahlt, niemals höher sein könne, als
der Betrag, dessen Bezahlung er der Entbehrung dieser Dinge vorziehe,
so müsse die Befriedigung, welche ihm der Kauf verschaffe, im allge-
meinen diejenige übersteigen, welche er in der Hingabe der Preissumme
aufgäbe. Er erziele also von dem Kaufe einen Mehrwert von Befriedi-
gung und dieser Mehrwert wird von ihm als Konsumentengewinn
bezeichnet. Einige Güter ergäben besonders hohen Konsumentengewinn,
es gäbe viele Güter des Komforts und des Luxus, deren Preise bedeu-
tend niedriger seien, als diejenigen, welche viele Leute gern anlegen
Literatur. 111
würden, um sie nicht zu entbehren. Als „gute“ Beispiele nennt
Marshall: Streichhölzer, Salz, eine billige Zeitung, Briefmarken.
Es ist mir unerfindlich, wie man hier irgend eine Analogie zur
Rente entdecken kann, und ich halte daher auch die ganze Aufstellung
des Begriffes Konsumentengewinn für überflüssig oder vielmehr
für irreführend. Während es sich bei der Rente um den Vorteil handelt,
den jemand aus einem natürlichen Monopol zieht, handelt es sich
hier, wenn ich den Verfasser richtig verstehe, um die Konstatierung der
Tatsache, daß infolge billiger Produktionskosten bestimmte, mehr oder
minder notwendige Gebrauchsartikel sehr billig hergestellt werden
können. Daß der Konsument sich darüber freut, solche Dinge billig zu
erhalten, ist klar. Wie man aber solche aus einfachen Verhältnissen
der Preiskonjunkturen sich ergebenden Umstände noch zu besonderen
ökonomischen Phänomenen erheben will, ist mir unerfindlich.
Am meisten ist mir aber der Mangel an Begriffsschärfe bei
Marshall aufgefallen in dem Kapitel „über die Rente“; ich möchte
daher bei seiner Rententheorie etwas ausführlich verweilen, um so mehr,
weil dieses Kapitel besonders geeignet ist, die Eigentümlichkeiten seiner
Methode und Darstellungsart hervortreten zu lassen.
Die Rente wird zunächst im 8. Kapitel des V. Buches behandelt
unter der Ueberschrift „Die Rente oder das Einkommen aus einem
nicht von Menschen verfertigten Produktionsmittel und der Wert des
Produktes.“ Marshall geht von einer Prüfung der klassischen Renten-
theorie aus. Als die beiden wichtigsten Sätze der klassischen Lehre
bezeichnet er:
1) Der Preis des ganzen Produktes ist durch die in Geld veran-
schlagten Kosten an der Bebauungsgrenze (an der Grenze des isolierten
Staates) bestimmt.
2) Die Rente erscheint nicht als Bestandteil der Produktionskosten.
Diese Lehren seien zwar richtig, würden aber häufig falsch inter-
pretiert und bedürften einer präzisen Auslegung. Marshall selbst
schlägt eine bessere Formulierung dieser Theorie vor, und zwar durch
folgende 4 Sätze, die er als „Rettung der klassischen Lehre“ bezeichnet.
1) Die Menge gebauter Produkte und also die Lage der Bebauungs-
grenze (d. h. die Grenze der gewinnbringenden Kapital- und Arbeits-
verwertung auf gutem und schlechten Boden in gleicher Weise) sind
beide von den allgemeinen Nachfrage- und Angebotsverhältnissen be-
herrscht. Sie sind einerseits bestimmt durch die Nachfrage, d. h. durch
die Zahl der Leute, die das Produkt verbrauchen, die Intensität des
Bedürfnisses nach diesem Produkt und durch ihre Zahlungsfähigkeit.
Andererseits sind sie bestimmt durch das Angebot, d. h. durch die Aus-
dehnung und Fruchtbarkeit des verfügbaren Grund und Bodens, die
Zahl und Hilfsquellen derer, die ihn zu bebauen bereit sind. So be-
stimmen sich Produktionskosten, Dringlichkeit der Nachtrage, Produktions-
grenze und Produktenpreis wechselseitig, und man begeht keinen Zirkel-
schluß, wenn man sagt, irgend einer dieser Faktoren sei zum Teil durch
die anderen bestimmt.
112 Literatur.
2) Die Rente wirkt nicht mit bei der Regelung der allgemeinen
Nachfrage- und Angebotsverhältnisse oder ihrer gegenseitigen Bezie-
hungen. Sie ist bestimmt durch die Fruchtbarkeit des Bodens, den
Preis des Produkts und die Lage der Bebauungsgrenze; sie ist der
Wertüberschuß (Mehrwert) der Gesamterträge, die Kapital und Arbeit,
auf Boden angewendet, über diejenigen Erträge hinaus erhalten, die sie
unter ebenso ungünstigen Umständen, wie die an der Bebauungsgrenze
sind, erhalten würden.
3) Wenn dalıer die Produktionskosten für Produktenteile geschätzt
werden, die nicht von der Grenze stammen (in dieser Schätzung er-
scheint natürlich die Rente als ein Posten), und diese Schätzung dann
in einer Aufzählung der Gründe verwendet wird, die den Produkten-
preis bestimmen, dann liegt ein Zirkelschluß vor. Denn was gänzlich
eine Folge ist, wird als Teilgrund derjenigen Dinge gezählt, deren Folge
es eben ist.
4) Die Produktionskosten des Grenzproduktes können ohne Zirkel-
schluß festgesetzt werden, die Produktionskosten anderer Produktenteile
aber nicht. Die Produktionskosten an der Grenze gewinnbringender
Kapital- und Arbeitsanwendung sind diejenigen, nach welchen hin der
Preis des ganzen Produkts tendiert, unter dem regelnden Einfluß der
Nachtrage- und Angebotsverhältnisse.
Marshall nimmt noch eine kleine Modifikation der klassischen
Theorie nach der Richtung vor, daß er auf die Bebauung des Bodens
mit verschiedenen Fruchtarten Rücksicht nimmt; eine Modifikation, die
am Kern der klassischen Theorie nichts ändert.
Nachdem so Marshall im wesentlichen den Lehren der klassischen
Theorie gefolgt ist, schlägt er im 9. Kapitel „Die Quasirente oder der
Ertrag aus einem schon früher vom Menschen verfertigten Produktions-
instrument und der Produktenwert“ plötzlich einen neuen Weg ein. Er
meint, daß der gewöhnliche Sprachgebrauch keinen Unterschied mache
zwischen dem Einkommen, «as aus den freien Gaben der Natur flösse und
dem aus den Kapitalsanlagen, die zur Melioration des Bodens und zur Er-
richtung von Gebäuden benutzt würden. In allen diesen Fällen werde von
Rente gesprochen. Das Einkommen, das aus landwirtschaftlichen Gebäuden
oder Häusern gewonneu werde, sei aber wieder wesensverwandt mit
dem Einkommen aus dauerbaren Maschinen. In der Tat, meint Mar-
shall, hätten die Einkommen, die den von Menschen geschaffenen
Produktionsmitteln verdankt würden, manches mit den echten Renten
gemein. Die Reineinkommen, die aus früher geschatfenen Produktions-
instrumenten gewonnen würden, nennt daher Marshall Quasirenten,
und zwar sollen sie diese Bezeichnung haben, wenn es sieh um Pro-
duktionswerkzeuge handelt, die nicht so schnell reproduziert werden
können, so daß, wenn eine Aenderung in der Nachtrage nach solchen
Produktionswerkzeugen eintritt, das Angebot nicht „alsbald“ erfolgen
könnte.
„Für die betreffende Zeit haben sie zu dem Preis der Dinge, an
deren Produktion sie beteiligt sind, fast die gleiche Beziehung, wie der
Literatur. 113
Boden oder irgend eine freie Naturgabe, deren vorhandene Menge „dauernd
fixiert“ ist, und deren Reineinkommen eine wirkliche Rente ist.“
Marshall gibt ein Beispiel: „Angenommen, es sei infolge einer
Modeänderung eine ungewöhnliche Nachfrage nach einer bestimmten Art
von Textilfabrikaten hervorgerufen; die zur Erzeugung dieses Fabrikates
nötigen Spezialmaschinen könnten dann ein hohes Extraeinkommen ab-
werfen. Es erscheint ein Ueberschuß über den Normalgewinn, der in
solchen Anlagen sonst erzielt werden könnte, und dies ist die Quasi-
rente.“
Im allgemeinen, meint Marshall, müßte also neben den Unter-
schieden zwischen Boden und Kapital auch die Gleichheit beider
Produktionsmittel beachtet werden. Der Grund und Boden sei eine
ein für alle Mal fest gegebene Bestandmenge, dagegen die verfertigten
Produktionsinstrumente ein beständig fließender Strom, der verstärkt
oder abgeschwächt werden könnte. Soweit die Ungleichheit; die Gleich-
heit bestehe aber in folgendem:
Da manche dieser Produktionsinstrumente „nicht rasch“ reprodu-
ziert werden könnten, so seien sie in Wirklichkeit für kurze Zeitstrecken
eine fest gegebene Bestandsmasse. Für diese Perioden verhielten sich
die ihnen verdankten Einkommen zum Wert der mittelst ihrer herge-
stellten Produkte wie echte Renten.
Wenn bisher Marshall Einkünfte, die in der Regel als Ge-
winne aufgefaßt werden, als Rente oder Quasirente bezeichnet,
so will er andererseits gewisse Einkünfte, die gewöhnlich als Rente
bezeichnet werden, als Gewinne aufgefaßt wissen. Die Rente, die
sich durch besonderen Vorteil der Lage eines Grundstückes ergibt, nennt
er Lagerente. Es gäbe aber Ausnahmefälle, bei denen dieses Ein-
kommen aus vorteilhafter Lage nicht als Rente, sondern als Gewinn
anzusehen sei. Bisweilen sei der Besiedelungsplan einer ganzen Stadt,
ja eines Bezirks, nach geschäftlichen Grundsätzen ausgerichtet und werde
als eine Anlage auf Kosten und Gefahr einer einzelnen Person oder
Gesellschaft ausgeführt. Diejenigen, die es unternähmen, einen neuen
Bezirk zu kolonisieren oder eine neue Stadt zu bauen, gründeten ihre
größten Hoffnungen darauf, daß es ihnen gelingen werde, die Gewinne
aus kommerziellen Erfolgen selbst einzustreichen. In allen solchen
Fällen müßte man das jährliche Einkommen aus Grund und Boden für
viele Zwecke mehr als Gewinn, denn als Rente auffassen.
Schließlich konstruiert Marshall noch eine zusammengesetzte
Rente; als solche bezeichnet er die Hausrente; sie bestehe aus zwei
Bestandteilen, der Quasirente des Gebäudes und der eigentlichen Rente
des Grund und Bodens, auf dem das Gebäude steht.
Nach diesen allgemeinen Betrachtungen über Rente, Quasirente
und zusammengesetzte Rente bespricht Marshall dann im 9. Kapitel
des 6. Buches „die Grundrente im engeren Sinne“. Hier zeigt sich,
daß er die ursprüngliche Anlehnung an die klassische Theorie fast
gänzlich aufgegeben hat. Er geht davon aus, daß die sogen. „Grund-
Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVII). 8
114 Literatur.
rente“ überhaupt gar keine spezielle eigenartige Tatsache sei, sondern
nur ein besonderer Fall einer allgemeinen Wirtschaftserscheinung,
nämlich ein Fall von sogen. Differentialeinkommen. Er zieht das Fazit
aus früher Gesagtem, indem er erklärt: „Die Grundrente ist nicht eine
einzigartige Tatsache, sondern einfach die Hauptspecies einer großen
Gattung von ökonomischen Phänomenen, und die Grundrententheorie
ist keine isolierte ökonomische Lehre, sondern bloß eine von den Haupt-
anwendungsfällen einer einzelnen Folgerung aus der allgemeinen Theorie
von Angebot und Nachfrage; und es gibt einen beständigen Uebergang
von der wirklichen Rente aus den freien Naturgaben, die von Menschen
occupiert wurden, durch den aus Bodenverbesserungen bezogenen
Ertrag hındurch, zu denjenigen Renten, die aus landwirtschaftlichen
und Fabrik-Gebäuden, Dampfmaschinen und weniger dauerbaren Gütern
erhalten wird.“
Ich kann die Marshallsche Rententheorie nicht als Rettung,
sondern vielmehr nur als Verwässerung der klassischen Rententheorie
ansehen. Was gerade den Vorzug der klassischen Theorie ausmacht,
ist die klare und scharfe Abgrenzung des Renteneinkommens gegenüber
allem übrigen Einkommen: Was dem Bodenmonopol als solchem und
nicht der menschlichen Arbeit oder dem Unternehmungsgeist verdankt
wird, ist Rente. Dies alles gibt Marshall Preis, indem er auch hier
wieder Erscheinungen, die eine gewisse Aehnlichkeit mit der Rente
haben, unter denselben oder einen ähnlichen Begriff zu bringen sucht.
Was zunächst die Kapitalsanlagen anlangt, deren Reproduktion „längere
Zeit“ in Anspruch nimmt, so ist doch immer noch zwischen dem Boden
und diesen Anlagen der tiefgreifende Unterschied, daß im ersten Falle
ein natürliches Monopol und im letzteren Falle ein von Menschen ge-
schaffenes Produktionsmittel vorliegt. Aber selbst davon abgesehen,
was heißt „längere Zeit“? Wo sollen „rentenartige“ Kapitalsanlagen
anfangen? Es fehlt jedes klare Kriterium. Marshalls Vorliebe zur
Produktionskostentheorie tritt auch hier wieder hervor. Bei kurz-
fristigen Anlagen sollen die „Kosten“ für den Preis entscheidend sein;
bei langfristigen soll dem Produzenten wegen der Schwierigkeit der
Kapitalsanlage ein Extragewinn blühen können. Selbst einmal den
Standpunkt der Produktionskostentheorie angenommen, müßten doch
alle die Fälle, die Marshall unter dem Namen „Quasirente“ zusammen-
faßt, richtiger als Konjunkturengewinne bezeichnet werden. Gewiß kommt
es oft vor, daß bei plötzlicher großer Nachfrage nach Artikeln, die
schwer vermehrbar sind, ein Extraprofit zu erzielen ist. Aber dies alles
ist Profit und niemals Rente, auch nicht Quasirente. Ebenso ist es in
den Fällen, wo Marshall meint, daß dort „mehr“ von Gewinn als
von Rente gesprochen werden müsse. Nicht mehr, sondern allein
von Gewinn kann die Rede sein. Ich meine die Gewinne der
Terrainspekulation; gerade wie mit anderen Objekten wird hier mit
Grund und Boden spekuliert; das Einkommen daraus ist auch nicht
gemischten Charakters, sondern reiner Gewinn. Hier brauchte Mar-
shall gar keine „Korrektur“ der klassischen Lehre vorzunehmen, denn
gerade nach dieser Theorie ist die Rente der unverdiente, d. h. ohne
Literatur. 115
jedes Zutun, auch ohne spekulative Geschäftsabsicht, dem Bodenbesitzer
zufallende Mehrwert.
Seligmans „Principles of economics“ sind in ganz besonderem
Maße geeignet, den Studierenden als Lehrbuch neben den Vorlesungen
zu dienen. Sie gehen nicht so in die Details der wissenschaftlichen
Analyse ein, wie das Werk von Marshall; überhaupt liest sich das
Werk viel leichter. Es ist auch nicht in erster Linie für die Fachleute
und die Elite der Studierenden geschrieben, wie das Marshallsche
Werk. Es ist populär im besten Sinne des Wortes, zeichnet sich durch
klaren, logischen Aufbau des Systems und durch ganz besonders reich-
haltige und sorgfältig ausgewählte Literaturangaben aus. Noch besonders
hervorgehoben zu werden verdient, daß dieses Werk, welches nicht
nur die theoretische Nationalökonomie im engeren Sinne umfaßt, sondern
auch das Geld-, Kredit-, Verkehrs-, Versicherungs- und Armenwesen
behandelt, für die praktische Brauchbarkeit dadurch besondere Vorzüge
aufweist, daß es eine sehr große Anzahl höchst instruktiver Karten-
beilagen mit graphischen Darstellungen enthält. Es zählt jedenfalls
zu den besten Büchern dieser Art.
Wie sehr die von mir oben charakterisierte Manier Marshalls,
die Grenzen zwischen den einzelnen ökonomischen Kategorien zu ver-
wischen, Schule gemacht hat, zeigt gerade dieses Werk auf das deut-
lichste. Seligman geht in dieser Hinsicht noch weit über Mar-
shall und seinen Landsmann Walker hinaus; so z. B. wenn er be-
hauptet, daß aller Wert ein Differentialwert sei, und daher die
Eigentümlichkeit der Grundrente als eines Differentialertrages gar keine
Ausnahme, sondern nur ein Spezialfall einer allgemeinen ökonomischen
Erscheinung sei. —
Er sagt darüber folgendes (S. 217): „Jeder Wert kann als ein
Differentialwert betrachtet werden. In jeder Art von Gütern gibt es
verschiedene Grade, die verschiedenen Benutzungsarten entsprechen.
Ein gutes Boot wird mehr Miete einbringen, als ein minderwertiges,
und wenn es ganz schlecht ist, wird es überhaupt nicht vermietet
werden können. Die Rente kann daher gemessen werden, wie ein
Differential von einer Grenzlinie, wo keine Rente vorhanden ist, und
die Rente irgend einer Sache kann ebensogut definiert werden, als
der Differentialertrag oder Surplusertrag über die rentenlosen oder
Grenzerträge derselben Klasse von Gütern.“
An anderer Stelle wird dieselbe Behauptung in noch schärferer
Weise vorgetragen. Im Kapitel über Rente und Preis (S. 376) heißt
es: „Es ist festgestellt, daß die Grundrente keinen Teil der Kosten
ausmacht, und daß hohe Renten deshalb eine Wirkung und nicht eine
Ursache hoher Preise sind. Es ist zweifellos wahr, daß, wenn Weizen
auf Grund und Boden von verschiedener Fruchtbarkeit oder Lage ge-
wonnen wird, die Konkurrenz den Preis allen Weizeus derselben
Qualität auf die Produktionskosten des Grenzproduzenten, d. h. auf die
Kosten des Produzenten des ungünstigen Bodens bringen wird. Der
jenseits dieser Grenzen produzierende Landwirt wird einen Vorteil
gr
116 Literatur.
haben, und wenn wir diesen differentiellen Mehrertrag Rente nennen,
kann man sagen, daß diese Differentiale nicht in den Preis übergeht.
Genau daselbe ist aber von jedem anderen Anteil bei der Verteilung
wahr. Setze man an Stelle der Grundstücke Nähmaschinen, die monat-
lich oder jährlich vermietet werden. Einige dieser Maschinen werden
mehr Kleidungsstücke derselben Qualität herstellen, als andere; alle
Kleidungsstücke werden aber zum selben Preise, nämlich zu den Kosten
des Grenzproduzenten, d. h. zu den Kosten des Produzenten mit der
schlechtesten Maschine abgegeben, und die Differentiale zwischen dem
Grenzprodukt und dem Produkt der besseren Maschine wird als Surplus-
rente dem Eigentümer der besseren Maschine zufallen.“ Ja, er geht
an dieser Stelle noch weiter, und gibt auch ein Beispiel von den ver-
schiedenen Lohnbezügen verschiedener tüchtiger Arbeiter, und schließt
dann mit dem Satz: „Die Löhne der verschiedenen Kategorien der
Arbeiter sind eine Differentiale in demselben Sinne, wie die Renten
der verschiedenen Qualitäten des Grund und Bodens oder des Kapitals
eine Differentiale ist.“
Ich habe absichtlich dieses ausführliche Zitat gegeben, weil es
memes Ermessens auf das deutlichste zeigt, zu welcher theoretischen
Verwirrung diese Betrachtungsweise notwendig führen muß. Hier gilt
es gerade gegenüber der nur scheinbaren Uebereinstimmung auf die
grundsätzliche Verschiedenheit an Bodendifferenzen und Arbeitsleist-
ungsdifferenzen hinzuweisen.
Ich möchte aber noch ein weiteres Beispiel dieser theoretischen
Verschwommenheit anführen, und zwar die Erklärung des Gesetzes
vom abnehmenden Ertrag. Im Anschluß an Marshall gibt auch
Seligman drei Gesetze, nämlich das Gesetz vom abnehmenden, zu-
nehmenden und konstanten Ertrag. Auch in seiner Erklärung des
Gesetzes vom abnehmenden Ertrag geht er aber noch weit über
Marshall hinaus, indem er behauptet, daß dieses Gesetz vom ab-
nehmenden Ertrag eine ganz allgemeine Erscheinung der Volkswirtschaft
sein soll.
Auch hier zunächst einige wörtliche Zitate: (S. 212) „Das Grund-
gesetz des Wertes ist das Gesetz der abnehmenden Nützlichkeit. Die
Befriedigung, die von den aufeinanderfolgenden Vermehrungen eines
Gebrauchsgutes ausgeht, nimmt ab mit der Vermehrung des Vorrates.
Wenn wir in derselben Weise die Nützlichkeit der verschiedenen Ver-
mehrungen der Produktionsgüter oder Produktionsmittel miteinander
vergleichen, haben wir das Gesetz des abnehmenden Ertrages vor uns.
An Stelle der abnehmenden Nützlichkeit von direkten Diensten, die uns
durch eine konsumierte Sache geleistet wird, denken wir dabei an den
verminderten Ertrag oder Dienst, der uns durch irgend etwas gewährt
wird bei der Produktion des wirtschaftlichen Gutes, welches wir
konsumieren. Wenn ein Mann einen Webstuhl bedient, wird er eine
gewisse Menge Tuch leisten können, verdoppelt man die Webstühle,
so wird er die doppelte oder mehr als die doppelte Arbeit leisten können:
gibt man ihm 4 Webstühle, so wird der Ertrag vierfach sein. Von
einer gewissen Grenze ab aber wird die Beaufsichtigung jedes folgen-
Literatur. 117
den Webstuhls seine Energie verringern und mehr Fehler verursachen.
Der Gesamtertrag mag größer sein, aber der Ertrag jedes Webstuhls
wird geringer sein, bis schließlich neue Webstühle den Gesamtertrag
überhaupt nicht mehr vermehren. Wenn wir die Arbeiter anstatt der
Maschinen vermehren, wird dieselbe Erscheinung eintreten; mehr An-
strengung bedeutet nach einem gewissen Zeitpunkt relativ geringere
Erträgnisse. Ein Ruderer kann seine Geschwindigkeit durch größere
Anstrengungen vermehren, aber nach einem gewissen Punkt bei großen
Anstrengungen keine größeren Geschwindigkeiten mehr bewirken. Eine
Vermehrung der Ruderer wird dies Gesetz nicht abändern. 2 Männer
werden ein Boot nicht 2mal schneller als einer rudern; 4 Männer werden
es nicht 2mal so schnell als 2 rudern. Ein großer Omnibus kann mehr
Leute aufnehmen, als ein kleiner, aber wenn eine bestimmte Größe er-
reicht ist, wird es rentabler sein (it will pay better) einen anderen
Omnibus zu kaufen, als den alten zu erneuern.
Auf einem Grundstück kann es gewinnbringend sein, mehr Leute
zu beschäftigen oder mehr Düngemittel und bessere Maschinen zu be-
nutzen, aber nach einem gewissen Zeitpunkt beginnen zusätzliche Mengen
von Arbeit und Kapital kleinere Erträgnisse zu liefern. Das Gesetz
des abnehmenden Ertrages ist universell, es ist ein anderer Ausdruck
für das Gesetz der abnehmenden Nützlichkeit. Das letztere rührt von
der begrenzten Natur des Menschen her, das erstere von der begrenzten
Natur in den Elementen seiner Umgebung.“
Ueber denselben Punkt spricht sich Seligman in dem Kapitel
„verhältnis der Grundrente zu anderen Renten“ folgendermaßen aus:
„Das Gesetz des abnehmenden Ertrages ist in der Tat die Grundlage
des Rentengesetzes. Der Landwirt wird einmal einen Punkt erreichen,
wo es ihm nicht mehr lohnt, noch einen Arbeiter oder noch eine Ma-
schine auf seinem Grundstück zu verwenden, weil über die Grenze der
nutzbringenden Auslagen jede zusätzliche Verwendung in Kapital oder
Arbeit einen Ertrag liefert, der nicht hinreichend ist, um die Kosten
zu decken. Jedenfalls wird er die extensive oder intensive Grenze der
Ausnutzung des Grund und Bodens erreichen. Dies aber ist nichts
dem Grundbesitzer Eigentümliches. Der Kapitalist wird
ebenso einen Punkt erreichen, wo es ihm nicht mehr lohnen wird (it
will not pay him) mehr Maschinen einer bestimmten Sorte zu kaufen
oder eine weitere, für dasselbe Erzeugnis bestimmte Fabrik zu bauen;
und der Arbeiter wird den Punkt erreichen, wo er nicht vorteilhafter-
weise noch mehr Webstühle bedienen kann.
Das Gesetz des abnehmenden Ertrages ist universell und auf alles
anwendbar, was Wert besitzt; wenn es die Grundrente erklärt, erklärt
es ebenso den Kapitalzins und den Arbeitslohn.“
Man kann nur bedauern, daß der Verfasser, der sonst gerade durch
klare und logische Begriffsbildung sich auszeichnet, in diesem wichtigen
theoretischen Kapitel so schwere Mißgriffe sich zu schulden kommen
läßt. Denn bei diesen letzten Ausführungen kann man nicht, wie etwa
bei der früher gerügten Ausdehnung des Rentencharakters auf ver-
schiedene Arten von Differentialeinkommen allein von einer unzweck-
118 Literatur.
mäßigen Erweiterung des Rentenbegriffes sprechen. Hier kann man
nicht etwa nur meinen, daß die klassische Theorie die zweckmäligere
wäre. Bei dieser letzten Ausführung über das Gesetz vom abnehmen-
den Ertrag muß man durchaus von einer irreführenden und mißver-
ständlichen Verwechselung grundverschiedener Wirtschaftserscheinungen
sprechen. Man kann nur dringend wünschen, daß diese Art von Begriffs-
bildung aus den nationalökonomischen Grundrissen verschwinden möchte,
denn in der Tat ergibt sich aus dem letzten Zitat, daß Seligman aus
einem Rohertragsproblem ein Reinertragsproblem gemacht
hat. Nie anders wurde das Gesetz des abnehmenden Ertrages aufgefaßt, als
in dem Sinne eines Rohertragsproblems, d. h, daß vom bestimmten Zeit-
punkt ab die Roherträge abnehmen. Nun macht Seligman dar-
aus ein Reinertragsproblem, d. h. er führt alle möglichen Fälle auf, wo
es im Interesse der privatkapitalistischen Ausnutzung eines Unter-
nehmers nicht mehr gelegen sei, weitere Produktionsmittel anzuwenden.
Es handelt sich jedoch hier um gänzlich verschiedene Fälle und das für
viele ökonomische Probleme fundamental wichtige Gesetz des abnehmenden
Ertrages wird durch solche „Erweiterungen“ ganz sinnlos und unver-
ständlich. Indem Seligman ein einfaches naturgesetzliches Faktum
zu einem allgemeinen Wertproblem erhob, hat er die Grundnatur
des ersteren vollkommen verkannt.
Ebenso liegt ein Mißverständnis zu Grunde bei der Parallele zwischen
der abnehmenden Arbeitskraft des einzelnen Menschen und dem Gesetz des
abnehmenden Ertrages. Daß die Arbeitskraft eines Menschen nicht in
infinitum auszudehnen ist, sondern daß nach einer bestimmten Aufwendung
von Arbeitskraft eine Verminderung der Leistungen auftreten mul, ist eine
allbekannte Tatsache, die aber schlechterdings wieder gar nichts zu tun hat
mit dem Gesetz des abnehmenden Ertrages; denn bei diesem handelt es
sich darum, daß wir einen Unterschied konstatieren wollen zwischen der
Leistung der Naturkräfte bei der industriellen und der landwirtschaft-
lichen Produktion. Während bei der industriellen Produktion die Natur-
kräfte wie freie Güter in beliebiger und unbegrenzter Weise die mensch-
liche Arbeit unterstützen, sind die Naturkräfte bei der Landwirtschaft,
so weit sie in einem Bodenstück konzentriert sind und zum Wachstum
der Pflanzen unentbehrlich sind, nur bis zu bestimmten Grenzen für
vermehrte Produktion ausreichend. Wenn aber einmal für dieses wich-
tige Naturgesetz ein bestimmter technischer Ausdruck geprägt ist, ist
es höchst bedenklich und gefährlich, dieses Gesetz auch für andere
Erscheinungen, die höchstens ein paar kleine äußerliche Aehnlichkeiten
aufweisen, anzuwenden.
Die Grundlegung von Pesch ist der erste Band eines größeren
Werkes, welches die gesamte Nationalökonomie umfassen soll. In diesem
ersten Bande sind die wichtigsten allgemeinen methodologischen und
sozialphilosophischen Grundfragen behandelt. Besonders eingehend
nimmt der Verfasser Stellung zum System des Individualismus und
Sozialismus.
Charakteristisch für das Werk ist, daß es vom orthodox-katholischen
Standpunkt aus geschrieben ist; es hebt sich aber vorteilhaft von vielen
Literatur. 119
anderen Werken, die von diesem Standpunkt aus verfaßt sind, dadurch
ab, daß es in wohltuendster Objektivität auch anderen Richtungen ge-
recht zu werden sucht. Frei von jedem Fanatismus gegenüber gegne-
rischen Richtungen, prüft der Autor auch die Gedankengänge, die seinem
Standpunkt diametral entgegengesetzt sind. Es finden sich in dem
Werke viele treffende kritische Bemerkungen, dahin rechne ich z. B.
mancherlei aus dem Kapitel „Ueber die Wirtschaftsstufen“, ferner über
die evolutionistische Nationalökonomie. Auch wer die theologische
Begründung, die der Verfasser seinen Sätzen gibt, für verfehlt hält,
wird vielerlei Anregung und Belehrung aus diesem Werke schöpfen
können.
Sehr viele Berührungspunkte hat Pesch mit Adolph Wagner,
den er selbst als seinen Lehrer bezeichnet. Mit Adolph Wagners
Grundlegung hat dieses Werk gemein, daß die tiefsten und schwierigsten
Probleme hier zur Erörterung gelangen, namentlich die Fragen der
wirtschaftlichen Freiheit, des Privateigentums, die Stellung des Staates
zur Volkswirtschaft und andere mehr. Die Grundauffassung, von welcher
der Verfasser an die Betrachtungen der Nationalökonomie herangeht,
kann man als anthropologisch-teleologisch einerseits und religiös-katho-
lisch andererseits bezeichnen. Die grundlegenden Sätze des Verfassers
lassen sich in aller Kürze etwa so zusammenfassen:
Aus dem Gesetz Gottes, welches alles menschliche Streben und
Handeln ordnet, ergeben sich Zweck und Norm der Herrschaft des
Menschen über die äußere Welt. Die Welt soll uns helfen, unsere
Lebensaufgaben im Diesseits und für das Jenseits zu erfüllen. Der
Mensch muß daher entsagen überall, wo der Gebrauch der weltlichen
Dinge zum Hindernis würde für die Erreichung der von Gott gewollten
diesseitigen und jenseitigen Lebenszwecke. Kurz gesagt, der Mensch
ist Mittelpunkt und Beherrscher der materiellen Welt nach Gottes
Willen durch seine sinnlich vernünftige Natur, die ihn zugleich be-
fähigt, in fortschreitender Entwickelung jene Herrschaft zu erweitern,
zu vervollkommnen, zu befestigen. Der Mensch ist niemals bloß Objekt
oder Werkzeug, sondern immer und überall Subjekt und Ziel der Wirt-
schaft und wirtschaftlichen Tätigkeit. In steter Unterordnung unter das
Gesetz desjenigen, der nicht mit abgeleitetem, sondern mit ursprünglichem,
völlig souveränem Rechte die Welt regiert, die er erschaffen hat.
In dem göttlichen Sittengesetz soll darum auch der Nationalökonom
immer die höchste, wichtigste Norm für den Teil des Gesellschaftslebens
erkennen, der den Gegenstand seiner Forschungen bildet. Die lex aeterna
erscheint bei vernünftigen Menschen als das natürliche Licht der Ver-
nunft, durch welches wir erkennen, was wir tun und meiden sollen, als
göttliches Sittengesetz, das uns zu dem von Gott gewollten Ziel, auf den
von Gott gewollten Weg zu leiten bestimmt ist. Dieses Gesetz ordnet
sowohl die innere Gesinnung, wie das äußere Verhalten, unsere Bezie-
hungen zur Welt, zu den Menschen zu der Gesellschaft; aus der un-
wandelbar vernünftigen Menschennatur, dem unwandelbaren göttlichen
Sittengesetz leitet die Nationalökonomie Prinzipien und stellt Forderungen
auf darüber, wie die Entwickelung verlaufen soll.
120 Literatur.
Von diesem Standpunkt aus hält der Verfasser die Systeme des
Individualismus und des Sozialismus für gleich verfehlt. Den leitenden
Ideen des Individualismus, der absoluten Freiheit und Selbständigkeit
der einzelnen Wirtschaften, die nur den eigenen Vorteil suchen, der
individualistischen Dezentralisation stellt der Sozialismus die Forderung
einer völlig einheitlichen zentralisierenden universalen Wirtschaftsge-
nossenschaft gegenüber mit Verwischung aller sozialen Differenzierung
zwischen Berufsgruppen, Klassen, Ständen.
Verfasser tritt für ein drittes System ein, welches in der Mitte
steht zwischen beiden Extremen einer absoluten Zentralisation und einer
absoluten Dezentralisation; es beläßt der einzelnen Wirtschaft ihre rela-
tive Selbständigkeit, fordert lediglich deren organische Eingliederung in
das gesellschaftliche Ganze.
Da aber die Gesellschaft als Verbindung freier sittlicher Wesen
eine moralische Einheit darstellt, so muß auch der in letzter Linie jedes
soziale System beherrschende Grundgedanke ein sittliches Postulat sein.
Diese rechtlich sittliche Forderung, welche als oberstes und allgemeinstes
Rechtsprinzip und Gesetz für das Individuum, für die Gesellschaft und
den Staat sich darstellt, nennt der Verfasser Solidarität und das
darauf aufgebaute Wirtschaftssystem Solidarismus. Er will keine
allgemeine Wirtschaftsgenossenschaft. wohl aber ein soziales System, im
Hinblick auf den natürlichen Sozialzweck der staatlichen Gesellschaft,
geeinter Privatwirtschaften unter Wahrung aller berechtigten, mit dem
Gesamtwohl vereinbarten Selbständigkeit, unter reicher Entfaltung eines
durch Gemeingefühl starken Gesellschaftslebens. Das Gesamtwohl ist
ihm nicht lediglich Produkt eines Mechanismus, sondern das Ziel, auf
welches alle verpflichtet sind, jeder in seiner Weise, die Autorität un-
mittelbar, die Bürger vor allem durch Unterordnung und Eintügung
ihrer privaten Bestrebungen in das Ganze mit Rücksicht auf dessen
Zweck. Nach den Forderungen des Gemeinwohls soll sich das Ver-
hältnis und die Verteilung von privatwirtschaftlicher und gemeinwirt-
schaftlicher Sphäre regeln, die Beschränkung oder Gewährung einer in
sich berechtigten Freiheit, der Ausgleich der Interessen der verschiedenen
Gruppen und Klassen u. s. w. Letztlich ist der Solidarismus nichts
anderes, als die sittlich-organische Auffassung des staatlichen Gesell-
schaftslebens in systematischer Einwirkung auf die Volkswirtschaft, um
dieser die ihrem naturgemäßen Ziele (Volkswohlstand) entsprechende
Organisation zu sichern.
Soweit die Grundgedanken des Verfassers.
In Kürze einige kritische Bemerkungen:
Wenn Pesch einmal (S. 174) als den Kern jeder echt sozialen
Auffassung das Ziel bezeichnet: „allen Volksgenossen nach Möglichkeit
die gesicherten Bedingungen zu verschaffen für eine normale und gün-
stige Entwickelung ihrer geistigen und körperlichen Existenz, wobei als
wahrer Maßstab fortschreitende Kultur, insbesondere der materiellen,
geistigen und sozialen Hebung gerade der unteren und mittleren Klassen,
zu gelten hat“, so wird man sich dieser Auffassung durchaus anschließen
Literatur. 121
können. Was aber zu den größten Bedenken Anlaß gibt, ist die religiös-
katholische Fundamentierung dieses Standpunktes. Es wird der Religion
eine viel zu große Aufgabe und Verantwortlichkeit zugemutet, wenn aus
ihr heraus auch die richtigeu Prinzipien für eine vernünftige Wirtschafts-
und Sozialpolitik abgeleitet werden sollen. Wenn in dem eben ange-
führten Zitat der Verfasser Stellung nimmt gegen das Darwinistische
Prinzip einer natürlichen Entwickelung des Wirtschaftslebens, so stimmen
wir darin mit ihm vollkommen überein, aber ist es nicht eine ganz
analoge Verirrung, wenn er uns nun eine andere natürliche Ent-
wickelung oktroyieren will, die ihren Ursprung von einem an-
geblich göttlichen Sittengesetz herleitett? Mag auch die ethische
Grundanschauung des Christentums für das Verhalten der Menschen im
Wirtschaftsleben maßgebend sein, wie viele gerade der wichtigsten und
schwierigsten Wirtschaftsprobleme sind religiös indifferent, oder können
in verschiedenster Weise eine Lösung finden, ohne dabei dem religiösen
Empfinden irgend wie zu nahe zu treten. Ob man die industriellen
Kartelle unter Staatsaufsicht stellt oder nicht, ob man die großen
Betriebe durch Steuern in ihrem Wachstum zu hindern suchen
soll oder nicht, ob man sich für oder wider die Förderung der
Fideikommisse erklärt, um nur einige Beispiele von Fragen
zu erwähnen, die in neuerer Zeit viel besprochen wurden —
für diese Erwägungen sind technisch-ökonomische Gesichtspunkte maß-
gebend, nicht aber können sie aus religiöser Anschauung heraus ent-
schieden werden. Der Verfasser ist der Gefahr nicht entgangen, in viel
zu weitgehender Weise der Religion wirtschaftspolitische Tendenzen zu-
zumuten, so z. B. wenn er aus der Natur des Christentums als einer
Weltreligion folgert, daß auch die wirtschaftliche Solidarität über die
Grenzen des einzelnen Staates hinausgehen müsse und dabei besonders
auf die Wichtigkeit des internationalen Arbeiterschutzes hinweist, oder
wenn er von demselben christlichen Standpunkt aus gegen die großen
Riesenbetriebe sich ausspricht: „Gegen jene rücksichtslose Ausdehnung
einer ins Ungemessene gehenden Produktion und Handelstätigkeit, so
zwar, daß der große oder kolossale Betrieb zugleich zielbewußt die Ver-
nichtung zahlreicher mittlerer und kleiner Betriebe erstrebt.“
Besonders fiel mir aber der Fehler des Verfassers, der als eifriger Be-
kämpfer des Naturrechtes der individualistischen Nationalökonomie doch
im Grunde genommen selbst ein neues Naturrecht schafft, bei seiner Be-
handlung der Frage des Privateigentums auf. Er bekämpft die Legaltheorie
und zwar deshalb, weil sie keine Rücksicht nähme auf das göttliche Sitten-
gesetz. Hiernach dürfe über die Berechtigung des Privateigentums gar
nicht gestritten werden, weil das Privateigentum ewigen und göttlichen
Ursprungs sei. Das Privateigentum sei in seinem wesentlichen Bestand
ein notwendiges Produkt. Schon die Tatsache, daß zu allen
Zeiten, bei allen Völkern die Eigentumsinstitution sich vorfand, ließe
sich nur dadurch erklären, daß die vernünftige Natur die Menschen zur
Einführung und Bewahrung dieser Einrichtung angeleitet habe. Ihrem
wesentlichen Inhalt nach entspräche also die Eigentumsinstitution einer
122 Literatur.
Forderung der Vernunft. Pesch schließt sich vollkommen den Sätzen
an, die Leo XIII. in seiner Encyclica rerum novarum am 12. Mai
1881 ausgesprochen hat.
„Der Mensch hat auf Erden, nicht nur wie das Tier das einfache
Gebrauchsrecht, sondern auch ein dauerndes Eigentumsrecht und zwar
nicht allein bezüglich jener Dinge, die durch den Gebrauch verbraucht
werden“; und ferner den Satz: „Das Privateigentum ist unter allen
Umständen, sei es als Frucht der Arbeit oder des Gewerbes oder infolge
von Uebertragung oder Schenkung ein Naturrecht und jedermann kann
darüber in vernünftiger Weise nach seinem Gutdünken verfügen.“
Damit soll also eine der wichtigsten Grundfragen der Sozialwissen-
schaft, die des Privateigentums, für die wissenschaftliche Betrachtung
quasi ausgeschaltet werden; das Privateigentum wird uns als etwas hin-
gestellt, das von Gott der menschlichen Natur ein für alle Mal ein-
geprägt sei. Merkt der Verfasser nicht, daß er mit diesen Behauptungen
in schroffen Widerspruch gerät mit seiner so energischen Stellungnahme
gegen die Auffassung von natürlichen Faktoren im Wirtschaftsleben,
welche die menschliche Willkür sonst ausschließen? Wenn er z. B.
sagt: (S. 111) „In dem Augenblick, wo das Individuum der Naturhaft-
notwendigkeit eines ehernen „Muß“ geschichtlichen Evolutionen völlig
überantwortet nicht mehr durch sich selbst und aus sich selbst der
Quell neuen frischen Kernlebens für die Gesamtheit sein könnte, hätte
alle soziale Entwickelung, aller Fortschritt auch für die Gesellschaft
sein Ende erreicht.“
Aber abgesehen hiervon läßt die Auffassung der Frage des Privat-
eigentums zu wünschen übrig. Wenn der Verfasser das Privateigentum
als einen Grundpfeiler der Volkswirtschaft aller Zeiten und Völker hin-
stellt, und zwar aus dem Grunde, weil sich immer und überall Spuren
des Privateigentums finden ließen, so ist hierauf folgendes zu er-
widern: Für die volkswirtschaftliche Betrachtung kommt es nicht darauf
an, ob wirklich zu allen Zeiten und bei allen Völkern Privateigentum,
wenn auch in ganz geringem Maße vorhanden gewesen ist, son-
dern darauf kommt es an, ob das Privateigentum die wichtigste und aus-
schlaggebendste Besitzform war, und hierfür ist wieder die Frage des
Privateigentums an Produktionsmitteln, nicht an Komsumtions-
mitteln, entscheidend. Die Tatsache aber, die historisch feststeht, daß,
wenn auch nicht bei allen Völkern, so doch bei vielen der wichtigste
Vermögensbestandteil, nämlich das Grundeigentum, im Gemeineigentum
und nicht im Privateigentum sich befand, sollte den Verfasser veran-
lassen, auclı diese Frage als eine historisch-utilitarische, und nicht als
eine göttlich-naturrechtliche zu behandeln.
Was das System des Solidarismus, welches der Verfasser als drittes
System den Systemen des Individualismus und des Sozialismus gegen-
überstellt, anlangt, so wird man die weiteren Bände abwarten müssen,
um zu den materiellen Postulaten des Verfassers Stellung nehmen zu
können. In Bezug auf die formale und methodologische Seite dieses
Problems möchte ich hier nur bemerken, daß von einem neuen dritten
System, das koordiniert neben die Systeme des Individualismus und
Literatur. 123
Sozialismus treten könnte, nicht die Rede sein kann. Ebenso wie das
sogen. karitative System, oder wie der sogen. Kathedersozialismus oder
wie der Staatssozialismus ist hier kein prinzipiell neues Wirtschafts-
system aufgestellt. Alle die genannten Richtungen gehören zum Indi-
vidualismus und vollends der Verfasser, der in sehr energischer Weise
die ewige Natur des Privateigentums und der freien Wirtschaftsorgani-
sation vertritt, ist Individualist. Es handelt sich da nur um graduelle
Unterschiede, so zwar, daß innerhalb des Individualismus die einzelnen
Vertreter mehr oder minder weitgehende Forderungen eines staatlichen
Eingreifens stellen. Mir scheint, daß der Verfasser auch den Fehler
begangen hat, den Individualismus zu identifizieren mit dem schranken-
losen Manchestertum oder etwa dem gouvernementalen Nihilismus eines
Herbert Spencer. Das ist aber nur ein extremer Auswuchs des
Individualismus. Die gesamte Gedankenrichtung von den Physiokraten
bis zu den bürgerlichen Nationalökonomen unserer Tage herunter ist
individualistisch, weil sie gegen die Gebundenheit der wirtschaftlichen
Kräfte nach Art des Merkantilismus Front machten. Gerade wie aber
Ricardo trotz seines Individualismus für die Verstaatlichung der Bank
von England eintreten konnte, und wie John Stuart Mill trotz seines
individualistischen Ausgangspunktes für weitgehende Sozialreformen plä-
dierte, gehört auch Pesch mit seinem Solidarismus zum Individualismus.
Wenn der Verfasser in den folgenden Bänden sich derselben Ob-
jektivität bei der Kritik der gegnerischen Richtungen und derselben
emsigen Hingabe an die Forschungen der neuesten Nationalökonomie
betleißigt, dabei aber sich etwas mehr von seinem religiösen Dogmatis-
mus freihält, so wird sein Buch neben den anderen deutschen Werken
dieser Art einen durchaus ehrenvollen Platz beanspruchen dürfen.
Die Grundzüge der Nationalökonomie von Gide können in keiner
Weise mit den bisher betrachteten Werken auf eine Stufe gestellt
werden. Sie wollen gar nicht dem Fachmann, auch nicht dem
Studierenden dienen, sondern sie sollen dem großen Publikum in der
denkbar einfachsten Weise das Wissenswerteste aus dem Gebiet der
Wirtschaftslehre übermitteln. Die ungeheuer große Verbreitung,
welche das Werk nicht nur in Frankreich, sondern auch durch zahl-
reiche Uebersetzungen in vielen anderen Ländern gefunden hat, verdankt
es eben dem Umstande, daß es in absolut leichtester Form die Volks-
virtschaftslehre zu behandeln unternimmt. Es steht etwa in der Mitte
zwischen den in Deutschland bekanntesten Grundrissen von Conrad
und Philippovich und den ganz kurzen Leitfäden, zu denen der
Student in Examensnöten greift.
Der Verfasser hat sich durch die Uebersetzung dieses Buches den
Dank aller derer erworben, die in dieser besonders leichtfaßlichen Form
Belehrung wünschen. Wenn ich zugebe, daß das Werk in ganz be-
sonderem Maße geeignet ist, diesen Leserkreisen dienlich zu sein, so
vermag ich doch nicht das Bedenken zu unterdrücken, ob nicht diese
Art von Popularisierung ihre Gefahren hat. Die eigentlichen schwierigen
Probleme unseres Faches werden teils überhaupt umgangen, teils mit
spielender Leichtigkeit dargestellt.
124 Literatur.
Der Standpunkt des Verfassers hebt sich wohltuend ab von dem
auch heute noch in Frankreich weit verbreiteten extremen Individualismus.
Er steht dem deutschen Kathedersozialismus sehr nahe und hat sich
des Verdienst erworben, in seinem Vaterland für die Verbreitung dieser
Anschauungen im großen Umfang gewirkt zu haben.
Der Umstand, daß die von Neuburg besorgte neue Auflage des
Lehrschen Grundrisses der politischen Oekonomie auf 176 Seiten die
ganze theoretische und praktische Nationalökonomie, Finanzwissenschaft
und Statistik umfaßt, beweist schon, daß wir es hier nur mit einer ganz ge-
drängten Uebersicht zu tun haben. Es sind in den einzelnen Kapiteln immer
nur die allerelementarsten Sätze zusammengestellt, es kann also nur
dem Zwecke dienen, dem Studierenden den allernotwendigsten Wissens-
stoff in knappester Weise zuzuführen. So gehört dies Buch bereits in
die Kategorie von Schriften, die ich eben charakterisiert habe, die be-
sonders wohl zur Repetition für Examenszwecke benutzt werden.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 125
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands
und des Auslandes,.
1. Geschichte der Wissenschaft. Encyklopädisches. Lehrbücher. Spezielle
theoretische Untersuchungen.
Bernstein, Eduard, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben
der Sozialdemokratie. 12. Tausend. Stuttgart, J. H. W. Dietz Nachf., 1906. gr. 8.
XX—188 SS. M. 2.—.
Jentsch, Carl, Grundbegriffe und Grundsätze der Volkswirtschaft. Eine popu-
läre Volkswirtschaftslehre. 2., verb. u. verm. Aufl. Leipzig, F. W. Grunow, 1906. 8.
M. 3,50.
Penzler, Johannes, Graf Posadowsky als Finanz-, Sozial- und Handelspoli-
tiker, an der Hand seiner Reden dargestellt. (In 4 Bänden.) 1. Bd. 1882 bis 1898.
Leipzig, J. J. Weber, 1907. Lex.-8. XIX—706 SS. M. 30.—.
Ramus, Pierre, William Godwin, der Theoretiker des kommunistischen Anarchis-
mus. Leipzig, F. Dietrich, 1906. 8. M. 1,50.
Bittry, Pierre, Les Jaunes de France et la question ouvrière. Paris, Paclot,
1906. 12. fr. 0,95. ;
Feugère, Anatole, Lamennais avant „Dessai sur Pindifférence“, d’après des
documents inédits (1782—1817). Paris, Bloud, 1906. 8. fr. 10.—.
Harispe, Pierre, Convulsions sociales. Catholicisme et socialisme. Paris, Émile
Nourry, 1907. 8. 370 pag. fr. 3,50.
Serrigny, Bernard, La guerre et le mouvement économique. Leurs relations et
leurs actions réciproques. Paris, Henri Charles Lavauzelle (1906). 8. 220 pag. fr. 3,50.
Gilman, Charlotte Perkins, Women and economics. A study of the economic
relation between men and women as a factor in social evolution. With an introduction
by Stanton Coit. London, Putnam’s Sons, 1906. 8. XXIII —358 pp. $ 6.—.
Gordon, William Clark, The social ideals of Alfred Tennyson as related to
his time. London, T. Fisher Unwin, 1906. 8. 266 pp. 6/.6.
Henderson, H., Wealth and workmen; or the division of men and money.
2! revised edition., TII —351 pp. $ 1.—.
Seligman, E. R. A., Principles of economics; with special reference to American
conditions, 2% edition. XLVI—613 pp. $ 2,25.
Colucci, G., Progresso e socialismo. Firenze 1906. 16. 120 pp. l. 2.—.
Ferrari, Celso, Nazionalismo e internazionalismo: saggio sulle leggi statiche e
dinamiche della vita sociale. Palermo, R. Sandron, 1906. 16. 285 pp. 1. 3.—.
Sensini, Guido (prof.), Elementi di scienza sociale. Parte I. (Nozioni preli-
minari e demografia.) Mantova, tip. Università popolare, 1906. 8. 14 pp.
Toniolo, Giuseppe, Trattato di economia sociale: introduzione. Firenze 1907.
8. XVI—376 pp. 1. 3.—.
Zoccoli, Ettore, L’anarchia. Torino, fratelli Bocca, 1907. 8. 552 pp. l. 14.—.
2. Geschichte und Darstellung der wirtschaftlichen Kultur.
Ghent, W. J., Mass and Class, a survey of social divisions.
New York (The Macmillan Company) 1904.
Dieses Buch schließt sich eng an ein anderes an, das derselbe Autor
zwei Jahre vorher im gleichen Verlage erscheinen ließ und durch das
er in den Ländern mit englischer Sprache sehr bekannt geworden ist.
Es führte den Titel „Our benevolent Feudalism“ und stellte dar, wie
die Verhältnisse in Amerika sich immer mehr mittelalterlichen Zuständen
nähern. Legte damals das Gesetz breite Schichten der Bevölkerung in
126 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
unmündige Abhängigkeit, so ist es heute in Amerika die tatsächliche
Macht, die immer weitgreifender alles dem Willen und Winke der In-
dustrie- und Finanzmagnaten dienstbar macht. Nicht nur daß die Kraft
der Arbeiterunionen sich hieran bricht, sondern auch Presse und Literatur,
Gesetzgebung, Rechtsprechung, ja selbst die Kirche ist in den Ver-
einigten Staaten in den Bannkreis dieser Männer gezogen worden. Ghent
glaubt, daß sich diese Tendenz immer mehr ausgestalten wird und immer
gewalttätiger wird, er sieht die bewatinete Macht im Solde des Kapitals
gegen die Unzufriedenen — den willigen Dienstbereiten aber werden in
feudalem Wohlwollen „panis et circenses“ gewährt, um die Stabilität
der Produktion zu sichern. Wie einst der Arbeiter von Geburt an an
der Scholle haftete, so sieht Ghent in Zukunft den Arbeiter als solchen
geboren und zeitlebens in tatsächlicher Abhängigkeit verharren.
Diesem Gebäude aus Tatsachen und Phantasien werden nun in
Mass and Class neue Argumente zur Seite gestellt; auch sucht Ghent
darzulegen, welche ethischen Momente die Bevölkerungsklassen auf ihrer
Bahn leiten.
Wenig glücklich ist der Verfasser in seiner Einteilung des Volkes
nach ihrer wirtschaftlichen Eigenart. Er wendet sich gegen den Begriff
der Mittelklasse, wie ihn deutsche Gelehrte und Politiker gebrauchen,
verurteilt die Schichtung nach der Größe des Einkommens, wie sie von
englischen Nationalökonomen erfolgt, und glaubt für Amerika die Existenz
von nicht weniger als 6 Bevölkerungsklassen behaupten zu müssen:
1) Lohnerntende Land- und Stadtarbeiter — Proletarians or wage
carnings producers;
2) Land-, Forst und Gartenwirtschaft treibende Personen — self
employing producers;
3) Lehrer, Geistliche, Aerzte, Künstler, Schriftsteller und Ange-
stellte bei öffentlichen Körperschaften — social servants;
4) Industrielle Handelsleute, Finanzmänner — traders;
5) Renten beziehende Kapitalisten — idle capitalists;
6) Rechtsanwälte, Privatbeamte und Politiker — retainers.
Er unterläßt es, gravierende Unterscheidungsmerkmale anzugeben,
beweist aber selbst den Unwert seiner Scheidung, wenn er späterhin
bei der Klassenethik nur noch von den wage carnings, producers und
den traders spricht.
Bei jenen findet er zwei grundlegende moralische Anschauungen:
Die Ethik der, „usefulness“, die er kurz mit dem Satz erklärt „wer
nicht arbeitet, soll nicht essen“ und die Ethik der fellowship, der brüder-
lichen Vertretung gemeinsamer Interessen.
Die Durchführung dieser Ideen scheitert an der entgegengesetzten
Auffassung der traders, bei denen er nur einen Beweggrund des Handels
verfindet: die Gewinnsucht.
Leben und Gesundheit der Mitmenschen wertet nichts gegenüber
finanziellen Erfolgen: Altruismus ist für diese ein unbekannter Begriff.
Er führt uns in das Reich des Schwindels, the reign of graft!) und
1) Die Amerikaner haben diese Bedeutung des Wortes erst geschaffen: vordem ein
slang-Wort, ist es heute in einem unserem deutschen „Schwindel“ nahestehenden Sinn
gebraucht.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 197
zeigt uns, wie die Gesamtheit der Bevölkerung unter der Unehrlichkeit
der Unternehmer leidet. Die Verfälschung der Lebensmittel hat einen
so großen Umfang angenommen, daß nicht weniger als 15 Proz. aller
Nahrungsmittel (food) minderwertig und gesundheitsschädlich sind; mehr
als eine Milliarde Dollars ist der Absatz solcher Waren in den Ver-
einigten Staaten. Getränke und Genußmittel sind darin nicht einbezogen,
auch bierfür gibt er in langen Ausführungen Nachweise nahezu un-
glaublicher Art. Aber selbst am Krankenbette steht die gewissenlose
Spekulation nicht nur durch Verabreichung wertloser Geheimmittel,
sondern durch Aenderung der verordneten Medikamente.
Ein anderes Gebiet sind die Abzahlungsgeschäfte und die Tätig-
keit der „loan sharks“, der Darlehenshaie, die ihre Profite vor allem aus
der Arbeiterbevölkerung ziehen, von der Börse gar nicht zu reden.
Diese Ethik weiter Schichten der Unternehmer übt ihren Einfluß
auf die ganze Gesellschaft, und die Frucht dieses von allen altruistischen
Momenten absehenden Wirtschaftsgebarens wird sich im Kampfe der
Arbeiter widerspiegeln, die keine Gemeinschaft mit den Unternehmern
mehr haben. (S. 178, 152, 140).
Er weist mit Recht auf England, Frankreich und Deutschland hin,
wo der Staat die unteren Klassen nicht in gleicher Weise den Unter-
nehmern ausgeliefert hat, wo noch „ein Richter und Rächer“ besteht.
Aber auch dort bedarf es aller Anstrengungen des Staates im Bunde
mit den nicht an Industrien und Handelsgewinn direkt interessierten
Personen die gleiche Entwicklung zu verhindern.
Ein schwacher und utopistischer Trost ist es, wenn er glaubt, daß
die Verhältnisse von selbst zu einem „ultimate of social justice“ kommen,
zu einer sozialen Gerechtigkeit ausgestalten: er meint, daß die Unter-
nehmen sich immer mehr zusammenschließen und schließlich nur noch
einige Direktoren vorhanden sind, die, selbst nur Angestellte, am Divi-
dendengewinn nicht beteiligt sind; dann werde das ganze industrielle
System von der Gesellschaft als ein Ganzes übernommen werden.
Wann und wie wird die Wendung zum „coöperative commonwealth“,
das letzte Wort des Buches, sich vollziehen? Er bleibt die Antwort
schuldig. sollen die Interessen der Gesamtheit bis dahin, vielleicht
hunderte von Jahren, geschädigt werden dürfen?
Gerade aus der Darstellung der Verhältnisse in Amerika, wie sie
uns Ghent in seinen zwei Büchern gibt, ergibt sich die schlimme Wir-
kung des laisser faire, laisser aller, und hier mit starker Staatsgewalt
wirksam abzuhelfen, ist wohl das nähere Ziel und sicherer Beginnende.
Heidelberg - Sydney. Robert Schachner.
Gruber, Ch. (Prof.), Wirtschaftliche Erdkunde. Leipzig, B. G. Teubner, 1906.
8. VII—137 SS. M. 1.—. (Aus Natur und Geisteswelt. 122.)
Heil, B. (Prof.), Die deutschen Städte und Bürger im Mittelalter. 2., verb. Aufl.
Leipzig, B. G. Teubner, 1906. 8. VI—164 SS. mit zahlreichen Abbildungen im Text
und auf 1 Doppeltafel. M. 1.—. (Aus Natur und Geisteswelt. 43.)
Pappenheim, Graf zu (Hauptmann), Madagascar. Studien, Schilderungen und
Erlebnisse. Berlin, D. Reimer, 1906. gr. 8. XII—356 SS. mit 102 photographischen
Nlustrationen und 6 Karten. M. 8.—.
. Sullam, Angelo, Die wirtschaftliche Entwicklung Italiens im Jahre 1905. Leip-
ug und Berlin, B. G. Teubner, 1906. Lex.-8. VIII—49 SS. M. 2,80.
128 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Vallentin, Wilhelm, Paraguay. Das Land der Guaranis. Berlin, H. Paetel,
1907. Lex.-8. VIII—323 SS. Mit 38 Illustrationen nach photographischen Original-Auf-
nahmen. M. 6.—.
Wimbersky, Hubert, Eine obersteirische Bauerngemeinde in ihrer wirtschaft-
lichen Entwicklung 1498—1899. 1. Teil. Graz, U. Moser, 1907. Lex.-8. VII—
132 SS. Mit 1 Karte und 2 farbigen Tafeln. M. 5.—.
Zepelin, C. v. (General-Major a. D.), Der ferne Osten. 1. Teil. Berlin, Zuck-
schwerdt & C°, 1907. gr. 8. 276 SS. mit 2 Skizzen im Texte und 1 Karte. M. 6,50.
(Rußland in Asien. Bd. VIIL)
Gautier, Ferdinand, Chili et Bolivie. Étude économique et minière. Paris,
Guilmoto, 1906. 8. VI—228 pag. avec 2 cartes. fr. 6.—.
Stephan, Charles-H. (Consul), Le Guatemala économique. Renseignements
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1906. 8. 3/.6.
Molmenti, Pompeo, Venice. Its individual growth from the earliest begin-
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Ward, W., How can I help England? and other addresses on the relationship
of christianity to social and political problems of to-day. London 1906. 8. 168 pp. 2.6.
3. Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik. Answanderung
und Kolonisation.
Arendt, Otto (M. d. R.), Die parlamentarischen Studienreisen nach West- und
Ostafrika. Reisebriefe aus Togo, Kamerun und Deutsch-Ostafrika. Berlin, C. A.
Schwetschke und Sohn, 1906. 8. 174 SS. M. 3.—.
Auer v. Herrenkirehen, Helmuth (Oberleutnant), Meine Erlebnisse wäh-
rend des Feldzuges gegen die Hereros und Witbois nach meinem Tagebuch. Berlin,
R. Eisenschmidt, 1907. Lex.-8. VII—111 SS. mit 52 Abbildungen und 1 Karte.
M. 2.—.
Deuss, Ludwig, Der Kongostaat und seine Errungenschaften. Ein Kapitel aus
„Bed Rubber“ von E. D. Morel. Eine Antwort an die „uneigennützigen“ und ‚‚über-
zeugten‘‘ Verteidiger des Kongostaates und seines menschenfreundlichen Systems zur
„geistigen und materiellen Wiedergeburt‘‘ des Volkes der Eingeborenen. (Hamburg,
Rothschild, Behrens & C°, 1906.) 8. 28 SS.
Kardorff, Wilhelm v., Bebel oder Peters. Die Amtstätigkeit des Kaiserlichen
Kommissars Dr. Carl Peters am Kilimandjaro 1891/92. Berlin, C. A. Schwetschke & Sohn,
1906. 8. M. 1.—.
Kriegs-Erlebnisse, Meine, in Deutsch-Süd-West-Afrika. Von einem Offizier
der Schutztruppe. 134. Tausend. Minden, W. Köhler, 1907. 8. 208 SS. mit Abbil-
dungen und 6 Tafein. M. 1,50.
Külz, Ludwig (Reg.-Arzt), Blätter und Briefe eines Arztes aus dem tropischen
Deutschafrika. Berlin, W. Süsserott, (1906). Lex.-8. 230 SS. mit 2 Karten. M. 5.—.
Otto, Carl, Südwestafrika. Wohin steuern wir? Berlin, O. Dreyer, 1906. 8.
M. 1,50,
Schmidt, Max (Divisionspfarrer), Aus unserem Kriegsleben in Südwestafrika.
Erlebnisse und Erfahrungen. Gr.-Lichterfelde-Berlin, Edwin Runge, 1907. 8. VII—
204 SS. M. 2.—.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 129
Schwabe, K. (Hauptmann), Der Krieg in Deutsch-Südwestafrika 1904—1906.
Berlin, C. A. Weller, 1907. gr. 8. VIII—247 SS., mit 1 Karte, 16 Kunstbeilagen und
zahlreichen Text-Illustrationen. M. 5.—.
Semler (M. d. R.), Meine Beobachtungen in Süd-West-Afrika. Tagebuchnotizen
und Schlußfolgerungen. Hamburg, Hermann’s Erben, 1906. gr. 8. 80—XXIII SS.
M. 1,50.
Vietor, J. K. (Mitglied des Kolonialamts, Bremen), Die nächsten Aufgaben unserer
Kolonialpolitik. Hagen i. W., Otto Rippel, (1906). 8. 21 SS. M. 0,30.
Vortisch, Hermann, Hin und her auf der Goldküste. Tagebuchblätter eines
Missionsarztes. Basel, Basler Missionsbuchhandlung, 1907. 8. 232 SS. mit 1 farbigen
Tafel und 1 Karte. M. 2,40.
Werther, Waldemar C., Eine Reichsansiedlungs-Centrale. Berlin, H. Paetel,
1907. 8. M. 0,60.
Wettstein, K. A. (Oberleutn, a. D.), Streiflichter zu der Frage: Was kann aus
Deutsch-Südwest-Afrika gemacht werden? Teilweise eine Entgegnung zu dem Artikel
des Generals Leutwein in dem Maiheft der deutschen Revue. Zürich, Zürcher & Furrer,
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Ajalbert, Jean, L’Indo-Chine en p£ril. Paris, Stock, 1906. 12. fr. 1.—.
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VII—620 pp. 15/.—.
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4. Bergbau. Land- und Forstwirtschaft. Fischereiwesen.
Ehrenberg, Hans, Die Eisenhüttentechnik und der deutsche Hüttenarbeiter.
Stuttgart, J. G. Cotta Nachf., 1906. gr. 8. IX—204 SS. M. 4,50. (Münchener volks-
wirtschaftliche Studien. Stück 80.)
Felber, Theodor (Prof.), Natur und Kunst im Walde. Vorschläge zur Ver-
bindung der Forstästhetik mit rationeller Forstwirtschaft. Für Freunde des Waldes
und des Heimatschutzes. Frauenfeld, Huber & C°, 1906. gr. 8. VIII—-135 8S. mit
13 Figuren und 23 Vollbildern. M. 3,20.
Holtmeier, Die jeverländische Marschwirtschaft. Mitteilung der Versuchs- und
Kontrollstation der Landwirtschaftskammer für das Herzogtum Oldenburg. Berlin, P.
Parey, 1907. Lex.-8. 102 SS. M. 3.—.
Ledebur, A. (Bergakademie-Prof.), Handbuch der Eisenhüttenkunde. Für den
Gebrauch im Betriebe wie zur Benutzung beim Unterrichte bearbeitet. 5., neu bearb.
Aufl. 1. Abteilung: Einführung in die Eisenhüttenkunde. Leipzig, A. Felix, 1906.
gr. 8. VII—408 SS. mit Abbildungen. M. 12,40.
Müller, Lothar, Die Landwirtschaft auf dem Hunsrück unter besonderer Be-
echan der des Kreises Simmern. Bonn, C. Georgi, 1906. gr. 8. 277 SS.
Szujski, W. R. v., Die Agrar-Frage. Ein Entwurf zu ihrer definitiven Lösung.
Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht, 1907. gr. 8. 38 SS. M. 0,80.
Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII). 9
130 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Uhde, Kurt, Die Produktionsbedingungen des deutschen und englischen Stein-
kohlen-Bergbaues. Jena, Gustav Fischer, 1907. gr. 8. XI—216 SS. M. 3,50. (Thü-
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Trabut, L., et R. Marès, L’Algerie agricole en 1906. (République française.
Exposition coloniale de Marseille.) Alger, Imprimerie algérienne, 1906. 8. 531 pag.
fr. 3,50.
Alfonsi, Alfr. (capitano), Sulla coltivazione e sul commercio del frumento in
rapporto alla panificazione militare. Napoli, tip. Melfi e Joele, 1906. 8. XV—170 pp.,
con sei tavole. 1. 4,50.
Errera, Leo, Le basi scientifiche dell’ agricoltura: sei lezioni. Traduzione ita-
liana del prof. Vittorio Peglion. Ferrara, tip. G. Bresciani succ., 1906. 16. 35 pp-
Felcini, Arzeglio, Lezioni di agraria per gli istituti tecnici. Volume I: Agro-
nomia, 2* edizione. Volume II: Agricoltura. Jesi 1906. 8. XII—304, XII—336 pp.
l. .—
Solari, S8., Agricoltura vecchia, agricoltura nuova: conseguenze. Parma 1906. 8.
200 pp. 1. 2.—.
5. Gewerbe und Industrie.
Bernstein, Eduard, Der Streik. Sein Wesen und sein Wirken. Frankfurt a/M.,
Literarische Anstalt, (1906). 8. 119 SS. M. 1,50. (Die Gesellschaft. Sammlung sozial-
psychologischer Monographien. 4.)
Bonikowsky, Hugo, Der Einfluß der industriellen Kartelle auf den Handel
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Gutmann, Jul., Ueber den amerikanischen „Stahltrust“. Mit Berücksichtigung
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Hammerschmidt, Wilh., Geschichte der Baumwollindustrie in Rußland vor
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Gannay, P., L’imp£rialisme économique et la grande industrie anglaise. Paris
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Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.. 131
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Henry, Yves, Le coton dans l’Afrique oceidentale frangaise. Paris, Challamel,
1906. 8. fr. 10.—.
Le Paulmier, Manuel pratique des accidents du travail. Paris, A. Pedone,
1906. 8. 123 pag. fr. 3.—.
Claassen, H., Beet sugar manufacture. Translated by W. T. Hall and G. W.
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Laughlin, J. L., Industrial America. Berlin lectures of 1906. VI—361 pp.
$ 1,25. (Contents: American competition with Europe. Protectionism and reciprocity.
The labor problem. The trust problem. The railway question. The banking problem.
Economic thinking in the U. S. etc.)
Macgregor, D. H., Industrial combination. London, Bell, 1906. 8. 256 pp.
71.6.
i Albi, Orazio, Case e pensioni per gli operai: [conferenze] precedute da una
lettera di Luigi Luzzatti. Casalbordino, N. De Arcangelis, 1906. 8. 110 pp., con
ritratto. 1. 2.—.
6. Handel und Verkehr.
Uhlmann, Franz, Dr., Der deutsch-russische Holzhandel. Mit
Tabellen. Verlag der Lauppschen Buchhandlung. Tübingen 1905.
Das vorliegende Werk bezweckt, einen Ueberblick über den Um-
fang und die wirtschaftliche Bedeutung des deutsch-russischen Holz-
handels zu geben. :
Große Bedeutung für den Holzexporthandel haben die Ostseeflüsse,
und unter denselben besonders die Düna, welche durch den Beresina-
kanal mit dem Dnjepr, durch den Aakanal mit der livländischen Aa,
schließlich mit der kurländischen Aa in Verbindung steht. Von den
Strömen, die ins nördliche Eismeer gehen, kommt für den Holztrans-
port Rußlands nur die Dwina in Betracht, an deren Mündung Arch-
angelsk liegt. Von den Strömen, die ins Schwarze Meer münden, hat
nur der Dnjepr für den Holztransport und -Handel Bedeutung.
Als wichtigster russischer Holzausfuhrplatz ist das am Dünastrome,
ca. 17 Werst von seiner Mündung belegene Riga zu bezeichnen.
Speziell bei dem deutsch-russischen Holzhandel, der uns hier in
erster Linie interessiert, kommt die allergrößte Bedeutung in Bezug
auf den Transport aus dem Innern Rußlands, der Memel, Warthe und
insbesondere der Weichsel zu.
Rußland liefert Deutschland die besten kiefernen Rundhölzer für
die Sägeindustrie, Mauerlatten, kieferne und eichene Schwellen für die
Eisenbahnen u. s. w.
Mit Ausnahme Oesterreich-Ungarns liefern die anderen Staaten nach
Deutschland nur bearbeitetes Holz. Solange als Rußland Rohholz ex-
portiert, ist der Handel mit Rußland tür Deutschland von höherem
wirtschaftlichem Wert als derjenige mit anderen Ländern. Der etwaige
Ersatz der russischen Holzzufuhr durch vermehrten Holzimport aus
anderen Ländern wäre für Deutschland aus dem Grunde nicht günstig,
weil es eben auf die Sägeindustrie angewiesen ist.
Leider wird der Rohholzimport aus Rußland durch die deutschen
Rohholzzölle etwas erschwert, und die Berechtigung der letzteren wird
denn auch von einer Reihe namhafter Nationalökonomen mit Recht
nicht anerkannt.
9*
132 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Die deutschen Rohholzzölle, die durch den neuen Zolltarif noch
bedeutend erhöht worden sind, könnten nämlich bewirken, daß sich in
den für den deutschen Rohholzbezug in Betracht kommenden Gegen-
den eine Sägeindustrie entwickelt, mit welcher die deutschen Säge-
werke, soweit sie auf russisches Rohholz angewiesen sind, niemals
konkurrieren könnten. Aus diesem Grunde dürfte im Interesse Deutsch-
lands eine Ermäßigung der deutschen Rohholzzölle wünschenswert sein,
und das um so mehr, als der Rundholzexport Rußlands nach Deutsch-
land bereits im Rückgang begriffen ist und eine erhebliche Zunahme
desselben, welche die deutsche Waldindustrie schädigen könnte, für
die Zukunft kaum zu erwarten ist. Die Holzproduktion der für den
deutsch-russischen Holzhandel in Betracht kommenden russischen Wälder
ist heute nämlich eine schon beschränktere als früher, weil einmal
diese Wälder infolge der Jahrzehnte hindurch in ihnen betriebenen
Raubwirtschaft bereits stark gelichtet sind, dann aber auch, weil durch
das im Jahre 1898 eingeführte russische Waldschutzgesetz einer weiteren
maßlosen Abholzung eine Grenze gesetzt worden ist.
Ueber die russisch-preußische Grenze werden fast 35 Proz. des
russischen Holzes nach Deutschland ausgeführt.
Vom Gesamtexport des russischen Holzes gehen ferner ca.
38 Proz. nach England
10 i „ Holland
e » Frankreich
Ca. ®/, des russischen Holzes wird also nach England und Deutschland
versandt.
Im Jahre 1897 repräsentierte die Holzausfuhr nach
Großbritannien 21 948 000 Rbl.
Deutschland 19 334000 „
Holland 5595 »
Frankreich 3 701 J
Belgien 2866 „
anderen Ländern 1396 ,„
Rußland exportierte in den Jahren 1851—1860 im ganzen Holz für
ca. 4 643 000 Rbl., aber z. B. im Jahre 1900 für 58 384 000 Rbl.
Die Uhlmannsche Arbeit ist für Praktiker und Theoretiker von In-
teresse. Sie beweist eine vielseitige gründliche Information des Autors
über den in Rede stehenden, im ganzen nicht schwierigen Gegenstand
und ist in schlichter Weise, dabei übersichtlich, klar und mit Sach-
kenntnis abgefaßt. Ein brauchbares Werk über das betreffende Thema
gab es bisher noch nicht. Sodo fiiky:
Cords, Th. M., Die Bedeutung der Binnenschiffahrt für die deutsche Beeschiff-
fahrt. Eine Studie über Deutschlands Seeverkehr in seiner Abhängigkeit von der Bin-
nenschiffahrt im Zeitraum 1890—1903. Stuttgart, J. G. Cotta Nachf., 1906. gr. 8.
VIII —429 SS. M. 9,20. (Münchener volkswirtschaftliche Studien. Stück 81.)
Doerr, Emil, Der Absatz landwirtschaftlicher Erzeugnisse im Kreise Mannheim.
Karlsruhe, G. Braunsche Hofbuchdruckerei, 1906. gr. 8. IV—129 SS. mit 1 Karte.
M. 2,40. (Volkswirtschaftliche Abhandlungen der badischen Hochschulen. Bd. IX.
Ergänzungsheft 1.)
Grossmann, Fritz, Die Präsent-Packung. Ein hervorragendes Mittel zur Steige-
rung des Umsatzes. Magdeburg, Verlags-Gesellschaft, (1906). qu. gr. 8. 30 SS. mit
Abbildungen. M. 3,50.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 133
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Breitkopf & Härtel, 1906. 8. M. 3.—.
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reich und den Niederlanden. Berlin, P. Parey, 1906. Lex.-8. IU—38 SS. M. 1.—.
(Berichte über Land- und Forstwirtschaft im Auslande. Mitgeteilt vom Auswärtigen
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Entscheidungen gesammelt und herausgegeben. 1. Bd. Berlin, O. Dreyer, (1906). kl. 8.
M. 1,20.
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auf dem Bodensee. Innsbruck (Wagner) 1906. Lex.-8. VII—614 SS. M. 17.—.
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1906. kl. 8. VII—69 SS. M. 0,50.
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134 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
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Rousseau, 1906. 8. XXXIII—670 pag. fr. 12.—.
Hickmann, A. L. (Vienne), Nouveau manuel des monnaies courantes d’or et d'argent.
Systèmes monétaires de tous les pays du globe. Paris, Eichler, 1906. 12. fr. 3.—.
Young, T. E., Insurance. A practical exposition for the student and business
man. 2*4 edition, revised and enlarged. London, J. Pitman, 1906. 8. 386 pp. 5/.—
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 135
Ciardini, Marino (avv.), I banchieri ebrei in Firenze nel secolo XV e il monte
di pietà fondato da Girolamo Savonarola: appunti di storia economica, con appendice
di documenti. Borgo S. Lorenzo, tip. Mazzocchi, 1907. 8. 103—CXVIIII pp. l. 5.—.
9. Soziale Frage.
George Gorham Groat, Trade Unions and the law in New
York. Columbia University Press, New York 1905.
Die Fragen der Arbeiterorganisation und des Arbeiterrechts, die in
Amerika bislang fast nur in Zeitungen und Zeitschriften behandelt
wurden, beginnen jetzt auch zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung
seitens amerikanischer Gelehrter gemacht zu werden. Eine ausführliche
Monographie von George Gorham Groat, herausgegeben von der „Faculty
of Political Science“ der Columbia University in New York, behandelt
„Gewerkvereine und Recht im Staate New York“. Gorham schildert
zunächst die an Zahl der Mitglieder und Intensität stetig wachsende
Organisation der Arbeiter dieses überwiegend von Industrie und Handel
lebenden größten Staates der Union; zwischen 1894 und 1904 stieg die
Mitgliederzahl von 160000 auf 400000. Die Grundlage der Organi-
sation bildet die 1864 errichtete Workingmens Assembly, die sich später
mit dem New Yorker Zweige der American Federation of Labor ver-
einigt hat, während die vorübergehend so mächtigen Knights of Labor
auch hier allmählich an Bedeutung verloren haben. Die Organisierung
hat sich wie in Amerika häufig unter erheblichen Schwankungen voll-
zogen, rasch gegründete Vereine sind zuweilen wieder verfallen, die
industriellen Bedingungen der einzelnen Stadt, die Persönlichkeit des
Organisators, oft auch die Jahreszeit spielen eine erhebliche Rolle.
Die Tätigkeit jener Working men’s Assembly besteht im wesent-
lichen in der Beeinflussung der Gesetzgebung. Gegründet zur Abwehr
eines gegen den Streik gerichteten Gesetzes, hat sie sich im Lauf der
Zeit mit den verschiedensten Fragen der Gesetzgebung beschäftigt
und allmählich ein festes System ausgebildet, um die von ihr aufge-
stellten Forderungen zu Gesetzen zu machen. Zweierlei ist dabei er-
forderlich: einmal die Durchbringung von ihren Forderungen geneigten
Abgeordneten, sodann deren Ueberwachung und Beeinflussung während
der parlamentarischen Arbeit. Das Problem, mit dem sich die englischen
Gewerkschaften so viel beschäftigt haben, ob es richtiger sei, eine eigene
Partei zu gründen oder im Verbande einer anderen Einfluß zu erlangen,
beschäftigt auch die Arbeiter New Yorks. Versuche, eigene Kandidaten
aufzustellen, sind bisher fast durchgängig gescheitert und versprechen
auch für die Zukunft wenig Erfolg; ein reines Arbeiterprogramm ver-
mag die übrigen Wählerkreise nicht zu fesseln, vor allem aber, was
wohl sehr zu unterstreichen ist, würden die Arbeiter nicht in der Lage
sein, die ungeheuren Kosten eines amerikanischen Wahlkampfs zu tragen.
So bleibt die Workingmens assembly einstweilen dabei, sich unter den
verschiedenen Kandidaten den ihr näherstehenden, womöglich einan
Arbeiter, auszusuchen und dann auf ihre Forderungen zu verpflichten.
Durchaus originell und der Eigenart des amerikanischen Parlamen-
tarismus angepaßt ist die Art, wie die Gewerkvereine die Arbeiten der
Legislative und die Einhaltung der ihnen gegebenen Versprechungen
überwachen. Ein besonderes Legislativkomitee ist am Sitz des Parla-
136 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
ments, in Albany, eingerichtet, das den Verkehr vermittelt, den der
Organisation nahestehenden Abgeordneten die Gesetzesvorschläge zur
Betürwortung vorbereitet, und dessen Vorsitzender wöchentlich an den
Präsidenten der Organisation in New York über die Erfolge zu berichten
hat. Wie groß diese tatsächlich sind, hält Gorham Groat für schwer
nachweisbar; die unmittelbar durchgesetzten Gesetze sind nicht von
großer Bedeutung; erheblicher sei aber doch der Einfluß überhaupt, ins-
besondere in der Abwehr arbeiterfeindlicher Strömungen; auch frage
der Gouverneur die Organisation bei Stellenbesetzungen öfter um Rat
und der einzelne Abgeordnete würde durch die Furcht, auf die „schwarze“
oder die „lauwarme“ Liste zu kommen, aber auch durch direkte von
der Organisation veranlaßte Appellationen seiner Wählerschaft bestimmt,
für die Arbeiterforderungen einzutreten. —
Der ausfübrlichere und wertvollere zweite Teil der Arbeit handelt
von der Stellung, die die Rechtsprechung und Gesetzgebung das 19. Jahr-
hundert hindurch zu den Gewerkvereinen eingenommen haben. Die
vorsichtige, schrittweise Aenderung in den Anschauungen der Gerichte
über die Natur der Arbeiterorganisation und des Streiks von der Zeit
an, wo man im Anschluß an alte englische Vorschriften jeden Gewerk-
verein als eine Verschwörung ansah, bis im letzten Viertel des Jahr-
hunderts die unbedingte Freiheit, sich zu organisieren und zu streiken,
anerkannt wird, ist klar und erschöpfend dargelegt und würde auch für
eine historische Darstellung der europäischen Entwickelungsphasen als
wertvolle Parallele dienen können. Immer geht — nach angloamerika-
nischem System — die Rechtprechung voran und die Gesetzgebung folgt
nach. Noch 1835 wird die Organisation vom obersten Gerichtshof als
eine Monopolisierungsbestrebung bezeichnet und untersagt, weil sie den
Wettbewerb, „die Seele des Gewerbes“, verhindere; eine ausführliche,
historisch und wirtschaftlich begründete Entscheidung vom Jahre 1867
erkennt zuerst grundsätzlich das Recht zum Streik an, nur mit der Ein-
schränkung, daß die erhobenen Forderungen berechtigt sein müßten.
Von 1890 an gilt jeder Streik als erlaubt, soweit nicht die angewandten
Mittel ungesetzlicher Natur sind; welche Mittel dies sind, wird ebenfalls
in einer Reihe von Entscheidungen allmählich festgelegt, wobei insbe-
sondere die Erlaubtheit des Boykotts wiederholt zur Erörterung gelangt.
Auch hier siegt endlich die Ansicht, daß der Boykott an sich erlaubt
ist und nur zu seiner Durchführung nicht ungesetzliche Maßnahmen an-
gewandt werden dürfen. Als solche werden Gewalt, Zwang, Drohung,
Einschüchterung bezeichnet; die Verrufserklärung findet sich nicht dar-
unter. Eine Reihe weiterer zur Darstellung gelangender Entscheidungen
betreffen interne Organisationsverhältnisse, deren Klagbarkeit grundsätz-
lich anerkannt ist. Ob die Verpflichtung eines Unternehmers, nur
Mitglieder einer Union anzustellen, klagbar ist, sei eine offene Frage.
Im Anschluß an die Rechtsprechung hat die Gesetzgebuug das alte
Verschwörungsverbot 1870 aufgehoben, die völlige Gleichstellung eines Ge-
werkvereins mit jedem beliebigen Privatverein 1885 ausgesprochen ; 1887
folgen — allerdings selten angewandte — Strafbestimmungen gegen Unter-
nehmer, die ihre Arbeiter am Beitritt zu einem Gewerkverein hindern.
So ist allmählich im Lauf des Jahrhunderts die völlige gewerbliche
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.. 137
Freiheit, entsprechend den veränderten wirtschaftlichen Voraussetzungen
und sozialen Anschauungen, durchgesetzt worden. Gorham Groat meint,
daß künftige Gerichtsentscheidungen neben der Frage nach den Rechten
beider Parteien auch für die Rechte des dritten Beteiligten, des Publikums,
würden Sorge tragen müssen, ein in Amerika jetzt häufig wiederkehrender
Gedanke.
Die Arbeit vermag im ganzen einen guten Einblick in die Be-
strebungen amerikanischer Arbeiterorganisionen, mehr noch in die Fragen
gewerblichen Arbeiterrechts, zu geben. Für den Juristen ist es daneben
interessant zu sehen, wie schwierige Fragen des Rechtes nicht durch
Gesetzgebung, sondern durch fortlaufende, schöpferische Rechtsprechung
entwickelt und gelöst werden; ob eine solche intensive gestaltende
Tätigkeit der Richter nicht mehr Gewähr gibt für eine kontinuierliche
Fortbildung des Rechts, als die stoßweiße auftretende, von politischen
Majoritäten abhängige Gesetzgebung, ist sehr wohl zu fragen.
Leipzig. Dr. Fritz Kestner.
Münsterberg, E., Amerikanisches Armenwesen. Leipzig, Duncker & Humblot,
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10. Gesetzgebung.
Olep, Heinrich, Die deutsche Sülstoffgesetzgebung. Nament-
lich das Süßstoffgesetz vom 7. VII. 1902. Tübingen (Lauppsche Buch-
handlung) 1904. gr. 8°. IV und 92 SS.
Die vorliegende Schrift, eine Tübinger Doktordissertation, beschäf-
138 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
tigt sich mit einem ganz modernen Problem der Gesetzgebung, nämlich
mit der Behandlung der Süßstoffe vor allem im Reichsrecht. In einer
kurzen Einleitung schildert er uns die Geschichte und Statistik der
Süßstoffgewinnung und geht dann über zur Geschichte der deutschen
Süßstoffgesetzgebung, deren Entstehung und einzelne Phasen er dem
Leser vorführt. Der Ursachen waren mancherlei Art: die Besorgnis,
daß die billigen Süßstoffe, die zwar hohe Sülkraft, aber keinen Nähr-
wert haben, als Volksgenußmittel in die breiten Schichten der Bevölke-
rung eindringen und den nährstoffhaltigen Zucker verdrängen, die
Getahr der Nahrungsmittelverfälschung, der die Sülstoffe angeblıch
Vorschub leisten, die unbequeme Konkurrenz für die rübenbauende
Landwirtschaft und endlich das fiskalısche Interesse der Reichskasse
an den Eingängen der bedrohten Zuckersteuer. Alle diese Erwägungen
führten zu einer gesetzgeberischen Aktion gegen die Süßstoffe Nach-
dem man diese zuerst durch das Nahrungsmittelgesetz vom 14. V. 1879
durch partikuläre Gesetze, indessen ohne Erfolg, zu bekämpfen gesucht
hatte, kam es zum ersten Süßstoffgesetz vom 6. VII. 1898. Dieses
verbot die Verwendung von künstlichen Süßstoffen bei der gewerbs-
mäßigen Herstellung von Bier, Wein, weinähnlichen Getränken, Kon-
serven, Likören, Zucker und Stärkesyrupen, sowie das Feilbieten und
den Verkauf solcher Genußmittel, und stellte den Zusatz von künst-
lichen Süßstoffen zu Nahrungs- und Genußmitteln unter den Dekla-
rationszwang. Das Gesetz hat nicht die erhoffte Wirkung, da die
Deklarationspflicht nicht hinlänglich genau eingehalten wurde und
außerdem Herstellung, Bezug, Absatz wie der ganze Verkehr mit Süß-
stoffen nicht eingeschränkt und keiner gesetzlichen Ordnung unterworfen
war. Dieser unbefriedigende Rechtsstand führte bald zu dem zweiten
Süßstoffgesetz vom 7. VII. 1902. Die Motive waren jetzt stark schutz-
zöllnerischer Art im Interesse der Rübenbau treibenden Landwirtschaft
und stützten sich auch wesentlich auf die neu geschaffene Lage der
deutschen Zuekerindustrie, die durch die Brüsseler Konvention vom
5. IJI. 1902 ihrer den Zuckerexport fördernden Prämien beraubt war.
Das neue Gesetz ging sehr radikal vor. Es verbot die Herstel-
lung, die Beschaffung, den Verkehr und die Verwendung von Süßstoff
und sülßstotfhaltigen Erzeugnissen, von welcher Regel nur einzelne Aus-
nahmen zugelassen wurden. Die Süßstofffabrikation wird sehr beschränkt,
tatsächlich einer einzigen Monopolfabrik zugestanden. Den vom Gesetz
benachteiligten Personen, den Fabriken und den entlassenen Beamten
und Arbeitern werden (reldentschädigungen zugestanden. In einem
Schlußkapitel wird dann das ausländische Recht in knapper Uebersicht
dargestellt. Von all diesen Vorgängen entrollt uns der Verfasser ein
anschauliches Bild und sucht uns zu zeigen, wie die einzelnen Nieder-
schläge der Anregungen, Wünsche, Agitation und der öffentlichen Dis-
kussion sich zu festen Resultaten in der Gesetzgebung verdichtet haben.
Hin und wieder wird durch dieses Verfahren seine Darstellung etwas
breit und weitschweifig, Seinem Standpunkt nach billigt der Verfasser
durchaus die Stellung und Aktion des Gesetzgebers. Die immerhin
beachtenswerte Seite der Frage, nämlich die radikale Durchbrechung
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.. [39
der Gewerbefreiheit und der scharfe Eingriff in das Wirtschaftsleben
wird dagegen etwas stiefmütterlich behandelt.
Münster i/W. Max von Heckel.
Bolze (Reichsgerichtssenatspräsident a. D.), Rechte der Angestellten und Arbeiter
an den Erfindungen ihres Etablissements. Für Juristen, Gewerbetreibende, Patentan-
wälte, Techniker und Ingenieure. Leipzig, Akademische Verlagsgesellschaft m. b. H.,
1907. gr. 8. 44 SS. M. 1,20.
Cohn, Max, Das innere Verhältnis zwischen der Gesellschaft mit beschränkter
Haftung und ihren Gesellschaftern. Berlin, L. Oehmigkes Verl., 1906. 8. 97 SS. M. 2.—.
Conrad, Herbert, Die Pfündungsbeschränkungen zum Schutze des schwachen
Schuldners. Eine juristische und sozialpolitische Studie. Jena, Gustav Fischer, 1906.
gr. 8. XVI—524 SS. M. 12.—.
Fernow, A. (vortragender R.), Einkommensteuergesetz. Text-Ausgabe mit An-
merkungen und Sachregister. 6. völlig neubearb. Aufl. Berlin, J. Guttentag, 1907. 16.
XVU—457 SS. M. 3.—. (Guttentags Sammlung preußischer Gesetze. N" 10.)
Goetsch, P. (vortragender R.), Das Reichsgesetz über das Auswanderungswesen
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erläutert. 2. verm. Aufl. Berlin, C. Heymann, 1907. kl. 8. VIII—462 SS. M. 4.—.
(Taschen-Gesetzsammlung. 37.)
Grünberg, Siegmund, Das Speditionsrecht in seinen Grundzügen. Wien (M.
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Hoffmann, Albr. Rud. (vortragender R.), Das Reichs-Erbschaftssteuergesetz vom
3. VI. 1906 nebst den Ausführungsbestimmungen des Bundesrats und den Vollzugsan-
weisungen Preußens, Bayerns, Sachsens, Württembergs und Badens. Erläutert. Leipzig,
Rossbergsche Verlagsbuchh., 1907. kl. 8 XXXVI-—353 SS. M. 5.—. (Juristische
Handbibliothek. Bd. 187.)
Peters, W. (weil. LandgerichtsR.), Die Zivilprozeßordnung für das Deutsche
Reich. Mit den Entscheidungen des Reichsgerichts und den einschlagenden reichsrecht-
lichen Bestimmungen. 4., verm. Aufl. Neue, um die Novelle vom 5. VI. 1905 ver-
mehrte, wohlfeile Ausg. Berlin, H. W. Müller, 1907. 8. XVI—708 SS. M. 2,40.
Clunet, Édouard, Les associations au point de vue juridique. (Aura 3 volumes.)
Tome I. Paris, Marchal et Billard, 1906. 8. fr. 6.—.
David, Adolphe, et Oscar Stave, Étude sur la législation minière en Nor-
wege suivie d’une analyse des lois sur l’inspection du travail dans les usines et sur
Passurance contre les accidents du travail. Paris, Oscar Lamberty, 1906. 8. 272 pag.
fr. 10.—.
Leurquin, Code de la saisie-arret. Bruxelles, veuve Ferdinand Larcier, 1906.
8. 616 pag. fr. 10.—.
Chiovenda, Gius. (prof.), Prineipi di diritto processuale civile. Napoli,
N. Jovene e C., 1906. 8. 646 pp. l. 10.—.
Codice di commercio. Quarta edizione. Milano, U. Hoepli, 1906. 16. 158 pp.
Gristina, Antonino (avv.), La inappellabilitA delle sentenze in materia di
fallimento (art. 913 cod. commercio). Palermo, tip. Colonia di s. Martino, 1906. 8.
77 pp. 1. 2.—.
PPelacchi, Pietro, Manuale teorico-pratico di procedura civile, commerciale e
penale. Quinta edizione completamente riordinata sull’ ultima legge e regolamento degli
ufficiali giudiziari. Firenze, tip. M. Mozzon, 1906. 8. 461 pp. l 4.—.
11. Staats- und Verwaltungsrecht.
Doerkes, Wilh. N., Die Immunität der Reichstagsabgeordneten. Berlin, Putt-
kammer & Mühlbrecht, 1907. 8. 22 SS. M. 0,80.
Görtz. v. (Geh. RegierungsR.), Die Verfassung und Verwaltung der schlesischen
Landschaft, in systematischer Zusammenstellung der statutarischen und der betr. all-
gemeingesetzlichen Bestimmungen dargestellt. 4. neubearb. Aufl. Breslau, W. G. Korn,
1907. gr. 8. XXXI—296 SS. M. 6.—.
Hoffmann, Georg, und Ernst Groth, Deutsche Bürgerkunde. Kleines Hand-
buch des politisch Wissenswerten für jedermann. 4., verm. Aufl. 29.—31. Tausend.
Leipzig, F. W. Grunow, 1906. 8. VIII—-385 SS. M. 2,50.
140 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Jahrbuch des Verwaältungsrechts. Bearb. u. herausgeg. von (Prof.) Stier-Somlo
(Bonn). 1. Jahrg. Berlin, Franz Vahlen, 1907. 8. XIV—513 SS. M. 11.—.
Lotz, Albert, Geschichte des Deutschen Beamtentums. Berlin, R. von Decker’s
Verlag, 1906. 4. (In 10 Lieferungen.) Lieferung 1. 64 SS. M. 1,80.
Disléré, P., Traité de législation coloniale. Tome I. 3°». édition. Paris 1906.
8. 1000 pag. fr. 20.—.
Teissier, Georges, La responsabilité de la puissance publique. Paris, Paul
Dupont, 1906. 8. fr. 10.—.
Ashley, Percy, Local and central government, A comparative study of Eng-
land, France, Prussia, and the United States. London, John Murray, 1906. 8. XI—
396 pp. 10/.6.
Criseuoli, Ang., Prime linee di una teoria giuridica della scienza costituzionale.
Napoli, tip. Mazzocchi, 1906. 16. 170 pp. 1. 3.—.
Acker, K. van, Overzicht der staatsinstellingen van België. XV—135 blz.
fr. 2.—.
12. Statistik.
Deutsches Reich.
Statistik des Deutschen Reichs. Herausgeg. vom Kaiserlichen Statistischen Amt.
Neue Folge Bd. 174. Die Seeschiffahrt im J. 1905. Teil 1. Bestand der deutschen
Seeschiffe (Kauffahrteischiffe). Teil 1. Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht, 1906. 4.
I—18—54 SS. Für Teil 1 u, 2: M. 4.—.
Statistik, Preußische. Herausgeg. in zwanglosen Heften vom Königlich Preußi-
schen Statistischen Laudesamt in Berlin. 172. Heft. Die endgültigen Ergebnisse der
Vieh- und Obstbaumzählung vom 1. XII. 1900 im preußischen Staate sowie in den
Fürstentümern Waldeck und Pyrmont. II. Teil. Der Viehbesitzstand der Gehöfte.
Berlin, Verlag des Königlich Preußischen Statistischen Landesamts, 1906. 4. XX—
226 SS. M. 6,40. 200. Heft. Die Geburten, Eheschließungen und Sterbefälle im
preußischen Staate während des Jahres 1905. Ebend. 1906. 4. XXIV—250 SS.
M. 7.—.
Frankreich.
March, Lucien, Tables de mortalité de la population de la France au début du
XX” siècle. Paris, Berger-Levrault, 1906. 8. fr. 2,50.
Oesterreich-Ungarn.
Mitteilungen des statistischen Landesamtes des Königsreichs Böhmen. Deutsche
Ausg. VIII. Bd. 1. Heft. Ernte-Ergebnisse 1905 und die wichtigsten Zweige der land-
wirtschaftlichen Industrie 1904—1905. Mit dem vorläufigen Berichte über die Getreide-
ernte 1906. Prag (J. G. Calve) 1906. Lex.-8. IV—CCXXII—48 SS. M. 4.—.
Statistik, Oesterreichische, herausgeg. von der k. k. Statistischen Zentralkom-
mission. LXXVIII. Bd. 1. Heft. Die Ergebnisse der Zivilrechtspflege im Jahre 1904.
Wien, Karl Gerold’s Sohn, 1906. 4. LXII—111 SS. M. 5,30.
Holland.
Bijdragen tot de statistiek van Nederland. Uitgegeven door de Centrale Com-
missie voor de Statistiek. LXXIII. Statistiek der spaar- en leenbanken in Nederland,
over het jaar 1904. ’s-Gravenhage 1906. 4. XXX—293 blz. fl. 1,25.
Statistiek der bevolking van Amsterdam en eenige voorname steden der wereld,
in de jaren 1899—1905. 57 blz. fl. 0,30.
13. Verschiedenes.
Chlumeckf, Leop. Frhr. v., Oesterreich-Ungarn und Italien. Das westbalka-
nische Problem und Italiens Kampf um die Vorherrschaft in der Adria. Wien,
F. Deuticke, 1907. 8. VII—247 SS. M. 4,50.
Willmann, Otto (HofR.), Die Hochschule der Gegenwart. Vortrag. Dresden,
v. Zahn & Jaensch, 1906. gr. 8. 21 SS. M. 1.—. (Neue Zeit- und Streitfragen.
Bd. XIL. Heft 1.)
Die periodische Presse des Auslandes. 141
Die periodische Presse des Auslandes,
A. Frankreich.
Annales des Sciences politiques. XXI’ annte, 1906, VI, Novembre: La politique
indigène de l’Angleterre en Afrique occidentale, par Emile Baillaud. — Les nouveaux
impöts allemands, par J. P. Armand Hahn. — ete.
Bulletin de Statistique et de Législation comparée. XXX“ annte, 1906, Octobre:
Les impôts nouveaux et les dögrevements depuis 1870. — Les octrois en 1905. — La
situation financière des départements en 1903. — Les caisses d’assurances en cas de
décès et en cas d'accidents en 1905. — ete. — Novembre: Statistique generale des con-
tributions directes et des taxes assimilées. — Le commerce extérieur en 1905. (Rösul-
tats définitifs.) [France et Algérie.) — Production des vins et des cidres en 1906.
(France et Algérie.) — ete.
Journal des Économistes. 65° année, 1906, novembre: Aperçu historique des
théories modernes de la valeur, par Maurice Bellom. — Mouvement agricole, par Mau-
rice de Molinari. — Lettre de San-Francisco, par Georges Nestler Tricoche. — Encore
l'assurance, par Frédéric Passy. — ete. — Décembre: Théorie de l’&volution, temps
primitifs, par G. de Molinari. — Le réseau d’État de 1878 à 1883, par Schelle. — Un
coup d'oeil sur les chemins de fer des États-Unis, par D. B. — Travaux des chambres
de commerce, par Rouxel. — Une culture en Picardie: les hortillonnages, par E. Letour-
neur. — Le dossier du protectionnisme: la production du fer et de l’acier au Canada,
par A. Raffalovich. — ete.
Journal de la Société de statistique de Paris. 47° année, 1906, N° 9, Septembre:
Tables de mortalité de la population de la France au début du vingtième sitcle, par
Lucien March. — Chronique des questions ouvrières et des assurances sur la vie, par
Maurice Bellom. — ete. — N° 10, Octobre: Tables de mortalité de la population de
la France au début du vingtième siècle, par Lucien March. [Suite et fin.] — Du carac-
tère nouveau de l’immigration aux États-Unis, par Paul Meuriot, — ete. — N° 11,
Novembre: Résultats statistiques du recensement de la population effectué le 24 mars
1901, par E. Levasseur. — Chronique trimestrielle des banques, changes et métaux
précieux, par G. Roulleau. — ete.
Réforme Sociale, La. XXVI’ année, n° 22, 16 novembre 1906: Le Play et sa
méthode de recherche et de démonstration de la valeur des principes sociaux, par
Armand Gautier, de l’Académie des Sciences. — Une solution peu connue du problème
des retraites ouvrières, par G. Olphe-Galliard. — L’alcoolisme, ses causes, ses effets,
ses remèdes, dernier article, par Émile Pierret. — Un peuple peut-il avoir une vie
morale saine si l’État en élimine les religions? Par Eugène Rostand, de l'Institut. — eto.
— n° 23, 1" décembre 1906: Le Play et la vie provinciale, par Charles Brun. — La
surveillance des apprentis, par André Vovart. — Société belge d’&conomie sociale.
Rapport sommaire sur sa XXV” session, par Victor Brants. — ete. — n° 24, 16 décem-
bre 1906: Les prix de vertu, discours de Paul Bourget, à l’Académie française. — Les
retraites ouvrières et le socialisme. Réflexions d’un contribuable à propos d’un livre
récent, par René de Kerallain. — Le röle social de l’ingenieur, par Maurice Bellom.
— etc.
Revue générale d’administration. XXIX” année, 1906, septembre A novembre:
Le personnel des ministères, par G. Demartial. — La France d’aujourd’hui et la France
de demain (suite et fin), par Jules d’Auriac. — De la compétence en matière de pro-
priété, par Albert Roux. — etc.
B. England.
Century, The Nineteenth, and after. N° 358, December 1906: The labour move-
ment, by J. Keir Hardie. — The race suicide scare, by James W. Barclay. — Friendly
societies, by Sir Edward Brabrook. — etc.
Journal of the Royal Statistical Society. Vol. LXIX, 1906, part 3, 29% Sep-
tember: The generalised law of error, or law of great numbers, by (Prof.) F. Y. Edge-
worth. — Miscellanea: Address to the Economic Science and Statistics Section of the
British Association for the Advancement of Science, York, 1906, by (President of the
142 Die periodische Presse des Auslandes.
Section) A. L. Bowley. — On the sex-ratios of births in the registration distriets of
England and Wales, 1881—90, by H. D. Vigor and G. Udny Yule. — etc.
Review, The Contemporary. N” 492, December, 1906: Poor relief in Vienna,
by Edith Sellers. — The Norwegian system of liquor control, by (Prof.) James Seth. —
Local finance: letter to the editor, from H. Morgan-Browne. — etc.
Review, The Economic. Published quarterly for the Oxford University Branch
of the Christian Social Union. Vol. XVI, 1906, N° 4, October: The social teaching of
the Bible, by (Prof.) W. Sanday. — Tariff reform, by F. Marsden Burnett. — Rating
and site valuation, by A. Hook. — The control of public expenditure, by W. M. J.
Williams. — The economie position, by Owen Fleming. — etc.
Review, The National. N° 286, December 1906: The Treasury past and present,
by (Permanent Under-Secretary to the Treasury) Sir Franeis Mowatt. — The future of
tariff reform, by J. L. Garvin. — Land values — why and how they should be taxed, by
Josiah C. Wedgwood. — The sacrifice of sea-power to „Economy“, by H. W. Wilson.
— ete.
C. Oesterreich.
Handels-Museum, Das. Herausgeg. vom k. k. österr. Handels-Museum. Bd. 21,
N" 46: Die Handelsverträge der Schweiz mit Frankreich und Spanien. — Die rumä-
nische Petroleumindustrie. — etc. N’ 47: Die Entwickelung der Post im Zusammen-
hange mit der Entwickelung des Welthandels, von Adolf Grossmann. — ete. — N" 48:
Mitteleuropäischer Wirtschaftsverein, von Drucker. — Das internationale Exportgeschäft.
— ete. — N" 49: Das Marineförderungsgesetz. — ete. — N" 50: Zur Durchführung
des Zolltarifes. — Der neue spanisch-schweizerische Handelsvertrag. — ete. — N" 51:
Genossenschaftsregister und Koalitionsgesetz, von Markus Ettinger. — Das internationale
Exportgeschäft. — ete.
Monatschrift, Statistische. Herausgeg. von der k. k. Statistischen Zentral-Kom-
mission. Neue Folge. Jahrg. XI, September-Oktober-Heft: Die stichprobenweisen Vieh-
schätzungen, eine kritisch-methodologische Untersuchung von Richard Pfaundler und
Franz Weyr. — Vierzig Jahre englischer Landwirtschaftsstatistik, von Inama. — Die
überseeische österreichische Wanderung in den Jahren 1904 und 1905 und die Ein-
wanderungsverhältnisse in den wichtigsten überseeischen Staaten in diesen Jahren, Fort-
setzung, von Richard von Pflügl. — Die Wiener k. k. Krankenanstalten während der
Jahre 1892—1902, von Bratassevie.. — Die Kinderspitäler Wiens während der Jahre
1893—1902, von Bratassevie. — Die Spitäler Niederösterreichs während der Jahre 1893 —
1902, von Bratassevie. — Die adriatische Fischerei Oesterreichs in den Jahren 1902/03,
1903/04 und 1904/05, von Karl Kraft. — Zur Statistik der Aktiengesellschaften, von
F. Knarek. — etc.
Rundschau, Soziale. Herausgeg. vom k. k. Arbeitsstatistischen Amte im Han-
delsministerium, Jahrg. VII, N’ 11, November 1906: Kollektive Arbeitsverträge in
Oesterreich im Jahre 1905. — Arbeitsverhältnisse und Wohlfahrtseinrichtungen in den
Betrieben des österreichischen Tabakmonopols im Jahre 1905. — Wohlfahrtseinrich-
tungen bei den k. k. österreichischen Staatsbahnen im Jahre 1905. — Die Arbeiter-
partei und die neuesten Fortschritte der sozialen Reform in England, von Felix Frei-
herrn v. Oppenheimer. — etc.
D. Italien.
Giornale degli Economisti. Giugno 1906: La teoria del costo di riproduzione
e la critica, di D. Berardi. — Le miniere ed i minatori della Francia del Nord, di
G. François. — Del metodo per determinare la situazione finanziaria di uno stato se-
condo un ministro di Luigi XVI (Calonne), di C. Torlonia. — ete. — Luglio 1906:
L’ofelimitä nei cicli non chiusi, di V. Pareto. — Il rapporto tra pigione e reddito
secondo alcune recenti statistiche, di C. Bresciani. — Protezionismo marittimo e cre-
dito navale in Italia, di V. Giuffrida. — La conversione del consolidato italiano, di
F. Flora. — L’organizzazione nazionale degli operai edili, di L. Marchetti. — etc. —
Agosto 1906: A proposito della teoria del valore, di A. Loria. — Per le finanze della
Capitale, di L. Nina. — La dottrina dell’ egoismo di H. Spencer come interpretazione
dell’ economia politica e delle forme storiche degli istituti industriali, di E. Cossa. —
Le affittanze collettive e Ja disoccupazione nell’ agricoltura, di A. Serpieri ed E. Stella.
— ete
Die periodische Presse Deutschlands. 143
G. Holland und Belgien.
Revue Économique internationale. 3° Année, Vol. IV, N. 2, Novembre 1906:
L'ouvrier nègre en Amérique, par (Prof.) W. E. Burghardt Du Bois. — La question
des chemins de fer aux États-Unis, par (Prof.) Achille Viallate. — La protection ou-
vrière internationale. Les conventions de Berne et l’assambl&e de Genève (septembre
1906), par (Prof.) Ernest Mahaim. — etc.
H. Schweiz.
Blätter, Schweizerische, für Wirtschafts- und Sozialpolitik. Jahrg. XIV, 1906,
Heft 18: Schuldenvermehrung oder Schuldentilgung? Von (Rechtsanwalt) J. Springer
(Zürich). — Die IV. Delegiertenversammlung der Internationalen Vereinigung für den
gesetzlichen Arbeiterschutz (Genf, vom 27.—29. September 1906), Bericht von N. Reiches-
berg (Bern). — etc.
Die periodische Presse Deutschlands.
Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirt-
schaft. Jahrg. 39, 1906, N" 11: Das Asylrecht des englischen Parlaments, von (Prof.)
Julius Hatschek (Posen). — Die Reform der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Elsaß-
Lothringen, von (LandgerichtsR.) Werner Rosenberg (Straßburg i. E.) — Haftung der
Eisenbahnen bei Verletzung und Tötung von Personen nach dem Reichsgesetz vom
7. Juni 1871. Eine systematische Darstellung von Paul Hammer (Würzburg). [Schluß.]
— etc.
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Der neuen Folge Bd. V, Heft 3,
November 1906: Statistik als Wissenschaft, von Al. A. Tschuprow (St. Petersburg). —
Ueber städtische Bodenrente und Bodenspekulation, von (Prof.) Carl Johannes Fuchs.
[2. Artikel.] — Die transatlantische Auswanderung aus Finnland, von August Hjelt
(Helsingfors). — Gemeinde und Sozialdemokratie, von Robert Schachner (Heidelberg).
— Literatur: Zur Geschichte des Sozialismus, von Robert Michels (Marburg); Die
Alkoholfrage, von B. Laquer (Wiesbaden); Neuere Literatur über Armenwesen, von
Adolf Weber (Bonn).
Blätter, Volkswirtschaftliche. Jahrg. V, N" 23, 5. XII. 1906: Wirtschaftliche
Interessenvertretungen und ihre Presse in Brasilien. — ete. — N’ 24, 20. XII. 1906:
Die Handelskammervereinigungen in den Kulturstaaten, von Erhard Hübener (Berlin).
— Zur wirtschaftlichen Ausbildung der Kaufleute und Beamten, von Mil Richter
(Leipzig). — Paris, von J. Wernicke (Berlin). — ete.
Handels-Museum, Deutsches. Organ des Bundes der Kaufleute, herausgeg.
von Vosberg-Rekow. Jahrg. 3, 1906, N’ 8: Was haben Rußlands Gläubiger zu er-
warten? Von Georg Schultze. — Zur Lage des Handwerks, von Joh. Steindamm
(Berlin). — ete. — N" 9: Unfallversicherung im kaufmännischen Gewerbe, von (Rechts-
anwalt) Fuld (Mainz). — Der 8 Uhr-Ladenschluß, von (Handelskammersekretär) Fechner
(Kottbus). — Ueber moderne Verkehrs-Vehikel, von J. Landgraf (Wiesbaden). — ete.
— N’ 10: Die deutschen Kaufmannsstädte im Mittelalter, von Georg Schultze. — Ver-
einbarung von Schiedsgerichten, von (Prof.) Schumacher (Cöln). — ete. — N" 11: Kar-
tell und Kleinhandel, von J. H. Heiderich. — Die deutschen Kaufmannsstädte im Mittel-
alter, von Georg Sehultze. [Schluß.] — ete.
Jahrbücher, Preußische. Bd. 126, Heft 3, Dezember 1906: Was hindert die
freie Selbstbesiedlung des Landes? Von G. W. Schiele (Naumburg a. S.). — Neue
irische Probleme, von (Prof.) Wilhelm Dibelius (Posen). — Deutschlands Handelsbilanz,
von Paul Büchner (Hamburg). — ete.
Monatshefte, Sozialistische. Jahrg. XII, 1906, Heft 12, Dezember: Der Gesetz-
entwurf, betreffend gewerbliche Berufsvereine, von Carl Legien. — Der Sozialismus in
Belgien, von Emile Vandervelde. — Die Verfassungsreform und die Neuwahlen in
Württemberg, von Berthold Heymann. — Die Bekämpfung der Kinderarbeit, von Julius
144 Die periodische Presse Deutschlands.
Deutsch. — Die Rechtsprechung in der Krankenversicherung, von Friedrich Kleeis.
— etc,
Rechtsschutz, Gewerblicher, und Urheberrecht. Jahrg. 11, N" 11, November
1906: Ausverkaufswesen, von (Rechtsanwalt) Ludwig Fuld (Mainz). — Unlauterer Wett-
bewerb. Medaillenunwesen und Ausstellungsschwindel, von H. Lienau (Steglitz). — Die
Aufnahme einer strafrechtlichen Sanktion in $ 8 des Gesetzes zur Bekämpfung des un-
lauteren Wettbewerbs, von (LandgerichtsR.) Finger (Straßburg i. E.). — ete. — N’ 12,
Dezember 1906: Veröffentlichung der Erkenntnisse und Prozesse über unlauteren Wett-
bewerb, von (Rechtsanwalt) Martin Wassermann (Hamburg). — Bedürfen die Bestim-
mungen der deutschen Gesetzgebung über den Schutz gegen den Verrat gewerblicher
Geheimnisse einer Aenderung oder Ergänzung? Von (Rechtsanwalt) Paul Schmidt. — ete,
Revue, Deutsche. Jahrg. 31, Dezember 1906: Die Reichsbank und die Geld-
verteuerung, von (Präs. des Reichsbankdirektoriums) Koch. — Beamtenvorbildung und
Wirtschaftsleben, von (Prof.) Ernst von Halle (Berlin). — Fünfzig Jahre deutscher
Technik, von Franz Bendt. — Zur Beschränkung des englischen Kabelmonopols, von
R. Hennig (Berlin). — etc.
Revue, Politisch-anthropologische. Jahrg. V, N" 9, Dezember 1906: Gesellschaft
und Staat als Organismus, von J. G. Weiss. — Ein vorurteilsvolles Buch über das
Rassenvorurteil, von Ludwig Woltmann. — Chinesen in Nordamerika, von Hans Feh-
linger. — etc. — N" 10, Januar 1907: Germanische Rasse und romanische Kultur, von
Ludwig Woltmann. — Die voraussichtlichen Folgen der Mutterschaftsversicherung, von
Fr. von den Velden. — ete.
Thünen-Archiv. Organ für exakte Wirtschaftsforschung. Jahrg. 2, 1907,
Heft 1: Raubwirtschaft und Kraftkultur, II, Raubwirtschaft mit Menschenkräften. —
Regenerativ-Ofen und Arbeiterbewegung in der deutschen und englischen Grünglas-
Industrie. — Aus den Betriebsergebnissen eines Mecklenburgischen Rittergutes, IV, Be-
trachtungen über die Lalendorfer Natural-Erträge, von (DomänenR.) Brödermann-Knegendort.
Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reichs. Herausgeg. vom Kaiser-
lichen Statistischen Amt. Jahrg. 15, 1906, Heft 4: Konkurs-Statistik 1905. — Anbau-
flächen der hauptsächlichsten Fruchtarten im Juni 1906. — Tabakanbau 1906. Vor-
läufige Nachweise. — Bierbrauerei und Bierbesteuerung 1905. — Hopfenanbau und
Schätzung der Hopfenernte 1906. — Konkurse im 3. Vierteljahr 1906. — Die Berg-
werke, Salinen und Hütten 1905. — Der Verkehr auf den deutschen Wasserstraßen
1872—1905. — Die jugendlichen Fabrikarbeiter und die Fabrikarbeiterinnen 1905. —
Salzgewinnung und -besteuerung 1905. — Streiks und Aussperrungen im 3. Vierteljahr
1906. — Stärkezuckergewinnung und -handel 1905/1906. — Zuckergewinnung und -be-
steuerung 1905/1906. — Der Tabak im deutschen Zollgebiet 1905. — Die Volkszählung
am 1. Dezember 1905. — etc.
Zeit, Die Neue. Jahrg. 25, Bd. 1, N" 9: Triebkräfte und Aussichten der russischen
Revolution, von K. Kautsky. — Die Neunstundenschicht im Braunkohlenbergbau, von
Max Hirsch. — Die Berufs- und Industrieverbände in Frankreich, von Paul Louis
(Paris). — ete. — N" 10: Triebkräfte und Aussichten der russischen Revolution, von
K. Kautsky. [Schluß.] — ete. — N’ 11: Der Gesetzentwurf gegen die gewerblichen
Berufsvereine, von Josef Herzfeld. — ete. — N" 12: Die Auflösung des Reichstags und
die Klassengegensätze in Deutschland, von Karl Emil. — Die Lage der Zivilberufs-
musiker, von Viktor Noack. — ete.
Zeitschrift für Socialwissenschaft. Jahrg. IX, 1906, Heft 12: Die Zeit als Wirt-
schaftselement, von (Prof.) Wilhelm Schäfer (Hannover). — Der deutsche Steinkohlen-
bergbau und seine Arbeiterverhältnisse, von (Ingenieur) Curt Goldschmidt (Zabrze). —
Das Marktwesen auf den primitiven Kulturstufen, von Richard Lasch (Wien). [Schluß.]
— etc.
Frowmannsche Buchdruckerei (Hermann Pohle) in Jena,
H. Ruesch, Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 145
II.
Der Berliner Getreidehandel unter dem
deutschen Börsengesetz.
Von
H. Ruesch.
(Fortsetzung und Schluß.)
VI. Wirkungen auf die Getreidepreisbildung.
Trotzdem sprechen sich die Vertreter der Landwirtschaft ganz
günstig über den Erfolg des Terminhandelsverbots aus, so seien
z. B. die Land- und Wochenmärkte seit Inkrafttreten des Bör-
sengesetzes mehr und mehr erstarkt und Berlins Bedeutung für
die Preisbildung mehr zurückgetreten. Es ist aber schon an
anderer Stelle erwähnt worden, daß Deutschland nach wie vor
Getreide-Importland geblieben ist und daher auch noch immer von
der Konjunktur des Weltmarktes abhängig ist, nur daß heute der
deutsche Getreidehandel kein entscheidendes Gegengewicht mehr
gegen spekulative Ausschreitungen der anderen Weltmärkte geltend
machen kann, wie es früher durch die Berliner Börse geschah. Es
ist das zum mindesten ein recht zweifelhafter Vorzug, einseitig von
den amerikanischen Börsen beeinflußt zu werden, als von Berlin.
Heute kann der Berliner Handel seinen durch das früher blühende
Termingeschäft erreichten Einfluß nicht mehr genügend ausnutzen
und ist oft ziemlich hilflos den Bewegungen der ausländischen
Börsen preisgegeben !).
Wenn also jetzt die kleinen Marktplätze nicht mehr so direkt
von der Berliner Notiz abhängig sind, so ist eben auch dort ganz
und gar der amerikanische Kurszettel an die Stelle getreten, und
es ist im höchsten Grade bedauerlich, wenn ein Land wie Deutsch-
land so vollkommen sein bisher wichtiges Mitbestimmungsrecht an
der internationalen Getreidepreisbildung aufgegeben hat. Man kann
von einer verringerten Abhängigkeit vom Weltmarkt nicht reden,
wenn z. B. auch die Zentralnotierungsstelle der preußischen Land-
wirtschaftskammern täglich die amerikanischen und russischen Preis-
i) Jahresbericht der Aeltesten 1897, S. 95 und 1898, S. 60.
Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII. 10
146 H. Ruesch,
berichte, auf Deutschland umgerechnet, den Landwirten als Anhalt
für die Berechnung der Preise brachte. Das ist jedenfalls sicher,
für die Preisbildung können die an hunderten kleinen Provinzorten
umgesetzten Mengen überhaupt keinen Einfluß haben. Die segens-
reiche Wirkung wird vielmehr auf einem anderen Gebiet liegen.
Die in den verschiedenen Bezirken notierten Preise geben dem
verkaufenden Landwirt einen gewissen Anhalt für die Bewertung
seiner Produkte, lokales Angebot und lokale Nachfrage treffen sich
immer mehr auf dem Markt oder der kleinen Provinzbörse,. und die
Landwirte können sich so mit Erfolg allmählich aus den Händen
manches unreellen, kleinen Zwischenhändlers befreien. Schließlich
braucht man sich hier auch nicht mehr so den täglichen Schwankungen
des Weltmarktes hinzugeben, sondern man wird jetzt nur noch den
allgemeinen Tendenzen in der Preisbewegung folgen, indem die
lokalen Verhältnisse mitberücksichtigt werden, und damit werden
die Terminhändler an der Zentralbörse die kolossale Verantwortung
lost), durch die täglichen Variationen auch gleich für Tausende von
anderen in der Provinz gemachten Abschlüssen den Preis festgesetzt
zu haben. Ersetzen können diese Märkte aber eine Zentralbörse
nie. Für die Preisbildung hat noch heute der totgeschlagene Ber-
liner Handel eine weit größere Bedeutung als alle diese Frucht-
märkte zusammen mit ihren relativ kleinen Verkaufsmengen.
Viel wichtiger ist es jedoch, einmal einen zweiten Punkt zu
untersuchen, ob sich nämlich wirklich die Getreidepreise infolge
des Terminhandelsverbots gebessert haben, eine Meinung, die viel-
fach von seiten der Landwirte vertreten wird. Es muß diese Preis-
steigerung wohl einen anderen Grund haben, denn wir sahen, daß
man einen Ersatz in dem handelsrechtlichen Lieferungsgeschäft ge-
funden hat und sich in den Berliner Preisen immerhin noch die
Lage des Weltmarktes widerspiegelt, wo der Terminhandel nach wie
vor weiterblüht. Das Anziehen der Ceralienpreise ist daher auch
keineswegs nur auf Deutschland beschränkt, es scheint vielmehr
aus nachstehenden Tabellen ersichtlich, daß unserer Landwirtschaft
diese günstige Konstellation nicht in dem Maße zugute gekommen
ist, als wenn der Konnex mit dem Weltmarkt durch eine starke
Terminbörse enger gewesen wäre.
Stellt man die Jahresdurchschnittspreise der verschiedensten
Plätze zusammen, so ergibt sich, daß nach Ueberwindung des nied-
rigen Preisniveaus von 1893—1895 überall wieder ein Steigen der
Preise eingesetzt hat und daß dabei gerade Deutschland namentlich
für Weizen ganz wesentlich hinter den Auslandsplätzen zurück-
geblieben ist, sicher nicht zum Vorteil der deutschen Landwirt-
schaft (vergl. Tabelle 2).
Der Preis des Roggens war im vorigen Jahr gegen 1896, als
1) In der Börmenenquete wurde von Kaufleuten vielfach beklagt, daß sich in der
Provinz alles nach den einzelnen Tagesnotizen der Berliner Börse richte. (Vergl. auch
Wiedenfeld in Conrads Jahrbüchern, Bd. 9, S. 378.)
147
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz.
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s+ |voe+| sgt |o | s+ |erı+ rar siert] vrot | ssr+ | ar+ | rut | Aumaaalıs
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| | (9681 sre)
zı+ tt + 1 + u+ Sz + a 1S + gt + z£ + gI + oz + sı + d L681
bE + 6f + £E + lz + ÞE + Lz+| ZL+ 6+ te + LE + SS+ | ott E 8681
ge+ erp WEF Lz + ti + z + E+) S+ Li+ 1 — € + 1 — E 6681 $
zt + Stj te bèz + Sı + t + ti + 9 + lı + 9 + t— | t — “ 0061 =
Sz + 6z+| 8z+ zz + 91 + € + 91 + 8 + zı + S + L + g + H 1061
lz + ıe + I£ + Sz + 5 9 + gz + iz + 11+ 11 + 1 + Z + X 8061
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(34 0007 od yW)
UOoA ƏZ} Id OUAPIIYISIGA INJ
uo33oy A AEA Ks EE E "= o]lOquL
148 H. Ruesch,
letztem Jahr vor dem Börsengesetz, in Berlin und Königsberg
33 M. per Tonne höher, in Paris 34 M. und in Amsterdam sogar
39 M. Für Weizen lassen sich bei der Weltbedeutung dieser Ge-
treideart weit mehr Plätze zum Vergleich heranziehen. In derselben
Zeit von 1896—1905 stieg hier der Preis in Berlin 19 M. und in
Königsberg 17 M., dagegen in London 22 M., in Antwerpen 24 M.,
in Paris 34 M., in Wien 35 M., in New York 33 M. und in Amster-
dam sogar 40 M. Nun konnte das Jahr 1905 allerdings zufällig
ein derartiges Ergebnis zeitigen, aber man wird zu demselben
Resultat kommen, wenn man ein anderes Jahr mit 1896 vergleicht.
Durchweg sieht man ganz deutlich, daß Deutschland in der Preis-
entwickelung hinter dem Auslande zurückgeblieben ist. Im Durch-
schnitt der in Betracht kommenden 9 Jahre beträgt die Steigerung
der Weizenpreise nämlich in Berlin 11,1 M. und in Königsberg
12.6 M. gegenüber 13,3 M. in London, 17,5 M. in New York, 20,+ M.
in Antwerpen, 23,5 M. in Amsterdam, 24,8 M. in Paris und 35,! M.
in Wien. Bei Roggen beträgt die durchschnittliche Preissteigerung
in Berlin 22 M. und in Königsberg 25,3 M.. dagegen in Amsterdam
28,3 M. und in Paris 30,7 M.
Den Grund für diese merkwürdige Tatsache wird man mit Recht
in dem deutschen Börsengesetz zu suchen haben. Durch das Verbot
des Börsenterminhandels hat sich der Spekulationshandel mit seinem
Kapital vom Getreidegeschäft zurückgezogen, und bei dem Fehlen
einer gesunden Arbitrage ist es unmöglich geworden, die örtlichen
Preisunterschiede schnell zum Ausgleich zu bringen. Berlin vermag
den jeweiligen Bewegungen des Weltmarktes nicht mehr rasch genug
zu. folgen, das sah man schon gleich in den ersten Jahren 1897
und 18981), wo z. B. 1897 der Weizenpreis im monatlichen Durch-
schnitt vom Januar bis Dezember stieg:
in Berlin um II, M} in Antwerpen um 31,6 M.
» New York „ 158 » » Chicago » 3239 s»
„ Amsterdam , 16,8 „ » Paris „598 »
London m 109° s » Wien » 756
E Liverpool „ 27,0 » n Budapest » 75,0 f (vgl. Tab. 3),
und ebenso 1898, als infolge der amerikanischen Hausse der Weizen-
preis vom Januar bis zum Mai in Chicago um 94 M., in New York
um 80,5 M., in Liverpool um 65,2 M., in London um 61,8 M. bei
californischer und 60,7 M. bei englischer Ware emporschnellte,
während Berlin nur eine Steigerung von 45.9 aufzuweisen hatte,
trotz des Zurückbleibens schon im Jahre vorher, so daß im Mai
1898 die Preise von Berlin sogar um 8 M. hinter Londoner Notiz
zurückblieben (vgl. Tabelle 9).
1) Die Berliner Preise für die Jahre 1897—1899 allerdings sind nichtamtliche,
sondern dem statistischen Amt der Stadt Berlin von den Aeltesten der Kaufmannschaft
mitgereilte. Da die Preise aber von denselben Personen wie vorher an der offiziellen
Produktenbörse ermittelt wurden, so wird man sie für die betr. 3 Jahre wohl ohne
Bedenken zum Vergleich heranziehen können.
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 149
Tabelle 3. Preissteigerung des Weizens im Jahre 1897.
(Mark pro 1000 kg.)
T | | 3 |
Berlin) New | Amster- |Lon- Liver-| Ant- |Chi- Paris
Mo- ER k 5 R Wien| Pest
755 ork) dam don | pool |werpen| cago | Lief.- 9 k
nat | g, p. 1. | Lief.- | Odessa |engl. | Cali- | Donau- | Lief.- | ware Theiß | Mittel
Ware | | weiß | fornien | mittel | ware
Jan. | 177,3 | 135,9| 133,8 147,9, 160,2 139,1 ` 118,9) 181,6] 154,1) 146,5
Febr. | 171,6 | 127,3| 131,7 138,6) 148,8 137,9 | 113,7) 179,9| 150,2) 141,8
März | 165,3 | 125,4 128,8 133,2| 143,8 131,7 112,2| 174,3] 149,0| 140,1
April | 160,6 | 122,8) 124,0 132,1) 139,2 127,9 108,5) 176,4| 143,5, 135,4
Mai 161,6 | 122,3| 125,3 | 130,7| 144,6 130,1 | 110,8) 186,8] 146,2, 138,1
Juni | 160,0 | 115,9| 121,9 127,8| 142,2 129,5 107,2) 189,5) 155,8 147,5
Juli 163,7 | 124,1) 121,2 133,5| 149,0 136,2 | 113,1] 195,1] 179,0| 173,3
Aug. | 180,6 144,7 149,2 152,6) 173,2 175,5 132,6] 229,7| 224,5, 213,7
Sept. | 184,7 | 153,6) 155,9 162,5) 189,1 | 175,8 | 143,9| 234,8! 223,8 212,5
Okt. 182,3 | 148,01 150,4 159,2) 180,9 172,3 141,0) 234,7| 224,7) 217,7
Nov. | 187,5 | 149,4 156,5 162,72) 186,1 172,0 | 146,0| 240,9| 227,4, 223,1
Dez. | 188,7 | 151,7) 150,6 164,8| 187,2 |, 170,1 151,8) 241,4| 225,7| 221,5
l -A Li = l- >
Dez. 7
mehr
als [t Ina |+ 158 + 16,8 |+ 16,9|+ 27,0 | +31,0 + 32,9|+ 59,8| + 71,6|+ 75,0
5 |
Jan. | | | |
| | | | |
Bei Roggen lagen die Verhältnisse ähnlich, in Berlin vom Januar
bis Dezember 1897 Steigen um 15,6 M., dagegen in Amsterdam um
21,2 M., in Paris um 27,2 M., in Wien um 31,2 M. und in Pest um
30,9 M. Vom Januar bis Mai 1898 stiegen dann die Roggenpreise
in Odessa um 22,3 M., in Amsterdam um 32,1 M., in Paris um
811 M., in Wien um 21,5 M. und in Pest um 25 M., dagegen in
Berlin nur um 18,6 M. (vergl. Tabelle 4). Aus alledem wird schon °
ersichtlich, daß Berlin eine gleichmäßigere Preisbewegung aufzuweisen
hat, und dies wird ganz besonders deutlich, wenn man die täglichen
Preisschwankungen graphisch in einer Kurve beobachtet, wie Mancke
es in seinen Tabellen von 1897—1902 getan hat!). Die Agrarier
preisen es daher auch immer als Erfolg des Börsengesetzes, daß die
Preisschwankungen in Deutschland seit 1897 bedeutend geringer
gewesen sind als auf dem Weltmarkt, da die Landwirte so mit
größerer Sicherheit auf eine gleichmäßige Verwertung ihrer Ernte
rechnen können. Aber es ist doch sicher ein eigenartiger Vorteil
für die Landwirtschaft, wenn dies auf Kosten der Preishöhe geschieht,
wie soeben gezeigt wurde.
Dazu kommt aber noch, daß infolge der verhältnismäßig ge-
ringen Preissteigerung in Deutschland Berlin in den letzten Jahren
auch vielfach der paritätisch niedrigst stehende Markt der Erde sein
mußte. Es ergibt sich nämlich schon aus den Jahresdurchschnitts-
zahlen, daß der Preisunterschied gegenüber dem Ausland, wie er
durch den Zoll bedingt wäre, nicht mehr so zum Ausdruck kommt,
1) Mancke, Die Bewertung des Weizens und Roggens. Berlin 1398, 1900/1901,
1901,02.
150 H. Ruesch,
Tabelle 4. Preissteigerung von Roggen 1897 und 1898.
(Mark pro 1000 kg.)
` Amster- P . l Odessa
Berlin Paris Wien Pest | >
Manat f g. p. L| ARM Liefer. WarelPest. Boden Mittel A
|
1897 | | |
Januar 129,0 93,1 121,1 | 124,8 | 113,9
Februar 124,4 91,4 119,0 122,1 111,0 —
März 121,6 | 86,9 110,8 119,2 109,0 -—
April 118,9 | 87,3 IIIT | 114,6 | 104,8 —
Mai 117,9 90,3 | 115,0 117,6 | 107,4
Juni 115,7 84,5 | 117,0 122,6 110,4 =
Juli 123,9 86,6 118,5 135,8 126,0
August 138,2 | 100,5 144,1 159,5 147,4 _
September 142,5 106,2 145,9 155,7 144,3 =
Oktober 140,9 109,7 143,0 157,4 142,6 —
November 144,1 111,4 145,0 157,0 144,5
Dezember 144,6 114,3 148,3 156,0 144,8 | —
Steigerung| + 15.6 + 21,8 + 27,2 + 31,2 + 30,9
1598
Januar 143,9 115,1 142,1 156,7 146,1 |! 94,0
Februar 145,6 116,8 140,6 161,1 148,0 | 98,0
März 147,1 116,6 143,2 162,0 149,7 | 101%
April 159,5 128,9 155,6 | 171,5 155,9 | 107,6
Mai 162,5 | 147,2 | 173,8 | 178,2 171,1 | 116,3
Steigerung| + 18,6 + 321 | + 311 | + 21,5 | + 25,0 |+ 22,3
wie vor dem Inkrafttreten des Börsengesetzes. In Vergleich gezogen
werden können dabei natürlich nur Plätze wie Amsterdam, Antwerpen,
Liverpool und London. deren Preise nicht durch Zölle beeinflußt
werden und die zugleich nicht soweit von Deutschland entfernt sind,
als daß die Veränderung in den Frachtraten hier eine erhebliche
Rolle spielen könnte. Die Qualitätsunterschiede bedingen allerdings
für jeden Platz ein anderes Ergebnis, aber es kommt auch weniger
auf die tatsächliche Höhe der Differenz zwischen Berlin und einem
der genannten Märkte an, als auf das Steigen oder Fallen dieses
Preisunterschiedes bei jedem einzelnen Platz gegenüber Berlin im
Lauf der letzten 12 Jahre. Da ergibt sich denn, daß der Weizen-
preis im Jahresdurchschnitt von 1894—1896 in Berlin 44,7 M. höher
stand als in Amsterdam gegenüber dem Betrage von 32,1 M. im
Durchschnitt der Jahre 1897 --1905. Bei Antwerpen ergeben sich
vor dem Börsengesetz (1894—96) durchschnittlich 39,3 M. Differenz
gegenüber Berlin, unter dem Börsengesetz von 1897- 1905 nur
28,7 M., bei Liverpool sind es 32,3 M. vor und nur 24,4 M. nach
1897, und gegenüber London sinkt die Höhe der Differenz von
31,7 M. auf 29,8 M. bei englischem und von 26M. auf 20,7 M. bei
amerikanischem Weizen (vergl. Tabelle 5).
Für Roggen läßt sich nur Amsterdam mit Berlin vergleichen,
und wir erhalten auch hier dasselbe Bild. Während von 1894—96
der 35-Markzoll fast ganz zur Geltung kommt, durchschnittlich waren
es 34.8 M., die Berlin höher notierte als Amsterdam, beträgt diese
Der Berliner Getreidebandel unter dem deutschen Börsengesetz. 151
Tabelle 5. Jahresdurchschnittspreise von Weizen in
Berlin, verglichen mit denen von Amsterdam, Ant-
werpen, Liverpool und London von 1894/1905.
(Mark pro 1000 kg.)
|1894|1895|/1896|1897|1898/1899|1900|1901|1902|1903|1904|1905
Berlin (755 g. p. 1.) 136 143 | ı56| 174 | 186 155 |152 164 | 163 | 161 | 174 | 175
Amsterdam (Odessa) 91 98 | ı112[137 | 146| 126 | ı27 |ı28 . |127| 141,152
Antwerpen (Donau | N
mittel) 96 103 | 118 | 150 | 152 | 135 | 135 | 130 | 129 | 133 | 140 | 142
Liverpool (La Plata) ļ|102|111|125ļf . . |130| 134 | 134 | 140 | 140 | 147 | 148
Lóni (engl. rot) 108 | 108 | 124 | 142 | 161 | 123 | 130 | 129 | 135 | 130 | 140 | 146
Ron | (kaliforn.) |110| 115 |132| 157 | 167 | 137 | 137 | 132| 136 | 144|. |.
Berlin mehr als: | le a Kerle i
Amsterdam 45| 45| 44| 37 40| 29| 25| 36| . | 34| 33| 23
Antwerpen 40| 40| 38| 24, 34| 20| 17| 34| 34 28| -34| 33
Liverpool 34| 32| 31]. . 25| ı8| 30| 23| 2ı| 27| 27
Doido engl. 28| 35| 32| 32 ag 32' 22| 35| 28| 31| 34| 29
kaliforn. 26| 28| 24| 17| 19| ı8 15| 32| 27| ı7| . ;
SFE A le > LE
Berlin durchschnittlich
mehr als:
Amsterdam 44,7 32,1
Antwerpen 39,3 28,7
Liverpool 32,3 24,4
englisch 31,7 29,8
London! kaliforn, 26.0 20,7
Zifer in der Zeit des deutschen Börsengesetzes nur noch 27,6 M.
Nicht in einem einzigen Jahr ist seit 1897 wieder ein Preisunter-
schied von 34,3, 36,6, 33,5 M. erreicht, wie er in den 3 Jahren von
1894—96 zum Ausdruck kam (vergl. Tabelle 6).
Tabelle 6. Roggenpreise von Berlin und Amsterdam
von 1894/1905.
(Mark pro 1000 kg.)
Faks Berlin Amstérdam Berlin mehr als Amster-
(712 g. p. 1.) (Asow) dam
1894 117,8 83,5 34,3
1895 119,8 83,2 36,6 34,8
1896 118,8 85,3 33,5
1897 130,1 96,9 33,2 |
1898 146,3 119,0 27,3
1899 146,0 121,8 24,7
1900 142 6 117,2 25,4
1901 140,7 110,2 30,5 27,6
1902 144,2 112,1 32,1 |
1903 132,3 111,9 20,4
1904 135,1 108,1 27,0
1905 151,9 123,7 28,2 |
Diese Resultate sind aber um so merkwürdiger, als man aus
einem anderen Grund viel eher hätte erwarten sollen, daß die deutschen
152 H. Ruesch,
Preise sich ziemlich genau um den Zollbetrag über dem Weltmarkt-
preis bewegen würden. Durch Gesetz vom 14. April 1894 wurde
nämlich der Identitätsnachweis für Getreide aufgehoben, und zwar
in der ausgesprochenen Absicht, dadurch den Inlandspreis im öst-
lichen Deutschland dem Weltmarktpreis plus Zoll zu nähern. Die
Getreideproduktion übersteigt im Osten den Verbrauch, und es wurde
daher früher lebhaft nach Skandinavien und England exportiert.
Durch die immer mehr steigenden Zollsätze wurde das deutsche
Getreide jedoch konkurrenzunfähig, so daß sich nun der Ueberschuß,
der natürlich auch für die übrige Menge den Preis mitbestimmte,
wegen der teureren Transportkosten nach dem deutschen Westen
nur zu niedrigeren Preisen absetzen ließ. Der Zoll kam also dem
Teile Deutschlands, für den er hauptsächlich bestimmt war, nicht
voll zugute, während andererseits der industrielle Westen mit seinem
Importbedürfnis oft über die Zollsätze hinaus belastet war. Mit
dem Abschluß des deutsch-russischen Handelsvertrages wollte man
nun der Landwirtschaft der östlichen Provinzen einige Entschädigung
für die Erleichterung der Konkurrenz des russischen Getreides geben,
und es wurde in dem oben genannten Gesetz bestimmt, daß bei
Ausfuhr von Weizen, Roggen, Hafer, Gerste, Hülsenfrüchten, Raps
und Rübsaat auf Antrag des Warenführers Einfuhrscheine erteilt
werden können, die innerhalb 6 Monaten zur zollfreien Einfuhr einer
gleichen Menge dieser Waren berechtigen. Da die Einfuhrscheine
auch noch zur Zollzahlung für eine Reihe anderer Waren als der
ausgeführten Getreidearten, so namentlich von Kolonialwaren in An-
rechnung gebracht werden können, so entspricht der Preis derselben
fast vollständig dem Zollbetrag, denn wir sahen schon, daß Deutsch-
land mehr Getreide importiert als exportiert. Der deutsche Händler
im Osten konnte jetzt wieder auf dem Weltmarkt konkurrieren, da
der Erlös aus den Einfuhrscheinen, die vom importbedürftigen Westen
gerne gekauft wurden, ihn in Stand setzte, das Getreide wieder wie
früher nach England oder Skandinavien zu exportieren, ohne daß die
Ware durch den Zoll verteuert war!).
Rein theoretisch betrachtet, mußten also jetzt auch die Preise
in den östlichen Provinzen auf den Weltmarktpreis plus Zoll steigen,
denn es wird sicher so lange exportiert, bis dieser Stand erreicht
ist. In der Praxis bestätigte sich diese Annahme. Während der
Export fast ganz aufgehört hatte, stiegen diese Zahlen jetzt bald,
und auch die Preise entwickelten sich in der vorausgesagten Weise.
Wir sahen oben, wie von 1894 bis 1896 der Zoll in den deutschen
Preisen ziemlich voll zur Geltung kam, wenn auch die Qualitäts-
unterschiede die Höhe der Differenz bei den verschiedenen Plätzen
nach oben oder unten verschoben.
Dagegen ging aus den Jahresdurchschnittszahlen von 1897 bis
1905, d. h. in der Zeit des Börsengesetzes, deutlich hervor, daß sich
1) Vergl. hierüber auch die Artikel im Handwörterbuch der Staatswissenschaften
und im Wörterbuch der Volkswirtschaft von Lexis und Rathgen.
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 153
diese Differenz bedeutend verringert hat (vergl. Tabelle 5 und 6).
Sollten nämlich die deutschen Preise mit dem Weltmarkt paritätisch
stehen, so mußte auch eine Organisation vorhanden sein, die einen
engen Konnex mit ausländischen Getreidemärkten ermöglichte. Da
nun eine Terminbörse durch die Arbitrage die örtlichen und zeit-
lichen Preisunterschiede schon so wie so auszugleichen sucht, so
konnte sie dies in einem Lande mit hohen Schutzzöllen nur dann
mit Erfolg erreichen, wenn bei zu niedrigem Inlandpreis eventuell
effektive Ware hinausgeschafft werden konnte, und diese Möglich-
keit war seit 1894 durch die Aufhebung des Identitätsnachweises
gegeben. Durch das Verbot des Terminhandels machte man aber
bald darauf diesen Erfolg wieder zu nichte, indem man die Ver-
bindung mit dem Weltmarkt mit plumper Hand zerstörte, so daß
sich jetzt wieder eine mehr oder minder starke Disparität gegen-
über den Auslandspreisen zeigt).
Unter solchen Verhältnissen ist die Wirkung des Gesetzes von
1894 eine ganz andere, die niedrigeren Inlandspreise wirken jetzt
wie eine Art Exportprämie. Wenn früher der Terminhandel zu
Zeiten des Ueberflusses das Warenangebot aufnahm und es dann
nach Bedarf allmählich in den Konsum überführte, kann heute die
volkswirtschaftlich günstige Verteilung über Raum und Zeit bei dem
Fehlen einer starken Terminbörse nicht mehr in dem Maße vom
Handel geleistet werden, und so kommt es, daß bei der geringen
Beteiligung des Kapitals und überhaupt bei der herrschenden Ge-
schäftsunlust vielfach Getreide zum Export kommt, welches unter
normalen Verhältnissen für den Inlandsbedarf hätte verwandt werden
müssen. Nachher wird dann wieder zu vielfach höheren Preisen
importiert, und es ergeben sich allein durch die unnötigen Trans-
portkosten und Handelsspesen schon beträchtliche Verluste für
unsere Volkswirtschaft, wozu aber vor allem die Schädigung der
Landwirtschaft durch die zu niedrigen Preise hinzukommt.
Es werden sich im folgenden noch mehrfach Beispiele dieser
Disparität zeigen lassen, da hier die Gelegenheit genommen werden
soll, einmal die Preisentwickelung der verschiedenen Jahre mit dem
Getreideimport und -Export zu vergleichen, und zwar sind in den
Tabellen 8—25 die monatlichen Ein- und Ausfuhrzahlen dem
jeweiligen Preisunterschied Berlins mit dem Weltmarkt gegenüber-
gestellt worden. Ausgegangen ist dabei von der Erwägung, daß
1) Um diese Disparität der deutschen Getreidepreise zu erkennen, genügt es,
Berlin mit dem Weltmarkt zu vergleichen, da jetzt fast ausschließlich deutsche Ware
im Berliner Lieferungsgeschäft gehandelt wird. Gerade dieser Umstand bedeutet aber
auch wieder einen Nachteil für die deutschen Getreideproduzenten, denn anerkannter-
maßen steht die Qualität der heimischen Ernte derjenigen ausländischer Sorten nach.
Wenn früher in den Berliner Terminnotierungen Abschlüsse in ausländischer Ware
zahlreicb zum Ausdruck kamen, so mnßte damit auch ein günstiger Einfluß auf die
Bewertung des deutschen Getreides ausgeübt werden, da man sich allgemein nach
der Berliner Notiz richten. Heute fällt diese Einwirkung der besseren, ausländischen
Qualitäten auf die Berliner Lieferungspreise weg. Die Hauptursache der Disparität
bleibt allerdings doch der Mangel einer Arbitrage im Terminhandel.
154 H. Ruesch,
bei verhältnismäßig zu niedrigem Inlandpreis exportiert und um-
gekehrt importiert werden wird. Beim Export wird man mit ziem-
licher Sicherheit annehmen können, daß alsbald nach dem Ver-
kaufsabschluß, spätestens wohl im nächsten Monat, die entsprechende
Getreidemenge in der Ausfuhrstatistik erscheint, wie auch tatsäch-
lich aus der folgenden Untersuchung diese Wechselwirkung zwischen
Disparität und Export hervorgeht. Beim Import ist es jedoch un-
möglich, einen Anhaltspunkt zu gewinnen, zu welchem Preise und
wann die Ware eingekauft ist, zwischen Kaufabschluß und Ankunft
der Ware werden oft mehrere Monate liegen, so daß es unstatthaft
wäre, hier aus der Vergleichung der Preisdifferenz und dem zu-
fällig in einem Monat angekommenen Getreideposten irgendwelche
Schlüsse zu ziehen. Man muß hier schon längere Zeiträume be-
trachten und wird auch dann nur ein bedingt richtiges Urteil fällen
können. Jedenfalls kann man die Beobachtung machen, daß in
Jahren mit ungewöhnlich starker Disparität auch der Import nach-
zulassen pflegt.
Gleich das Jahr 1897 hat den Einfluß des Terminhandelsverbots
in unerfreulichem Maße gezeigt, indem die deutsche Landwirtschaft
von der äußerst günstigen Konjunktur des Jahres sicher nicht den
ihr sonst zugefallenen Vorteil gezogen hat. In den meisten Staaten
Mitteleuropas, besonders in Oesterreich-Ungarn und Frankreich, war
der Ernteausfall sehr gering, die Weltproduktion in Weizen betrug
in diesem Jahr nur 571883000 dz gegenüber dem Durchschnitt der
Jahre 1893/97 von 642690000 dz!). An der sich hieraus ergeben-
den Preissteigerung nahm Deutschland aber nicht im vollen Maße
teil, wie schon oben in Tabelle 3 und 4 gezeigt wurde. Besonders
nach der Ernte trat eine starke Disparität ein, gegenüber London
sank die Differenz auf 26 bis 28 M. bei sonst durchschnitt-
lich 31,7 und gegenüber Antwerpen auf 5 bis 19 M. bei 39,3 M.
vor dem Börsengesetz, während Liverpool im September sogar 4,4 M.
höher als Berlin notierte (vergl. Tabelle 8). Die Folge war natür-
lich ein steigender Export in diesen Monaten. Die deutsche Weizen-
ernte war mit ihren 3263235 t allerdings nicht erheblich hinter dem
Vorjahr zurückgeblieben, aber ein Export von 171380 t (etwa 100000 t
mehr wie im Durchschnitt der 3 letzten Jahre) hätte bei normalerem
Preisstand sicher nicht stattgefunden, zumal die Einfuhr ganz wesent-
lich hinter den Vorjahren zurückblieb (vergl. Tabelle 7). So kam es,
daß die verfügbaren Vorräte im Erntejahr 1897/98 auch ganz be-
sonders gering waren (etwa 500000 t weniger als im Vorjahre) und
auf den Kopf der Bevölkerung nur 73,4 kg kamen gegenüber 74,1,
80,7, 82,3 und 83,5 kg in den Vorjahren (vergl. Tabelle 1).
Dies Defizit mußte natürlich wieder gedeckt werden, und so
weist das Jahr 1898 einen erheblich größeren Importüberschuß auf.
Diese Einfuhren konnten aber bei der Hausse des Jahres nur zu
bedeutend höheren Preisen bewerkstelligt werden, denn man wird
annehmen können, daß ein großer Teil des eingeführten Weizens
1) Getreide im Weltverkehr, S. 803.
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz.
Tabelle 7.
155
Ein- und Ausfuhr von Weizen und Roggen
in den freien Verkehr des deutschen Zollgebietes,
nebst den Ernteergebnissen von 1894/1905.
7 Import-
Jahr Einfuhr Ausfuhr e ehui Ernte
Weizen
1894 1 153 837 79 191 1.074 646 3 336 369
1895 1338 178 69911 1 268 267 3 171 844
1896 1 652 705 75 214 1 577 491 3 419 928
1897 1 179 521 171 380 1008 141 3 203 235
1898 1477455 134 820 I 342 635 3 607 610
1899 1 370 851 197 402 1 173 449 3 847 447
1900 1 293 864 295 080 998 784 3 841 165
1901 2 134 200 92 832 2 041 368 2 498 851
1902 2 074 530 82 179 1992 351 3 900 396
1903 1929 109 180 333 1748 776 3 555 064
1904 2 02I 129 159 599 1 861 530 3 804 828
1905 2 287 587 164 657 2 122 930 3 699 882
Roggen
1894 653 625 49712 603 913 8 343 033
1895 964 802 35 992 928 810 7 724 902
1896 1 030 670 38 322 992 348 8 534 037
1897 856 832 106 435 750397 8 170511
1898 914072 129 706 784 366 9032 175
1899 561 251 123 458 437 793 8 675 792
1900 893 333 76 092 817 241 8 550 659
1901 863 706 92 063 771643 8 162 660
1902 976 042 104 601 871 441 9 494 150
1903 813 763 209 032 604 731 9 904 493
1904 472435 356 710 115 725 10 060 762
1905 572 186 319 942 252 244 9 606 827
Tabelle 8/16. Einfuhr und Ausfuhr von Weizen nebst
Preisen von Berlin, London, Antwerpen und Liverpool
in den einzelnen Monaten von 1897/1905.
Tabelle 8. 1897.
(Tonnen A 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.)
f Lon- | Ant- |Liver-| i s:
Mo- Ein- | Aus- Poris don |werpen| pool BEE
nat fuhr | fuhr ( L) (engl. | (Donau | (Kali- |Lon- | Ant- |Liver-
| pee rot) mittel) forn.) | don werpen, pool
Jan. 122628 3709 177,3 | 144,3 139,1 160,2 || 33,0 38,2 | 17,
Febr. 48 991 | 3085| 171,6 | 134,0 | 137,9 148,8 || 37,6 33,7 22,8
März 65 505 4814 165,3 | 130,9 131,7 143,8 34,4 | 33,6 | 21,5
April Jı12 882 | ıroıı, 160,6 | 129,1 127,9 139,2 | 31,5 32,7 21,4
Mai 88 367 | 12031 | 161,6 | 127,7 130,2 144.68 || 33,9 31,4 17,0
Juni 87794 | 7695 160,0 | 123,4 129,5 142,2 | 36,6 30,5 17,8
Juli 161 811 | 6402 | 163,7 | 130,8 136,2 149,0 | 33,4 27,5 14,7
Aug. | 88616 | 9099| 180,5 | 148,2 | 175,5 | 173,2 | 32,4 5,1 7,4
Septbr.| 65 429 15544 | 184,7 | 157,6 | 175,8 | 189,1 | 27,1 8,9 0— 44
Oktbr. | 172456 | 2ı 126 | 182,8 | 156,2 172,3 180,9 | 26,1 10,0 1,4
Novbr. | 87 380 37 037 | 187,5 | 159,5 172,0 186,1 28,0 15,5 1,4
Dezbr. | 77 130 | 39 229 | 188,7 | 161,0 170,1 187,2 | 27,7 186 | 15
156 H. Ruesch,
den enormen Preis der ersten Monate hat zahlen müssen. Das leb-
hafte Importbedürfnis bewirkte auch bessere Paritätsverhältnisse,
wenn man den Ausnahmezustand im Mai und die Nachwirkung der
Hausse auf kalifornischen Weizen außer Betracht läßt (vgl. Tabelle 9).
Tabelle 9. Weizen.
1898.
(Tonnen à 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.)
: | á PIE
) ‚et |Liver- P
Monat| Fin- | Aus- Berlin erdo” = 2 | pool*) Berlin melro BL
fuhr fuhr (Kali- | > € (La London! Ant- |Liver-
fornien) % | Plata) werpen pool
Jan. 133 058 | 15924 | 186,3 179,0 | 167,2 — | 7,3 19,1 -
Febr. | 54037 | 19344 191,2 181,7 | 167,8 — 95| 23,9 | —
März | 52778/ 18243 | 195,5 | 177,4 | 160,8 | 173,3 18,1 | 34,7 | 22:
April |133057| 6780 | 217,7 189,9 | 172,7 | 182,5 27,8 | 45,0 352
Mai 109015 | 6018 | 232,2 240,2 | 203,7 | 232,0 |— 80 | 28,5 0,2
Juni |117549) 9237 | 193,7 — 149,4 | 168,3 = 44,3 25,4
Juli 196 904| 10662 | 186,2 158,9 | 128,7 | 142,5 27,3| 57,5 43.1
Aug. [146781 | 748 | 157,0 146,3 | 124,8 — | 107| 32,2 =
Sept. [115 914 | 7640 | 165,2 140,0 | 133,8 | — | 252| 31,4 _
Okt. 195 722| 13 343 | 170,1 150,5 | 142,8 - 19,6 27.3 =
Nov. [126709| 16114 165,7 155,6 | 135,770 — 9,2 | 30,0 =
Dez. 95 932 | 19768 | 164,8 — 137,1 — j — 27,7 —
*) Von 1898 an für London kalifornischer Weizen und für Liverpool La Plata,
d. h. dieselben Qualitäten wie in Tabelle 5, um einen Vergleich mit den Jahresdurch-
schnittszahlen zu ermöglichen. Wegen der geringen Bedeutung der englischen Produktion
schien ein Vergleich mit englischem Weizen unpraktisch.
Dagegen ist im Jahre 1899 die Preisentwickelung für Deutschland
wieder keine günstige. Der Weizenpreis sinkt in Berlin vom Januar
bis Dezember um 18,7 M. gegenüber nur 13,6 in Antwerpen, 13,4 M.
in London, 11,6 M. in New York und 7,4 in Liverpool (von März
bis Dezember, in Berlin 11,4 M. in der gleichen Zeit, vgl. Tabelle 10).
Tabelle 10. Weizen.
1899.
(Tonnen A 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.)
Monat] Kia» Aus In london A TER. ie Ki
i Fehr] fhr ia pool ILond Ant- |Liver-
London
| | Ss] werpen pool
Jan. 138428 | ıı oll 162,9 152,9 | 142,5 — || 10,0 | 20,4 —
Febr. | 76374| 6960| 159,5 | 149,6 | 137,9 — | 90 y 2,6 | —
März 76565 | 16517 |; 155,6 | 147,4 134,6 | 131,7 ! 82 | 21,0 | 23,9
April [160756 | 16756 156,3 143,1 137,3 | 131,1 | 13,2 I 25,0 25,2
Mai 103 783 | 13 672) 159,1 141,7 134,5 | 131,6 || 17,4 24,6 | 27,5
Juni 117 376| 10743 161,8 143,2 137,3 | 132,1 || 18,6 24,5 29,7
Juli 189 791 | 11794 | 159,0 | 139,4 136,3 | 127,1 || 19,5 | 22,7 31,9
Aug. 110 656 4886| 154,4 137,3 134,8 | 127,3 | 17,1 | 190 27,1
Sept. 81409) 21210 | 151,8 137,2 136,3 130,0 14,6 15,5 21,8
Okt. [166625 | 33 342) 152,6 | 141,8 139,8 | 134,2 || 10,8 12,8 | 18,4
Nov. 75318! 27545" 145,8 | 139,8 | 131,1 | 127,3 | 65 14,7 17,9
Dez. 73769, 22707, 144,2 | 139,5 | 128,9 | 124,3 ı 4,7 | 15,3 | 199
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 157
So ergab sich denn auch am Ende des Jahres eine sehr starke
Disparität Berlins, und der Export wies steigende Zahlen auf. Die
Exportziffer von 197402 Tonnen wurde nur noch im folgenden Jahr
übertroffen, denn schon vor der Ernte waren beträchtliche Mengen
exportiert bei Differenzen von 20—25 M. gegenüber Antwerpen,
24—30 M. gegenüber Liverpool und 8—19 M. gegenüber London.
Der Hauptexport fand allerdings in den letzten 3 Monaten statt,
wo Berlin nur 5—15 M. höher als London, 13—15 M. höher als
Antwerpen und 18—20 M. höher als Liverpool notierte. Das ganze
Jahr 1900 weist eine ähnliche Konstellation auf. Wir sahen schon
aus der Tabelle 5, daß der Jahresdurchschnittspreis von Berlin ganz
beträchtlich hinter dem Weltmarktpreis plus Zoll zurückblieb, indem
die Differenz gegenüber Antwerpen nur 17 M., Liverpool 18 M.,
London 15 und 22 M. und Amsterdam 25 M. betrug, also noch
stark hinter dem an und für sich schon niedrigen Durchschnitt der
Jahre 1897—1905 von entsprechend 28,7, 24,4, 20,7, 29,8 und 32,1 M.
zurückblieb. So wird denn 1900 die höchste Exportziffer von 295 080 t
Weizen erreicht. Besonders in den ersten und dann wieder den
letzten Monaten wird lebhaft ausgeführt, gerade in der Zeit, wo die
Disparität auch am größten war (vgl. Tabelle 11). Bei den außer-
Tabelle 11. Weizen.
1900.
(Tonnen A 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.)
Ein- Aus-|
fuhr fuhr |
| | Berlin mehr als:
Monat BerlinLondon
pool! Ant- Liver-
S
© N
a ‚Liver-
ba
kg London l
= werpen poo
|
Jan. |153 708| 24 182 || 145,8 | 136,6 | 130,2 | 125,9 9,2 15,6 | 19,9
Febr. 55 560| 22215 | 149,1 — 137,8 | 130,8 — 11,3 18,3
März 58193 | 30905 | 148,0 137,6 | 136,0 | 129,2 10,4 12,0 18,8
April |145 484 | 29255 || 148,9 | 136,7 | 134,6 | 129,5 12,2 14,3 | 19,4
Mai 95 866| 26208 | 152,5 | 136,6 | 131,4 | 127.4 15,9 21,1 25,1
Juni 116904 | ı1 158 | 156,8 134,5 136,0 | 133,5 22,3 | 20,8 23,3
Juli 168 505 | 12586 || 156,8 138,6 | 139,0 | 137,2 | 18,2 17,8 19,6
Aug. | 95414 | 5629| 155,7 | 139,9 | 132,9 | 137,4 15,8 22,8 | 18,3
Sept. 82638 | 27855|| 155,6 143,7 | 138,5 | 140,3 11,9 17,1 15,3
Okt. [153069 | 43 901 || 153,5 | 135,2 | 134,3 | 139,5 || 18,3 19,2 14,0
Nov. 80725 | 32041, 149,5 136,3 | 133,6 | 137,6 | 13,2 | 15,9 11,9
Dez. 87799, 29 146|| 149,5 135,3 | 132,7 | 136,0 14,2 16,8 13,5
ordentlich niedrigen Preisen in Deutschland sahen wir diesmal auch
wieder wie 1897 einen Rückgang des Imports, der Importüberschuß
sinkt auf unter 1 Million Tonnen herab, wie es sonst von 1894 bis
1905 nicht wieder vorgekommen ist (vgl. Tabelle 7).
Im folgenden Jahr schien die Sache so ihren Fortgang nehmen
zu wollen, bei Differenzen von nur 17—25 M. gegenüber dem Aus-
land wurden noch ansehnliche Mengen exportiert, bis im Frühjahr
aus den Saatenstandsberichten hervorging. daß infolge von Aus-
winterung ein recht erhebliches Defizit der heimischen Ernte zu er-
warten war. Der Berliner Preis stieg bis auf 45 M. höher als Ant-
158 H. Ruesch,
werpen und 37—-38 M. höher als Liverpool und London (vgl. Tab. 12).
Das Importbedürfnis war um so stärker, als man vorher zu viel ex-
portiert hatte. Der Importüberschuß betrug daher 2041 368 t. eine
Zahl, die erst 1905 wieder erreicht ist. Bei besseren Preisen im
Vorjahr wäre sicher mancher unwirtschaftliche Transport verhindert
worden, besonders wenn der Terminhandel den Ueberschnß der Ernte
für den künftigen Bedarf hätte in der Schwebe halten können.
Tabelle 12. Weizen.
1901.
(Tonnen à 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.)
Berlin mehr als:
Mo- | Ein- | Aus- nor1in London 2
nat | fuhr fuhr | < pool | Ant- |Liver-
London
|werpen| pool
Jan. 131299 | 19834 | 154,5 136,3 | 134,6 | 138,0 | 18,2 19,9 16,5
Febr. 65 350| 15421 | 158,3 133,1 131,9 | 139,0 || 25,2 26,4 19,3
März 91 867 | 15 817 || 159,3 134,0 | 134,6 | 137,8 25,3 24,7 21,5
April |162445 | 23 704 || 167,4 133,8 137,7 | 135,3 | 34,1 29.7 32,1
Mai 146656 | 6099 | 174,3 135,9 | 137,2 | 137,0 | 38,4 371 | 378
Juni ]203 042 932 | 169,5 |, 133,8 | 134,5 | 135,2 35,7 35,0 34,8
Juli 266 487 579 || 164,0 131,5 | 132,7 | 129,0 | 32,5 31,3 35,0
Aug. |207 322 900 N 166,3 | 131,7 | 129,5 | 129,9 34,6 36,8 | 36,4
Sept. |223 988 848 | 159,8 128,2 | 122,2 | 128,4 31,6 37,6 31,4
Okt. 273675] 1550 || 155,8 125,7 | 118,4 — 30,1 | 37,4 | ra
Nov. 188 365 | 4441 || 163,3 129,4 | 122,4 — | 33759 | 40,9 | =
Dez. |173705| 2706 || 171,3 134,3 |ı2549| - || 37,0 454 |
Auch 1902 blieben die Paritätsverhältnisse im allgemeinen besser,
bis nach der Ernte wieder ein Preisstand einsetzte, der einen Export
lohnend machte (vgl. Tabelle 13).
Tabelle 13. Weizen.
1902.
(Tonnen A 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.)
a ®
Mo- | Ein- | Aus- ? > à |Liver- Beriin miehr als;
Berlin London) a2
nat | fuhr fuhr er pool wani Ant- | Liver-
SP VER Re >| [0n SM werpen| pool.
Jan. 150 391 | 3009 | 171,5 135,7 | 129,7 35,8 41,8
Febr. [115 447| 13517 || 170,8 135,2 | 131,9 i 35,6 38,9 .
März |121849| 2257 169,0 135,8 | 132,0 | 139,8 33,2 37,0 29,7
April |167071 1716 | 167,0 134,2 | 131,6 | 140,5 32,8 35,4 26,5
Mai 178709 1549 170,3 138,8 | 132,3 | 142,7 31,5 38,0 27,6
Juni [205 516 877 || 166,8 | 135,7 | 129,4 | 137,9 31,1 | 37,4 28,9
Juli 222 220 381 , 167,3 137,2 | ı28,7| 138,7 | 30,1 38,6 28,6
Aug. 180 449 471 || 158,8 134,8 | 126,6 É 23,5 Ia Ser
Sept. [165 598. 5054| 155,0 135,8 | 124,6 — 19,2 30,4 =
Okt. 236 009 20 132 | 151,5 137,8 | 124,3| 141,4 13,7 27,2 10,1.
Nov. [204511 24329 | 152,8 137,4 | 126,6 | 137,5 15,4 26,2 15,3
Dez. 126 760 20289 |, 157,2 139,2 | 125,9 ` 18,0 31,3
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 159
Tabelle 14. Weizen.
1903.
(Tonnen à 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.)
- - e - —
i | i A Berlin mehr als:
Mo) ‚Ein Aus: In. iin Landon me Liper- ;
nat | fuhr | fuhr 4o pool Ant- |Liver-
Me #2: ae = erden werpen| pool
— =L m nr en
Jan. [174518 | 13 294 — 143,7 | 130,2 | — — — =
Febr. | 95 803| 14343 | 156,2 143,3 | 134,2 | 148,4 12,9 22,0 7,8
März 82 651| 15524 | 155,6 140,9 | 133,9 | 142,6 | 14,7 21,7 13,0
April |124 154, 14.005 158,2 141,9 | 133,2 | 139,6 16,3 25,0 18,6
Mai |169574| 16734 | 165,5 | 142,4 | 135,5 | 139,8 | 23,1 30,0 25,7
Juni |180075 | 9560 || 166,2 145,0 | 133,8 | 139,9 21,2 32,4 26,3
Juli |208834 | 4607 | 169,1 _ 133,1 | 139,5 — 36,0 29,6
Aug. [147 718| 3959 || 163,9 151,5 | 134,6 | 140,3 12,4 29,3 23,6
Sept. |134 864 | 17 660 || 158,8 — 132,3 | 138,2 — 26,5 20,8
Okt. [217491 | 26060 || 157,0 — 131,6 | 136,7 — 25,4 20,3
Nov. f21181r1| 18414 | 159,3 145,2 | 131,6 | 134,7 14,1 27,1 24,6
Dez. [181617 | 26174 || 162,7 — 131,7 | 135,1 — 31,0 | 27,6
Diese ungünstigen Preise setzten sich 1903 fort, so daß die
Ausfuhr diesmal wieder auf 180333 t stieg, obgleich die Ernte um
ca. 350000 t hinter der vorjährigen zurückblieb. Wenn hier zu
Preisen, die sich in London auf 132—137 M. für englischen und
143—145 M. für kalifornischen Weizen, in Liverpool auf 135—148 M.
und in Antwerpen auf 131—134 M. stellten, expotiert wurde, so
war der Weltmarktpreis im folgenden Jahre 1904 bedeutend höher;
der Jahresdurchschnittspreis war gegenüber dem Vorjahre höher in
Amsterdam um 14 M., in London um 10 M., in Liverpool und
Antwerpen um 7 M. und in New York sogar um 38 M., so daß
sich der notwendig gewordenen Mehrimport nur zu relativ hohen
Preisen bewerkstelligen ließ. Die Parität war daher besser, dieselbe
verschwand aber sofort wieder nach der Ernte, um damit auch
gleich den Export neu aufleben zu lassen (vgl. Tabelle 15).
Tabelle 15. Weizen.
1904.
(Tonnen à 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.)
= :
Mist Bis a . Er Berlin mehr als:
nat fuhr jahr Berlin London je 5 pool Anto DEivar
K = London serpen] pool
N |
Jan. 118639, 8152 | 163,8 — 132,8 | 135,7 — 30,4 27,5
Febr. | 130 172 | 14 591 | 169,6 146,7 | 138,9 | 138,5 22,9 30,7 31,1
März |132590| 14685 | 173,6 145,3 | 140,6 | 144,9 28,3 | 33,0 28,7
April |167 508| 8286 | 174,4 | 140,8 | 135,9 | 143,2 33,6 38,5 31,2
Mai 146 267 | 5937 | 175,7 _ 133,9 | 139,8 | — | 418 36,4
Juni [218677 | 3286 \ 173,8 | 133,7 | 133,7 | 137,1 39,6 39,6 36,2
Juli 228488| 1480 | 173,3 —_ 135,71 1428 | — 37,6 31,0
Aug. [182785 | 4834 | 178,9 = 143,5 | 154,3 — 35,4 24,6
Sept 136 808 | 20065 178,5 — | 147,0 | 159,7 _ 31,3 18,6
Okt. }173515 24462 | 177,7 — 145,6 | 15938 I — 32,1 18,4
Nov. [187 = 25 849 | 176,3 | || r551 | — 30,9 | 21,2
Dez. [198 397 | 27973 | 178,5 | 152,6 | 145,4 | 155,0 || 25,9 33,1 23,5
160 H. Ruesch,
Im Anfang des Jahres 1905 lagen die Verhältnisse noch ähnlich.
Berlins Weizenpreis stand etwa 18—25 M. höher als der von London !),
30—33 M. als der von Antwerpen und 20—26 M. als der von Liverpool,
ein Preisstand, bei dem noch über 80000 t in den ersten Monaten
exportiert wurden (vgl. Tabelle 16). Die Parität wurde aber bald her-
gestellt, als nach Bekanntwerden des Termins für das Inkrafttreten
des neuen Zolltarifs eine rasch wachsende Einfuhr einsetzte. Gegen-
über London!) stieg die Differenz auf 28—39 M. gegenüber Ant-
werpen auf 29—43 M. und bei Liverpool auf 28—33 M., also
wesentlich höher als am Anfang des Jahres.
Tabelle 16. Weizen.
1905.
(Tonnen A 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.)
| | T | I Berlin mehr als:
Mo-| Ein- Aus- Berlialtondon! za |Liver- 5
nat f fuhr fuhr <5 | pool |L,ondon Ant- |Liver-
| e ‚werpen| pool
I |
Jan. 141401 | 12751 | 177,0 = 144,0 | 153,2 | — 33,0 | 23,8
Febr. | 110953 | 17 273 176,5 — 146,2 | 150,1 — 30,3 20,4
März |106574 | 22233' 173,7 149,5 | 145,0 | 151,3 | 24,2 28,7 22,4
April | 164 336 | 15044 171,9 | 143,9 | 142,2 | 145,9 | 28,0 29,7 | 26,0
Mai 202 059 | 16 193 175,0 145,4 143,9 | 143,7 | 29.6 TU H GEN 31,8
Juni 176 848| 9292 | 173,9 145,5 | 144,1 | 146,4 | 284 29,5 | 27,5
Juli 219000| 6398 | 173,1 = 142,3 | 147,9 | — 30,8 25,2
Aug. |201320| b104 | 1696 |! — 140,0 | 144,2 | — 29,6 | 25,4
Sept. | 186 629 | 17 381 || 170,0 Ike» ] 137,8 | 142,2 | — j| 322 27,8
Okt. 270 589 | 18 329 || 174,3 — 139,6 | 146,3 — 34,7 28,0
Nov. |260 195 | ı2 269 | 1798 | — 143,1 | 1523 | — 36,2 27,0
Dez. 247 083 | 11 390 | 183,1 I 140,2 | 150,1 | — 42,9 33,0
Zieht man das Resultat aus den ganzen Beobachtungen, so er-
gibt sich im Laufe der letzten 9 Jahre durchweg eine mehr oder
minder starke Disparität des deutschen Weizens gegenüber dem
ausländischen, die sich durch schlechtere Qualität keineswegs allein
erklären läßt, da von 1894—1896 die Differenz, wie wir aus Tabelle 5
sahen, eine dem Zoll bedeutend mehr entsprechende war. Und selbst
ein größerer Export, der regelmäßig in Zeiten besonders niedriger
Preise einsetzte, konnte die früher behauptete Parität nicht wieder-
herstellen. Dieser Export war vielmehr oft im höchsten Grade
unwirtschaftlich, es mußte dafür nachher wieder desto mehr importiert
werden und zwar dann natürlich zu vollen Weltmarktpreisen. Das
Ergebnis ist also geringe Aufnahmefähigkeit des Marktes in den
Monaten des Ueberflusses nach der Ernte und daher andauernd niedrige
Bewertung der heimischen Ware. Es soll nur beiläufig erwähnt
werden, daß sich ohne die Möglichkeit einer Ausfuhr durch die
Aufhebung des Identitätsnachweises die deutschen Preise vielleicht
noch ungünstiger gestaltet hätten.
1) Bei London ist hier englischer Weizen berücksichtigt, da Notizen für kali-
fornische Ware nur in 4 Monaten vorliegen.
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 161
Die Sache liegt aber nicht nur beim Weizen in der eben ange-
führten Weise, sondern man kommt auch bei einer Betrachtung der
Roggenpreise zu einem ähnlichen Ergebnis. Auch hier setzt gleich
mit dem Jahre 1897 eine Verschlechterung der Paritätsverhältnisse
ein, wie schon bei Vergleichung der Jahresdurchschnittszahlen vor-
her näher erörtert wurde, so daß zum ersten Male mehr als 100000 t
Roggen exportiert wurden, d. h. fast 3mal soviel wie im Durch-
schnitt der Vorjahre, trotz des Ausfalls von fast 400 000 t bei der
Ernte (vgl. Tabelle 7). Bei der durch die allgemeine mitteleuro-
päische Mißernte veranlaßten Preissteigerung konnte Deutschland
nicht genügend folgen, von der letzten Hälfte des Jahres bis zur
Mitte des folgenden standen die Budapester und Pariser Roggen-
preise sogar höher als Berlin (vgl. Tabelle 4 und 17), während
Tabelle 17/25. Monatliche Einfuhr und Ausfuhr von
Roggen in den freien Verkehr des deutschen
Zollgebiets, nebst Durchschnittspreisen verschiedener
Plätze von 1897/1905.
Tabelle 17. 1897.
(Tonnen à 1000 kg. (Mark pro 1000 kg.)
N rI a | | i ehr als:
Mo-| Ein- Aus: Berlino g$ Budae Paris e g ils
nat | fuhr | fuhr |0128 |222, pest | (Lief.- Buda- Y
p- 1.) (852| (Mittel) | Ware) || ster- | pest FU
Ser Ei sc dam | Mar m
ji | |
Jan. [49456 2039| 129,0 | 93,1 | 113,9 | r211 | 35,9 15,1 7,9
Febr. | 30696 | 2806 | 124,4 | 91,4 | 111,0 | 119,0 33,0 13,4 5,4
März | 65106 | 4171 | 121,6 86,9 | 109,0 110,8 34,7 12,6 10,8
April | 65 425 6770 | 118,9 87,3 | 104,8 111,7 31,6 14,1 73
Mai 80017 | 5812 || 117,9 90,3 | 107,4 | 115,0 27,6 10,5 2,9
Juni | 93210 | 6013 | 115,7 | 84,5 | 110,4 | 117,0 31,2 53| — 183
Juli | 95560 | 11387 | 123,9 | 86,6 | 126,0 118,5 37,5 |— 21 5,4
Aug. | 77222 | 12 732 | 138,2 100,5 147,4 144,1 37,7 — 92|— 5,9
Sept. | 81929 | 12 883 | 142,5 | 106,2 | 144,3 145,9 36,3 |— 18| — 3,4
Okt. | 79629 | 10795 | 140,9 | 109,7 | 142,8 | 143,0 31,2 |— 117|— 21
Nov. | 70662 | 13524 | 144,1 | 111,4 | 144,5 | 1450 | 32,3 |— 04 |— 0,9
Dez. | 68270 | 17503 | 144,6 | 114.3 | 144,8 148,3 308 |— 02|— 3,7
Berlin sonst stets bedeutend höher notiert als die beiden genannten
Plätze. Auch Roggen mußte daher im Frühjahr 1898 zu be-
deutend gestiegenen Preisen wieder eingekauft werden, ganz ebenso,
wie es beim Weizen der Fall war. Während exportiert war bei
Preisen von 87—114 M. in Amsterdam, stellte sich jetzt der Preis
dort auf 106—147 M., und in Budapest herrschten während der
hauptsächlichsten Importmonate Preise ven 146—171 M. gegenüber
126—145 M. vom Juli bis Dezember 1897. Die Disparität gegen-
über Amsterdam hatte sich übrigens noch verschärft. Abgesehen
davon, daß Berlin in der Aufwärtsbewegung der Preise bis zum
Mai nicht genügend hatte folgen können, die Differenz sank auf
15,3 M. gegenüber Amsterdam, verschlechterten sich die Verhältnisse
Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII). 11
162 H. Ruesch,
besonders nach der Ernte um 2—3 M., und so erreichten wir auch
einen Export von 129 706 t, die höchste Zahl bis 1903.
Tabelle 18. Roggen.
1898.
(Tonnen à 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.)
l F, I Fa m | g | $ Berlin mehr als:
Mo- | Ein- Aus- H = E Buda- x Am- |
nat | fuhr | fuhr [berlin 5° pest EEES sten: Pu ce | Paris
ed I = lles2.0 | dam | P |
= 2 ES ; = | =
Jan. 62 607 7654) 143,9 | 115,1 | 146,1 | 142,1 | 28,8 — 2,2 1,8
Febr. 42 247 | 10729 | 145,6 | 116,8 | 148,9 140,6 | 28,8 — 3,3 5,0
März 45 269 11326 | 147,3 116,6 | 149,7 | 143,2 30,5 — 2,6 3,2
April 72487, 11063 | 159,5 | 128,9 | 155,9 | 155,6 30,6 3,6 3,9
Mai 71491 9 597 | 162,5 | 147,2 | 171,1 | 173,2 15,3 — 36 — 10,7
Juni 125318) 2381 137,5 | 108,0 | 147,5 149,5 29,5 — 10,0: — 12,0
Juli 169 691 2215; 138,3 | 107,9 | 130,0 129,3 | 30,4 8,3 9,0
Aug. 98 296 7973|, 133,5 | 106,2 | 119,6 97,8 27,3 13,9 | 35,9
Sept. 54756| 15199 139,9 | 110,3 | 120,6 109,8 | 29,6 | 19,3 30,1
Okt. 67 185' 15100) 148,4 | 121,7 | 1325 117,4 26,7 | 15,9 31,0
Nov. 60317 | 18600 | 148,9 | 122,7 | 139,7 117,8 || 26,2 9,2 31,1
Dez. 44409 | 17869 | 150,5 | 126,4 | 140,4 | 118,2 | 24,1 | 10,1 32,3
Einen sehr starken Rückgang des Importüberschusses um etwa
350 000 t trotz seines Ernteausfalls von ungefähr der gleichen Menge
hat das Jahr 1899 aufzuweisen, was sicher seinen Grund hat in den
außerordentlich niedrigen Roggenpreisen des Jahres, besonders in
der ersten Hälfte. Im Durchschnitt war der Berliner Roggenpreis
nur 24,7 M. höher als der in Amsterdam, eine Differenz die nur
noch 1903 mit 20,4 M. an Niedrigkeit übertroffen wurde (vgl. Tab. 6).
So sind in den ersten Monaten die Ausfuhrzahlen auch am höchsten
Tabelle 19. Roggen.
1899.
(Tonnen à 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.)
| Be N li, Berlin mehr als:
Mo- | Ein- | Aus- Berlin! ŻE Riga |Odessa| m- |
nat | fuhr | fuhr go (71/72 kg per hl) | ster- | Riga |Odessa
I es SS KESMA | dam |
'i | [i 5 I
Jan, 43474 | 14984 | 149,3 | 126,8, 112,7 104,7 22,5 36,6 44,6
Febr. | 25 361 8941 | 145,7 | 126,1 | 113,4 104,6 19,6 32,3 41,1
März 29553 | 14011 141,4 | 124,9 | 109,7 | 104,4 || 16,5 31,7 37,0
Aprıl | 22677 | 17037 | 144,5 | 124,8 | 110,1 | 104,6 19,7 34,4 39,9
Mai 44673 | 12584 147,2 | 125,9 | 109,2 | 105,5 22,2 | 38,0 41,7
Juni 65815 | 8636 148,7 | 117,0 | 109,5 | 106,3 | 31,7 | 392 | 42,4
Juli 74414 6381 | 145,8 | 116,8 | 109,2 103,6 ' 29,0 | 30, 42,2
Aug. | 44405 | 6265 | 144,0 | 116,4 | 104,7 98,7 27,6 39,3 45,3
Sept. | 43407 | 9656 | 148,8 | 105,2 101,0 28,7 43,6 47,8
Okt. 50 817 8000 | 149,9 | 122,1 | 103,2 102,1 || 27,8 46,7 47,8
Nov. 61215 9 262 142,9 | 117,5 | 102,8 97,4 || 25,4 40,6 45,5
Dez. 55 441 7 702 | 143,5 | 117,6 98,0 96,6 | 25,9 45,5 46,9
-
N
o
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 163
bei äußerst schleppendem Import, im April bleibt der Export mit
17037 t nur wenig hinter den importierten 22677 t zurück. Daß
der Export nicht weit größere Dimensionen annahm, liegt wohl
einzig und allein an den schon an und für sich geringen inländischen
Vorräten, denn pro Kopf waren im Erntejahr 1899/1900 nur 144,6 kg
verfügbar gegenüber 149,9 kg im Durchschnitt der letzten 12 Jahre.
Konkurrenzfähig mußte die deutsche Ware sonst sicher sein bei
zeitweise 32 M. Differenz gegen Riga und 37—40 M. gegenüber
Odessa. Sank dieselbe im März bei Amsterdam doch sogar auf
16,5 M. herab (vgl. Tabelle 19).
Bei den erschöpften Beständen war im folgenden Jahr natürlich
ein erhebliches Importbedürfnis vorhanden, der Export blieb mit
16092 t weit hinter den Vorjahren zurück. Trotzdem erhielt auch
diesmal der deutsche Roggen nicht einen dem Weltmarkt paritätischen
Preis, obschon sich die Sachlage gegen Ende des Jahres infolge
des stark hervortretenden Bedarfs etwas besserte. Im April ge-
langten bei nur 17 M. Differenz gegenüber Amsterdam noch immer
15220 t zum Export (vgl. Tabelle 20).
Tabelle 20. Roggen.
T
Jan. | 47573) 4788 | 141,2 117,3 | 95,3 | 945 | 23,9 45,9 | 46,7
Febr. | 30662 4267 | 140,1 | 118,6 98,7 98,4 | 21,5 | 414 41,7
März | 37531) 5676 | 139,8 123,0 99,6 96,8 16,6 49,0 42,8
April | 38080 15 220 | 143,0 | 126,0 | 101,1 | 98,9 | 17,0 41,9 44,1
Mai 54427 | 8883 151,3 | 127,4 | 101,9 100,1 | 23,9 49,4 | 51,2
Juni 88 329) 4540 148,8 | 119,5 102,7 | 100,7 29,3 ' 461 |, 481
1900.
(Tonnen à 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.)
x | = 5 | Berlin mehr als:
o- | Ein- Aus- | < r Am- |
Berlin «= Riga [Odessa m |
nat | fuhr fuhr N Eo 3 | ster- | Riga | Odessa
= 2j| | Sy | dam |
|
Juli [104333 | 1559 || 144,8 | 117,9) 97,4 | 955 | 268 | 46,9 48,8
Aug. [120011 | 3405 | 142,1 111,5 | 94,7 | 90,8 || 30,6 474 | 518
Sept. | 92881 | 5195 | 144,2 | 112,4 |" 99,4 95,2 | 31,8 | 44,8 | 49,0
Okt. |117024 | 5331 141,3 | 110,5 | 92,7 88,7 | 30,8 48,6 | 52,6
Nov. | 8100| 7826 | 137,5 | 109,6 | 90,3 | 89,7 || 27,9 | 47,2 | 478
Der. 76382| 9402 | 137,5 | 112,6 | 92,1 | 92,2 24,9. 45,4 | 45,3
I
l
Das Jahr 1901 steht beim Roggen ebenso wie beim Weizen
unter dem Einfluß der Auswinterung, wenn auch der tatsächliche
Fehlbetrag in der Ernte nur 400000 t beträgt. Berlin notiert durch-
schnittlich 30,5 M. höher als Amsterdam, was aber gegenüber
34. M. vor dem Börsengesetz immer noch niedrig ist. Da das
Defizit durch die Einfuhr noch nicht gedeckt ist, steht auch das
Jabr 1902 durchaus unter dem Zeichen eines starken Imports, und
di: Differenz gegenüber Amsterdam steigt sogar auf 32,1 M., so
daß der Export naturgemäß zurücktrat.
11*
164 H. Ruesch,
Tabelle 21. Roggen.
1901.
er a 1000 sn mE pro 1000 kg.)
Berlin mehr als:
| |
3 | Riga Odessa, Am-
TS
`
Berlin £
| £
g l | 2.
Mo- Ein- | Aus-
nat | fuhr | fuhr ster- | Riga Odessa
dam
Jan. 49278, 6449 141,8 | 112,7 | 93,5 93,0 29,1 48,3 48,8
Febr. 36 887| 5211 142,8 | 112,7 | 93,7 98,8 30,1 49,1 44,0
März | 55465 | 10137 143,3 | 113,4 | 95,8 | 100,3 29.9 47,5 43,0
Nov. 83 603 | 9249
138,5 | 107,2 | 96,6 84,7 31,8 41,9 53,8
Dez. 83 131 7916
143,3 | 109,4 | 101,0 88.8 33,9 42,3 54,5
April 56294 | 15704 144,1 | 113,7 95,7 | 95,9 | 30, | 48,4 48,2
Mai 74085| 7970| 144,0 | 112,0! 96,8 | 95,4 32,0 | 47,2 48,6
Juni 101 161 1755 | 140,1 | 109,1 | 93,8 | 91, || 31,0 46,8 | 48,7
Juli 116536| 3209 | 140,0 | 109,9 94w | 89,4 || 30,1 46,0 50,6
Aug. | 65984 | 5026 | 141,3 |1111 959 | 87,7 1 302 | 754 | 53,6
Sept. 7908| 8236 | 135,0 | 106,9 | Mm 87,9 | 281 | 379 47,1
Okt. 83 376, tı 201 || 134,5 | 104,0 96,1 84,1 | 30,5 38,4 50,4
[j
Tabelle 22. Roggen.
1902.
(Tonnen à 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.)
j An I il 5 ig | E | Berlin mehr als:
Mo- | Ein- | Aus- Berlin) 23 Riga Odessa Am-
nat | fuhr | fuhr | Eo | | ster- | Riga Odessa
a | | dam | _ __|
|
Jan. 75539) 5109 | 144,3 | 111,8 | 101,8 ‚92,1 | 32,5 42,5 | 52,2
Febr. | 53375| 4020 | 148,5 | 114,2 | 105,1 | 95,7 | 343 | 43,4 | 52,8
März 49582| 6025 | 147,0 | 116,3 | 107,8 | 95,4 30,7 39,2 | 51,6
April | 48645 | 8324 145,5 = 106,8 | 96,3 — j| 387 | 49,2
Mai 65 941| 7530| 149,5 P 106,6 | 98,1 š | 42,9 | 514
Juni 85450| 3897 | 146,3 | 115,3 | 107,1 | 98,4 || 31,0 39,2 47,9
Juli 93389| 2445 | 150,8 | 112,2 | 103,0 | 94,4 38,6 47,8 56,4
Aug. 74955| 2971 . 140,8 5 102,7°.| SE I = 38,1 52,7
Sept. 77 263 | 13894 | 140,9 _ foı,s | 87,1 _ 39,3 53,8
Okt. 132539 | 14 917 140,0 | 109,6 | 100,1 | 87,2 30,4 39,9 52,8
Nov. 141 502| 19359 138,8 | 107,2 | 101,8 | 87,9: | 36 | 370 50,9
Dez. 77863 | 16.110 137,9 | 110,4 | 100,8 | 89,6 | 27,5 7,1 48,3
Erst im Jahre 1903 trat wieder eine außerordentlich starke
Disparität zu Ungunsten Deutschlands ein. Berlin notierte nur
mehr 20,4 M. im Durchschnitt höher als Amsterdam, im November
und Dezember waren es sogar nur noch 13 und 14 M., gegenüber
Riga und Odessa betrug die Differenz am Anfang des Jahres 28
und 42 M. (vgl. Tabelle 23). Der Export nahm daher auch am
Anfang und Ende des Jahres erhebliche Dimensionen an, zum ersten-
mal wurden über 200000 t exportiert. Bei der schon ungewöhnlich
hohen Ernte von 1902 mit 9494 150 t, die diesmal auf 9904493 t
stiegen, war dieser Export allerdings durchaus nicht mehr wunderbar,
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 165
Tabelle 23. Roggen.
1903.
(Tonnen A 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.)
u | = a | | i 4 Berlin mehr ale:
Ho: ne | ar |Berlin == | Riga Odessa) Am- |
nat | fuhr fuhr g5 | ster- | Riga Odessa
IL — | | dam | Er
. ] per Eee N F 27 q
Jan. | 84966 | 12550| — |1120 | 1021 | 918 | — | Sa N
Febr. | 52 233 | 13089 | 134,6 | 113,1 | 105,2 | 92,4 21,5 29,4 42,2
März | 46096 17984 | 131,7 | 112,0' 104,1 | 90,3 | 19,7 27,6 41,4
|
April | 60515 | 22797 132,35 | 111,9 | 102,6 92,5 | 20,4 | 29,7 | 39,8
Mai 93 148 | 15386 | 134,0 | III,4 | IOL,6 89,7 i| 22,6 | 32,4 44,3
Juni | 92851 | 8933 | 135,8 | 106,8 | 100,1 87,4 | 29,0 35,7 48,4
Juli 88 495 7640 | 132,9 | 105,2 | 96,8 82,9 27,7 36,1 50,0
Aug. | 78394 | 10512 || 132,1 | 109,2 | 98,6 87, | | 33,5 44,7
Sept. | 40989 21499 | 130,6 | 111,4 | 99,7 85,0 || 19,2 | 30,9 45,"
Okt. 55507 | 25520 | 129,2 | 114,1 | 97,1 | 83,2 | r51 | 321 46,0
Nov. | 57 692 | 30625 | 130,5 | 117,8 95,8 | 80,4 | 12,7 | 39,7 50,1
Dez. | 62877 | 22499 | 131,7 | 117,8 | 97,4 | 83,3 | 13,9 | 34,3 48,4
das Bemerkenswerte ist in diesem Jahre vielmehr die schlechte Be-
wertung des deutschen Roggens im Vergleich mit den Auslands-
preisen, woran hauptsächlich der Mangel einer wirksamen Arbitrage
schuld sein wird.
Im Jahre 1904 wurde dann mit 10060762 t die höchste bisher
dagewesene Ernteziffer erreicht, und der Importüberschuß ging auf
die äußerst niedrige Zahl von 115725 t zurück, was aber sicher
auch mit ein Ergebnis des niedrigen Preisstandes in Deutschland
war, der sich in Berlin durchschnittlich 27 M. höher als in Amster-
dam bewegte‘). Im Januar betrug die Differenz sogar nur 10,3 M.,
gegenüber Riga im Februar auch nur 26,9 M. und gegenüber Odessa
7,7 und 39,5 M. im März und Februar. Es waren daher in den
ersten Monaten auch recht hohe Exportziffern zu verzeichnen, im
April kamen sich Einfuhr und Ausfuhr mit 33144 und 33093 t
Sogar annähernd gleich (vgl. Tabelle 24). Der starke Export von
5000 t in den beiden letzten Jahren 1904 und 1905 ist um so
merkwürdiger, als man vielmehr bei der bevorstehenden Zollerhöhung
ein Zurückhalten der Ware im Inland hätte erwarten sollen. Wenn
auch die letzten Ernten hervorragend gut waren, so wurde doch
keineswegs das durch den verminderten Importüberschuß entstandene
Defizit durch die heimische Produktion gedeckt. Das Erntejahr 1904
il. Juli 1904 bis 30. Juni 1905: weist zum erstenmal seit mehr
als 40 Jahren sogar einen Exportüberschuß von 58406 t auf (inkl.
Mehl sind es über 230000 t nach Tabelle 1) und läßt die pro Kopf
der Bevölkerung verfügbare Menge Roggens von 158,3 kg und
1) Nach der Tabelle scheint allerdings die Disparität am Schluß des Jahres mit
26—30 M. Differenz gegenüber Amsterdam nicht mehr so bedeutend. Zieht man aber
die außerordentlich gute Qualität des 1904er Roggens in Betracht, so mußte bei einem
derartigen Preisverhältnis sich auch ein lebhafterer Export entwickeln.
166 H. Ruesch,
Tabelle 24. Roggen.
1904.
(Tonnen à 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.)
| 5 A | Belin mehr als:
Mo- | Ein- | Aus- \norjim z9 Riga |[Odessa| Am-
nat | fuhr | fuhr 50 | | ster- | Riga Odessa
pa | dam | |
Jan. 40006 | 13 177 || 128,6 | 118,3 97,8 83,7 | 10,8 31,8 44,9
Febr. | 34 930 | 20409 | 131,0 | 118,1 | 104,1 91,5 || 12,8 20,9 | 39,5
März 41078 | 30539 || 130,0 | 113,2 | 100,6 92,3 | 16,8 29,4 | 3737
April | 33 144 | 33093 | 130,1 | 106,4 | 101,8 894 | 23,7 28,3 40,7
Mai 32 928 | 20930 | 133,0 95,8 | 102,5 85,5 | 37,2 39,5 47,5
Juni 43711 | 18135 | 131,5 95,6 | 103,2 | 83,1 | 35,9 28,3 48,4
Juli 55 311 | 13 220 i 137,2 105,9 89,3 | 35,2 31.3 47,9
æ
[e]
N
<
Aug. 58554 | 20539 | 139,5 | 104,4 | 103,7 90,2 | 351 | 35,8 49,3
Sept. 30566 | 41981 i| 139,6 | 106,3 | 102,8 92,5 33:35 | 37,3 47,1
Okt. 28 967 | 46940 | 138,6 | 109,2 | 101,2 94,1 | 29,4 37,4 44,5
Nov. 36663 | 45129 139,1 111,0 | 102,3 96,2 | 28,1 | 36,8 42,9
Dez. 36578 | 52618 | 142,5 | 116,7 | 102,8 97,4 | 25,8 39,7 45.1
154,8 kg in den beiden Vorjahren anf 147 kg herabsinken, trotzdem
schon bald darauf die Zollerhöhung in Kraft treten mußte. Da
auch für Weizen und Hafer die Preise zu niedrig standen, so waren
die Bestände stark verringert, und in der Bedarfsversorgung trat
eine außerordentliche Stockung ein, so daß einige Mühlen ihren
Betrieb sogar zeitweilig einstellen mußten !), ähnlich wie im Frührjahr
1901, wo die Müllerei auch nicht im stande war, sich für ihre Mehl-
abschlüsse und umgekehrt zu decken ?). Da der Roggen des Ernte-
jahres 1904 eine besonders schöne Qualität aufzuweisen hat, ist es
umso bedauerlicher, wenn nach dem Bericht der Aeltesten der
Berliner Kaufmannschaft die deutsche Roggenware zum Preise von
etwa 95 M. plus Einfuhrschein exportiert wurde und zwar so viel,
daß für die Befriedigung des eigenen Bedarfs nicht einmal genügend
im Lande blieb. Es mußte nachher bei der Entblößung des Marktes
vom Ausland Ersatz geschafft werden zu Preisen, die sich unter
Hinzurechnung der Transportkosten etwa 20—30 M. per Tonne
höher stellen 3).
Exportiert wurde besonders viel von Oktober 1904 bis April 1905,
gerade in den Monaten, wo Berlin gegenüber Amsterdam nur 22 bis
29 M. und gegenüber Odessa 36—45 M. höher notierte (vgl. Tabelle
24 und 25), eine Preislage, wie sie sicher durch die besonders gute
Qualität des deutschen Roggens nicht gerechtfertigt war. Gegen
Odessa wären vielmehr unter Berücksichtigung der Fracht, Spesen,
Assekuranz und des Zolles mindestens 50—60 M. Differenz begründet
gewesen, und bei Amsterdam wenigstens der Zoll von 35 M., wie
1) Berliner Jahrbuch, 1905, I, S. 277.
2) Gutachten des Börsen-Ausschusses vom 11. und 12. Juni 1901.
3) Berliner Jahrbuch, 1905, I, 8. 276. .
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz, 167
Tabelle 25. Roggen.
: 1095.
(Tonnen & 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.)
r | | Sg | Berlin mehr als:
o-| Fin- | Aus- FO ar“ Am-
Berlin ù Riga Od m
nat | fuhr tuhri 9z ao ; CAEN stor- Riga Odessa
ee Ar l Lam | |,
Jan. ala 140,9 | 116,9 | 103,1 98,6 24,0 | 37,8 42,3
Febr. | 13073 | 38764 || 140,9 | 117,9 | 105,6 99,7 23,9 35,3 41,2
März | 16465 | 61634 || 139,8 117,9 | 108,1 103,1 21,9 31,7 36,7
April | 18679 | 41 190 | 141,9 117,8 | 113,0 102,2 24,1 28,9 39,7
Mai 28006 | 39671 | 151,8 | 119,5 | 111,8 104,4 32,3 40,0 47,4
Juni 38686 18589 | 152,1 | 122,4 | 109,9 105,2 29,7 | 42,2 | 46,9
Juli 63 970 | 13 877 | 153,8 | 123,7 | 109,2 102,0 30,1 44,6 | 51,8
Aug. | 60212 | 13715 | 150,0 | 120,4 | 106,8 101,7 29,6 43,2 48,3
Sept. | 54462 | 18764 | 152,6 | 121,1 | 113,3 105,7 31,5 39,3 46,9
Okt. 84083 18152 | 161,6 128,6 | 120,9 109,9 33,0 40,7 51,7
Nov. | 79733 | 11 104 || 166,8 | 140,7 | 131,1 | 115,8 26,1 35,72 | 515
Dez. 79179 | 9165 | 170,5 | 138,5 = È 32,0 H 5
er vor 1897 zum Ausdruck kam. Wie sehr Disparität und Export
zusammenhängen, sieht man, wenn im März 1905 bei der tiefsten
Differenz von 21,9 M. gegen Amsterdam, 31,7 M. gegen Riga und
36,7 M. gegenüber Odessa auch die höchste Exportziffer von 61 634 t
in einem Monat erreicht wurde. Als nachher bei der Erschöpfung
der Vorräte mehr importiert werden mußte und überhaupt schon ein
stärkerer Import geboten war, um möglichst viel noch zu den alten
Zollsätzen hereinzuschaffen, war die Parität wiederhergestellt und
der Preis an allen Plätzen gestiegen, so daß sich rechnerisch sicher
ein großer Verlust für unsere Volkswirtschaft feststellen ließe.
Es bleibt abzuwarten, wie da bei den jetzt oft herrschenden
Preisverhältnissen der erhöhte Zoll wirken wird. Aller Voraussicht
nach wird er eine weitere Begünstigung des Exports herbeiführen,
denn bei der Vergütung eines Einfuhrscheins von 50—55 M. beim
Export wird es sehr lohnend sein, das paritätisch zu billige Getreide
Deutschlands zu exportieren und erfolgreich mit der teureren aus-
ländischen Ware zu konkurrieren. Mehr wie je wird sich da das
Fehlen von kapitalkräftigen Spekulanten fühlbar machen, die das in-
ländische Angebot erst aufnehmen, um dasselbe später in den
Konsum überzuführen. Der Handel wird große Gewinne machen,
indem er im Herbst den Ueberfluß der heimischen Ernte exportiert,
und im Frühjahr und Sommer wird sich dann ein lebhaftes Bedürfnis
nach ausländischer Ware geltend machen, die sich natürlich, ohne
Berücksichtigung der vielen Spesen, nur zu vollem Weltmarktpreis
beschaffen lassen wird, während die deutsche Landwirtschaft, wie
schon während der ganzen letzten Jahre, nicht die dem Weltmarkt
entprechenden Preise erhalten wird.
Nicht ernst genug können aber die volkswirtschaftlichen und
nationalen Gefahren genommen werden, die uns aus einer mangelhaften
168 : H. Ruesch,
Bedarfsversorgung erwachsen können. Die Armee kann in kritischen
Zeiten nicht ernährt werden ohne eine kräftige Produktenbörse und
einen kapitalkräftigen Getreidehandel!). Und so soll denn auch die
Anregung zur Wiederherstellung der Produktenbörse mit von der
Kriegsverwaltung ausgegangen sein ?). Gerade im vorigen Jahr waren
wir wieder, wie schon oben erwähnt, in gefährlicher Weise von Vor-
räten entblößt. Da bei der Verwickelung der politischen Konstellation
eine Absperrung unserer Küste durchaus nicht ausgeschlossen schien
und unsere heimische Ernte sich infolge der ungünstigen Witterung
ziemlich verspätete, so lag ganz offenbar die allergrößte Gefahr vor,
daß die Versorgung unseres Vaterlandes und vor allen Dingen des
Heeres mit dem nötigsten Brot- und Futtergetreide nicht hätte be-
werkstelligt werden können). Dieser Umstand allein sollte schon
genügen, die Unhaltbarkeit des jetzigen Zustandes zu erweisen.
Die Wirkungen des Börsengesetzes haben sich überhaupt noch
nicht in vollem Maße zeigen können, da das letzte Jahrzehnt in
Bezug auf die Ernteergebnisse ziemlich normal verlaufen ist, aber
doch haben sich schon Verhältnisse ergeben, die vom volkswirtschaft-
lichen Standpunkt als gefährlich angesehen werden müssen, und eine
Revision des Börsengesetzes sollte daher auch dem Getreidehandel
wieder die Stelle in der Volkswirtschaft zuweisen, die er vermöge
seiner wichtigen Aufgabe zu beanspruchen hat.
VII. Börsenreform.
Seitens der Regierung hatte man bald eingesehen, daß die durch
das Börsengesetz geschaffenen Zustände auf die Dauer nicht haltbar
seien, wenn sie auch immer mit den politischen Machtfaktoren im
Parlament rechnen mußte und so nur einen vermittelnden Stand-
punkt einnehmen konnte. Wir sahen schon, wie sehr sich das Inter-
esse der Regierung an der Wiederherstellung der Berliner Pro-
duktenbörse zeigte und hier tatsächlich ein kleiner Erfolg errungen
wurde. Aber doch mußte man erleben, daß das mühsam wieder
aufgebaute Werk durch die Rechtsprechung bald aufs gefährlichste
bedroht wurde.
Das Bestreben, sich durch Erhebung des Registereinwands aus
x 66 BG., des Einwands der verbotenen Termingeschäfte aus $ 50
und 51 BG. und des Differenzeinwands aus $ 764 BGB. einge-
gangenen Verpflichtungen zu entziehen, erfaßte immer weitere Kreise,
und die Einwände wurden von Personen ausgenutzt, die eines be-
sonderen Schutzes sicher nicht bedürfen und für die er überhaupt
nicht bestimmt war 4). Der Gesetzgeber konnte kein größeres Fiasko
erleiden, als mit dem Abschnitt IV des Börsengesetzes über den
1) Vgl. Gutachten des Börsenausschusses vom 11. und 12. Juni 1901.
2) Ebenda.
3) Vgl. Berliner Jahrbuch 1905, I, S. 276 ff.
4) Begründung zur Börsennovelle (Drucksachen des Reichstags No. 244, Anlagen
Rd. 2, 11. Leg.-Per. 1. Session).
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 169
Terminhandel. So durfte man sich denn auch den Gründen einer
durchgreifenden Börsenreform nicht länger verschließen, und am
20. Februar 1901 erklärte der preußische Handelsminister im Land-
tage, die Bestimmungen des Börsengesetzes hätten in der Tat zu
Uebelständen geführt, deren Beseitigung erwünscht wäre, und er
hätte daher die Anregung zur Berufung einer Kommission gegeben,
die sich mit der Besprechung einiger wichtiger Punkte der Börsen-
reform befassen sollte.
Bevor diese jedoch zusammentrat, hatte sick schon der. Börsen-
ausschuß am 11. und 12. Juni 1901 mit der Frage zu beschäftigen.
Kennzeichnend war es, daß die agrarischen Vertreter erklärten, die
Sache wäre noch nicht spruchreif, man müsse noch mehr Erfahrungen
sammeln, und einen dementsprechenden Antrag stellten. der aller-
dings mit 24 gegen 11 Stimmen abgelehnt wurde. An Erfahrungen
hatte es aber doch wahrlich nicht gefehlt! Das alte Mißtrauen gegen
die Börse war eben noch nicht geschwunden, und die Aussicht auf
einen Meinungsumschwung im Reichstag blieb so sehr gering. Es
wurde von dieser Seite die Ansicht vertreten, die Judikatur werde
sich schon allmählich zu voller Klarheit durcharbeiten, und mit der
Zeit würden sich auf diese Weise feste Gesichtspunkte und Begriffe
in der Rechtsprechung bilden, während mit Recht von der Gegen-
seite geltend gemacht wird, der Handel könne nicht warten, bis
dieser Zeitpunkt eingetreten sei. Es kämen vermögensrechtliche
Fragen von allergrößtem Umfang in Betracht. Auch wird den Ge-
treidehändlern immer wieder geraten, einen Rechtsfall bis zum Reichs-
gericht durchzufechten. Bei dem jetzt in Berlin organisierten Pro-
duktenhandel lägen so wesentliche Abweichungen vor, daß es durchaus
nicht unwahrscheinlich sei, daß das Reichsgericht diesen letzteren
Handel nicht als börsenmäßigen Terminhandel betrachten werde.
Wir sahen aber schon oben, wie unvorhersehbar hier der endgültige
Ausgang sein würde und der Getreidehandel sich so vielleicht selbst
den letzten Todesstoß versetzen könnte.
Trotz der vielen Meinungsverschiedenheiten wurde doch in
einigen Punkten, wo sich die größten Unzuträglichkeiten heraus-
gestellt hatten, Stimmeneinhelligkeit erzielt. Für die Produktenbörse
kommen dabei folgende Erleichterungen in Betracht: Das aus $ 50
BG. und $ 764 BGB. hergeleitete Recht, die Erfüllung einer Ver-
bindlichkeit zu verweigern, wird zeitlich auf 6 Monate beschränkt,
und bei den untersagten Termingeschäften soll ebenso wie bei den
Differenz- und Spielgeschäften die Rückforderung des einmal Ge-
leisteten ausgeschlossen sein. Auch soll der Anfechtende ver-
pflichtet sein, sich seine Gewinne aus Börsentermingeschäften auf-
rechnen zu lassen.
Am 18. und 19. September fand dann unter dem Vorsitz des
Handelsministers Möller die angekündigte Besprechung betreffend
Abänderung einiger Vorschriften des Börsengesetzes mit hervor-
ragenden Vertretern der beteiligten Kreise statt. deren Ergebnisse
von der preußischen Regierung einem Antrag auf Abänderung des
170 H. Rueseh,
Gesetzes im Bundesrat zu Grunde gelegt wurden. Aus den Ver-
handlungen ging hervor!), daß auch die Regierung den durch die
Rechtssprechung des Reichsgerichts eingetretenen Zustand für sehr
unerwünscht hielt und der Auffassung war, daß sich an das Verbot
des Börsenterminhandels keine zivilrechtlichen Folgen für die gleich-
wohl noch vorkommenden Börsentermingeschäfte knüpfen sollten.
Auch erklärte sie es für unumgänglich notwendig, die volkswirt-
schaftlich nnentbehrlichen Lieferungsgeschäfte der Produktenbörse
sicherzustellen, es- wäre ganz besonders bedauerlich, wenn die
Rechtsprechung in der Folge auch etwa dahin gelangen sollte, die
an der Berliner Produktenbörse üblichen sogenannten handelsrecht-
lichen Lieferungsgeschäfte auf Grund des $ 50 BG. für nichtig zu
erklären. Um nun hier ein Entgegenkommen zu zeigen, wurde von
seiten der Händler ein diesbezüglicher Antrag Pincus gestellt, der
dann auch vom Abgeordneten Gamp aufgenommen wurde und
folgendermaßen lautete: „Nicht als börsenmäßige Termingeschäfte
gelten Zeit- oder Lieferungsgeschäfte. welche zwischen Erzeugern
und Verarbeitern, oder in das Handelsregister eingetragenen ge-
werbsmäßigen Händlern solcher Waren auf Grund von Bedingungen
abgeschlossen werden, die von den Staatsaufsichtsbehörden mit Zu-
stimmung des Bundesrats für Lieferungsgeschäfte festgesetzt oder
genehmigt sind.“
Es konnte dies nichts anderes bedeuten, als die rechtliche Sicher-
stellung der jetzt geübten handelsrechtlichen Lieferungsgeschäfte,
outsiders wären von der Produktenbörse durch die obige Formulie-
rung ausgeschlossen und somit die Gefahren beseitigt, die man aus
der Teilnahme derselben für die Preisbildung zu befürchten glaubte.
Den Händlern, des langen Kampfes müde, lag es nur daran, eine
sichere Basis für ihre soliden Geschäftsoperationen zu gewinnen,
und sie begnügten sich mit der recht schwerfälligen Technik des
handelsrechtlichen Lieferungsgeschäfts, um wenigstens erst einmal
das Mögliche zu erreichen. Man konnte um so mehr auf eine
günstige Aufnahme im Parlament hoffen, als der dem Verkehr zu
Grunde liegende Schlußschein aus der Vereinbarung mit Regierung
und Landwirten hervorgegangen war und niemand bisher einen An-
stoß an dem heutigen Lieferungshandel genommen hatte. Die Hoff-
nung sollte allerdings bitter enttäuscht werden.
Erst am 30. April 1904 wurde dem Reichstag die schon lange
in Aussicht genommene Börsennovelle vorgelegt. Ein Absatz 2 des
$ 452) brachte die gesetzliche Anerkennung der Lieferungsgeschäfte
1) Vergl. Registratur über die am 18. und 19. September 1901 im Handels-
ministerium abgehaltene Besprechung betr. Abänderung einiger Vorschriften des Börsen-
gesetzes v. 22. Juni 1896.
2) Als Börsentermingeschäft gilt nicht der Kauf oder die sonstige Anschaffung
von Waren, wenn der Abschluß nach Geschäftsbedingungen erfolgt, die der Bundesrat
genehmigt hat, und als Vertragschließende nur Erzeuger oder Verarheiter von Waren
derselben Art wie die, welche den (Gegenstand des Geschäfts bilden, oder solche in das
Handelsregister eingetragene Kaufleute oder eingetragene Genossenschaften beteiligt sind,
zu deren Geschäftsbetrieb der Ankauf oder Verkauf von Waren der bezeichneten Art
gehört.
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 171
an der Produktenbörse. Die Vorschriften über den Börsentermin-
handel finden keine Anwendung auf dieselben, und sie unterstehen
somit nicht dem Registerzwang. Dagegen kann der Differenz- und
Spieleinwand erhoben werden.
Wenn es in der Begründung heißt, die Zulassung des Differenz-
einwandes erscheine unbedenklich, weil es sich nach der Vorschrift
des Entwurfs lediglich um Geschäfte zwischen berufsmäßigen, mit
Umsatz der Waren befaßten Personen handele, die dem Differenz-
einvand nur in Ausnahmefällen ausgesetzt sein dürften, so wäre
vielmehr aus diesem Umstande die Beseitigung des Einwands mehr
denn je zu fordern, zumal es auch an einer anderen Stelle heißt,
es sei bedenklich, handelsgerichtlich eingetragenen Kaufleuten eine
Handhabe zu gewähren, um sich eingegangenen Verpflichtungen zu
entziehen. Allein die Möglichkeit eines Differenzeinwandes muß
schon lähmend auf den Handel wirken. Sind doch überhaupt der-
artige Differenzgeschäfte, wie sie im $ 764 BGB. vorausgesetzt
werden, an der Börse praktisch unmöglich, da jeder Geschäftsabschluß
durch effektive Lieferung realisiert wird. Daß bei einer verfeinerten
Börsentechnik dann der erste an den letzten liefert und die Zwischen-
glieder ihre Verbindlichkeiten durch Differenzzahlungen lösen, ist
nur eine praktische Erleichterung und macht solche Geschäfte noch
nicht zu Differenzgeschäften, denn jeder Kontrahent hat den An-
spruch auf konkrete Warenlieferung. Da wird dann immer vom
Handel mit nicht vorhandenen Werten, von Papierweizen u. s. w.
geredet, während in Wirklichkeit jedem Schlußschein ein bestimmter
Posten Getreide zu Grunde liegt, der aber im Laufe der Zeit mehr-
fach seinen Besitzer wechselt und dann am Termin nicht effektiv
von Speicher zu Speicher geht, sondern innerhalb weniger Minuten
in Form des Kündigungsscheins in abstracto die Kette durchläuft.
Ebenso ist es nur eine Zeitersparnis, wenn anstatt der vollen Geld-
summen immer nur die Differenz beglichen wird, was praktisch den-
selben Erfolg hat, als wenn die vollen Summen gezahlt würden.
Der heute an der Berliner Produktenbörse übliche Dispositions-
schein bietet hier ein treffliches Beispiel. A schickt dem B den
Schein mit der Rechnung für vielleicht 1000 t Weizen à 182 M.,
B hat an C zu 184 M. weiter verkauft und übermittelt diesem den
Dispositionsschein mit einer neuen Rechnung, C liefert dann viel-
leicht dem D weiter zu 183 u. s. w. Jeder zahlt seinem Vormann
die ganze Summe und erhält von seinem Nachmann den verab-
redeten Kaufpreis, so daß z.B. B dem A 182000 M. zahlt und von
C 184000 M. erhält, was auf dasselbe hinauskommt, wenn durch
ein Kündigungsbureau durch Skontration die Beträge miteinander
ausgeglichen würden und jeder die Differenz zu zahlen oder zu em-
pfangen hätte, d. h. B in unserem Falle 2000 M. erhalten würde.
Der $ 764 beruht auf einer völligen Verkennung des Handels-
verkehrs und wäre je eher desto besser gänzlich zu beseitigen. An-
statt allerlei unmoralischen und ehrlosen Elementen gesetzlich eine
Unterstützung angedeihen zu lassen, sollte man vielmehr die Klag-
172 H. Ruesch,
barkeit aller Differenzgeschäfte einführen. Wer sein Vermögen ver-
spielt, soll auch die Folgen tragen und sich nicht durch Einwände
seinen Verpflichtungen entziehen dürfen, nachdem er vorher viel-
leicht ohne Gewissenbisse beträchtliche Gewinne eingeheimst hat.
Ueberhaupt würde sicher mancher vom sogenannten Börsenspiel
zurückgehalten, wenn er auf jeden Fall zur Erfüllung seiner Ver-
bindlichkeiten gezwungen wäre. Um das große Publikum zu schützen,
besitzen wir schon ein genügendes Mittel zum Einschreiten in S 78
BG., der folgendermaßen lautet: „Wer gewohnheitsmäßig in gewinn-
süchtiger Absicht andere unter Ausbeutung ihrer Unerfahrenheit
oder ihres Leichtsinns zu Börsenspekulationsgeschäften verleitet,
welche nicht zu ihrem Gewerbebetriebe gehören, wird mit Gefängnis
und zugleich mit Geldstrafe bis zu 15000 M. bestraft. Auch kann
auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“ Von
einem Einschreiten der Staatsanwaltschaft auf Grund dieses Paragra-
phen hört man allerdings leider nur selten.
Bei den Warenlieferungsgeschäften handelt es sich nun über-
haupt nur um Erzeuger, Verarbeiter und in das Handelsregister
eingetragene Händler. Da kann die Möglichkeit, den Differenz-
und Spieleinwand zu erheben, nur dahin führen, mit der Zeit auch
im Getreidehandel Treu und Glauben immer mehr zu untergraben.
Und dabei soll der Differenzeinwand nicht einmal durch Ablauf der
Weigerungsfrist, Anerkenntnis und Sicherheitsstellung erlöschen,
wie dies sogar für die verbotenen Börsentermingeschäfte vorgesehen
war. Eine kräftige Produktenbörse hätte sich unter diesen Bestim-
mungen kaum wieder entwickeln können, es war nur ein Notbehelf,
und der Handel ist bei der heute herrschenden Strömung zufrieden,
wenn ihm sein Dasein nur ein wenig erleichtert wird. Aber auch
hiermit sollte es vorläufig nichts werden, man nahm den Entwurf
im Reichstag sehr kühl auf, und in der Kommissionsberatung wurde
der $ 48 Abs. 2 wieder gestrichen. Obgleich an der Vereinbarung
des jetzigen Schlußscheins die Führer der konservativen Parteien
wie Graf Kanitz, Graf Schwerin-Löwitz und Oberregierungsrat Gamp
mitgewirkt, ja letzterer sogar bei den Beratungen im September
1901 den im $ 48 Abs. 2 verwirklichten Antrag gestellt hatte, scheute
man sich doch jetzt auch die Konsequenzen zu ziehen und die so-
liden Lieferungsgeschäfte rechtlich sicherzustellen; denn an eine
Wiederherstellung des Börsenterminhandels war durchaus nicht ge-
dacht, wie es auch der Vertreter der Regierung, Geheimer Ober-
regierungsrat Wendelstadt, ausdrücklich betonte. Man äußerte auf
‚seiten der Agrarier noch immer ein lebhaftes Mißtrauen gegen den
neuen Schlußschein. Schon bei den Verhandlungen zur Wiederher-
stellung der Produktenbörse hatten die drei Vertreter der Land-
wirtschaft der Einführung des Schlußscheins nur unter dem Vor-
behalt beigestimmt, daß sich nicht auf Grund desselben ein börsen-
mäßiger Terminhandel entwickele, was sehr wohl möglich sei, und
diese Ansicht herrschte auch in der Kommission trotz der gegen-
teiligen Erfahrungen noch vor.
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 173
Ferner wollte man nicht dem Bundesrat die Aufstellung der
Geschäftsbedingungen überlassen, da es nach der bisherigen Haltung
der preußischen Regierung auch der Bundesrat an dem weitesten
Entgegenkommen gegen die Börse nicht fehlen lassen werde !). Es
sei Sache der Judikatur, in praxi von Fall zu Fall zu entscheiden,
ob ein verbotenes Börsentermingeschäft vorliegt oder nicht.
Auch die weiteren Erleichterungen, welche die Novelle gewährte,
wurden für die Produktenbörse in einem $ 68d des Kommissions-
entwurfs völlig beseitigt.
In der Regierungsvorlage war nämlich in $51 Abs. 3 ein neuer
Einwand geschaffen, der die Nichtigkeit der verbotenen Termin-
geschäfte geltend machen kann. Durch Ablauf von 6 Monaten, An-
erkenntnis, Sicherheitsstellung und Aufrechnung sollte dieser Einwand
beseitigt werden, ähnlich wie der Registereinwand bei den erlaubten
Termingeschäften. Die Regierung hatte sich so, entgegen ihrer son-
stigen Haltung?), auf den Standpunkt des Reichsgerichts gestellt
und suchte in der Novelle nur die Folgen der Rechtsprechung auf
den Verkehr zu mildern. Das Ganze war eben nur ein Kompromiß,
mehr konnte man bei der wirtschaftlich reaktionären Strömung sicher
nicht erreichen, und der Erfolg bestätigte auch diese Auffassung,
indem überhaupt nichts erreicht wurde.
Für die Produktenbörse ergibt sich aus den Kommissionsbe-
schlüssen jedenfalls keine Veränderung der augenblicklichen unleid-
lichen Verhältnisse. Allerdings soll nach § 68b eine Rückforderung
des einmal Geleisteten nicht mehr stattfinden, während dies bisher
nach $ 134 BGB. noch auf 30 Jahre hinaus geschehen konnte, aber
sonst bleibt alles beim alten. Börsentermingeschäfte in Getreide
und Mühlenfabrikaten sollen weder durch Ablauf von 6 Monaten
nach erfolgter Abwickelung noch durch Anerkenntnis wirksam werden,
Lieferung und Zahlung auf Grund solcher Geschäfte nicht verlangt,
geleistete Sicherheiten sollen zurückgefordert werden dürfen °).
So wird auch in Zukunft über den Lieferungshandel der Berliner
Produktenbörse das Damoklesschwert des Reichsgerichts schweben,
daß es diese handelsrechtlichen Lieferungsgeschäfte mit einer den
Umständen nach angemessenen Nachfrist für Börsentermingeschäfte
erklärt und dann die oben erwähnten Folgen eintreten. Was aber
ganz besonders betont werden muß, ist, daß im Fall einer solchen
Entscheidung noch der Ausschluß dieser Geschäfte von der Börse
hinzutreten müßte und ein Zustand eintreten würde, den man volks-
wirtschaftlich aufs tiefste beklagen müßte. Haben doch schon die
Jahre 1897--1900 bewiesen, wie wenig die Landwirtschaft und be-
sonders auch die Regierung eine zuverlässige Berliner Notiz ent-
behren können.
1) Graf Kanitz in der 76. Sitzung vom 26. April 1904.
2) Wir sahen oben, wie sich die Regierung bisher entschieden gegen die Nich-
tigkeit der untersagten Termingeschäfte wandte.
3) Eingabe der Aeltesten an den Reichskanzler vom 21. Januar 1906.
174 H. Ruesch,
Wenn auch die damaligen Kommissionsbeschlüsse im Plenum
nicht mehr zur Beratung gelangt sind, so ist doch in der Thronrede
vom 23. November 1905 von der Erwägung gesprochen, die Börsen-
novelle nach den Beschlüssen der Kommission in der eingeschränkten
Form wieder einzubringen. Die Regierung hat damit ihren Stand-
punkt keineswegs aufgegeben, daß ein Lieferungshandel absolut not-
wendig ist. Da sie aber sieht, daß unter den obwaltenden Verhält-
nissen doch keine Aussicht auf irgend einen Erfolg da ist !), so sucht sie
wenigstens erst einmal für die Fondsbörse das Mögliche zu erreichen,
trotzdem auch gerade an der Produktenbörse der jetzige Zustand
ganz bedeutende Gefahren in sich birgt, wie schon vorher zu zeigen
versucht ist. Es ist überhaupt nicht einzusehen, weshalb man einen
Unterschied machen will zwischen dem Verkehr an der Fondsbörse
und dem an der Produktenbörse, indem man nur jener einige Er-
leichterungen gewährt. Von der Einschränkung der Spekulation kann
nicht mehr die Rede sein, wenn man handelsrechtlichen Lieferungs-
geschäften, die einem elementaren Bedürfnis des reellen Handels
dienen und bei denen eine Beteiligung von Outsiders direkt aus-
geschlossen ist, die rechtliche Grundlage versagt, während an der
Fondsbörse die Heranziehung der weitesten Kreise zum Börsenspiel
durch die rapide Vermehrung der Depositenkassen ins Unermeß-
liche gesteigert wird. Die Produktenbörse ist schließlich der Prügel-
knabe, der die Vergehen der Fondsbörse büßen muß und zugleich
für die ungünstige Lage der Agrikultur verantwortlich gemacht wird.
Auch spielt noch ein rein machtpolitischer Grund für die Be-
nachteiligung der Produktenbörse mit. Man will nicht zugeben,
daß man damals mit dem ex irato beschlossenen Terminhandels-
verbot einen großen Fehler begangen hat, ja man gibt sich teilweise
noch großen Illusionen über den vermeintlichen Erfolg desselben
hin. Bis sich in diesen Kreisen eine mehr volkswirtschaftliche Ein-
sicht Bahn bricht, wird man wohl erst Jahre abwarten müssen, in
denen sich die Folgen der agrarischen Gesetzgebungskunst etwas
deutlicher bemerkbar machen. Heute weiß man im Gegenteil noch
gar nicht, ob dem Handel nicht noch weitere Schwierigkeiten in
den Weg gelegt werden. Der jetzige Schlußschein wird nämlich
von den Landwirten nur als eine Art Interimistikum angesehen.
Das Ziel ist noch immer trotz der vielen Mißerfolge der Kornhaus-
genossenschaften eine möglichste Beiseitedrängung des Handels,
dessen Tätigkeit aber im Artikel Getreide wohl am allerwenigsten
zu entbehren ist. ganz abgesehen von dem Importbedürfnis, das
allein der Handel ausreichend zu befriedigen vermag.
Gute Informationen durch tägliche Preisberichte über die Lage
des Weltmarkts und Stärkung ihrer wirtschaftlichen Position durch
(Genossenschaften u.s. w. wird den Landwirten am besten gegenüber
den Händlern zu einer gleichen Macht bei den Verkaufsabschlüssen
1) Es ist wohl kaum anzunehmen, daß der neue Reichstag sich einer durch-
greifenden Bürsenreform geneigter zeigen wird.
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 175
verhelfen, denn zu einer großen Absatzorganisation scheint es nach
den bisherigen Erfahrungen an den nötigen Vorbedingungen durch-
aus zu fehlen. Der Landwirt ist nun einmal auf den Kaufmann als
seinen hauptsächlichsten Abnehmer angewiesen, und es wäre auf die
Dauer ein unnatürlicher Zustand, daß diejenigen, die gezwungen sind
miteinander zu kontrahieren, sich infolge der politischen Agitation
immer mehr und mehr entfremdeten. Dadurch wird ein durchaus
unwahres Bild von der Sachlage entrollt. Im großen und ganzen
herrscht auch heute noch zwischen Tausenden von Landwirten und
Händlern das beste Einvernehmen, aber im Kampf der Interessen
hat man dann die Fälle, wo der Bauer allerdings in den Händen von
Wucherern oft der schlimmsten Art lag, verallgemeinert und einen
künstlichen Gegensatz zwischen den Produzenten und dem Handel
überhaupt geschaffen, der nur durch Vernichtung des letzteren zum
Wohle des Ganzen beseitigt werden könnte. Und damit verbinden
sich dann Anschauungen über die Aufgaben und die Bedeutung des
Handels, die auf eine völlige Verkennung seiner Tätigkeit schließen
lassen.
Es ist recht kennzeichnend, wenn z. B. nach dem Bund der
Landwirte solide Lieferungsgeschäfte solche Zeitgeschäfte sind, bei
denen einerseits der Verkäufer im Augenblick des Abschlusses be-
reits das Verfügungsrecht über den angebotenen konkreten Waren-
posten besitzt, andererseits der Käufer die Befriedigung eines in
Einzelheiten bestimmten, wirklich vorliegenden Bedarfs in Aussicht
hat. Als ob irgend etwas Unreelles darin läge, wenn ein Kaufmann
die Konjunktur ausnutzt und eine Ware in blanco verkauft oder
andererseits einen ihm günstigen Kauf abschließt, wenn er auch
vorläufig noch keine spezielle Verwendung dafür hat. Gerade in
dieser Ausnutzung des günstigen Augenblicks beruht ja die Haupt-
tätigkeit des Großhandels und zwar in allen Artikeln, so daß es
unerfindlich ist, weshalb hier bei Getreide eine Ausnahme gemacht
werden sollte. Soll der Handel wirklich seine Aufgabe voll und
ganz erfüllen, so muß er eben mehr wie jeder andere Beruf größte
Bewegungsfreiheit haben. Der Handel läßt sich nicht schablonisieren,
und es ist unmöglich, vom grünen Tisch aus Vorschriften zu erlassen,
wie die einzelnen Geschäfte abgeschlossen werden sollen. Heute ist
es allmählich Mode geworden, den Handel als notwendiges Uebel,
als den dienenden Stand zu betrachten, während in Wirklichkeit
die Handelstätigkeit für die Versorgung des Bedarfs einer Volks-
wirtschaft ebenso notwendig und daher produktiv ist, wie diejenige
der Landwirtschaft, Industrie u. s. w.
So herrscht in der Wissenschaft auch kein Zweifel darüber, daß
ein Land, welches mit seinen Interessen aufs engste mit der ganzen
Welt verknüpft ist, eines kapitalkräftigen Handelsstandes und somit
einer aktionsfähigen Börse bedarf. und der Terminhandel wird all-
gemein als notwendiges technisches Hilfsmittel für den Großhandel
anerkannt, soweit er sich eben in den ihm gezogenen Grenzen
bewegt.
176 H. Ruesch,
Um unserem deutschen Getreidehandel seine frühere Stellung
wieder zu verschaffen, bedarf es daher vor allem einer Aufhebung
des Terminhandelverbots in Getreide und Mühlenfabrikaten. Natür-
lich müßte einer Beteiligung ungeeigneter Elemente an der Preis-
bildung vorgebeugt werden, und hier bietet der Vorschlag der
Regierung, die handelsrechtlichen Lieferungsgeschäfte auf Erzeuger,
Verbraucher und Händler der betreffenden Waren zu beschränken,
wahrscheinlich eine bessere Handhabe, als das nach den Erfahrungen
im Effektenhandel praktisch bedeutungslose Terminregister. Es liegt
aber unseres Ermessens unter diesen Kautelen dann durchaus kein
Grund mehr vor, dem Handel noch die Benutzung der Börseneinrich-
tungen wie z. B. Kündigungsbureau, Schiedsgerichte oder ähnliches
zu versagen. Auch die heute geübten handelsrechtlichen Lieferungs-
geschäfte, obschon sie bei rechtlicher Sicherstellung den Bedürf-
nissen des Handels vielleicht genügen würden, waren nur eine Aus-
hilfe infolge des Verbots des Börsenterminhandels und können be-
sonders mit der Forderung einer den Umständen nach angemessenen
Nachfrist einer schnellen Erledigung der Geschäfte bisweilen nur
hinderlich sein. Im Interesse einer kräftigen Produktenbörse muß
man aber fordern, daß der Handel auch die technisch vollkommensten
Formen zur Anwendung bringen darf. Bei der Beschränkung auf
die beteiligten Kreise können daher der Wiedereinführung des
Börsenterminhandels keine stichhaltigen Bedenken mehr entgegen-
stehen, zumal der jetzige Schlußschein mit seinen Bedingungen, wie
der Besichtigung vor der Andienung, der Abnahme bei Mehr- oder
Minderwert, und der Forderung einer für die Müllerei gut verwend-
baren Qualilät, eine genügende Gewähr für eine befriedigende
Weiterentwickelung bietet. Geschäfte mit Outsiders könnten dann
für rechtsunwirksam erklärt oder unter Strafe gestellt werden,
während für die gültigen Termingeschäfte auch der Differenz- und
Spieleinwand zu beseitigen wäre. Wenn man der Börse wieder
mehr Bewegungsfreiheit gibt, wird sie einzelnen Ausschreitungen
selbst am besten begegnen können, da immer die besseren Elemente
das Uebergewicht haben. Eine straffe Börsendisziplin und gut
funktionierende Ehrengerichte werden die unliebsamen Vorkommnisse
schon auf das geringste Maß zurückführen. Nach den Erfahrungen
der letzten 10 Jahre würde sich der Handel auch sicher hüten,
durch irgend welche Ausschreitungen die Augen des Gesetzgebers
wieder auf sich zu lenken. gar nicht zu reden von der Reinigung
der Produktenbörse von allen jenen schmarotzenden Elementen, die
längst den jetzt an den einzelnen gestellten moralischen Anforderungen
haben weichen müssen.
Gerade die Landwirtschaft sollte im Interesse einer guten Be-
wertung ihrer Erzeugnisse am meisten für einen kapitalkräftigen
Terminhandel eintreten, geben ihnen doch auch die Preise der
Zentralbörse einen festen Anhalt bei ihren Verkäufen und erleichtern
ihnen die Kontrolle ihrer Abnehmer. Denn das glauben wir nach-
Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 177
gewiesen zu haben, das Terminhandelsverbot hat der Landwirtschaft
mehr Schaden als irgend einen Vorteil gebracht.
Volkswirtschaftlich ist es aber noch viel wichtiger, daß eine
starke Terminbörse einem Lande das wichtige Mitbestimmungsrecht
an der internationalen Preisbestimmung gewährleistet und schließlich
die notwendige Befriedigung des durch die heimische Landwirtschaft
nicht voll gedeckten Bedarfs erst absolut sicherstellt.
Aus alledem ergibt sich unserer Ansicht nach das unzweideutige
Resultat, daß eine weise Volksvertretung, die sich berufen fühlt, die
Interessen der Gesamtheit und nicht allein diejenigen einzelner
Klassen zu vertreten, an eine gründliche und sachgemäße Revision
der Bestimmungen über den Börsenterminhandel treten muß. Denn
auf die Dauer kann unmöglich die handelsfeindliche Strömung, wie
sie heute in Deutschland vorherrscht, ausschlaggebend bleiben,
wenn wir überhaupt eine gewichtige Rolle auf dem Weltmarkt spielen
wollen. Will man Welthandelspolitik treiben, so darf man dabei
nicht zu gleicher Zeit den Weltmarkt bekämpfen wollen, und schließ-
lich darf eine Weltmacht nicht vergessen, daß eine kräftige Getreide-
börse einer der ersten Faktoren ist, der einem großen Staat die
wirtschaftliche Unabhängigkeit durch Sicherstellung der Volksernäh-
rung am besten garantiert.
Dritte Folge Bd. XXXI (LXXXVII). 12
178 Nationalökonomische Gesetzgebung.
Nationalökonomische Gesetzgebung.
II.
Frankreichs wirtschaftliche Gesetzgebung im Jahre 1905.
Von Dr. Hans Gehrig.
Die gesetzgebenden Körperschaften Frankreichs hatten sich während
des Jahres 1905 vor allem mit zwei Ereignissen zu beschäftigen: mit
der „Affaire du Maroc“ und den in Zusammenhang mit dieser Frage
stehenden internationalen Verwicklungen, sodann mit den Beziehungen
zwischen Staat und Kirche, für welches Problem das „Gesetz vom
9. Dezember 1905, betr. die Trennung der Kirchen vom Staat“, eine
Lösung zu geben versucht. Wenn solchen Arbeiten gegenüber die
wirtschaftliche Gesetzgebung im engeren Sinne an Tragweite zurück-
stehen mag, so sind doch auch hier wichtige Maßnahmen als Jahres-
ergebnis zu verzeichnen; in erster Linie wohl die Weiterbildung der
Unfallgesetzgebung und die Einführung einer allgemeinen staatlichen
obligatorischen Altersunterstützung und Armenfürsorge. Die Haupt-
bestimmungen der beiden großen sich hiermit befassenden Gesetze
werden daher in der folgenden Uebersicht in einer Uebersetzung wieder-
gegeben, während im übrigen Inhaltswiedergaben oder Hinweise die in
Gesetzgebung und Verwaltung hervorgetretenen Tendenzen erkennen
lassen und weitere Quellenbenutzung erleichtern sollen.
1. Handelsrecht.
Gesetz vom 23. Februar 1905 zur Ergänzung des Art. 41 des Code
rural (Buch III, Abschnitt II) und zur Abänderung des Art. 2 des Ge-
setzes vom 2. April 1854 über Sanitätspolizeit). J. off., 28. Februar ?).
Die bisherigen gesetzlichen Bestimmungen (wohl auch Gesetz vom 31. Juli
1895 betr. sanitätspolizeiliche Vorschriften beim Tierhandel) werden ergänzt durch
Vorschriften über Mängel, Nichtigkeit und Geltendmachung der Mängel beim
Kauf von tuberkulösem Rindvieh.
Gesetz vom 17. März 1905, über Ergänzung von Art. 103 des
Handelsgesetzbuches. J. off., 23. März.
1) Ueber Sanitätspolizei vergleiche auch den Erlaß vom 3. Juli 1905, betr. Er-
richtung und Tätigkeit der kommunalen Verwaltungsstellen für Hygiene. J. off.,
13. Juli.
2) J. off. bedeutet Journal offieiel, wenn ohne Zusatz, vom Jahre 1905.
Nationalökonomische Gesetzgebung. 179
Die Haftung des Frachtführers für Verlust (Abs. 1) und „für Schäden mit
Ausnahme derjenigen, welche von irgend einem eigenen Mangel der Sache oder
von höherer Gewalt herrühren“ (Abs. 2) kann nach dem neuen Gesetz (Abs. 2 des
Art. 103) nicht durch Privatabkommen beseitigt werden. Entgegenstehende Ver-
einbarungen sind nichtig.
Gesetz vom 13. Juli 1905. J. off, 14. Juli.
Dieses Gesetz ist durch ein neues Gesetz vom 20. Dezember 1906 (J. off.,
22. Dez 1906) teilweise wieder geändert worden. Als Ergebnis besteht nunmehr:
Wenn die gesetzlichen Festtage auf einen Donnerstag fallen, kann die Zahlung
kaufmännischer fälliger Papiere nicht am nächsten Tag verlangt und auch kein
Protest aufgenommen werden; fallen sie auf einen Dienstag, so gilt gleiches für
den vorhergehenden Tag. Wenn jedoch in diesen Fällen ein Protest für am vorher-
gehenden Sonnabend oder Montag nicht bezahite käufmännische Papiere erst am
folgenden Montag oder Mittwoch stattfinden kann, so bleiben alle Rechte gegenüber
dem Bol oder Dritten erhalten. Vergl. ähnliche Gesetze vom 28. März und
23. Dezember 1904').
Gesetz vom 1. August 1905 betr. die Unterdrückung von Betrug
beim Warenkauf und Fälschungen von Nahrungsmitteln und landwirt-
schaftlichen Produkten. J. ott., 5. August.
Das Gesetz stellt sich dar als ein ergänzendes Strafgesetz zu Art. 423 des
Strafgesetzbuches. Bestraft wird die Täuschung oder versuchte Täuschung über
Natur, wesentliche Eigenschaften, Zusammensetzung und Gehalt an nützlichen
Bestandteilen aller Waren: über ihre Art und ihren Ursprung, wenn diese den
Kauf veranlassten; über Quantität und Identität der Waren (Art. 1), sowie unter
bestimmten Bedingungen Fälschung, Ausstellung, Kauf und Verkauf von Lebens-
und Nahrungsmitteln, Arzneimitteln, Getränken, landwirtschaftlichen Produkten
und zur Lebensmittelfälschung geeigneten Produkten (Art. 3)°).
2. Sozialpolitik.
I. Arbeitsverwaltung und -Gerichtsbarkeit.
Erlaß vom 2. März 1905 über .die Anwendung des Gesetzes vom
12. Juni 1893 bezw. 11. Juli 1903 betr. Hygiene und Sicherheit der
Arbeiter auf die Kriegs- und Marinewerkstätten. B. d. O., S. 2523).
Der Erlaß regelt das von den Aufsichtsbeamten zu beobachtende Verfahren
und die Erledigung der von ihnen gemeldeten Zustände seitens der Behörden. (Vergl.
den in diesen Jahrb. Bd. 32, S. 204 mitgeteilten Erlaß.)
Gesetz vom 21. März 1905, durch welches den ordentlichen Ge-
richten die Entscheidung von Streitigkeiten zwischen der Verwaltung
1) Erwähnt in der Uebersicht über die französische Gesetzgebung für 1904, Bd. 32,
8. 196 dieser Jahrbücher.
2) Das Gesetz ist ausführlich erörtert im Annuaire de législation française,
publié par la société de législation comparée, 25° année, Paris 1906. Insbesondere wird
für die Fina’nzgesetzgebung und das Budget für 1905 (Finanzgesetz vom 22. April
1905, J. off., 23. April) welches übersichtlich zahlenmäßig dargestellt ist (S. 29 ff.) auf
das Jahrbuch verwiesen, da die erlassenen Gesetze nur eine verwaltungsrechtliche oder
finanzielle Ergänzung der bestehenden bedeuten. Das gilt auch von dem in diesem Jahre
wichtigsten Gesetz vom 13. April 1905 über die Gewerbesteuer. Im übrigen
geht die obige Darstellung vielfach über die des Annuaire hinaus.
3) B. d. PO. bedeutet das Bulletin de l’OÖffice du Traveil, wenn ohne weiteren
Zusatz Tome XII, Année 1905, Paris. Es ist dieses das amtliche Organ für die fran-
zösische Sozialpolitik, die seit dem Erlaß vom 26. Oktober 1906 (vergl. Reichs-Arbeits-
blatt, Jahrg. IV, S. 1099) einen Mittelpunkt in einem besonderen „Ministerium für
Arbeit und soziale Fürsorge“ hat.
12*
180 Nationalökonomische Gesetzgebung
der Staatseisenbahnen und deren Angestellten aus Anlaß des Arbeits-
vertrages übertragen wird. J. off, 30. März.
Das Gesetz bezweckt die Gleichstellung der staatlichen Eisenbahnangestellten
mit denen der privaten Gesellschaften durch den einzigen Artikel: „Die ordent-
lichen Gerichte sind zuständig für Entscheidung der Streitigkeiten, welche aus
Anlaß des Arbeitsvertrages sich zwischen der Verwaltung der Staatseisenbahnen
und ihren Angestellten ergeben können.“
Erlaß vom 17. Mai 1905 betr. den Dienst der Arbeitsinspektoren.
J. off., 21. Mai.
Die Zahl der Gewerbeaufsichtsbeamten wird auf 11 Bezirksinspektoren (jeder
für mehrere Departements), und 111 (männliche und weibliche) Departements-
inspektoren festgesetzt, deren Tätigkeitsgebiet im einzelnen abgegrenzt wird. Erstere
beziehen ein Gehalt von 6-80, letztere von 3—5U00 fres. sowie Dienstaufwand-
gelder und Reisekosten, deren Höhe der Erlaß bestimmt.
Gesetz vom 15. Juli 1905 betr. die Zusammensetzung der Gewerbe-
gerichte und die Organisation einer Berufungsinstanz in Gewerbe-
gerichtssachen !J. J. off., 15. u. 16. Juli.
Art. 1. Das Gewerbegericht setzt sich aus der stets gleichen Anzahl von
Unternehmer- und Arbeiterbeisitzern zusammen mit Einschluß der abwechseind
den Vorsitz führenden Präsidenten und stellvertretenden Präsidenten. Es sind
mindestens zwei Unternehmer und zwei Arbeiter erforderlich. Fehlt der Präsident
oder der stellvertretende Präsident, so führt der amtsälteste Beisitzer den Vorsitz,
bei gleichen Amtsalter der dem Lebensalter nach Aeltere.
Ausnahmsweise kann, in den Fällen des Gesetzes vom 10. Dezember 1854,
das Gewerbegericht recht»gültig beraten bei Anwesenheit einer geraden Mitglieder-
zahl von mindestens vier, auch wenn die Zahl der Arbeiter- und der Unternehmer-
beisitzer nicht gleich ist.
Die Eorcheidungen des Gewerbegerichts erfolgen nach absoluter Mehrheit der
anwesenden Mitglieder.
Bei Stimmengleichheit wird die Sache unverzüglich dem unter Vorsitz des
Friedensrichters des Bezirkes oder seines Stellvertreters erkennenden Gewerbegericht
überwiesen.
Umfaßt der Gewerbegerichtsbezirk mehrere Kantone oder Arrondissements
der Friedensgerichtsbarkeit, so ist der zur Mitwirkung beim Gewerbegericht und
zu seinem Vorsitz berufene Friedensrichter der im Sinne der für den Vorsitz oben
gegebenen Bestimmungen dem Amtsalter oder der Lebensdauer nach Aelteste.
Jedoch kann der Vorsitzende des Zivilgerichts für den Bezirk, in dem das
Gewerbegericht seinen Sitz hat, in den Fällen, in denen er vom Justizminister
hiermit beauftragt ist, für die Friedensrichter des Gewerbegerichtsbezirkes eine
Reihenfolge aufstellen, nach welcher sie innerhalb bestimmter Zeit den Dienst
versehen.
Friedensrichter der Kantone, in denen nicht der Sitz des Gewerbegerichts
liegt, werden auf Verlangen hiervon befreit.
Die Sitzungen des Gewerbegerichts sind Öffentlich. Bei Gefährdung der
Ordnung kann das Gericht die Oeffentlichkeit ausschließen.
Der Urteilsspruch hat stets in öffentlicher Sitzung zu erfolgen.
Art. 2. Die Urteile der Gewerbegerichte sind endgültig und unterliegen keiner
Berufung, abgesehen vom Fall der Unzuständigkeit, wenn die Streitsumme drei-
hundert (300) fres. Kapital nıcht übersteigt.
Die Gewerbegerichte entscheiden über alle Wider- und Kompensationsklagen,
für die sie zuständig sind.
Wenn jede Haupt-, Wider- oder Kompensationsklage in letzter Instanz zur
Zuständigkeit des Gewerbegerichts gehört, so unterliegen die Entscheidungen über
alle Klagen keiner Berufung.
1) Zur Entstehungsgeschichte vergleiche den Aufsatz von Raoul Jay im „Ge-
werbe- und Kaufmannsgericht“, 11. Jahrg., No. 3, wo auch die durch dieses
Gesetz gegenüber der früheren Rechtslage geschaffenen Veränderungen hervorgehoben sind.
Nationalökonomische Gesetzgebung. 181
Wenn eine dieser Sachen, über die entschieden wird, der Berufung unterliegt,
so entscheidet das Gewerbegericht über alle Sachen nur in erster Instanz. Jedoch
entscheidet es in letzter Instanz, wenn nur die ausschließlich auf die Hauptklage
gestützte Widerklage auf Schadensersatz seine Zuständigkeitsgrenze als erste In-
stanz überschreitet.
Die der Berufung unterliegendeu Urteile können für vorläufig vollstreckbar
erklärt werden ohne Sicherheitsleistung bis zu einem Viertel der Streitsumme, wenn
dieses Viertel nicht 100 fres. übersteigt. Darüber hinaus kann bei Sicherheits-
leistung des Antragstellers die vorläufige Vollstreckbarkeit ausgesprochen werden.
Art. 3. Beträgt der Wert der Klage mehr als 300 frcs., ist gegen das Urteil
des Gewerbegerichts Berufung beim Zivilgericht zulässig.
Die Berufung wird nicht vor drei Tagen nach Urteilsverkündung angenommen
außer bei vorläufiger Vollstreckbarkeit, noch später als zehn Tage nach der Aus-
fertigung. Die Berufung wird eingeleitet und beurteilt wie eine Handelssache (ohne
obligatorische Vertretung durch einen avoué).
Die Parteien können sich einen Beistand wählen und sich bei Abwesenheit
oder Krankheit durch einen Arbeiter oder Unternehmer desselben Berufes vertreten
lassen.
Die Betriebsunternehmer können sich durch den leitenden Direktor oder einen
Angestellten vertreten lassen.
Der Bevollmächtigte soll eine stempelfreie schriftliche Vollmachtserklärung
besitzen, die auch am Fuße des Originals oder der Abschrift der Vorladung aus-
gestellt sein kann.
Die Parteien können Schriftsätze einreichen, dürfen dagegen keine Verteidi-
gungsschriften zustellen lassen.
Die Parteien können als Vertreter oder Beistand einen zugelassenen avocat
oder einen beim Zivilgericht des Arrondissements tätigen avoué wählen. Beide
sind von der Verpflichtung der Vorlage einer Vollmacht befreit.
Das Zivilgericht sa innerhalb von 3 Monaten nach Einlegung der Be-
rufung entscheiden.
Art. 4. Die letztinstanzlichen Urteile des Gewerbegerichts können im Wege
des Kassationsrekurses wegen Zuständigkeitsüberschreitung oder Gesetzesverletzung
angefochten werden.
Die Berufung muß innerhalb dreier Tage nach der Urteilsanzeige durch Er-
klärung bei der Gewerbegerichtsschreiberei erfolgen und, zwecks Vermeidung der
Ungültigkeit, innerhalb von 8 Tagen notifiziert werden.
Innerhalb von 14 Tagen nach der Notifizierung werden die Akten dem
Kassationshofe zugestellt; keinerlei Gebühren sind zu hinterlegen; der Rechts-
beistand eines avocat ist nicht obligatorisch.
Die Berufung wird unmittelbar der Zivilkammer vorgelegt.
Der Kassationshof wird innerhalb eines Monats nach Eonpfang der Akten
entscheiden.
Die Urteile der Zivilgerichte in der Berufungsinstanz können im Wege des
Kassationsrekurses wegen Unzuständigkeit, Zuständigkeitsüberschreitung oder Ge-
setzesverletzung angefochten werden.
Die Kassationsanfechtungen gegen diese Urteile unterliegen den in Abs. 2, 3,
4 und 5 dieses Artikels aufgestellten Regeln. Die Anfechtung muß jedoch beim
Zivilgerichtsschreiber erfolgen.
Art. 5. Die Gewerbegerichte gehören zum Ressort des Justizministers, der
die Aufsicht über sie führt.
Die Bestimmungen des Zivilgesetzbuches, der Zivilprozeßordnung und des
Strafgesetzbuches, die sich auf die Disziplin der Gerichte und Beamten beziehen,
sind auf Gewerbegerichte und ihre Mitglieder anwendbar.
Art. 6. Die Bestimmungen dieses Gesetzes finden keine Anwendung auf die
vor seiner Veröffentlichung eingeleiteten Klagen.
Art.7. Alle Bestimmungen früherer Gesetze, soweit sie diesem Gesetz wider-
sprechen, sind aufgehoben.
Ein Rundschreiben des Justizministers vom 25. August 1905
(B. d. O., S. 1001) an die Oberstaatsanwälte gemäß Art. 5 d. G. erläutert
deren praktische Durchführung; ferner ein Rundschreiben des Handels-
ministers vom 9. September 1905 an die Präfekten (B. d. rO., S. 1008).
182 Nationalökonomische Gesetzgebung.
Erlaß vom 11. August 1905 betr. Abänderung des Erlasses vom
17. Juli 1900 über die Reorganisation der Pariser Arbeitsbörse. J. off.,
17. August.
Die Vorschriften über öffentlichen Zutritt, die Befugnisse des Seinepräfckten,
den Verwaltungsausschuß werden ergänzt. Im B. d. PO., 5.730, ist der vollständige
Erlaß von 1900/1905 abgedruckt; die neue Geschäftsordnung a. a. O. S. 919.
Amnestiegesetz vom 2. November 1905. J. off, 23. November.
Außer für andere Gesetzesübertretungen wird völlire Amnestie gewährt „bei
Vergehen und Gesetzesübertretungen bezüglich des Versammlungs-, Wahlrechts,
Streiks, Kundgebungen am 1. Mai durch die Presse, und ähnlicher Art“ und für
Verurteilung wegen Nichtbeachtung der Arbeiterschutzgesetze und -Verordnungen.
II. Alters- und Armenfürsorge.
Gesetz vom 14. Juli 1905 betr. die obligatorische Unterstützung
von mittellosen Greisen, Siechen und unheilbar Kranken. J. off., 15. und
16. Juli.
Titel I. Organisation der Unterstützung.
Art. l. „Jeder Franzose, welcher der Hilfsmittel beraubt und unfähig ist,
durch eigene Arbeit sich Lebensunterhalt zu verschaffen, empfängt zu den nach-
stehend angegebenen Bedingungen die durch dieses (Gesetz eingeführte Unter-
stützung, wenn er das ‘0. Lebensjahr überschritten hat oder wenn er an einem
Gebrechen oder an einer als unheilbar erkannten Krankheit leidet.
Art. 2. Die Unterstützung wird gewährt von der Gemeinde, wo der Unter-
stützte seinen Unterstützungswohnsitz hat; in Ermangelung eines Gemeindeunter-
stützungswohnsitzes von dem Departement, wo der Unterstützte seinen Departements-
unterstützungswohnsitz hat; in Ermangelung jedes Unterstützungswohnsitzes vom
Staat.
Die Gemeinde und das Departement erhalten zur Bestreitung der ihnen durch
dieses Gesctz auierlegten Ausgaben die in Titel IV vorgesehenen Beihilfen.
Art. 3. Der Unterstützungswohnsitz, sowohl der einer Gemeinde wie der
eines Departements wird erworben und geht verloren gemäß den Bedingungen der
Art. 6 und 7 des Gesetzes vom 15. Juli 1803; jedoch wird die zum Erwerb oder
zum Verlust dieses Wohnsitzes erforderliche Zeit auf 5 Jahre festgelegt. Vom
75. Lebensjahre an kann niemand einen neuen Unterstützungswohnsitz erwerben
oder den ihm gehörenden verlieren.
Gebrechliche oder unheilbarkranke unterstützte Kinder haben nach Er-
langung der Volljährigkeit ihren Unterstützungswohnsitz im Departement, dessen
Verwaltungsbezirk sie angehörten, bis zum Erwerb eines anderen Unterstützungs-
wohnsitzes.“
Art. 4. Erstattungsansprüche der nicht zur Unterstützung verpflichteten
Verwaltungsbehörde, welche die Unterstützung gleichwohl anderswo Unterstützungs-
berechtigten gewährte,
Art. 5. Regreßrecht dem Unterstützten gegenüber, falls sich herausstellt,
daß er genügend Hilfsmittel hat oder erhält, sowie gegenüber bisherigen zur Unter-
stützung verpflichteten Personen, Angehörigen oder Gesellschaften.
Art. 6. Der Unterstützungsdienst wird in jedem Departement von dem
Generalrate organisiert, „gegebenenfalls durch Verwaltungsakt“.
Titel II. Zulassung zur Unterstützung.
Art. 7. „Die Armenhilfstelle der Gemeinde!) (Unterstützungsamt) stellt all-
jährlich einen Monat vor der ersten ordentlichen Sitzung des Gemeinderates ein
1) Als kommunale Verwaltungsstelle für Armen-Krankenpflege, organisiert durch
Art. 10 d. G. über die Armen-Krankenpflege vom 15. Juli 1893. Vergl. über die bis-
herige Altersfürsorge- und Armengesetzgebung in Frankreich, sowie über die Entstehungs-
geschichte dieses Gesetzes: Zacher, Die Arbeiterversicherung im A usland,
Heft 4u (Nachtrag), Berlin 1902, S. 57 ff.
Nationalökonomische Gesetzgebung. 183
Verzeichnis der Greise, Siechen und unheilbar Kranken auf, welche die in Art. 1
vorgeschriebenen Bedingungen erfüllen und in der Gemeinde wohnhaft sind und
ihre Berechtigung auf die durch dieses Gesetz eingeführte Unterstützung schriftlich
geltend gemacht haben. Die Armenhilfsstelle schlägt gleichzeitig die jedem ange-
messene Unterstützungsart vor und bezeichnet den Betrag der monatlichen Unter-
stützungssumme, wenn diese Art der Hılfe eine Heimunterstützung ist.“ Innere
Einrichtung und in der Regel vierteljährliche Revision der Liste Sie zerfällt in
zwei Teile, der erste umfaßt die Unterstützungsberechtigten, die in ihrer Gemeinde
ihren Unterstützungswohnsitz haben, und ist dem Gemeinderat zuzusenden; der
zweite die beim Departement Unterstützungsberechtigten, er ist dem Präfekten zu
übermitteln.
Art. 8. Alle eingereichten Gesuche werden vom Gemeinderat, der alo über
die Zulassung zur Unterstützung entscheidet, beraten, er regelt die Bedingungen
(monatliche Unterstützungssumme) unter denen die Autragsteller die in der Ge-
meinde unterstützungsberechtigt sind, in ihrer Wohnung oder in Anstalten unter-
stützt werden, ob also offene oder geschlossene Armenpflege durch Heim-
pflege bezw. Anstaltspflege anzuwenden ist.
Art. 9. Amtliche Auslegung der Liste nach Feststellung der Ansprüche.
Eine Abschrift erhält der Präfekt.
Abs. 3: „Während einer Frist von 20 Tagen von der Auslegung an kann
jeder Greis, Sieche oder unheilbar Kranke, dessen Gesuch vom Gemeinderat abge-
lehnt ist, Beschwerde beim Bürgermeisteramt einlegen ; innerhalb der gleichen Zeit
kann jeder Bewohner oder Steuerzahler der Gemeinde die Eintragung oder Löschung
ausgelassener oder unberechtigt in die Liste aufgenommmener Personen beantragen.
Präfekt und Unterpräfekt haben das gleiche Recht.
Art. 10. Gegen die Entscheidungen des Gemeinderates über die Höhe der
monatlichen Unterstützungssumme ist unter den gleichen Bedingungen Beschwerde
zulässig.“
Art. 11, 12 enthalten Bestimmungen betr. Entscheidung über die Beschwerde
durch kantonale Ausschüsse und über Befugnisse der Präfekten und der kantonalen
Ausschüsse. Diese bestehen aus dem Unterpräfekten des Arrondissements, Mit-
gliedern gewisser Departements- und Kantonbehörden, auch der Armenverwaltung,
einem Friedensrichter und Delegierten lokaler Wohltätigkeitgesellschaften.
Art. 13ff. Die Ansprüche der Unterstützungssuchenden mit nur einem
Departementsunterstützungswohnsitz bestimmen und regeln Departementsausschüsse,
gegen die innerhalb zweier Monate Beschwerde beim Minister des Innern eingelegt
werden kann. Der Präfekt benachrichtigt die Gemeinden, Departements bezw.
den Minister des Innern, damit die dort Unterstützungsberechtigten ebenfalls ver-
sorgt werden.
Art. 16 und 17. Die Zulassung zur Unterstützung für Berechtigte, die keinen
Unterstützungswohnsitz haben, spricht der Minister des Innern aus auf Grund des
Beschlusses eines Zentralausschlusses, der aus 15 Mitgliedern des „oberen Rates für
öffentliche Unterstützung“ und 2 Mitgliedern des „oberen Rates für gegenseitige
Hiltie“ zusammengesetzt ist. Dieser ist zugleich oberste Entscheidungsinstanz für
alle Streitigkeiten, entscheidet endgültig also sowohl über die Festsetzungen und
Anordnungen der kantonalen wie der Departementsausschüsse, die etwa ange-
fochten sind.
Art 18. „Die Unterstützung muß zurückgezogen werden, wenn die ursäch-
lichen Bedingungen fortfallen.
Die Zurückziehung wird je nach den Umständen vom Gemeinderat, dem
Departementsausschuß oder dem Minister des Innern ausgesprochen. Auch hier ist
das gleiche Beschwerderecht gegeben.“
Titel III. Art und Weise der Unterstützung.
Art. 19. „Die Greise, Siechen und unheilbar Kranken, die einen Kommunal-
oder Departementsunterstützungswohnsitz haben, erhalten die Unterstützung in
ihrem Hause. Die, welche in ihrem Hause nicht wohl unterstützt werden können,
werden mit ihrer Einwilligung in einem öffentlichen Spital oder einer privaten
Anstalt oder bei Einzelpersonen untergebracht oder auch in öffentlichen oder
privaten Anstalten, wo ihnen unabhängig von einer anderen Unterstützungsform,
nur freie Wohnung zu gewähren ist.
184 Nationalökonomische Gesetzgebung.
Die für jeden individuellen Fall angewandte Art der Unterstützung hat keinen
endgültigen Charakter.
Art. 20. Die Heimunterstützung besteht in der Zahlung einer monatlichen
Geldsumme.
Der Betrag dieser Geldsumme wird für jede Gemeinde durch den Gemeinderat
unter Vorbehalt der Genehmigung des Generalrates und des Ministers des Innern
festgesetzt.
Er darf nicht kleiner sein als fünf (5) fres. noch — ausgenommen besondere
Fälle — größer als zwanzig (20) fres. Ist er größer als 20 frcs., unterliegt die
Entscheidung des Generalrates der Genehmigung des Ministers des Innern, der
nach dem Gutachten des oberen Rates für Öffentliche Unterstützung entscheidet.
Wenn er dreißig (30) fres. übersteigt, wird der übersteigende Betrag nicht
bei Berechnung der nach Art. 4 zulässigen Erstattungsansprüche noch bei Be-
stimmung der in Titel IV vorgesehenen Subventionen seitens des Departements
oder des Staates in Rechnung gestellt.
Im Fall, daß die zur Unterstützung zugelassene Person über gewisse Hilfs-
mittel bereits verfügt, wird der Betrag der Geldunterstützung diesen Hilfsmitteln
entsprechend vermindert. Jedoch werden die aus einer Sparkasseneinlage, be-
sonders aus einer rechtmäßig erworbenen Rente einer Unterstützungsgenossenschaft
herrührenden Hilfsmittel nicht abgezogen, wenn sie sechsig (60) fres. nicht über-
steigen. Dieser Betrag wird von sechzig (60) auf hunderzwanzig (120) frcs. erhöht
für die Berechtigten, die nachweislich wenigstens drei Kinder bis zu 16 Jahren
erzogen haben. Im Fall, daß die Hilfsmittel diese Ziffern übersteigen, wird der
übersteigende Betrag nur bis zur Hälfte abgezogen; doch dürfen die von der Spar-
kasseneinlage herrührenden Hilfsquellen zusammen mit dem Unterstützungsgeld
die Summe von vierhundertachtzig (480) fres. nicht übersteigen.
Die festen und beständigen, von privater Wohltätigkeit herrührenden Hilfsmittel
werden nur bis zum halben Betrag mıt der gleichen Maximalgrenze von 480 fres.
abgezogen.
Art. 21. Der Genuß der Geldunterstützung beginnt mit dem Tage, der durch
Entscheidung über die Zulassung zur Unterstützung festgesetzt ist.
Die Unterstützungs- und Hilfsstelle beschließt entsprechend den Verhält-
nissen, ob die Geldunterstützung in einmaliger oder in Teilzahlungen ausgezahlt
wird; nach ihrem Beschluß kann die Unterstützung ganz oder teilweise in Naturalien
gewährt werden.
Die Unterstützung ist nicht abtretbar und unpfändbar.“ Sie wird am Wohn-
sitz des Unterstützungsempfängers ausgezahlt. Die Arten der Auszahlung werden
näher geregelt.
Art. 22—25 regeln die Unterbringung in öffentlichen (z. B. Spitälern) und
privaten Anstalten oder bei fremden Familien, welche Unterstützungsarten statt
der monatlichen Geldunterstützung gewährt werden können. Die für die Anstalts-
pflege geeigneten Anstalten werden vom Generalrat bezeichnet, die Zahl der not-
wendigen Betten vom Präfekten, der auch den alle 5 Jahre zu revidierenden Tages-
satz festsetzt. Berechtigte ohne Unterstützungswohnsitz werden in der Regel in
vom Minister des Innern bezeichneten, öffentlichen Anstalten untergebracht, sofern
nicht eine Heimunterstützung in Bargeld vorgeschlagen wird.
Art. 26. Arzt- und Krankentransportkosten werden gleichfalls von Gemeinde,
bezw. Departement, bezw. Staat getragen.
Titel IV. Beschaffung der Mittel,
ordnet in Art. 27—42 die finanzielle Verteilung der durch die obligatorische Unter-
stützung entstandenen Lasten für Gemeinde, Departement und Staat.
Neue Geldquellen sind zur Deckung der Ausgaben vom Gesetz nicht einge-
führt. Die Ausgaben sollen vielmehr zunächst durch die bestehenden Wohltätig-
keitsfonds und regelmäßigen Einnahmen von Gemeinde und Departement gedeckt
werden. Die Gemeinden bestreiten z. B. die ihnen entstandenen Ausgaben (nach
Art. 27) „mit Hilfe 1) der besonderen Hilfsquellen, die herrühren aus Stiftungen
oder Schenkungen, die zum Zweck der Unterstützung von Greisen, Siechen und
unheilbaren Kranken gemacht sind, es sei denn, daß die Bedingungen solcher Stif-
tungen oder Schenkungen dem widersprechen; 2) der eventuellen Beteiligung des
Wohltätigkeitsamtes und des Hospizes; 3) der ordentlichen Einnahmen“. Im Fall
Nationalökonomische Gesetzgebung. 185
der Unzulänglichkeit dieser Mittel erhalten die Gemeinden jedoch 4) eine Subven-
tion seitens des Departements entsprechend einer dem Gesetz beigefügten Berech-
nungstabelle; die Gemeinden haben schließlich Anspruch auf eine ergänzende staat-
liche Subvention gemäß einer weiteren (dritten) Tabelle. Die Departements erhalten
andererseits ebenfalls, wenn ihre regelmäßigen Einnahmen nicht reichen, staatliche
Subventionen gemäß einer zweiten dem Gesetz angefügten Berechnungstabelle. Die
Höhe der Subventionen von Departement oder Staat richtet sich nach der Steuer-
kraft der Gemeinden und der Zahl der Unterstützten im Verhältnis zur Größe der
Bevölkerung. Ferner haben die Wohltätigkeitsanstalten ihren Bestimmungen ent-
sprechend für die nach dem Gesetz Unterstützungsberechtigten zu sorgen; desgleichen
öffentliche Krankenhäuser. Art. 33. „Für die 3 Jahre 1907, 1908, 1909 wird das
jährliche Finanzgesetz die Summe bestimmen, die der Minister des Innern für die
nach diesem Gesetz den Gemeinden und Departements zu bewilligenden Subventionen
anweisen darf').“ Das Gesetz enthält ferner
Titel V. Zuständigkeit und Titel VI. Verschiedenes,
woraus hier die Stempelfreiheit und unentgeltliche Eintragung aller Zeugnisse und
anderer Urkunden hervorgehoben wird. Die Gesetze betr. Geisteskranke bleiben un-
berührt.
.. „Das Gesetz tritt mit dem 1. Januar 1907 in Kraft. Anordnungen der öffent-
lichen Verwaltung bestimmen nötigenfalls das zur Durchführung Erforderliche “
III Unfallgesetzgebung.
Die Grundlage für die gegenwärtig gültigen Haftpflicht-
bestimmungen ist das Gesetz vom 9. April 1898 über „die Haftung
für Unfälle, von denen Arbeiter bei ihrer Arbeit betroffen werden ?).“
Es wurde zunächst in einigen Punkten geändert durch Gesetz vom
28. März 1902; weitere ergänzende Bestimmungen gibt das nachstehend
seiner Bedeutung wegen übertragene Gesetz. Der Art. 1, auf den Be-
zug genommen ist, bestimmt (Abs. 1) „Unfälle, die durch die Arbeit
oder bei Gelegenheit der Arbeit Arbeitern oder Angestellten zustoßen
im Baugewerbe, Hüttenwerken, Fabriken, Werften, Land- oder Wasser-
transportunternehmungen, bei Lade- und Entladungsarbeiten, in öffent-
lichen Magazinen, in Bergwerken, Gruben, Steinbrüchen und ferner in
jedem Unternehmen oder einem Teil eines Unternehmens, in dem Spreng-
stoffe hergestellt oder verwendet, oder in dem von einer anderen als
Menschen- oder Tierkraft getriebene Maschinen gebraucht werden, geben
dem. Verletzten oder seinen Vertretern einen Anspruch auf eine Ent-
schädigung zu Lasten des Unternehmers, für den Fall, daß die Arbeits-
unterbrechung länger als 4 Tage gedauert hat“. Das ganze Gesetz
zerfällt in die Titel: „Entschädigung bei Unfällen“ (Art. 1 —10), „Anzeige
und Untersuchung der Unfälle“ (Art. 11-14), „Gerichtsbarkeit, Ver-
fahren, Revision“ (Art. 15—22), „Garantien“ (Art. 23—28), „Allgemeine
Bestimmungen“ (Art. 29—34).
Gesetz vom 31. März 1905, betr. Abänderung verschiedener Artikel
des Gesetzes vom 9. April 1898 über Arbeitsunfälle. ‚Journ. off, 2. April.
1) Vergl. über Bedeutung dieser Bestimmung den Aufsatz von Raoul Jay in der
Sozialen Praxis, 15. Jg., Sp. 25 und über die finanziellen Anforderungen an die Staats-
mittel, die über Erwarten groß sind, ebenda Sp. 1185.
2) Eine systematische Darstellung geben das „Bulletin des Internationalen Arbeits-
amtes,“ Bd. 4 (1905), S. LXXII u. S. 32 und das „Annuaire de la législation du tra-
vail“, herausgegeben vom Belgischen Arbeitsamt, Jg. 1905, S. 187 flg.
186 Nationalökonomische Gesetzgebung.
Art. 1. Die Artikel 3, 4, 10, 15, 16, 19, 21, 27 und 30 des Ge-
setzes vom 8. April 1898 werden, wie folgt, geändert.
Art. 3. In den von Art. 1 vorgesehenen Fällen hat der Arbeiter oder Ange-
stellte Anspruch:
bei vollständiger und dauernder Erwerbsunfähigkeit auf eine Rente in Höhe
von zwei Drittel des Jahresverdienstes;
bei teilweiser und dauernder Erwerbsunfähigkeit auf eine Rente in Höhe der
Hälfte des durch den Unfall verursachten Lohnverlustes ;
bei vorübergehender Erwerbsunfähigkeit, wenn die Erwerbsunfähigkeit mehr
als 4 Tage gedauert hat, auf eine Tagesentschädigung ohne Unterschied zwischen
Werk-, Sonn- und Feiertagen in der Höhe der Hälfte des zur Zeit des Unfalls
bezogenen Lohnes, wofern dieser Lohn nicht veränderlich ist; in letzterem Falle
beträgt die Tagesentschädigung die Hälfte des durchschnittlichen Lohnes der Ar-
beitstage in dem Monat, welcher dem Unfall vorhergegangen ist. Die Entscha-
digung wird vom 5. Tage nach dem Tage des Unfalls an geschuldet; sie wird jedoch
vom l. Tage an geschuldet, wenn die Erwerbsunfähigkeit länger als 10 Tage ge-
dauert hat. Die Tagesentschädigung ist auszuzahlen an den bei dem Unternehmen
üblichen Zahlungsterminen und Zahlstellen, ohne daß die Zwischenzeit länger als
16 Tage dauern dürfte.
Hat der Unfall den Tod zur Folge, so wird eine Pension den nachbenannten
Personen vom Todestage an unter folgenden Bedingungen gewährt:
a) Eine lebenslängliche Rente in Höhe von 20 Proz. des Jahresverdienstes des
Getöteten dem überlebenden, nicht geschiedenen oder nicht von Tisch und Bett
getrennten Ehegatten, wenn die Ehe vor dem Unfall geschlossen ist.
Im Fall der Wiederverheiratung verliert der Ehegatte den Anspruch auf die
obenerwähnte Rente; ihm wird jedoch in diesem Falle das Dreifache der Rente als
Totalabtindung gewährt.
b) Den ehelichen oder vor dem Unfall anerkannten natürlichen Kindern,
vater- oder mutterlosen Waisen unter 16 Jahren eine Rente, die berechnet wird
nach dem ‚Jahresverdienst des Getöteten in Höhe von 15 Proz. des Jahresver-
dienstes, wenn nur ein Kind vorhanden ist, von 25 Proz. wenn zwei, von 35 Proz.
wenn drei, und von 40 Proz. wenn vier und mchr Kinder vorhanden sind.
Sind die Kinder vater- und mutterlos, so wird die Rente für jedes Kind auf
20 Proz. des Vertdienstes erhöht.
Der Gesamtbetrag dieser Renten darf nicht im ersten Fall 40 Proz., im zweiten
nicht 60 Proz. des Verdienstes übersteigen.
c) Hat der Getötete weder Ehegatten noch Kinder im Sinne der $$ a und b,
so erhält jeder der ihm gegenüber unterhaltsberechtigten Aszendenten und Deszen-
denten eine Rente, die für die Aszendenten lebenslänglich, und für den Deszen-
den bis zum 16. Jahre zu zahlen ist. Diese Rente ist gleich 10 Proz. des Jahres-
verdienstes des Getöteten, jedoch darf der Gesamtbetrag der so gewährten Renten
nicht 30 Proz. übersteigen.
Jede in $ c vorgesehene Rente wird gegebenen Falls verhältnismäßig herab-
gesetzt.
Die auf Grund dieses Gesetzes festgelegten Renten sind zahlbar am Wohnsitze
des Berechtigten oder in der Hauptstadt des Kantons dieses Wohnsitzes; wenn sie
durch die nationale Altersversorgungskasse bezahlt werden, sind sie zahlbar bei
dem Vorgesetzten der durch den Berechtigten bezeichneten Anstalt.
Sie sind vierteljährlich zahlbar an einem bestimmten Termin. Das Gericht
kann jedoch die Vorausbezahlung der Hälfte des ersten Rentenbetrages anordnen.
Diese Renten sind unabtretbar und unpfändbar.
Ausländische Arbeiter, die von Unfall betroffen werden, welche ihren Wohn-
sitz auf französischem Boden aufgeben würden, empfangen als Abfindungssumme
ein Kapital gleich der dreifachen, ihnen zuerkannten Rente.
Das gleiche gilt für ihre ausländischen Rechtsnachtolger, die den Wohnsitz
auf französischem Boden aufgeben, ohne daß jedoch das Kapital den gegenwärtigen
Wert der Rente nach dem in Art. 28 vorgesehenen Tarif übersteigen dürfte,
Die ausländischen Vertreter eines ausländischen Arbeiters empfangen keine
Entschädigung, wenn sie zur Zeit des Unfalls nicht ihren Wohnsitz auf französischem
Boden hatten.
Nationalökonomische Gesetzgebung. 187
Die Bestimmungen der drei vorhergehenden Absätze können jedoch durch
Verträge in den Grenzen der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen für die
Ausländer abgeändert werden, deren Heimatland französischen Staatsangehörigen
entsprechende Vorteile gewährleistet.
Art. 4. Der Betriebsunternehmer trägt außerdem die Arzt- und Apotheker-,
sowie die Beerdigungskosten. Die letzteren werden auf höchstens 100 fres.
veranschlagt.
Der Verletzte darf immer Arzt und Apotheker selbst wählen. In diesem
Fall kann der Betriebsunternehmer für die Arzt- und Apothekerkosten nur bis
zu einem Betrage herangezogen werden, der vom Friedensrichter des Kantons, in
dem der Unfali erfolgte, entsprechend einem Tarife festgesetzt ist, welcher durch
Verordnung des Handelsministers nach Gutachten einer besonderen Kommission
aufgestellt wird, die Vertreter der Aerzte- und Apothekerorganisationen, der Arbeiter-
und Unternehmerverbände, der Unfallversicherungsgesellschaften und der Gegen-
seitigkeitsgesellschaften umfaßt, und der nur alle zwei Jahre abgeändert werden
kann.
Der Betriebsunternehmer allein hat in allen Fällen außer denin Art.3 enthaltenen
Verpflichtungen die Krankenhauskosten zu tragen, die jedoch alles in allem den
für die Anwendung von Art. 24 des Gesetzes vom 15. Juli 1893 aufgestellten um
50 Proz. erhöhten Tarif nicht übersteigen und niemals 4 fres. pro Tag in Paris
und 3,50 fres. überall sonst überschreiten dürfen.
Arzt, Apotheker und Krankenhäuser können unmittelbar den Betriebsunter-
nehmer in Anspruch nehmen.
Während der Krankheitsbehandlung kann der Betriebsunternehmer dem
Friedensrichter einen Arzt bezeichnen, der ihn über den Zustand des Verletzten
unterrichten soll. Diese vom Friedensrichter ordnungsgemäß vorgenommene Be-
zeichnung gibt dem genannten Arzt das Recht wöchentlichen Zutrittes beim Ver-
letzten in (segenwart des behandelnden Arztes, der zwei Tage vorher durch Ein-
schreibebrief benachrichtigt wird.
Entzieht sich der Verletzte dieser Untersuchung, so wird die Auszahlung der
Tagesentschädigung durch Entscheidung des Friedensrichters, der den Verletzten
durch einfachen Einschreibebrief zu sich entbietet, suspendiert.
Bescheinigt der Arzt, daß der Verletzte die Arbeit wieder aufnehmen kann,
und bestreitet der Verletzte dieses, so kann der Betriebsunternehmer bei vorüber-
gehender Erwerbsunfähigkeit vom Friedensrichter die Vornahme einer ärztlichen
Sachverständigenuntersuchung verlangen, die innerhalb fünf Tagen stattfinden muß.
Art. 10. Als Verdienst, der als Grundlage bei Festsetzungen der Renten
dient, wird verstanden für den Arbeiter, der in der Unternehmung während zwölf
Monaten vor dem Unfall beschäftigt war, der tatsächliche Lohn, der ihm in dieser
Zeit an Geld oder in Naturalien gewährt ist.
Für die Arbeiter, die weniger als zwölf Monate vor dem Unfall beschäftigt
waren, ist hierfür der tatsächliche Lohn zu verstehen, den sie seit dem Eintritt
in die Unternehmung erhalten haben, zuzüglich der Bezahlung, die sie während
des zur Vervollständigung der zwölf Monate notwendigen Zeitraumes empfangen
hätten, gemäß der durchschnittlichen Bezahlung der Arbeiter derselben Kategorie
in dem genannten Zeitabschnitt.
Wird die Arbeit unterbrochen, so wird der Jahresverdienst sowohl nach der
während der Beschäftigungszeit empfangenen Bezahlung, wie nach dem Verdienst
des Arbeiters in dem Rest des Jahres berechnet.
Wenn während der in den vorhergehenden Absätzen vorgesehenen Zeitabschnitte
der Arbeiter ausnahmsweise und aus Gründen, die von seinem Willen unabhängig
sind, gefeiert hat, ist der mittlere Verdienst, der diesen Arbeitsaussetzungen ent-
sprochen hätte, in Rechnung zu bringen.
Art. 15. In letzter Instanz werden durch den Friedensrichter des Kantons,
wo der Unfall sich ereignet hat, ohne Rücksicht auf die Höhe der Klagesumme
und innerhalb von vierzehn Tagen nach Klageerhebung die Streitigkeiten über
Beerdigungskosten und zeitweiligen Ent-chädigungen entschieden.
Die zeitweiligen Entschädigungen werden geschuldet bis zum Todestage oder
bis zur Heilung der Verletzung, d. h. bis zu dem Tage, wo der Verletzte entweder
völlig geheilt oder endgültig von dauernder Erwerbsunfähigkeit befallen wird; in
letzterem Falle werden sie weiter gezahlt bis zu der endgültigen Entscheidung,
188 Nationalökonomische Gesetzgebung.
die im folgenden Artikel vorgesehen ist, unter Vorbehalt der Bestimmungen des
vierten Absatzes dieses Artikels.
Wenn die eine Partei auf ein ärztliches Zeugnis gestützt geltend macht, daß
die Erwerbsunfähiskeit dauernd sei, so muß sich der Friedensrichter für unzu-
ständig erklären Turchi einen Beschluß, von dem er eine Ausfertigung innerhalb
von drei Tagen dem Vorsitzenden des Zivilgerichts übermittelt. Gleichzeitig setzt
er, wenn er es nicht schon vorher getan hat, dıe Tagesentschädigung fest.
Der Friedensrichter entscheidet über Klagen betreffend die Bezahlung der
Arzt- und Apotbekerkosten bis zum Betrage von 300 frcs. in letzter Instanz,
und ferner über Klagen ohne Rücksicht auf die Summe, unter Vorbehalt des
Berufungsrechts iönerhalb von vierzehn Tagen nach der Entscheidung.
Die Entscheidungen des Friedensrichters über die Tagesentschädigungen sind
trotz Einspruches vollstreckbar. Die Entscheidungen unterliegen dem Kassations-
rekurs wegen Gesetzesverletzung.
Hat sich der Unfall im Ausland ereignet, so ist der im Sinne des Art. 12
und dieses Artikels zuständige Friedensrichter derjenige des Kantons, wo die Unter-
nehmungen oder die Niederlassung sich befinden, zu der der Verletzte gehört.
Hat der Unfall in Frankreich, aber außerhalb des Kantons, wo die Unter-
nehmungen oder die Niederlassung sich befindet, zu welcher der Verletzte gehört,
stattgefunden, so wird ausnahmsweise der Friedensrichter des letzteren Kantons
zuständig auf Grund eines Gesuches des Verletzten oder seiner Rechtsnachfolger,
das in einem Einschreibebrief an den Friedensrichter des Kantons, wo der Unfall
stattgefunden hat, zu richten ist, bevor er sich im Sinne des gegenwärtigen Ar-
tikels mit der Sache befaßt oder er die in Art. 13 vorgesehene Untersuchung
abgeschlossen hat. Dem Antragsteller wird unmittelbar ein Empfangsschein durch
den Gerichtschreiber zugesandt, der zugleich den Betriebsunternehmer und den
zuständig gewordenen Friedensrichter benachrichtigt, und dem letzteren die Unter-
suchungsakten gleich nach ıhrem Abschluß zur Benachrichtigung der Parteien,
entsprechend Art. 13, übermittelt.
Wenn nach Uebermittelung der Untersuchungsakten an den Vorsitzenden
des Gerichtes des Unfallortes vor Berufung der Parteien der Verletzte oder seine
Rechtsnachfolger nachweisen, daß sie vor Abschluß der Untersuchung nicht die
im vorhergehenden Absatze erwähnte Möglichkeit hatten, so kann der Vorsitzende
nach Anhörung der Parteien die Akten aus seinen Händen geben und dem Vor-
sitzenden des Gerichts des Arrondissements übermitteln, wo das Unternehmen
oder die Niederlassung liegt, zu welcher der Verletzte gehört. .
Art. 16. Betrefts der anderen in diesem Gesetz vorgesehenen Entschädigungen
ladet der Vorsitzende des Arrondissementgerichts innerhalb von fünf Tagen nach
Uebersendung der Akten, wenn der Verletzte vor Schluß der Untersuchung gestorben
ist, andernfalls innerhalb von fünf Tagen nach Vorlegung des Totenscheines oder
einer schriftlichen Vereinbarung zwischen den Parteien, welche den dauernden
Charakter der Erwerbsunfähigkeit anerkennt, seitens der eifrigsten Partei, oder auch
nach Empfang der in Absatz 3 des vorhergehenden Artikels vorgesehenen Ent-
scheidung des Friedensrichters, oder schließlich, wenn er keine dieser Schriftstücke
empfängt, innerhalb der letzten fünf Tage vor Ablauf der in Art. 15 vorgesehenen
Verjährungsfrist, wenn ihm dieser Verjährungstermin bekannt ist, den Verletzten
oder seine Rechtsnachfolger, den Betriebsunternehmer oder dessen Vertreter und
den Versicherer, wenn Versicherung vorliegt. Unter Zustimmung der Parteien
kann er einen Sachverständigen bestellen, dessen Bericht innerhalb acht Tagen
eingereicht werden muß.
Im Fall einer Einigung zwischen den Parteien, die den Vorschriften dieses
Gesetzes entspricht, wird die Entschädigung endgültig durch Verfügung des Vor-
sitzenden festgestellt, der darüber eine Beurkundung gibt, die zur Vermeidung der
Nichtigkeit den als Grundlage dienenden Verdienst und die Minderung des Ver-
dienstes angeben muß, welche der Unfall veranlaßt hat.
Kommt keine Einigung zwischen den Parteien zu stande, so werden diese zur
Auseinandersetzung vor das Gericht gewiesen, welches mit der Sache durch die
eifrigste Partei betaßt wird und welches im summarischen Verfahren verfahrt, ent-
sprechend Titel 24 des Buches 2 des Code de procedure civile. Sein Urteil ist vor-
läufig vollstreckbar.
Nationalökonomische Gesetzgebung. 189
. In diesem Falle kann der Vorsitzende durch eine nicht der Berufung unter-
liegende Verweisungsverfügung an Stelle der Tagesentschädigung eine provisorische
Entschädigung festsetzen, die geringer ist als der halbe Verdienst, oder er kann in
denselben Grenzen eine provisorische Entschädigung den Rechtsnachfolgern zuer-
kennen. Diese provisorischen Entschädigungen können gewährt oder geändert
werden infolge eines Gesuches um eine nicht der Berufung unterliegende vorläufige
Entscheidung. Sie sind unübertragbar und unpfändbar, und unter denselben Be-
dingungen wie die Tagesentschädigung zahlbar.
Die Rentenrückstände laufen vom Todestage oder der Heilung der Wunde an,
ohne daß sie sich mit der Tagesentschädigung oder der vorläufigen Entschädigung
häufen können.
In den Fällen, wo der Betrag der Entschädigung oder der provisorischen
Entschädigung die Rentenrückstände übersteigt, die bis zum Tage der Rentenfest-
setzung geschuldet sind, kann das Gericht anordnen, daß der überschießende Be-
trag an den späteren Rückständen in einem von ihm bestimmten Verhältnis ab-
gezogen wird.
Wenn Versicherung vorliegt, gibt die Verfügung des Vorsitzenden oder das
die zugesprochene Rente festsetzende Urteil einzeln an, daß der Versicherer an
Stelle des Betriebsunternehmers zu den Bedingungen des Titel 4 getreten ist, so
(laß jeder Rückgriff des Verletzten gegen den genannten Betriebsunternehmer aus-
geschlossen wird.
Art. 19. Der Antrag auf Revision der Entscheidung auf Grund einer Ver-
schlimmerung oder Verbesserung im Zustande des Verletzten oder seines Todes infolge
der Wirkungen des Unfalls ist statthaft während dreier Jahre, sei es von dem Tode
an gerechnet, an welchem die geschuldete Tagesentschädigung aufhört, wenn eine
Zusprechung der Rente nicht stattgefunden hat, sei es von der zwischen den Par-
teien getroffenen Vereinbarung an oder von der rechtskräftigen richterlichen Ent-
scheidung an, und zwar selbst dann, wenn die Pension durch ein Kapital gemäß
‚Art. 21 ersetzt worden ist.
In allen Fallen sind auf die Revision die Bestimmungen über Zuständigkeit
und Verfahren der Art. 16, 17, 22 anwendbar. Die Sache wird beim Vorsitzenden
des Gerichts anhängig gemacht durch einfache Erklärung beim Gerichtsschreiber.
Wenn zwischen den Parteien eine Vereinbarung zu stande kommt gemäß den
Vorschriften dieses Gesetzes, so wird die Höhe der revidierten Rente durch Ver-
fügung des Vorsitzenden festgesetzt, der diese Vereinbarung beurkundet, indem er
bei Gefahr der Nichtigkeit die Verschlimmerung oder Verbesserung der Erwerbs-
unfähigkeit näher angıbt.
Kommt keine Einigung zu stande, so wird die Sache vor das Gericht ver-
wiesen, welches durch die eifrigste Partei damit befaßt wırd und welches summarisch
im Sinne von Art. 16 darüber beschließt.
Während der 3 Jahre, in denen die Revision geltend gemacht werden kann,
kann der Betriebsunternehmer dem Vorsitzenden des Gerichts einen Arzt bezeichnen,
der ihn über den Zustand des Verletzten unterrichten soll.
Diese Bezeichnung, die ordnungsgemäß von dem Vorsitzenden visiert ist, gibt
dem betreffenden Arzte das Recht vierteljährlichen Zutritts bei dem Verletzten.
Entzieht sich der Verletzte diesen Besuchen, so wird jede Zahlung der Rente
suspendiert durch Entscheidung des Vorsitzenden, der den Verletzten durch ein-
fachen Einschreibebrief zu sich entbietet.
Die in Art. 9 vorgesehenen Anträge müssen dem Gericht eingereicht werden
spätestens einen Monat nach Ablauf der für das Revisionsverfahren zulässigen Frist.
Art. 21. Die Parteien können jederzeit nach Festsetzung der Höhe der Ent-
schädigung, die dem Verletzten geschuldet wird, beschließen, daß die Zahlung der
Pension suspendiert und, solange sie hierüber einig sınd, durch eine andere Art
der Entschädigung ersetzt wird.
Abgesehen von den in Art. 3 vorgesehenen Fällen kann die Pension durch
eine Kapitalszahlung nur ersetzt werden, wenn sie 100 fres. nicht übersteigt und
der Berechtigte volljährig ist. Diese Ablösung kann nur nach dem in Art. 28
näher angegebenen Tarif vorgenommen werden.
Art. 27. Unfallversicherungsgesellschaften auf Gegenseitigkeit oder auf feste
Prämien, inländische sowohl wie ausländische, unterstehen der Ueberwachung und
190 Nationalökonomische Gesetzgebung.
der Aufsicht des Staates und sind gehalten, Reserven oder Sicherheiten unter den
durch eine Verwaltungsverordnung festgesetzten Bedingungen zu bilden.
Der Betrag der mathematisch ausgerechneten Reserven oder Sicherheiten
haftet vorzugsrechtlich für die Zahlung der Pension und Entschädigungen.
Die Garantiesyndikate unterliegen der gleichen Ueberwachung, und eine Ver-
waltungsvorschrift hat die Bedingungen ihrer Errichtung und ihrer Geschäfts-
führung festzusetzen.
Jederzeit kann ein Erlaß des Handelsministers die Geschäfte des Versicherers
schließen, der die in diesem Gesetze vorgesehenen Bedingungen nicht erfüllt oder
dessen finanzielle Lage keine genügende Sicherheit für die Erfüllung seiner Verpflich-
tungen gibt. Dieser Erlaß wırd nach Anhörung des beratenden Ausschusses für
Arbeitsunfallversicherung erlassen, nachdem der Versicherer in stand gesetzt ist,
seine schriftlichen Bemerkungen innerhalb 14 Tagen vorzubringen. Der Ausschuß
hat sich in weiteren 14 Tagen zu erklären.
Am 10. Tage nach der Veröffentlichung des Erlasses im Journal officiel
hören alle Verträge gegen die von diesem Gesetze festgestellten Risiken auf, rechts-
wirksam zu sein, wobei die noch zu zahlenden oder im voraus bezahlten Prämien
von dem Versicherer nur im Verhältnis der Zeit der verwirklichten Versicherung
erworben sind, eine entgegenstehende Abrede in der Polize vorbehalten.
Der beratende Ausschuß für Arbeitsuntallversicherung besteht aus 24 Mit-
gliedern, nämlich 2 Senatoren, 3 Deputierten, die von ihren Kollegen gewählt
werden, dem Direktor für soziale Versicherung und Fürsorge, dem Direktor der Arbeits-
abteilung, dem Generaldirektor der Depositenkasse, 3 Mitgliedern des Instituts der
französischen Aktuare, die Agreges sind, dem Vorsitzenden des Handelsgerichtes
der Seine oder einem von ihm abgeordneten Abteilungsvorsitzenden, dem Präsi-
denten der Pariser Handelskammer oder seinem Vertreter, 2 Arbeitern, die Mit-
glieder des Oberen Arbeitsrates sind, einem Professor der Pariser Rechtsfakultät,
2 Direktoren oder Verwaltern von Arbeiterunfallversicherungsgesellschaften auf
Gegenseitigkeit oder von Garantiesyndikaten, 2 Direktoren oder Verwaltern von,
Unfallversicherungsgesellschaften, die Aktien- oder Kommanditgesellschaften sind,
und 4 Personen, die besonders mit der Unfallversicherung vertraut sind. Eine Ver-
ordnung bestimmt den Modus der Ernennung und der Ergänzung der Mitglieder,
sowie die Ernennung des Vorsitzenden, des stellvertretenden Vorsitzenden und des
Schriftführers.
Alle Kosten, die aus der Ueberwachung und der Aufsicht sich ergeben, sind
dureh Beiträge nach Verhältnis der Reserven oder Sicherheiten zu decken und all-
jährlich für jede Gesellschaft oder Vereinigung durch Erlaß des Handelsministers
festzusetzen.“
Art. 30. „Jede Vereinbarung, die diesem Gesetze widerspricht, ist nichtig.“
Geltendmachung der Nichtigkeit, Rechtswirksamkeit derselben; Strafen.
Art. 2—4 des Gesetzes tretfen Bestimmungen über den erwähnten Tarif, über
Anwendbarkeit und Inkrafttreten. (Im allgemeinen 30 Tage nach Veröffentlichung.)
Die Neubestimmungen des Gesetzes und die Aenderungen gegen-
über der früheren Rechtslage werden erläutert in einem
Rundschreiben des Handelsministers an die Präfekten, betr. An-
wendung des Arbeitsunfallgesetzes vom 3. Mai 1905. B. d. rO,
S. 455 ff..
Ferner ergingen
Erlaß vom 20. Mai 1905 über die Zusammensetzung, Wahl und
Geschäftsführung des beratenden Ausschusses für Versicherungen gegen
Arbeitsunfälle (entsprechend Art. 27 des Gesetzes). Journ. off., 1. Juni.
Erlaß des Ministers für Handel und Industrie vom 30. September
1905, betr. die Aufstellung des durch Art. 4 des Gesetzes vom 9. April
1898, abgeändert durch Gesetz vom 31. März 1905, vorgesehenen
Tarifes für Arzt- und Apothekerkosten. Journ. off, 8. Oktober.
Gesetz vom 29. Dezember 1905 über die Fürsorgekasse für fran-
Nationalökonomische Gesetzgebung. 191
zösische Seeleute (gegen Gefahren und Unfälle ihres Berufes.) Journ.
of., 80. Dezember.
Nach dem „Annuaire“ (S. 331) bringt dieses Gesetz in den Bestimmungen des
für die Unfallversorgung der Seeleute grundlegenden Gesetzes vom 21. April 1898
folgende Abänderungen: Erstens erweitert es das Tätigkeitsgebiet der nach Art. 1
errichteten „nationalen Fürsorgekasse zu gunsten französischer Seeleute gegen die
Gefahren und Unfälle ihres Berufes, die der Marineinvalidenkasse angegliedert, aber
unabhängig von ihr ist“; nunmehr sind unterstützungsberechtigt alle eingeschrie-
benen und die nicht eingeschriebenen auf französischen (Handels)chiffen an Bord
befindlichen Seeleute, die obligatorische Mitglieder der Kasse sind. Unterstützung
wird gewährt bei Unfällen an Bord, sowie bei im Zusammenhang mit dem Beruf er-
littenen Unfällen. Zweitens sind «ie Unterstützungspensionen erhöht und die zu
entrichtenden Beiträge der Seeleute herabgesetzt. Die gewährten Unterstützungs-
arten bestehen 1) aus lebenslänglichen Renten bei dauernder völliger Erwerbs-
unfähigkeit von mindestens 600 bis zu 2200 fres. Die Höhe dieser und der anderen
Renten, nämlich 2) bei dauernder teilweiser Erwerbsunfähigkeit von 330—1430 fres.,
oder 3) Tagesentschädigungen bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit, ist im ein-
zelnen aus einem beigefügten Tarif ersichtlich ; sie richtet sich nach den Graden und
Berufen der Berechtigten, deren Witwen und Waisen sowie Aszendenten ebenfalls
Ansprüche haben. Die Beiträge der Kassenmitglieder sind allgemein herabgesetzt
und abgestuft nach Art der Seefahrt und wiederum nach Graden 0,10—1 fre. pro %o
des Gehaltes. Dagegen sind drittens die Beiträge der Reeder erhöht auf 3,50 fres. pro
100 fres. bezahlte Lohnsumme; zugleich ist ihre Verantwortlichkeit auf Fälle von
Absicht oder grober Fahrlässigkeit beschränkt, wobei die von der Kasse gezahlten
Entschädigungen oder Renten abgezogen werden. Schließlich ist zur finanziellen
Durchführung die Bildung eines Reservefonds neu geregelt.
IV. Besonderer Arbeiterschutz in einzelnen Berufen.
a) Baugewerbe.
Erlaß vom 6. August 1905, betr. Abänderung von Art. 5 des Er-
lasses vom 29. November 1904 über Hygiene und Sicherheit der Ar-
beiter. Journ. off., 20. August.
Der in der vorigen Uebersicht (diese Jahrb., Bd. 32, S. 206) erwähnte Erlaß
wird dahin ergänzt, daß Arbeitern auf Bauplätzen Unterkunftsräume und im Winter
Heizvorrichtungen zur Verfügung stehen müssen.
b) Bergbau).
Gesetz vom 9. Mai 1905, betr. Abänderung des Gesetzes vom
8 Juli 1890 über die Delegierten zur Sicherheit der Bergarbeiter.
Journ. off., 14. Mai.
Außer verwaltungstechnischen Bestimmungen wird eine Ergänzung des Gesetzes
von 1500 in zwei Punkten gegeben. Einmal wird der Kreis der zu Delegierten Wähl-
baren erweitert insofern, als in Zukunft nur noch überhaupt eine 5-jährige Beschäf-
tigung unter Tage, davon 2 Jahre im Wahlbezirk oder in einem dem gleichen
Unternehmer gehörenden Nachbarbezirk (der über 25, Jahre alten Wähler) verlangt
wird. Sodann wird bestimmt. daß die den „Delegierten für ihre regelmäßigen Kon-
trollbesuche zu gewährende Monatsentschädigung so zu berechnen, daß die Zahl der
von ihnen für diese Besuche tatsächlich gebrauchten Tage verdoppelt wird, ohne daß
die doppelte Zahl kleiner als 20 sein dürfte“ ($ 3 des Art. 16). Außerordentliche
Kontrollbesuche werden besonders berechnet.
1) Die beiden Gesetze sind ihrer Bedeutung und ihrer Geschichte nach ausführ-
lich im Bull. d. Intern. Arbeitsamtes, Bd. 4, S. XXXII ff. erörtert Das Reichsarbeits-
blatt, Jahrg. 1905, S. 388, gibt eine Zusammenstellung der für die Arbeitsverhältnisse im
französischen Bergbau maßgebenden Gesetze.
192 Nationalökonomische Gesetzgebung.
Gesetz vom 29. Juni 1905, betr. die Arbeitsdauer in Bergwerken.
Journ. off., 2. Juli.
Art. 1. „6 Monate nach Veröffentlichung dieses Gesetzes darf der Arbeitstag
der beim Abbau der unterirdischen Arbeiten in Brennstoffbergwerken verwandten
Arbeiter die Dauer von 9 Stunden nicht überschreiten, gerechnet von der Einfahrt
der letzten einfahrenden Arbeiter bis zur Wiederankunft über Tage der ersten
aufsteigenden Arbeiter; für Bergwerke, die durch Galerien betreten werden, wird
die Arbeitsdauer von der Ankunft an der Sohle der Eingangsgalerie bis zur Rück-
kehr an demselben Punkt gerechnet.
Nach Ablauf von 2 Jahren, von dem vorstehend angegebenen Termin, an wird
die Dauer des Arbeitstages auf 8'/, Stunden und nach Ablauf von weiteren 2
Jahren auf 8 Stunden herabgesetzt.
Unberührt bleiben die in bestimmten Betrieben bestehenden Vereinbarungen
oder die den Vereinbarungen gleichstehenden Gebräuche, welche den Normalarbeits-
tag niedriger als nach den vorhergehenden Paragraphen festgesetzt haben.
Art. 2. Werden durch die Bergwerksorduung Ruhepausen vorgesehen, die
unter oder über Tage durchgeführt werden, so verlängert sich die im vorher-
gehenden Artikel angegebene Arbeitsdauer um die Dauer dieser Pausen.
Art. 3. Ausnahmen von den Vorschriften des Art. 1 können durch den
Minister der öffentlichen Arbeiten, nach Anhörung des Generalrates für Bergwerke,
in den Bergwerken gewährt werden, wo die Anwendung dieser Bestimmung ge-
eignet ist, aus technischen oder wirtschaftlichen Gründen die Aufrechterhaltung
des Betriebes zu gefährden. Die Zurückziehung dieser Ausnahmeerlaubnis findet
in gleicher Weise statt. -
Art. 4. Vorübergehende Ausnahmen, deren Dauer 2 Monate nicht übersteigen
darf, die aber erneuert werden können, können durch den Chefingenieur des Berg-
baubezirks gewährt werden infolge von Unfällen, sowie aus Gründen der Sicherheit,
sowie zulälliger Notwendigkeit, sowie in dem Falle, daß Vereinbarungen zwischen
Arbeitern und Unternehmern zur Aufrechterhaltung bestimmter örtlicher Gebräuche
bestehen. Die Delegierten zur Sicherheit der Bergarbeiter sind zu hören, wenn
Be Ausnahmen infolge von Unfällen oder aus Sicherheitsgründen beansprucht
werden.
Der Unternehmer kann auf seine eigene Verantwortung in Fällen drohender
Gefahr die Dauer des Arbeitstages verlängern, unter Vorbehalt einer Genehmigung,
die er sofort bei dem Chefingenieur beantragen muß.“
Art. 5. Festlegung der Uebertretungen durch Protokolle mit Beweiskraft in
dreifacher Ausfertigung.
Art. 6. Uebertretungen werden bei der ersten Zuwiderhandlung durch das
Polizeigericht mit 5—15 frcs., im Wiederholungsfall durch das Strafgericht mit
16—100 fres. für jeden dem Gesetz widersprechend beschäftigten Arbeiter bestraft;
der Gesamtbetrag der Strafe darf jedoch im ersten Falle 500 fres., im zweiten
2000 fres. nicht übersteigen.
Allgemeine Vorschriften und Erläuterungen zur Durchführung dieses
Gesetzes enthält das Rundschreiben des Ministers für öffent-
liche Arbeiten an die Bergwerks-Chefingenieure vom
20. Oktober 1905. B. d. PO., S. 1009.
c) Staatsbetriebe.
Gesetz vom 14. November 1905, betr. Eröffnung eines Nachtrags-
kredites im Budget 1905 zum Zweck der Herabsetzung der täglichen
Arbeitsdauer in staatlichen Betrieben. Journ. off, 15. November.
Dem Finanzminister wird zum Zweck der finanziellen Durchführung der
Herabsetzung der täglichen Arbeitszeit in den Staatsbetrieben ein Nachtragskredit
von insgesamt 508200 fres. eröffnet.
d) Wäschereien,
Erlaß vom 4. April 1905, betr. Hygiene der Arbeiter in Wäsche-
reinigungsanstalten. B. d. rO., S. 354.
Nationalökonomische Gesetzgebung. 193
Er gibt technische Vorschriften, die hauptsächlich eine Schädigung der Arbeiter
durch die in gebrauchter Wäsche enthaltenen Stoffe durch unmittelbare Berührung
ohne Desinfektion oder Spülung verhüten sollen. Ergänzend bestimmt der
Erlaß vom 22. November 1905, betr. das Verbot der Kinder-
beschäftigung in Wäschereien, wo schmutzige Wäsche weder desinfiziert
noch ausgelaugt wird. Journ. off., 30. November; B. d. PO., S. 1108.,
daß Kinder unter 18 Jahren in Wäschereinigungsanstalten, in welchen die
Wäsche nicht im Sinne des obigen Erlasses behandelt wird, nicht beschäftigt
werden dürfen. — Der Erlaß ist eine Ergänzung zum Erlaß vom 13. Mai 1893 '),
betr. die Beschäftigung von Kindern und Arbeiterinnen bei gefährlichen Arbeiten.
V. Arbeitslosigkeit.
Für den Inhalt der Regierungsmaßnahmen zur Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit wird auf die im Kaiserl. Statistischen Amt bearbeitete
Denkschrift: „Die bestehenden Einrichtungen zur Versicherung gegen die
Folgen der Arbeitslosigkeit“ (Berlin 1906, Bd. 1, S. 260) verwiesen.
In Betracht kommen die Einsetzung einer Position von 110000 fres. in
das Finanzgesetz vom 22. April 1906 als „Subventionen für unfreiwillige
Arbeitslosigkeit“; die Einsetzung einer Kommission zur Vorbereitung
einer im Finanzgesetz vorgesehenen Verordnung (Erlaß vom 20. Mai
1905); der Erlaß vom 9. September 1905, betr. Subventionierung der
Arbeitslosenkassen (B. d. O., S. 870). Ferner seitdem der Erlaß des
Handelsministeriums vom 10. November 1905, betr. die Zusammen-
setzung der Kommission zur Vorbereitung der Verteilung des durch
Kap. 25 des Budgets für das Handelsministerium, Rechnungsjahr 1905,
eröffneten Kredites (Unterstützungen gegen unfreiwillige Arbeitslosig-
keit), (Journ. off, 13. November); der Erlaß des Handelsministers vom
28. Februar 1906 über die Festsetzung des Betrages der staatlichen
Zuschüsse an die Hilfskassen gegen unfreiwillige Arbeitslosigkeit und
ein Erlaß über Auszahlung der Zuschüsse vom 20. April 1906, wodurch
teilweise der Erlaß vom 9. September 1905 abgeändert wird (B. d.
lO., 1906, S. 277 bezw. 505).
3. Versicherungswesen.
Gesetz vom 17. März 1905, betr. die Ueberwachung und Beauf-
sichtigung der Lebensversicherungsgesellschaften und aller Unterneh-
mungen, in deren Geschäften die Dauer des menschlichen Lebens eine
Rolle spielt. Journ. off., 20. März.
Das Gesetz?) zerfällt in 5 Abschnitte: Titel 1 (obligatorische) „Eintragung
aller der französischen und ausländischen Unternehmungen, die Verträge ab-
schließen, deren Erfüllung von der Dauer des menschlichen Lebens abhängt.“ Ein-
tragung kann nur bei Gesetzesverletzung versagt werden. Titel 2. „Sicherheits-
leistungen“. Gesellschaftskapital u. a. muß für französische Aktien- und Kom-
1) Abgedruckt mit den seitherigen Ergänzungen in der übersichtlichen, metho-
dischen Sammlung: „Le code du travail annité“ von André und Guibourg, Paris
1905 (8. 265 flg.).
2) Vergl. die Darlegung der früheren und gegenwärtigen Rechtslage in: Zeitschr.
f. d. ges. Versicherungswissenschaft von Manes, Bd. 5, Berlin 1905, S. 609; efr. auch
den Aufsatz ebenda S. 399 über den Gesetzentwurf über den Versicherungsvertrag.
Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII). 13
194 Nationalökonomische Gesetzgebung.
manditgesellschaften mindestens 2 Mill. fres. betragen. Bestimmungen über
Gründungsfonds, Sicherheitsreserve, Prämienreserve u. a., Aufzählung der Materien,
für welche der „beratende Ausschuß für Lebensversicherungsanstalten“ Verwal-
tungsvorschriften zu erlassen hat. Dessen Zusammensetzung ordnet Titel 3:
„Ueberwachung und Beaufsichtigung“. Revision durch vereidigte staatliche Auf-
sichtskommissare. Ausländische Gesellschaften haben in Frankreich eine Nieder-
lassung zu errichten. Die Kosten der Aufsicht tragen die Unternehmungen.
Titel 4. „Strafbestimmungen“. Titel 5. „Uebergangsbestimmungen“. Ueber den
„beratenden Ausschuß“ vergl. Erlaß vom 17. März (Journ. off., 20. März); über
die Kommissare Erlaß vom 7. Mai (Journ. off., 13. Mai).
4. Landwirtschaft.
Außer den erwähnten Gesetzen über Sanitätspolizei und Fälschung
landwirtschaftlicher Produkte sowie einer Bestimmung des Budgetgesetzes
über Betrag der staatlichen Subventionen an Weinbauern erging das
Gesetz vom 14. Januar 1905, betr. die Zuerkennung und Höhe einer
Entschädigung bei Tötung von Tieren infolge Rotz oder Springwurm.
(Journ. off., 15. Januar.)
5. Kolonien.
Ueber die Verwaltungs- und wirtschaftlichen Gesetze und Verord-
nungen zur Förderung der einzelnen Kolonien vergl. den besonderen
Teil des angeführten „Annuaire de législation française“. Hier sei nur
hingewiesen auf den
Erlaß vom 1. März 1905, betr. die Anwendung der Bestimmungen
über Hygiene und Sicherheit der Arbeiter und der Maßnahmen zum
Schutz der Kinder und Frauen in Algerien. (Revue algérienne, 1905,
3e partie, S. 157; vergl. Bulletin des Internationalen Arbeitsamtes, Bd. 4,
S. 206.)
durch den die wesentlichen Bestimmungen der französischen Arbeiterschutz-
gesetzgebung auf die Gewerbe- und teilweise auch auf die Handelsbetriebe für
anwendbar erklärt werden. Als Zulassungsalter für gewerbliche Arbeit für euro-
päische Kinder gilt das 13., für eingeborene das 12. Jahr, die He Arbeitsdauer
wird für Jugendliche unter 18 Jahren auf höchstens 10 Stunden festgesetzt, die
Beschäftigung der unter 18, bezw. 16, bezw. 14 Jahre alten für einzelne Arbeiten
verboten ; ein wöchentlicher Ruhetag für alle unter 18 Jahre alten festgesetzt, die
Anzeigepflicht für Unfälle und eine Arbeitsinspektion angeordnet.
Miszellen. 195
Miszellen.
IV.
Die notwendigen Aenderungen unseres Etats-, Kassen-
und Rechnungswesens.
Von Regierungsrat Loeffler- Erfurt.
I. Der Band 27 dieser Jahrbücher enthält auf S. 365 ff. eine sehr
iesenswerte Abhandlung des früheren Eisenbahndirektionspräsidenten
Dieck, betitelt: Fiskalität und Bureaukratismus. Dieck führt an der
Hand treffender Beispiele aus, daß der Vorwurf der Fiskalität und des
Bureaukratismus, der jetzt häufig den Beamten gemacht würde, nicht
diese, sondern eigentlich die Gesetzgebung und die Verwaltungsvor-
schriften träfe. Die Instruktionen über das staatliche Etats-, Kassen-
und Rechnungswesen seien reformbedürftig. Dieck hält ihre Neurege-
lung für so wichtig, daß er eine besondere Kommission mit der Auf-
gabe betrauen will, neue Entwürfe für diese Instruktionen auszuarbeiten.
In diese Kommission sollen auch Landtagsabgeordnete und kaufmän-
nische Sachverständige berufen werden.
Wer, in der Praxis stehend, der Entwickelung des Etats-, Kassen-
und Rechnungswesens längere Zeit hindurch aufmerksam gefolgt ist,
der wird ohne weiteres anerkennen müssen, daß auf diesem Gebiete
manches nachzuholen ist. Nicht nur in der Fach- und sonstigen Presse,
auch in der Beamtenschaft selbst mehren sich die Klagen über die
Unzulänglichkeit dieser Materie. Namentlich aber hört man derartige
Klagen aus den Kreisen der Beamten, denen ihr Beruf nicht nur Hand-
werk ist, denen vielmehr das hoch anzuerkennende Streben innewohnt,
in den Geist und das Wesen des Organismus hineinzuschauen, dem
sie mit dem ganzen Herzen und der angestammten deutschen Pflicht-
treue dienen. In erster Reihe kommen diese Reformvorschläge aus der
Beamtenschaft der großen Verkehrs- und Stadtverwaltungen, deren Auf-
gabe mit jedem Tage eine größere, bedeutungsvollere wird.
So mannigfach die Klagen über Rückständigkeit sind, so zahlreich
sind auch die Vorschläge zur Abhilfe. Hier will man Weitschweifig-
keiten und formelle Umständlichkeiten in der Buchführung und Rech-
nungslegung beseitigen, dort will man das Kontrollsystem ändern und
den Technikern mehr Einfluß auf die Entscheidungen der obersten Revi-
sionsbehörden einräumen. Andere wieder erwarten das Heil von der
13*
196 Miszellen.
Einführung mehr kaufmännischer Gesichtspunkte in Verwaltung und
Koutrolle.
Alle diese Vorschläge entspringen, wie es den Anschein hat, mehr
dem Gefühl der Unzulänglichkeit des Bestehenden, als einer klaren
Erkenntnis der Sachlage selbst. Nicht mit kleinen und kleinsten Maß-
nahmen wird man das Ziel erreichen, es wird, wenn Wandel geschaffen
werden soll, ein neues System aufgestellt und durchgeführt werden
müssen.
Daß die Sachlage aber auch bei den Regierungen bekannt ist und
in neuerer Zeit immer mehr gewürdigt wird, ist zweifellos. So sind,
ganz abgesehen von der als mustergültig dastehenden, von großen Ge-
sichtspunkten ausgehenden Finanzorganisation der preußischen Staats-
eisenbahnverwaltung, neuerdings auch in mehreren anderen Verwaltungs-
zweigen — z. B. der Justiz cf. den Artikel in No. 19 der Monatsschrift
für deutsche Beamte vom 1. Oktober 1906, S. 321 — Bestrebungen
hervorgetreten, die als gute Anfänge zur Besserung bezeichnet werden
müssen. Namentlich ist, wie ich aus dem mir von der Reichsdruckerei-
direktion in dankenswerter Weise zur Verfügung gestellten Material
(Dienstordnungen I bis IV, Anweisung zur Rechnungslegung u. s. w.)
ersehe, in den letzten Jahren unter Mitwirkung und auch wohl auf
Anregung des Rechnungshofes des Deutschen Reiches die Buchführung
und das Rechnungswesen der Reichsdruckerei von Grund aus neu ge- |
regelt, und zwar meines Erachtens mit einem so günstigen Erfolge,
daß diese Neuordnung den Ausgangspunkt, das Musterbeispiel für die
Reorganisation dieser Disziplinen in anderen Verwaltungszweigen bil-
den wird.
Es ist, besonders in letzter Zeit nach den Kolonialdebatten, dem
Rechnungshofe der Vorwurf der Rückständigkeit gemacht worden. Man
vergleiche insbesondere den Artikel in No. 291 der Frankfurter Zeitung
vom 21. Oktober 1906: „Oberrechnungskammer und Rechnungshof“,
der in dem Ausruf gipfelt: „Wichtiger als die Reorganisation des
Kolonialamts ist die der Oberrechnungskammer und des Rechnungs-
hofes.“
In dieser krassen und allgemeinen Form ist der Vorwurf zweifels-
ohne ungerechtfertigt.
Man studiere nur die oben angeführten, vom Rechnungshofe ge-
schaffenen oder inspirierten Grundsätze für die Neuregelung der Finanz-
organisation der Reichsdruckerei, und man wird in Zukunft mit seinem
Urteil vorsichtiger sein.
Auch der Hinweis, daß eine gründliche, sachliche und materielle
Etatsprüfung durch die höchste Revisionsbehörde nicht möglich ist,
wegen ihres rein juristischen Charakters, ist verfehlt. Volle Anerken-
nung dem Verwaltungstalent der Vertreter anderer Stände, insbesondere
auch unserer Großkaufmannschaft ; aber das, was der Rechnungshof für
die Reichsdruckerei durch seine juristischen Mitglieder geschaffen hat,
spricht deutlich dafür, daß auch die Juristen „moderne“ Anschauungen
vertreten und wirtschaftliche Fragen mit allem Verständnis behandeln
und beurteilen können, namentlich, wenn sie vor ihrem Uebertritt zur
Miszellen. 197
Revisionsbehörde einige Jahre in großen Reichs- und Betriebsverwal-
tungen — ich denke hier namentlich an die Militär-, Marine- und
Eisenbahnverwaltung — praktisch gearbeitet haben.
Mitglieder einer Behörde, die so „moderne“ „praktische“ Verwal-
tungsarbeit liefern, sind wohl imstande, auch weiterhin reorganisierend
bei sich und anderen Verwaltungen einzuwirken. Vielleicht wird es
nur darauf ankommen, dem Rechnungshofe für seine Tätigkeit gesetzlich
etwas mehr Bewegungsfreiheit zu verschaffen, wiewohl man auch der
Ansicht sein kann, daß er schon bei der heutigen Rechtslage die
Mittel hierzu in der Hand hat. Denn der $ 12 des auch für den
Rechnungshof gültigen Oberrechnungskammergesetzes vom 27. III. 1872.
(G.S. S. 278) bestimmt: „Die Revision der Rechnungen ist außer der
Rechnungsjustifikation noch besonders darauf zu richten:
b) ob und wo nach den aus den Rechnungen zu beurteilenden
Ergebnissen der Verwaltung zur Beförderung des Staatszweckes
Abänderungen nötig und ratsam sind“ — d. h. Abänderungen der Ge-
setze, Verwaltungsvorschriften und Verwaltungsgrundsätze (cf. Hue de
Grais: Handbuch d. Verfassung u. Verwaltung 11. Aufl. $ 120).
Literarisch ist die Frage der Reform unseres staatlichen Etats-,
Kassen- und Rechnungswesens bis jetzt am eingehendsten meines
Wissens in einer Schritt von Otto Hoevermann: „Zur Reform des Etats-
Kassen- und Rechnungswesens“, Verlag von Friedrich Cohen, Bonn
1905, erörtert und geprüft.
Der Verfasser, ein in der Praxis stehender Beamter — H. ist
Rendant und Quästor der Universität Bonn — nennt sein in fach- und
sachkundigen Kreisen durchweg günstig beurteiltes Buch einen „Ver-
such einer kritischen Besprechung und einer Entwickelung von Ab-
änderungsvorschlägen“.
Mir scheint nicht nur, daß der Versuch in der Hauptsache als
völlig gelungen angesehen werden muß, sondern daß schon mehr als
ein Versuch vorliegt. Man braucht nicht mit allen Ausführungen und
Vorschlägen des Verfassers einverstanden zu sein um die Bedeutung
der vielseitigen und wertvollen Anregungen rückhaltslos anzuerkennen.
Auch Hoevermann, der bei seinen Ausführungen hauptsächlich die
preulischen Verhältnisse berücksichtigt, schlägt — ebenso wie oben
Dieck — in seinem Schlußwort vor, zur Klarstellung der in Frage
stehenden notwendigen Verbesserungen zunächst eine „Spezialstudien-
kommission“ einzusetzen. Diese würde nach seiner Meinung am besten
vielleicht der ÖOberrechnungskammer angegliedert werden, da diese
die Technik u. s. w. aller Ressorts am vollständigsten zu übersehen
imstande ist. Im Reiche liegen die Verhältnisse ähnlich.
Wer jemals in Kommissionen gearbeitet hat, wird Dieck und
Hoevermann beipflichten, daß derartige große, organisatorische Fragen
nur im Schoße einer Sachverständigenkommission beraten und geprüft
werden können. Nur beim gegenseitigen mündlichen Gedankenaustausch
kann ein brauchbarer Entwurf für ein neues System, das wie oben aus-
geführt, in dieser Disziplin nötig ist, entstehen.
Für die vorliegenden Zwecke würde noch ein unmittelbares, enges
198 Miszellen.
Zusammenwirken mit den zuständigen Behörden, der Oberrechnungs-
kammer und dem Rechnungshofe, den Erfolg der Arbeit beschleunigen
und fördern.
Man wende nicht ein, daß das Resultat der Kommissionsberatungen
nur theoretischen oder gar nur „papierenen“ Wert haben werde, und
daß finanzielle Erfolge nicht herausspringen würden: Ein derartiges Ur-
teil wäre kurzsichtig und unbegründet.
Man vergegenwärtige sich nur den eminenten materiellen Gewinn,
den die oben erwähnte vorzügliche Finanzorganisatiop der preußischen
Staatseisenbahnverwaltung dieser Behörde und somit dem gesamten
Staate Preußen gebracht hat!). Jedem, der bei einer großen Verwal-
tung tätig ist und die wirtschaftliche Seite ihrer Tätigkeit scharf
beobachtet, prüft und zusammenfaßt, ist es klar, daß sich in der Durch-
führung der Verwaltung wieder und immer wieder noch mancher-
lei sparen läßt, unbeschadet der gründlichen und sachgemäßen Aus-
führung. Ein scharf durchgearbeitetes und auf der Grundlage der
„Wirtschaftlichkeit“ aufgebautes Etats-, Kassen- und Rechnungswesen
ist aber der Kristallisationspunkt für eine ökonomisch geleitete Ver-
waltung.
Deshalb muß zur Hebung der einzelnen Ressorts in wirtschaft-
licher Beziehung der Hebel bei dem Etats-, Kassen- und Rechnungswesen
dieser Behörde eingesetzt werden. Man muß sach- und fachkundigen
Rechnungsbeamten die Möglichkeit verschaffen, in das Getriebe der
einzelnen Behörden hineinzusehen, um durch großzügige Ausgestaltung
ihrer Wirtschaftsführung den Grundstein zu legen für eine in finanzieller
Beziehung erfolgreichere Tätigkeit dieser Behörde.
à Es sei mir gestattet, in folgenden Zeilen einige Gedanken etats-
rechtlicher und verwaltungs-(finanz-)technischer Natur niederzulegen,
die nach dieser Richtung hin vielleicht gelegentlich verwertet werden
können.
II. Die Entwickelung des Etats-, Kassen- und Rechnungswesens
ist dem Aufschwunge, den Technik und Verkehr genommen haben, nicht
ausreichend gefolgt. Dies zeigt sich namentlich auch in der Wirtschafts-
führung bei den sogenannten Hilfs- und Nebenbetrieben. (Eigene
Schlosserei, eigene Druckerei, eigene Wäscherei u. s. w.) Diese Er-
scheinung ist an sich wunderbar, da gerade viele Hilfsbetriebe durch
diesen Aufschwung überhaupt erst hervorgerufen sind und ferner, weil
auf anderen Gebieten der Einfluß der vervollständigten Technik und
des gesteigerten Verkehrs so groß war, daß sich alle Verwaltungs-
einrichtungen ihm fügen und anpassen mußten.
Der Hauptgrund dieser nicht ausreichenden Ergänzung des Etats-,
Kassen- und Rechnungswesens liegt meines Erachtens darin, daß in den
1) Ein sehr anschauliches Bild über die finanziellen Vorteile dieser Organisation
— ihre Hauptgrundsätze sind: vereinfachte Formen der Verwaltung, eingreifende
Umgestaltung des Etats-, Kassen- und Rechnungswesens, und einheitliche Regelung des
inneren Geschäftsbetriebes — gewinnt man durch das Studium des im Jahre 1901 an
Se. Majestät vom Arbeitsministerium erstatteten Berichts: Die Verwaltung der öffent-
lichen Arbeiten in Preußen 1590—1900. Berlin, Julius Springer, 1901.
Miszellen. 199
Volksvertretungen nicht immer mit der nötigen Sachkenntnis und Ruhe
verhandelt wird. Die partei-politische Zersplitterung läßt es in vielen
Fällen zu einer tieferen Erörterung der etatsrechtlichen und wirtschaft-
lichen Frage selbst nicht kommen, führt vielmehr nicht selten zu einer
eingehenden Besprechung minderwertiger Fragen, die aber die breite
Oeffentlichkeit mehr interessieren. Außerdem sind aber bei der augen-
blicklichen Zusammensetzung der Parlamente wohl nur wenige ihrer Mit-
glieder imstande, die wirtschaftliche Seite mancher Fragen, insbesondere
aber die Etats-, Kassen- und Rechnungstechnik zutreffend zu beurteilen.
Ein zweiter Grund ist der, daß die Verwaltungsstellen unter sich und mit
den obersten Kontrollbehörden nicht durchweg die nötige enge Fühlung
haben, ohne die ein gedeihliches Zusammenwirken nicht denkbar ist.
Sie stehen sich oft wie feindliche Brüder gegenüber und sollten doch
Hand in Hand miteinander arbeiten, um das allgemeine Ziel nicht aus
dem Auge zu lassen. Auch in der nicht leichten Anpassungsfähigkeit
der derzeitigen staatlichen Buch- und Rechnungsführung sind die be-
klagten Rückständigkeiten begründet. Neue Verhältnisse, ganz gleich,
ob staatsrechtlicher oder ökonomischer Natur, erfordern die Aufstellung
neuer Grundsätze auch auf dem Gebiete des Rechnungswesens.
Hier gilt es jetzt einen Mangel auszugleichen. Dabei wird man
nicht streng an den bisherigen Normen und Gepflogenheiten festhalten
können, wenn Gedeihliches geschaffen werden soll. Man wird z. B. —
natürlich unter Beobachtung der Rechtslage oder auch nach Aenderung
der Gesetze — die sachlichen und wirtschaftlichen Momente
den formalen, äußerlichen gegenüber mehr in den Vordergrund
rücken müssen, und zwar nicht nur bei den Verwaltungen selbst, son-
dern auch bei Ausübung der Kontrolle.
Das neue System des Kassen- und Rechnungswesens muß einerseits
so beweglich eingerichtet werden, daß es den Aenderungen und Er-
weiterungen des Betriebes leicht folgen kann. Andererseits muß es
aber auch Einheitlichkeit in das Rechnungswesen der verschiedenen
Verwaltungszweige bringen und zugleich eine gleichmäßige und
zutreffende Beurteilung ihrer Wirtschaftsführung er-
möglichen und sicherstellen.
Hierzu ist aber vor allem ein planmäßiges Zusammenfassen und
eine fortdauernde Aufzeichnung der Wirtschaftsergebnisse erforder-
lich, weil es nur auf Grund ziffermäßiger Feststellungen möglich ist,
in den Kern der Sache einzudringen, Wesentliches vom Unwesentlichen
zu unterscheiden und beides angemessen zu bewerten. Die Rückständig-
keit des heutigen Rechnungswesens äußert sich weiterhin in einem ge-
legentlichen Versagen der Rechnungs- und der Verwaltungskontrolle.
Dies wird dem aufmerksamen Beobachter, besonders dem in der Ver-
waltungspraxis stehenden, der den Gegenstand in der Tagespresse und
in den Fachzeitschriften verfolgt, kaum entgehen. Ich will zum Be-
weise hier auf die Unterschlagungen von Altmaterial bei der Eisenbahn
hindeuten, und auf die Vorwürfe, die unserer Kolonialverwaltung und
der sie kontrollierenden Behörde gemacht sind. Der günstigste Fall
ist noch der, daß die Revisionstätigkeit der obersten Kontrollbehörden
200 Miszellen,
nur unnötig erschwert wird. Schlimmer ist es, wenn durch diese Uebel-
stände ein tatkräftiges Eingreifen der Revisionsbehörden verhindert
wird, dafür aber ein unsicheres Tasten in der Monitur und in der Ent-
scheidung eintritt, oder wenn die Verwaltungsbehörden in der Notaten-
beantwortung nicht viel mehr als allgemeine Redensarten machen. Auch
hier wird meines Erachtens allein ein planmäliges Zusammenfassen
und fortlaufendes Aufzeichnen der Rechnungsergbnisse Wandel schaffen
und dazu führen können, daß die Revisionsbehörden nicht genötigt sind,
zahlreiche, oft unerhebliche Erinnerungen zu ziehen und viele, meistens
ergebnislos verlaufende Anfragen zu stellen, deren Beantwortung viele
Schreibereien und unnötige Kosten verursacht. Die Behörden werden
sich vielmehr darauf beschränken können, nur bei größeren Differenzen
Erinnerungen zu ziehen, dann aber auch deren eingehende, auf greit-
baren Unterlagen beruhende Beantwortung verlangen dürfen.
Wie jetzt die Verhältnisse liegen, begibt sich die Kontrollbehörde,
indem sie zuweilen den Faden aus der Hand verliert, ihres Rechts
der Verwaltungskontrolle in nicht geeigneter Weise. Denn sie
läßt es vielfach zu, nicht in die Lage versetzt zu werden, die finau-
ziellen Ergebnisse einer Verwaltungseinrichtung zutreffend beurteilen
zu können. Und was noch bedeutsamer ist, sie muß es oft mit an-
sehen, nicht prüfen zu können, ob die bewilligten Mittel auch gerade
für den vorgeschriebenen Zweck notwendig waren und gebraucht sind.
Und doch ist für das Finanzwesen eines Staates eine streng durchge-
führte Verwaltungskontrolle überaus wichtig. Durch sie soll nicht nur
die Legalität der Geschäftsführung dargetan werden, nicht nur nach-
gewiesen werden, daß der gesamte Betrieb mit den Gesetzen, den Etats,
den Erlassen und Reskripten im Einklang steht; auch auf dieZweck-
mäßigkeit der getroffenen Anordnungen hat sich die Verwaltungs-
kontrolle zu erstrecken.
Mit anderen Worten: sie muß sich stets die Frage beantworten,
ob unter den verschiedensten Möglichkeiten zur Erreichung eines be-
stimmten Zweckes der gerade eingeschlagene Weg der angemessenste,
auch in finanzieller Beziehung, gewesen ist. Von einer so weit ausge-
dehnten Verwaltungskontrolle soll ferner auch die Anregung zu
zweckmäßigen Aenderungen ausgehen. Die mit ihr betraute
höchste Revisionsinstanz ist fernerhin sozusagen ein Zwischenglied
zwischen der ausführenden Gewalt (der Staatsgewalt) und der
gesetzgebenden Gewalt (Parlament). Diese letztere so eminent
wichtige‘ Seite der Verwaltungskontrolle scheint sich mehr und mehr
verwischt zu haben. Das Bedürfnis, sie wieder aufzufrischen, tritt z. Z.
lebhafter hervor, besonders auch in parlamentarischen Kreisen. Ich
beziehe mich zum Beweis hierfür auf die Rede des Abgeordneten
Bachem in der Reichstagssitzung vom 25. April 1906. Hier weist
Bachem hin auf die unzulängliche Kontrolle des Rechnungswesens durch
die parlamentarische Rechnungskommission, und er wirft dabei den
Gedanken auf, ob es nicht in der Zukunft notwendig sein wird, eine
„selbständige Behörde zur Vorprüfung der etatswidrigen
Ausgaben“ einzusetzen, sozusagen ein „Nebenparlament“, das
Miszellen. 201
dem Reichstage einen Teil seiner Aufgabe abnehmen, oder wenigstens
sachgemäß vorprüfen könnte. Der Reichstag hat sich schon wiederholt,
zuletzt im Jahre 1903, mit der schwierigen Stellung beschäftigen müssen,
welcher die parlamentarische Rechnungskommission bei der Klarstellung
von Etatsüberschreitungen ausgesetzt ist. Die Rechnungskommission
des Reichstages erhält bekanntlich bei ihren Anfragen über Etatsüber-
schreitungen nur Antwort von dem angegriffenen Sachressort selbst,
und nicht von der eigentlichen Finanzverwaltung, dem Reichsschatzamt
oder ihrem Chef, dem Reichskanzler. Ganz anders in Preußen. Hier
vertritt das Finanzministerium bei seiner selbständigen Stellung gegen-
über den übrigen Ressorts eventuell ohne Bedenken eine von der An-
sicht des Sachressorts abweichende Auffassung. Hierdurch setzt es die
Rechnungskommission des Landtags in die Lage, sich ein zutreffendes
Bild von der Sachlage zu schaffen und geeignete Anträge an das Haus
zu stellen. Es ist klar, ‘daß infolgedessen die Kontrolle der Rechnungs-
kommission des Landtags eine erhöhte Bedeutung hat, die Herr Bachem
für den Reichstag schmerzlich vermißt, und die er durch das vor-
erwähnte „Nebenparlament“ ersetzen will. Ich glaube, die Reichs-
regierung wird gut tun, diesen Gedanken des Abgeordneten Bachem
aufzunehmen und für sich weiter zu verfolgen. Es ist hier in liebens-
würdiger, aber entschiedener Weise zum Ausdruck gebracht, daß die Parla-
mentarier befreit sein wollen von dem unsicheren Gefühle, daß die derzeitige
Rechnungskontrolle den Verhältuissen nicht gewachsen ist. Ich über-
gehe die Unstimmigkeiten, die sich bei und nach der Erörterung des
Kolonialetats für 1906 ergeben haben, und die wohl die Veranlassung
bilden werden, daß die von Herrn Bachem berührte Frage in der
nächsten Session erneut aufgeworfen und noch höhere Bedeutung ge-
winnen wird. Auch die Stimme der Presse, die sich gleichfalls mit
der Frage der Neuregelung unseres Etats-, Kassen- und Rechnungs-
wesens beschäftigt hat, will ich in diesem kurzen Rahmen nicht an-
ziehen und einzeln erörtern. Es mag genügen, wenn ich hervorhebe,
daß es sehr anzuraten ist, die in den oft vorzüglichen Zeitungsartikeln
niedergelegten Gedanken sachverständig zu sichten und bei der Durch-
führung der Reform zu benutzen.
III. Schon oben hob ich hervor, daßsich die mangelnde Entwickelung
des Etats-, Kassen- und Rechnungswesens besonders bei den Hilfs- und
Nebenbetrieben der Staatsverwaltungen gezeigt hat. Derartige Betriebe
entstehen immer mehr und mehr. Fast keine größere Verwaltung
kann ohne sie auskommen, da die Notwendigkeit der Verhältnisse sie
geschaffen hat. Diese Hilfsbetriebe sind, um sie kurz zu definieren,
solche betriebliche Einrichtungen einer Verwaltung, die an sich mit den
eigentlichen Aufgaben dieser Verwaltung nichts zu tun haben, die aber
als Teile — rechtlich und wirtschaftlich — der Verwaltung aufgefaßt
werden müssen, und zwar entweder aus Zweckmäligkeits- und anderen
Gründen, oder weil sie mit den in Frage stehenden Verwaltungs- oder
Betriebszweigen so eng zusammenhängen, daß sie notwendigerweise von
eigenem Personal bedient werden müssen, wenn die Sicherheit und Regel-
mäligkeitdes Betriebes nicht leiden soll. Hauptsächlich kommen hier in Be-
202 Miszellen.
tracht: eigene Druckereien (auch Fahrkartendruckereien), eigene Fuhr-
haltereien, Wäschereien, eigene Stellmachereien und Tischlereien, eigene
Schlossereien und Schmieden, eigene Klempnereien, eigene Schriftgießereien
und Buchbindereien, Papierfabriken, Fahrradwerkstätten u. s. w. Ferner
werden dazu zu rechnen sein Arbeiten zur Instandhaltung von Gas- und
Wasserleitungsanlagen, sowie besondere Anlagen maschineller Art zur Er-
zeugung von Gas, Dampf und elektrischer Kraft zu Beleuchtungs- und
anderen Zwecken, z. B. Sammelladestellen zur Beleuchtung der Bahnpost-
wagen, Hebewerke, Schiebebühnenanlagen u.s. w., auch Badeeinrichtungen,
überhaupt Wohlfahrtseinrichtungen für das Personal. So zweckmäßig und
wirtschaftlich vorteilhaft die staatlichen Nebenbetriebe bei sachgemäßer
Verwaltung sein können, und obwohl ihr Kreis von Jahr zu Jahr sich
erweitert, nur wenige Verwaltungen haben bis jetzt die finanzielle
Bedeutung dieser Hilfsbetriebe gewürdigt und für eine sachverständige
Rechnungskontrolle gesorgt. Denn naturgemäß paßt diese Neuerscheinung
nicht in den Rahmen der alten Rechnungskontrollschemas. So sind
diese Hilfsbetriebe z. B. nur zum kleinen Teile etatisiert. Infolgedessen
herrschen über Umfang und Kosten dieser Hilfs- und Nebenbetriebe
wohl durchweg ganz unrichtige Vorstellungen, auch ist wahrscheinlich
sowohl innerhalb der Verwaltungen selbst, als auch bei den obersten
Kontrollbehörden die Revisionstätigkeit bezüglich dieser Betriebe nicht
unerheblich erschwert; durch diese Mängel werden Unwirtschaftlich-
keiten, ja sogar Unterschleife begünstigt. Sehr oft wird z. B. zur
Dotierung dieser Einrichtungen aus verschiedenen Fonds geschöpft, und
da eine ausreichende Kontrolle über die Notwendigkeit der Aus-
gaben der Revisionsbehörde wegen der fehlenden gesetzlichen Unterlagen
nicht gut möglich ist, so sind etatswidrige Ausgaben nicht allzu selten.
Deshalb sind Einrichtungen nötig, die eine angemessene Kontrolle auch
dieser neuen Zweige der Staatsverwaltungen sichern. Man wende nicht
ein, daß der Revisionsbeamte diese Etatsüberschreitung bei genügender
Sorgfalt finden müsse. Obwohl die Rechnungen innerlich oft zusammen-
hängen, so ist es doch bei dem Umfange des zu revidierenden Materials
wohl nicht zu umgehen, daß mehrere Revisoren an derselben Rechnung
arbeiten müssen.
Kein Großkaufmann würde in dieser Weise seine Hilfsbetriebe
hintenansetzen, schon allein aus der Erwägung heraus, daß er ohne
genaue Kontrolle nicht beurteilen kann, ob er bei diesen Hilfsbetrieben
mit Gewinn oder Verlust arbeitet. Deshalb wird jeder Leiter eines
größeren kaufmännischen Geschäfts, namentlich aber jeder Fabrikleiter
eine seiner Hauptaufgaben darin erblicken, seine Buch- und Rechnungs-
führung so zu organisieren, daß Abweichungen von seinen Plänen,
Normen und Grundsätzen baldigst in die Erscheinung treten müssen.
Dasselbe gilt für den Staat, für den der bedeutende Minister und
Finanzorganisator v. Thielen den Grundsatz aufstellte, daß er eigentlich
von jedem Pfennige, den er irgendwo investiere, Erträge verlangen,
jedenfalls aber Rechenschaft zu geben imstande sein müsse (cf. Reichs-
tagssitzung vom 25. Februar 1899, Drucksachen, Seite 1130/31). So-
weit wird man nicht zu gehen brauchen, um auch hier für die staatlichen
Miszellen. 203
Hilfs- und Nebenbetriebe eine klare Buch- und Rechnungsführung für
nötg zu halten. Für den Staat erzeugt diese Verquickung der Ein-
nahmen und Ausgaben für die Hilfsbetriebe mit dem allgemeinen Ver-
waltungsetat noch den Uebelstand, daß letzterer unliebsamen Schwankungen
ausgesetzt ist. Daher haben meines Wissens auch wohl alle Stadt-
verwaltungen für ihre Nebenbetriebe — Krankenhaus, Elektrizitätswerk,
Schlachthof u. s. w. — besondere Etats eingerichtet, oder ihnen wenigstens
im Hauptetat besondere Titel und Positionen gewidmet. Es erscheint
daher für die Staatsverwaltung der Erwägung wert, zu prüfen, ob es
nicht notwendig und zweckmäßig sein würde, für alle bei den Staats-
verwaltungen bestehenden Hilfs- und Nebenbetriebe in dem Etat ge-
setzliche Unterlagen zu schaffen. Die Regelung dieser Frage ist, so-
weit mir das Material zur Verfügung stand und ich es zu übersehen
vermag, bis jetzt am weitesten bei der Reichspostverwaltung gediehen,
deren früher lange Zeit als vorbildlich angesehenes Kassen- und
Rechnungswesen in dem letztvergangenen Jahrzehnt der Entwickelung
des Verkehrs u. s. w. — es sei nur an die erstaunliche Zunahme des
Telegramm- und Fernsprechverkehrs erinnert — ebenfalls nicht aus-
reichend gefolgt zu sein scheint. Die Postverwaltung hat sich mindestens
eine gesetzliche Unterlage für ihre Hilfs- und Nebenbetriebe dadurch
verschafft, daß sie im Etat für das Rechnungsjahr 1906 das Dispositiv
entsprechend ergänzte (cf. Bemerkung S. 26/27 zu Titel 62 des Postetats
für 1906).
Man wird daher in der Annahme wohl nicht fehl gehen, daß in
Verbindung damit auch die Buchführung und Rechnungslegung über
diese Betriebe entsprechend ausgestaltet sind.
Eine zweite Frage wäre es, zu prüfen, ob es nicht im staatlichen
Interesse angebracht sei, weitere Hilfs- und Nebenbetriebe zu schaffen,
ungeachtet der zum Teil entgegenstehenden politischen und verwaltungs-
technischen Schwierigkeiten (Ausschaltung des Privatbetriebs, schwierige
Beschaffung des nötigen sachverständigen Personals u. s. w.).
Ich will hier nicht den alten unentschiedenen Streit über die
Regiebetriebe überhaupt eingehend erörtern. Aber wenn sie selbst
teurer arbeiten sollten als die Privatbetriebe, so sind sie doch insofern
vorteilhaft, als sie ein Gegengewicht gegen die Ausbeutung des Staates
durch Privatunternehmen bilden, abgesehen davon, daß sie als „Muster-
betriebe“ auch einen ideellen Nutzen stiften.
Voraussetzung bei allen Regiebetrieben ist aber, daß sie ständig
gut überwacht werden und daß sie gut organisiert sind, das letztere
auch in wirtschaftlicher Beziehung.
Deshalb ist es notwendig, daß dort, wo Hilfs- und Nebenbetriebe
eingerichtet sind, für das Gebiet des Kassen- und Rechnungswesens
dieser Betriebe, sowie für die Wirtschaftskontrolle derselben gut unter-
richtete Praktiker leitend bestellt werden, die nicht kleinlich, sondern
nach großen Gesichtspunkten verwalten. Ist aber unter dieser Voraus-
setzung bei den in Rede stehenden Verwaltungsbetrieben ein Hilis-
oder Nebenbetrieb überhaupt angebracht, so wird auch ein guter finan-
204 Miszellen.
zieller Erfolg und mithin eine günstige Einwirkung auf die gesamte
Staatsverwaltung nicht ausbleiben.
IV. So wenig die Bedeutung des Etats-, Kassen- und Rechnungs-
wesens für das breite Publikum in die Erscheinung tritt, so liegt doch
in seiner sachgemäßen Ausgestaltung der Hebel zur übersichtlichen,
sparsamen und zielbewußten Wirtschaftsführung und damit zu einem
finanziellen Erfolg oder Mißerfolg. Eine genaue, sachverständige Durch-
arbeitung des Etats-, Kassen- und Rechnungsweseus wird daher auch
dem Reiche und den Einzelstaaten eine Handhabe bieten, ihre Mittel
zu erhöhen. Bei dieser Reform müßte eine Besserung des Bestehenden
angestrebt werden mit folgendem Ziele:
„Die gesamte Wirtschaftsführung bei den einzelnen Reichs- und
Staatsverwaltungszweigen ist durch genaues Eindringen in die Einzel-
heiten des Betriebs klarzulegen und in festere Bahnen zu
lenken; bei der Ausführung ist sparsamer zu verwalten.“
Geeignete Mittel hierzu wären unter anderen folgende:
a) Zunächst müßte zum Prinzip erhoben werden, daß alle wirt-
schaftlichen Vorgänge sofort und genauer aufgezeichnet würden !), und
zwar der Wirklichkeit entsprechend, und an der Stelle, wo sich
der wirtschaftliche Vorgang abspielt. Erreicht wird hierdurch, daß
derartige Aufzeichnungen in Verbindung mit den Jahresrechnungen einen
klaren Ueberblick über die Rentabilität des betreffenden Verwaltungs-
zweiges und die Geschäftsführung der Verwaltung bieten.
b) Die Bücher der Kasse müssen ferner so zweckmälig eingerichtet
sein, daß sie in ihren Schlußresultaten zugleich die Unterlagen bieten
für Uebersichten, die zu den verschiedenartigsten Verwaltungs- und
Betriebszwecken nötig sind, insbesondere z. B. auch zur Etatsauf-
stellung und zu statistischen Zwecken 2).
c) Unbedingt notwendig ist weiter, ähnlich wie bei der Staats-
eisenbahnverwaltung und der Reichsdruckerei, die zweckentsprechende
Ausgestaltung der Kontrolleinrichtungen bei den Verwaltungsbehörden
selbst und eine Vertiefung der Revisionseinrichtungen. Man wird diese
Revisionsstellen so organisieren müssen, daß sie, wenn ich mich so aus-
drücken darf, eine „kleine Oberrechnungskammer für sich“ darstellen.
Der idealste Zustand wäre der, daß diese Prüfungsstellen schon wäh-
rend der Ausführung des Geschäftsvorganges selbst in Tätigkeit treten
würden. Nicht bei allen Verwaltungen wird sich dies einrichten lassen;
aber auch eine spätere Revision noch im Laufe des Etatsjahres wird
segensreich wirken.
d) Doch nicht nur klar und in feste Grundformen gegossen muß
die gesamte Wirtschaftsführung sein, auch das Prinzip der „verständigen
Sparsamkeit“ muß in ihr zum Ausdruck kommen. Was man hierunter
zu verstehen hat, darüber gibt § 5 Abs. 3 im Teil I der Finanzordnung
der preußischen Staatseisenbahnverwaltung am zutreffendsten Aufschluß,
welcher bestimmt: „Dabei — d. h. bei einer verständigen Wirtschatts-
1) Als Muster vgl. Dienstord. I der Reichsdruckerei.
2) Als Muster vergl. wieder die Dienstord. der Reichsdruckerei I $ 4 Abs. 4.
u
Miszellen, 205
führung — dürfen selbstverständlich nicht kleinliche Rücksichten walten,
vielmehr soll... durch umsichtige und wohldurchdachte Maßnahmen,
durch Herstellung von gediegenen Anlagen, durch Vorhaltung eines tüch-
tigen, allen Anforderungen entsprechenden Personals u. s. w, bei voller
Aufwendung der erforderlichen Mittel die sichere und zweckmälige Be-
triebstührung, sowie eine geordnete Verkehrsleitung gewährleistet . .
werden.“
Um aber diesem Grundsatze zum Siege zu verhelfen, ist die Aut-
stellung von Wirtschaftsplänen und das frühzeitige Einsetzen der
Revisionstätigkeit dringend nötig. Besonders der letzteren möchte ich
auch nach dieser Richtung hin große Bedeutung beimessen. Die ver-
ständig gegebenen Anregungen der Revisionsstelle würden auch stets
von der ausführenden Stelle richtig aufgefaßt werden, und eine unschätz-
bare Quelle vernünftiger Sparsamkeit sein. Vorbildlich können — wie
schon oben erwähnt — auch hier wieder die Eisenbahnverwaltung und
die Reichsdruckerei genannt werden. Bei der ersteren ist es eine er-
probte Tatsache, daß durch dieses Verfahren auf das Personal selbst
erzieherisch eingewirkt ist, indem bei ihm das Verständnis für die
wirtschaftlichen Aufgaben der Eisenbahnverwaltung erleichtert
und vertieft, der Sinn für Sparsamkeit geweckt und gefördert, und das
Verantwortlichkeitsgefühl geschärft wurde. Ohne Zweifel werden die-
selben günstigen Resultate jetzt auch bei der Reichsdruckerei in Er-
scheinung treten, nachdem auch bei ihr die Revisionstätigkeit
zweckentsprechend organisiert ist (vgl. Dienstord. für die
Reichsdruckerei I 8$ 17, 18 u. 19).
V. Auf dieser oder einer ähnlichen Grundlage müßte die Wirt-
Schaftsführung bei Staats- und Reichsbehörden neu gestaltet werden.
Hand in Hand hiermit werden Vereinfachungen anzustreben und
erreichbar sein, die aber gleichfalls nach einheitlichen großen Gesichts-
Punkten vorzunehmen wären. Sie würden sich in der Hauptsache auf
die Rechnungslegung, die Buchführung, sowie den Geldabrechnungs-
verkehr der Staats- und Reichsbehörden untereinander beziehen.
Auch in dieser Beziehung wird als Muster die vom Rechnungshofe
des Deutschen Reichs im Juni 1906 für die Reichsdruckerei heraus-
&egebene neue „Anweisung zur Rechnungslegung“ dienen können, die
kurz und klar bestimmt, wie die Reichsdruckerei über ihren Verkehr
an Geld, Materialien und Erzeugnissen Rechnung zu legen und sich
d abei über ihren Vermögensstand und ihren Ertrag auszuweisen hat.
In dieser Anweisung sind viele von den nach obigen Darlegungen
a Es zur Vereinfachung der Buchführung und Rechnungslegung geeignet
erscheinenden Maßnahmen bereits angeordnet, namentlich aber ist der
we eines Wissens anderweit noch nicht genügend zur Geltung gelangte
S rundsatz aufgestellt und durchgeführt, daß alle Buchführungseinrich-
tungen, welche zur Aufrechterhaltung eines geordneten Geschäftsbetriebes
ohnehin erforderlich sind, in weitestem Umfange auch zur Justifizierung
der Ausgaben — also für Zwecke der Rechnungslegung — dienen können
und sollen. Dadurch sind die eigentlichen Rechnungslegungsarbeiten
auf ein Minimum eingeschränkt. So dient beispielsweise als eigentliche
206 Miszellen.
Geldrechnung im wesentlichen eine Ausfertigung des Endabschlusses der
Reichsdruckereikasse, der die Kassenmanuale in Urschrift beigefügt
werden ($ 14 d. Anweis. zur Rechnungslegung). Auch zu den in vielen
Verwaltungen bekanntlich sehr umständlichen Nachweisen über Ver-
einnahmung jund Verausgabung von Materialien, Geräten u. s. w. wird
die Betriebsführung in zweckmäßiger Weise mitbenutzt. Ferner
finden sich in dieser Anweisung bereits Ansätze zur Ausnutzung der
Buchführung einer Verwaltung für die Beurteilung des Wirtschafts-
gebahrens anderer Verwaltungszweige. Damit ist meines Erachtens ein
Weg betreten, dessen Verfolgung und Ausbau dazu führen wird, erheb-
liche Beträge an vermeidbaren Verwaltungskosten zu ersparen.
Wie so gar nicht bureaukratisch der Grundton dieser Anweisung
ist, mag daraus erhellen, daß die als Unterlagen der Rechuungsausweise
über Einnahmen und Ausgaben dienenden Lager- und sonstigen Betriebs-
bücher, die aus betrieblichen Rücksichten den Rechnungen nicht beige-
fügt werden können, durch Beauftragte des Rechnungshofes in den
Diensträumen der Reichsdruckerei geprüft werden sollen. In dieser
Anordnung liegt ein weiterer beachtenswerter Fingerzeig, wie der so
häufig beklagten nutzlosen und kostspieligen Vielschreiberei auf dem
Gebiete der Rechnungslegung entgegengewirkt werden könnte. Ueber-
haupt erscheint mir eine durch Beauftragte der obersten Revisions-
behörden an Ort und Stelle ausgeführte Revision ein geeignetes Mittel,
sachgemäße und die Bedürfnisse der Praxis berücksichtigende Entschei-
dungen zu erleichtern und zu beschleunigen, namentlich dann, wenn
den Mitgliedern dieser Behörden in geeigneten Fällen ganz unabhängige
Sachverständige — die von den Behörden ganz selbständig auszuwählen
wären — beigegeben würden. Auf diese Weise ließe sich vielleicht
auch den neuerdings immer mehr hervortretenden Wünschen der Tech-
niker, an den Arbeiten der obersten Revisionsbehörden beteiligt zu
werden, zum Nutzen des Ganzen entgegenkommen.
Neben Vereinfachungen in der Buchführung und ihrer Ausnutzung
für die Rechnungslegung müßte ferner Grundsatz sein: was in einem
Staats- oder Reichsbetriebe sachlich und rechnerisch ordnungsgemäß ge-
prüft und festgestellt ist, wird als Justifikatorium für alle anderen
Staatsbetriebe oder Verwaltungszweige ohne weiteres anerkannt. Weiter-
hin: bei ständiger Leistung einer Behörde für die andere sind mehr
wie bisher Pauschalvergütungen zu zahlen, die aber nicht etwa wieder
in kurzen Zwischenräumen durch langwierige Berechnungen und Zäh-
lungen festzustellen sind, sondern deren Betrag innerhalb größerer Zeit-
räume in einfachster Form im gegenseitigen Einvernehmen vereinbart
wird. Wo es irgend angängig ist, muß im Giro-Verkehr abgerechnet
werden, der Zeit und Arbeitskraft erspart und größere Sicherheit bietet,
als der Austausch des Bargeldes. Durch diese hier nur flüchtig ange-
deutete Vereinfachung werden weitere nennenswerte Ersparnisse erzielt
werden. Sehr wünschenswert wäre es, wenn auch bei diesen Verein-
tachungs- und Verbesserungsbestrebungen die Oberrechnungskamm?r
oder der Rechnungshof die Führerschatt ausgiebiger wie heute über-
nehmen würde. Da bei diesen Behörden alle Fäden zusammenlaufen,
Miszellen. 207
alle Vergleichsobjekte vorliegen oder leicht beschafft werden können,
so sind sie geradezu prädestiniert dazu, Anregung zur Verbesserung
und Vereinfachung des Kassen- und Rechnungswesens zu geben. Das
wird auch wohl die Auffassung der gesetzgebenden Faktoren bei Erlaß
des schon erwähnten Oberrechnungskammergesetzes vom 27. März 1872
gewesen sein, da in dessen $ 14 Abs. 3 ausdrücklich bestimmt ist,
daß die Vorschriften über die formelle Einrichtung der Jahresrech-
nungen und Justifikationen von der Oberrechnungskammer erlassen
werden sollen.
VI. Es ist, wie schon oben angegeben, nicht der Zweck dieser Zeilen,
ins einzelne gehende Verbesserungsvorschläge für die verschiedenen
Verwaltungen zu machen. Dazu sind deren Einrichtungen zu vielge-
staltig und zahlreich. Hierzu ist die gemeinsame Arbeitsleistung
mehrerer nötig. Ich komme daher wieder auf die früheren Vor-
schläge zur Einsetzung einer Studienkommission zurück, die, wenn sie
nicht unter Führung der obersten Revisionsbehörde arbeiten könnte,
so doch wenigstens im unmittelbaren mündlichen Benehmen mit
ihr sich mit den oben berührten Fragen eingeliend beschäftigen müßte.
Dieser Kommission, in die auch ihrer Veranlagung nach geeignete,
auf dem Gebiete des Kassen- und Rechnungswesens gründlich durch-
gebildete, praktische Beamte aus den verschiedenen der in Betracht
kommenden Verwaltungszweige zu berufen wären — z. B. ganz zweck-
mäßig vielleicht der Verfasser des oben erwähnten Buches: „Zur Reform
des Etats-, Kassen- und Rechnungswesens“ — könnten dann auch noch
Fragen des Etatsrechts unterbreitet werden. Viele dieser für die
Praxis doch so wichtigen Fragen harren schon lange der Regelung,
z. B. die Verlängerung der Etatsperioden. Das Haupthindernis der
Erledigung dieser letzten Frage liegt ja in dem Moment der Wahrung
des parlamentarischen Budgetrechts, aber andere Staaten, z. B. Bayern,
haben doch bereits diese praktische Einrichtung und die Reichsregierung
hat im Jahre 1880 und 1881 auch beabsichtigt, sie einzuführen. Ich
will hier nicht auf die bekannten Gründe für und wider die einjährige
Finanzperiode eingehen, da sie ein Thema für sich bilden. Es sei nur
darauf hingewiesen, daß die Gründe, soweit sie sich gegen den ein-
jährigen Etat wenden, in neuester Zeit noch verstärkt sind durch die
Erwägung, daß der Reichskanzler von der parlamentarischen Arbeit
etwas entlastet werden müsse (vgl. Zeitung: Der Tag No. 211 vom
27. April 1906). Nach einer Zeitungsnotiz hat kürzlich der Reichstags-
abgeordnete Lattmann vorgeschlagen, daß die Etats der Kolonien nur
alle 21/, Jahre beraten werden sollen, damit die Gouverneure bei den
Debatten anwesend sein könnten.
Zeit und Ort wäre in dieser Kommission auch gegeben für die Er-
örterung der Frage, ob nicht eine einheitliche Umgestaltung und Ver-
einfachung des Reichs- und Staatsetatsschemas selbst angezeigt wäre.
Wenn man die Spezialetats größerer Verwaltungen durchsieht, erhält
man den Eindruck, daß die verschiedenen Einnahme- und Ausgabe-
gruppen vielfach in sehr engem Zusammenhange miteinander stehen.
Trotzdem bestehen aber in Wahrheit weitgehende Spezialisierungen der
208 Miszellen.
einzelnen Ansätze, wodurch wieder umständliche und kostspielige Buch-
führungs- und Rechnungslegungseinrichtungen bedingt werden.
Bahnbrechend ist hier seinerzeit die Eisenbahnverwaltung vor-
gegangen, die seit 1895 das Etatsschema vereinfacht hat. In ihrem
neuen Etatsschema sind die Einnahmen und Ausgaben durchweg so wie
sie erwachsen in einer beschränkten Anzahl von Titeln, Positionen
und Unterpositionen zusammengefaßt.
Diesen Weg könnten meines Erachtens auch andere Verwaltungen
gehen, nicht nur in eigenem Interesse, sondern auch in dem der obersten
Revisionsbehörden, um hierdurch mancherlei nutzlose und kleinliche
Formalitäten bei der Verwaltungs- und Kontrollführung auszuschalten.
Unbedenklich erscheint mir z. B, um noch einmal auf den schon
erwähnten Postetat zurückzukommen, eine Verschmelzung der Ausgabe-
titel für Gehälter und Wohnungsgeldzuschüsse (Titel 1—5 und 17—26),
ähnlich wie bei der Eisenbahn; auch könnten vielleicht die verschie-
denen Gruppen sächlicher und vermischter Ausgaben, Ausgaben für
Hilfsleistungen sowie die Ausgaben, welche sich auf die sozialpolitische
Gesetzgebung gründen, z. B. Titel 11 und 12, 28 und 30, 32 und 33,
42 und 42a, 50—52 und 60—62 zusammengezogen werden.
Man sieht, Arbeit würde die Kommission vollauf finden. Und wenn
es auch eine nach außen hin wenig in die Augen springende Tätigkeit
sein würde, Reich und Staat und ihren Bürgern würde durch sie großer
finanzieller Nutzen erwachsen.
Miszellen. 209
V.
Das Postbankwesen ').
Von G. Krämer in Kirchheim (Württemberg).
Einer der wichtigsten Zweige des Postbetriebs, nicht zum wenigsten
in seiner Wirkung auf die Volks- und Staatswirtschaft, ist das Postbank-
wesen. Es dürfte wohl angebracht sein, die Aufmerksamkeit diesem Gegen-
stand zuzuwenden in einer Zeit, in der die Verkehrsfragen im Vorder-
grund der Erörterung stehen, in der man einzusehen beginnt, daß der
ıweckmäßige Ausbau des Verkehrswesens ebenso wichtig für die Volks-
wirtschaft ist wie Zoll- und Steuerwesen. Diese intensivere Beschäftigung
mit den Verkehrsfragen hat dann auch die erfreuliche Nebenwirkung,
den Grund za legen zu der Verkehrswissenschaft. —
Das Postbankwesen im weiteren Sinne begreift alle Tätigkeiten,
der Post in sich, die in Beziehung zum Geld- und Kreditwesen stehen,
soweit diese Tätigkeit sich nicht in der Beförderung der Sendungen,
Geld-, Wert- und Einschreibsendungen, erschöpft. Im engeren Sinne
wird darunter die Vermittelung der Barzahlungen und der Einzug von
Geldbeträgen für Sendungen oder für Handelspapiere verstanden. In
Deutschland beschränkt sich die Post auf letztere Tätigkeit, welche
den Postanweisungs-, Postnachnahme- und Postauftragsdienst umfaßt.
In anderen Ländern dagegen hat die Post ihre Wirksamkeit auch auf
die Bankgeschäfte im weiteren Sinne, insbesondere auf die Postspar-
kassen, auf den Scheck- und Giroverkehr, zum Teil auch auf das Ver-
sicherungswesen ausgedehnt.
Vierzig Jahre sind seit der Einführung des Postanweisungsdienstes
in Deutschland verflossen: am 1. Januar 1865 wurde dieser Dienst von der
preußischen Postverwaltung eingeführt, der dann die übrigen deutschen
1) Quellen: Postgesetz, Postordnungen, Weltpostvertrag; Archiv für Post und Tele-
graphie, Union postale, Deutsche Verkehrszeitung, Statistik des Weltpostvereins, Deutsche
Poststatistik ; Weber, Postgeschichte von Württemberg; Mittelstein, Beiträge zum Post-
recht ; Sieblist, Die Post im Auslande; Elster, Postsparkassen ; Seidel, Das Deutsche Spar-
kassenwesen, Zeitschrift „Die Sparkasse“; Verhandlungen der Württembergischen Abge-
ordnetenkammern und des Deutschen Reichstags: Conrads Jahrbücher für Nationalökonomie
und Statistik ; Elster, Wörterbuch der Volkswirtschaft; Sparkassenkalender für 1906;
Stand der Sparkassenbücher in Württemberg nach dem Beruf der Einleger vom 31. De-
zember 1899 — Sonderabdruck aus den Württembergischen Jahrbüchern ; Bericht der
ordentlichen Mitgliederversammlung des deutschen Sparkassenverbandes am 9. Dezember
1905 u. a. m.
Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII). 14
210 Miszellen.
Postverwaltungen bald nachfolgten. Das äußere Verfahren ist inzwischen
nicht wesentlich geändert worden. Schon vorher war es möglich, inner-
halb des deutsch-österreichischen Postvereins bare Einzahlungen bis zu
50 Talern an bestimmte Empfänger zu machen; zu diesem Zweck multe
auf die Adresse des beizugebenden Briefes aufgeschrieben werden
„Hierauf eingezahlt ... .“ Mit dem Brief wurde dann dem Adressaten
ein Auszahlungsschein ausgehändigt, gegen dessen quittierte Rück-
gabe das Geld am Postschalter verabfolgt wurde. Doch wurde von
dieser Einrichtung wenig Gebrauch gemacht, weil die Taxe zu hoch
war. (Für den Brief wurde das Fahrpostporto und für die Einzahlung
von je 5 fl. 2 kr. erhoben.)
Ursprünglich auf den Betrag von 87'/, fl. — 50 Taler beschränkt, wurde der
Meistbetrag der Postanweisungen im Jahre 1875 auf 300 M., im Jahre 1879 auf
400 M. und im Jahre 1899 auf 800 M. erhöht. Die beiden letzten Erhöhungen
waren die Folgen der Abmachungen im Weltpostverkehr. Die Taxe betrug an-
fänglich 20 Pf. (2 Sgr.) bis 25 Taler und 40 Pf. (4 Sgr.) für höhere Beträge;
im Jahre 1875 wurde die Taxe für Postanweisungen bis 200 M. auf 30 Pf., für
die höheren Summen auf 40 Pf. festgesetzt, dieser letztere Betrag wurde auch
beibehalten als im Jahre 1579 der Meistbetrag erhöht wurde; für die Beträge über
400 bis 600 M. wurde später die Taxe auf 50 Pf., für solche von 600 bis 800 M.
auf 60 Pf. bestimmt. Im innern württembergischen Verkehr betrug der Meist-
betrag einer Postanweisung anfänglich 100 fl., wofür erhoben wurde bis 25 fl.
3 kr. und über 25 fl. 6 kr.; hierzu kam noch das einfache Briefporto mit 1,2
und 3 kr. Von 1875 an kostete die Postanweisung bis 100 M. 10 Pf., bis 200 M.
15 Pf., bis 300 M. 20 Pf. neben dem Briefporto mit 5 und 10 Pf. Die Taxe war mithin
geringer als im sonstigen Verkehr, auch können, da die Formulare neben Karten
sin Form von Briefumschlägen ausgegeben werden, im innern württembergischen
Verkehr heute noch Briefe mitversandt werden. Seit 1. Juli 1892 sind die Taxen
im inneren württembergischen Verkehr mit denen im übrigen deutschen Verkehr
übereinstimmend, dagegen hat Bayern im Ortsverkehr noch billigere Taxen bei-
behalten und zwar bis 400 M. 20 Pf., über 400 bis 800 M. 40 Pf. Seit 1599
wird im gesamten deutschen Verkehr bei Beträgen bis zu 5 M. 10 Pf. erhoben.
Bei dem in Deutschland üblichen Verfahren wird von dem Ab-
sender ein von der Verwaltung geliefertes Formular mit der Ein-
zahlungssumme in Zahlen und Buchstaben, der Adresse des Empfängers
und dem Bestimmungsorte ausgefüllt, woneben noch der Abschnitt des
Formulars zur Angabe der Adresse des Absenders und zu schriftlichen
Mitteilungen verwendet werden kann. Dieses in der beschriebenen
Weise ausgefüllte Formular, welches der Träger des Zahlungsauftrags
der Postverwaltung gegenüber ist, wird bei der Postanstalt mit dem
Geldbetrag eingeliefert, wofür dann dem Einlieferer eine Bescheinigung
ausgefolgt wird. Die Postanweisung, welche einen nach Zeit, Ort und
Empfänger bestimmten und beschiänkten Auftrag darstellt, bleibt in
den Händen der Post, welche durch die Beförderung des Formulars
an den Bestiminungsort und durch dessen Zustellung an den Adressaten,
sei es mit, sei es ohne den zugehörigen Geldbetrag (in letzterem Fall
ist die angewiesene Summe am Postschalter abzuholen), sich ihres Auf-
trags entledigt. Dieses Verfahren, das allmählich im internationalen
Verkehr des Weltpostvereins sich mehr und mehr Eingang verschatft
hat, hat in seiner Art etwas Starres, Unabänderliches, das für die
Länder, in denen der Ausgleich der Forderungen vorzugsweise durch
Miszellen. 211
bares Geld vermittelt wird, sich vortrefflich eignet, das aber in Ländern
mit fortgeschritteneren Formen des Ausgleichs nicht zur gleichen
Geltung kommt. Deshalb ist auch in manchen Ländern, wie in Eng-
land, Frankreich, Italien, Belgien, noch eine andere Art von Post-
anweisungen eingebürgert, die in ihrem Wesen mehr der Bankanweisung
gleicht und welcher der Gedanke zu Grunde liegt, daß derjenige, der
eine Forderung zu begleichen hat, bei der Post eine Anweisung gegen
Hergabe des Betrags (Bankanweisung) löst, mit der er dann nach
Belieben verfährt. Während es in Deutschland den Beamten verboten
ist, das Postanweisungsformular auszufüllen, liegt hier im Gegensatz
hierzu den Beamten die Ausfertigung der Postanweisung :ob, welche
sodann dem Einlieferer ausgefolgt wird. Diesem wird überlassen, die
Anweisung dem Adressaten oder irgend jemanden (wenn dieselbe auf den
Inhaber lautet, wie z. B. in England zugelassen ist) zu übersenden,
der dann die Anweisung selbst abholen oder durch Indossament weiter
begeben kann. Die Modalitäten hinsichtlich der Benachrichtigung des
Bestimmungsamts vom Angabeamt, hinsichtlich der Weiterbegebung und
Abhebung sind zwar in den einzelnen Ländern verschieden, sie unter-
scheiden sich aber nicht in der Grundidee, die bezweckt, die Anweisung
zum Ausgleich mehrerer Forderungen ohne Anwendung von barem Geld
tauglich zu machen. Eine Art von Postanweisungen, die diesem
Zweck noch besser dient und infolgedessen vielfach an die Stelle des
kleinen Papiergeldes, der Kassenscheine tritt, sind die Postbons (postal
orders). Sie leisten in der Beweglichkeit nach Zeit, Ort und Empfänger
das Möglichste und können, obwohl sie auf feste Beträge lauten, durch
Hinzukauf von Postwertzeichen, die dann auf die Anweisungen auf-
geklebt und entwertet werden, auch auf Teilbeträge der Münzeinheit
(francs und cents, Schilling und Penny) gestellt werden, sie sind infolge-
dessen in den Ländern, in denen sie eingeführt sind, sehr beliebt. Im
Jahre 1903 waren in Frankreich unter 451/, Mill. Postanweisungen,
5l/, Mill. Postbons, in England unter 101 Mill. sogar 90 Mill. postal
orders. Letzteres Land ist in allerjüngster Zeit dazu übergegangen,
durch Einführung der postal orders im Verkehr mit seinen Kolonien
und durch Ausgabe weiterer Sorten den Verkehr in diesem Zahlungs-
mittel immer weiter auszudehnen.
Die Postbons (Postzahlscheine, Postgutscheine) sind Anweisungen auf
feste Beträge bis zur Höhe von 20 fres., 1 £. Sie sind in der Regel fortlaufend
numeriert und bestehen aus Stamm, Bon, mitunter auch noch Einliefer-
schein; der Wertbetrag ist vorgedruckt, bei der Ausgabe erhalten sie
einen Abdruck des Tagesstempels und die Unterschrift des Ausgabe-
beamten: der Name und Wohnort des Empfängers ist durch den Ab-
sender einzusetzen, Indossierung zugelassen. Gültigkeit in der Regel 3
Monate, nach deren Ablauf durch wiederholte Entrichtung der Gebühr die
Einlösuugsfrist verlängert werden kann. Einlösung bei jedem Amt zu-
lässig. Gebühr in der Regel sehr niedrig (in England !/, d. bis
1}, sh., 1 d. bis 101/, sh., beı höheren Beträgen 1'/, d., in Belgien und
Frankreich bis 10 frcs. 5 cts., über 10 fres. 10 ets.). Durch Einführung
der Taxe von 10 Pf. für Postanweisungen bis zu 5 M. ist zwar in
14*
212 Miszellen.
Deutschland dem Bedürfnis nach einem billigen Versendungsmittel
kleinerer Geldbeträge einigermaßen Rechnung getragen worden, was
sich auch aus der Steigerung dieser Anweisungen im Verhältnis zu der
Gesamtzahl ergibt.
Württemberg 1898: 2363 237 Postanweisungen, worunter 333 296 bis zu 5 M. (=14,4 Proz.)
» 1904 : 3877 324 » » 663737 » » 5M. (S174 „ )
Immerhin ist diese Taxermäßigung nicht im stande gewesen, dem
nicht erwünschten Markenversand an Zahlungstatt in Briefen Einhalt
zu tun, und es würde sich die Einführung von Postzahlscheinen in
Deutschland auch aus den weiter unten zu erörternden Gründen empfehlen.
Solche Postzahlscheine könnten in Beträgen bis zu 20 M. ausgegeben
werden, die Gebühr könnte bei Beträgen bis zu 5 M. auf 5 Pfg., bei
höheren Beträgen auf 10 Pfg. festgesetzt werden.
Es sind da und dort schon Vorschläge aufgetaucht, die dahin gehen, daß die
Möglichkeit gegeben werden sollte, auf Postkarten kleinere Beträge einzuzahlen.
Diesen Vorschlägen, welchen als Ziel die möglichst einfache Versendung kleinerer
Beträge zu billigen Taxen vorschwebt, würde durch Einführung der Postzahlscheine
Rechnung getragen.
Der Meistbetrag der Postanweisungen ist in Deutschland — in
Uebereinstimmung mit dem Weltpostvertrag — auf 800 M. festgesetzt,
da aber eine Beschränkung der Zahl der von einem Absender an den-
selben Empfänger zu versendenden Postanweisungen nicht besteht, so
ist tatsächlich keine Beschränkung in der Versendung von Geldsummen
mittels Postanweisung vorhanden, es ist deshalb auffallend, daß Deutsch-
land nur gezwungenermaßen sich zur Erhöhung des Meistbetrags ent-
schlossen und nicht wie mehrere Länder vorgezogen hat, auf die Fest-
setzung eines Meistbetrags zu verzichten, denn schon die Taxen wirken
bei höheren Beträgen prohibitiv, wie die nachstehende Tabelle zeigt. Es
beträgt die Gebühr für
| Geldbriefe
BeiBeträgen| Post- in Württemberg er hgepiet
bis zu anweisungen en —
Zone 1a | Zone 1b |weitere Zonen Zone 1 |weitere Zonen
M. Pig. Pfg. Pig. Pfg. Pfg. Pfg.
100 20 20 25 35 30 5o
200 30 25 30 | 40 30 50
400 40 25 30 40 30 50
600 50 i 25 30 45 30 50
800 60 30 35 45 35 55
900 80 30 35 | 45 h 35 55
1000 90 35 40 5o | 40 60
1200 100 35 40 50 40 6o
1400 110 40 45 55 45 65
1500 120 40 45 55 45 65
Aus dieser Gegenüberstellung ergibt sich, daß es allgemein vor-
teilhafter ist, Beträge bis zu 200 M. als Postanweisung zu versenden
und daß mit Ausnahme der nahen Entfernungen (bis zu 10 Meilen) die
Versendung von Beträgen bis zu 600 M. durch Postanweisung sich
Miszellen. 213
lohnt, bei der das Verfahren für den Absender sich einfach gestaltet.
Für die Postverwaltung erwächst aber aus einer Postanweisung mehr
Geschäft als aus einem Geldbrief, weil bei der ersteren zu der Be-
handlung am Aufgabe- und Bestimmungsort noch die Verrechnung und
Kontrolle hinzukommt. Die Versendung der Geldbriefe ist in Deutsch-
land allerdings etwas umständlicher als die der Postanweisungen, weil
die Geldbriefe zur Fahrpost zählen. Der Tarif für Postanweisungen über
100 M. ist zu niedrig und deckt die Selbstkosten kaum, was auch eine
Vergleichung der Taxen mit anderen Ländern ergibt.
Betrag bis su Deutschland | Oesterreich | Schweiz | Belgien | Frankreich | Italien
M | | |
16 20!) 8 12 12°) 16 16*)
80 20 | 17 16 16°) 40t) | 32—64
160 30 | 34 24 32 | 60 80
240 40 | 34 l 32 40 60 96
320 40 | 51 40 48 | 80 112
400 40 | 51 , 48 56 80 128
480 50 | SI 56 64 80 | 144
560 50 | 85 64 72 100 160
640 60 | 85 72 80 100 176
720 60 | 85 80 88 ' 100 192
800 60 | 85 88 96 ' 100 | 208
Mit anderen Worten, in Deutschland wird der Bargeldversand
durch Postanweisungen gegenüber dem durch Geldbriefe begünstigt,
was unter anderem auch die Wirkung hat, daß der Umlauf und Ver-
brauch von Papiergeld hinter anderen Ländern zurückbleibt. (Im
Jahre 1903 entfielen in Deutschland bei Postanweisungen auf Beträge
bis 100 M. 83 Proz. bis 200 M. 9 Proz., bis 400 M. 5 Proz., über
400 M. 3 Proz.)
Tabelle I. Postanweisungsstatistik.
Jahrgang 1903.
(Die Angaben sind in Tausenden gemacht.)
Auf den Kopf
Interner Verkehr | Empfang Versand Insgesamt | der Bevölke-
Land | | rung entfällt
Stück-| Betrag |Stück-| Betrag | Stück- | Betrag | Stück- | Betrag |; | Betrag
| Stück |
zahl | fros. zahl fres. zahl | fres. zahl | fra. | | fres.
Oesterreich 26 438| 1 225 416| 5224 |321 617| 3772 218093 35434| 1765 126 1,3
Belgien 3202| 23652ı| 470 | 26794 518 | 27523 4190| 290828) 0,9
Frankreich 45 563| 1 682 235| 1370 | 71953. 1426 | 63 008, 48 359| 1 817 178| 1,2
Großbritannien |101 072| 1745 032| 2709 |144 623| 724 | 51 171|104 505| 1940 826| 2,4
Italien 15716) 1050428 1261 | 84 212| 233 | ı3 112| 17 165; 1147752, 0,5 |
Schweiz 6896, 710576) 688 | 32591) 1160 44522! 8744 787689) 2,6 | 231,6
1) Bis 5 M. 10 Pfg., 2) bis 8 M. 8 Pfg., 3) bis 40 M. 16 Pfg., bis 80 M. 24 Pfg.,
4) von 16—40 M. 20 Pig., 5) bis 8 M. 8 Pfg. bis 20 M. 16 Pfg.
Deutschland 167 316.12 506 730| 4237 |207 277| 3199 156402 174 7532/12870 469 2,9 | 219,
214 Miszellen.
Aus Tabelle I ist ersichtlich, daß Deutschland mit seinem Post-
anweisungsverkehr — 174 Millionen Stück im Gesamtbetrage von an-
nähernd 13 Milliarden — den übrigen Ländern weit voransteht, wie
es auch, auf den Kopf der Bevölkerung gerechnet, in der Stückzahl der
Postanweisungen an erster Stelle steht. In der Höhe des Betrages wird
Deutschland nur von der Schweiz übertroffen.
Die Schweiz hat neben den gleich billigen Taxen bis zu 320 M. wie Deutsch-
land den Vorzug vor letzterem voraus, daß dort sofort die Postanweisungen mit
den Geldbeträgen nach der Ankunft den Adressaten ohne Erhebung eines Bestell-
reldes zugestellt werden (einen Vorzug, den mit der Schweiz nur noch Württem-
Perk teilt) Durch die Erhebung eines Bestellgeldes von 5 bezw. 10 Pfg. für jede
Postanweisung wird im Reichspostgebiet und in Bayern die Wirkung der niedrigen
Taxen zum Teil ausgeglichen.
Diesen enormen Postanweisungsverkehr verdankt Deutschland in
erster Linie dem blühenden Zustande seines Postwesens, sodann, wie
schon erwähnt, seinen billigen Taxen und dem Umstand, daß die Volks-
wirtschaft in Deutschland sich noch vielfach des umständlicheren Aus-
gleichs von Forderungen durch Barzahlung bedient in Fällen, wo in
anderen wirtschaftlich fortgeschrittenen Ländern die Ausgleichung
durch Uebertragung bewirkt wird, was daraus erhellt, daß, wie die Er-
fahrung zeigt, ein erheblicher Teil bedeutenderer Firmen täglich eine
große Zahl von Postanweisungen erhält. Sodann ist aber auch noch
des Umstandes zu gedenken, daß die Ausgleichung der von der Post
auf Grund von Nachnahmen und Aufträgen eingezogenen Geldbeträge
in Deutschland durch Postanweisung erfolgt, was in den anderen
Ländern nicht durchweg der Fall ist.
In Großbritannien besteht ein Postauftrags- und Postnachnahmedienst über-
haupt nicht, in Frankreich wird der auf Nachnahmen für Postpakete eingezogene
Betrag, in der Schweiz und Luxemburg werden die Nachnahmen nicht durch Post-
anweisung abgeglichen, ebenso werden in Belgien eingezogene Gelder in höheren
Beträgen durch Giro überwiesen,
Eine große Rolle im Anweisungsdienst der Post spielt das Betriebs-
kapital. Die Höhe desselben und damit auch die Inanspruchnahme der
Staatsfinanzverwaltung (welcher die Post die vorgeschossenen Mitte] zu
verzinsen hat) ist durch verschiedene Faktoren bedingt. Im Inlands-
verkehr, wo sich der Betrag der Ein- und Auszahlungen ausgleicht,
gelangt die Post zwar in den Besitz der Baarmittel, aber sie hat sie
nicht immer da, wo sie ihrer bedarf, weil mit der Anweisung nicht
auch der eingezahlte Betrag versandt wird. Es gibt eine große Zahl
von Stellen, bei denen mehr Geld ein- als ausgezahlt wird, während
bei vielen anderen das umgekehrte Verhältnis vorhanden ist (dazu ge-
hören die Industrie- und Handelszentren). Die Postverwaltung hat
zwar durch ihre Maßregeln dafür gesorgt, daß von den erstgenannten
Stellen die überschüssigen Gelder in kurzen Zwischenräumen an die
Distriktskassen oder an ein für allemal bestimmte Aemter abgeführt
erden, auch wird durch Ueberweisung im Giroverkehr der Reichsbauk
ein rascher Ausgleich bewirkt, aber bei der großen Zahl der Stellen
bleiben viele Aemter übrig, bei denen ein solcher Ausgleich nicht mög-
lich ist und dann ist bei der großen Verteilung und weil die Ver-
Miszellen. 215
sendung jedes kleinsten Betrags sich nicht lohnt, doch noch eine erheb-
liche Summe nicht sofort verfügbar. Die Wirkung wird zwar dadurch
etwas abgeschwächt, daß die Postverwaltung postordnungsmälig zur
Auszahlung der vorliegenden Postanweisungen erst dann verpflichtet
ist, wenn ihr die nötigen Geldmittel zur Verfügung stehen (doch kann
sie von dieser Einräumung nur bei kleinen Nebenplätzen und ausnahms-
weise Gebrauch machen), und daß bei denjenigen Verwaltungen, die
für die Abtragung des Geldes Bestellgebühr erheben, stets eine größere
Anzahl der Empfänger, insbesondere Firmen, die Postanweisungsbeträge
abholen lassen, wodurch für die Verwaltung ein Zeitgewinn entsteht.
Ein nicht unwesentlicher Faktor für die Betriebsmittel im Postan-
weisungsverkehr ist die Zahlungsbilanz im internationalen Verkehr:
Das Betriebskapital muß um so höher sein, je günstiger die Zahlungs-
bilanz ist, weil nach den internationalen Uebereinkommen die Schuld
seitens des belasteten Landes erst innerhalb einiger Monate zu bezahlen
ist, doch ist durch Vereinbarung dafür gesorgt, daß solche Länder, die
regelmäßig an ein anderes Land erhebliche Beträge abzuführen haben,
dies in kurzen Fristen (8—10 Tagen) regelmäßig in zum voraus be-
stimmten Summen tun.
Aus Tabelle I geht hervor, daß im Jahre 1903 Deutschland 51 Millionen aus dem
Postanweisungsverkehr zu empfangen hatte, in Oesterreich betrug dieser Aktivposten
148 Millionen, in Großbritannien 93 Millionen, in Italien 73 Millionen. Das kleine
Württemberg hatte im Jahre 1904 ein Aktiva von 67620000 M. (nicht frances wie
obengenannte Beträge); da es die Postanweisungen ohne Erhebung von Bestell-
geld sofort bar auszahlt, so bedarf es eines ziemlich großen Betriebskapitals.
Hieraus ergibt sich klar, von welcher finanziellen Bedeutung für
die deutsche Postverwaltung die Einführung von Postzahlscheinen
(Postbons) wäre, die erst eine gewisse Zeit umlaufen, bevor sie zur
Einlösung präsentiert werden. Durch diese Einrichtung würde das Be-
triebskapital für den Postanweisungsdienst erheblich reduziert, wenn
nicht gar entbehrlich werden. In England betrug die Summe der auf
Postbons im Jahre 1903 eingezahlten Beträge 852 Mill. fres. In Deutsch-
land kommt noch hinzu, daß für Rechnung der Versicherungsanstalten
(Invalidenversicherung) und Berufsgenossenschaften erhebliche Beträge
in Form von Renten vorschulweise zu bezahlen sind; dieselben haben
betragen
im Jahre 1903 204'/, Mill. M.
„ „1904 223 I wi
no o 1905 238 FRE
Fast in allen Ländern, die den Postanweisungsverkehr eingeführt
haben, ist es zulässig, Geld telegraphisch mittels Postanweisung zu
überweisen, da jedoch für diesen Zweck hohe Gebühren aufzuwenden
sind, so hat der Verkehr in dieser Art von Postanweisungen nirgends
einen größeren Umfang angenommen, z. B. kamen im Jahre 1904 im
Reichspostgebiet auf 166 Millionen Postanweisungen etwas mehr 1/, Million
telegraphische Postanweisungen.
Hinsichtlich der Form der Ein- und Auszahlung der Postanweisungs-
gelder in Deutschland ist noch der Einrichtung zu gedenken, daß in
216 Miszellen.
Orten mit Reichsbankstellen, im Reichspostgebiet Girokunden die Ein-
und Auszahlung .durch Scheck auf die Reichsbank bewirken können.
Diese Zulassung hat aber zur Voraussetzung, daß ein Mindestbetrag im
Monat ausbezahlt und ebenso ein Mindestbetrag in einer Summe ein-
bezahlt wird. Infolge dieser Beschränkungen sind im Jahre 1903 nur
18321/, Mill. M. durch Giro ausgeglichen worden (= 19,5 Proz.).
Auch in Württemberg konnte die Auszahlung der Postanweisungen durch
Ueberschreiben auf Girokonto der Reichsbank bewirkt werden. Im Jahre 19%
kamen auf diese Weise zur Auszahlung 942 000 Stück (= 12,3 Proz.) über 6$'/,
Mill. M. (= 15 Proz.)
Die Postaufträge und Nachnahmen haben den Einzug von Geld-
beträgen zum Zweck. Bei den ersteren wird dieser Auftrag an die
Postverwaltung durch die Ausfüllung eines von der Verwaltung ge-
lieferten Formulars — dem Postauftrag — erteilt, dem die einzulösenden
Papiere, denen briefliche Mitteilungen für den Bezogenen nicht beige-
fügt werden dürfen, offen beizugeben sind; beides — Auftrag und ein-
zulösende Papiere — sind unter Umschlag an die Postanstalt, welche
die Einziehung bewirken soll, zu versenden. Die Nachnahme dagegen
wird auf die Sendung selbst erhoben, die unter der Adresse eines be-
stimmten Empfängers abgesandt wird. Ist es sonach in die Hand des
Absenders gegeben, ob er den Geldeinzug für eine gewisse Sendung
je nach der Form der Einlieferung durch Postauftrag' oder Nachnahme
bewirken lassen will, so gibt es doch eine Art von Papieren, für die
sich die Form der Postaufträge besonders eignet, weil nur bei diesen
die Weitersendung an einen Dritten — ohne den Einzug von Geld —
oder die Weitergabe zum Proteste (bei Wechseln um die wechselrecht-
lichen Vorteile zu wahren) zugelassen ist. Bei allen anderen Sen-
dungen ist es in der Regel für den Versender im Wesen gleichgültig,
ob er die Einziehung der Forderung in der Form des Auftrages oder
der Nachnahme bewirken will: die Höhe des Meistbetrags, die Vor-
zeigung, die Lagerfristen, die Abführung des Geldes sind an die gleichen
Bedingungen gebunden. Nur darin unterscheidet sich der Postanttrag
von der Nachnahme, daß für den ersteren, weil er als Einschreibebrief
behandelt wird, im Falle des Verlustes eine feste Entschädigung von
42 M. bezahlt wird und daß bei Warensendungen zwar die Entnahme
von Nachnahme, aber kein Auftrag zulässig ist. Den Nachnahmen
können, soweit sie in Form von Paketen oder Briefen versandt werden,
briefliche Mitteilungen beigefügt sein.
Schon früh war die Erhebung von Nachnahmen für Auslagen (Fracht, Spesen,
Zoll) auf Postfrachtstücke, insbesondere Reiseeffekten, zugelassen. In manchen
Ländern, wie in Frankreich, Italien, Schweiz, ist die Erhebung von Nachnahmen
auch heute noch nur bei Paketen angängig. In Deutschland wurde jedoch schon
im deutsch-österreichischen Postvertrag vom April 1850 der Nachnahmeverkehr
auf Briefe ausgedehnt, die als solche zur Fahrpost gerechnet wurden und für
welche die teurere Taxe für die Fahrpost zu entrichten war. Außer dieser Taxe
kam für die Nachnahmesendungen (Meistbetrag 50 Taler) eine Nachnahmegebühr
von '/, Proz. — später sogar eine solche von 2 Proz. — zur Erhebung (dieses
Taxverfahren besteht noch jetzt in Oesterreich für Pakete, sowie in der Schweiz
und Luxenburg); Spesen und sonstige Auslagen konnten in höherem Betrage nach-
genommen werden. Anfänglich wurden kleinere Beträge dem Aufgeber sofort bei
der Einlieferung ausbezahlt, für die höheren Beträge war die Benachrichtigung
Miszellen. 217
von dem Bestimmungsamt über die erfolgte Einlösung der Nachnahme abzuwarten,
wie dies auch jetzt noch im Eisenbahnverkehr geschieht. Seit Mitte der 70er
Jahre wird der Betrag für die eingelösten Nachnahmen (bis dahin eine Zeitlan
„Vorschüsse“ geheißen) mit Postanweisung übermittelt; etwa gleichzeitig entfie
auch die Vorauszahlung kleinerer Nachnahmebeträge. Eine grundsätzliche Aende-
rung im System trat in Deutschland ein als im Jahre 1890 an Stelle der Nach-
nahmegebühr von !/, Proz. eine — gleichzeitig mit dem Porto zu entrichtende —
Einlösungsgebühr von 10 Pf. trat und als im Jahre 1892 auch Postkarten, Druck-
sachen und Warenproben gegen Nachnahme versandt werden konnten. Mittlerweile
war auch wie bei den Postanweisungen der Meistbetrag einer Nachnahme allmäh-
lich auf 800 M. erhöht worden.
Das Postauftragsverfahren wurde in Deutschland im Jahre 1871 eingeführt. Für
einen Postauftrag wird ohne Rücksicht auf Gewicht und Entfernung die Gebühr
von 30 Pf. erhoben. Der Meistbetrag war anfänglich 150 M.. späterhin wie bei den
Anweisungen und Nachnahmen 800 M. Das Verfahren ist seit der Einführung nicht
geändert worden. Im Jahre 1876 wurden die Postaufträge zugelassen, welche lediglich
die Herbeifübrung des Akzepts des Bezogenen bezwecken; für derartige Aufträge
besteht eine Grenze des Betrages nicht. Vorübergehend gab es auch sogenannte
Postaufträge zu Bücherpostsendungen (mithin eine Art Auftrag auf Warensen-
dungen), sie wurden aber wenig benutzt und bald wieder aufgehoben.
Tabelle II. Postauftrags- und Postnachnahmeverkehr.
(Die Angaben verstehen sich in Tausenden.)
| | Nicht eingelöst | | Nicht eingelöst
Land Zahl ` Betrag | Zahl Betrag | Zahl | Betrag | Zahl | Betrag
| fres. fres. | | fres. ! fres:
Postaufträge | Postnachnahmen
Deutsch. | Tatern 5645| 851 180 |1 614| 216 993 |40 217 | 838 418 | 7 211 | 256 902
land Empfang 81 5 598 30 2110| 635 9616 52) 1023
k Versand — | N EA e | 1685| 32547| 27| 451
zusammen | 5726 856768 i 644, 219 103 | 42 537 | 880 581 | 7 290 | 258 376
Oeste Intern 415|} 37529 152| 11626|| 4976| 88905 | 62 1 307
sied Empfang] 112) 11133 39 4550, 915| 17239| 20 429
Versand | — | — Sa — k 1786| 32147| 13| _301
zusammen | 527| 48 662 ı 191] 16 176° 7 677 | 138 291 | 9 2 037
Intern 11 732| 1079921 | 212) 90291! 449 6 354 | — —
Belgien Empfang 87 4153| 19 826 58| 1081 77 140
Versand | — == | — | = arah] 617 Z 44
zusammen | 11 819| 1084074 | 231| 91077 534 8052 | 29 184
Frank- Intern 17 358| 404 630 4 657, 101 387 | 2818| 97 321) 34 | 416
; Empfang 73) 4 382 19) 1017 156 3219 13 246
reich p
e | Versand — | — le | 7302 9906| — —
zusammen | 17 431| 409012 l4 676, 102 404! 3276 110 446) 47 662
Intern 1379| 107986 407| 30 573 1475| 28240) 89, 1832
Italien Empfang 31 2.063 9 584, 82! 2573 2 82
Versand — 2 '—| — 42| 1049, 2 54
|
zusammen | I 410| 110049! 416 31157) 1599; 31 862| 93 | 1 968
Intern 1310| 97697 | 421| 30724| 9406| 63782, 1148 | 0524
Schweiz \ Empfang 76 4677 17| 1104 325| 6088! 18) 461
_ \ Versand = — | - — | 2491| 3579| 2ı | 204
|
|
-> _ + -- l)
zusammen | 1386 102 374| 438, 31827 9972| 73453 |i 187 | 7 189
218 Miszellen.
Die Tabelle II enthält eine vergleichende Uebersicht des Postauftrags-
und Postnachnahmeverkehrs der hauptsächlichsten Staaten vom Jahr 1903.
Hieraus ergibt sich, daß im Nachnahmeverkehr Deutschland mit 42 Mill.
Stück in Betrag von 880 Mill. weit voran steht, daß es aber im Post-
auftragsverkehr von Belgien und Frankreich — von ersterem erheblich —
übertroffen wird. Die Ursachen dieses Vorwiegens des Nachnahmever-
kehrs in Deutschland sind auf die Begünstigung dieses Verkehrs im Tax-
wesen zurückzuführen. Es wird sicher niemand einfallen, zum Einzug einer
Forderung sich eines Auftrags, der 30 Pfg. kostet, zu bedienen, wenn
er die Sache mit einer Drucksachenkarte zu !2 und 13 Pfg. abmachen
kann. In der Tat werden auch Forderungen der verschiedensten Art,
wie der Einzug von Prämien, Abonnements, Mitgliederbeiträge, wozu
früher die Form des Postauftrags gewählt wurde, durch Drucksachen-
karte mit Nachnahme eingezogen, nachdem zugestanden worden ist, daß
man auf Aufschriftseite der Drucksachen sich auf einen vorausgegangen
Schriftwechsel beziehen kann. Für die Postanstalten entsteht das gleiche
Geschäft, ob es sich um einen Postauftrag oder um eine Drucksachen-
sendung mit Nachnahme handelt. Die Einräumung, daß der Empfänger mit
der Einlösung 7 Tage warten kann und daß ihm die Nachnahme nach Ab-
lauf dieser Frist von neuem präsentiert wird, macht das Publikum sich
ausgiebig zu nutze. Von der Ueberflutung durch Nachnahmen wurden an-
dere Länder dadurch bewahrt, daß entweder für eine Sendung mit Nach-
nahme mindestens die Einschreibegebühr oder die Fahrposttaxe gefordert
wird, oder daß die Nachnahmegebühr höher ist. Geht man davon
aus, daß für eine Briefsendung mit Nachnahme beim Aufgabeamt und
bei der Beförderung gegenüber anderen Briefsendungen keine Mehr-
leistung vorliegt und daß für die Zusendung des eingezogenen Geldes
an den Absender die Postverwaltung durch die Postanweisungsgebühr
gedeckt ist und daß ferner für die erste Vorzeigung — mag sie von
Erfolg sein oder nicht — die Einziehungsgebühr von 10 Pfg. erhoben
wird, in welcher Gebühr übrigens auch die Entschädigung für die
Manipulationen beim Bestimmungsamt inbegriffen ist, so erscheint es
nicht mehr als recht und billig, wenn für die zweite Vorzeigung die
Einziehungsgebühr wiederholt verrechnet wird und zwar auch für solche
Nachnahmen, welche schließlich beim Amt eingelöst werden. Diese Ge-
bühr kann der Absender leicht durch den Vermerk umgehen: „Wenn
bei der ersten Vorzeigung nicht eingelöst zurück“. Diese zweite Gebühr
ist reichlich durch die Geschäftslast begründet, welche die Aufbewahrung,
die fortlaufende Kontrolle, die Ueberweisung von Stelle zu Stelle und
endlich die wiederholte Zustellung mit sich bringt. Die Taxen für die
Postaufträge sollten denjenigen für die Nachnahmen nähergebracht werden:
in Frankreich wird für einen Postauftrag, dem Papiere in unbeschränkter
Zahl zum Einzug im Bestellbezirk des Bestimmungsamts beigegeben
werden können, nur 25 cts. erhoben (das Briefporto betrug dort bis
vor kurzem 15 cts.), während in Belgien, wo ein anderes Verfahren
hinsichtlich des Einzuges von Forderungen für Handelspapiere, Wechsel,
Zins- und Dividendenscheine besteht, das nicht ohne weiteres auf
andere Länder übertragbar ist, nur die (allerdings höhere) Einzugs-
Miszellen. 219
gebühr berechnet wird. Es dürfte genügen, wenn für Postaufträge zum
Geldeinzug das gewöhnliche Briefporto angesetzt wird, daß aber dann
die Einziehungsgebühr wie bei den Nachnahmen erhoben wird. Auch er-
scheint erstrebenswert die Vereinigung mehrerer Aufträge unter einer
Adresse, wenn die Einziehung bei derselben Postanstalt erfolgen soll, wie
auch die Erweiterung des Meistbetrags. Derjenige, welcher eine besondere
Sicherheit für die einzuziehenden Papiere beansprucht, kann dann immer
noch den Auftrag als posteingeschrieben versenden. Mit Rücksicht auf
die Besonderheiten, die einen Vorzug des Auftrags vor der Nachnahme
darstellen, insbesondere die Sicherung der Protesterhebung, ist eine
besondere Behandlung der Aufträge begründet. Mit der fakultativen
Protesterhebung durch die Postbeamten beschäftigt sich die Handels-
welt seit längerer Zeit: es ist auch kein Grund vorhanden, der gegen
diese Erleichterung für die Interessenten, die in Belgien seit längerer
Zeit gut funktioniert, sprechen würde. Voraussetzung dabei ist, daß
das ziemlich umständliche Verfahren der Protestaufnahme vereinfacht
wird. Schon jetzt hat Postpersonal die Zustellungen im gerichlichen
Verfahren fast ausschließlich zu bewirken.
Im Jahre 1904 wurden in Belgien bei einer Gesamtzahl von 182000 Protest-
urkunden 122 000 von Postbeamten, der Rest von Gerichtsvollziehern aufgenommen.
Zur Einholung von Wechselakzepten wird die Post nur wenig be-
nutzt, dieser Verkehrszweig scheint eher im Abnehmen begriffen zu sein.
Die Zahl der Wechselakzepte betrug im Reichspostgebiet im Jahre 1903:
a 1904: 45861; in Württemberg 1881: 3185, 1882: 3497, 1903: 3392,
Sind in den vorhergehenden Abschnitten diejenigen Zweige des
Postbankwesens behandelt worden, die sich auf den Geldeinzug und
auf die Vermittelung der Barzahlungen erstrecken, so soll in nach-
folgendem auf diejenige Tätigkeit der Post eingegangen werden, die zu
dem eigentlichen Bankwesen gehört. Nirgends jedoch hat die Tätig-
keit der Post sich des Bankwesens im ganzen Umfang bemächtigt, ins-
besondere ist überall die eigentliche Kreditvermittelung von ihrem Ge-
schäftsbereich ausgeschlossen gewesen, wenn auch die Anlage der ihr
anvertrauten Gelder sie mitunter in großem Umfange zwang, Kredit-
papiere anzukaufen.
Diejenigen Banktätigkeiten der Post, von welchen nun die Rede sein
soll, sind die Postsparkassen und der Postscheck- und Giroverkehr.
Die Postsparkassen haben in einer großen Zahl von Ländern Ein-
gang gefunden und sind in einzelnen Ländern zu großer Blüte gelangt.
In Tabelle III ist eine Aufstellung über die Entwickelung der Postspar-
kassen in den hauptsächlichsten europäischen Ländern, wo diese Ein-
richtung besteht, nach den amtlichen Veröffentlichungen in der Zeitschrift
des Weltpostvereins, Union postale, gegeben. Es fehlen darin England
und Italien, von welchen solche ausführliche Veröffentlichungen über
den Zustand ihrer Postsparkassen nicht vorliegen.
Außer den in Tabelle IV über England und Italien gegebenen Zahlen mögen
noch die folgenden Ziffern über den Sparkassenverkehr in diesen Staaten einen
Anhalt geben.
In Großbritannien waren Ende Dezember 1002: 9403852 Postsparbücher mit
Miszellen.
20
2
Tabelle IIT.
Entwickelung der Postsparkassen in einigen europäischen Ländern.
Oester-
reich ')
Belgien °)
Frank-
reich ®)
Holland t)
Schweden ê)
Ungarn ®)
1) Währung 1898 u. 1899: Gulden (öster.), von da ab Kronen.
4) Währung: Gulden (holl.).
2) Währung: Franken.
5) Währung: Kronen (schwed.). Angaben über den Reservefonds fehlen.
keine Angaben vorhanden.
y| m Zahl der! 38a
5 & jin S Der Einlagen Der Rückzahlungen Vergütete Gesamtbetrag E £ $| Ver: Kapital
=: en Zn ij der 2 PE- waltungs-| der
2531 bücher = Guthaben |5 £ 5| kosten | Sparkasse
“a >, Zahl | Betrag Zahl Betrag E g0 |
EAEAN M ABER N SE N 1 ET EEE = Dal ES. Zi, ee
Tr T eu g ee = ` J = a zen SFr ao T e T. = “7
1853/18981 318 636|2 269 A 45 254 890| 862 516 "39 863 743| 1540854, 58892914 45,42 | ? — |
1901/1 547 541|2 669 385/103 824 317|1 062 494, 95 173 017| 3 891 308| 149533 221|115,70 |5 297 235 -
(1904/1 798 01813 217 775 131 365 766 1454 412 114 769 497| 5 116721) 196737 107 127,80 5 407 255 —-
| | | N
18701898, 1 514 810.2 932 050/245 127 916| 769 438,227 566 415/15 185 952 564 829 271|372,87 |I 091 225| 587 820 178|
1901|1 862 829 3 310 192 305 754 590| 947 6381251 361 166 19431859, 735 333 171 394,74 1627 595 754 544 795'
11904|2 205 052|3 742 801 339 340 973,1 179 341/330 691 76620 439 190) 764 069 8411346,51 1 608 618, 796 437 493
1882'1898/3 087 62113 010 1981361 959 469/1 519 486.352 228 370/20 174545 875 021 387 283,39 |3 579 214! 890 310 094
\1901'3 805 881 3 540 399 448 168 284|1 765 099|403 660 969|24 668 778|1 080 389 845286, 15 |4 276 325|1 107 342 226,
1904/4 345 446/3 586 418/456 712 543|1 944 780 415 432 082|27 181 829 ı 187 348 660 273,23 |4 591 284 1 227 601 271
188111898] 693 228/1 057 453) 34 706 280| 421 453| 28013 018| 1672406! 70012 148 100,99 265 300| — |
‚1801| 896 7611 249 336| 43 774 949| 552 560| 36961 304. 2 261 004| 93 771 063|104,56 | 380 300, — |
1904/1 111 59011 539 335| 58 011 554| 719648) 50 026 283| 2925 619 120434591 108,34 | 465 168) — |
| i | |
1884'1897| 495 383! 539283 19830248) 139949 13 157 191 ? | 58107 483]117,80 181734| 59358 33)
‚1900 566805) 542713 13 601 291) 178709| 19043635 1984846 56461391) 99,51 228 190° 64 182 568
1903) 579874 539651) 12033033] 153 199| 13 308 721| 1 863 597) 54482 232, 95,47 | 243478, 56678 840
1886 1898| 337 936! 730929 11 942 784| 331395. 10 904 546 ? 13 223 606| 39,13 | 876655 —
|1901| 416328 855 737| 31 929 809| 402 271| 27 265 402| 866008 37338054; 89,68 |2 348 312 — |
11904| 525 818 1042 130 51 190 693| 515 950| 42 597 077| 1457 219 61368 780.116,71 3 422 743 — |
3) Währung: Franken.
bekannt. 6) Währung 1898: Gulden, von 1899 an: Kronen (öster.).
|
|
4 000 000
IT QII 175
14 674 364
18 320 204
13737 711
26 952 380
37 856 280
1 352 303
5 373 003
Ueber das Kapital der Sparkasse sind keine Angaben vorhanden.
Ueber das Kapital der Sparkasse und den Reservefonds sind
Die Zahlen von 1904 sind noch nicht
Miszellen. 221
einem Guthaben von 146135000 £ vorhanden (auf ein Buch entfallen 15 £ 10 sh);
es gab 14600 Sammelstellen; die Einzahlungen im Jahre 1903 beliefen sich auf
40 357 000 £ die Rückzahlungen auf 42756000 £. Die Rückforderungen überstiegen
die Einzahlungen um annähernd 2 Mill. £. Diese Erscheinung wird auf die Ge-
legenheit zu sonstiger nutzbringender Kapitalanlage und auf die Besorgnis, es werde
der Zinsfuß für die Spareinlagen herabgesetzt, zurückgeführt. Im Jahre 1884 be-
trugen die Einlagen bei der Postsparkasse 44”, Mill. £, bei den Privatsparkassen
46 Mill. £, im Jahre 1904 bei den letzteren 52,88 Mill. £, bei der ersteren 148,3
Mill. £. Die Betriebsausgabe der englischen Postsparkasse betrug im Jahre 1904:
537672 £.
In Italien betrugen die Einlagen in die Postsparkasse im Jahre 1904:
99367 Mill. Lire (im Jahre 1903: 879,61 Mill. Lire), die sonstigen Bareinlagen
182,15 Mill. Lire. Diese Einlagen waren mit 531,50 Mill. Lire in italienischen
Staatspapieren, mit 119,14 Mill. in Gemeinde- und Provinzialanleihen angelegt,
448,90 Mill. waren als schwebende Darlehen an Körperschaften und Gemeinden,
82,64 Mill. als solche Darlehen an den Staat gegeben.
Die in der Tabelle III niedergelegten Zahlen sprechen für sich.
Wenn wir sehen, daß in dem kleinen Belgien 800 Mill, in Frankreich
1200 Mill., in England gar 3700 Mill, in Oesterreich mehr als 200
Mill. fres. Spareinlagen einheitlich angelegt und der wirtschaftlichen
Befruchtung zugeführt werden, so vermag auch ein Laie einzusehen, welche
wirtschaftliche Kräftigung, welchen finanziellen Rückhalt dies für den
Staat bedeutet. Angesichts dieser großartigen Entwickelung des Post-
sparwesens in Ländern, wo ein hochentwickeltes Bankwesen, wie in
England, und kräftig blühende Privatsparkassen, wie in Frankreich und
Oestereich bestehen, mutet es eigentümlich an, wenn in Deutschland
von seiten der Sparkassen gegen das Verlangen des preußischen und
des sächsischen Finanzministers, es solle ein kleiner Teil ihrer Einlagen
in Staatspapieren angelegt werden, so lebhaft Stellung genommen wird,
ein Verlangen, das in Ländern mit Postsparkassen in viel weitergehendem
Maße erfüllt ist.
Welchen Einfluß die Sparkassen auf den Staatskredit haben, mögen folgende
Zahlen zeigen. Es betrug der Kurs der Staatsanleihen (verglichen ist: Deutsches
Reich 3',-proz. Anleihe, Belgien 3-proz. Anleihe, Oesterreich 4-proz. Goldrente,
Italien 4-proz. Rente, Frankreich 3-proz. Rente, England 2°,,-proz. bezw. 2'/,-proz.
Konsols):
im Durchschnitt Deutsches
der Jühre Reich Oesterreich Italien Belgien Frankreich England
1880/85 102,50 83,75 — -o — 997/6
1886;90 100,30 91,40 . . . 99'/16
1891/95 101,80 98,75 85,68 102,70 105,78 100° /,
1896/1900 100,68 101,44 92,91 99,26 104,70 106?/ 6
1901/05 101,28 100,69 103,12 100,12 99,51 gotti
(Die Kurse sind nach dem Börsenkalender der „Frankfurter Zeitung“ nach den
Kursen vom 31. Dezember berechnet.)
_ Wenn ich auch weit davon entfernt bin, behaupten zu wollen, daß der Kurs
der Staatspapiere von den Einlagen in die Postsparkassen abhängig sei, wie denn
in den reichen Ländern Frankreich und England ein sichtbares Zurückgehen der
Kurse bemerkbar ist, was bei dem ersteren hauptsächlich auf die — den Abge-
ordneten zu Gefallen lebende — Ausgabewirtschaft der republikanischen Regierung
und auf die Belastung des französischen Volkes mit russischen Papieren, in Eng-
land auf die imperialistische Politik, auf den Burenkrieg des Toryregiments und
auf die Herabsetzung des Zinsfußes für die Rente zurückzuführen scin wird, so
ist doch die Besserung der Kurse in Oesterreich und Italien seit Einführung der
222 Miszellen.
Postsparkassen so klar ersichtlich, daß es schwer halten dürfte, den günstigen Ein-
fluß dieser Einriebtung auf die Kurse der Staatspapiere abzuleugnen. Noch deut-
licher tritt dies bei na hervor, wo 1884 die 5-proz. Rente einen kurs von
75,37 hatte, während der Kurs der 4-proz. Goldrente Ende 1904: 99,65, 1905: 96,40
betrug. Italien, Oesterreich und Ungarn konnten inzwischen den Zinstuß ihrer
Papiere herabsetzen, ohne daß die Kurse erheblich zurückgewichen sind. Es wird
nicht zu bestreiten sein, daß in Deutschland die Kurse für die Reichs- (und Staats-)
Anleihen bei der Begebung vorteilhafter gewesen wären und daß die 3-proz. An-
leihen sich besser hätten halten können, wenn der Postsparkassen-, Scheck- und
Giroverkehr wie in Oesterreich ausgebildet gewesen wäre.
Zur Zeit!) bestehen Post-(oder Staats-)Sparkassen in folgenden Län-
dern: Oesterreich-Ungarn, Frankreich, Großbritannien, Italien, Belgien,
Niederlande, Schweden, Finnland (Rußland), Rumänien, Türkei, Kanada,
Egypten, Kapland, Britisch Indien, Japan, Viktoria, Neusüdwales, Neu-
seeland und Britisch Guyana.
Wie ist der Stand des Sparkassenwesens in Deutschland? In einem
Lande, wo die Sparsamkeit verbunden mit der Arbeitsamkeit eine der
hervorstechendsten Eigenschaften des Volkscharakters bildet, konnte’ es
nicht fehlen, daß in allen Ecken und Enden gespart wurde, daß beim
Uebergang von der Natural- zur Geldwirtschaft überall Sparkassen ge-
gründet und Volksbanken errichtet wurden. Ursprünglich in manchen
deutschen Staaten als Privatanstalt unter Staatskontrolle für die ärmeren
Volksklassen ins Leben gerufen, bemächtigten‘’ sich bald die Ge-
meinden dieser Einrichtung, die den Gemeindebeamten vermöge ihrer
engen Verbindung mit der Kasse, für welche die Gemeinde haftete,
einen Einblick in die finanziellen Verhältnisse der Sparer gewährte und
Gewinn für die Gemeinden versprach. Nebenbei wurden Kreis- und
Provinzialsparkassen gegründet, Genossenschaften aller Art, Darlehns-
kassenvereine nahmen Spareinlagen von ihren Mitgliedern und bisweilen
auch von Dritten an (Raiffeisensche Organisation Ende 1904 3958 Spar-
und Darlehnskassenvereine, 465 Betriebsgenossenschaften mit einem
Jahresumsatz von 591 Mill. M. im Geldverkehr und 62 Mill. M. im
Warenverkehr), ebenso kleine Banken (Gewerbebanken), daneben gründeten
Vereine aller Art Privatsparkassen für ihre Mitglieder, insbesondere die
Beamtenorganisationen, weiterhin traten Fabriksparkassen, Schul- und
Pfennigsparkassen ins Leben.
Das Ganze ein buntes Bild größter Mannigfaltigkeit, dem aber die
Einheitlichkeit fehlt. Wohl strebt der deutsche Sparkassenverband, der
die trefflich geleitete Zeitschrift „Die Sparkasse“ herausgibt, eine solche
Einheitlichkeit an, aber bei der Verschiedenheit der Grundlagen, auf
denen die Sparkassen in den einzelnen Staaten ruhen und bei der Ver-
schiedenartigkeit der sich geltend machenden Interessen gelingt es nicht
immer, die als zweckmälig erkannten Fortschritte durchzusetzen.
Im neuesten deutschen Sparkassenkalender findet sich eine Mustersatzung für die
Sparkassen, aber in No. 575 vom 15. Februar 1906 läßt sich ein Sparkassenverwalter
bitter darüber aus, daß nicht an den Mustersatzungen (die doch nur im Interesse
der Sparkassen und lediglich für deren Zwecke nach Anhörung der Interessenten
herausgegeben sind), wesentliche Aenderungen vorgenommen werden dürfen ; er sieht
1) Anfang 1906.
Miszellen. 223
das Verlangen der Regierungsbehörde, sich an die Mustersatzungen möglichst zu
halten, als einen frevelhaften, „durchaus ungesetzlichen“ Eingriff in die Bewegungs-
freiheit der Sparkassen an. Nun haben die Mustersatzungen ja wohl den Zweck,
eine gewisse Einheitlichkeit nicht nur der Verwaltung (Kontrolle), sondern auch
den Sparern gegenüber zu verbürgen, eine Einheitlichkeit, die für diejenigen Sparer,
welche öfter ihren Wohnsitz wechseln, geradezu von ausschlaggebender Bedeutung ist.
Unter diesem Gesichtspunkt erscheinen derartige Auslassungen, denen man öfter
begegnen kann, etwas seltsam. Ein anderer Fall: von den 2772 öffentlichen Spar-
kassen in Deutschland haben sich bis jetzt nur 481 zur Einführung des Ueber-
tragungsverkehrs entschlossen.
In vielen deutschen Staaten fehlt es an einer gesetzlichen Grund-
lage für den Sparkassenverkehr. Gesetzliche Bestimmungen bestehen
nur in Preußen, Baden, Hessen, Oldenburg, Reuß j. L. und Elsaß-
Lothringen. Sonst ist diese Materie meist der ministeriellen Verfügung
überlassen, bisweilen fehlt es auch an solchen. Ueberall aber sind die
Sparkassen, soweit sie von den Gemeinden oder öffentlichen Körper-
schaften verwaltet werden, der Aufsicht der Behörden unterstellt.
Immerhin ist diese Aufsicht vielfach beschränkt, insbesondere fehlt es
an Vorschriften über die Höhe des Zinsfußes, über den Meistbetrag der
Einlagen, über die Anlage der Spargelder, über die Höhe der Reserve-
fonds, über die Verwendung der Ueberschüsse u. s. f.
Ip Württemberg bestehen neben der als Wohltätigkeitsinstitut für die
ärmeren Klassen im Jahr 1817 von der Königin Katharina ins Leben gerufene und
der Zentralleitung des Wohltätigkeitsvereins unterstellten allgemeinen Sparkasse,
Oberamtssparkassen in jedem Oberamtsbezirk, außerdem (semeinde-Sparkassen
in Stuttgart, Langenau und Schwenningen, letztere sind Institute der öffentlichen
Körperschaften, bezw. der Städte. Regierungseitig unterliegen diese Sparkassen
der Kontrolle nur insoweit wie die Verwaltung der Körperschaften überhaupt. In
Bayern sind mehrere Ministerialverfügungen über die Verwaltung der Distrikt-
und Gemeindesparkassen, insbesondere über die Anlage der Gelder und über die
Höhe des Reservefonds ergangen. In Sachsen, wo das Sparkassenwesen wohl die
weiteste Verbreitung gefunden hat, bestehen zwar keine gesetzlichen Vorschiiften,
aber um so mehr Verordnungen. welche sich auf das Sparkassenwesen beziehen. In
den übrigen kleineren Staaten ist die Regelung des Sparkassen wesens häufig ledig-
lich den Statuten der betreffenden Sparkassen überlassen, so in Mecklenburg-
Schwerin, in Sachsen-Weimar, in Mecklenburg-Strelitz, Sachsen-Coburg-Gotha,
Schwarzburg-Rudolstadt, Lippe und in den Hansestädten. Von Interesse ist, daß
das Braunschweigische Ruarkaskengesets von 1542 von der Voraussetzung ausgeht,
daß Postsparkassen im Reich eingeführt werden. Trotz all dieser Verschieden-
heiten zeigen die deutschen Sparkassen einen erfreulichen Stand der Entwickelung:
in den Ende 1903 vorhandenen 2772 Sparkassen betrugen die Einlagen (lie statt-
liche Summe von 11093 Mill. M. Von den Einlagen entfielen auf Preußen 7230
Mill., auf Sachsen 1170 Mill., auf Baden 528 Mill., auf Bayern 409 Mill., auf Würt-
temberg 320 Mill., auf Hessen 230 Mill, auf Hamburg 230 Mill, auf El-aß-
Lothringen 133 Mill., auf Reuß j. L. 98 Mill., auf Bremen 98 Mill., auf Sachsen-
Coburg 76 Mill., auf Sachsen-Weimar 68 Mill. Auf 100 Einwohner trafen Spar-
kassenbücher (1000) in Bremen 76, in Reuß j. L. 65, Sachsen 5b, in Preußen 25,
in Württemberg 23; von außerdeutschen Ländern seien noch folgende Zahlen, die
das Jahr 1902 zur Grundlage haben, hierher gesetzt: auf 100 Einwohner entfallen
Sparbücher in Dänemark 51, Schweden 36, Norwegen 32, Belgien 30, Frankreich 29,
England 26, Niederlande 25, Italien und Oesterreich 19. In Tabelle IV ist eine
Uebersicht über den Stand des Sparkassenwesens in verschiedenen europäischen
Staaten gegeben.
Die Zahlen in der Tabelle IV sind auf Mark umgerechnet, die Zahlen in
a Ill sind in der Landeswährung gegeben, woraus sich die Verschiedenheit
erklärt.
294 Miszellen.
Tabelle IV. Uebersicht über den Stand der Sparkassen in
verschiedenen europäischen Staaten Ende 1902.
| Zahl der Sparbücher Spargutbaben
Art der | |
Staat li ; | pro
Sparkassen im ganzen auf 100 E.|'™ Bunzen pro Kop! Sparbuch
(inMill.M.)ı M M
= a A z I 0 si M.
Preußen Sämtl. Sparkassen |9 372930 26,28 6 727,71 188,66 | 717,18
|
Belgien Staatssparkasse 1 973 480 29,48 591,76 88,41 | 299,86
Städt. Sparkassen 16 463 0,25 8,09 1,21 i 491,40
zusammen | 29.73 89,62 7 301,44
Dänemark Sämtl. Sparkassen | 1254 821 59,91 824,60 | 334,55 657,15
England Postsparkasse 9 133 161 21,95 2 954,28 71,0 323,47
Sonst. Sparkassen |1 670 394 4,01 I 072,68 25,78 642,17
zusammen 25,97 96,78 372,74
Frankreich Postsparkasse 3 991 412 10,24 806,47 23,01 224,60
Sonst. Sparkassen |7 307 062 18,75 2659,24 68,25 363 93
zusammen i 29,0 91,26 314,71
Italien Postsparkasse 4 648 956 14,10 634,62 19,25 130,51
Sonst. Sparkassen | 1741799 5,28 1 273,49 | 38,64 731,13
zusammen 19,39 57,89 | 298,57
Niederlande [Postsparkasse g66 433 18,07 | 172,70 32,30 178,70
Sparbanken 369 161 6,90 140,68 26,31 381,08
zusammen 24,98 ı 5861 234,64
Oesterreich |Postsparkasse 1610 530 6,03 137,63 5,15 | 85,46
Sonst. Sparkassen | 3 384 678 12,67 3 531,98 132,22 | 1043,52
zusammen | 18,70 | | 137,38 734,862
Schweden Postsparbanken 577 627 111 | 60,46 11,67 105,02
Sonst. Sparbanken | 1281663, 24,65 558,12 107,36 435,47
zusammen 35,76 | 119,02 332,80
Ungarn Postsparkasse 446 695 2,32 53,27 2,77 119,25
Sonst. Sparkassen 879911 | 4,57 1 234,38 64,11 | 1402,85
zusammen | 6,89 66,58 920,63
Immerhin ist die Sparkassenstatistik nur mit großer Vorsicht verwertbar, da
in den verschiedenen Ländern ganz ungleichartige Elemente unter denselben Be-
griff fallen. Schon unter dem Wort „Sparkasse“ werden die mannigfaltigsten Ein-
richtungen in dem einen Lande eingerechnet, die in dem anderen Lande wegge-
lassen werden. In dem einen Lande darf jeder nur ein Sparkassenbuch (Frank-
reich u. a. m.) besitzen, im anderen ist hierin völlige Freiheit, im einen Lande ist
keine Beschränkung in der Höhe der Einlagen, im anderen ist ein Meistbetrag,
der öfter ziemlich niedrig gegriffen ist, festgesetzt. Es ist deshalb nicht ver-
wunderlich, daß auch die deutsche Sparkassenstatistik sich manches herbe Urteil
hat gefallen lassen müssen, wie folgende Veröffentlichung in der „Sparkasse“, Jahr-
gang 1906, S. 97, zeigt, worin ausgeführt wird, daß die einschlägigen Publikationen
der Bundesstaaten vielfach veraltet und lückenhaft seien und einen Einblick in das
Einzelleben der Sparkassen nicht gestatte, dies treffe insbesondere auf Preußen und
Sachsen zu; die vollendetsten seien die von Bayern und Württemberg. Die im
Statistischen Jahrbuch des Deutschen Reiches von 1903 gebrachte Tabelle verbinde
Ungleiches miteinander, was ihren Wert problematisch mache. Diese Tabelle trage
nur zur Irreführung bei und gebe für Jie internationale Statistik einen minder-
wertigen Beitrag. Es solle vor allem der Begriff Sparkasse auch für die Statistik
festgelegt werden. Eine ähnliche eingehende Kritik ist im Jahrgang 1905 auf S. 57
enthalten, insbesondere hinsichtlich der Höhe der Einlagen und der Zahl der
Miszellen. 225
189)
Sparkassenbücher. Wenn z. B. die österreichische Postsparkasse die nicht uner-
hebliche Zahl von Sparkassenbüchern mit ganz kleinen Beträgen, auf die seit
Jahren weder Einzahlungen noch Rückzahlungen geleistet wurden, seit 1901 bei
der Berechnung des Durchschnittsbetrages eines Guthabens wegläßt, so ist dies
nicht von unwesentlicher Bedeutung, wie die Tabelle III zeigt. Aus Tabelle IV
läßt sich deshalb nicht ohne weiteres ein Rückschluß auf die Sparsamkeit der Be-
volkerung des einzelnen Landes und auf den Einfluß der Postsparkassen auf die
Spartätigkeit machen.
Die Frage der Einführung der Postsparkassen ist auch in Deutsch-
land schon erwogen worden, nachdem die Anerbietung der Reichspost-
verwaltung, die Postanstalten als Annahmestellen bestehender öffent-
licher Sparkassen dienen zu lassen, keinen Anklang gefunden hatte.
Eine solche Einrichtung wurde früher auch in anderen Ländern ohne
Erfolg versucht, sie ist schon aus dem Grunde als abgetan zu betrachten,
weil bei der Konkurrenz der Sparkassen eine örtliche Abscheidung viel-
fach nicht durchzuführen wäre.
In Württemberg brachte die Regierung im Jahre 1883 einen Ge-
setzentwurf über die Einrichtung einer Postsparkasse ein, nachdem der
Wunsch auf deren Einführung in der Ständekammer wiederholt zum
Ausdruck gekommen war. Der Berichterstatter der Kommission, der
Kanzler der Universität Tübingen, Rümelin, kam zu einer ablehnenden
Haltung, weil er die Zahl der Sparkassen für genügend groß hielt, so
daß für die Postsparkasse kein Feld der Betätigung bleibe, weil die
Spargelder von der Steuer mißbräuchlich befreit bleiben würden, weil
durch die Höhe der Spareinlagen dem Staat ein großes Risiko entstehe
und weil die Durchführung mit großen Schwierigkeiten verbunden wäre.
Wie sehr auch ein so bedeutender Mann, wie es der berühmte Statistiker
und Doktor fast aller Fakultäten, Rümelin, es war, sich irren kann, zeigen folgende
Zahlen: Es waren damals in Württemberg — Anfangs der 80er Jahre — 700 Ein-
lıgestellen vorhanden, die Einlagen betrugen 90 Mill. M. Im Jahre 1899 waren
e 1687 Sammelstellen, in welche 473722 Sparer 224 Mill. M. eingelegt hatten (wie
oben gesehen, sind die Einlagen inzwischen — 1903 — auf 320 M:ll. gestiegen).
Und dies trotzdem, daß durch die sozialpolitischen Gesetze an die Arbeitgeber und
Arbeitnehmer in den letzten 20 Jahren hohe Anforderungen gestellt wurden!
Zudem schließen sich einzelne von Rümelin angeführte Gründe gegenseitig
aus: denn wenn der Postsparkasse kein Geld zugeführt wird, hat auch der Staat
kein Risiko zu übernehmen. Hinsichtlich der Steuergefährdung hatte der Staat es
in der Hand, solche durch Gesetz zu verhindern, wie dies auch neuerdings durch
die gesetzliche Vorschrift geschehen ist, daß der Gesamtbetrag der Sparkassenein-
lagen, wenn solche 1000 M. übersteigen, steuerpflichtig ist, wobei die Einlagen der
einzelnen Familienmitglieder zusammengerechnet werden.
Es war dem Mitberichterstatter Luz nicht schwer, die Bedenken
des Berichterstatters zu entkräften, und obwohl sich die Kammer zu
dem Gesetzentwurf günstig stellte, wurde mit Einwilligung der Re-
gierung die Weiterberatung des Gesetzentwurfes zurückgestellt, weil in-
zwischen von seiten des Reiches die Gründung einer Postsparkasse an-
geregt worden war. Die Kammer beschloß denn auch auf Antrag
Rümelins mit 82 gegen 5 Stimmen, gegen die Zustimmung der Staats-
regierung zu diesem letzteren Gesetzentwurfe (unter Vorbehalt der
Reservatrechte hinsichtlich der reglementarischen und Tarifbestimmungen)
keine Einwendung zu erheben.
Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIII). 15
226 Miszellen.
Anders war: die Aufnahme des Entwurfes der Reichspostverwaltung
im Reichstage. Man wird nicht sagen können, daß dieser Gesetzent-
wurf nicht gründlich genug vorbereitet gewesen sei. In der Sitzung
vom 22. Januar 1885, in welcher der Entwurf in. erster. Lesung zur
Beratung stand, kamen fast ausschließlich. die Vertreter der Sparkassen
und Genossenschaften, insbesondere diejenigen aus Sachsen, zum Wort,
die schon aus Furcht vor der Konkurrenz der Postsparkassen für ihre
heimischen : Sparkassen, die sie in ein besonders günstiges Licht stellten,
eine ablehnende Haltung einnahmen, in zweiter Linie waren es — durch
das Zentrum vertretene politische Motive, die darauf hinausliefen, sich
jeder Maßregel entgegenzusetzen, die eine finanzielle Kräftigung des
Reiches: zur Folge hätten. Dies führte zu einem scharfen Zusammenstoß!
zwischen dem Staatssekretär Stephan und dem Zentrumsführer Windt-
horst. Nebenbei wurde noch eingeworfen, daß durch die Portotreibheit
die Postsparkassen gegenüber den Korporationssparkassen privilegiert
würden.
Entsprechend der Aufnahme im Plenum war auch die Stimmung
in der Kommission eine kühle. Hatte schon der durch die sächsischen
Sparkassen inszenierte Petitionssturm das Präludium gegeben, so machte
sich hier besonders das Bestreben geltend, es ja nicht zu einer Kon-
kurrenz der kommunalen Sparkassen kommen zu lassen, außerdem sollte
vermieden werden, daß die Spargelder dem Reiche zufließen. Die erste
Lesung hatte insofern ein positives- Resultat, als die: ersten 29 Para-
graphen angenommen und nur die folgenden, die: über die Anlage der
Spargelder handelten, abgelehnt wurden. An: deren Stelle wurde ein
Paragraph eingeschoben, der den Postanstalten die Aufgabe zuwies, als
Zahlstelle für bestehende oder neu zu gründende Sparkassen zu dienen.
In der zweiten Lesung wurde der ganze Gesetzentwurf abgelehnt. Der
württembergische Bundesratsbevollmächtigte bedauerte, daß der große
Gedanke der Vorlage jetzt nicht verwirklicht werde, indes werde das
Gesetz auf keinen Fall immer. tot bleiben 1).
Die Verhandlungen des Reichstages zeigen ein ziemlich einseitiges
Bild. Immer ist nur vom Schutz der ‘Sparkassen der Gemeinden und
Körperschaften, von der Sorge, .daß das Reich nicht zu viel Geld be-
komme und von dem. damit für es verbundenen Risiko die Rede,
aber nirgends erhebt sich die Frage, ob auch das Interesse der'Sparer'
gewahrt werde, ob die Sparkassen keine Lücken und Mängel zeigen.
In der Tat ist die Regelung des Geldverkehrs, von der die Sparkassen
nur eine Seite bilden, kaum gestreift worden. Es ist die Frage gar
nicht beantwortet worden, ob und inwieweit das Reich das Recht und
die Pflicht habe, nachdem es: durch das. Münz- und: Bankgesetz die
grundlegenden -Ordnungen für das :Geldwesen und für ‘den Großbank-
verkehr gegeben, sich auch um den ‚Verkehr des Geldes beim kleinen
Manne und in den mittleren Schichten, sowie um die Regelung und Aus-
gestaltung dieses Verkehrs zu kümmern. habe. und ob der regellose
1) Die Ansicht, daß Bayern am Scheitern des Sparkassengesetzes schuld sei,
ist irrig.
—
1
Miszellen. 227
Zustand dieser Zweige des Geldverkehrs für die wirtschaftliche Tätig-
keit des Volkes fortbestehen solle. Vom Staatssekretär Stephan würde
diese Seite gestreift, als er die Postsparkassen als ein Korrelat der
sozialpolitischen Gesetzgebung in positiver Richtung für die arbeitende
Bevölkerung hinstellte, wie dies durch die Kranken- und Invaliden-
versicherung in prophylaktischer Beziehung geschehen sei. Es ist der
Hinweis darauf unterblieben, daß die Postsparkassen den Schlußstein
und die Krönung des Sparkassengebäudes bilden, daß durch sie erst
das ganze Volk in diese wohltätige Einrichtung einbezogen, die be-
stehenden Sparkassen zu einer gedeihlichen und gesunden Entwickelung
veranlaßt und die Anbahnung internationaler Beziehungen ermöglicht
wird. Die Schreckgespenster, die fort und fort an die Wand gemalt
werden, wenn von Einführung der Postsparkassen die Rede ist, wie
wenig sind sie in den Ländern, die Postsparkassen eingeführt haben
und die auch Privatsparkassen hatten und noch haben, eingetroffen!
Ich kann mir nicht versagen, eine Korrespondenz hierherzusetzen, welcher
die „Sparkasse“ Aufnahme gewahrt hat und die zeigt, daß sie wenigstens für außer-
deutsche Verhältnisse sich ein objektives Urteil bewahrt hat, weil diese Einsendung
das Lob der österreichischen Postsparkasse in hohen Tönen singt. Sie lautet im
Auszug: „Die Ernennung des Direktors des Postsparkassenamts zum Finanz-
minister hat die allgemeine Aufmerksamkeit auf diese staatliche Institution gelenkt,
welche eine große einflußreiche Bank mit einem Kapitalskoloß an fremden Spar-
einlagen iad Rentendepositen darstellt. Diese Bank bietet nicht nur die größte
Sicherheit, sondern gewährt auch sehr kulante Bedingungen. Insbesondere hat es
durch die Popularisierung des Scheckverkehrs die großen Massen für sich ge-
wonnen. Ein Scheckkonto bei der Postsparkasse ist einfach unentbehrlich, für
denjenigen sowohl, der mit großen Summen operiert, als für denjenigen, der kleine
Zahlungen zu leisten hat und nicht erst die umständliche Prozedur bei der Auf-
gabe einer Postanweisung oder eines Geldbriefes machen will. Die Organisation
des Postsparkassenamts ist eine mustergültige, Es wird wenige dem Spar- und
Scheckverkehr dienende Institute geben, welche eine ähnliche rapide Entwiekelung
genommen haben ... Am Sparverkehr beteiligen sich vorwiegend Angehörige
ininderbemittelter Bevölkerungsklassen, vorwiegend Kinder. Wenig bekannt dürfte
sein, daß es auch auf den Schiffen der Kriegsmarine Sammelstellen gibt, die Zivil-
wie die Militärbevölkerung wird durch die Institution der Postsparkasse förmlich
zur Sparsamkeit erzogen. Ein vollständiger Umschwung ist durch die Etablierung
der Scheckabteilung des Sparkassenamts erfolgt ,.. Bei dem Postsparkassenamt
konzentriert sich gegenwärtig der Rentenverkehr, sie vermag eine Art Kontrolle
über den Rentenmarkt auszuüben. Sie ist in jedem Betrag ein nützliches Glied
sowohl für die sparende Bevölkerung als auch für die Verwaltung der Staats-
finanzen.“
Wenn eine so ungemein nützliche Einrichtung im polyglotten Staat
Oesterreich möglich ist, sollte das nicht auch in Deutschland durch-
führbar sein? Sollte Deutschland in den Verkehrsfragen stets am
Schlusse marschieren? Die österreichische Postsparkasse hat die Ent-
wickelung der Privatsparkassen nicht unterbunden, wie die in der
„Sparkasse“ fortlaufend erscheinenden Korrespondenzen zur Genüge
beweisen, erst jüngst ist berichtet worden, daß in Wien eine städtische
Zentralsparkasse gegründet werden soll; auch die Genossenschaften
sind nicht alteriert worden, was ausdrücklich bei der Beratung der
Postscheckordnung im deutschen Reichstag festgestellt wurde Von
Interesse ist, was im letzten deutschen Sparkassentag Oberregierungsrat `
15*
228 Miszellen.
Evert über die Postsparkassen sagte. Er meinte, daß sich die Frage
aufdränge, ob wir in Deutschland bei unserer sonstigen Vielseitigkeit
und Vielgestaltigkeit in der Entwickelung des Sparkassenwesens doch
vielleicht insofern rückständig seien, als uns die Postsparkassen fehlen.
Er wolle nicht verhehlen, daß er der Ansicht sei, daß wir in Deutsch-
land noch eine Beteiligung der Post an den Spareinrichtungen in irgend
einer Weise bekommen. Er war jedoch vorsichtig genug, hinzuzufügen,
daß dies sein persönlicher Standpunkt sei und daß er sich die Post
lediglich als Zubringerin für die Sparkasse denke. Als ein Mann, der
mit der Entwickelung dieser Frage auch in anderen Ländern bekannt
ist, wird er wohl wissen, daß die Post diese Rolle nicht übernehmen
kann, es scheint mithin, daß er die Postsparkassen den Vertretern der
Sparkassen nur hat mundgerecht machen wollen. Auf diesem Spar-
kassentag wurde auch das Scherlsche Prämiensparsystem begraben, es
aber hat nicht viel gefehlt, daß dieses System als Schlußstein in das
deutsche Sparkassensystem eingefügt worden wäre. Die Reklame, die
Scherl dafür ins Leben gerufen, die Federn, die er für diese Idee in
Bewegung gesetzt, die allmähliche Erwärmung für dieses Projekt, die
sich in den Spalten der „Sparkasse“ vollzog und nicht zum wenigsten
der mächtige Rückhalt, den Scherl bei dem preußischen Minister des
Innern gefunden, ließen darauf schließen. Das Scherlsche Lotteriespar-
system als Krönung des deutschen Sparkassengebäudes — kein so
übler Gedanke!
Vergegenwärtigen wir uns die Mängel, die dem deutschen Spar-
kassenwesen vom Standpunkt des Sparers aus anhaften, so wird nicht
zu verkennen sein:
1) dab die Vielgestaltigkeit der Bestimmungen in Bezug auf die
wichtigsten Grundlagen dem System eine gewisse Unsicherheit und
Schwerfälligkeit für den Sparer gibt, der gezwungen ist, sich je nach
seinem Aufenthalt der einen oder der anderen Spargelegenheit zu be-
dienen.
Diese Unsicherheit liegt ja wohl auch in einer ungenügenden Begriffsbe-
stimmung des Wortes Sparkasse, ein Mangel gegen den der Sparkassenverband
fortgesetzt ankämpft (die Verhandlungen des letzten Sparkassentages hierüber sind
sehr lehrreich), andererseits kommt diese Unsicherheit dem kleinen Sparer (Arbeiter),
um den es sich vorwiegend handelt, nicht zum Bewußtsein, dagegen fühlt er die
Umständlichkeit bei einer Ortsveränderung zur Genüge.
2) Die ungleiche Verteilung der Sparkassen und die daraus resul-
tierende geringere Möglichkeit der Benutzung derselben.
Die Zahl der Sparkassen hat in den letzten 20 Jahren erheblich zugenommen,
auch sind viele Sparkassen dazu übergegangen, Agenturen und Annahmestellen zu
schaffen, ebenso sind die Tage und dıe Zeiten, in denen ein Verkehr mit den
Sparkassen möglich ist, ausgedehnt worden, aber es fehlt noch viel dazu, daß ein
beiriedigender Zustand erreicht wäre. Jedenfalls halten die bestehenden Sparkassen
einen Vergleich mit den Postsparkassen, die für Ein- und Auszahlungen überall,
wo eine Postanstalt besteht, Werktags und Sonntags benützbar sind, nicht aus.
In Preußen z. B. gab es nach Evert im Jahre 1903 noch 49 575 Gemeinden (unter
53353 nur 3508 mit Sparkassen) ohne Spargelegenheit. Dabei ist aber zu beachten,
daß bei den Sparkassen auch die Annahmestellen mit beschränktem Wirkungskreis,
die vielen ländlichen Zwergsparkassen mit beschränkter Zeit für die Annahme und
Rückzahlung von Geldern eingerechnet sind, daß es viele Orte gibt mit mehreren
Miszellen. 229
Sparkassen und Agenturen anderer Sparkassen, so daß es nicht richtig ist zu sagen,
auf 100 Gemeinden entfallen, sagen wir, 60 Spargelegenheiten.
3) Die mangelhafte Ausbildung des Uebertragungsverkehrs.
Es ist schon oben auf diesen Punkt hingewiesen worden (von 2772 Sparkassen
haben bis jetzt nur 481 diesen Verkehr eingetührt),. Die Verhandlungen auf dem
letzten Sparkassentag hierüber sind zu bezeichnend, als daß nicht mit einigen
Worten darauf eingegangen werden sollte. Einerseits wird die Pflege dieses Ver-
kehrs als ein Damm empfohlen, die Einführung von Postsparkassen zu verhindern,
und zwar schon seit mehr als 20 Jahren, andererseits wird diese unbequeme und
mit Mühe verknüpfte Seite des Sparverkehrs mit dem Hinweis darauf abgetan,
daß tatsächlich der Uebertragungsverkehr sehr gering sei, wie dies schon in den
Reichstagsverhandlungen von 18555 behauptet wurde. Mit Recht wurde beim
Sparkassentag darauf hingewiesen, daß dieser Mangel vielfach in der Unlust der
Sparkassenbeamten, eine beantragte Uebertragung zu vollziehen, seine Ursache habe.
Bei der praktischen Durchtührung ergaben sich aber schon in der Diskussion
solche Meinungsverschiedenheiten, daß man sich veranlaßt sah, sich auf eine all-
gemein gehaltene Resolution zu einigen und die für die Durchführung wichtigen
Einzelheiten dem Ausschuß und dem Vorstand zur Weiterberatung zu überlassen.
Damit aber ist bewiesen, daß der Sparkassenverband nicht im stande ist, etwas,
was seit 20 Jahren als eine der wesentlichsten Aufgaben der Sparkassen und im
Interesse der Sparer liegend hingestellt ist, durchzuführen. Angesichts der Tat-
sache, daß ein großer Prozentsatz «der arbeitenden Bevölkerung heutzutage durch
Ortsveranderung sein Brot suchen muß, was aus den periodischen Berichten der
Aemter für Arbeitsnachweis und über den Arbeitsmarkt hervorgeht, ist dieses
Versagen der Sparkassen bedeutungsvoll. Gerade für diesen großen Bruchteil der
arbeitenden Bevölkerung wäre die Weckung und Betätigung des Hero am aller-
fruchtbringendsten: auf diesem wichtigen sozialpolitischen Gebiete werden die
deutschen Sparkassen ihrer Aufgabe nicht gerecht. In Württenberg fanden im
Jahre 1904: 1131 Uebertragungen statt, wobei zu bemerken ist, dal mehr als der
5. Teil der Sparkassen keine Angaben machte.
4) Im Zusammenhang mit der vorhergehenden Frage steht die
Pilege des internationalen Verkehrs.
Em Punkt, der von der „Sparkasse“ selbst als ein wunder bezeichnet wird,
In der Tat, wer da weiß, welch lebhafter Verkehr an den Grenzen hın und her
stattfindet, daß in anderen Ländern ein Uebertragsungsverkehr von Land zu Land
seit längerer Zeit besteht, wird es beklagen, daß in Deutschland, wo so viele fremde
Arbeiter ihr Brot finden und wo eine von Jahr zu Jahr wachsende Zu- und Ab-
flutung solcher Elemente stattfindet, eine solche internationale Vereinbarung nicht
möglich ist, weil eine das ganze Reich umfassende Organisation, die Postspar-
kassen, fehlen,
5) Für einen großen Teil der auf Schiffen dienenden Mannschaften
ist keine oder keine ausreichende Spargelegenheit vorhanden.
Die Schiffssparkassen haben von seiten der Postsparkassen verschiedener
Länder (Oesterreich, Italien, Frankreich, Holland) eine große Förderung erfahren,
und es sind schöne Ergebnisse erzielt worden. Welches Feld der Tätigkeit eröffnet
sich hier bei der Bedeutung unseres Seehandels und unserer Kriersmarinei An
dieser Stelle ist auch die Möglichkeit der Ausdehnung des Sparverkehrs auf unsere
Kolonien zu erwähnen.
6) Die Verteilung des Ueberschusses.
Ursprünglich war die Sparkasse als eine wohltätige Einrichtung für die
minderbemittelten Klassen gedacht, und es sollte deshalb der Nutzen, nach Abzug
der Verwaltungskosten und der Rücklagen für außerordentlichen Bedarf, den
Sparern selbst wieder zu gute kommen. Als sich dann die Kommunen dieser Fin-
nchtung bemächtigten, wurde meist neben der ursprünglichen Zweckbestimmung
von Aufsichtswegen in die Statuten hinsingeschriehen, dab der Ueberschuß zu
gemeinnützigen Zwecken verwendet werden dürfe. Zuerst wurden dann als ge-
230 Miszellen.
meinnützig alle möglichen Zwecke angesehen und von der Aufsichtsbehörde ge-
duldet, jetzt aber wird die Sache so ausgelegt, als ob es eine gesetzwidrige Ein-
mischung der Regierung sei, wenn sie eine „gemeinnützige“ Verwendung der über-
schüssigen Gelder fordere, daß im Gegenteil die Gemeinden ganz im Recht seien,
wenn sie die Ueberschüsse ganz für sich in Anspruch nehmen. Mit anderen
Worten, die Sparkasse wird lediglich als eine Einnahniequelle für die Gemeinde
angesehen, und es wird der Begriff „gemeinnützig“ dahin erweitert, „daß darunter
verstanden sei, was nicht nur einzelnen Bevölkerungsklassen zu gute kommt, viel-
mehr jedermann zugänglich und von jedermann mitbenutzt werden kann; dadurch
nütze es der Allgemeinheit — sei ihr also von Nutzen“. Auf Grund dieser Inter-
retation werden dann die Ueberschüsse der Sparkassen für Gas- und Wasserwerke,
Fir Volksgärten, öffentliche Anlagen und Promenaden, Kirchen- und Schulbauten,
Grunderwerb für die Eisenbahn, Aufstellung des Stadtplans, Beihilfe für den Ziegen-
zuchtverein, Maikäfer- und Mäusevertilgung, Pferdestallbau, Feuerlöschgeräte, Unter-
haltung des Theaters, Straßenpflasterung, zur Bezahlung des Schulgeldes für junge
Landwirte zum Besuch einer auswärtigen Winterschule u. s. f. verwendet, kurz es
gibt kaum einen Zweck, für den die Gemeinde autkommen kann oder muß, der nicht
unter die Bezeichnung gemeinnützig gebracht wird. Die Ueberschüsse der Spar-
elder der ärmeren Leute werden zu Zwecken verwendet, die den besitzenden
Klassen oder bestimmten Bevölkerungsschichten zu gute kommen. Diese haben
davon nicht nur den Nutzen, sondern es wird auch ihr Steuerbeutel um so viel
weniger in Anspruch genommen, das ist dann im Sinne der Sparkassenvertreter
gemeinnützige Sparkassenpolitik. Man wendet wohl ein, daß die vermöglicheren
Bevölkerungsklassen sich an der Sparkasse beteiligen, aber dem ist entgegenzuhalten,
daß diese Schichten die Kasse vorzugsweise nur für vorübergehende Depositen
verwenden, wenn dies ıhnen gegenüber sonstigen Anlagen von Nutzen ist, und
daß die Sparkasse ihren Zweck verfehlt hat, wenn sie ihre Tätigkeit auf diese
Kreise stützt.
Ich pflichte der Meinung von Evers vollständig bei, daß den Gemeinden
eine mäßige Entschädigung von den Ueberschüssen für ihre Mitwirkung zufließen
solle, aber daß die vorerörterte Verwendung der Gelder einen bedenklichen Ab-
weg darstellt, darüber dürfte kein Zweifel herrschen. Die hier vertretene Ansicht
wird auch behördlicherseits geteilt, darauf weist die Begründung einer Vorlage
hin, betreffs Besteuerung der Sparkassen in Sachsen, worin gesagt ist, daß die
Heranziehung der Sparkassen dadurch gerechtfertigt sei, daß sie teilweise zu
Depositenbanken sich ausgewachsen haben und daß sie durchgängig wohl im hohen
Maße zu Einahmequellen der Sparkassengemeinden geworden seien, die einschränkende
Bestimmung der Verwendung der Ueberschüsse zu gemeinnützigen Zwecken werde
durchgehend sehr allgemein ausgelegt, vielfach erhelle ohne weiteres, daß die
Sparkasse als Finanzquelle angesehen werden.
Wenn ich im vorstehenden versucht habe, einige Mängel, welche
unserem deutschen Sparkassensystem noch anhaften, hervorzuheben, so
will ich nicht unterlassen, auch diejenigen Punkte näher ins Auge zu
fassen, die unser Sparkassenwesen vor andern Länderen und insbesondere
vor den Postsparkassen auszeichnen sollen. In erster Linie wird unter
Anführung gewaltiger Zahlen darauf verwiesen, daß Deutschland in Bezug
auf die Zahl der Sparbücher und die Höhe der Einlagen mit an der
Spitze marschiert.
Es ist schon darauf verwiesen worden, daß die Sparkassenstatistik erhebliche
Mängel zeigt und daß ihre Zahlen nur mit großer Vorsicht zu Schlüssen ver-
wertet werden dürfen. Eine bekannte Tatsache ist es, daß die große Zahl der
Sparkassenbücher daher rührt, daß viele Vereine und Korporationen ihr Sparbuch
haben, daß in den Familien nicht nur fast jedes Glied sein Sparbuch hat, sondern
daß auch zugelassen ist, daß mehrere Sparbücher sich in einer Hand befinden,
wie dies hauptsächlich in den thüringischen Kleinstaaten, in Sachsen, in den
Hansestädten und in einzelnen preußischen Provinzen vorkommt. Wenn, wie auf
dem letzten Sparkassentag erzählt wurde, in dem kleinen Städtchen Ratzeburg neben
Miszellen. 231
4
der städtischen Sparkasse-eine Agentur der Sparkasse der Darmstädter 'Bank, eine
solche der Sparkasse der Ma bee acher ypotheken- und 'Weehselbank und
eine Spar- und Darlehnskasse sich ‘befinden, ‘wenn in vielen Orten neben der
der Ortssparkasse eine Annahmestelle der Kreissparkasse vorhanden ist, so erklärt
sich ohne weiteres, wie die großen -Zahlen der Sparkassenbücher in einzelnen Orten
und Staaten zusammenkommen, z.'B. gab es bei der städtischen Sparkasse in
Salzwedel mit 10000 Einwohnern (Zählung von 1400) 15204 Sparbücher, in
Demmin mit 12000 Einwohnern 11596 Sparbücher nach dem Rechenschafts-
bericht von 1904. Ebenso verhält es sich mit den Sparguthaben: nicht nur er-
scheinen viele Millionen als :Depositen von einer Sparkasse an die andere, als
Einlagen von Korporationen, Mündelgelder, sondern es rind auch dadurch,
daß bei einer sehr großen Zahl der Sparkassen insbesondere in Sachsen kein
Höchstbetrag der Einlagen besteht, diese Kassen großenteils zu wahren Depositen-
banken geworden, worauf schon 'Elster in seinem Werke über die Postsparkassen
41851) hinweist. In Preußen betrug der zulässige Höchstbetrag der Einlagen
von 1000— 3000 M. bei 323 Sparkassen
» 3000 — 10000 ., , 385 »
„ I0000—60000 „ ,„ 186 m
unbeschränkt n»n 394 n
In einem Bericht über die preußischen Sparkassen ist gesagt, daß sich die Konten
von mehr als 3000 M. am meisten vermehrt haben und daß von den 1'/, Milliarden
Mark Einlagen nur ein mäßiger Prozentsatz auf die breiten Volksmassen entfällt.
Nach einer Minısterialverfügung wurde die zulässige Höchsteinlage in den
städtischen Sparkassen bei zahlreichen Städten Sachsens überschritten, und es ist
im Anschluß daran vom Ministerium ausgesprochen worden, daß nur Einlagen
von Stiftungen in unbeschränkter Höhe reihen und von Privaten nur bis zu
10000 M. von solchen Sparkassen angenommen werden sollen, die durch ihren
Vermögensfonds eine genügende Sicherheit bieten. In der Tat nimmt es auch
nicht wunder, daß in Norddeutschland die örtlichen Sparkassen zu dem Hilfsmittel
der Zulassung von Einlagen in jedem Betrag und auf beliebig viel Sparbücher
greifen, um überhaupt Geschäfte zu machen, wenn berücksichtigt wird, daß dort
in vielen kleinen Städtchen mit noch nicht 5000 Einwohnern, ja sogar in Dörfern
Ortssparkassen bestehen, so gab es in Holstein 74 Flecken- und Landgemeinde-
sparkassen (außerdem 78 Vereins- und Privatsparkassen), im Bezirk Arnsberg
deren 17, im Bezirk Düsseldorf 59, im Königreich Sachsen ist eine Ausscheidung
nicht vorgenommen. Welcher Unterschied zwischen den einzelnen deutschen
Ländern besteht, zeigt der Vergleich von Sachsen und Württemberg, wo der Spartrieb
der Bevölkerung sicher nicht oder nicht viel gegen Sachsen zurücksteht. In Sachsen
besteht fast völlige Freiheit, in Württemberg dagegen Gebundenheit, dort bestehen
319 meist städtische Sparkassen, hier sind neben der allgemeinen Sparkasse noch
63 Oberamtsparkassen und 1 städtische Sparkasse (neuerdings 3) mit zum Teil
sehr niedrigen Höchstbeträgen. Nach der Einwohnerzahl sollte Sachsen etwa das
Doppelte der Einlagen von Württemberg haben, das Verhältnis ist aber annähernd
wie 4:1 (1170 Mill. gegen 320 Mill.).
Andererseits wird darauf verwiesen, von welch wohltätigem Einfluß
es sei, daß die Ortssparkassen in persönliche Beziehung zu dem Sparer
kommen und daß auch die Darlehnsanträge durch die persönliche Be-
kanntschaft besser gewürdigt werden könnten, wie überhaupt durch die
Kommunalsparkassen dem örtlichen Kreditbedürfnis, insbesondere bei
Hypothekendarlehen, viel mehr Rechnung getragen werden könne.
In der Tat erscheinen diese Gründe sehr plausibel und es ist auch nicht ver-
fehlt worden, bei der Beratung des Postsparkassengesetzes namentlich auf den
letzteren Grund hinzuweisen. Aber wie verhält es sich damit in der Praxis?
Schon in mittleren Städten von 10000 und mehr Einwohnern wird die persönliche
Bekanntschaft ausgeschlossen sein, geschweige denn in größeren Städten, außer-
dem werden bei den Sparkassen vielfach ortstremde Beamte — genau so wie bei den
232 Miszellen.
Postanstalten — tätig sein. Was die Befriedigung des örtlichen Kredits, insbe-
sondere der Hypotheken anbetrifft, so haben umgekehrt die Sparkassen vielfach
Mühe, ihre Gelder unterzubringen, weil sie bei der Hergabe von Darlehen auf
Hypotheken der Konkurrenz «der Hypothekenbanken und Lebensversicherungs-
anstalten begegnen, die von ihrem mehr als 3 Milliarden betragenden Kapital einen
erheblichen Teil in Hypotheken angelegt haben, das Gleiche ist der Fall bei den
Versicherungsanstalten für die Invalidenversicherung, deren Vermögen Ende 1904
1172 Mill. betrug (zu vergl. auch No. 5 der Verhandlungen des letzten Sparkassen-
tages). Es haben die Sparkassen deshalb vielfach dazu übergehen müssen, den
Personalkredit mehr, als für die Sicherheit der Kassen gut ist, zu pflegen und
zwar nicht nur gegen Wechsel, sondern auch gegen einfachen Schuldschein —
oder auch Hypotheken auf Häuser in Großstädten zu nehmen, wo sich die Ver-
hältnisse nicht gut überblicken lassen. In der „Sparkasse“ wird auch darauf hin-
gewiesen, daß bei dem Aufkommen des Baues von Arbeiterwohnungen durch Ver-
sicherungsanstalten eine Ueberproduktion von Häusern für Klein- und Mittel-
wohnungen eintreten könnte, wodurch nicht nur die betreffenden Hausbesitzer,
sondern auch deren Hypothekengläubiger, d. h. die Sparkassen, sehr geschädigt
würden. Eine weitere Gefahr für die Hypotheken in Städten, wobei die Sparkassen
erheblich beteiligt sind (insbesondere in Sachsen, wo die Hypotheken der Spar-
kassen im Jahre 1903: 1017 Mill. M. betrugen, wovon ein erheblicher Teil auf
städtische Gebäude entfällt, auch in Preußen entfielen im Jahre 1903 von der
Gesamtsumme der Hypotheken 35,41 Proz. auf städtische Gebäude, auf ländliche
Hypotheken nur 22,46 Proz.) bildet die Bauspekulation.
Wie ersichtlich, muß man sich davor hüten, die Zahlen der Statistik
als einzigen Maßstab für die Prosperität der deutschen Sparkassen zu
verwenden und über die Lichtseiten die unleugbaren Schattenseiten zu
übersehen. Da und dort ist aus den Aeußerungen zu entnehmen, wie
gerne man die Einführung von Reformen sehen würde, um aus der
Vielgestaltigkeit allmählich zu größerer Einheitlichkeit zu gelangen, aber
man wagt dies nicht auszusprechen, ebenso wenig wie man es wagen
würde zu sagen, daß die Einführung von Postsparkassen von wohltätigem
Einfluß sein würde. Und doch haben von jeher ernste Männer, Ge-
lehrte, Theoretiker und Praktiker, diesen Gedanken festgehalten und
ihn verfochten. In Frankreich wurde der Direktor der Sparkasse
und die größte Autorität in Sparkassenfragen, Agathon Prévost, nach
einer Studienreise in England aus einem Feind ein überzeugter Freund
und Förderer der Postsparkassen; der Nationalökonom und Deputierte
de Malarce war es, der der Vorlage in der Deputiertenkammer zum
Durchbruch verhalf, so daß die Senatoren und Deputierten, welche
Direktoren der Privatsparkassen waren, nicht dagegen aufzukommen
vermochten, ja daß sie selbst den nationalökonomischen Wert der Post-
sparkassen anerkennen mußten. In England sprach Gladstone im Jahre
1888 im Unterhause unter dem Beifall aller Parteien es aus, „daß die
Postsparkasse die bedeutendste Einrichtung sei, welche im letzten halben
Jahrhundert im Interesse der Wohlfahrt des Volkes und des Staates
geschaffen worden sei“. Einem Gladstone wird man aber Sachkenntnis
auf diesem Gebiet nicht absprechen können. In Deutschland hat ein
Elster von jeher für die Postsparkassen gewirkt, ein Scheel, ein Conrad,
ein P. D. Fischer deren Einführung befürwortet. Ich halte die Post-
sparkassen für eine Notwendigkeit zum Vorteil des Volkes wie des
Reiches.
Den Postsparkassen wird zum Vorwurf gemacht
Miszellen. 233
1) daß sich zu viel Geld in den Händen des Staates ansammle und
daß infolge dessen das Kreditbedürfnis in den einzelnen Landesteilen,
insbesondere dasjenige auf Grund und Boden, nicht befriedigt werden
könne;
Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß infolge der Konkurrenz der
Hypothekenbanken, der Versicherungsgesellschaften aller Art, der Genossenschaften,
die örtlichen Sparkassen vielfach gezwungen sind, ihre Gelder in Personalkredit
oder in städtischen Gebäuden anzulegen, auch ist es eine ganz unbewiesene Be-
hauptung, daß die Postsparkassen das ländliche Kreditbedürfnis vernachlässigen,
denn wir schen fast in allen Staaten, daß die Postsparkassen diesem Bedürfnis in
weitgehendem Maße Rechnung tragen (Belgien, Schweden u. s. w.).
2) Daß in politisch bewegten Zeiten der Staat, dessen Kredit dann
so wie so aufs äußerste gespannt sei, dem Ansturm auf die Postspar-
kassen nicht gewachsen und daß dann eine Krise unvermeidlich sei;
Aus der Rumpelkammer verrosteter Waffen ist dies das beste Schaustück,
immer wird damit wieder hausieren gegangen, doch allmählich zieht auch dies nicht
mehr; in der Verlegenheit wird bisweilen wohl auf 1848 zurückgegriffen! In der
langen Zeit, in der nun in den einzelnen Ländern die Postsparkassen bestehen, ist
noch nie und nirgends diese Prophezeiung eingetroffen, obwohl die Zeiten bisweilen
politisch bewegt genug waren; selbst Rußland konnte nach einem verlorenen Krieg
und in Zeiten schwerster innerer Gefahren, wo sein Kredit aufs alleräußerste ge-
spannt war, den Anforderungen auf Rückzahlung der Spargelder gerecht werden,
es genügte in Warschau z. B. eine Bekanntmachung, daß die Spargelder nicht zu
Staatszwecken verwendet werden, um den Sturm zu beschwichtigen ; andererseits
liest man da und dort von Katastrophen, die die Privatsparkassen betroffen haben
(Schweizer Sparkassen). Dem Staat stehen Mittel genug zu Gebote, noch mehr
als den sonstigen Sparkassen, um auch in Krisenzeiten der Gefahr zu begegnen.
3) Daß durch die Konkurrenz die Privat- und sonstigen Sparkassen
geschädigt werden;
Dies ist in der Tat ein beachtenswerter Einwand, er hat auch in den Reichs-
tagsverhandlungen über den Postsparkassenentwurf die Hauptrolle gespielt. Nun
könnte gesagt werden, daß, wenn im höheren Interesse des Staates und des Volks-
ganzen die Einführung der Postsparkassen geboten ist, die Einzelinteressen zurück-
zutreten haben, aber zu dieser Erkenntnis schwingt man sich nur selten in Deutsch-
land empor. Der Einwurf, daß die Vertreter der Sparkassen nicht die Sparer,
sondern die Sparkasseninteressen, wie offen ausgesprochen wird, die Interessen der
Gemeinden, die das Versiegen einer reichlich fließenden Einnahmequelle befürchten,
wahrnehmen, daß die Sparkassen, insbesondere im Norden unseres Vaterlandes,
ihrem ursprünglichen Zweck, eine Sparbüchse der Armen zu sein, in weiter Aus-
dehnung sich entfremdet haben, dieser Einwurf könnte mit allem Recht erhoben
werden. Aber die Befürchtungen sind weit übertrieben. Wir sehen in Frankreich,
in Oesterreich, in Ungarn, in Schweden ein kräftig blühendes und sich entfaltendes
Sparkassenwesen, in Schweden ist es seit 1800 den Privatsparbanken sogar gelungen;
die Postsparkasse zurückzudrängen (Tabelle ITT), ja man scheut sich nicht, es aus-
zusprechen, daß die Postsparkassen von wohltätigem Einfluß auf die sonstigen
Sparkassen gewesen sind und daß sie deren Reformeifer angespornt haben. Daß
in England die Privatsparkassen zu keinem Gedeihen kommen, liegt in den lokalen
Verhaltnissen und ist keineswegs auf die Konkurrenz der Postsparkasse zurück-
zuführen. Wenn einige Zwerggebilde fallen, denen die innere Berechtigung fehlt,
so ist dies überall ein Gesetz wirtschaftlicher Entwickelung, andererseits könnten die
Sparkassen im Verein mit den Darlehnskassen u. a. sich der Tätigkeit als Depo-
Sitenbanken mehr zuwenden; die Konkurrenz der Postsparkasse, welche einen so
hohen Zinsfuß wie die örtlichen und Kreissparkassen nicht gewähren kann und
aie sich schon wegen des niederen Einlagenmaximums hauptsächlich an die ärmere
wnd fluktuierende Bevölkerung wendet, hätten sie nicht zu befürchten.
234 ‘Miszellen.
4) Daß sie das Privileg der Porto- und Steuerfreiheit genießen.
Dies ist ein Einwand, aus der Verlegenheit geboren. Der Sparer hat den
Zinsgenuß von seinen Einlagen, es kann ihm ganz einerlei ‚sein, in welcher Weise
das weitere sich vollzieht. Wenn er mit der Behörde brietlich in Verkehr tritt, so
hat er (vielleicht ausgenommen die Einsendung des Sparbuchs — was er auch
durch Vermittlung der örtlichen Postanstalt bewirken kann) wie jedermann, seinen
Brief zu frankieren; im übrigen wird die Post für ihren Dienst, worin auch der
erforderliche Briefwechsel eingeschlossen ist, durch die Entschädigung, die sie er-
hält, bezahlt. Das sind alles ganz selbstverständliche Dinge und ergeben sich un-
mittelbar aus der Praxis; ein Privileg für die Sparkasseneinlagen der Post kann
sicherlich nicht daraus gefolgert werden. Die Steuerfreiheit wird den Postsparein-
lagen gewiß in keinem Staate in erhöhtem Maße vor anderen Spareinlagen zuge-
standen, dafür werden die Finanzminister schon sorgen; in Württemberg ist ein
derartiges Gesetz schon gemacht.
Hier ist auch noch auf die Frage der Zuständigkeit des Reichs zur
Einrichtung von Postsparkassen, die schon bei der Beratung des Gesetz-
entwurfs im Reichstag gestellt wurde, näher einzugehen. In dieser
Richtung wird auf die Analogie in anderen Staaten, ferner darauf hin-
gewiesen werden können, daß die Post im Verlauf der Jahre Geschäfts-
zweige in ihren Wirkungskreis einbezogen oder sich ihrer auch wieder
entäußert hat (Postaufträge — Postaufträge zur Bücherpostsendungen,
Estafetten, Extraposten), ohne daß sich jemand darum gekümmert hat;
indessen wird die Zuständigkeit des Reichs im vorliegenden Fall in
Zusammenhang mit dem Bank- und Verkehrswesen zu bringen sein.
Die Vorteile, welche die Postsparkassen vor den übrigen Spar-
kassen gewähren und die auch überall rückhaltslos anerkannt werden,
sind zum Teil schon erwähnt worden. Sie bestehen darin,
daß die Möglichkeit der Einzahlung und Rückforderung von Ein-
lagen bei ungleich mehr Stellen vorhanden ist als bei den sonstigen
Sparkassen.
Im Reichspostgebiet waren im Jahre 1904: 14500 Postanstalten vorhanden,
bei denen sowohl Einzahlungen als Rückzahlungen möglich sind, dazu treten die
nach vielen Tausenden zäblenden Landpostboten, die als Annahmestellen fungieren
können und den täglichen Verkehr mit den entferntesten Wohnstätten vermitteln.
In Württemberg bestanden im Jahre 1904 in 1900 Gemeinden 800 Postanstalten,
ferner gab es 1200 Landpostboten ;
daß die Postanstalten Werktags und Sonntags geöffnet sind,
daß ohne weitere Förmlichkeiten jederzeit Uebertragungen überall-
hin vorgenommen werden können,
daß der Anbahnung internationaler Beziehungen mit den Nachbar-
"staaten der Weg geöffnet ist.
Ein Vorwurf, der für alle Staatseinrichtungen in der manchester-
lichen Periode gang und gäbe war und bei den Debatten, ob Staatsbahn
oder Privatbahn, einen breiten Raum einnahm, der Vorwurf, daß der
Staat teuer und schwerfällig arbeite, ist merkwürdigerweise ganz ver-
stummt. In der Tat wäre ein solcher Vorwurf angesichts der außer-
ordentlichen Leistungen der Staatsverkehrsanstalten völlig deplaziert,
gerade im Bankwesen, das auch eine Seite des Verkehrs umfaßt, und
bei dem die Tendenz auf die Aufsaugung der Kleinbanken durch die
großen Aktienbanken geht, verbürgt das Eingreifen des Staats eine
gleichmäßigere Entwickelung. Daß die Postsparkassen nicht nur segens-
Miszellen. 235
reich für das Volk ‚wie für die bestehenden Sparkassen, sondern auch
wichtig in finanzpolitischer Beziehung sind (wozu übrigens auch der
Giroverkehr wesentlich beiträgt), ist schon zu Beginn dieses Abschnittes’
hervorgehoben worden.
Es ist hier nicht der Ort, auf Einzelheiten über die technische
Seite des Postsparkassenbetriebs näher einzugehen, dazu sind reichlich
Erfahrungen in anderen Ländern vorhanden, die eintretendenfalls benutzt
werden können. Nur auf einiges möchte ich noch besonders hinweisen. Im
Jahre 1904 sind in Deutschland die Postausweiskarten eingeführt worden:
diese wären ein geeignetes Mittel für die Sparer, um die sofortige Rück-
zahlung größerer Beträge (über 100 M.) in solchen Fällen zu verbürgen,
in denen sonst aus Gründen der Sicherstellung der Sparkasse eine Frist
für die Rückzahlung eingehalten werden müßte.
Sodann auf die Einrichtung der Rentenbücher, wie sie in England,
Belgien, Oesterreich und Ungarn bestehen, die zum Zweck haben, Spar-
einlagen in Staatsrenten umzuwandeln.
Es waren im Jahre:
1903 in Belgien rund 75000 Rentenbücher mit einem Kapital von 293 Mill. fres.
1902 „ Ungarn js I 100 pe R Pr Ra ji 9 ,„ Kronen
1904 „ England „ 138000 y en P T » I733 »
1904 „, Oesterreich „, 20 000 t Ei 1 D » 118 „ Kronen
vorhanden.
Werden durch die Sparkasse die Erübrigungen des kleinen Mannes
der wirtschaftlichen Befruchtung zugeführt, so dient der Scheck- und
Giroverkehr den weiten Kreisen der mittleren Schichten der Bevölkerung
zur besseren wirtschaftlichen Ausnutzung ihrer Betriebsmittel. Als ein
Mittel zur Begleichung der Forderungen ohne Verwendung von Bar-
geld hat der Scheck- und Giroverkehr in Ländern mit entwickeltem
Geldverkehr auch im gewöhnlichen Leben längst Eingang gefunden und
bat in dem Ausgleichverkehr (Clearinghouse) der Großbanken einen
hohen Grad der Vollkommenheit erreicht. Die hohe wirtschaftliche
Bedeutung des Scheck- und Giroverkehrs besteht neben dem rascheren
und einfacheren Ausgleich der Forderungen in der Einschränkung des
Borgsystems und in der Verminderung der Umlaufsmittel; diese Ein-
richtung erspart nicht nur dem Staat Prägekosten, sondern sie hat den
Erfolg, die Goldbestände der Zentralbank zu schonen, was wieder eine
günstige Rückwirkung auf den Diskontsatz ausübt; auch trägt sie zur
Verminderung der Schwankungen im Umlauf des Metallgeldes bei.
Welche Erfolge der in Oesterreich in Anlehnung an die Postsparkasse
in Jahr 1883, in Ungarn im Jahr 1896 eingeführte Scheckverkehr
gehabt hat, geht aus der Tabelle V hervor. Noch einen besseren Ein-
blick in die hervorragende Wichtigkeit dieses Geschäftszweigs gewährt
die Aufzählung der verschiedenen Zwecke, zu denen er verwendet wird,
als da sind die Ein- und Auszahlung von Postanweisungen durch Ueber-
schreiben auf das Konto, Einziehung von Giroscheinen und Urkunden,
Einkassierung von Anweisungen; ferner für die Unfallversicherungs-
anstalten: Einziehung der Beiträge und Auszahlung der Renten auf Grund
von Dauerschecks für die Renten, Steuerzahlung durch Schecks. Durch
den Beitritt der Finanz-, Gerichts- und anderen Behörden zum Scheck-
936 Miszellen.
verkehr können Zahlungen an dieselben durch Einzahlung bei irgend
einer Postaustalt vermittelt werden.
Tabelle V. Scheckverkehr.
Einlagen Rückzahlungen
Guthaben | Reservetonds
Zahl der P | Y ar
Jahr | Teilneh- Zahl | aroe ANE | Betrag (in Tausenden); (Ueberschußi
Een fl. bez. K. fl. bez. K.| fl. bez. K. R.
Oesterreich.
1898 ')| 37489 | 14556 |2 207 577| 3660 2194909| 101567
1899] 40271 , 15903 2386043 4036 2384 661 102 950
1900 42658 | 17258 5213085 | 4463 ‚5199845 219 139 196 875
1901 46 345 | 19 051 |5693 975 | 4873 !5076 110| 236 998 686 736
1902 51853 | 2ı 386 (0 229 328| 5433 (6208472 257 854 1 137 530
1903 57 038 | 24 480 6787 364 | 6173 ‚6774685 270533 5 240 268
1904 62 329 27424 !7 424558; 6751 |7436326| 258766 5.251719
Ungarn.
1898 ') b 001 3416 | 529779! 463 528 755 11713
1599 6643 4081 |1 140066) 523 1138204 | 25 288
1900 7 222 4379 | 1282016! 602 1273752 33.552 „|
1901 7920 , 4852 11441823) 712 1438765] 36609 |
1902 8769 | 5449 | 1608618 851 1002 800 42 428
1903 10 312 6351 | 1841441 1025 1835679 48 190
1904 12262 | 7244 2117 246| 1196 |21120933| 52874
Mit Scheck kann Anweisung zur Zahlung an den Ueberbringer,
zur Ausfertigung von Zahlungsanweisungen und Postanweisungen, zur
Einziehung von Urkunden (Rechnungen, Anweisungen, Schuldscheine,
Wechsel), zur Gutschrift auf ein anderes Konto erteilt werden. Es
können nicht nur die Forderungen und Zahlungen sämtlicher beim Aus-
gleich(Clearing-)verkehr Beteiligten durch Gutschrift übertragen werden,
sondern es können auch von jedermann auf ein Scheckkonto bei irgend
einem Postamt Barzahlungen geleistet werden. Dadurch ist jedermann
die Möglichkeit gegeben, seine Steuern, seinen Versicherungs-, seinen Mit-
gliedbeitrag auf die einfachste Weise zu bezahlen; die Teilnehmer des
Clearingverkehrs können dadurch, daß sie alle Schuld und Forderung
zahlbar des Postsparkassenamts stellen, mit geringem Gebührenaul-
wand ihren gesamten Geldverkehr durch die Sparkasse abwickeln lassen
und haben noch den Nutzen, daß ihr Guthaben verzinst wird. Der Vor-
teil dieser Einrichtung springt in die Augen, von den 13!/, Milliarden K.
Umsatz des Jahres 1903 in Oesterreich kamen mehr als 5 Milliarden
(5056 Mill.) durch Gutschrift auf die einzelnen Konten, 414 Mill. durch
Ueberweisungen von und auf die ungarische Sparkasse zum Ansgleich.
3518 Mill. K. waren bare Einzahlungen, für 74 Mill. K. wurden Post-
anweisungen, für 1 Mill. wurden Zinsscheine einkassiert; zurückgezahlt
wurden 17364, Mill. K. auf Grund von Inhaberschecks, 1658 Mill. K
durch Zahlungsanweisungen des Sparkassenamts, 12 Mill. K. durch Post-
anweisungen, 50 Mill. K. durch Einziehung von Urkunden und 4!/, Mill. K.
1) Für Oesterreich sind in den Jahren 1898 und 1899, in Ungarn im Jahre 1895
die Beträge in der Goldwährung (1 fl. — 2 K.) angegeben.
Miszellen. 237
durch Ankauf von Staatspapieren. Der Barversand war bei etwa 5!/, Mil-
liarden K. ausgeschlossen! Das zur Verfügung der Sparkasse stehende
Betriebskapital der Teilnehmer am Scheckverkehr betrug 1903:
2701/, Mill, 1904: 2583/, Mill. K.
Welchen Vorteil die Volkswirtschaft Oesterreichs von dieser außer-
ordentlich segensreichen Einrichtung hat, ist deutlich sichtbar. Es gibt
keine Bank, keine Sparkasse, keine Genossenschaft, keinen Fabrikanten,
keinen größeren Kaufmann oder Geschäftsmann, der nicht Teilnehmer
am Scheck- und Ausgleichverkehr wäre,
Von den 57000 Teilnehmern im Jahre 1903 entfielen 17300 auf Kaufleute,
6500 auf Fabriken, 3800 auf Gewerbetreibende, 4200 auf Vereine und Korporationen,
je 150) auf Advokaten und Behörden, 635 Scheckkonten entfielen auf das Ausland,
worunter 529 auf Deutschland, 23 auf die Schweiz, 16 auf Italien, 14 auf die Türkei
und auf Frankreich.
Neben der Sparkasse ist hauptsächlich der Scheck- und Giroverkehr, der einen
so erheblichen Teil des Geldumsatzes des Wirtschaftslebens vermittelt und infolge-
dessen dem Staat Verfügung über erhebliche Geidmittel gibt, von günstigem Ein-
lud auf den Staatskredit in Oesterreich gewesen. Bis zum Jahre 1903 wurden durch
die Sparkasse, bezw. durch den Scheckverkehr mehr als 150 Mill. K Staatspapiere
angekauft.
Auch in Deutschland wurde schon der Versuch gemacht, diese
höhere Stufe der Geldwirtschaft durch die Post der Allgemeinheit nutzbar
zu machen. Der Staatssekretär v. Podbielski brachte im Etat für 1900
die Einrichtung von 9 Postscheckämtern in Antrag, zu welchem Zweck
eine Denkschrift über die Einrichtung des Postscheckverkehrs ausgearbeitet
worden war. Die Einrichtung war so gedacht, daß das Verfahren zu-
wächst im Weg der Verordnung ins Leben treten sollte, und daß die
spätere gesetzliche Regelung vorbehalten blieb. Aber das ganze Ver-
Jahren war in bureaukratisch engherziger Weise mit Gebühren bepackt,
so daß die Vorlage trotz der entgegenkommenden Haltung des Reichstags,
wiewohl auch hier die Vertreter der Genossenschaften und der Spar-
kassen als Gegner auftraten, sich nicht als lebensfähig erwies und durch
<le Kommission sich eine gründliche Umarbeitung gefallen lassen mußte.
Diese Umarbeitung fiel auch radikal genug aus. Wenn sie einerseits
wesentliche Vereinfachungen hinsichtlich des Verfahrens im Sinne einer
zıehr kaufmännischen Handhabung gegenüber der Regierungsvorlage
eıthielt, so mußte die Bestimmung, daß als Ersatz für die Nichtverzinsung
<er Einlagen keine Gebühren für die im Scheck- und Giroverkehr vor-
Zommenden Geschäfte zu erheben seien, die Vorlage in ihrer von der
Budgetkommission gegebenen und vom Reichstag angenommenen Gestalt
—ler Regierung unannehmbar machen, wie denn auch der Staatssekretär des
Reichsschatzamts am 28. März 1900 eine dahin lautende Erklärung abgab.
In der Tat würde die Durchführung des Scheckverkehrs in der
Schließlich vom Reichstag angenommenen Fassung die Post zur lohn-
Josen Magd der Großbanken, Sparkassen und Genossenschaftsbanken
=zemacht haben und würde zur weiteren Folge gehabt haben, daß der
täbrige Postbankverkehr völlig unterbunden worden wäre. Andererseits
war vorauszusehen, daß die mittleren und kleinen Betriebe, die weiten
Schichten der Bevölkerung, für welche die Einrichtung berechnet war,
Keinen oder nur einen minimalen Gebrauch davon machten, weil sie im
"Verhältnis zu der wegfallenden Verzinsung ihres Betriebskapitals nur
238 Miszellen.
geringen Nutzen hatten. Die Vorlage hätte wohl auf eine günstigere
Beurteilung rechnen dürfen, wenn nicht schon die Grundgebühr zu hoch
berechnet und Nebengebühren auch für im Grund unnötige Formulare
erhoben worden wären. Man muß es bedauern, daß gerade Podbielski,
der in Bezug anf Posttarife eine unglückliche Hand hatte (man denke
nur an den Zeitungstarif), die Vorlage einbringen und vertreten mußte.
Inzwischen ist in der Schweiz am 1. Januar 1906 der Post-
scheck- und Giroverkehr eingeführt worden. Kurz und bündig, klar
und durchsichtig, wie man es von den Gesetzen und Verordnungen
dieses Landes gewöhnt ist, sind die Bestimmungen darüber. Das Ge-
setz beschränkt sich darauf, festzusetzen, daß die Aufgaben der Post
durch die Annahme, Auszahlung und Anweisung von Geldbeträgen im
Postscheck- und Giroverkehr ausgedehnt werden sollen, daß zu diesem
Zwecke der Oberpostdirektion eine neue Abteilung angegliedert und daß
vorbehältlich späterer gesetzlicher Regelung alle Einzelheiten, insbesondere
die Gebührensätze, durch bundesrätliche Verordnung bestimmt werden
sollen. Die Gebühren und der den Kontoinhabern zu vergütende Zins
sollen zwar die Kosten und das Risiko der Verwaltung decken, aber
keinen Gewinn ergeben. Eine Vergleichung der Gebührensätze im Scheck-
verkehr ergibt folgendes Bild:
Gebühren 4 |
-o uu
|
Stamm- | Zins |
einlage | °/, tin | Aus- Veber- Formular
zahlungen | zahlungen tragongen
1 = -x =
| I
Schweiz 100 fres. 1,8 | für je | a) beim Scheck- für je unentgeltlich
100 fres. amt für je 100 fres.|1000fres.
5 cts. Jets. üb. 5000 fres.| 10 cts.
| ‚für je 200 fres. |
| 110 ers.
| b) heim Postamt!
außerdem 5 cts.)
fester Zuschlag
Inkasso
Oesterreich |200 K. | 2,0 feste Gebühr: 4 h. Lastschriften|von Postanweisungen, Zins-|Einzahblungsctet
außerdem '/, °/æ bis 6000 K., '/s°/»w scheinen 2 h. pro St. von 18.2
bei Beträgen über 6000 K. (bei Gut-)Wechseln, Rechnungen, An-|Scheckhücher mi
schrift im Clearingverkehr, Post-|weisungen. t/,°,, mindestens 50 St
anweisungen und bei Ankauf von 40 h. (keine Gebühr wenn| Gebühr: ? K.
Staatspapieren wegfallend) zahlbar Sparkasse) für Ein-| Stempel: ? K
holung von Akzepten pro
St. 40 h., für Einwechselung
. fremden Geldes '/,°/,, mind.
20 h., für Einlösung von
Schuldurkunden 20 h. pro St.
Deutschland] 100 M. | 1,2 bis 5M. 5 Pfg., über 5 M. 10 Pfg Abholung beim Postamt: Zahlkarte
(abgelehnter außerdem Rückzahlgebühr !/,®/,, bis|10 Pfg., Widerruf von Scheck) 1 St.: 1,9 Pit.
Entwurf) 13000 M., 4 ”/oo bei Beträgen über! 50 Pfg. Scheck
‚3000 M. (Gutsehriften und Postan- 1 St.: 3 Pie
weisungen ausgeschlossen) Briefumschlag lu‘
i Scheck
| 1 St.: 1,5 Pf.
Miszellen. 239°
Noch weit mehr als der Sparkassenbetrieb weist der Scheck- und
Giroverkehr auf eine Zentralisierung hin, um den größten Nutzen für
die Allgemeinheit daraus zu zieben, und um auch für die mittleren und
kleineren Betriebe den Vorteil internationaler Beziehungen im Geldver-
kehr, wie ihn die Großbanken schon haben, erreichbar zumachen. Wer
anders könnte die Zentralisierung dieses Verkehrszweigs besser durch-
führen, als die Postverwaltung, die durch ihre Organisation ein
weitverzweigtes Netz von Adern und Aederchen darstellt, in deren
Kanälen auch die kleinsten Zufuhren des Verkehrs für das Ganze be-
fruchtend wirken können und die durch ihr Personal hierzu besonders
befähigt ist.
Auf die technischen Einzelheiten des Scheckverfahrens soll hier
nicht. weiter eingegangen werden; es erübrigt dies um so mehr, als
trotz des ausgedehnten Gebrauchs des Schecks im Bankverkehr eine
gesetzliche Regelung des Wesens eines Schecks in Deutschland noch
nicht besteht. Auf den Gebrauch, den die Reichspost vom Scheck- und
Giroverkehr bei der Ein- und Auszahlung von Postanweisungen macht,
der aber, wenn auch große Summen dabei in Betracht kommen, doch
in Bezug auf Ort und Person in: beschränkten Grenzen bleiben muß,
ist schon oben hingewiesen worden.
Ich möchte diese Besprechung des Postbankwesens nicht abschließen,
ohne auf Einrichtungen bei der Post in einigen Ländern hingewiesen
zu haben, die auch im Zusammennang mit dem Bankwesen stehen. Es
ist dies das Lebensversicherungs- und Leibrentengeschäft der groß-
britannischen Post und .der Postrenten- und Lebensversicherungsdienst
in Belgien. Gemeinsam ist den Einrichtungen in beiden Lündern, daß
sie auf die ärmeren Volksschichten berechnet sind und damit bis zu
einem gewissen Grad einen Ersatz für die in Deutschland vorhandene
Invalidenversicherung darstellen; insofern bei der Rentenversicherung
in England wie in Belgien ein weitgehender Spielraum hinsichtlich der
Bezahlung der Beiträge nach der Zeit und dem Betrag gelassen ist und
in England die Einrichtung in einen nahen Zusammenhang mit der
Sparkasse gebracht ist, kommt diese Einrichtung den Bedürfnissen der
ärmeren Volksklassen weit entgegen, wie sie auch hinsichtlich der Frei-
willigkeit und der geringeren Kostspieligkeit der Verwaltung vor der
deutschen derartigen Einrichtung einen gewissen Vorzug besitzt. In
Belgien zielt die Bestimmung des Rentenvertrages, daß die Rente vor
dem im V ertrag vorgesehenen Alter zahlbar sei, wenn der Versicherte in
Ausübung seines Berufes einen Unfall erlitten and infolgedessen arbeits-
unfähig geworden sei, vorausgesetzt, daß er der Rentenkasse 5 Jahre
lang angehört habe, auf eine Unfallversicherung bin. Der Höchstbetrag
der in einem solchen Fall zahlbaren Rente beträgt 360 fres. jährlich.
In England kann eine Lebensversicherung bei der Post für Beträge von
5—100 £ eingegangen werden. Eine ärztliche Untersuchung ist nur bei Versiche-
rungen von mehr als 25 £ erforderlich. Die Bezahlung der Prämien ist durch Ver-
mittlung der Postsparkasse zahlbar, sei es, daß sie aus den Zinsen der Einlagen
oder aus den Zinsen der im Auftrag des Sparers gekauften Staatspapieres bestritten,
oder den Einlagen selbst entnommen werden. Ueber die Höhe der Leibrenten, auf
die man sich einkaufen kann, ist zwar nichts Näheres bestimmt, doch ergibt sich schon
240 Miszellen.
daraus, daß die Beteiligung an der Sparkasse gefordert ist, daß im allgemeinen die
Einrichtung nur für die Aermeren berechnet ist. In Belgien sind die Postanstalten
nur die Zweigstellen der Allgemeinen Spar- und Rentenkasse, in deren Auftrag
sie sowohl den Einzug der Prämien als die Bezahlung der Renten besorgen. Der
Höchstbetrag der Rente darf jährlich 1200 fres., derjenige der Lebensversicherung
5000 fres. nicht übersteigen.
Für Deutschland könnte die Einrichtung eines solchen Lebens-
versicherungs- und Leibrentendienstes im Anschluß an eine Postspar-
kasse erst dann praktisch werden, wenn es sich darum handeln würde,
für diejenigen ärmeren oder weniger bemittelten Volksschichten, die
bei der Unfall- und Invalidenversicherung nicht beteiligt sind, wie die
selbständigen Handwerksmeister, als Ersatz für diese Versicherung eine
wohlfeile, freiwillige Versicherungsgelegenheit zu schaffen.
Ich komme zum Schluß. Durch die Erörterung über das Post
baukwesen hoffe ich gezeigt zu haben, von welcher einschneidenden Be-
deutung dieser Zweig des Postbetriebs für die gesamte Volks- und
Staatswirtschaft durch eine zeitgemäße Ausgestaltung werden kann und
ich glaube mit der Behauptung kaum viel fehlzugehen, daß, wenn Deutsch-
land bei Zeiten den von Oesterreich mit so großem Erfolg beschrittenen
Weg gegangen wäre, in den letzten 20 Jahren nicht nur 100 Mill. bei
der Begebung von Reichs- und Staatsanleihen gespart, sondern dal
auch die Reichsfinanzreform in ihrem jetzigen Umfang nicht nötig ge-
worden wäre.
Deshalb kann ich nur den Wunsch aussprechen, es möchten die
maßgebenden Faktoren, unbekümmert um den Widerstand einseitiger
Interessen, an den weiteren Ausbau des Postbankwesens bald herantreten.
|
|
i
|
Literatur. 241
Literatur.
II.
Die Jahresberichte der deutschen Gewerbeaufsichtsbeamten.
Besprochen von W. Kähler in Aachen.
Zur Besprechung !) liegen vor:
1) Jahresberichte der kgl. preußischen Regierungs- und Gewerberäte
und Bergbehörden für 1905. Amtliche Ausgabe. Berlin (R. v. Decker)
1906. 740 SS.
2) Jahresberichte der kgl. bayerischen Fabrik- und Gewerbe-
inspektoren, dann der kgl. bayerischen Bergbehörden für das Jahr 1905.
Mit einem Anhang betr. Erhebungen über die wirtschaftliche Lage der
gewerblichen Arbeiter Bayerns: II. Teil. Lohnverhältnisse, Wohnungs-
und Ernährungswesen. Im Auftrage des kgl. Staatsministeriums des
Königlichen Hauses und des Aeußeren veröffentlicht. München (Acker-
mann) 1906. 393, 202 SS.
3) Jahresberichte der Gewerbeaufsichtsbeamten im Königreich
Württemberg für 1905. Stuttgart (Lindemann) 226 SS.
4) Jahresberichte der Großherzogl. badischen Fabrikinspektion für
das Jahr 1905. Erstattet an großherzogliches Ministerium des Innern.
Karlsruhe (Thiergarten) 1906. 140 SS.
5) Die württembergischen Gewerbeinspektion. Ihre Entwickelung
und ihre Aufgaben. Im Auftrage der Königl. Zentralstelle für Gewerbe
und Handel bearbeitet von H. Schäffer, Oberamtmann. Stuttgart
(Wittwer) 1906. 249 SS.
Wie die vorjäbrige Besprechung der Jahresberichte der deutschen
Gewerbeaufsichtsbeamten mit dem Hinweis auf die badische Jubiläums-
schrift eröffnet werden konnte, so gebührt die erste Stelle der dies-
jährigen Besprechung der württembergischen Jubiläumsschrift
von Schäffer, welche gleich der Bittmannschen eine wichtige Be-
reicherung der Literatur über die Gewerbeinspektion darstellt. Die
Schwierigkeiten einer Darstellung der an Material reichen Periode der
ersten 25 Jahre württembergischer Gewerbeinspektion sind in ihr ge-
schickt gelöst. Erleichtert wurde dies durch die Eigenart der Einrichtung
1) Vergl. Jahrbücher, III. Folge, Bd. 24, S. 679; Bd. 27, S. 211; Bd. 29, S. 78;
Bd. 30 S. 686.
Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII). 16
242 Literatur.
der wüttembergischen Gewerbeaufsicht: Obwohl auch in Württemberg
die Ausdehnung der Industrie und der Ausbau der Aufgaben der Ge-
werbeinspektion in diesen 25 Jahren eine starke Vermehrung der persön-
lichen Kräfte notwendig machte, ist doch die Einheitlichkeit der Ge-
werbeinspektion aufrecht erhalten worden, ohne eine Schematisieruny
heraufzubeschwören; denn die Geschlossenheit des Staatsgebiets und
die zentrale Lage der Landeshauptstadt gegenüber den wichtigsten
Industriegebieten ermöglicht die örtliche Zusammenfassung der die ver-
schiedenen Amtsbezirke verwaltenden Beamten am Sitz der Zentralstelle
für Gewerbe und Handel. Darin liegt eine in anderen Staaten nicht
nachahmbare Besonderheit der württembergischen Verhältnisse: An
Stelle der zwei 1879 nebenamtlich beauftragten Fabrikinspektoren sind
1905 für die inzwischen gebildeten vier Bezirke je drei hauptamtliche
Beamte, ein Gewerbeinspektor, ein Gewerbeassessor und ein Gewerbe-
inspektionsgehilfe getreten, denen sich zwei hauptamtliche Assistentinnen
und eine nebenamtliche Hilfskraft anschließen. Diese 15 Beamten haben
alle ihren Amtssitz in Stuttgart, und ohne daß eine Kollegialverfassung
eingerichtet wurde, ist es gelungen, durch ihre in steter persönlicher
Fühlung erfolgende Arbeit unter Leitung der Zentralstelle für Gewerbe
und Handel und durch regelmäßige gemeinsame Besprechungen aller
Beamten über wichtige dienstliche Angelegenheiten, insbesondere über
die Ein- und Durchführung neuer gesetzlicher Bestimmungen, sowie
besonderer Erfahrungen und Vorkommnisse bei der Ausübung der Auf-
sichtstätigkeit den Zusammenhang so aufrecht zu erhalten, dab die
Gleichmäligkeit der Geschäftsbehandlung gewahrt blieb. Zudem rühmt
der Berichterstatter dieser Art der Zusammenarbeit noch gegenüber
kollegialen Beschlüssen nach, daß die leitenden Gewerbeinspektoren bei
ihren Entscheidungen in schwierigen Fällen eine gewisse Sicherheit
gewinnen, ohne daß die Selbständigkeit und Verantwortlichkeit des
Einzelnen dadurch beeinträchtigt wird. So kann auch der Berichterstatter
als Ergebnis der 21/, Jahrzehnte langen Tätigkeit der Gewerbeinspektion
ein einheitliches Bild von den Grundsätzen bei der Durchführung der
gesetzlichen Vorschriften geben.
Die Schäffersche Arbeit unterscheidet sich von der badischen
Jubiläumsschrift zunächst dadurch, daß ihr Verfasser nicht selbst Ge-
werbeinspektor ist. Bekam die badische Arbeit an manchen Stellen
durch die Lebhaftigkeit ihres Verfassers, der selbst mitten in der
praktischen Arbeit der Gewerbeinspektion steht, einen persönlich warmen
Ton, so steht Schäffer mehr als kühler, sachlicher Berichterstatter und
wohl auch einmal als Kritiker seinem Gegenstand gegenüber. Aber
das ist keineswegs ein Mangel der Arbeit: Konnten wir von dem Bitt-
mannschen Buch sagen, daß es einem Handbuch der Praxis der Ge-
werbeinspektion ähnle, so gilt dies von manchen Teilen des Schäffer-
schen Buches in gleichem Maße, der Verfasser hat aus den Erfahrungen
der württembergischen Gewerbeinspektion die wichtigsten Ergebnisse über-
sichtlich zusammengestellt, und wie er z. B. die Art und Weise der
Revisionen gewerblicher Betriebe darstellt (S. 153 ff.), ist sehr lehrreich.
Aber wenn Bittmann vielleicht in erster Linie für Gewerbeaufsichtsbeamte
Literatur. 243
schrieb, so eignet sich die Schäffersche Arbeit ganz vorzüglich dazu,
Außenstehende mit den Aufgaben und Wirkungen der Gewerbeinspektion
vertraut zu machen und insbesondere dürften die Beamten der Polizei-
verwaltung, die so oft mit der Gewerbeinspektion zusammenarbeiten
müssen, aber auch weitere Kreise das Buch mit Vorteil lesen.
In uen ersten Jahren (1879—1886) wurden zwei Beamte der
Zentralstelle für Gewerbe und Handel nebenamtlich mit der Ausübung
der Gewerbeinspektion betraut. Das hatte zwar den einen Vorteil, daß
das Institut leichter Boden faßte, indem die auch sonst mit den ge-
werblichen Verhältnissen vertrauten und den Gerwerbtreibenden persön-
lich bekannten Beamten nicht von vornherein unter dem Mißtrauen
und Widerstand der Inhaber der revidierten Betriebe zu leiden hatten
und eine allmähliche Eingewöhnung stattfinden konnte. Aber die Revisions-
tätigkeit selbst und damit natürlich auch die Durchführung der gesetz-
lichen Bestimmungen mußten darunter leiden, daß die Beamten in ihrem
Hauptamt stark in Anspruch genommen waren. Das änderte sich 1887,
als der eine bisherige Fabrikinspektor Diefenbach zu hauptamtlicher
Arbeit berufen wurde, und ihm gleich eine technische Hilfskraft haupt-
amtlich beigegeben wurde. Allmählich ist dann den wachsenden Aufgaben
gegenüber einer Vermehrung des Personals eingetreten; diese bot zu-
gleich die Möglichkeit der Heranziehung eines geeigneten Nachwuchses
an akademisch gebildeten Beamten, ohne doch für diesen einen genau
geregelten Bildungsgang (etwa wie in Preußen) vorzuschreiben. Als
württembergische Besonderheit tritt bei dieser Vermehrung des Personals
die verhältnismäßig frühzeitige Anstellung einer Assistentin (1899),
die Gewinnung von Hilfskräften aus dem Arbeiterstand (1903) und endlich
neuerdings die Beistellung einer ärztlichen Hilfskraft (1905) hervor.
Bei Anstellung der Assistentinnen ist nicht in Aussicht genommen, ihnen
einen selbständige Arbeit zuzuweisen; vielmehr treten ihre Revisionen
nur ergänzend zu den Revisionen der männlichen Beamten in denjenigen
Betrieben des Landes, welche ausschließlich oder vorwiegend weibliche
Arbeitskräfte beschäftigen; außerdem ist ihnen neuerdings besonders
die Ueberwachung der Bestimmungen des Kinderschutzgesetzes über-
tragen. — Die Hilfskräfte aus dem Arbeiterstand sind vor allem zur
Revision kleiner Betriebe herangezogen, also nicht, wie es die weiter-
gehenden ursprünglichen Forderungen beabsichtigten, allgemein zu den
Aufgaben der Gewerbeinspektion; auf diesem beschränkten Gebiet haben
sie sich bewährt und namentlich auch zur Entlastung der akademisch
gebildeten Beamten beigetragen, die sich nun um so eingehender
um die größeren und schwierigeren Betriebe kümmern konnten. — Die
Heranziehung eines besonders in hygienischen Fragen bewanderten
Arztes zu Arbeiten der Gewerbeinspektion, die sich auf dem Gebiet der
Fabrikhygiene bewegen, entsprach einem lebhaft empfundenen Bedürfnis,
dem die schon vorher mögliche Fühlung mit den beamteten Aerzten
im Lande nicht gerecht werden konnte. Daher ist ein Mitglied des
Medizinalkollegiums dauernd nebenamtlich bei der (rewerbeinspektion
tätig, um die Beratung der Gewerbeinspektoren schnell und ohne Um-
stände sowie von einheitlichen Gesichtspunkten aus sicherzustellen.
16*
244 Literatur.
Als besondere Eigentümlichkeit ist auch die Ausgestaltung eines
Systems von Vertrauenspersonen an den verschiedensten Orten zu be-
zeichnen. Seit Beginn der 1890er Jahre ist man damit vorgegangen,
um den als Mangel empfundenen geringen persönlichen Verkehr der
Arbeiter mit den Gewerbeinspektoren durch geeignete Maßnahmen zu
heben oder zu ersetzen. Die Anregung zu dieser Einrichtung ging von
den Gewerkschaften aus und wurde dann von der Gewerbeinspektion
planvoll ausgestaltet, so daß an den wichtigsten Orten männliche und
weibliche Vertrauensleute verschiedenster Stellung zur Verfügung stehen.
Der Verkehr ist teils ein persönlicher an Ort und Stelle, teils erfolgt
er schriftlich, teils gelegentlich von Konferenzen, die alle 2 Jahre ver-
anstaltet wurden. Während die männlichen Vertrauensleute dazu ge-
dient haben, ein Vertrauensverhältnis zwischen Gewerbeinspektion und
Arbeiterschaft anzubahnen, ist die Wirksamkeit der weiblichen noch
gering und wird eine Aenderung in dieser Hinsicht auch nicht erwartet.
Aus dem Buch mit seinen klaren und übersichtlichen Ausführungen
klingt überall als Grundton heraus, daß es der württembergischen Ge-
werbeinspektion gelungen ist, die schwere Aufgabe, die ihr vom Gesetz
gestellt wurde, innerhalb der großen Schwierigkeiten, die ihr wie überall
so auch hier entgegenstelien, mit ehrenvollem Ertolg der Lösung näher-
zubringen. Es ist eine bemerkenswerte Feststellung, wenn gesagt
werden kann: „In neuerer Zeit gilt der jedes Jahr zu erwartende Be-
such des Gewerbeinspektors als kein besonderes Ereignis mehr, und
die Aufsichtsbeamten gewinnen, wenigstens in den größeren Betrieben,
immer den Eindruck, daß der Betrieb bei ihrem Besuch ganz normal
weiter geht, ohne daß etwa besondere Vorbereitungen getroffen werden
und ohne daß, wie es früher öfter der Fall war, eine gewisse Aufregung
im Betrieb sich zeigt“ (S. 154).
Ohne auf die Fälle des in dem Buch niedergelegten Materials über
die Auslegung und Durchführung der gesetzlichen Vorschriften, die Orga-
nisation und Praxis des Aufsichtsdienstes näher einzugehen, will ich
nur darauf hinweisen, daß neben der in der Einleitung gegebenen Ueber-
sicht über die Entwickelung der gewerblichen Verhältnisse in Württem-
berg auch Zusammenstellungen über Streiks und Aussperrungen, über
die Gewerbegerichte und die Arbeitsvermittlung, sowie die Ergebnisse
der von den Gewerbeinspektoren veranstalteten statistischen Erhebungen
über die Zahl und Größe der Betriebe und der beschäftigten Arbeiter
nach Industriezweigen geordnet ausführlich mitgeteilt werden.
Wird in Württemberg das Verständnis für die Gewerbeinspektion
schon dadurch wesentlich gefördert, daß die Jahresberichte in erheb-
licher Anzahl unentgeltlich an weiteste Kreise abgegeben werden, so
wird auch dies Buch dazu beizutragen vermögen, diese für die Wirk-
samkeit der Gewerbeinspektion so bedeutsame Voraussetzung in den
beteiligten Kreisen mitzuschaften.
Hinsichtlich der Form der Jahresberichte sind wesentliche
Veränderungen gegen das Vorjahr nicht zu verzeichnen. Die süddeut-
schen Berichte zeichnen sich nach wie vor durch größere Lebhaftigkeit
Literatur. 245
und Ausführlichkeit der Schilderung vor dem preußischen Bericht aus;
bei diesen müssen aber die steigende Zahl der Berichterstatter und die
Schwierigkeit der daraus sich ergebenden Fülle des zuströmenden Ma-
terials als Erklärung für einen gewissen Schematismus der Darstellung
anerkannt werden. Noch ist es möglich, diese Berichte wirklich durch-
zulesen. Würde eine von manchen Seiten befürwortete größere Aus-
führlichkeit auch für die preußischen Berichte vorgeschrieben werden,
so würde die an sich sicherlich schon nicht sehr große Zahl der Leser
der Berichts roch mehr zusammenschrumpfen und sich auf einige wenige
Parlamentarier und literarische Berichterstatter beschränken. Auch in
Württemberg hat sich mit der im Berichtsjahr vollzogenen Vermehrung
der Bezirke und des Personals der Gewerbeinspektion eine andersartige
Berichterstattung als notwendig herausgestellt: die Berichte der Be-
amten werden nicht mehr nacbeinander geschlossen mitgeteilt, sondern
sind nach Gegenständen geordnet, zusammengefaßt, aber derart, daß
der Ursprung der Einzelschilderung kenntlich bleibt. Auch in dieser
Form merkt ınan die von früher bekannte Eigenart der Berichterstatter
deutlich heraus, selbst wenn die Einzelschilderungen nicht die genaue
Bezeichnung ihres Ursprungs trügen. Die Redaktion der einzelnen
sachlich angeordneten Abschnitte soll aber unter den Gewerbeinspek-
toren in regelmäßiger Zeitfolge wechseln. Die endgültige Fassung des
Gesamtberichts wird von allen Inspektoren gemeinschaftlich fest-
gestellt werden.
Dem bayerischen Bericht ist in diesem Jahre als Anhang eine
Darstellung der Erzeugnisse von Erhebungen über die wirt-
schaftliche Lage der gewerblichen Arbeiter beigefügt.
Bisher bezogen sich diese Erhebungen auf bestimmte Gewerbe, nämlich
der Schmiede, der Maurer, der Müller, der Bierbrauer, der Textilarbeiter ;
einmal (1903) waren Arbeitsgelegenheit, Arbeitsnachweis, Arbeitslosen-
fürsorge Gegenstand der zusammenfassenden Darstellung. Als Fort-
setzung dieser Arbeit stellen sich die diesjährigen Erhebungen dar,
welche sich beziehen sollten auf die Lohnverhältnisse, das Wohnungs-
wesen und die Ernährung oder Lebensweise der Arbeiter. Bezüglich
der Lohnverhältnisse war von vornherein eine Beschränkung auf be-
stimmte Industriezweige vorgesehen, um die Arbeitsbelastung der ein-
zelnen Beamten nicht zu sehr anschwellen zu lassen. Als solche wurden
gewählt für Oberbayern die Maschinenindustrie, für Niederbayern die
Papier- und Pappenindustrie, für die Pfalz die chemische Industrie, für
die Oberpfalz die Glasindustrie, für Oberfranken die Porzellanindustrie,
für Mittelfranken die Möbelindustrie, für Unterfranken die Steinindustrie,
für Schwaben die Brauerei. Auch für die Untersuchung der Wohnungs-
verhältnisse war das Arbeitsgebiet eingeschränkt; es sollten lediglich
Berücksichtigung finden diejenigen Arbeiterwohnungen, welche nicht
von Arbeitern in Privathäusern gemietet werden, sondern von Arbeit-
gebern, von Staat und Gemeinde, oder von Baugenossenschaften und
dergleichen zur Verfügung gestellt werden. Bezüglich der Ernährungsver-
hältnisse war eine solche allgemeine Beschränkung nicht angeordnet;
doch ergab sich vielfach die Berücksichtigung der besonders untersuchten
246 Literatur.
Arbeitergruppe auch bei dieser Frage ganz ungesucht, so daß gerade
für sie genauere Ergebnisse geboten werden konnten. Bei dieser Er-
hebung sind nun zum Teil sehr beachtenswerte Darstellungen geliefert
worden. Neben den Arbeiten über die Verhältnisse in der Pfalz, in
Oberfranken und der Oberpfalz ist ganz besonders der Unterfranken
betreffende Bericht anerkennend hervorzuheben. Sind die für die Ober-
pfalz gegebenen Schilderungen einer schlecht gehenden Industrie mit
den allerungünstigsten Arbeits- und Lebensbedingungen wegen der
Aufdeckung dieser traurigen Zustände beachtenswert, so sind die Er-
hebungen über die unterfränkische Steinhauerei nicht nur durch ihren
interessanten Inhalt, sondern auch durch ihre gute und übersichtliche
Darstellungsweise ausgezeichnet.
Die Lohnstatistiken bieten zum Teil ein umfangreiches und inter-
essantes, gut gegliedertes Material. Das ergibt schon folgende Ueber-
sicht. Es sind mitgeteilt die Lohnstatistiken für
Arbeiter
Bezirk Industrie von der Gesamt- sind in der Stati-
zahl in Höhe von stik berücksichtigt
Oberbayern Maschinen ? 3 592
Niederbayern Papier 2 I 532
Pfalz Chemische goi 3 495
Oberpfalz Glas 3385 2 951
Oberfranken Porzellan 9000 2 151
Mittelfranken Möbel 3814 1 051
Unterfranken Stein 7000 1 983
Schwaben Brauerei 2307 73
Zusammen 17541
Es sollten bei den Lohnerhebungen nur wirklich bezahlte Löhne
aus den Lohnlisten ermittelt werden; dazu wurde übereinstimmend das
Jahr 1904 gewählt, welches nach Ausweis der Gewerbeinspektions-
berichte für 1904 als ein normales bezeichnet werden kann, indem in
fast allen Industriezweigen normale Beschäftigung und Arbeitsdauer
erreicht wurden. Für die Gruppierung wurde im wesentlichen die von
Wörishoffer für die badischen Erhebungen ausgearbeitete Form ange-
wendet. Indes ist die Durchführung der Arbeit in den einzelnen Be-
zirken und Berichten keineswegs gleichmälig erfolgt.
Der Bericht für Oberbayern teilt die Art der Materialgewinnung
und die Ergebnisse der Erhebung, getrennt für 13 Münchener Fabriken
und außerhalb Münchens gelegene Betriebe, in einwandsfreier Dar-
stellung mit: es werden die Wochen- und Stundenverdienste in Ab-
stufungen von je 3 M. und je 5 Pfg. für 15 und 13 nach der Be-
schättigung unterschiedene Arbeitergruppen, die in sich wieder nach
dem Alter in 4 Klassen eingeteilt werden, zusammengestellt. Das
Material ist dadurch gewonnen, daß aus den Lohnlisten eine Woche
mit normalem Beschäftigungsgrad ausgewählt wurde und für alle in
dieser Woche beschäftigten Arbeiter für das Jahr 1904 die Beschäf-
tigungsdauer in Wochen und Stunden, sowie die tatsächlich verdienten
Löhne ermittelt wurden. Es kann hier nur bemängelt werden, dab
nicht die durchschnittliche Beschäftigungsdauer mitgeteilt ist (die An-
Literatur. 247
gaben auf S. 16 können als Ersatz dafür nicht gelten): immerhin geht
aus der ganzen Arbeit hervor, daß ein hinreichend langer Zeitraum den
Beobachtungen zu Grunde liegt. — Für Niederbayern wird bemerkt:
„Die Grundlage der Lohnerhebung bilden wirklich gezahlte Löhne aus
dem Betriebsjahre 1904, aus je zwei Lohnzeitabschnitten von Sommer-
und Wintermonaten gewonnen, unter Berücksichtigung des durchschnitt-
lichen Zuschlages aus Akkord-, Prämien- und Ueberarbeitsverdienst.“
Freilich kann der Verfasser dieses Berichts sich hinsichtlich der Methode
auch auf Wörishoffer berufen, der die Verdienste von zwei Winter- und -
zwei Sommerwochen zusammenrechnete und den vierten Teil als Durch-
schnittslohn ansah. Aber diese summarische Methode Wörishoffers hat
lebhaften Widerspruch gefunden und führt leicht zu falschen Schlüssen,
weil keine Möglichkeit bei ihr besteht, die Dauer der Beschäftigung
und der täglichen Arbeitszeit zu berücksichtigen. Zudem hätte dann
wenigstens der Charakter der Berichtswochen angegeben werden müssen,
während man jetzt nicht weiß, ob sie den durchschnittlichen Verhält-
nissen schätzungsweise nahekommen. Wenn der Verfasser in der Lage
war, den „durchschnittlichen Zuschlag aus Akkord- u. s. w. Verdienst“
zu berücksichtigen, so mußte er über die absolute Höhe und die Art
der Berechnung genauere Angaben machen, als nachher auf S. 34 ge-
schieht. — Der Bericht für die Pfalz zeichnet sich durch Anschaulich-
keit, Klarheit und Reichhaltigkeit des gebotenen Materials aus. Leider
aber fehlt auch hier eine wichtige grundlegende Angabe: es ist nicht
angegeben worden, auf welche Weise die durchschnittlichen Wochen-
löhne ermittelt sind. Aus den übrigen Bemerkungen über die Material-
gewinnung spricht ein gutes Verständnis für diese Art statistischer
Arbeiten, so daß dieser Mangel besonders auffällt; aus den übrigen An-
gaben möchte man herauslesen, daß die Jahresverdienste aus Lohnlisten
ermittelt sind. — Aehnliches ist für die Arbeit über die Oberpfalz zu
sagen. Hier sind die Angaben interessant und eigenartig durch die
ganz besonderen Zustände, welche die Glasindustrie in diesem Bezirk
aufweist. Das äußert sich z. B. auch darin, daß neben dem Lohn häufig
Wohnung und Verpflegung geboten werden. Deshalb müßten die Tabellen
je mit Rücksicht auf diese Verhältnisse in drei Teile zerlegt werden.
Aber es fehlt jede Angabe über die Art der Beschaffung des Materials.
— Der Berichterstatter für Oberfranken schreibt: „Die Grundlagen für
die folgenden Lohnerhebungen bilden die Lohnlisten von einer Anzahl
Fabriken zum Zwecke der Gewinnung eines Durchschnittsbildes. Hierbei
wurden die Verdienstunterschiede in den verschiedenen Jahreszeiten
berücksichtigt.“ Es ist selbstverständlich, daß man sich daraus über
die Tragweite des beigebrachten Materials gar kein Bild machen kann.
Auch hier ist dieser Mangel um so bedauerlicher, weil viel Material
mit Verständnis behandelt wird. Jede Angabe über die Gewinnung
des Materials für die Lohntabellen fehlt in dem dürftigen Bericht über
Mittelfranken. — Demgegenüber ist die Materialgewinnung vorzüglich
behandelt in dem unterfränkischen Bericht, in dem auf die Schwierig-
keiten sachgemäße Rücksicht genommen wird und die notwendig werden-
den Ergänzungen zur Ermittelung der Jahresverdienste sich finden. —
248 Literatur.
Dagegen entspricht die Zusammenstellung für Schwaben auch den be-
scheidensten Anforderungen nicht.
Wollten wir in der gleichen Ausführlichkeit die in dem letzten
Abschnitt mitgeteilten Angaben über Haushalt und Ernährung kritisch
beleuchten, so würde sich eine noch viel reichlichere Blütenlese von
Anständen ergeben. Neben sehr brauchbaren Materialien finden sich
Angaben, die jede praktische Bedeutung verlieren, wenn man ihnen
etwas näher zu Leibe geht. Es genügt, darauf hinzuweisen, daß Haus-
haltungsanschreibungen für einen Monat mitgeteilt werden, ohne An-
gabe darüber, in welcher Jahreszeit dieser Monat lag, ob außergewöhn-
liche Aufwendungen oder Zahlungen, die in längeren als monatlichen
Fristen wiederkehren, gemacht worden sind; u. dergl. m.
Es ist Zufall und nicht Absicht, daß wie in dem vorjährigen Be-
richt, so auch heuer wieder die bayerischen Arbeiten dazu dienen
müssen, auf methodische Fehler der Arbeit der Gewerbeinspektoren hin-
zuweisen. Obwohl es die gleichen Punkte sind, an die ich im vor-
jährigen Bericht anknüpfte, so möchte ich doch einmal die Frage von
ihrer grundsätzlichen Seite beleuchten. Es handelt sich dabei ebenso-
wohl um eine praktische Frage des Gewerbeauisichtsdienstes, wie um
eine wissenschaftliche Angelegenheit.
Die Autgabe, welche die Gewerbeinspektion in der Ueberwachung
der Ausführung des Arbeiterschutzes hat, setzt von den Gewerbeautsichts-
beamten neben der technischen Durchbildung und Gesetzeskenntnis die
Kenntnis der wirtschaftlichen Verhältnisse der Industrie und insbe-
sondere der Arbeiter voraus. Von jeher haben es die Aufsichtsbeamten
für ihre Aufgabe gehalten, sich in dieser Hinsicht auf dem Laufenden
zu erhalten und ihre besonderen, gelegentlich oder planmäßig angestellten
Beobachtungen in ihren Jahresberichten zu verwerten. Die Wissen-
schaft ist dadurch um eine Reihe schöner Arbeiten und viel wertvollen
Stoff bereichert worden: Die Gewerbeinspektion ist so heut schon grund-
sätzlich und zum Teil auch wirklich eines der wichtigsten Beobachtungs-
organe der nationalöükonomischen Wissenschaft im Gebiet des gewerb-
lichen Lebens und könnte es noch in stärkerem Maße werden, wenn
die einschlägigen Arbeiten die wissenschaftlich ausgearbeiteten Methoden
zur Anwendung brächten. Die Wissenschaft hat um der Ergebnisse
für die wissenschaftliche Erkenntnis willen den Wunsch, daß die von
den Gewerbeinspektoren geleistete Arbeit auch methodologisch einwand-
frei erfolgt; denn nur dann sind die Ergebnisse der Arbeit allgemein
gültig und weiter verwendbar. Aber auch die Gewerbeinspektion hat
ein Bedürfnis, daß das Material, das sie produziert, einwandsfrei sei
und allen Ansprüchen genüge. Die Anwendung der von der Wissen-
schaft ausgebildeten Methoden soll doch zu nichts anderem dienen, als
den tatsächlichen Verhältnissen so nahe wie möglich zu kommen und
die Wahrheit zu erforschen, vor Fehlern in der Auffassung und Dar-
stellung zu bewahren und falsche Schlüsse aus dem Material, nament-
lich falsche Verallgemeinerungen zu verhindern, gleichzeitig aber auch
die Arbeit selbst zu erleichtern. Die Gewerbeinspektion selbst mul
auf eine der Wahrheit möglichst nahekommende Erfassung der von
Literatur, 249
ihr bearbeiteten Verhältnisse selbst größten Wert legen, um auf
ihrem Arbeitsgebiet genau unterrichtet zu bleiben: die einzelnen Be-
amten sollen sich auf ihrem Gebiet gründlich umsehen, dazu dienen
solche Erhebungen, wie sie in Bayern veranstaltet werden, in beson-
derem Maße; sie sollen aber auch ihren Kollegen die Ergebnisse ihrer
Arbeit mitteilen; dazu dient die Veröffentlichung dieser Arbeiten. Die
Gewerbeinspektion muß aber außerdem damit rechnen, daß das von ihr
zusammengestellte Material allgemein auch als Grundlage wirtschafts-
politischer Erwägungen und Maßnahmen benutzt wird, was durch die
Veröffentlichung wieder veranlaßt und weiteren Kreisen ermöglicht
wird. Falsche Methoden führen aber zu falschen Ergebnissen: damit
ist eine Lohnstatistik, die auf falschem Wege gewonnen wird, trotzdem
aber unter der behördlichen Flagge der Gewerbeinspektion segelt, ge-
richtet: mit Durchschnittswochenlöhnen, die aus zwei beliebigen Ab-
schnitten entnommen sind, ist nicht nur nichts genützt, sondern kann
sogar Verwirrung angerichtet werden.
Daneben aber bedeutet die Nichtanwendung ausgebildeter Methoden
auch eine Verschwendung von Arbeitskraft und Zeit, die zu vermeiden
gerade bei der Gewerbeinspektion mit ihren an sich schon reichlich
mit Arbeit belasteten Beamten im dienstlichen Interesse der Inspektion
liegt. Ganz absehen möchte ich dabei von der nur nebenher ge-
streiften Frage der Hausbaltungsrechnungen. Ich weiß ganz genau,
daß die Gewinnung des Materials für solche ganz außerordentlichen
Schwierigkeiten unterliegt und daß es sehr unangenehm ist, wenn der
Beamte trotz sachgemäßer Bemühung kein entsprechendes Material für
seine Berichte bekommt. Aber das darf natürlich nicht dazu führen,
daß unrichtige oder unzutreffende, weil ganz unvollständige Tabellen
aufgenommen und abgedruckt werden. \Väelmehr möchte ich die
Frage der Lohnstatistik hervorheben. Augenscheinlich ist das Vor-
gehen Wörishoffers den Beamten als Muster vorgehalten worden. Indes
die einschlägigen Arbeiten Wörishoffers liegen doch jetzt um andert-
halb Jahrzehnte zurück und die Methode der Lohnstatistik hat, wie
Sich schon aus dem einschlägigen Artikel Böhmerts im Handwörterbuch
der Staatswissenschaften (2. Aufl. Bd. 1) erkennen läßt, inzwischen eine
entsprechende Fortbildung erfahren. Die einzelnen Beamten können
nach der Art ihrer heutigen Vorbildung in diesen Fragen kaum auf dem
Laufenden sein; sie müssen sich also mit der Aufgabe abfinden und
haben sichs augenscheinlich durchaus nicht leicht gemacht. Zudem
haben sie die Mithilfe von Unternehmern, Berufsgenossenschaften u. s. w.
in ausgiebigem Maße in Anspruch genommen und erhalten. Trotzdem
ist das Ergebnis im Verhältnis zu der aufgewendeten Mühe gering,
teils weil augenscheinlich schon in der Anlage der Untersuchungen
Fehler vorliegen, teils weil sie die für die Verarbeitung und Veröffent-
lichung statistischer Arbeiten maßgebenden Grundsätze nicht kennen.
Diese Fehler ließen sich vermeiden. Den einen Weg habe ich schon
im vorjährigen Bericht angedeutet und muß als Ceterum censeo, wenig-
stens für die Zukunft, wiederholen: man mache Ernst mit einer neben
der technischen verlangten staatswissenschaftlichen Ausbildung der Ge-
250 Literatur.
werbeaufsichtsbeamten. — Bei den im Amt befindlichen Inspektoren
läßt sich daskaum nachholen, obwohl sich bei den jährlich im Ministerium
stattfindenden Konferenzen eine Besprechung der methodischen Grund-
sätze sozialwissenschaftlicher, insbesondere sozialstatistischer Methoden
doch wohl ohne besondere Schwierigkeiten herbeiführen ließe. Aber das
eine wäre doch wohl möglich, daß vor der Veranstaltung von ähnlichen
Erhebungen ein unter Mitwirkung von sacherfahrenen Beamten des stati-
stischen Dienstes aufgestellter Arbeits- und Veröffentlichungsplan den
Inspektoren zugestellt würde, der ihnen für den besonderen Zweck die
allgemeinen Grundsätze darbietet und eine sachgemäße Arbeit ermög-
licht und erleichtert. Da es sich dabei nur um methodologische Erwä-
gungen und Fragen der Materialverarbeitung und Veröffentlichung han-
delt, so würde die Selbständigkeit der Beamten dadurch nicht beein-
trächtigt werden. Hätte man den Beamten eine solche Hilfe geboten,
würde zweifellos die Wissenschaft und die allgemeine Erkenntnis um
eine gute Lohnstatistik für 17!/, Tausend bayerischer Arbeiter bereichert
sein, während nach dem jetzigen Stand der Dinge diese schöne Gelegen-
heit mit geringem Nutzen vorüber gegangen ist; besonders bedauerlich
ist dies deshalb, weil ganz augenscheinlich mit wenigen Bemerkungen
der Fehler hätte vermieden werden können.
Zum Schluß möchte ich aber noch einmal darauf hinweisen, daß
trotz der gerügten Mängel vielerlei wichtiges Beobachtungsmaterial in
den Berichten zusammengetragen ist; ebenso möchte ich ausdrücklich
betonen, daß die bayerische Gepflogenheit solcher Sonderberichte mir nicht
nurim dienstlichen Interesse der Gewerbeinspektion zu liegen scheint, son-
dern auch für die Wissenschaft von Wert ist; meine Kritik soll nur
auf die bessere Ausgestaltung dieser wertvollen Arbeiten hinarbeiten.
Die Einzelberichte der Gewerbeaufsichtsbeamten werden begleitet
und ergänzt durch statistische Zusammenstellungen, die nach
einheitlichem Formular die wichtigsten Gebiete der Arbeit der Gewerbe-
inspektion darstellen sollen. In den Tabellen Iab, IIab (Preußen S. 628 ff.)
wird für die Fabriken und die ihnen gleichgestellten Anlagen die Zahl
der Anlagen, der beschäftigten Arbeiter nach den für den Arbeiterschutz
wichtigen Gruppen, und die Zahl der Revisionen mitgeteilt. Damit ist
aber die Gesamttätigkeit der Gewerbeinspektion und das Gesamtgebiet
des Arbeiterschutzes noch nicht umschrieben. Die Gewerbeinspektion
hat außerdem überall noch Revisionen in Betrieben vorzunehmen, für
die der Bundesrat besondere Bestimmungen gemäß $ 120e GO. erlassen
hat, unter denen besonders ins Gewicht fallen die Steinhauereien,
Zigarrenmachereien, Bäckereien und Buchdruckereien. Ferner aber
kommen hinzu die von den Bergpolizeibehörden vorgenommenen
Revisionen der Bergbaubetriebe und die von den Polizeibehörden durch-
zuführenden Revisionen der Gast- und Schankwirtschaften. Dazu sind
dann noch die Unfalluntersuchungen und teilweis die Dampfkessel-
revisionen in Betracht zu ziehen.
Mit der Zeit gewinnen die in den Berichten festgestellten Zahlen
an Genauigkeit. Die von den Gewerbeaufsichtsbeamten geführten Listen
Literatur. 251
werden immer vollständiger für die einzelnen Betriebsarten und Bezirke
und deshalb werden die auf ihrer Grundlage vorgenommenen Zählungen
— unter Berücksichtigung des gesetzlich festgelegten Wirkungskreises
der Gewerbeinspektion und dessen Veränderungen — mehr und mehr
auch zur Verfolgung der Veränderungen in den Gewerben brauchbar.
In diesem Zusammenhang kommen sie aber nur als Grundlage für die
Beurteilung der Tätigkeit der Gewerbeinspektion in Betracht. Selbst-
verständlich genügt die Zahl der vorgenommenen Revisionen allein nicht,
um diese Tätigkeit zu beurteilen. Es muß vielmehr in Rechnung ge-
zogen werden, daß die Arbeit der Beamten sich zwar hauptsächlich
oder doch nicht allein in der Vornahme von Betriebsbesichtigungen
erschöpft, und daß die einzelne Revision eine sehr verschiedene Arbeits-
leistung bedeutet, je nachem die Betriebe zerstreut liegen oder zusam-
mengedrängt auf engem Raum sich finden, je nachdem es sich um
Großbetriebe oder kleinere Betriebe handelt, je nachdem besonders große
Schwierigkeiten der Durchführung der Schutzbestimmungen in einem
Betriebe sich entgegenstellen oder nicht, endlich je nach der Zahl der
besonders schutzbedürftigen Arbeiter in den Betrieben. Dazu ist nicht
auber acht zu lassen die Zeit der Geltung der Vorschriften, weil bei
der Neueinführung von Vorschriften die Revisionen erheblich mehr Zeit
und Anstrengung erfordern, als dies bei längerem Bestehen der Fall
ist. Daraus ergibt sich, daß alle Zahlangaben immer nur einen unge-
tähren Anhalt tür die Beurteilung der Tätigkeit der Gewerbeinspektion
bieten und für deren Wirkungen nur in Verbindung mit den ausführ-
lichen Berichten einen Maßstab abzugeben vermögen.
Unter diesem Vorbehalt können also auch diese Zahlen zu einem
Bilde von der Arbeitsleistung der Gewerbeinspektion beitragen. Er-
leichtert würde ihre Benutzung, wenn auch in den tabellarischen Zu-
sammenstellungen mehr Verhältniszahlen mitgeteilt würden. Insbesondere
scheint es erforderlich, in den Tabellen IIb nicht nur bei den zwei
Endzahlen der Spalten 17 und 24, sondern auch bei den Spalten 18,
19, 20 +21, 22 + 23 die Beziehung zu den entsprechenden vorher-
gehenden Spalten herzustellen, wobei nicht nur die Gesamtzahlen, son-
dern auch die Zahlen für die einzelnen Bezirke zu berücksichtigen
wären. Würde dies das Tabellenwerk zu sehr anschwellen lassen, dann
könnte wohl die entsprechende Berechnung entweder im Reichsarbeits-
blatt oder in den Viertelsjahrsheften zur Statistik des Deutschen Reichs
aufgenommen werden. Aus der offiziellen Tabelle ist zu entnehmen, daß
in Preußen von den revisionspflichtigen 129823 Betrieben mit 2838925
Arbeitern 1905 besucht sind 64352 Betriebe (50 Proz.) mit 2318161
Arbeitern (82 Proz.), demnach werden besonders die großen Betriebe
besucht.
Berechnet man auch die anderen Zahlen, so ergibt sich folgende
Tabelle: Es waren beschäftigt:
in allen Betrieben in revidierten Betrieben
erwachsene Arbeiter 2 124 960 I 752 726 = 83 Proz. der Gesamtzahl
iy Arbeiterinnen 509 9062 403957 =20 u 5 j
junge Leute von 14—16 Jahren 201 651 SOSO O a x
Kinder unter 14 Jahren 2352 rors B0 ai %; 5
252 Literatur.
Wenn auch der Unterschied gering ist zwischen der Verhältniszahl für
die Gesamtarbeiterschaft und für die einzelnen Gruppen, so steht doch
fest, daß die besonders schutzbedürftigen Gruppen in den revidierten
Betrieben unter dem Gesamtdurchschnitt bleiben, während das Ziel doch
dies sein müßte, daß die Betriebe mit besonders schutzbedürftigen Ar-
beitern jährlich einmal revidiert werden, also die Verhältniszahl für
diese Gruppen sich 100 nähern müßte. Noch deutlicher tritt die Wich-
tigkeit solcher Verhältniszahlen hervor, wenn man noch mehr ins ein-
zelne geht: Ich habe die in jeder Hinsicht sich voneinander stark unter-
scheidenden Bezirke Königsberg-Allenstein und Düsseldorf heraus-
gegriffen. In Königsberg sind revidiert worden von allen Betrieben
59 Proz. mit 70 Proz. der Arbeiter, von den Anlagen mit schutzbe-
dürftigen Arbeitern 78 Proz. Aber von allen schutzbedürftigen Ar-
beitern waren in diesen revidierten Betrieben beschäftigt: von den
Arbeiterinnen 67 Proz, von den jungen Leuten 62 Proz., von den
Kindern 53 Proz. — Für Düsseldorf ist folgendes berechnet: Es wurden
revidiert von allen Betrieben 35 Proz. mit 76 Proz. der Arbeiter. In
den revidierten Betrieben waren beschäftigt 73 Proz. der Arbeiterinnen,
71 Proz. der jungen Leute, 72 Proz. der Kinder. Für beide Bezirke
ist also die Revisionstätigkeit bezüglich der besonders schutzbedürftigen
Arbeitergruppen unter dem Durchschnitt zurückgeblieben. Man kann
daraus nur die Folgerung ziehen, daß der Personalbestand der Gewerbe-
inspektion, trotz der regelmäßigen Vermehrung, nicht ausreicht und eine
stetige weitere Verstärkung notwendig ist. Daß dieselbe nicht mit
einem Male vorgenommen werden kann, ist der Ausbildungsverhältnisse
wegen erklärlich; aber sie muß ständig im Auge behalten werden. Als
Maßstab für diesen Mehrbedarf an Beamten mag man etwa die Ver-
mehrung der Arbeiterzahl nehmen. Danach würde er etwa 5 Proz. der
in der Lokalverwaltung beschäftigten Beamten betragen; das würde bei
einem Bestand von 215 beschäftigten Beamten eine jährliche Vermehrung
um etwa 10 Beamte bedeuten. Das ungefähr gleiche Verhältnis ergibt
sich, wenn man nicht die Vermehrung der Arbeiter, sondern die Ge
samtzahl der Betriebe (4 Proz.) oder der Betriebe mit weiblichen Ar-
beitern (6 Proz.) zu Grunde legt. Doch können diese auf das Berichts-
jahr gestützten Berechnungen natürlich nur annäherungsweise und für
die nächste Zeit Geltung beanspruchen und bedürfen der Ergänzung
aus früheren Jahren.
Die anderen statistischen Zusammenstellungen geben je nach In-
dustriegruppen und nach Aufsichtsbezirken geordnet, wieder die Zu-
widerhandlungen gegen die Schutzbestimmungen für jugendliche Arbeiter,
sowie die von den Behörden bewilligten Ausnahmen von den Bestim-
mungen betreffend Arbeitszeit und Sonntagsarbeit. Es wird in Zukunft
erwünscht sein, auch über die Bestrafungen auf Grund des Kinder-
schutzgesetzes ähnliche Zusammenstellungen zu erhalten; so schwierig
dessen Durchführung ist, so sehr wird man ihr dauernd Aufmerksamkeit
schenken müssen, und einen Gradmesser für die Ergebnisse dieser Ar-
beit werden solche Zusammenstellungen bieten können.
nn in
-=m
Literatur. 253
In dem bayerischen Bericht sind diesen Tabellen angefügt genaue
Uebersichten über Ausstände und Aussperrungen nach Bezirken, in dem
württembergischen wird außerdem eine Uebersicht über die Tätigkeit
der Gewerbegerichte und der Arbeitsämter gegeben.
Der badische Bericht bringt die Zusammenstellung der Ausstände
S. 74 ff. und enthält wiederum Beiträge zur Lohnstatistik, wobei die
oben für die bayerischen Arbeiten festgestellten Mängel nur insofern
wiederkehren, als bei einer der Statistiken die Wörrishofersche Durch-
schnittsberechnung aus 2 Sommer- und 2 Winterwochen wiederkehrt.
Für die Wiederholung der 1897 zum ersten Male veranstalteten Lohn-
statistik der Zigarrenfabriken fehlt die Angabe der Art der Lohnfest-
stellung. Im übrigen kann aber dieser Abschnitt über die Lohnstatistik
‘8. 115 ff.) als mustergültig hingestellt werden. Zunächst wird eine
berufsgenossenschaftliche Lohnstatistik für die Pforzheimer Bijouterie-
industrie für 1896, 1900 und 1903 wiedergegeben und besprochen;
dabei ist die Vergleichung dieser Zahlen mit den von dem Metall-
arbeiterverband veröffentlichten Angaben interessant. Ferner werden
die Löhne von 4 Kartonnagefabriken mit 237 Arbeitern und von 11 Zi-
garrenfabriken mit 3741 Arbeitern wiedergegeben.
Die grundlegende Bedingung für eine gedeihliche Entwieckelung
der Gewerbeinspektion ist das Vertrauen von Arbeitgebern und Arbeit-
nehmern zu den ausführenden Beamten. Eine rein polizeiliche Auf-
fassung der Stellung der Gewerbeinspektion ist von Anfang abgelehnt
worden, und stets haben die Beamten danach gestrebt, daß sie in ihrer
amtlichen Wirksamkeit das Vertrauen beider Teile gewinnen und da-
durch ihre schwierige Stellung zwischen zwei sich einander oft ohne
Verständnis in diesen Dingen gegenüberstehenden Parteien erleichterten.
Im großen und ganzen haben ihre Anstrengungen in dieser Richtung
einen dauernden Erfolg zu verzeichnen. Die meisten Beamten haben
von besonderen Verschlechterungen des Verhältnisses zu den Är-
beitgebern nicht zu berichten; insbesondere ist die Befürchtung,
daß die Zunahme der Arbeitgeberverbände auf die Wirksamkeit der
Gewerbeinspektoren ungünstig einwirken könne (Bd. 30, S. 689), im
Berichtsjabre nicht erfüllt. Vielmehr berichtet der Cölner Beamte von
einem Vorfall, der zeigt, wie auch diese Bewegung gegebenenfalls den
Aufgaben der Gewerbeinspektion dienen kann: eine weitverzweigte
Unternehmerorganisation, deren Angehörige in der vorjährigen Straf-
liste stark vertreten waren, ersuchte den Gewerbeinspektor, die Unter-
nehmer in einer von ihnen einberufenen Versammlung durch einen Vor-
trag, dem sich eine Besprechung anschloß, über ihre gesetzlichen Ver-
pflichtungen aufzuklären (Preußen, S. 395). Trotzdem bleibt immerhin
noch oft Gelegenheit, in Einzelfällen polizeilichen Zwang und gericht-
liche Bestrafungen gegen widerstrebende Arbeitgeber in Anwendung zu
bringen. Aber solche energische Mittel verfehlen dann ihre Wirkung
auch nicht, wie der eben angezogene Cölner Bericht bemerkt, daß die
Gewerbetreibenden aus dem nachdrücklichen Vorgehen der Behörden
die Nutzanwendung ziehen, und dadurch ein beschleunigteres Maß der
254 Literatur,
Herbeiführung ordnungsmäßiger Zustände erzielt wird. Derselbe Be-
richt macht dann noch aut einen günstigen Umstand aufmerksam: daß
nämlich mit dem allmählich sich vollziehenden Ersatze der älteren Be-
triebsleiter durch jüngere Kräfte das Verständnis für die staatlichen
Aufgaben des Arbeiterschutzes wächst. Es wäre ganz außerordentlich
erfreulich, wenn diese Beobachtung allgemeiner bestätigt würde. — Be-
merkenswert ist die Mitteilung des Stettiner Gewerberats, daß das Ent-
gegenkommen der Arbeitgeber größer war, soweit es sich um Abwen-
dung von Unfallgefahren handelte, als gegenüber den Anforderungen,
die auf Abwehr gesundheitsschädlicher Einflüsse gerichtet waren. Die
Gefahren für die Gesundheit fielen vielfach nicht unmittelbar in die
Augen, so daß der Unternehmer sich von der Notwendigkeit, sie zu be-
seitigen, oft nicht so leicht überzeugen ließe (Preußen, S. 95). Hinzu-
fügen läßt sich, daß außerdem diese Einrichtungen vielfach den ganzen
Betrieb oder einen großen Teil desselben betreffen und täglich oder
wöchentlich neue Arbeiten, wie Reinigung u.s. w., verursachen, während
jene nur einmal und an einer einzelnen Stelle mit dauernder Wirkung
angebracht werden müssen.
Die Ausdehnung der Aufgaben der Gewerbeaufsicht und die durch
die Personalvermehrung ermöglichte schärfere Beautsichtigung führen
die Gewerbeaufsichtsbeamten mehr als früher mit mittleren und kleinen
Unternehmern zusammen und stellen sie damit vor eine besonders
schwierige Aufgabe, die vielfach in den Berichten erwähnt wird (z. B.
Preußen, S. 324, Baden, S. 16). Der badische Bericht äußert sich darüber
folgendermaßen: „Sehr oft tehlt bei mittleren und kleineren Arbeit-
gebern noch das richtige Verständnis für Stellung und Aufgaben der
Fabrikinspektion, und manche Unternehmer zeigen diesen Mangel mit
einer gewissen Absichtlichkeit. In vielen Fällen treten sie dem Be-
amten schon mit einer gewissen Gereiztheit entgegen. Der kleine Ge-
werbetreibende erwartet besondere Rücksichten und glaubt, oder gibt
vor zu glauben, daß strenge Auflagen nur für die Großbetriebe gälten.
Häufigen Gegenstand beweglicher Klagen bildeten die eingeschränkte
Arbeitszeit und die Pausen der jugendlichen Arbeiter, sowie deren Be-
such gewerblichen Unterrichts. Mag auch die Lage mancher kleinen
Betriebe — z. B. Mühlen, mechanische Werkstätten, Schlossereien.
Schreinereien — eine recht schwierige sein, die Fabrikinspektion ist
nicht befugt, Gesetzesübertretungen und Zustandsmängel mit milderen
Augen anzusehen. Uebrigens findet stets eine eingehende Prüfung dar-
über statt, ob eine zu stellende Anforderung ohne unverhältnismäßige
Aufwendungen ausführbar erscheint.“ Im württembergischen Bericht
ist an das gleiche Thema folgende Bemerkung angeknüpft (S. 10):
„Jede Einführung neuer gesetzlicher Bestimmungen erfordert in den
Schichten, die davon berührt werden, eine soziale Erziehungsarbeit, die
nicht immer leicht ist. Jede Bundesratsverordnung bewirkt in der
ersten Zeit ihrer Durchführung Spannungen zwischen Unternehmern und
Arbeitern. Die ersteren fühlen sich in ihren seitherigen Rechten beein-
trächtigt und der Beamte ist oft genötigt, den Arbeitern zur Erlangung
ihrer Rechte zu verhelfen. Da wird im Vorstellungskreis kleiner Leute
Literatur. 255
manches durcheinander geworfen, und der Aufsichtsbeamte darf sich die
Mühe nicht verdrießen lassen, dem kleinen Unternehmer bei dem sozialen
Umdenkungsprozeß, den auch er durchzumachen hat, durch Aufklärung
zu helfen. Dem Gewerbeaufsichtsbeamten, dem diese Arbeit zufällt,
weiß man wohl in der ersten Zeit keinen Dank; ja er muß bei kleinen
Leuten oft damit rechnen, daß seine Person für die Unannehmlichkeiten,
die eine Verordnnng in persönlicher und sachlicher Hinsicht mit sich
bringt, verantwortlich gemacht wird.“ Nach alledem ist noch auf
geraume Zeit mit Schwierigkeiten auf diesem besonderen Gebiet zu
rechnen.
Das Verhältnis zu den Arbeitern wird allgemein als zu-
friedenstellend bezeichnet. Es wird darauf nicht ohne Einfluß sein, daß
jetzt nicht mehr vereinzelt, sondern fast überall Vorträge in Arbeiter-
vereinen, Gewerkschaften u. s. w. seitens der Beamten gern übernommen
werden. (Für Preußen wird in 11 Berichten eine zum Teil ausgiebige
Betätigung in dieser Richtung erwähnt.) Die Art des Verkehrs hat
sich gegen früher wesentlich verändert. Die Sprechstunden freilich
werden nach wie vor von Arbeitern kaum aufgesucht. Auch bei den
Revisionen in den Betrieben sind die Arbeiter sehr zurückhaltend und
selten dazu zu bewegen, auf unmittelbare Befragung Auskunft zu geben,
aus Furcht, vom Arbeitgeber dafür gemaßregelt zu werden. Und leider
werden immer wieder Fälle bekannt, in denen sich zeigt, daß diese
Furcht nicht unbegründet ist (z. B. Württemberg, S. 12, Preußen, S. 426),
Am unangenehmsten für die Wirksamkeit der Gewerbeinspektoren ist
es jedoch, wenn die Arbeiter in einem später anhängig gemachten Ver-
fahren ihre zweifellos begründeten Beschwerden plötzlich nicht mehr
wahrhaben wollen und ihr Zeugnis verweigern oder abschwächen. An
sich werden die Namen der Beschwerdeführer natürlich geheim gehalten,
um ihnen Unannehmlichkeiten zu ersparen (Preußen, S. 286). Aber wenn
es auf den Nachweis der behaupteten Gesetzwidrigkeiten ankommt, dann
kann auf das Zeugnis nicht verzichtet werden. Mehr und mehr geht
der Verkehr der Arbeiter mit dem Gewerbeinspektor durch die Ver-
mittelung der Organisationen: das Urteil über diese ändert sich allmälich.
Während die süddeutschen Berichte, wie früher schon so auch diesmal,
sich im allgemeinen über diese Art der Beschwerdeübermittelung zu-
frieden aussprechen (Württemberg, S. 11, Baden, S. 87), ist die Meinungs-
änderung z. B. des Berliner Berichts bemerkenswert. 1901 noch wurde
hier der Vermittelung wirklicher Wert abgesprochen, für 1904 dagegen
wird bezeugt, daß der Verkehr mit den Organisationen für die Fühlung
mit der Arbeiterschaft von größerer Bedeutung sei, als die schriftlichen
Einzelbeschwerden; die Mehrzahl der eingegangenen Beschwerden sei
begründet, sie behandelten meist Mißstände in Fabriken und Werkstätten
und berücksichtigten eingehend alle Verhältnisse des Betriebes. Doch
wurden öfter auch unzutreffende Dinge vorgetragen, wird dann
einschränkend hinzugefügt (Preußen, S. 67). In anderen Berichten wird
diese Tätigkeit der Gewerkschaften und Arbeitersekretariate aber noch
viel Jebhafter anerkannt, so für Frankfurt a. O.: Die Beschwerden seien
anscheinend vorher sorgfältig auf ihre Berechtigung geprüft (Preußen,
256 Literatur.
S. 56, ähnlich für Erfurt, S. 206, Minden, S. 271, Wiesbaden, S. 341).
Natürlich ist dieser Umschwung nicht nur in den Köpfen der Gewerbe-
aufsichtsbeamten vor sich gegangen, sondern ihm entspricht eine ver-
ständigere Behandlung der einschlägigen Fragen durch die ihrer Ver-
antwortung sich bewußt werdenden Beamten der Arbeitersekretariate,
Organisationen u. s. w. Der württembergische Bericht befaßt sich aus-
führlich mit der Geschichte der Arbeiterorganisation in Württemberg
(S. 76 ff.), wobei dann auch die Entwickelung der Arbeitgeberverbände
dargestellt wird. Die günstige Lage der Industrie, die mit wenigen
Ausnahmen in den Berichten festgestellt werden kann, äußerte sich in
einer allgemeinen Aufwärtsbewegung der Löhne, die durch zahlreiche
Einzelangaben belegt wird, durch die lebhafte Streikbewegung, sowie
durch einen verschiedentlich fühlbaren Mangel an Arbeitern. Diese
günstige Lage der Arbeiter führt natürlich im Gegensatz zu den früheren
Depressionsjahren dazu, daß die Arbeiter leichter mit Beschwerden über
Betriebsmängel u. s. w. hervortreten, da sie nicht so leicht eine un-
günstige Behandlung seitens des Unternehmers zu befürchten haben.
Wenn also die Gewerbeinspektion häufiger als früher von ihnen ange-
gangen wird, so kann daraus noch kein unbedingter Rückschluß auf
eine Verschlechterung in der Durchführung der Schutzbestimmungen
gezogen werden.
Unter den neuen Aufgaben der Gewerbeinspektion nimmt die
Durchführung des Kinderschutzgesetzes von 1903 eine besondere
Stellung ein. Die diesjährigen Berichte, von denen die für den Bezirk
Oppeln (S. 156) und Aachen (S. 440) hervorgehoben werden müssen,
lassen allenthalben erkennen, daß erst der Anfang der Durchführung
der Vorschriften die außerordentlich weite Verbreitung der Kinderarbeit
völlig aufgedeckt hat und daß es geraumer Zeit bedürfen wird, um
einen den Absichten des Gesetzgebers auch nur einigermaßen ent-
sprechenden Zustand herbeizuführen (Preußen, S. 36 u. 274). Die enge
Verquickung der Kinderarbeit mit der schwer kontrollierbaren Haus-
industrie erschwert die Arbeit auf diesem Gebiet außerordentlich (Preußen,
S. 440, Bayern, S. 39, 116, 176, Württemberg, 8. 31). Es fehlt den
Beamten ein Anhaltspunkt für ihre Revisionstätigkeit; denn die Haus-
industrie kennt keine gewerbepolizeiliche Betriebsanmeldung und die
Verzeichnisse der ausgestellten Arbeitskarten sind nicht zuverlässig und
umfassend, da absichtlich oder wnabsichtlich die Ausstellung dieser
Karten von den Arbeitgebern nicht beantragt wird, und da zudem die
Beschäftigung eigener Kinder nicht von der Lösung einer Arbeitskarte
abhängig ist. Neben dem bewußten Widerstand der Eltern, die auf das
Mitverdienen der Kinder nicht verzichten können oder wollen — für
letzteres werden interessante und beachtenswerte Gründe angeführt
(Bayern, S. 206, Württemberg, S. 33) — kommt eine weitverbreitete
Unkenntnis der gesetzlichen Bestimmungen in Betracht, zunächst und
hauptsächlich wieder bei den Eltern. Ueber das dieserhalb einzuschlagende
Verfahren gehen die Ansichten und Grundsätze der Aufsichtsbeamten
auseinander: die einen Beamten (Preußen, S. 275, 289) versprechen sich
Literatur. 257
nur von strafendem Einschreiten eine Verbreitung der entsprechenden
Gesetzeskenntnis und zum Teil sind denn auch schon zahlreiche Be-
strafungen erfolgt; andere dagegen (Württemberg, S. 34) vertreten vor-
läufig noch ein besonders schonendes Vorgehen bei der Durchführung
des Gesetzes. Ist die Unkenntnis des Gesetzes bei Eltern und Arbeit-
gebern entschuldbar, so sollten die Behörden doch nunmehr dessen Be-
stimmungen kennen und richtig anwenden; tatsächlich finden sich aber
Beispiele dafür, daß auch in dieser Hinsicht noch erhebliche Mängel
bestehen (Preußen, S. 35, Bayern, S. 92, 116). Und doch ist gerade bei
der Durchführung des Kinderschutzgesetzes die Aufsichtsbehörde ganz
besonders auf die Mithilfe der Polizeibehörden angewiesen. Denn die
Beschäftigung „fremder“ Kinder besteht — abgesehen von den haus-
industriellen Verhältnissen — hauptsächlich im Austragen von Waren
und Botengängen; daher werden die Kinder von den Gewerbeinspek-
tionsbeamten meistens weder zu Hause noch beim Arbeitgeber ange-
troffen. Und doch sind wichtige Angaben über die Art und die Dauer
der Beschäftigung nur durch Befragen der Kinder selbst zu erlangen
(Preußen, S. 69, 218, Württemberg, S. 34). Hier müssen also die aus-
übenden Organe der örtlichen Polizeiverwaltung in erster Linie heran-
gezogen werden, die auf den Straßen u. s. w. die Kinder beobachten
und befragen können. — Die Beschäftigung eigener Kinder läßt sich
nur durch Besuche, insbesondere bei den Hausindustriellen, unmittelbar
feststellen. Mittelbar aber wird hier die Schule, und zwar noch viel
mehr als bei der Beschäftigung fremder Kinder, zur Erreichung der
Absichten des Gesetzes herangezogen werden müssen. Zwar wird über
die Art des Vorgehens dabei Einheitlichkeit kaum erzielt werden. So
wird berichtet, daß in Württemberg die Schulverwaltung dem Wunsch
der Gewerbeinspektion, allgemein durch die Lehrerschaft Erhebungen
über die gewerblich beschäftigten Kinder in den Schulen zu veranstalten,
mit Rücksicht auf die Interessen der Schule nicht entsprochen habe
(5. 31), während an einzelnen Orten die Lehrer die Durchfährung des
Gesetzes dadurch sehr gefördert haben, daß sie Eltern und Kinder über
die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen belehrten (S. 34). Aber
es ist doch nicht von der Hand zu weisen, daß die Schule um die Er-
reichung ihres Zweckes willen ein eigenes Interesse daran hat, die
Kinder frisch und aufmerksam im Unterricht zu haben und daher einer
großen Maßnahme, die so auch ihren eigenen Zwecken dient, mit ihrer
Organisation zur Durchführung verhelfen muß. Sind doch bei der Vor-
bereitung des Gesetzes die Lehrer mit ihren Aufnahmen und Beobach-
tungen wirksam tätig gewesen, um so mehr sollten sie sich nun auch
der Durchführung des von ihnen allgemein freudig begrüßten Gesetzes
widmen. Natürlich muß dann aber diese Mitwirkung in geordneten
Bahnen und unter Berücksichtigung der eigenartigen Verhältnisse der
Schule und der Lehrer erfolgen. So wird z. B. darauf aufmerksam ge-
macht (Preußen, S. 275), daß die Lehrer sich bei Konferenzen darüber
beklagt haben, wenn sie in dem Strafverfahren als Zeugen benannt
wurden; denn ihre Vertrauensstellung zu den Eltern der Schulkinder
müsse dadurch leiden, wenn sie als Aufpasser gekennzeichnet würden:
Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII). 17
258 Literatur.
sicherlich mit Recht sind diese Wünsche berücksichtigt und der Ur-
sprung der Anzeige soll verschwiegen werden. Der mehrfach ausge-
sprochene Wunsch (Bayern, S. 209), es möchten von der Schule all-
jährlich Listen der gewerblich tätigen Kinder angefertigt und den
Iuspektoren zugänglich gemacht werden, ist durch einzelne Regierungen,
z. B. Minden, Düsseldorf (Preußen, S. 274, 370) durch entsprechende
Anweisung der Schulbehörden erfüllt worden. Es wird abzuwarten sein,
welche besonderen Schwierigkeiten sich bei der Durchführung ergeben,
und unter Berücksichtigung der dabei gemachten Erfahrungen wird
man dann die Ausdehnung auf die anderen Bezirke fordern dürfen.
In Süddeutschland hat man die Arbeit auf dem Gebiet des Kinder-
schutzes mit gutem Erfolg in erster Linie den weiblichen Hilfskräften
übertragen (Bayern, S. III, Württemberg, S. 29).
Fast alle Berichte gehen in diesem Jahre mehr oder minder aus-
führlich auf die Arbeiterausschüsse ein. lm allgemeinen ergibt
sich dabei, daß diese durch die Gewerbeordnungsnovelle von 1891 in
den $ 134a ff. mittelbar eingeführte und damals mit großen Erwartungen
begrüßte Einrichtung nicht zu einer erheblichen Wirksamkeit, geschweige
denn zu allgemeiner Einführung gekommen ist. Das allgemeine Bild
ist: Nur wo der Arbeiterausschuß zugleich Vorstand der Krankenkasse
ist, entfaltet er überhaupt eine regelmäßige Tätigkeit. Ohne diese An-
regung führt er meist nur eine Scheinexistenz; in der Regel wırd er
zur Begutachtung der Arbeitsordnung ins Leben gerufen und nach
dieser seiner einzigen Tat versinkt er in Bedeutungslosigkeit (Preußen
S. 5, 11, 27, 182, 195, 265, 300, 316, 407, 431; Bayern V. 74, 128);
ja wenn er für wichtigere Aufgaben berufen wird, wie zur Vermittelung
bei Streiks und Lohnstreitigkeiten, versagt er auch dann, wenn er bei
Erledigung untergeordneter Angelegenheiten erfolgreich gearbeitet hatte
(Peußen, S. 182). Trotzdem wird mehrfach berichtet, daß da, wo die
Fabrikleitungen es sich haben angelegen sein lassen, ihnen besondere
Aufgaben zu überweisen und sie zu gemeinsamer Tätigkeit heranzuziehen,
durch die Ausschüsse das gute Einvernehmen zwischen Arbeitgebern
und Arbeitern wesentlich gefördert ist (Preußen, S. 42). Voraussetzung
dafür aber ist, daß der Unternehmer ihnen Verständnis und Unter-
stützung entgegenbringt (Preußen, S. 147, 377), daß er den Ausschüssen
Interesse und Selbstvertrauen einzuflößen versteht (Preußen, S. 266) und
ihnen nicht nur in einem schönen in der Arbeitsordnung festgelegten
Programm alle möglichen Aufgaben auf dem Papier überweist, sondern
sie zu deren Durchführung mit Rechten und Pflichten ausstattet, sie regel-
mäßig unter seinem Vorsitz zusammenruft u. s. w. (Preußen, S. 444).
Im ganzen wird über die Stellung der Arbeitgeber den Ausschüssen
gegenüber die Schilderung des Berliner Gewerberates zutreffen, in
dessen Bericht es heißt (Preußen, S. 77): „Die einen erblicken darin
nur ein ihnen von der Arbeiterschaft abgerungenes Zugeständnis und
ein lediglich im Dienste der bei ihnen wenig beliebten Arbeiterorgani-
sation stehendes Agitationsinstitut, mit dem sie so wenig wie möglich
zu schaffen haben wollen. Die anderen erkennen darin ein willkommenes
Literatur. 259
Mittelglied zwischen Betriebsinhaber und Arbeiterschaft, das ihnen die
Erkennung und Beseitigung berechtigter Klagen erleichtert und manches
Mißverständnis aufklärt, das sonst zu ernsteren Folgen hätte führen
können. Zwischen diesen beiden von verhältnismäßig wenigen ver-
tretenen Extremen steht die weitaus größte Zahl der Gleichgültigen,
die die Arbeiterausschüsse lediglich zu einem bestimmten Zwecke er-
‘ richtet haben und sich für die Folge kaum noch darum kümmern. Im
groben und ganzen ist also die Sympathie für diese Einrichtung bei
den Arbeitgebern verhältnismäßig recht selten, und es ist unverkennbar,
daß sie immer mehr zurückgeht, und daß dıe Klasse der Gegner auch
aus den Reihen der Gleichgültigen immer mehr Zuzug erhält, je mehr
auf beiden Seiten die Organisationen ausgebildet werden.“ Demgegen-
über ist bemerkenswert, daß Arbeiterorganisationen neuerdings mehr-
fach auf die Errichtung von Arbeiterausschüssen hingewirkt haben
(Preußen, S. 279, 444), wie es scheint, vor allem in den westlichen
Gebieten die christlichen Gewerkschaften, während im allgemeinen die
Arbeiter ibnen nur geringen Wert beilegen und die Vertretung ihrer
Wünsche und Forderungen unmittelbar bei ihrer Organisation suchen
(Preußen, S. 277). Das Urteil der Gewerbeinspektoren selbst über die
Ausschüsse ist nicht ganz einheitlich. Ueberwiegend ist aus den Be-
richten zu erkennen, daß sie ihre Einrichtung für möglich halten und
von ihnen bei richtiger Handhabung günstige Wirkungen erwarten.
Die Ansicht des Breslauer Berichts, welcher besagt: „Die Erfahrungen
bis in die jüngste Zeit hinein haben die völlige Bedeutungslosigkeit
der Arbeiterausschüsse und ihre Unvereinbarkeit mit dem modernen
Wirtschaftsbetrieb durchaus bestätigt“ (Preußen, S. 35), steht wohl eben-
80 vereinzelt da wie die Ansicht des Berichterstatters für den III. württem-
bergischen Bezirk (S. 63), der meint: „Die Institution der Arbeiter-
ausschüsse gewinnt allmählich doch größere Bedeutung. Diese Wand-
lung ist auf die Kräftigung der Arbeiterorganisationen und auf das
wachsende soziale Verständnis der Arbeitgeber zurückzuführen.“ Im
einzelnen enthalten die Berichte dann genauere Angaben über Wirkungs-
kreis und tatsächliche Wirkungen einzelner Ausschüsse, die für weitere
Bestrebungen in dieser Richtung als Anregung dienen sollen.
17*
260 Literatur.
3 III.
Zur neueren finanzwissenschaftlichen Literatur
(1904—1906).
Besprochen von Max von Heckel.
Die letzten drei Jahre haben unsere finanzwissenschaftliche Fachlite-
ratur durch eine stattliche Reihe von neuen Veröffentlichungen in er-
freulicher Weise bereichert. Von systematischen Arbeiten sind in neuen,
wesentlich erweiterten und durch mancherlei Zusätze bereicherten Auf-
lagen erschienen v. Eheberg, Finanzwissenschaft (8. Aufl, Leipzig
1906) und Conrad, Grundriß der Finanzwissenschaft (4. Aufl, 1906).
Beides sind alte Bekannte, die sich vornehmlich an die akademische
Jugend wenden und sich als Einführung in das Fach neben Vorlesungen
und zum Selbststudium stets trefflich bewährt haben. Neue systema-
tische Werke sind nicht zu verzeichnen.
Der Schwerpunkt der literarischen Produktion liegt auf Seite der
finanzwissenschaftlichen Einzelschriften. Und in der Tat ist hier eine
erhebliche Zahl von Arbeiten namhaft zu machen, die die verschiedensten
Fragen zum Gegenstand ihrer Untersuchungen machen.
Es ist natürlich, daß die seit Jahren immer dringender gewordene
Reichsfinanzreform auch die literarische und publizistische Arbeit
befruchten mußte. Man kann von einer ganzen Flut von meist broschüren-
artigen Schriften sprechen und es wäre unrecht, ihnen wissenschatftlichen
Wert abzusprechen, da auch sie sich als beachtenswerte Niederschläge
der Zeit und ihrer Bedürfnisse darstellen. Jedenfalls aber geben sie
schätzenswertes Material und der Geschichtsschreiber der deutschen
Finanzpolitik und der Finanzwissenschaft wird an diesen Tageserzeug-
nissen nicht achtlos vorübergehen dürfen. Diese Schriften können wir
füglich in zwei Gruppen einteilen: die einen sind vor der letzten Reichs-
finanzreform erschienen und behandeln die Grundlagen, die Entwicke-
lung und die wünschenswerte, künftige Gestaltung der Reichsfinanzen
— die anderen begleiten die neuen Reichsfinanzgesetzentwürfe, die
schließlich zu den Gesetzen vom 3. Juni 1906 erhoben wurden, wie der
Chor die Handlung in der antiken Tragödie, und geben dann den
wesentlichen Inhalt der neuen Finanzgesetze wieder. Unter jenen sind
besonders hervorzuheben Rheinboldt, Das Reichsfinanzwesen !), der
in 4 Kapiteln ein gedrängtes Bild der Reichsfinanzen gibt und über die
1) Rheinboldt, Das Reichsfinanzwesen. Burschenschaftliche Bücherei, Bd. ,
Heft 8, Berlin 1904.
Literatur. 261
wichtigen Fragen ein weiteres Publikum zu orientieren sucht, und
v. Jagemann, Die Reichsfinanzreform !), der auf Grund der geschicht-
lichen Entwickelung die Grundzüge einer künftigen Reform zu entwerfen
sucht. Zu diesen zählen Linschmann, Die Reichsfinanzreform von
1906 ?), der die Reformentwürfe ausführlich bespricht, deren Kritik in
der Oeffentlichkeit darlegt und die Ersatzvorschläge aus den Kreisen des
Reichstages schildert, sowie Jäger, Die Reichsfinanzreform von 1906
und ihre Steuern 3), der neben einer summarischen Uebersicht auch den
Hauptinhalt der Reichsgesetze vom 3. Juni 1906 anführt.
Seitdem Adolf Wagner in seiner großen Finanzwissenschaft 4. Bd.
in knappen Uebersichten auch die Steuergesetzgebung der deutschen
Staaten bearbeitet hat, ist es erfreulich, daß nunmehr auch einzelne
jüngere Autoren sich die Aufgabe gestellt haben, den Finanzhaushalt
deutscher Mittel- und Kleinstaaten im einzelnen zu beschreiben.
Boelcke, Die Entwickelung der Finanzen im Großherzogtum
Sachsen-Weimar von 1851 bis zur Gegenwart?) gibt uns ein anschau-
liches Bild dieses mittelstaatlichen Finanzwesens, das in mancher Hin-
sicht vielfaches Interesse darbietet und dessen Bearbeitung schon des-
wegen sehr wünschenswert war, weil es durch mancherlei Eigentümlich-
keiten dem Fremden undurchsichtig war. Der Verfasser behandelt in
einer Einleitung den ordentlichen und den außerordentlichen Etat und
den Wirtschaftsfonds (Verlagskapital) und teilt dann seinen Stoff in zwei
große Abschnitte, von denen der eine die Staatsausgaben und der andere
die Staatseinnahmen des Großherzogtums darstellt. Ueberall werden
nicht nur die tatsächlichen Rechtsverhältnisse geschildert, sondern der
Vertasser verfolgt auch stets den Entwickelungsgang der letzten 50
Jahre, der zu den heutigen Zuständen geführt hat. Den Schluß bildet
dann eine Finanzstatistik, die sich auf die Etatsperioden von 1851—1904
erstreckt. Dagegen bietet uns Trescher, Die Entwickelung des Steuer-
wesens im Herzogtum Sachsen-Gotha 5). Die Methode ist im ganzen die
gleiche, nur geht hier der Verfasser noch weiter zurück und beschäftigt
sich auch mit der Entwickelung vor dem 19. Jahrhundert, die in den
beiden ersten Abschnitten behandelt wird. Dann folgt die Schilderung
der Steuerverhältnisse im 19. Jahrhundert zuerst in den ersten Jahr-
zehnten und sodann von 1840--1902 und endlich wird die jüngste Re-
form der direkten Steuern im Jahre 1902, die Einführung einer allge-
meinen Einkommensteuer nach modernem Muster mit sichtbarer Anleh-
nung an das preußische ‚Recht, einer ergänzenden Vermögenssteuer und
1) v. Jagemann, Zur Reichsfinanzreform. Heidelberg 1905.
2) Linschmann, Die Reichsfinanzreform von 1906. Bibliothek der Rechts- und
Staatskunde, Bd. 21a, Stuttgart 1906.
3) Jäger, Die Reichsfinanzreform von 1906 und ihre neuen Steuern. M.-Glad-
bach 1906.
4) Boelcke, Die Entwickelung der Finanzen im Großherzogtum Sachsen-Weimar
von 1851 bis zur Gegenwart. Finanzwissenschaftliche Studie. Abhandlungen des staats-
wissenschaftlichen Seminars zu Jena, herausg. von Pierstorff, Bd. 3, Heft 1, Jena 1906.
5) Trescher, Die Entwickelung des Steuerwesens im Herzogtum Sachsen-Gotha.
Abhandlungen des staatswissenschaftlichen Seminars zu Jena. herausg. von Pierstorff,
Bd. 2, Heft 3, Jena 1906.
262 Literatur.
einer Erbschafts- und Schenkungsabgabe. Diese letztere ist nunmehr
durch die Reichserbschaftssteuer abgelöst worden. Auch diese Schrift
verdient Anerkennung und führt den Leser gut in die deutschen, klein-
staatlichen Finanzverhältnisse ein. Beide Arbeiten sind aus dem staats-
wissenschaftlichen Seminar zu Jena unter Pierstorffs Leitung hervor-
gegangen. Wir würden es begrüßen, wenn sich auch anderwärts an
diese beiden Veröffentlichungen weitere Darstellungen einzelstaatlicher
Finanzverhältnisse anschließen würden. Material hierzu wäre in genü-
gender Menge vorhanden. .
Die Grenzgebiete zwischen Finanzpolitik und Verwaltungsrecht sind
wenig abgebaute Grubenfelder. Insonderheit mangelt es uns noch an
einer systematischen Bearbeitung des Finanzrechts, zumal in Deutsch-
land. Als Pfadfinder auf diesem Gebiete hat sich für unseren Nachbar-
staat Oesterreich v. Myrbach-Rheinfeld, mit seinem Grundriß des
(österreichischen) Finanzrechts!) erwiesen. Mit dieser juristisch-staats-
wissenschaftlichen Bearbeitung hat sich der Verfasser ein erhebliches
Verdienst über die Grenzen seiner Heimat hinaus erworben. Denn er
hat gezeigt, wie diese Materie methodisch anzugreifen ist, um aus diesem
spröden Material ein abgerundetes Ganzes und ein anschauliches Bild
des Finanzrechts herauszuarbeiten. Den ganzen Stoff zerlegt der Ver-
fasser in zwei Bücher, von denen das erste das Finanzrecht im allge-
meinen und das zweite das Finanzverwaltungsrecht zur Darstellung
bringt. In jenem werden die allgemeinen Grundlagen des österreichischen
Finanzwesens erörtert, in diesem folgt dann die weitere Detailausführung.
Das Finanzverwaltungsrecht setzt mit einer Abhandlung über die Organe
der Finanzverwaltung, ihre Funktionen, ihre Wirksamkeit und ihre
Gliederung ein, dann folgt ein Abschnitt über die Staatsmonopole und
endlich beschäftigt sich das dritte Hauptstück mit den öffentlichen Ab-
gaben, vor allem mit den Steuern. Auf diese Weise gewinnt der Leser
in dem systematischen Gange einen klaren Einblick in die oft ver-
wickelten Gänge und Windungen der österreichischen Finanzpraxis.
Fuisting will in seinen finanzpolitischen Zeit- und Streitfragen ?),
von denen zwei Hefte bereits vorliegen, beitragen zu einem besseren
Verständnis des Finanz- und besonders des Steuerwesens in Reich,
Bundesstaaten und Gemeinden. Durch eine Reihe solcher in zwangloser
Folge erscheinenden Einzelschriften auf wissenschaftlicher Grundlage und
gemeinfaßlicher Vorstellung will er dem Bedürfnis rascher Orientierung
entgegenkummen. Das erste Heft behandelt die Novelle zum preußischen
Einkommensteuergesetz, die mittlerweile zum Gesetz vom 19. Juni 1906
erhoben worden ist und das zweite das Gesamtsteuersystem in Reich,
Staat und Gemeinde in Verbindung mit der Reichssteuerreform, eine
Abhandlung, die in Kürze eine „allgemeine Stenerlehre* mit Anlehnung
und Anwendung auf die geltenden Steuerverhältnisse wiedergibt. Am
Schlusse wird dann noch die Reichsfinanzreform einer Betrachtung
unterzogen und die Frage der Matrikularbeiträge erörtert. Der Verfasser
1) Freiherr v. Myrbach-Rheinfeld, Grundriß der des Finanzrechts. Grund-
riB des österreichischen Rechts, Bd. 3, Abt. 7, Leipzig 1906.
2) Fuisting, Finanzpolitische Zeit- und Streitfragen. Heft 1 u. 2, Berlin 1906.
Literatur. 263
gibt hier, wenn auch von einem sehr subjektiven und einseitigen Stand-
punkt, seine Anschauungen in leicht lesbarer, allgemein verständlicher
Form. Seine Arbeit, deren Fortsetzung man mit großem Interesse ent-
gegensehen darf, ist zweifellos eine sehr beachtenswerte Bereicherung
unserer Fachliteratur, da sie aus vielseitigen, amtlichen Erfahrungen
eines hervorragenden Praktikers geschöpttes Material darbietet. Der
Forscher auf diesem Gebiet wird diese Veröffentlichungen mit großem
Nutzen auswerten können. Ob aber der Verfasser das Ziel, daß er sich
gesteckt hat tatsächlich erreichen wird, scheint mir trotzdem fraglich.
Denn für den gebildeten Laien und Mann der Praxis sind die „Zeit-
und Streitfragen“ doch zu weitläufig und entbehren der systematischen
Konzentration, die einmal zur Orientierung unentbehrlich ist. Es will
mir daher wahrscheinlicher erscheinen, daß solche Leser doch die vom
Verfasser nicht wohlgelittenen Lehr- und Handbücher oder sonstige
Nachschlagwerke der Finanzwissenschaft vorziehen werden. An neue-
ren Werken, die auf die jüngste Entwickelung Rücksicht nehmen,
fehlt es ja entschieden nicht!
Von neuen Gesichtspunkten aus hat neuerdings Sardemann die
Frage des sogenannten „steuerfreien Existenzminimums“ 1) zu behandeln
und zu begründen gesucht: einmal unter dem zivilrechtlichen Gesichts-
punkt des Beneficium competentiae und dessen dem Konkursverfahren
entlehnten Rechtsvorzügen und sodann unter dem Standpunkt der
„Armutsprophylaxe“. Seine Ausführungen, die eine neue Theorie in
dieser Frage begründen wollen und die ganze Einrichtung auf eine feste
Grundlage stellen, bringen zwar materiell nichts Neues, eröffnen aber
neues Gesichtsfeld und sind vor allem um deswillen willkommen, weil
sie ein reiches rechtshistorisches, literarisches und rechtsvergleichendes
Material beibringen, das zur Beurteilung der ganzen Frage sehr wert-
voll ist. Ein anderes modernes Problem der direkten Besteuerung be-
handelt Kiesel in seiner Schrift über die Heranziehung der Gesell-
schaften m. b. H. zur Staatseinkommensteuer in Preußen 2). Die Schrift
steht im engsten Zusammenhang mit der jüngsten Novelle zur preußi-
schen Einkommensteuer, geht von dieser aus und will auf die Ge-
staltung des zu begründenden Rechtsstandes einwirken. Sie will in-
dessen keine erschöpfende Darstellung geben, sondern das Material
zusammenstellen für die Beurteilung der preußischen Gesetzesvorlage,
sie will also eine Gelegenheitsschrift sein. Immerhin aber geht ihre
Bedeutung über dieses Maß hinaus, da sie in übersichtlicher Weise alle
einschlägigen Punkte berührt. Sie wird auch jetzt noch ihren Wert
behalten, nachdem die Novelle verabschiedet ist. Denn das letzte Wort
ist in dieser Frage noch nicht gesprochen.
Die Einkommensteuer in Frankreich ist nach wie vor trotz aller
Anläufe ein noch ungelöstes Problem. Alle Projekte dieser Art sind
immer wieder ins Stocken geraten. Diese Tatsache ist nicbt nur finanz-
1) Sardemann, Das streuerfreie Existenzminimum als Beneficium competentiae
und Armutsprophylaxe. Leipzig 1905.
2) Kiesel, Die Gesellschaften mit besehränkter Haftung und ihre Heranziehung
zur Staatseinkommensteuer in Preußen. Berlin 1906.
264 Literatur,
und steuerpolitisch wichtig, sondern auch psychologisch interessant. Sie
zeigt einerseits die vollständige Stagnation der Gesetzgebung über die
direkten Steuern und sodann die tiefwurzelnde Abneigung der Franzosen
gegen eine schärfere, auf die Erfassung der tatsächlichen Leistungs-
fähigkeit basierte Erwerbs- und Personalbesteuerung. Es dringt eben
auch hier noch die alte demokratische Abneigung gegen das „Eindringen
in die Privatverhältnisse“ durch, und trotzdem war die „allgemeine, pro-
gressive Einkommensteuer“ seit jeher eine der Forderungen des poli-
tischen Radikalismus zu allen Zeiten. Es liegt also bier ein ungelöster
Widerspruch vor. Für den deutschen Beschauer ist dieses Schauspiel
vielfach unverständlich, da wir uns an die Einkommensteuern lüngst
gewöhnt haben und dies Eindringen in die Privatverhältnisse ruhig zu
ertragen gelernt haben. Aber selbst die preußischen Erfahrungen haben
ja gezeigt, wie schwer gerade die Deklaration im Volksbewußtsein Boden
faßt. Unter diesen Umständen ist es wünschenswert, das Material näher
kennen zu lernen und die Versuche der Einkommensteuerprojekte im
Zusammenhang zu überblicken. Wir können heute zwei Schriften
darüber namhaft machen, die eine von Retz de Servies!), die andere
von H. Meyer?). Die Arbeit des französischen Autors geht von
allgemeinen Gesichtspunkten aus und erörtert, wie schon ihr Titel sagt,
vor allem die Frage der Progression der Besteuerung. Neben der
theoretischen Begründung verfolgt der Verfasser das Problem auch in
der Geschichte der Theorien, allerdings unter Beschränkung auf die
französischen Schriftsteller. Im zweiten darstellenden Teile zeigt der
Verfasser die Versuche, die progressive Einkommensteuer in Frankreich
von 1789—1870 einzuführen. Auf Grund seiner Untersuchungen giptelt
dann sein positiver Vorschlag in der Schaffung einer degressiven Zu-
schlagssteuer, die auf dem Mietwert und anderen Merkmalen veranlagt
werden soll und zum Ersatz der Tür- und Fenstersteuer, sowie der
Personal- und Mobiliarsteuer bestimmt ist. H. Meyers Schrift ist da-
gegen mehr historischen Charakters. Er beginnt mit einer einläßlichen
Kritik der direkten Besteuerung in Frankreich als System und in ihren
einzelnen Gliedern. Im ersten Teil werden dann zuerst die Vermögens-
und Einkommensteuer im Mittelalter und in den Zeiten des Ancien
Régime bis zur französischen Revolution im einzelnen geschildert. Wir
haben es hier mit mehr primitiven Formen dieser Steuerart zu tun,
auch dürfen wir dabei nicht denken an Vermögens- und Einkommen-
steuern in unserem heutigen Sinn, sondern an die älteren, einfachen
Formen der direkten und Erwerbsbesteuerung überhaupt. In den nun
folgenden 5 Kapiteln des zweiten Teils werden nun mit voller Aus-
führlichkeit die von 1789—1887 gemachten Versuche, eine allgemeine
Einkommensteuer in Frankreich einzuführen, beschrieben: Revolutions-
ära, 1848—1870, 1871—1874, 1876—1887. Der Verfasser kommt in
diesen Ausführungen zu dem Ergebnis, daß nach den mannigfaltigen
1) André de Retz de Serviès, De l’impöt progressif dans l’histoire en France
de 1789—1870. Paris 1904.
2) Hermann Meyer, Die Einkommensteuerprojekte in Frankreich bis 1887.
Berlin 1905.
Literatur. 265
Wandlungen und den verschiedenen Anlehnungsversuchen bald an das
englische, bald an das italienische Muster, bald an andere Vorbilder
die prinzipielle Entscheidung in der Resolution Perin und Ge-
nossen vom 10. Februar 1887, in der ein impöt sur le revenu, unique
et progressif liegt, also in der Forderung der allgemeinen und pro-
gressiven Einkommensteuer. Damit war ein fester Boden gewonnen,
die Ziele der Zukunft hatten eine feste Gestalt angenommen und die
Idee der Einkommensteuer war damit in Frankreich legitimiert. Die
Finanz- und Steuerpolitik in den letzten 20 Jahren .hat aber gezeigt,
daß trotz des „festen Bodens“ es der Regierung bis heute nicht ge-
lungen ist, für die legitimierte Idee die „richtige Form“ zu finden.
Einen Epilog zu seiner Schrift gibt Meyer in einem Aufsatz „Ein
Veberblick über die französischen Einkommensteuerprojekte nach An-
nahme der Resolution vom 10. Februar 1887 (Finanzarchiv 23 S. 13
—41), in dem dann die Projekte Dauphin (1887), Doumer (1896), Peytral
(1898), Caillaux (1900), Rouvier (1903) u. a. m. geschildert werden.
Das moderne, in unserer Zeit allseitig in Wissenschaft, Politik
und Oeffentlichkeit behandelte Problem der Wertzuwachssteuer hat der
Handelsredakteur der „Köln. Ztg.“, Brunhuber, in einer kleinen
Monographie zum Gegenstand weiterer Erörterungen gemacht !).
Der schon durch verschiedene Veröffentlichungen bestbekannte
Erich Trautvetter bietet uns eine systematische Darstellung des
neuen deutschen Zollrechts?) unter Zugrundelegung des Zolltarifs vom
25. Dez. 1902 und der mit 7 europäischen Staaten abgeschlossenen
Handelsverträge. Wir haben auf diese Weise wenigstens für einen
Teil des Finanzrechts eine zusammenfassende Darstellung erhalten. Die
Schrift von Busuiocescu über das Tabakmonopol in Rumänien 3)
gibt nach einer Einleitung über die Entdeckung und Verbreitung des
Tabaks und einer Uebersicht über die Erhebungsformen der Tabak-
steuer die Geschichte der Tabakbesteuerung und des Tabakmonopols
in Rumänien. Der zweite Teil der Abhandlung macht dann in
4 Kapiteln den Leser bekannt mit der heutigen Gestaltung der Regie
und ihrer ökonomisch-technischen Betriebsweise, mit der Tabakverarbei-
tung und dem Tabakverschleiß, und endlich werden die finanziellen Er-
gebnisse des Monopols erörtert. Zur weiteren Erläuterung des Textes
sind am Schlusse mehrere graphische Tabellen angehängt, die den
Tabakkonsum, den Tabakanbau, dessen Zusammensetzung nach Quali-
tätsklassen und die fiskalischen Erfolge gut veranschaulichen. Das
Problem des Tabakmonopols und der Biersteuer in der Schweiz be-
handelt Naeft) in einer Monographie, die beide als Bundesteuern ge-
dachte Abgabeformen nicht nur steuertechnisch würdigt, sondern auch
1) Brunhuber, Die Wertzuwachssteuer. Zur Praxis und Theorie. Jena 1906.
2) Trautvetter, Dds neue deutsche Zolltarifrecht. Ein Leitfaden. Berlin 1905.
3) Busuioceseu, Das Tabakmonopol in Rumänien. Volkswirtschaftliche und
wirtschaftsgeschichtliche Abhandlungen, hrsg. von Stieda, Neue Folge, Heft 4, Jena 1905.
4) Naef, Tabakmonopol und Biersteuer. Ein Beitrag zur schweizerischen Wirt-
schafts- und Finanzpolitik. Züricher volkswirtschaftliche Studien, hrsg. von Herkner,
3. Heft, Zürich 1903.
266 Literatur.
der rein technischen und steuerpolitischen Seite der Frage eingehende
Beachtung schenkt.
Das Gebiet: der Staatsschulden berühren drei neuere Schriften.
Mehr populärwissenschaftlicher Art ist die kleine Schrift Zeitlins,
der Staat als Schuldner 1), in der 5 Volkshochschulvorträge, gehalten
im Januar und Februar 1906, vereinigt sind. Sie sind dem Zwecke
entsprechend in orientierend-lehrhaftem Ton gehalten. Hier wird zu-
erst die Stellung des öffentlichen Kredits im Staatshaushalt besprochen,
dann folgt eine Darstellung der Formen der Staatsschulden, der Emis-
sionstechnik, der Verzinsung, Konversion, Konsolidierung u. s. w., während
die beiden letzten Vorträge die Tilgungsfrage und den Staatsbankerott so-
wie Geschichte und Verwaltung des Staatsschuldenwesens vorführen.
Die Schrift kann für weitere Kreise als brauchbare Einführung em-
pfohlen werden. In einer längeren Abhandlung widmet Zorn der
Tilgung der Staatsschulden eine eingehende Darstellung ?). Sie bietet
in erster Linie eine zusammenfassende Uebersicht über die verschiedenen
Formen der Tilgung der Staatsschulden, deren Einzelheiten er durch
geschichtliche und kritische Ausführungen erläutert. Er weist auf die
‘Notwendigkeit der Tilgung hin sowohl für die unproduktiven als auch
für die produktiven Anleihen. Wenn auch die Heimzahlung jener
wichtiger ist als dieser, so können doch auch produktive Schulden in
Kriegs- und Notzeiten drückend werden. Er behandelt dann die beiden
Grundformen der Tilgung, die Zwangstilgung und die freie Tilgung,
und zeigt, daß mit dem Uebergang zur letzteren die Staaten mit der
Tilgungsfreiheit auch die regelmäßigen Tilgungsquoten herabzusetzen
pflegten. In einem „besonderen Teil“ werden dann die einzelnen Mo-
dalitäten der Tilgung besprochen: die verschiedenen Arten der Tilgungs-
fondssysteme, die Schuldentilgung durch Lotterieanleihen, durch Zeitrenten
(Annuitäten, Leibrenten, Tontinen) und durch Auswerfung einer bestimmten
Summe zur Tilgung durch Prozentualtilgung. Seine Ergebnisse verdichten
sich zur Grundanschauung, daß die Voraussetzung jeder Tilgung nur wirk-
liche Ueberschüsse sein können und andererseits ein Tilgungsverfahren ohne
Zwang tatsächlich durch die Macht der Verhältnisse zu keinem be-
friedigenden Resultate führen könne. Als beste Methoden empfiehlt
der Verfasser die Zeitrenten und die Prozentualtilgung durch die ge-
setzlich festgelegte Pflicht zur Einstellung einer Summe in den
Etat, die in einem gewissen prozentualen Verhältnis der Staatsschuld
steht. Die Zwangstilgung soll durch die Verwendung von Ueberschüssen
ergänzt werden. Endlich behandelt in einer Abhandlung Collas den
Staatsbankrott und seine Abwickelung®). Im ersten Teil führt uns
der Verfasser die verschiedenen Erscheinungsformen des Staatsbankrotts
vor, nachdem er zuerst in großen Zügen Wesen und Beurteilung dieser
finanziellen Erscheinung vorausgeschickt hat. Er unterscheidet hier
1) Zeitlin, Der Staat als Schuldner. Fünf Volkshochschulvorträge. Tübingen 1906.
2) Zorn, Ueber die Tilgung von Staatsschulden. Abhandlungen aus dem Staats-,
Verwaltungs- und Völkerrecht, hrsg. v. Zorn und Stier-Somlo, Bd. I, 3. Tübingen 1905.
3) Collas, Der Staatsbankrott und seine Abwickelung. Münchener volkswirt-
schaftliche Studien, hrsg. v. Brentano und Lotz, 68. Stück, Stuttgart 1904.
Literatur, 267
Nichterfüllung der Kapitalverbindlichkeit (Verschiebung der Rückzahlung,
Zwangskonversion, Kapitalverminderung), Verletzung der Zinszahlungs-
pflicht (Suspension, Zwangsreduktion, einseitige Couponsteuern), und
Nichterfüllung der Kapitalrückzahlungs- und der Verzinsungspflicht. Im
Anschlusse daran werden dann noch der Staatspapiergeldbankrott und
die Münzverschlechterung behandelt. Nachdem der Verfasser die Wir-
kungen des Staatsbankrotts auf Gläubiger, Staat und Volkswirtschaft
auseinandergesetzt hat, werden dann die Methoden seiner Abwickelung
dargestellt. Dem Verfasser ist insbesondere das Verdienst zuzusprechen,
daß er in unseren Darstellungen dieser Materie eine Lücke ausfüllt: er
bescheidet sich nicht mit einem theoretisch-systematischen Aufbau, son-
dern stützt ihn fortwährend durch geschichtliches Material und die tat-
sächlichen Vorgänge der neueren Finanzgeschichte, so daß wir stets
neben der Kategorie auch den praktischen Beleg vor Augen haben.
Die zunehmende Bedeutung des kommunalen Finanzwesens
für alle stadtwirtschaftlichen Verhältnisse sowie für Staatsleben und
Verwaltung überhaupt kann nicht ohne Spuren auf die literarische Pro-
duktion bleiben. Die neu erschienenen Schriften, die in dieser Richtung
zu wirken suchen, sind teils der Orientierung und Anregung gewidmet,
teils wollen sie in historischer und beschreibender Form einzelne städtische
Gemeinwesen und ihre finanzielle Entwickelung dem Leser vor Augen
führen. Sie bieten alle treffliches Material für die Beurteilung der ein-
schlägigen Fragen und können als Beiträge zur Lösung künftiger Reformen
dienen,
An erster Stelle erwähne ich zwei Referate über kommunale Steuer-
fragen, die von Adolf Wagner und Preuss in der Ortsgruppe
Berlin der Gesellschaft für soziale Reform erstattet wurden !). Beide
haben Berliner Verhältnisse im Auge. Wagners Gedankengang bewegt
sich im ganzen in denjenigen Bahnen, die er bereits in einer anderen
Schrift über die finanzielle Mitbeteiligung der Gemeinden an kulturellen
Staatsaufgaben (Jena 1904) betreten hat. Doch steht hier die Er-
schließung neuer Einnahmequellen für die Gemeindefinanzen im Vorder-
grund. Die Ausgabewirtschaft der Gemeinden lag ohnehin außerhalb
des Betrachtungskreises. Als neue Steuerquellen für die Stadt Berlin
empfiehlt Wagner eine Steuer auf Wagen und Pferde, auf Fahrräder,
Automobile und sonstige Fahrgelegenheiten, Besteuerung des Tabaks
und der alkoholhaltigen Getränke in Form von Lizenzen und anderer-
seits Lustbarkeitssteuern, Besitzwechselabgaben und eine weitere Aus-
gestaltung der Grund-, Gebäude- und Gewerbesteuer. Die Ausführungen
von Preuss, dem bezüglıch der Berliner Kommunalfinanzen auch prak-
tische Erfahrungen aus seiner Tätigkeit als Stadtverordneter zur Seite
standen, bemühen sich, die vielfach allzu temperamentvollen Vorschläge
Wagners auf das richtige Maß der Durchführbarkeit zurückzuführen,
zumal da, wo die Bestimmungen des KAG. v. 14 Juli 1893 und ander-
weite verwaltungsrechtliche Normen der freien Entfaltung der städti-
1) Adolf Wagner und Preuss, Kommunale Steuerfragen. Zwei Referate er-
stattet der Ortsgruppe Berlin der Gesellschaft für soziale Reform. Mit einer Vorbe-
merkung von M. v. Schulz. Jena 1904.
268 Literatur.
schen Steuerpolitik hindernd im Wege stehen. Jedenfalls aber verr
dienen auch seine selbständigen Ideen weitgehende Beachtung.
Unter dem Titel: Gemeindesteuerrecht bringt uns Gerlach!)
einen in der Gehestiftung zu Dresden gehaltenen Vortrag, der in zu-
sammenfassender Form das Problem der Gemeindebesteuerung vorführt.
Nach einer kurzen Einleitung über die Lage der Gemeindesteuern in
den einzelnen deutschen Staaten werden die verschiedenen Steuerarten
auf ihre Verwertbarkeit für Gemeindesteuerzwecke geprüft. Zuerst
werden die Aufwandsteuern erwähnt, dann die direkten Steuern, wobei
vor allem die Grundsteuer nach dem gemeinen Wert und die Wertzu-
wachssteuer eingehender untersucht werden, und schließlich erörtert der
Verfasser die Besitzwechselabgaben und Umsatzsteuern. Indessen er-
blickt er in diesen neuen Steuerformen keineswegs ein Mittel, um die
älteren Objekte und Ertragssteuern im städtischen Finanzhaushalt über-
haupt abzulösen und bekämpft damit wenigstens funktionell die ufer-
losen Schwärmereien der Bodenreformer für Umsatz- und Wertzuwachs-
steuern, sondern er weiß den richtigen Kern aus der ganzen Bewegung
herauszuschälen, indem er diesen neuen Auflagen eine ergänzende Stel-
lung anweist, auf ihre je nach dem Grundstückshandel sprunghafte Ent-
wickelung aufmerksam macht und in ihnen ein Mittel sieht, die Erhö-
hung der Objektsteuern zu vermeiden, die immer ungleichmäßig wirken
werden, und an Stelle einer solchen die gerechtere Ausgleichung „nach
dem Vorteil“ des Wertzuwachses zu setzen.
Endlich müssen wir noch vier Einzelschriften gedenken, die alle
aus dem staatswissenschaftlichen Seminar in Halle hervorgegangen sind
und in Conrads Sammlung nationalökonomischer und statistischer Ab-
handlungen erschienen sind. Sie stellen sich die Aufgabe an konkreten
Gemeinwesen die Entwickelung der Stadtwirtschaft und des städtischen
Finanzwesens zu erweisen. Dadurch wird es möglich, im Zusammen-
hang das Gebiet der Stadtwirtschatt, dem die literarische Produktion
noch immer zu wenig Interesse entgegenbringt, besser zu überschauen,
das Gleichartige zu erfassen und die allgemeinen Entwickelungstendenzen
abzuleiten. Sunder, Das Finanzwesen der Stadt Osnabrück ?), hat
sich der mühevollen Arbeit unterzogen, die zerstreuten Unterlagen der
geschichtlichen Entwickelung und der Statistik zu sammeln und zu
einem abgerundeten Bilde zu verarbeiten. Er greift bis 1648 zurück
und führt seine Darstellung bis 1900 fort. Er beschränkt sich aber
nicht auf eine Finanzgeschichte dieses Gemeinwesens, sondern er er-
läutert diese auf Grund der geschichtlichen und verwaltungsrechtlichen
Wandlungen, die Osnabrück im Laufe der Zeiten unter den verschie-
denen Herrschaften und Machthabern durchgemacht hat. Erfurts Stadt-
verfassung und Stadtwirtschaft schildert uns Horn 3), gleichfalls aut
1) Gerlach, Gemeindesteuerrecht. Neue Zeit- und Streitfragen, hrsg. von der
Gehestiftung zu Dresden, Jahrg. II, 7—8. Dresden 1905.
2) Sunder, Das Finanzwesen der Stadt Osnabrück von 1648—1900. Sammlung
nationalökonomischer und statistischer Abhandlungen des staatswissenschaftlichen Seminars
zu Halle a. S., hrsg. v. J. Conrad, Bd. 47, Jena 1904.
3) Horn, Erfurts Stadtverfassung und Stadtwirtschaft. Sammlung) nat.-ökon.
und statistischer Abhandlungen des steatswissenschaftlichen Seminars zu Halle a. S.
hrsg. v. J. Conrad, Bd. 45, Jena 1904.
Literatur. 269
dem Fundament der allgemeinen und verwaltungsrechtlichen Entwicke-
lung. Er betritt damit ein Feld, das leider noch immer zu wenig an-
gebaut wird, das Grenzgebiet, wo sich Verwaltungsrecht und Volks-
wirtschaft berühren. Die Entwickelung der wirtschaftlichen Verhält-
nisse, der Stadtverfassung und des Finanzwesens werden hier stets im
Zusammenhang mit der allgemeinen Entwickelung des Städtewesens
und des Stadtrechts in Preußen dargestellt, wodurch die gegenseitige
Abhängigkeit von Staats- und Stadtfinanzen ins rechte Licht treten.
Ein Anhang ist steuerpolitischer Natur: er erörtert die Frage, wie und
in welcher Richtung die Kommunalsteuern in Erfurt weiter entwickelt
werden können. Eine mehr zusammenfassende Studie über die Ge-
meinden und ihr Finanzwesen in Serbien bietet Bogdan St. Marko-
witsch?). Er behandelt in den beiden ersten Abschnitten die historische
Entwickelung des Gemeindewesens sowie die Rechtsgeschichte und
das geltende Recht der Gemeindegesetzgebung und Gemeindeorgani-
sation. Der zweite Teil behandelt dann das (femeindefinanzwesen in
Serbien: die Aufgaben der Gemeinden und ihre anf geschichtlicher Ent-
wickelung beruhenden Gestaltung, die Ausgaben, die Einnahmen und
das Schuldenwesen. In weitgehender Weise schöpft der Verfasser aus
serbischen Originalquellen und macht damit dem deutschen Leser ein
Material verständlich, das ihm sonst so gut wie unzugänglich ist. Auf
einem engeren Gebiete der städtischen Finanzwirtschaft versucht sich
Schröter), der die Steuern der Stadt Nordhausen zum Gegenstand
einer Untersuchung gemacht hat. Wie er im Vorwort angibt, setzt er
sich zum das Ziel darzulegen, wie in der Gemeinde Nordhausen die Kommu-
nalsteuerlast verteilt und wie sich hier die Anwendung des KAG. v. 14. Juli
1893 mit seiner selbständigen Ausgestaltung des Abgabewesees nach
lokalen Verhältnissen wirksam erwiesen hat. Der Verfasser gibt zuerst
einen kurzen Ueberblick über die allgemeinen Verhältnisse von Nord-
hausen und führt dann die Grundzüge des städtischen Finanzhaushalts
vor, zuerst die Ausgaben und die einzelnen Aufwandszwecke und so-
dann die Einnahmen, womit er vor allem eine kurze historische Rück-
schau der Entwickelung verbindet. Der zweite Teil behandelt die
Steuern Nordhausens im 19. Jahrhundert in vier Perioden: Ausgang
der reichsfreien Zeit, die Perioden von 1820—51, 1851—95 und die
Zeit seit 1895. Im Anschluß daran werden die einzelnen Steuerarten
des geltenden Rechts erörtert, die Wirkungen der Miquelschen Reform
geschildert und kritisch beleuchtet und endlich folgt im Schlußkapitel
eine Zusammenfassung des Tatsächlichen mit einem Vergleich der land-
städtischen, mittel- und großstädtischen Gemeindesteuern in Preußen.
Ein paar Worte über die Zukunft der Steuern in Nordhausen, die der
künftig unausbleiblichen Steigerung der städtischeu Ausgaben durch
1) Bogdan St. Markowitsch, Die Gemeinden und ihr Finanzwesen in Serbien.
Sammlung nat.-ökon. und statistischer Abhandlungen des staatswissenschaftlichen Semi-
nars zu Halle a. S., hrsg. v. J. Conrad, Bd. 46, Jena 1904,
2) Schröter, Die Steuern der Stadt Nordhausen und ihre Bedeutung für das
Gemeindefinanzwesen historisch dargestellt. Sammlung nat.-ökon. und statistischer Ab-
handlungen des staatswissenschaftlichen Seminars zu Halle a. S., hrsg. v. J. Conrad,
Bd. 48, Jena 1904.
270 Literatur.
steigende Entwickelung Rechnung tragen müssen, schließen die Abhand-
lung.
Von den neueren Erscheinungen mögen an dieser Stelle noch einige
kleinere Monographien erwähnt sein. Bajonski behandelt von neuem
die Frage der deutschen Staatslotterien 1). Er schildert die Technik der
Klassenlotterien, ihre Geschichte und ihre rechtlichen Normen, und so-
dann folgt die Beschreibung der in den deutschen Staaten bestehenden
Klassenlotterien und ihrer Gewinnchancen. Im zweiten Teil beschäftigt
sich der Verf. mit der kritischen Würdigung der Staatslotterien von
den verschiedenen Seiten aus, ‘prüft ihre Stellung zum Staatshaushalt
und erörtert die Reformfragen. In letzterer Hinsicht redet er in
richtiger Würdigung der Schäden der vielen partikulären Staatslotterien
einer stärkeren Konzentration der Lotteriebetriebe das Wort, da die
völlige (wünschenswerte) Beseitigung der staatlichen Lotterie-Unter-
nehmungen aus fiskalischen Gründen in absehbarer Zeit nicht zu erwarten
ist. Bekanntlich ist Preußen auf dem Wege einer solchen Konzentration
in den letzten Jahren vorgegangen und hat mit einer Reihe von Staaten
Verträge zur Herstellung einer Lotteriegemeinschaft geschlossen.
Ein Mann der Praxis, Rechnungsrat Hövermann?), gibt eine
anschauliche Darstellung der technischen Einrichtungen des Etats, des
Kassen- und Rechnungswesens. Die fleißıge, umsichtig geschriebene
Arbeit wird nicht; nur den Verwaltungsbeamten großen Nutzen schaffen,
sondern wird sich für jeden empfehlen, der die Technik der Finanz-
verwaltung studieren will. Auch das richtige Lesen eines Haushaltungs-
etats des Staates oder eines Kommunalkörpers ist ohne sachkundige
Führung sehr erschwert. Eine finanzgeschichtliche Untersuchung ist
Bittners Geschichte der direkten Steuern im Erzstifte Salzburg).
Für den Finanz- und Steuerthbeoretiker ist es hier beachtenswert, daß
der Verf. sich für die Entstehung der Steuer der Auffassung Lamprechts
und Schultes nähert und sie aus grundherrlichen Verhältnissen herleitet.
Niedner erörtert in einer umfassenden Einzelschrift die Ausgaben
des preußischen Staats für die evangelische Landeskirche in den älteren
Provinzen und Emminghaus hat sich der verdienstlichen Aufgabe
unterzogen, die in den deutschen Bundesstaaten geltenden Steuern und
Abgaben zusammenzustellen, denen die privatwirtschaftlichen Ver-
sicherungsbetriebe unterliegen.
1) Bajonski, Kritik und Reformen der deutschen Staatslotterien als Finanz
regalien. Berlin 1904.
2) Hövermann, Zur Reform des Etats-, Kassen- und Rechnungswesens eins
schließlich der Verhältnisse der Rechnungs- und Kassenbeamten. Bonn 1905.
3) Bittner, Die Geschichte der direkten Staatssteuern im Erzstifte Salzburg bis
zur Aufhebung der Landschaft unter Wolf Dietrich. I. Die ordentlichen Steuern.
Wien 1903.
Niedener, Die Ausgaben des preußischen Staats für die evangelische Landes-
kirche in den älteren Provinzen. Kirchenrechtliche Abhandlungen, hrsg. von Stutz.
13.—14. Heft. Stuttgart 1904.
Emminghaus, Die Steuergesetzgebung der deutschen Bundesstaaten über
das Versicherungswesen. Veröffentlichungen des Vereins für Versicherungswissenschaft,
hrss. von Manes. Heft 6. Berlin 1905.
Literatur. 271
Alessandro Garelli zählt zu den fruchtbarsten Schriftstellern
der italienischen Nationalökonomie, deren Literatur er auf fast allen
Gebieten bereichert hat. Das vorliegende Werk bildet den 6. Band
seines großen Systems der Finanzwissenschaft und behandelt die Personal-
stenern!). Der 1. Band beschäftigt sich mit der Personalbesteuerung
in der Steuergesetzgebung und wird ausgefülllt vom 1. Titel, der die
subjektiven Grundlagen der Besteuerung zur Darstellung bringt. Die
ganze Materie wird nun in 2 Hauptabschnitte zerlegt, von denen es
der eine sich mit den Subjekten, der andere mit den Objekten der
Personal- und Einkommensteuer zu tun hat. Dort werden alle ein-
schlägigen Prinzipienfragen der Steuerpolitik erörtert, die auf die
Steuertähigkeit der Pflichtigen von Einfluß sind, wie Alter, Gesundheit,
Familienstand, Erwerb und Beruf u. a m. Neben den physischen
Personen werden noch die nichtphysischen Personen eingehend behandelt.
Hier wird die Unterscheidung der Einkommensquellen, der Abzug der
Schulden, Lasten, Werbungskosten und sonstiger Posten, die Frage
des steuerfreien Existenzminimums u. ä. m. einer systematischen Be-
handlung unterzogen. Den Schluß bilden dann Betrachtungen über die
Proportionalität, die Degression und die Progression der Steuersätze,
sowie über die Lösung des Steuerproblems durch eine Kombination
verschiedener Steuerformen.
Der 2. Titel, der den I. Band abschließen soll, wird die Anwendung
der hier geschilderten Steuerprinzipien auf die Personalbesteuerung
bringen. Der II. (Schluß-)Band soll literar- und dogmengeschichtlichen
Charakters sein und die Personalbesteuerung im Lichte der finanz-
wissenschaftlichen Literatur zeigen.
Gleichfalls Darlegungen der allgemeinen Steuerlehre ist das Buch
von Stephen F. Weston gewidmet, das den Titel führt „Grund-
lagen der Gerechtigkeit im Steuerwesen“ 2). Es bildet den 17. Band,
2. Abt. der Studies in History, Economics and Public Law, die von
der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Columbia-Universität
herausgegeben werden. Der Inhalt bietet aber mehr denn die Aufschrift
besagt; denn der Verf. entrollt uns tatsächlich ein Bild des ganzen
Steuerwesens in seinen prinzipiellen Wurzeln. Das Werk, in 8 Kapitel
gegliedert, bringt allgemeine Betrachtungen über die Stellung der Steuer
zu Staat, Recht, Wirtschaft, Sitte und Politik, schildert die Steuer als
ökonomische und ethische Erscheinung und entwickelt dann die „all-
gemeinen Grundsätze der Besteuerung nach den verschiedenen Richtungen
hin. Das letzte Kapitel beschäftigt sich dann mit der Veranlagung
der Steuern und gibt in knapper Uebersicht eine Darstellung der
einzelnen Steuerarten. Das Ganze ist wohl als Teil einer größeren
Publikation gedacht. Jedenfalls verdient sie vom Standpunkt syste-
matischer Behandlung Anerkennung.
Münster i. W., im Oktober 1906.
1) Alessandro Garelli, Le imposte nello Stato moderno. Vol. 1: L’impo-
sizione personale segondo il diritto finanziario positivo. Milano 1903.
2) Stephen F. Weston, Principles of Justice in Taxation. New York 1903.
272 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands
und des Auslandes,
1. Geschichte der Wissenschaft. Encyklopädisches. Lehrbücher. Spezielle
theoretische Untersuchungen.
Dienstag, Paul, Führer durch die sozialwissenschaftliche Zeitschriftenliteratur.
Dresden, O. V. Böhmert, 1907. 8. M. 5.—.
Hahn, Georg, Ernst Abbe als Sozialpolitiker. Leipzig, Fel. Dietrich, 1906. 8.
32 SS. M. 0,50. (Sozialer Fortschritt. 85. 86.)
Huth, Hermann, Die Bedeutung der Gesellschaft bei Adam Smith und Adam
Ferguson im Lichte der historischen Entwickelung des Gesellschaftsgedankens. Leipzig,
Duncker & Humblot, 1907. gr. 8. M. 4,40.
Most, Otto (Direktor), Friedrich List, der Bismarck des deutschen Wirtschafts-
lebens (f 30. XI. 1846). Leipzig, Fel. Dietrich, 1906. 8. 16 SS. M. 0,25. (Sozialer
Fortschritt. 87.)
Neumann-Hofer, Adolf, Einführung in die Volkswirtschaftslehre. Berlin,
H. Hillger (1906). kl. 8. 100 SS. M. 0,30. (Hillger’s illustrierte Volksbücher. 66.)
Ogilvie, William, Das Recht auf Grundeigentum. Aus dem Englischen über-
setzt von Adolf M. Freund. Mit einer einleitenden Abhandlung: „Bodenreformer früherer
Zeiten“ von Georg Adler. Leipzig, C. L. Hirschfeld, 1906. gr. 8. 120 SS. M. 2,20.
(Hauptwerke des Sozialismus und der Sozialpolitik. Heft 7.)
Schwechler, K. (Chefredakteur), Die österreichische Sozialdemokratie. Graz,
Styria, 1907. 8. VI—208 SS. M. 1,30.
Wagner, Adolph, Theoretische Sozialökonomik oder Allgemeine und theore-
tische Volkswirtschaftslehre. 1. Abteilung. Leipzig, C. F. Winter, 1907. 8. M. 12.—.
Descamps, Paul, L’humanit& &volue-t-elle vers le socialisme? Étude et classi-
fication des diverses applications du Socialisme. Paris, F. Didot, 1906. 12. fr. 2.—.
Levasseur, E., Aperçu de l’&volution des doctrines économiques et socialistes en
France sous la troisième République. Paris 1906. 8. 109 pag. fr. 3.—.
Marshall, Alfred, Principes d’&eonomie politique. Traduit par F. Sauvaire-
Jourdan. Tome 1. Paris, Giard et Brière, 1906. 8. fr. 10.—.
Callie, J. W. S., Socialism not the best remedy. Being a reprint of John Smith’s
reply to „Merrie England“. London, Simpkin, 1906. 8. 106 pp. 1/.—.
Giddings, Franklin H. (Prof.), Readings in descriptive and historial sociology.
New York, Macmillan Company, 1906. 8. XXIV—553 pp. 7/.—.
Parsons, Elsie Clews, The family. An ethnographical and historical outline.
New York and London, G. P. Putnam’s Sons, 1906. 8. XXV—389 pp. 12/.6.
2. Geschichte und Darstellung der wirtschaftlichen Kultur.
George, Paul, Das heutige Mexiko und seine Kulturfortschritte.
Von Paul George, Jena liegt eine Arbeit unter dieser Ueberschrift
vor, die als Beiheft zu den „Mitteilungen der geographischen Gesell-
schaft für Thüringen“ zu Jena 1906 im Verlag von Gustav Fischer,
Jena erschienen ist. Das Buch gibt eine ganz ausgezeichnete, viel-
seitige und zugleich gründliche Uebersicht über die hauptsächlichen
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 273
Kulturfortschritte, welche das heutige Mexiko gegenüber dem früheren
zu verzeichnen hat und kann für jeden Volkswirtschaftler, der sich mit
mexikanischen Verhältnissen bekannt machen will oder bekannt zu machen
hat, als sehr brauchbarer Wegweiser dienen.
Bei den Vorzügen, welche das Buch aufzuweisen hat, möchte ich einen
Umstand.nicht unerwähnt lassen, der mir der Kritik zu bedürfen scheint,
nämlich den, daß das Buch für denjenigen, welcher neben den guten
auch die Schattenseiten dargestellt sehen will, in mancher Hinsicht ver-
sagt, weil es zu offiziell geschrieben ist. Das geht schon daraus her-
vor, daß mit den diplomatischen Beziehungen Mexikos zu Deutschland
und den anderen Staaten begonnen wird, wobei der Verfasser speziell
der guten Beziehungen zwischen Mexiko und Deutschland gedenkt und
dabei wörtlich die zum 74. Namenstag des Präsidenten Porfirio Diaz
gewechselten offiziellen Reden anführt, als Kaiser Wilhelm sein von
Prof. Koner gemaltes Bild dem Präsidenten von Mexiko zum Geschenk
machte. Dieser offizielle Ton, der sicher seine Gründe hat, wird manchem
Volkswirtschaftler nicht als geeignete Einführung zu einem rein wissen-
schaftlichen Buche erscheinen. Dann fiel mir besonders das vorsichtige
Hinweggleiten über die traurige Episode auf, die für immer mit dem
Namen des Kaisers Maximilian verknüpft ist. Wenn sich das anfangs
sehr erregte Urteil der gesamten Kulturwelt über die Erschießung des
Kaisers Maximilian im Jahre 1867 auch bedeutend geändert hat, so ist
doch vielleicht die Vorsicht zu weit gegangen, wenn in einem Buch,
in dem auch die historischen und politischen Verhältnisse berührt werden,
über dieses traurige Ereignis flüchtig, ohne nähere Berührung der sehr
verwickelten Umstände, die es herbeiführten, hinweggegangen und dem
Kaiser Maximilian kein Wort der Anerkennung gewidmet wird, wäh-
rend über seinen Gegner, Benito Juarez, der ihn erschießen ließ, die
überschwenglichen Lobreden zweier offizieller Kundgebungen der Mexi-
kanischen Republik Platz finden. Da die geschichtlichen Verhältnisse
besonders eingehend berührt werden, so kann man diesem Verhalten
kaum beistimmen. Ich finde jedenfalls das Vorgehen von Ms. Alec
Tweedie über diesen Punkt in ihrem Buche „Porfirio Diaz, der Schöpfer
des heutigen Mexiko“, deutsche Uebersetzung von B. Saworra, Verlag
W. Behr, Berlin W. 35, ansprechender, indem in diesem Werk, das
dem Präsidenten Porfirio Diaz gewidmet ist, das Drama vom Jahre
1867 weit unparteiischer behandelt wird, obwohl die Verfasserin zu
dem Präsidenten, dem Freund, Nachfolger und Bewunderer des Exekutors
Juarez, demjenigen, der schon 1867 im republikanischen Lager eine
einflußreiche Stellung inne hatte, in freundschaftlichen Beziehungen
steht. Hier bekommt man wenigstens eine gute Aufklärung über den
Tod Maximilians. Wenn auch der unheilvolle Erlaß Maximilians vom
3. Oktober 1865 strenge Verurteilung findet, so wird doch hervorge-
hoben, daß der Kaiser falsch berichtet war, einerseits über die angeb-
lich allgemeine Anerkennung der Monarchie, andererseits über die
tatsächliche Lage der republikanischen Partei, die weder die Grenzen
Mexikos verlassen hatte — Benito Juarez hatte die Regierung nach
Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIII). 18
974 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslande.
dem nördlichen Grenzort Paso del Norte verlegt — noch in undiszi-
plinierte Raubbanden aufgelöst war.
Auch die guten Eigenschaften des Kaisers und der Kaiserin sowie
die Treue der Generäle Mejia und Miramon werden von der Verfasserin
vorurteilsfrei gewürdigt und es fehlt nicht an herzlicher Klage über
das traurige Schicksal des Kaisers. Von dem allem findet sich in Georges
Buch auch nicht eine Andeutung. Paul Krische- Göttingen.
Baumgartner, Andreas, Erinnerungen aus Amerika. Zürich, Orell Füssli,
1907. 8. M. 3,50.
Mygind, Eduard, Syrien und die türkische Mekkapilgerbahn. Ein Beitrag zur
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gr. 8. IV—76 SS. mit 1 Karte. M. 1,50. (Angewandte Geographie. II. Serie. Heft 11.)
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Jebb, Eglantyne, Cambridge. A brief study in social questions. Cambridge,
Macmillan & Bowes, 1906. 8. X—272 pp. 4/.6.
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und Kolonisation.
Abhandlungen, Koloniale. Berlin, Wilhelm Süsserott. gr. 8. Pro Heft M. 0,40.
Heft 2: Lattmann (Amtsgerichts-R.), Die Schulen in unseren Kolonien. (1906.) 24 SS.
Heft 3: Most, Karl, Die wirtschaftliche Entwicklung Deutsch-Ostafrikas 1885—
1905. 1906. 31 SS.
Heft 4: Scholze, J., Die Wahrheit über die Heidenmission und ihre Gegner. 4. Aufl.
(1907.) 22 SS.
Heft 5: Schultz, Die Schafwolle in Hinblick auf die Schaf- und Ziegenzucht in
Deutsch-Südwestafrika. Ein Beitrag zur Kenntnis unserer Kolonien. 2. Aufl.
(1907.) 24 SS.
Heft 6: Axenfeld, Karl (Missionsinspektor), Der Aethiopismus in Süd-Afrika. (1907.)
13 SS.
Heft 7: Halle, Ernst von (Prof.), Die großen Epochen der neuzeitlichen Kolonial-
geschichte. (1907.) 38 SS.
Dernburg, Bernhard (Wirkl. GeheimerR.), Zielpunkte des Deutschen Kolonial-
wesens. Zwei Vorträge. Berlin, Ernst Siegfried Mittler, 1907. 8. 88 SS. M. 0,75.
Führer, Kolonialpolitischer. Herausgeg. vom Kolonialpolitischen Aktionskomite.
Berlin, Wedekind & C°, 1907. 8. 48 SS. M. 0,30.
Fülleborn, Friedrich, Das deutsche Nyassa- und Ruwuma-Gebiet. Land und
Leute. Text und Atlas. Berlin, D. Reimer, 1907. M. 125.—.
Ilgenstein, Heinrich, Deutsches Volk, wahre deine heiligsten Güter! Ein
Weckruf. Berlin, Concordia Deutsche Verlags-Anstalt, Hermann Ehbock, 1907. 8.
32 SS. M. 0,50.
Leyds, W. J., Die erste Annexion Transvaals. Mit einer Karte, einem Facsi-
mile und einer Tabelle. Berlin, Emil Felber, 1907. gr. 8. XX-—384 SS. M. 9.—.
Mombert, Paul, Studien zur Bevölkerungsbewegung in Deutschland in den
letzten Jahrzehnten, mit besonderer Berücksichtigung der ehelichen Fruchtbarkeit. Karls-
ruhe, G. Braunsche Hofbuchdruckerei, 1907. 8. M. 8.—.
Schmoller, Dernburg, Delbrück, Schäfer, Sering, Schillings,
Brunner, Jastrow, Penck, Kahl über Reichstagsauflösung und Kolonialpolitik.
Offizieller stenographischer Bericht über die Versammlung in der Berliner Hochschule
für Musik am 8. Januar 1907. Herausgeg. vom Kolonialpolitischen Aktionskomite.
Berlin, Wedekind & C°, 1907. 8. 47 SS. M. 0,50.
Wahrheit, Die, über die deutschen Kolonien. Berlin, G. Nauck, 1907. 8.
M. 0,50.
Pierpont, Le Cocq et van Austen, Au Congo et aux Indes. Tours, Cattier,
1906. 8. fr. 6.—.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.. 275
Theodore-Vibert, Paul, La concurrence étrangère. La philosophie de la
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Paris, Édouard Cornély et C', 1906. 8. 375 pag. fr. 8.—.
Beak, G. B., The aftermath of war. An account of the repatriation of Boers
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Duff, H. L., Nyasaland under the Foreign Office. 2”! edition, with new intro-
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Dutt, Romesh, The economie history of India under the early British rule.
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Dutt, Romesh, The economic history of India in the Victorian age. 2°? edition.
London, Trübner & C°, 1906. 8. 650 pp. 6/.—.
Grieve, S8., Notes upon the Island of Dominica, British West Indies. London,
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Kirkpatrick, F. A., Lectures on British colonization and empire. First series
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Mountmorres, Viscount, The Congo Independent State. A report on a
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Arbeiten der landwirtschaftlichen Akademie Bonn-Poppelsdorf. II. Mit 8 Tafeln.
Berlin, Paul Parey, 1906. gr. 8. 402 SS. M. 12.—. (Inhalt: Remy (Prof.), Arbeiten
aus dem Institut für Bodenlehre und Pflanzenbau an der Kgl. Landw. Akademie in
Poppelsdorf. — Hansen, J. (Prof.), Leistungsprüfungen mit Schwyzer, Simmentaler und
ostfriesischen Kühen. — Hansen, J. (Prof.), Fütterungsversuche mit Milchkühen., —
Hagemann, O. (Prof.) und M. S$. Karpow, Frische und getrocknete Kartoffeln im
Stoffwechsel der Wiederkäuer.) (Landwirtschaftliche Jahrbücher. Bd. XXXV. Er-
gänzungsbd. 1V.)
Aussel, H., und A. Burg, Betriebsverhältnisse der deutschen Landwirtschaft.
Herausgeg. von der Betriebs- Abteilung der deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft. Stück II
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Barthel, Chr., Die Methoden zur Untersuchung von Milch und Molkerei-
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Landwirtschaft und Landwirtschaftskammer in der Provinz Sachsen. 1896—
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Niess, Hermann, Die Bekämpfung der Wassersand- (Schwimmsand-)Gefahr beim
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8 pp-
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Klasse der kgl. sächs. Gesellsch. d. Wissensch. Leipzig (B. G. Teubner)
1906, VI und 256 SS. 8 M.
Das Werk bietet die Geschichte und Wirksamkeit von 17 kera-
18*
276 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
mischen Fabriken (für Steinzeug, Fayence und Porzellan) und Nachrichten
über die vergeblichen Bemühungen des J. A. Hannong auf diesem Ge-
biet. 4 weitere Etablissements sind teils schon früher monographisch
behandelt, teils hat Material nicht zur Verfügung gestanden. „Studien,
wie die hier zur Veröffentlichung gebrachten, die sich auf einem bei-
nahe völlig unangebauten Boden bewegen“, sagt Stieda im Vorwort,
„Können nicht hotten, etwas Abschließendes oder Vollständiges zu bieten“.
Das zeigt sich ja zur Genüge in der Arbeit, deren einzelne Abschnitte im
Stoff sehr ungleichmäßig sind. Aber die Schwierigkeit der Beschaffung
aus den Archiven und die Sprödigkeit des so wenig bearbeiteten Gegen-
standes ist zu würdigen. St. weist mit vollem Recht darauf hin, dal
jeder Beitrag zur Industriegeschichte um so wichtiger (und dankens-
werter) ist, als die Geschichte des Handwerks und des Handels einer
intensiven Bearbeitung genossen hat und noch genießt. St. behandelt
nun jedes einzelne Etablissement nach seiner Geschichte, seiner tech-
nischen Arbeit und seinem Absatz und gibt zur Illustration möglichst
zahlreiche Aktenstücke. Am weitaus ausführlichsten ist die Porzellan-
fabrik Bruckberg besprochen, natürlich weil hier das Material es ge-
stattet. Besonders interessant ist die Geschichte dieses Etablissements
auch deshalb, weil es die Fürsorge A. v. Humboldts erfahren hat und
nach dem Uebergang des Ansbachschen Gebiets in preußische Verwal-
tung das Projekts einer Vereinigung mit der Berliner Porzellanmanu-
faktur schwebte. In einer Schlußbetrachtung faßt St. die Grundzüge
der Geschichte der keramischen Industrie in Bayern des 18. Jahrhun-
derts zusammen. Während die ältere Hafnertätigkeit Kleinbetrieb war,
strebte die aus ihr hervorwachsende Fayence- und Porzellanindustrie
von vornherein instinktiv zum Großbetrieb. Wohl alle diese Fabriken
eiferten dem Vorbilde Meißens nach, das echte Hartporzellan herzu-
stellen, aber nur wenige erreichten das Ziel; zu nennen sind hier in
erster Linie Bruckberg, Frankenthal und Nymphenburg. Elf Fabriken
sind bekannt genug geworden, um über ihre Produkte und Marken
Zweifel auszuschließen, die anderen harren noch der klärenden Forschung.
Der Rückblick auf die Geschichte der keramischen Fabriken zeigt vor
allem, welcher unendlichen Mühen, Kosten, Mißertolge und welchen
Aufwands von Intelligenz es bedurfte, um unsere heutige, hochstehende
Porzellanindustrie zu schaffen. Der Absatz war erheblich schwieriger,
als vorauszusehen war, die Fabrikation war viel teurer als kalkuliert,
die Ware konnte trotz unausgesetzter Mühe nicht zu der gewünschten
technischen Güte gelangen. Um so mehr ist anzuerkennen, daß die
Unternehmer — meist regierende Fürsten — nicht ermatteten und
einige Werke auch zu großem Rufe gelangten.
Sorau N.-L. Fritz Schneider.
Best, Davis und Perks, Berlin und seine Arbeiter in englischer Beleuchtung.
Ein vergleichender Bericht. Deutsch herausgeg. von Waldemar Zimmermann. Mit
einem Vorwort von Hans Delbrück. Berlin, Wedekind & C°, 1907. gr. 8. 78 8.
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Hannover, C. Meyer, 1907. 8. M. 2,50.
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Auf Grund der Akten. 1. Bd. 1740—1798. Leipzig, Duncker & Humblot, 1907. gr. 8.
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Strecker, Karl, Hilfsbuch für die Elektrotechnik. Unter Mitwirkung namhafter
Fachgenossen bearbeitet und herausgegeben. 7. umgearb. u. verm. Aufl. Berlin,
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Süvern, Karl (Regierungs-R.), Die künstliche Seide. Ihre Herstellung, Eigen-
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bearbeitet. 2., verm. Aufl. Berlin, J. Springer, 1907. gr. 8. VII—247 SS. mit
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Peters, Max, Schiffahrtsabgaben auf natürlichen Wasserstraßen nach deutschem
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Katscher, Leopold, Das Problem einer allgemeinen Mutterschaftsversicherung.
Prag (J. G. Calve) 1906. gr. 8. S. 195—209. M. 0,40. (Sammlung gemeinnütziger
Vorträge. Herausgeg. vom deutschen Vereine zur Verbreitung gemeinnütziger Kennt-
nisse in Prag. N’ 339.)
Kuefstein, Franz Graf, Grundrente und städtische Bodenreform. Eine grund-
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Ortloff, Hermann, Die Bekämpfung der Konsumvereine. Der Wahrheit die
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Shaw, Bernard, Sozialismus für Millionäre. Deutsch von Gustav Landauer.
Berlin, Concordia Deutsche Verlags-Anstalt (1907). kl. 8. 63 SS. M. 1.—.
Siefart, H. (Regierungs-R.), Der Begriff der Erwerbsunfähigkeit auf dem Gebiete
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Versicherungsschutz. Internationales Informationsblatt für Versicherte. Heraus-
geber: Hermann Fischer. Redakteur: (Prof.) Karl Rausch. 1. Jahrg. Dezember 1906
bis November 1907. (Nr. 1. 12 SS.) Wien, J. Eisenstein & Co. 4. M. 10.—.
Weymann, Konrat (Regierungs-R.), Arbeiterversicherung und Alkoholismus.
Vortrag. Berlin, Mäßigkeits-Verlag, 1906. 8. 31 SS. M. 0,30.
Wie kann die Börse mehr der Allgemeinheit dienstbar gemacht werden? Von
einem Praktiker. Leipzig, Duncker & Humblot, 1907. 8. M. 0,60.
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Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 279
Tillyard, Frank (barrister-at-Jaw), Banking and negotiable instruments. A
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Charles Black, 1906. 8. XV—336 pp. 5/.—.
Paolini, Lu., Manuale per le casse di risparmio ordinarie, Seconda edizione.
Bologna, N. Zanichelli, 1907. 8. XI—365 pp. 1l 5.—.
9. Soziale Frage.
Ortloff, Hermann, Deutsche Konsumgenossenschaften im neuen
Zentralverband und die Hamburger Großeinkaufsgesellschaft. Leipzig
(Jäh und Schunke) 1906. 78 SS.
Der Zweck der vorliegenden Broschüre ist, wie der Verfasser im
Vorwort bemerkt, die zahlreichen Irrtüner über das Wesen und die
Zwecke der Konsumvereine aufzuklären.
In einer im Verhältnis zur Gesamtstärke der Broschüre ziemlich
umfangreichen Einleitung behandelt Ortloff das Wesen der Erwerbs-
und Wirtschaftsgenossenschaften. 3
Nachdem Ortloff weiter die Entstehung und Wirkung der Konsum-
vereine auf den Kleinhandel geschildert hat, stellt er die Grundzüge
der statutarischen Konsumvereinsorganisation dar, eine meines Erachtens
ziemlich überflüssige Arbeit, da die Organisation der Konsumvereine aus
dem Gesetz sowohl wie aus zahlreichen Darstellungen, wie insbesondere
aus dem Handbuch für Konsumvereine von Hänschke und Oppermann
allgemein bekannt ist.
Im zweiten Abschnitt beschäftigt Ortloff sich mit den Konsum-
genossenschaftsverbänden.
Eine kaufmännische Zentrale haben sich die Konsumvereine in der
Hamburger Engroseinkaufsgesellschaft geschaffen, die bereits mehr als
20 Mill. M. umsetzt, während die konsumgenossenschaftliche Produktion
in Deutschland noch vollkommen in den Kinderschuhen steckt.
In diesem Zusammenhange setzt Ortloff wieder die Grundsätze
der Konsumvereine auseinander, so den Grundsatz der Barzahlung, des
Verkaufs zu Tagespreisen, des Bareinkaufs, der politischen Neutralität,
die aber weit eher in den ersten Abschnitt hineinpassen als an diese
Stelle.
Weiter bespricht Ortloff S. 46 ff. unter der Ueberschrift „Konsum-
genossenschaftsverbände“ die wichtigeren Aenderungen und Neuerungen
in der Reichsgenossenschaftsgesetzgebung, die ebenfalls nicht in diesem
Zusammenhang, sondern an eine frühere Stelle gehören.
Dann endlich auf S. 51 kommt Ortloff auf die Herausdrängung
der Konsumvereine aus dem Allgemeinen Verband der deutschen Er-
werbs-- und Wirtschaftsgenossenschaften durch den Verbandsanwalt
Dr. Crüger zu sprechen.
Im großen und ganzen teilt die vorliegende Broschüre nur schon
allgemein bekannte Tatsachen mit, ordnet den Stoff nicht genügend und
geht auf den heute sehr heftig hin und her wogenden Streit um die
Konsumvereine nur mit wenigen Bemerkungen ein. Sie erhebt sich bei
weitem nicht auf diejenige Höhe, auf der sich Reinhold Riehn in seiner
trefflichen Studie „Das Konsumvereinswesen in Deutschland“, Stuttgart
und Berlin, 1902, bewegt.
380 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslande.
So geht Ortloff nicht ein auf die wichtige Frage der Weiterent-
wickelung des Konsumvereinswesens und auf die Aufgaben, die ihm nach
Riehn in der Zukunft bevorstehen, nämlich das Gegengewicht zu bilden
gegen die Produzentenringe, namentlich auch durch eigene Produktion,
die in England schon viel weiter fortgeschritten ist.
J. Wernicke-Berlin.
Herkner, H. (Prof.), Alkoholismus und Arbeiterfrage. 3. verm. Aufl. Berlin,
Mäßigkeits-Verlag, 1906. 8. 20 SS. M. 0,20.
Organisation, Die, der Wohlfahrtspflege. 15. Konferenz der Centralstelle für
Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen am 7, und 8. Juni 1906 in Nürnberg und Fürth Berlin,
Car) Heymanns Verlag, 1907. gr. 8. III—75 SS. M. 1,60.
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Wir haben bereits vor einem Jahre auf die große Reichhaltigkeit
dieses Jahrbuchs hingewiesen, welches immer noch zu wenig Beachtung
findet und in diesem Jahre wieder eine Ergänzung und Erweiterung
erfahren hat. Wir greifen wieder einzelne Punkte von besonderem
Interesse heraus.
So ist es dankenswert, daß für 44 Stadtgemeinden die Größe des
Grundeigentums innerhalb wie außerhalb des Stadtbezirkes angegeben
ist und in welcher Weise eine Vereinigung seit dem Vorjahre stattgefunden
hat. Aus dem Verfolg einer längeren Zeit ist man infolgedessen in der
Lage festzustellen, wieweit das Bestreben vorliegt, eine Erweiterung des
Grundbesitzes durchzuführen, um damit ev. dem Bodenwucher entgegen-
zutreten und der städtischen Verwaltung für ihre Zwecke Grund und
982 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Boden zu reservieren, um nicht zu sehr durch die Preisentwickelung
beeinträchtigt zu sein. Die Verschiedenheit der Ausdehnung des Be-
sitzes ist vielfach sehr auffallend. Wenn eine große Stadt wie Berlin
innerhalb des Stadtbezirks (stets exkl. der Straßenflächen) nur 485 Hektar
besitzt, so ist das außerordentlich wenig, besonders wenn man dem
gegenüberstellt, daß für Frankfurt a/M. 4189 notiert sind, für Mannheim
3026, Straßburg 3803, Darmstadt 1735, Freiburg i/B. dagegen nur 53,
Potsdam 73 u. s. w. Außerhalb. des Stadtbezirks besitzt Görlitz nicht
weniger als 30911 Hektar, Berlin 14173; dort sind es wohl hauptsächlich
Waldungen, hier Rieselfelder. Die übrigen in Betracht kommenden
Städte stehen erheblich nach, Breslau und Stettin mit über 4000, Frei-
burg mit 3200, Danzig 2800, bis herab auf Duisburg, welches gar
keinen Grundbesitz außerhalb des Stadtbezirks aufzuweisen hat.
Von Interesse ist die Untersuchung über die Ausdehnung der Pro-
duktivgenossenschaften im Jahre 1902 in den betreffenden Städten von
dem Direktor des Statistischen Amts der Stadt München, Pröbst. Es
sind 143 konstatiert, wobei allerdings der Begriff etwas weit gefaßt ist
und vor allem Konsumvereine mit eigenem Gewerbebetriebe, dann
Genossenschaftsmolkereien mit einbegriffen sind; ebenso Ein- und Ver-
kaufsgenossenschaften, Milchverwertungsgenossenschaften etc., welche
nicht eine vollständige Produktion umfassen, sondern nur eine bestimmte
Tätigkeit, 42 Genossenschaften betreffen allein die Molkerei, Meierei
und Milchhandel. Die Zahlen ergeben, daß sich hier noch eine ganze
Anzahl Genossenschaften mit Handwerksbetrieb vorfinden, wie 13 Bäckereien
11 Tischlereien, ebensoviel Druckereien, 6 Schneiderassociationen, während
Schuhmachereien nur zweimal vertreten sind, eine Tabakfarik, eine Buch-
binderei, eine Uhrmachergenossenschaft u. s. w. Die meisten sind’neuesten
Datums, doch findet sich eine genossenschaftliche Bäckermühle von 1875,
eine niederrheinische Webeunion aus dem Jahre 1874; die Hamburger
allgemeine deutsche Schiffszimmergenossenschaft stammt ebenso wie die
Vereinsbuchdruckerei zu Hannover noch aus den siebziger Jahren und
bei einer Anzahl sind die angegebenen Geschäftsergebnisse durchaus
zufriedenstellende.
Beachtung verdient der Abschnitt „Arbeitsnachweis und Arbeits-
losigkeit* von Dr. Feig in Düsseldorf. Es sind für 2 Jahre, getrennt
für männliche und weibliche Individuen, pro Monat die Stellenbesetzung
und die offenen Stellen den Stellenbewerbern gegenüberstellt, so daß man
hier eine gute Uebersicht über den Grad der Arbeitslosigkeit in den
verschiedenen Städten erhält. Auffallend ist es, wie in einzelnen Städten
die Frauen gegenüber den Männern eine nur untergeordnete Rolle
spielen, während wiederum in einzelnen, z. B. in Breslau, die Zahl
der berücksichtigten Frauen weit größer ist als die der Männer. Wir
bedauern, daß man nicht den Versuch gemacht hat, Durchschnittszahlen
aus den ganzen Summen zu ziehen, was manche brauchbare Ergebnisse
geliefert haben würde.
Versuche mit Arbeitslosenversicherung sind in Köln schon seit
1896 gemacht, wo die Stadt sie selbst in die Hand genommen hat,
während in Leipzig sich 1903 ein Arbeitslosen-Versicherungs-Verein
bildete, der von der Stadt keine finanzielle Beihilfe erhält, sondern ihm nur
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 283
Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt sind. Nach seiner Auflösung
im Jahre 1904 ist eine neue Arbeitslosenversicherungskasse aufgetaucht,
die ihre Tätigkeit am 1. Januar 1905 begonnen hat. In München ist
eine entsprechende Gemeindekasse zu gründen geplant.
Sehr wichtig sind die Zusammenstellungen der Gemeindesteuern vom
Direktor des Statistischen Amts in Chemnitz, H. Schöbel, und über
das städtische Schuldenwesen vom Direktor des Statistischen Amts in
Essen, Dr. Wiedfeld.
Nach der Steueıleistung sind 6 Gruppen geschieden: in 2 Städten,
Frankfurt a/M. und Wiesbaden, beträgt sie mehr als 40 M. pro Kopf,
iu 4 Städten zwischen 35 und 40 M. (Charlottenburg, Elberfeld, Stutt-
gart, Mainz), in 10 Städten, darunter Berlin, zahlt man zwischen 30 und
35, in 16 zwischen 25 und 30, in 13 zwischen 20 und 25; bei den
übrigen blieb die Steuerleistung unter 20 M. Nur bei 3 elsaß-loth-
ringischen Städten wird ein sehr bedeutender Teil (18—20 M.) durch
Verbrauchssteuern aufgebracht, die übrigen bleiben unter 8M. und die
Städte, welche nur eine Verbrauchsabgabe von Bier erheben, und das
sind die meisten, weniger als 1 M.
Die Verschuldung hat auch in dem letzten Jahre nicht unbedeutend
zugenommen, doch findet sich eine Verminderung bei 9 Städten.
J. C.
Statistik des Deutschen Reichs. Herausgeg. vom Kaiserlichen Statistischen Amt.
169. Bd. Kriminalstatistik für das Jahr 1904. Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht,
1806. Imp.-4. IV—16—129—423 SS. mit 7 farbigen Tafeln. M. 10.—.
Statistik der landwirtschaftlichen und zweckverwandten Unterrichts-Anstalten
Preußens für die Jahre 1903, 1904 und 1905. Bearb. im Kgl. Preuß. Ministerium für
Landwirtschaft, Domänen und Forsten. Berlin, Paul Parey, 1906. gr. 8. XXII—485 SS.
M. 12.—. (Landwirtschaftliche Jahrbücher. Bd. XXXV. Ergänzungsbd. V.)
Beiträge zur Statistik des Großherzogtums Hessen. Herausgeg. von der Groß-
herzoglichen Zentralstelle für die Landesstatistik. 54. Bd. 3. Heft. Mitteilungen aus
der Forst- und Kameralverwaltung des Großherzogtums Hessen für die Jahre 1900,01
und 1901/02. Darmstadt, G. Jonghaus, 1906. Lex.-8. VIII—70 SS. mit Figuren.
M. 1,40.
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graphenwesens im Jahre 1905. Wien, Hof- und Staatsdruckerei, 1906. Lex.-8. X—
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Statistik, Oesterreichische. Herausgeg. von der k. k. Statistischen Zentral-
kommission. LXXX. Bd. 1. Heft. Statistik der Sparkassen in den im Reichsrate ver-
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1906. gr. 4. I—LIV—75 SS. M. 4.—.
Schweiz.
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partements des Innern. 154. Lieferung. Ergebnisse der eidg. Betriebszählung vom
9. August 1905. Bd. 1. Die Betriebe und die Zahl der darin beschäftigten Personen.
Heft 1. Kanton Zürich. Bern, A. Francke, 1906. 4. XX—246 SS. fr. 2,50.
13. Verschiedenes.
Pometta, Daniele, Sanitäre Einrichtungen und ärztliche Er-
fabrungen beim Bau des Simplontunnels 1898—1906. Nordseite Brig.
Winterthur 1906. Diss. von Lausanne. 8%. 94 SS. 4 Tafeln.
Verf. gibt erst allgemeine Nachrichten über den Tunnel, schildert
284 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
dann die Arbeiter selbst, macht uns mit den Wohnungsverhältnissen
bekannt, fügt eine kurze Beschreibung der sozial-wirtschaftlichen Ver-
hältnisse hinzu und gibt einen Bericht über das Leben im Tunnel, die
sanitären Einrichtungen, die aufgetretenen Krankheiten, Unfälle u. s. w.
Wenn auch außerordentlich viel zur Sicherung der Gesundheit der
Arbeiter getan wurde und sowohl in der Verteilung der Arbeit wie
auch in der Anlage sanitärer Anstalten die Unternehmung alles, was
bis jetzt in dieser Beziehung geleistet wurde, übertroffen hat, so zwingt
doch die Erfahrung zur Aufstellung einiger Thesen allgemeiner Natur
für Einrichtungen, welche Verf. für zukünftige große Unternehmungen
für notwendig hält.
Die Behörden einer Ortschaft, wo derartige Unternehmungen aus-
geführt werden, sollten bereits vor Beginn der Arbeit gesetzliche Vor-
schriften über Bau und Anlage der Arbeiterbaracken erlassen.
Keine Baubaracke darf bewohnt werden, bevor die Untersuchung
ergeben hat, daß dieselbe in hygienischer Beziehung als zulässig erklärt
werden kann. Dabei sollen die Abtritteinrichtungen besonders berück-
sichtigt werden, und die Entleerung derselben polizeilichen Vorschriften
unterstehen.
Notwendig ist eine Kontrolle, ob die Zahl der Pensionäre in den
Pensionen nicht diejenige der Betten übersteigt, damit jeder Arbeiter
sein eigenes Schlaflager hat.
Ferner richte man das Augenmerk auf einwandfreies Trinkwasser,
auf die öffentlichen Waschhäuser und sorge für die Beschränkung der
Zahl der Wirtschaften.
Dagegen ist eine Einrichtung von Versammlungslokalen für die
Arbeiter zur Unterhaltung, zum Lesen u. s. w. ohne Trinkgelegenheit
zu treffen.
Ertordert muß die Anzeige bez. auch Spitalaufenthalt bei jeder
tieberhaften oder infektiösen Erkrankung werden; in ähnlicher Weise
müssen Krankenbetten für Frauen und Räume für Geburten geschaffen
werden.
Neben diesen Bestimmungen allgemeiner Natur müssen natürlich
die besonderen, durch die Art der Arbeit selbst bedingten Einrich-
tungen eingeführt werden, und zwar sind dieselben bereits mit der
Projektaufstellung in Aufsicht zu nehmen.
Da neben solchen großen Unternehmungen stets kleinere entstehen,
so soll man nicht unterlassen, die Lage der Arbeiter bei Krankheits-
fällen auch diesen gegenüber festzustellen.
Ausführliche Statistiken finden sich vor.
Die Tafeln enthalten Pläne und Risse vom Krankenhaus, von Ar-
beiterwohnhäusern, Arbeiterherbergen und Kantinen.
E. Roth, Halle a. S.
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der Berliner Rettungsgesellschaft herausgeg. von (Sanitäts-R.) S. Alexander und (Prof.)
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Wissenschaft in ihrer Stellung zur Praxis, von Flechtner und (Prof.) Wagner. — Ueber
Beamtenvorbildung und Wirtschaftsleben von (Prof.) von Halle. — Das landwirtschaft-
liche Unterrichtswesen in Deutschland, von Jenne. — ete. — N" 2: Der Städtestatistiker,
von (Direktor des Statist. Amtes) Sigmund Schott (Mannheim). — Der räumliche Ausbau
der Kommunalstatistik, von (Adjunkt des Statist. Amtes) Hellmuth Wolff (Zürich). —
Aufgaben der Lohnstatistik von (Direktor des Statist. Amts) Otto Landsberg (Magde-
burg). — Die Bezeichnung des Viebbesatzes durch Großviehzablen, von G. Stieger
(Berlin). — ete.
Export. Jahrg. XXIX, 1907, N" 1: Die Lage in Deutschland. — Die Bedeutung
der amerikanischen Wahlen, von Carl Mencke. — Die Kapitalienflucht aus Brasilien,
von Carl Bolle. — ete. — N’2 und 3: Die Geschichte der französischen Kolonisation in
Algier, von Henri Froidevaux. — Die Bedeutung der amerikanischen Wahlen, von Carl
Mencke. [Schluß.] — Kinderarbeit in den Glashütten. — Das Wirtschaftsjahr 1906.
— ete.
Handels-Museum, Deutsches. Organ des Bundes der Kaufleute, herausgeg.
von Vosberg-Rekow. Jahrg. 3, 1906, N" 12: Kartell und Kleinhandel, von J. H. Hei-
derich. [Schluß.] — Schwindelausverkäufe. — ete.
Jahrbücher, Landwirtschaftliche. Bd. XXXV, 1906, Heft 6: Untersuchungen
über das Auswintern des Getreides, von (Landesökonomie-R.) Buhlert (Oldenburg). —
Arbeiten der agrikultur-chemischen Versuchsstation Halle a. S. — Ueber den Einfluß
verschieden hohen Wassergehalts des Bodens in den einzelnen Vegetationsstadien bei
Teac Nährstoffreichtum auf die Entwicklung der Haferpflanze, von Heinrich
ünger. —
Jahrbücher, Preußische. Bd. 127, Heft 1, Januar 1907: Die soziale Unruhe
der modernen Juden, von Kurt Alexander (Berlin). — Das britische Reich und die
Kolonialfrage, von Charles Sarolea (Edinburg). — Ein Botschafter und Professor, von
Emil Daniels (Berlin). — etc.
Industrie-Zeitung, Deutsche. Jahrg. XXVI, 1907, N’ 1: Bestrebungen zur
Förderung des franko-britischen Handelsverkehrs. — Einfuhr von Metallen und Metall-
waren über Schanghai 1905. — ete. — N' 2: Der Tarifvertrag, von Arnold Steinmann-
Bucher. — Rheinisch-westfälisches Kohlen-Syndikat in Essen. -— ete. — N' 3: Der
Kanaltunnel zwischen England und Frankreich, von Otto Ballerstedt. — Fünfzig Jahre
deutschen Industrielebens. — etc.
288 Die periodische Presse Deutschlands.
Mitteilungen des Handelsvertragsvereins. (Jahrg. 6.) 1907, N" 1: Zur Fleischnot.
— Die Novelle zum Börsengesetz, von Max Nitzsche. — ete. — N'’2: Der Schutz der
„nationalen Arbeit“ in Deutschland, von Max Nitzsche. — Deutschland, England, Amerika,
von Borgius. — etc.
Monats-Hefte, Sozialistische. Jahrg. XIII, 1907, Heft 1, Januar: Der sozial-
politische Kurs und die Reichstagswahl, von Adolph von Elm. — Arbeiterausschüsse
als Arbeitervertretungen, von Otto Hue. — Städtische Lebensmittelverteuerer, von Max
Schippel. — Die Vertragspolitik der Gewerkschaften, von Robert Schmidt. — Ueber
den Menschen Elisée Reclus, von Louis de Brouckère. — Der Sozialismus in Argen-
tinien, von Manuel Ugarte. — etc,
Oekonomist, Der Deutsche. Jahrg. XXV, 1907, N’ 1254: Zum heutigen Stande
der Kartellbewegung. — Deutschlands Außenhandel im Lichte der Handelskammer-
berichte von Hamburg und Bremen. — Die Sparkassen in Preußen. — ete. — N" 1255:
Die Reform des Börsengesetzes. — Die Gründungen von Aktiengesellschaften im Jahre
1906. — ete. — N" 1256: Die deutschen Emissionen im Jahre 1906. — etc.
Plutus. Jahrg. 4, 1907, Heft 1: Ein Statistiker der Reformationszeit, von H. Friede-
mann (Berlin). — Wie liest man eine Versicherungsbilanz? Von Louis Leopold (Berlin).
— ete. — Heft 2: 1906, von F. S. Omar (Wien). — Wie liest man eine Versicherungs-
bilanz? Von Louis Leopold (Berlin). [Fortsetzung.] — ete. — Heft 3: Wie liest man
eine Versicherungsbilanz? Von Louis Leopold (Berlin). — Wissenschaft und Praxis,
von Alfons Goldschmidt (Charlottenburg). — etc.
tevue, Deutsche. Jahrg. 32, 1907, Januar: Der Aufstand in Deutsch-Südwest-
afrika und die Schutzverträge, von (Generalmajor a. D.) Leutwein. — ete.
Wirtschafts-Zeitung, Deutsche. Jahrg. III, 1907, N’ 1 und 2: Recht und
Volkswirtschaft im Bildungsgange der höheren Verwaltungsbeamten, von (Prof.) Stier-
Somlo (Bonn). — Der Entwurf eines Reichsgesetzes betreffend die Sieherung der Bau-
forderungen, von (Justiz-R.) Felix Kaufmann (Berlin). — Die Bücherproduktion in
Deutschland und ihre wirtschaftliche Bedeutung, von A. Elster (Jena). — ete.
Zeit, Die Neue. Jahrg. 25, N' 13: Zur Lage der Postbeamten, von Robert Zieme.
— Die Mißwirtschaft der Vertrauensärzte, von Ludwig Radloff. — ete. — N” 14: Zur
Reform der Arbeiterversicherung, von Otto Braun. — Der erste internationale Kongreß
zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, von Robert Michels. — ete. — N’ 15: Das Zwei-
parteiensystem in den Vereinigten Staaten, von Robert Saltiel (Chicago). — ete. —
N’ 16: Mathematische Formeln gegen Karl Marx, von L. B. Boudin (New York). —
Ueber britischen Imperialismus, von Otto Bauer. — ete.
Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Koionialwirtschaft. Herausgeg.
von der Deutschen Kolonialgesellschaft. Jahrg. VIII, Heft 12, Dezember 1906: Die
Unternehmungen des Kolonial-Wirtschaftlichen Komitees zur Nutzbarmachung unserer
Kolonien, von Moritz Schanz. — Die Sozialpolitik der Niederländer in Ostindien, von
Erich Prager. — Russische Kolonialpolitik, van (Oberregierungs-R.) W. Jacobi (Königs-
berg). — Die Lastenbeförderungsmittel in Afrika, von D. Kürchhoff. — Landwirtschaft
und Viehzucht am Kongo, von J. Wiese. — Koloniale Erfolge, ihre Ursachen und Wir-
kungen , von R. Hennings. — Die Produktionsfühigkeit der Böden trockener Gebiete,
von (Oekonomie-R.) Oetken (Oldenburg). — etc.
Bemerkung der Redaktion.
Auf unsere Bitte hat Herr Prof. Dr. Andreas Voigt eine uns
eingereichte ausführliche Entgegnung auf den Literaturbericht des Herrn
Prof. Fuchs S. 806 ff. des vorigen Bandes, deren Abdruck uns zu
weit zu führen schien, zurückgezogen. Seinem Wunsche gemäß machen
wir aber darauf aufmerksam, daß eine eingehende Erwiderung von ihm
in dem Februarheft der „Kritischen Blätter“ erscheinen wird.
Frommannsche Buchdruckerei (Hermann Pohle) in Jena.
ne e
KarlSeutemann, Statistik der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reiche. 289
IV
Der Stand der Statistik der Bevölkerungs-
bewegung im Deutschen Reiche und die
Hauptzüge der Bevölkerungsentwickelung
in den letzten 15 Jahren.
Von
Dr. Karl Seutemann.
Seit dem Jahre 1901 hat das Statistische Amt des Deut-
schen Reichs laut Bundesratsbeschluß vom 6. Dezember 1900
seine Statistik der Bevölkerungsbewegung durch Heranziehung wei-
terer statistischer Materialien aus den Bundesstaaten bedeutend
erweitert. Während bis dahin lediglich Nachweise über die Gesamt-
zahl der Eheschließungen, über die Geborenen nach Geschlecht,
Vitalität und Legitimität und über die Gesamtzahl der männlichen
und weiblichen Gestorbenen zu liefern waren, sind jetzt auch die
Altersverhältnisse, die bisherigen Familienstands- und die Religions-
verhältnisse der Eheschließenden, die Mehrlingsgeburten in mehr-
facher Unterscheidung und namentlich auch die Altersverhältnisse
der Gestorbenen an das Reichsamt mitzuteilen. Eine Gliederung
nach Kalendermonaten wird für die schon früher üblichen Hauptnach-
weise verlangt; für diese ist auch die territoriale Gliederung am
weitgehendsten, sie geht bis auf die preußischen und bayerischen
Regierungsbezirke, die sächsischen Kreishauptmannschaften u. s. w.
hinunter. Bei den neueren Nachweisen findet nur eine Gliederung
nach Provinzen statt. Diese geographische Beschränkung würde
man bei der Alterstabelle der Gestorbenen (Kindersterblichkeit!)
kaum verstehen und billigen können. wenn nicht im Jahre 1904 für
die deutsche Sterblichkeits- und Todesursachenstatistik im Reichs-
gesundheitsamte neue Grundlagen geschaffen worden wären.
Es ist nämlich von diesem Reichsamte nach eingehenden Beratungen
ein einheitliches deutsches Todesursachenverzeichnis ausgearbeitet
worden, dessen richtige Anwendung durch ein sehr ausführliches
alphabetisches Verzeichnis der vorkommenden Krankheits- und Todes-
ursachenbenennungen gesichert ist. Während das Kaiserliche Ge-
sundheitsamt bisher nur Nachrichten über einige wichtige Todes-
Dritte Folge Bd. XXXII (XXXVIII). 19
290 Karl Seutemann,
ursachen in den Städten mit über 15000 Einwohnern publizieren
konnte, verfügt es jetzt über regelmäßige Nachweise über die Ge-
storbenen nach Alter und Todesursachen unter weitgehendster terri-
torialer Gliederung.
Man findet jetzt also die Ergebnisse der Statistik der Bevölke-
rungsbewegung für das Deutsche Reich bequem an zwei Stellen
beisammen. Die vom Kaiserlichen Statistischen Amt bearbeitete
Statistik wird regelmäßig jährlich in Verbindung mit internationalen
Uebersichten publiziert in den Vierteljahresheften zur Statistik des
Deutschen Reichs (zuletzt für 1904 im 1. Heft des 15. Jahrg. 1906)
und auszugsweise im Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich.
Die Resultate bis 1890 sind zusammengefaßt im 150. Bande der
Statistik des Deutschen Reichs (Volkszählungsband) !). Die genauere
Sterblichkeits- und Todesursachenstatistik muß man in den Ver-
öffentlichungen des Kaiserlichen Statistischen Amts suchen; viel-
leicht wird sie aber auch in den Bänden des Kaiserlichen Stati-
stischen Amts veröffentlicht. Bisher ist noch nichts davon erschienen.
Welcher Fortschritt ist das gegenüber früheren Jahren, wo man
sich mühsam alles aus landesstatistischen Veröffentlichungen zu-
sammensuchen mußte und doch zu keinem vollständigen Ergebnis
kam, weil nicht alle Bundesstaaten das Material in ausführlicher
Weise publizierten!
So notwendig diese Ausdehnung des Tätigkeitsbereichs der reichs-
statistischen Behörden auf statistische Zweige ist, die gleichmäßig in
allen Bundesstaaten behandelt werden müssen, weil hier Interessen
des Reichs und allgemeine Interessen ebensosehr wie bundesstaat-
liche in Frage kommen, so nachteilig wird sie doch für Wirksamkeit,
Bedeutung und Ansehen der statistischen Landesämter em-
pfunden?). Die statistischen Materialien, die die Landesämter auf
dem Gebiete der Bevölkerungsbewegung, der Volkszählungen, der
Berufs- und Gewerbezählungen u. s. w. veröffentlichen, sind jetzt
im wesentlichen nur noch Ergänzungen zu dem reichssta-
tistisch publizierten Material, namentlich Ergänzungen weiterer
geographischer Art. Diese Materialien sind zwar für örtliche Detail-
studien und für die nähere Ergründung statistischer Zusammen-
hänge sehr wichtig, sie werden aber begreiflicherweise in weiteren
Kreisen nicht mehr wie früher beachtet, weil die wichtigsten all-
gemeinen Gesichtspunkte am besten und leichtesten in den reichs-
statistischen Veröffentlichungen gefunden und die im Zahlendetail
verborgenen Erscheinungen nur durch sehr gehaltvolle Bearbeitungen
1) In dem betreffenden Abschnitt sind aber mehrere Tabellenköpfe verwechselt
worden (wenigstens in dem mir vorliegenden Exemplar). Der ganze Abschnitt ist unter
dem Titel: „Die Bevölkerung des Deutschen Reichs im 19. Jahrhundert auf grund der
deutschen und der internationalen Bevölkerungsstatistik; Referent Zahn“, auch in den
Vierteljahrsheften z. Stat. des Deutschen Reichs, Jahrg. 11, 1902 veröffentlicht worden.
Es empfiehlt sich, diese Veröffentlichung zu benutzen.
2) Vergl. zum Folgenden auch die Ausführungen bei Losch, Die Bewegung der Be-
völkerung Württembergs im Jahre 1903 in den Württemb. Jahrb. für Statistik und
Landeskunde, Jahrg. 1905, Heft 2.
Der Stand der Statistik der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reiche. 291
gewonnen werden. Mit anderen Worten: früher schätzte man die
statistischen Publikationen der Landesämter auf diesen Gebieten
schon um deswillen, weil sie den Stoff für die Erforschung all-
gemeiner statistischer Erscheinungen boten; mit den Jahren wird
man sie hierzu immer weniger brauchen, und man wird sie haupt-
sächlich nur aufschlagen, soweit sie Bedeutendes in der Einzel-
forschung leisten.
Bei Einzelforschung ist indes nicht so sehr an die Behandlung
neuer, der Reichsstatistik fremder bevölkerungsstatistischer Fragen
und Probleme oder an neue methodische Lösungsversuche zu denken.
Denn hier hat die Landesstatistik in der rasch emporgeblühten
Städtestatistik einen in vieler Hinsicht überlegenen Mitwerber.
Die eigentümlichen Bevölkerungserscheinungen der Städte, wie z. B.
die Wanderungsvorgänge, veranlassen von selbst entsprechende Unter-
suchungen. Aber auch bei Fragen allgemeineren Charakters, wie
z. B. Einfluß der Ernährungsweise auf die Säuglingssterblichkeit,
Einfluß von Beruf, sozialer Stellung und Wohnung auf Sterblichkeit
und Todesursachen, örtliche und soziale Beziehungen der Verlobten,
Ehedauer, Fruchtbarkeit der Ehen u. s. w., ist die Städtestatistik
die in erster Linie Berufene. Bei vielen dieser Probleme müssen
geeignete Lösungsversuche erst gesucht werden; sie werden daher
— solange sie inhaltlich, methodisch und technisch mehr Probleme,
als wissenschaftliche Besitztümer der Statistik sind — am besten
zunächst an kleinem, leichter übersehbarem und beschaffbarem Ma-
terial erörtert. Zum Teil ist diese räumliche Beschränkung auch
<lurch den Umfang der Arbeiten ohne weiteres geboten: man denke
=. B. an die Ausbildung der Berliner Bevölkerungsstatistik durch
Böckh. Die Städtestatistik braucht auch nicht so ängstlich wie die
Wandesstatistik die Kontinuität ihre statistischen Nachweise zu
wahren, sie kann eine Untersuchung einmal oder einige Male an-
Stellen und dann wieder fallen lassen; das geht bei der staatlichen
Statistik sehr schlecht. Wie viele Jahre schon schleppt nun die
Preußische Bevölkerungsstatistik ihre unglückliche beruflich-soziale
Gliederung fort, die eine Verwertung bisher eigentlich nur bei der
Kindersterblichkeit !) erfahren hat und eine weitere Verwertung mangels
entsprechender sozialer Gliederung der Bevölkerung überhaupt nur in
ganz beschränkter Weise finden kann!
Die Einzelforschung der Landesstatistik kann bei dieser
Stellung zwischen Reichs- und Städtestatistik nur in der Vertiefung
in die geographischen Details des bevölkerungsstatistischen
Materials bestehen. Damit ist der Landesstatistik aber auch der
beste Teil zugefallen. Denn kann es für die Teile der Staatsver-
waltung, die es mit der Wohlfahrt der Bevölkerung zu tun
haben, und für den aufmerksamen Beobachter etwas Belehren-
1) Seutemann,, Kindersterblichkeit sozialer Bevölkerungsgruppen, insbesondere im
Preußischen Staate und seinen Provinzen (Neumànns Beiträge zur Geschichte der Be-
rölkesung in Deutschland, Bd. 5). Tübingen 1894.
19*
292 Karl Seutemann,
deres geben als die Kenntnis der geographischen Bevölkerungs-
teile in allen ihren natürlichen und ’sozialen Beziehungen, die
verständnisvolle Auffassung aller lokalen Besonderheiten in ihren
Ursachen und Zusammenhängen? Zwar ist die Statistik der Be-
völkerungsbewegung nur ein Teil der Volksbeschreibung, auch
andere statistische Zweige, wiedie Statistik des Bevölkerungs-
standes, die beruflich-gewerbliche Statistik u. s. w., müssen das
Ihrige beisteuern, und auch die Sammlung vielerlei typisch-
konkreten Materials ist nötig. Denn wie will man Dinge in
ihren statistischen Maßen auffassen, von denen man keine konkrete An-
schauung hat? Aber die Bevölkerungsvorgänge sind doch als
Symptome des allgemeinen physischen und sozialen Zustandes
der Bevölkerung besonders wichtig, wie es uns schon Süßmilch
in seinem denkwürdigen Werke über die „Göttliche Ordnung“ so
vielseitig, so beredt und erhaben dargelegt hat. Jede preußische
Provinz (und wir denken nicht an Preußen allein) sollte etwas
dem Aehnliches besitzen, was Bleicher für Frankfurt in seiner
statistischen Beschreibung der Stadt und ihrer Bevölkerung, was
Kollmann für Oldenburg, Zimmermann für Braun-
schweig in schönen Detailzeichnungen geschaffen haben. Zwar
liegt auch für Preußen in Meitzens bändereichen Werke über den
Boden des preußischen Staates eine umfassende Landesbeschreibung
vor. Aber die großen bevölkerungsstatistischen Materialien sind
darin nur wenig verwertet. Sie allmählich zu bewältigen ist das
Landesamt mit seinem großen Stabe von Mitarbeitern berufen.
Schr mit Unrecht werden solche Aufgaben der privaten
wissenschaftlichen Arbeit überlassen. Fr. J. Neumann
hat es mit großem Kostenaufwand und unermüdlichem Fleiß ver-
sucht, Materialien für die statistische Beschreibung einzelner Landes-
teile zu sammeln. In den von ihm herausgegebenen Beiträgen zur
Geschichte der Bevölkerung in Deutschland seit dem Beginne des
19. Jahrhunderts sind auch einige gute Vorbilder für die Lösung solcher
Aufgaben vorhanden. Aber trotz der Fülle der Unterlagen, die
man so leicht in privaten Händen nicht wiederfindet. gerät der Fort-
gang des Werkes immer wieder ins Stocken. Es fehlen die bezahlten
Hilfskräfte, die sich jahrelang in die Details der Zahlen und die
Aufsuchung ihrer Zusammenhänge vertiefen können. es fehlt der un-
entbehrliche große Hilfsapparat, den die statistischen Aemter in
ihren Bureaus haben, die leichte Inanspruchname der Behörden, die
bequeme Einsicht in Akten und handschriftliche Materialien. Durch
das alles werden den wissenschaftlichen Arbeitern der statistischen
Aemter ihre Aufgaben so außerordentlich erleichtert, daß jeder private
Mitbewerb im Grunde unmöglich ist. Die statistischen Landesämter
müssen diese Detailarbeiten selbst übernehmen oder doch aus-
gestalten, wenn sie nicht auf dem Gebiete der Bevölkerungsstatistik
ihre alte, durch Reichs- und Städtestatistik bedrängte Stellung auf-
geben wollen. .
Die reichsstatistischen Veröffentlichungen über die
Der Stand der Statistik der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reiche. 293
Bevölkerungsbewegung können demgegenüber nur eine Schilderung
ihres allgemeinen Zustands in Deutschland und der allgemeinen Züge
der Entwickelung zum Ziel haben. Das schließt eine — wenn
auch nur breite — Schilderung der geographischen Variabilität der
Bevölkerungserscheinungen in Deutschland mit ein. Findet die
Reichsstatistik nun in den landesstatistischen Veröffentlichungen nicht
gehaltvolle Erläuterungen über die Ursachen solcher Erscheinungen
vor, $0 werden ihr viele Gesichtspunkte zur Bewertung der Zahlen
fehlen. In der Tat sind die den jährlichen Veröffentlichungen, des
bevölkerungsstatistischen Materials beigegebenen Erläuterungen noch
wenig tiefgreifend; sie belehren über sehr vieles, das im Berichts-
Jahr gar keine charakteristische Eigentümlichkeit aufweist, und das
daher Jahr für Jahr mit denselben Worten wiederholt werden kann.
Recht wertvoll sind aber die jeder Veröffentlichung beigegebenen
zeitlichen Vergleichsreihen, die man nur noch vermehrt sehen möchte.
Prüfen wir sie, so werden bestimmte Entwickelungszüge
bei den Bevölkerungsvorgängen der letzten 15 Jahre in Deutschland
erkennbar.
Die allgemeine Geburtsziffer des Deutschen Reichs ist
seit 1890 beträchtlich zurückgegangen. Es kamen auf 1000
Einwohner Geborene (einschl. Totgeborene):
1891 1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904
382 36,9 38,0 37,1 37,3 37,5 37,2 37,3 37,0 36,8 36,9 36,2 34,9 35,2
Die rückläufige Bewegung setzt schon mit den 70er Jahren ein,
während in früheren Jahrzehnten Geburtsziffern, den neueren ähnlich,
beobachtet wurden. Auf 1000 Einwohner kamen Geborene (einschl.
Totgeborene) im Gebiete des heutigen Deutschen Reichs:
1841/50 1851/60 1861/70 1871/80 1881/90 1891/1900
37,6 36,8 38,8 40,7 38,2 37,3
In den Jahren 1872 bis 1579 betrug die Geburtsziffer niemals
Weniger als 40,5 Proz.; ihr höchster Stand war im Jahre 1876 mit
42,6 Proz. So niedrige Geburtenziffern wie in den Jahren 1902 bis
1904 wurden, nur in den Jahren 1853 bis 1856 festgestellt, wo sie
36,0 Proz., 35,4 Proz., 33,5 Proz. und 34,9 Proz. betrugen. Diese
Zahlen standen aber nicht wie unsere neuesten am Ende einer ab-
nehmenden Reihe, sondern waren die Folge einer Teuerung; es
kosteten in Preußen durchschnittlich 2):
| isas | 1846/50 | 1851/55 | 1856/60 | 1861,65
Bu X | nn
|
1000 kg Weizen Mark 154 | a8 214 | 209 188
1000 kg Roggen Mark 114 | 131 177 145 138
Die Geburtenziffer in Preußen betrug:
I 404 | 391 | 388 | 40,3 | 406
1) Festschrift des Kgl. Preuß. Statist. Bur. zur Jahrhundertfeier seines Bestehens,
1905, 2. Teil, S. 13. ;
294 Karl Seutemann,
Noch 1890 ist in den Veröffentlichungen des Kaiserlichen
Statistischen Amts ein dauernder Rückgang der deutschen Ge-
burtsziffer bezweifelt worden. Bei der neuesten Entwickelung der
Zahlen wird man ihn doch zugeben müssen. Er wird nämlich in den
verschiedensten Gebieten Deutschlands gleichmäßig be-
obachtet. Zunächst ist die Geburtsziffer der östlichen Pro-
vinzen der preußischen Monarchie bedeutend gefallen. Nur Posen
hat seine hohe Geburtsziffer ganz, 1891 43,1 pro Mille — 1904 42,5
pro Mille, Schlesien so ziemlich, 1891 41,4 pro Mille — 1904 39,1
pro Mille behauptet. Wie die Geburtsziffer Posens einzuschätzen ist,
zeigt die folgende Uebersicht deutlich'):
Kreise Auf 1000 Einwohner kamen Von 100 Einwohnern
Pla durchschnittlich jährlich im BA
mit höchster Jahrfünft 1896 bis 1900 hatten 1900 polnische
Geburtsziffer G ia a Apa Muttersprache
eburten (mit Totgeborenen)
|
Posen-Ost 56 72
Inowrazlaw 53 64
Strelno 53 83
Schroda 49 88
Schildberg 49 90
Bromberg-Land 48 39
Mogilno 48 75
Posen- West 48 87
Samter 48 73
Kreise Anf 2000 y Pinwhner kamen Von 100 Einwohnern
fie. biedrigster durchschnittlich jährlich im | katten 1900 polnische
Geburtsziffer Jahrfünft 1896 bis 1900 Muttersprache
z e Geburten (mit Totgeborenen) ji °P
Krotoschin 40 65
Kawitsch 37 55
Schwerin 36
Lissa 36 36
Meseritz 34 20
Fraustadt 34 28
Auch in Schlesien hat der überwiegend polnische Regierungs-
bezirk Oppeln weitaus die höchste Geburtsziffer. Sie betrug pro
Mille der Bevölkerung:
im Regierungsbezirk | 1895/1900 | 1904
Breslau 39,8 36,9
Liegnitz 37,1 34,4
Oppeln 45,0 44,3
1) Nach der Festschrift des Kgl. Preuß. Statist. Bur. Ausführliches über diese
wichtigen Vorgänge bei E. v. Bergmann, Zur Entwickelung deutscher, polnischer und
jüdischer Bevölkerung in Posen. (Bd. I der Beiträge zur Geschichte der Bevölkerung
in Deutschland. Herausg. von Fr. J. Neumann.) Vgl. auch M. Brösike, Rückblick
auf die Entwickelung der preußischen Bevölkerung von 1875 bis 1900 (Preußische
Statistik, Bd. 188, 1904) S. 21.
Der Stand der Statistik der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reiche. 295
Wenn also Posen und Schlesien an dem starken Geburtsrück-
gange der östlichen Provinzen nicht teilhaben, so ist das lediglich
auf das Konto der polnischen Bevölkerung zu setzen. Wie in
den östlichen Landesteilen, so verringert sich auch in Schleswig-
Holstein, in Hannover, der Provinz Sachsen, dem
Königreich Sachsen und in sämtlichen Kleinstaaten
außer Oldenburg und Bremen die Geburtsziffer beharrlich. Da-
gegen hat der ganze Süden und Westen Deutschlands an der
Abnahme der Geburtsziffer keinen Teil. Weder in Bayern,
Württemberg, Hohenzollern, Baden, Großherzogtum Hessen, Elsaß-
Lothringen, noch in Hessen-Nassau, Rheinland, Westfalen ist ein be-
merkenswerter oder überhaupt ein Rückgang vorhanden.
So geographisch geschlossen nun aber auch die Gebiete mit
und ohne Verringerung der Geburtsziffer sind, so ist doch der
wirtschaftliche Charakter der zu dem einen und dem anderen Ge-
biet gehörenden Landesteile unter sich so verschieden, daß man un-
möglich daraus irgendwelche Einsicht in die Ursachen der Er-
scheinung schöpfen kann. In dem Volkszählungsbande der Deutschen
Reichsstatistik für 1900 wird auf S. 204* die Abnahme der
summarischen Geburtsziffer zum Teil daraus erklärt, daß infolge ab-
nehmender Sterblichkeit der Anteil der jüngeren und höheren, nicht
zeugungsfähigen Altersklassen an der Bevölkerung größer
geworden sei. Derselbe Volkszählungsband ergibt aber gerade das
Gegenteil. Von 1000 der Gesamtbevölkerung des Deutschen Reichs
standen im Alter von Jahren:
Volkszählungsjahr | O bis 15 | 15 bis 20 | 20 bis 30 | 30 bis 40 | 40 bis 60 | 60 und mehr
A ie Na A EE Sr Eea we a
1371 345 91 | 165 | 133 | 190 | 76
1880 356 | 93 159 130 183 | 79
1890 35m 1 97: 1, oz, | n28 | 182 | 80
1900 348° |. gar O 270% „| 181 179 | 78
Gerade die Bevölkerung der zeugungskräftigsten Altersjahre
hat sich vermehrt; bezöge man also die Geborenen nur auf die
Angehörigen dieser Altersgruppen, so würde der Abfall der Geburts-
ziffer noch etwas stärker sein.
Auch die Bewegung der Eheschließungen gibt keine
Erklärung. Auf 1000 Einwohner kamen im Deutschen Reich Ehe-
schließungen:
1891 1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 71903 1904
84 81 8ı Bı 70 82 8a 84 86. 785.807 7,8 8,0
Auch in den Landesteilen hat sich die Eheschließungsziffer fast nir-
gends verändert. Nur im Königreich Sachsen ist sie in der Tat
seit 1901 von ihrer beträchtlichen Höhe herabgegangen, jedenfalls
unter dem Einfluß der dort sehr fühlbaren gewerbliclien Depression,
und der rapide Abfall der Geburtsziffer in Sachsen ist hierauf
zum Teil mit zurückzuführen. Es kamen nämlich im Königreich
Sachsen auf 1000 Einwohner
296 Karl Seutemann,
|1s91|1892|1893|1894|1895 1897|1898|1899]1900]1901 1902]1903|19%%
_— h pil
Ehe- | I
schließungen | 8,9 | 8,6 | 8,6 | 8,8 9,2 9,7 9,1 | 8,4 | 8,1 | 8,2] 8,5
Geborene 43,2 |41,1 |41,5 e 7 1a: x e ‚ı os ,6 140,6 on Pi 38, 2 36 ‚9 135,0 pe
Bei der im übrigen Deutschland BR Konstanz der Heirats-
ziffer können sich auch Heiratsalter und Ehedauer nicht
merklich verändert haben. Auf 10000 Einwohner kamen in Deutsch-
land bestehende Ehen 1871: 1677; 1880: 1700; 1890: 1697 und 1900:
1738. Das Durchschnittsalter der Eheschließenden betrug in Preußen ')
nse JADTE:
-Xi 1875 | 1880 | 1885 I: 1590 | 1895 |: 1900 c] 1904
T
28,9
25,7
29,5 |
26,2
bei den Männern
bei den Frauen
29,7
26,6
29,6
26,4
29,4
26,8
I
209,5
27,0
Seit 1901 wird das Heiratsalter auch in der deutschen Statistik
mitgeteilt. Von 100 im Deutschen Reich eheschließenden Männern
bezw. Frauen standen im Alter von... Jahren
Emm nn
Jahr bis |25 bis | 30 bis | 35 bis | 40 bis | | 45 bis | 50 bis | 55 bis ‚60 und
unt. ‚20 unt. 30 unt. 35 unt. 40 unt. 45) unt. Pojani 55,unt. 60| mehr:
1901 | männlich 30,0 42,6 | 14,3 | 5,7 2,9 | 1,7 1,2 0,8 0,8
weiblich 56,5 | 27,9 IE 8,1 | 3,5 1,9 F! 0,6 0,2 0,2
1904 männlich 28,7 | 44,0 | 14,5 | 5,6 29 | ı, 1,1 0,7 0,8
j weiblich 56,0 | 28,5 81 | 3,4 19 |1, 05 | os a3
Die durchschnittliche Dauer der Ehen in Preußen betrug im
Jahre
beim Ableben | 1891/95 |1896/1900] 1901 | 1$
des Mannes 25,1 25,4 25,3 | 25,8
der Frau 23,6 24,1 23,9 | 24,1
Ueberhaupt handelt es sich ja nicht bloß um eine Abnahme der
ehelichen Fruchtbarkeit, auch die unehelichen Geburten sind
relativ zurückgegangen, und zwar sogar noch etwas stärker als die
ehelichen, denn der Prozentualanteil der Unehelichen an allen Ge-
borenen des Deutschen Reichs stellt sich so:
1891 1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1809 1900 1901 1902 1903 19%
9,06 9,14 9,15 9,36 9,08 9,36 9,24 912 8,97 872 857 848 8,35 dal
Auch dies Bild kehrt in den Landesteilen mit großer Regelmäßigkeit
wieder. ;
In großen Teilen Deutschlands müssen sich also die Hemmnisse
des natürlichen Umfangs der Fruchtbarkeit vermehrt haben. Hängen
1) Statist. Handbuch und Statist. Jahrbuch f. d. Preuß. Staat.
Der Stand der Statistik der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reiche. 297
sie etwamitderzunehmenden Verstadtlichungder Reichs-
bevölkerung zusammen? Die in den Uebersichten des Statisti-
schen Jahrbuchs deutscher Städte berücksichtigten deutschen Groß-
und Mittelstädte hatten zusammen:
1902 eine allgemeine Geburtsziffer von 32,15 Prom. gegen 36,2 Prom. im Reich,
1903 » » ” n 30,98 » »” 34,9 » » »
In Preußen berechnete sich 1903 die allgemeine Geburtsziffer ')
in den Stadtgemeinden auf 32,0 Prom.,
in den Landgemeinden auf 38,3 Prom.
Diese Zahlenunterschiede sind aber noch nicht recht beweiskräftig,
denn da sich die Städte nicht gleichmäßig über das Staats-
gebiet verteilen, so trägt ihre Geburtsziffer hauptsächlich das
Gepräge der städtereichen Landesteile. Oder — um dasselbe in
theoretischer Einkleidung auszudrücken — die Grundgesamten der
Stadtbevölkerung und der Landbevölkerung sind in geographischer
Hinsicht nicht gleichartig, da aber die Vorgangsgesamtheit der Ge-
burten — wie wir annehmen müssen — durch die geographische
Lage der Grundgesamtheit beeinflußt wird ?), so müssen jene ver-
glichenen Grundgesamtheiten (Stadt- und Landbevölkerung) erst
durch geographische Differenzierung gleichartig gemacht werden.
Aber auch innerhalb der preußischen Kreise, deren Ver-
hältnisse auf S. 24 ff. der „Festschrift des Kgl. Preuß. Statist.
Bureaus“ mitgeteilt sind, sind meist die Stadtkreise durch eine
niedrigere Geburtsziffer neben den mehr ländlichen Kreisen ihres
Regierungsbezirks kenntlich. Freilich ragen auch, namentlich im
Westen viele Städte mit hohen Geburtsziffern aus ihrer Umgebung
hervor. Nach dem Statistischen Jahrbuch deutscher Städte hatten 1903
die höchsten Geburtsziffern (40 bis 45 Proz.): Dortmund, Bochum,
Duisburg, Essen, Nürnberg und Mannheim, die niedrigsten (20 bis
25 Proz.): Potsdam, Charlottenburg, Schöneberg, Wiesbaden, Berlin.
Die eigentlichen Industriestädte zeichnen sich daher nicht so sehr
durch niedrige Geburtsziffern aus wie viele als Handels-, Beamten-,
Garnisonstädte bekannte Orte.
Da in den Städten die mittleren, zeugungskräftigen
Altersklassen infolge des Zuzugs gewöhnlich übermäßig besetzt,
sind ®):
1) 1903 sind in den preußischen Stadtgemeinden 508 427, in den Landgemeinden
166239 Kinder geboren (Preußische Statistik, Bd. 190).
2) Auch Bleicher, Ueber die Eigentümlichkeiten der städtischen Natalitäts- und
Mortalitätsverhältnisse (Beilage zu den Beiträgen zur Statistik der Stadt Frankfurt
1897), legt dar, daß die Gegensätze von Stadt und Lund nicht von solcher Bedeutung
seien, daß darüber die besonderen Kennzeichen der Bevölkerungsvorgänge, die durch
die geographische Lage eines Ortes oder Landstriches bedingt würden, ‚verloren
gingen. — Am überraschendsten tritt der vorherrschende Einfluß der geographischen
Lage bei beruflich-sozial differenzierten Bevölkerungsvorgüngen hervor. S. darüber des
Verfassers oben zitierte „Kindersterblichkeit‘‘, S. 154 ff.
3) Volkszählungsband der Reichsstatistik.
298 Karl Seutemann,
Von 1000 Einwohnern standen
Gebiet 1900 im Alter von
unter 16 | 16 bis 50 | über 50
33 Großstädte 305 | 565 130
Uebriges Reichsgebiet 380 460 160
Deutsches Reich im
ganzen 368 477 155
so würde sich die im ganzen niedrigere Geburtsziffer der Städte noch
wesentlich niedriger herausstellen, wenn man die Geborenen nur auf
die Bevölkerungsteile bezöge, innerhalb deren die Kindererzeugung
physisch möglich ist. Der Grund kann entweder in der ausge-
dehnteren Ehelosigkeit der Stadtbevölkerung oder in
einer geringeren Fruchtbarkeit ihrer Ehen liegen. Es
gab in Preußen 1900!)
Frauen im Alter In = Sy: f Auf dem en .
Yon NE RN avon ver heiratet | üb austi davon verheiratet
un u k en ae absolut | Proz. | eraaupt| absolut | Proz.
- - n ee ea BR
über 18 bis 20 295 273 11046 | 3,7 330 628 14729 | 45
„20.21 149936 | 16626 11,5 || 160257 20 166 12,6
»„ 21 „25 612089 195489) 31,9 629437 | 225694 | 35,8
BR me U) 655 532 405 290| 61,8 || 697 309 | 476 200 68,4
» 30 „ 35 571197 | 429084 | 75,0 637651 | 524227 | 82,0
» 35 „ 40 494928 | 382088| 77,1 576864 | 487659 | 84,5
m 40 „45 441 113 | 329899 75,9 | 527980 | 438907 | 83,0
alle Altersklassen | 7558877 |2556176| 33,8 | 9942 207 |3 422 666 344
Die Quote der Verheirateten unter den Frauen ist also in allen
gebärfähigen Altersklassen auf dem Lande bedeutend größer als in
der Stadt. Wie weit hier die verschiedene Heiratshäufigkeit in
Stadt und Land mitspielt, kann nur durch Berechnung der Heirats-
ziffern für die einzelnen Altersjahre dargelegt werden; ganz unab-
hängig davon aber muß die städtische Bevölkerung schon infolge
des Zuzugs und je nach der Größe desselben in allen Altersklassen
einen stärkeren Anteil unverheirateter Personen haben, weil die
Zuzugsgesamtheiten aus vorzugsweise unverheirate-
ten Personen bestehen, die selbst bei einer der einheimischen
Bevölkerung vollständig gleichen oder selbst größeren Heiratschance
die günstigere Familienstandsgliederung der einheimischen Bevölke-
rung nicht erreichen können. Nach der Berliner Nuptialıtätstafel °)
haben z. B. von 1000 über 15 Jahre alten ledigen Mädchen bis zum
25. Jahre 416° geheiratet. Unter 1000 mit 25 Jahren nach Berlin
zuziehenden weiblichen Personen pflegen aber nur etwa 100 Ver-
heiratete zu sein. Diese Zuzugsgesamtheit kann den Verehelichungs-
stand der Berlinerinnen bei gleicher Heiratschance erst etwa mit dem
28. Lebensjahre erreichen. Zum Teil wenigstens erklärt sich also
1) Preußische Statistik, Bd. 177.
2) Statist. Jahrb. der Stadt Berlin, Jahrg. 26 und frühere, herausgeg. von Böckh.
Der Stand der Statistik der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reiche. 299
die höhere Quote der Unverheirateten in den mittleren Altersklassen
der Stadtbevölkerung nur dadurch, daß das Land seinen Ueberschuß
an Unverheirateten an die Städte abgibt.
Indem so die Städte zwar in den zeugungsfähigen Altersklassen
eine geringere Quote Verheirateter aufweisen, auf der anderen Seite
aber einen geringeren Bestand an Kindern und alten Leuten haben,
so ist der Anteil der Verheirateten an der Gesamtbevölkerung in
der Stadt schließlich nicht so viel niedriger als auf dem
Lande. Und die Differenzen der allgemeinen Geburtsziffer zum
Nachteil der Städte können wir daher als ungefähr gleichbedeutend
mit einem entsprechenden Unterschiede der ehelichen Frucht-
barkeit zu Ungunsten der Stadt auffassen. In Preußen wurden
1900 gezählt:
Verheiratete Ehelich Geborene |Unverh. weibl.| Unehelich Geborene
weibl. Personen | mit Totgeborenen | Personen im | mit Totgeborenen
im Alter von auf 1000 ‚Alter von 18 lauf 1690 un-
18 bis 45 Jahren absolut Ehefrauen bis 45 Jahren absolut, |verh. Frauen
3
57 4.36 25,8
4858
anf dem Lande 2 187 528 33,1
in der Stadt I 769 528 I: 45
|72 1372484
1450 540 las
|
Die viel geringere eheliche Fruchtbarkeit der Städte wird hierdurch
bestätigt; dagegen ist die außereheliche Fruchtbarkeit eher auf dem
Lande größer als in der Stadt. Doch ist dabei wieder die fehlende
geographische Gleichartigkeit der Stadt- und Landbevölkerung zu
berücksichtigen. In dem städtereichen Westen der preußischen Mon-
archie ist nämlich die Zahl der unehelichen Geburten ganz außer-
ordentlich gering. Im Deutschen Reich fielen 1895 bis 1904 auf
100 Geburten 8,82 uneheliche, in Preußen 7,45, in Rheinland aber
nur 3,75 und in Westfalen nur 2,58.
Freilich ist die Berechnung des Umfangs der Fruchtbarkeit durch
Beziehung der ehelichen bezw. unehelichen Geburten auf alle ge-
bärfähigen verheirateten bezw. unverheirateten Frauen in Stadt und
Land insofern noch unvollkommen, als die Fruchtbarkeit in den ein-
zelnen Altersgruppen der gebärfähigen Frauen sehr verschie-
den ist. Für Berlin ist die Altersfruchtbarkeit -von Böckh be-
rechnet, es wurden in Berlin 1895—96 im Mittel gezählt):
Alter .. Taire
bis 30/3 30% bis 35
15 bis Su bis 2 525
|
|
Gebärende TE |
in °/, aller Ehefrauen | 45,9 | 452 Re 156. j- TOE iR EL I Fi
Unehel. Geborene in °/, i |
aller unverh. Frauen f HPE uy KPEE 3,6 2 | rim | Prj
1) Vergl. Ballod, Die mittlere Lebensdauer in Stadt und Land (Schmollers Forsch-
ungen, Bd. 16, Heft 5) 1899, S. 71.
300 Karl Seutemann,
Prüfen wir nun hiernach die Altersverteilung der von uns als gebär-
fähig betrachteten weiblichen Bevölkerung von 18 bis 45 Jahren in
Preußen, so ergibt sich folgendes:
Stadt | Von 100 weiblichen Personen im Alter von 18 bis 45 Jahren
en bezw. standen 1900 in Preußen im folgenden Alter
stan
Iand 18 bis 20 20 bis 2 130 bis 35|35 bis 40|40 bis bis us Zus.
Verheiratete | [Stadt | 0,6 11,9 23,0 24,8 | 21,6 18,7 100
Frauen Land | 0,7 11,2 21,8 | 23,9 | 22,3 20,1 100
Unverheiratete | [Stadt | 19,5 38,0 17,3 Ga | | 78 | 100
100
Frauen \Land , 23,0 39,4 16,1 | 8,31 6,5 | 6,5
Die verheirateten Stadtfrauen sind also gerade in den Altersklassen
stärker vertreten, in denen die eheliche Fruchtbarkeit am größten ist, ein
Beweis, daß die allgemeinen ehelichen Fruchtbarkeitsziffern für Stadt
und Land den Unterschied zu Ungunsten der Stadt noch nicht ein-
mal mit voller Schärfe ausdrücken.
Hat nun diese niedrige Fruchtbarkeit in der Stadt bereits immer
bestanden, oder hat sie sich erst in den letzten Jahrzehnten heraus-
gebildet? Die allgemeine Geburtsziffer betrug in Preußen im
Jahresmittel !):
- —
1876 | 1886 | 1800 | 1806
|
6 | Vene]
My 8B0/bis 1885/bis 1890/bis 1895 bis 1900 1901 | 1902 | u.
m - i -—
in den Städten 40,2 | 37,5 ab 35,6 j 34,9 pi 34,4 | 33,1 | 32,0
auf dem Lande 41,4 | 39,7 40,4 40,1 | 49,1 39,8 | 39,5 | 38.3
Nach einer älteren Uebersicht v. Fircks (Rückblick auf die Be-
wegung der Bevölkerung im preußischen Staate 1816 bis 1874 —
Preußische Statistik, Bd. 48) war die allgemeine Geburtsziffer im
Jahresmittel:
| 1849 bis 55 | 1856 bis 61 5 1862 bis 81 | 1868 bis 71 |1872 bis 74 7
380 | 38a jr 39,0 En, Ga
40,6 | 41,0 | 41,2 | 38,8 | 41,5
in den Städten
auf dem Lande
Von einer mäßigen Differenz der Geburtsziffer zu Ungunsten der
Städte hat man — mit Ausnahme der Zeit industrieller Hoch-
konjunktur, Anfang der 70er Jahre — wohl immer sprechen können;
der Unterschied ist aber in den letzten Jahrzehnten viel größer ge-
worden, da die Abnahme der Geburtsziffer in der Stadt
früher und nachhaltiger aufgetreten ist als auf dem Lande.
Nach dem Statistischen Jahrbuch deutscher Städte ist die Ab-
1) Statistisches Handbuch für den preußischen Staat, bezw. preußische Statistik,
Bd. 178, 183 und 190.
Der Stand der Statistik der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reiche. 301
nahme der Geburtsziffer namentlich groß in den brandenburgischen,
hannoverschen (und angrenzenden) und den sächsischen (Provinz
und Königreich) Groß- und Mittelstädten, wohingegen sich
die Geburtsziffer der westlichen und südlichen Großstädte nur wenig
oder gar nicht vermindert hat. Ein stärkerer Rückgang findet sich
hier nur in dem stillstehenden Krefeld (1393 36,0 pro Mille, 1904 26,2
pro Mille), in Aachen (1893 36,1 pro Mille, 1904 32,2 pro Mille),
ferner in München (1893 37,2 pro Mille, 1904 33,1 pro Mille) und
Augsburg (1893 34,6 pro Mille, 1904 29,7 pro Mille).
Aber auch die östlichen Städte Königsberg, Danzig und Stettin
sind bei der Minderung wenig beteiligt. Als eine schlechthin
städtische Erscheinung kann man also den Abfall der Geburtsziffer
doch wohl nicht bezeichnen; vielmehr erweist sich auf der einen
Seite die geographische Lage als ausschlaggebend, auf der anderen
Seite ist die ja ganz und gar verschiedene soziale Zusammensetzung
der städtischen Bevölkerungen entscheidend. Näher erläutert wird
das durch die städtischen und ländlichen Geburtssziffern der preußi-
schen Provinzen !).
Zunächst ist in Posen und Schlesien, deren Geburtsziffer
sich im ganzen nicht viel verändert hat, zwar die Geburtenhäufig-
keit in den städtischen Gemeinden zurückgegangen:
Allge meine Geburtsziffer
Jahr Posen | Schlesien
Stadt JE Land | Rindt; it Tand
1891 37,5 45,6 | 37,1
1901 37,8 | 46,2 | 35,1 | 43,4
1903 36,5 | 45,2 | 32,5
aber wohl nur deshalb, weil die polnische Bevölkerung in den Stadt-
gemeinden im ganzen schwächer vertreten ist als in den Land-
gemeinden. Im übrigen ist im Osten der Monarchie das Land
bei der Abnahme der Geburtsziffer zum Teil noch stärker beteiligt
als die Stadt:
Allgemei ine Ge burtsziffe r
. Brandenburg
(ohne Berlin)
Land | Stadt
Jahr Ostpreußen | Westpreußen | Pommern
Sta adt |: Land | Stadt | | ana Stadt
La und
3087 34,4 | 49 ne | 72 | 36: | 40,1 | 37,0 | 39,4
1901 31,8 | 39,6 | 38,5 | 46,5 ‚4 | 38,0 | 30,8 | 34,1
1903 | 29,7 | 37,8 | 35,9 | 43,° | 32,7 | 35.6 | 26,4 | 32,2
1) Preußische Statistik, Bd. 221, 123, 177, 178 und 199. Für 1903 ist die Be-
ölkerung der Stadt- und Landgemeinden ungefähr berechnet auf Grund der Zunahme
von 1900 bis 1905 unter Berücksichtigung der Zunahmeunterschiede in Stadt und Land
bei früheren Zählungen.
302 Karl Seutemann,
Dagegen ist die Abnahme der Geburtsziffer in den mittleren
Provinzen hauptsächlich durch die Städte verursacht:
Allgemeine Geburtsziffer
Jahr _ Sehleswig-Holst. Hannover Sachsen
Stadt | Land | Stadt | Land | Stadt | Land
1891 | 36,7 | 338 | 357 | 336 | 400 | 40»
1901 33,7 32,7 33,2 34.1 34,8 37,6
1903 31,5 31,9 30,1 | 32,8 31,9 36,1
Die Geburtsziffern der ländlichen Gemeinden in Schleswig-Holstein
und Hannover waren aber auch von vornherein relativ recht niedrig.
Im Westen der Monarchie mit seiner im wesentlichen still-
stehenden Geburtsziffer weist Stadt und Land keine charakteristischen
Unterschiede auf:
Allgemeine Geburtsziffer
Jahr Hessen-Nassau Rheinland Westfalen
Stadt | Land | Stadt | Land | Stadt | Land
1891 | 30,8 | 35,6 | 400 | 395 | 41,2 | 414
1901 | 30,8 35,4 39,7 40,4 41,8 44,7
1903 | 28,8 | 33,9 36,1 38,8 44,0 39,8
Wenn wir also im Anfang dieser Erörterung die Frage auf-
werfen, ob durch die zunehmende Verstadtlichung der
Reichsbevölkerung die Abnahme der Geburtsziffer zu erklären
sei, so lautet die Antwort, daß dieser Vorgang wegen der im ganzen
niedrigeren Geburtsziffer der Städte etwas mitgewirkt haben mag.
Da wir aber den Abfall der Geburtsziffer auch in Stadt- und
Landgemeinden gesondert feststellen können, so reicht doch
diese Erklärung nicht aus. Wir finden auf der Seite der Geburten
keine ausreichenden Gründe für die Minderung der Geburtszifter.
Und von weiteren Darlegungen prüfen wir deshalb zunächst den
Einfluß der zurückgehenden Geburtsziffer auf die Entfaltungskraft
der Reichsbevölkerung.
Die Entfaltungskraft der Reichsbevölkerung ist nicht
beeinträchtigt worden, denn der Geburtenrückgang ist so vollständig
durch den Sterblichkeitsrückgang ausgeglichen worden, daß der Ge-
burtenüberschuß die alte Höhe bewahrt, ja sich gegen früher
sogar noch vergrößert hat. Es betrug im Deutschen Reich auf
1000 Bewohner
| iss | 1892 | 1893 | 1804 | 1805 | 1896 | 1897
die Zahl der Sterbefälle |
(mit Totgeb.) 24,7 | 25,3 | 25,8 | 23,5 | 23,4 | 22,1 | 22,5
der Geburtenüberschuß 13,6 | 11,6 | 12,2 | 13,6 | 14,0 | 15,5 | 14,6
Der Stand der Statistik der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reiche. 303
| 1898 | 1899 | 1900 | 1901 | 1902 | 1903 | 1904
die Zahl der Sterbefälle
(mit Totgeb.)
der Geburtenüberschuß
20,7
14,5
21,7
15,6
22,6
14,4
23,2
13,6
21,8
15,1
20,6
15,6
21,1
13,9
In früheren Jahrzehnten war der Geburtenüberschuß trotz höherer
oder gleich hoher Geburtsziffern noch beträchtlich niedriger. Er
betrug in Deutschland auf 1000 Bewohner:
1841/50 1851/60 1861/70 1871/80 1881/90 1891/1900
9,4 9,0 10,3 11,9 11,7 13,9
Die Würdigung dieses Geburtenüberschusses ergibt sich am besten
aus der internationalen Vergleichung, wie sie die Reichsstatistik
in ausführlicher Weise anstellt. 1903 oder in einem nahe vorher-
gehenden Jahre betrug der Geburtenüberschuß auf 1000 Bewohner in
Deutschland 13,9 Spanien 9,5 Norwegen 13,9
Oesterreich 11,3 Frankreich 1,9 England 13,0
Ungarn 10,6 Belgien 10,5 Schottland 12,6
Europ. Rußland 15,5— 18,0?) Niederlande 16,0 Irland 5,5
Italien 9,2 Dänemark 14,0 Japan 11,8
Schweiz 11,5 Schweden 10,6
Schon jetzt wird Deutschland an innerer Entfaltungskraft eigentlich
nur von dem schwach besiedelten Rußland übertroffen. Wäre die
abnehmende Sterblichkeit in Deutschland nicht schließlich von einer
Minderung der Geburtsziffer begleitet worden, so würden wir jetzt
eine Volksvermehrung haben, deren Tempo in staatlicher und volks-
ico Hinsicht als zu sehr beschleunigt empfunden werden
önnte.
Dieser Ausgleich zwischen der Häufigkeit der Geburten und
Sterbefälle vollzieht sich nun im Deutschen Reiche nicht zu-
sammenhanglos; vielmehr haben im großen und ganzen auch
die Landesteile mit der größten Minderung der Geburtsziffer auch
die größere Sterblichkeitsverminderung, so daß in fast allen Teilen
des Reiches ein schönes Gleichgewicht gehalten wird. Hierüber be-
lehrt die Tabelle auf der nächsten Seite.
In den Landesteilen mit besonders starker Abnahme der Ge-
burtsziffer ist vorläufig, da die Sterblichkeit zwar in schnellem, aber
nicht ganz gleichem Tempo gefallen ist, der Geburtenüberschuß
etwas zurückgegangen. Umgekehrt ist in allen Landesteilen ohne
fallende Geburtsziffer der Geburtenüberschuß etwas größer geworden,
da auch hier durchweg die Sterblichkeit gesunken ist.
Nicht so überzeugend tritt der parallele Verlauf der Geburts-
und Sterblichkeitsziffer in den Landgemeinden Preußens hervor.
Die Sterbeziffer des Landes ist bei weitem nicht so stark herab-
gegangen wie die der Städte. Wenn das nun auch mit dem im
ganzen größeren Rückgang der städtischen Geburtsziffer zu har-
1) 1898 bezw. 1899.
304
Allgemeine Geborenenziffer (a),
Karl Seutemann,
allgemeine Sterbe-
ziffer (b) und Ziffer des Geburtenüberschusses (ec)
in den Landesteilen:
Auf 1000 Bewohner.
PETER 1891 1895 1900 1904
n teile Er a AN] er eg
a jb |o a|bjeja|pjejalp|e
Landesteile mit starker Minderung der Geburtsziffer.
Caproni 41,5 26,2] 15,3] 40,4| 25,8 140 37,0 26,4| 10,5| 35.8] 22,1) 13,7
erlin 33,8 22,0 11,8] 29,3] 21,2] 8,1] 27,6 19,9 7,7] 25.31 17,6, 7,7
Brandenburg 38,0| 25,0 13,0 36,0| 23,5) 12,51 32,3 22,6| 9,7] 30,8! 20,0 10,5
Provinz Sachsen 39,9| 24,0) 15,9] 37,5| 23,2] 14,3| 36,0, 22,9| 13,1] 33,9, 21,2 12,7
emere Sachsen pe 26,8| 16,4] 40,3) 25,5| 14,8] 39,4. zin 15,3] 34,6 son 13,9
amburg 37,6! 24,5| 13,1] 35,1| 20,1| 15,0] 30,2 18,4 I1,8] 27,5 »6,x| 10,7
Braunschweig 37,2| 22,5 14,7] 35,2) 21,8 13.4 338l 21.2 12,5 30,6) 18.5 12,1
Anhalt 38,7| 21,9 16,8] 36,6) 21,2) 15,4] 34,3. 20,6| 13,7] 27,0| 18,5) 8,1
Reuß ä. L. 45,%| 25,8| 19,9] 41,5! 23,7| 17,8] 40,2| 24,6! 15,6 33,2, 20,0 13,2
Reuß j. L. 43,3) 25,8| 17,5[40,8 26,0) 14,8[40,6| 25,6| 15,0 33,3| 20,8! 12,5
Landesteile mit mäßiger Minderung der Geburtsziffer.
Westpreußen 44,2 24.6) 19,6 4,1) 26,0| 18,1] 42,7| 26,8 15,9 41,4. 22,0 19,5
rad 38,5 23,2. 15,3] 38,0 23,5, 14,5] 36,11 24,8 11,3[ 34,4) 20,6 13,8
annover 54,1: 22,6 11,5] 34,11 19,9) 14,2] 33,4| 19,3 14,1] 31,8 17,6 14,3
Schleswig-Holstein 34,7 22,7 12,0| 34,8! 19.6 15,2] 33,0| 18,7. 14,4] 32,6 16.9) 157
Schlesien 41,4 28,8 12,6|41,6] 27,7 13,9|40,7| 27,3 13,3|39,1| 20,2] 13,8
Mecklenburg-Schwerin 31,1 20,6 IO,4| 31,0) 19,5 11,5| 29,2) 20,5 8,7] 28,9: 18,4) 10,4
Mecklenburg-Strelitz 32,3 21,9 10,4 31,6| 20,1. 11,5] 30,2| 22,8 7,3] 29,5| 20,8! 8,7
Sachsen-Weimar 35,5 21,9 13,6] 32,8| 20,9 11,9] 34,2 20,4 13,8| 32,4| 19,4 12,9
Sachsen-Altenburg 41,4 26,8 14,6] 40,6| 25.8 14,8|40,3| 25,2 15,1] 37,5 23,2) 14,8
Coburg-Gotha 35,6 21,7) 13,4] 33,6) 20,8. 12,8] 34,4| 20,7| 13,7 32,9 18,9| 14,0
Schwarzburg-Sondersh. 35,2, 19,9 15,3] 34,1| 19,9 14,2] 33,3| 19,5 13,8 32,3! 18,0 13,5
Schwarzburg-Rudolstadt 36,4 20,9 15,5] 34,6) 21,0 13,6] 35,6' 19,0 16,6| 33,9 18,8! 15,7
Waldeck 33,0! 20,1| 12,9 31,1| 18,1| 13,0f 30,4| 19,2 11,2 28,5| 17,2 11,8
Schaumburg-Lippe 33,0| 21,8| 11,2| 31,8) 16,6! 15,2[ 28,9; 14,7, 14,2] 29,3| 15,4 13,8
Lippe 38,2| 20,2! 18,0] 37,2) 18,3 18,9 35,8) 18,1. 17,7] 35,6) 18,8 16,7
Lübeck 33,8, 22,1] 11,7| 32,5 18,3 14,2] 32,1} 19,2) 13,0] 30,3, 16,5 13,8
Landesteile mit keiner oder geringfügiger Minderung
der Geburtsziffer.
Posen 43,1 23,5! 19,6 44,6) 24,0! 20,1] 43,8 24,8! 18,5] 42,5: 21,3) 21,3
Westfalen 41,0, 21,9| 19,1] 40,9) 20,9 20,0| 42,6 21,3 21,3[ 41,6 19,8 21,8
Rheinland 39,4, 23,4| 16,0] 38,1) 21,8 16,3] 39,0, 22,6, 17,1 37,7 19,5, 18,4
a ER 20y 12,01 32,6 19,1, 13,5] 32,9) ER 14,0| 32,3, eu 14,9
à „1| 21,4| 10,7] 31,2| 19,1! 12,1 31,7 19,0| 12,7] 32,4 18,6| 13,8
Oldenburg 34,2 23,1 111 35,2! 20,1| 15,1 36,0 20,8 15,2 ip 18,3) h
Bayern r. d. Rh. 37,7| 29,4| 8,53] 37,31 27,0! 10,3] 37,71 27,4| 10,4] 36,5' 24,0| 12,5
Bayern l. d. Rh. 38,2) 23,1] 15,1] 36,7, 22,0: 14,7 39,0) 21,3) 17,7| 37,8 20,0) 17,9
Württemberg 355| 25,6! 9,9] 35,4! 24,5] 10,0] 35,4) 24,5 10,4[ 35,0| 21,8| 13,2
Hohenzollern 31,91 26,5] 5,41 32,8) 23,81 9,2] 33,93) 24,2) 9,1|31,8 22,4| 9,5
er Hessen In > 11,:133,1| 20,8 12,3 34,4 20,3! 13,7] 33,31 18,6] 14,7
Bade . 4,1) 24,2) 9,9] 33,»| 22,8| 11,1] 35,2) 23,3| 11,8f 34,7' 21,3) 13.4
Elsaß-Lothringen 31,4] 23,1| 8,3 31,2 22.3] 8,9 31,1|22,3| 8,5] 30,6] 20,7| 9,9
Der Stand der Statistik der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reiche. 305
monieren scheint, so ist doch auch in den östlichen Provinzen, in
welchen auf dem Lande ein beträchtlicher Geburtenrückgang bemerkt
wurde, die ländliche Sterblichkeit nur verhältnismäßig schwach ge-
sunken. Dagegen besteht eine gute Harmonie der beiden Erscheinungen
in den Städten.
Die Sterbefälle (a) und der Geburtenüberschuß (b), reduziert auf
1000 Einwohner, betrugen:
b
Ostpreußen | Westpreußen Braden urg | Pommern Posen Schlesien
Jahr ohne Berlin
HEISE ACHEBEUFIRIELFI SER
Landgemeinden
1891 | 26,2 | 17,9 | 24,3 | 22,9 | 24,8 | 14,8 | 20,4 | 19,7 | 23,0 | 22,6 | 29,0 | 14,7
1901 | 25,1 | 14,5 | 25,7 | 20,8 | 22,0 | 12,1 | 20,7 | 17,3 23,2 | 23,0 | 26,1 | 17,3
1903 | 24,9 | 12,9 23,0 | 20,7 | 20,6 | 11,6 | 20,1 | 15,5 | 22,6 | 22,6 | 26,2 | 15,9
G Stadtgemeinden
1891 | 26,8 | 17,6 | 25,3 | 11,9 | 26,1 | 10,9 | 26,5| 9,7] 25,2| 12,3 | 29,0 | 8,1
1901 | 24,6 | 16,7 | 26,9 | 11,6 | 20,9 9,7 | 26,0 | 10,4 | 25,2| 12,6 | 25,9} 9,2
1903 | 23,6 | 16,1 | 23,6 | 12,3 | 18,2 8,2 | 23,7! 9,0| 24,3 | 12,3 | 24,2} 8,3
S vig- ssen- .
Sachsen chiesi 8 Hannover Westfalen Heesen Rheinland
Jahr Holstein Nassau
ZEBEIEUEDERETREETEUTN ZA
ren
1891 | 21,5 | 18,7 | 21,3 | 12,5 | 22,3 | sı,3 | 21,7 | 19,7 | 21,2| 14,4 | 23,4 | 16,1
1901 | 21,3 | 16,3 | 16,8 | 15,0 | 18,5 | 15,6 | 20,4 | 24,8 | 18,4 | 17,0 | 20,5 | 20,1
1903 | 21,1 | 15,0 | 16,3 | 15,6 | 184 | 14,4 | 18,1 | 21,7 | 18,7 | 15,2 | 20,2 | 18,6
Stadtgemeinden
1891 | 24,9 | 15,5 | 25,3 | 11,4 | 23,5 | 12,2 | 23,0! 18,0 29,1] 10,7 | 23,8 | 16,2
1901 | 22,1 | 12,7 | 20,4 | 13,3 | 19,3 | 13,9 | 21,8 | 20,0| 18,0! ı2,8| 20,9 | 18,8
1803 | 20,8 | 11,1 18,7 | 12,8 | 18,1 | 12,0 | 21,8 | 22,2 | 18,0 | 10,8] 19,4 | 16,7
Eine Durchsicht der Spalte b bestätigt das Gesagte: in den
Landgemeinden überwiegen die Unregelmäßigkeiten; in den Städten
hingegen wird trotz stark zurückgehender Sterblichkeit überwiegend
keine wesentliche Veränderung des Geburtenüberschusses beobachtet.
Wie weit ein gleichmäßiger "Verlauf der Geburts- und Sterbeziffer
in einzelnen Groß- und Mittelstädten nachweisbar ist, ergibt
sich aus der folgenden Tabelle, die an der Hand der betreffenden
Bände des Statistischen Jahrbuchs deutscher Städte zusammenge-
stellt ist:
(Siehe Tabelle auf S. 306.)
Ein ziemlicher Ausgleich in der Bewegung der Geburten und
Sterbefälle liegt auch hier vor. Freilich bleiben viele Abweichungen,
für die nicht ohne weiteres Erklärungen gegeben werden können.
Gerade Groß- und Mittelstädte verändern ja aber auch ihre popula-
Dritte Folge Bd. XXX II (LXXXVIII). 20
306 Karl Seutemann,
Allgemeine Geburtsziffer (a), allgemeine Sterbe-
ziffer (b), Geburtenüberschuß (c) in den Groß- und
Mittelstädten.
Auf 1000 Bewohner.
1893 1904 | 1893 1904
Stadt = | Stadt -
a|ļb|efajbj|ce a|lbje a|bje
Oestliche Städte | Westliche Städte
Königsberg 32,1|29,5| 2,7] 30,9|23,1| 7,8) Dortmund 43,3|24,2|19,1] 41,8 20,5|21,3
Danzig 34,2|27,8, 6,3] 34,5/22,7 11,8) Essen 45,824,5|21,3] 42,9 18,9|24,1
Stettin 37,0|28,1| 9,0 35,1/24,4|10,8| Barmen 35,9/19,4|16,5f 32,0 15,4)16,6
Posen 31,6/28,2| 3,4] 39,5|25,0|14,6. Elberfeld 35,8|20,1/15,*| 32,7 17,6,15,1
Breslau 36,1/30,3| 5,7] 32,8 24,5| 8,3) Düsseldorf 39,7|23,1 16,5} 36,8 19,1|17,7
Görlitz 32,928,5| 4,4| 27,2|21,9| 5,3) Duisburg 45,5/28,6 16,4] 42,2 20,1122,3
Frankfurt a. O. | 32,0 26,1) 6,0f 26,8/20,8| 6, | Krefeld 36,0 |21,8/14,2 26,2|15,7 10,5
Berlin 31,4|23,0| 8,4] 25,9|18,0| 7,6 Köln 39,6|26,8|12,*| 36,8j20,4|16,5
Charlottenburg | 34,7 21,4|13,3{ 22,4 14,4| 8,0 Aachen 36,1126,7| 9,5] 32,2) 19,1]13,1
Potsdam 27,0/24,0| 3,0] 20,5|18,2| 2,2! Kassel 29,3/18,2 11,2] 27,5|16,6|10,9
. \ Frankfurta.M.| 28,1119,3, 8,#| 29,5 16,8|12,9
Mittlere Städte | Wiesbaden 28,6|22,1| 6,5| 26,0117,7| 8,5
Lübeck 32,8 21,7, 11,1] 30,4)17,0113,5, Südliche Städte
Hamburg 37,2|21,4/16,4| 26,1)16,2| 9,0| München 37,2 27,9| 9,4] 33,1 21,711,
Altona 37,2/22,4 15,2] 28,6)17,8/ 10,8! Augsburg 34,6 29,6| 5,1] 29,7 24,8! 5,4
Kiel 41,2 23,4 17,8] 33,4)16,0|17,4| Nürnberg 37,4 24.8/12,#| 37,8 23,3 14,5
Bremen 31,0|19,2,11,8| 31,6/17,7/13,9!| Würzburg 30,1 27,1) 3,0| 32,3 23,4] 8,9
Hannover 34,9|20,5,14,5| 27,2|17,1)10, 1) Stuttgart 30,0 22,4| 7,6] 29,5, 18,2]11,8
Braunschweig [37,7 23,4|14,4] 28,2|18,6) 9,7) Karlsruhe 28,1 20,4| 7,2] 30,0\18,7/11,4
Magdeburg 38,7125,7 13,1] 27,7124,4) 3,4 Mannheim 40,6 23,8/16,7]| 41,6|21,8)19,7
Halle 36,3,25,2,11,3| 30,0|21,7| 9,2) Freiburg i. B. | 28,1 24.5) 3,#| 31,9|22,3| 9,7
Erfurt 35,1/23,1/12,0| 30,7j18,6) 12,2) Darmstadt 26,2 22,9| 3,4] 27,6|17,6)10,0
Leipzig 38,5 24,2/14,5| 31,319,5/11,8| Mainz 32,0 23,9| 8,1] 29,0/20,1| 8,9
Dresden 33,2\24,5| 8,7] 31,5/18,9 12,5, Straßburg 32,0 25.6) 6,1] 30,1|20,7| 9,4
Chemnitz 44,132,2|12,u 37,0123,2 13,7, Metz 26,0 20,2| 5,8] 26,5/23,0| 3,5
tionistisches Aussehen oft sprunghaft durch Eingemeindungen und
häufig auch durch eine allmähliche Veränderung der Zuzugsver-
hältnisse.
Wo territoriale Sondereinflüsse so vorwalten, sind allgemeine
Tendenzen nicht mit Sicherheit festzustellen. Tatsächlich werden
aber im großen und ganzen doch die Wirkungen der Geburten- und
Sterbehäufigkeit auf die deutsche Bevölkerungsentwickelung aus-
geglichen. Wäre dieser Ausgleich ein zufälliger, so hätten doch
irgendwelche Gründe für den Rückgang der Geburtsziffer gefunden
werden müssen, wie sie ja für den Rückgang der Sterblichkeit in
den sanitären Verbesserungen, namentlich der Städte, überzeugend
nachgewiesen sind. Also liegt wehrscheinlich eine Art mecha-
nischer Selbstregulierung der Bevölkerungsentfaltung vor:
die Sterblichkeitsminderung hat den Rückgang der Geburtenhäufig-
keit verursacht.
In der Tat kann man sich den Zusammenhang so denken.
Das Maß der Kindererzeugung bleibt hinter der natürlichen Mög-
lichkeit bedeutend zurück infolge gesellschaftlicher Willensgründe,
die durch die Zukunftshoffnungen für die Kinder im Rahmen der
Der Stand der Statistik der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reiche. 307
gegebenen Lebenshaltung bestimmt werden. Sobald also die Ver-
mehrung der Bevölkerung, z. B. infolge Verringerung der Sterb-
lichkeit, zu sehr beschleunigt wird, kann die hierdurch bewirkte
Verengerung des Nahrungsspielraums auf gegebener Kul-
turstufe der Anlaß sein, die Kindererzeugung weiter einzuschränken.
Eine zurückgehende Sterblichkeit muß diese Wirkung nicht haben,
sie kann sie aber haben, wenn eben für einen ergiebigeren Bevölke-
rungsstrom das wirtschaftliche Flußbett nicht breit genug ist. Wenn
wir also im Westen und Süden des Reichs diese Hemmung des
Geburtenstroms nicht antreffen, so wollen wir doch beachten — ohne
gleich etwas „beweisen“ zu wollen — daß der Westen seinen Bedarf
an Arbeitskräften nicht einmal aus seinen eigenen Bevölkerungs-
quellen zu decken vermag, und daß fast der ganze Süden nament-
lich infolge hoher Sterblichkeit bisher einen verhältnismäßig sehr
geringen Geburtenüberschuß hatte: 1891 standen hierin sowohl Bayern
r. d. Rh. (8,3 pro Mille), wie Württemberg 9,9 pro Mille, Hohenzollern
(5,4 pro Mille), Großh. Hessen (11,9 pro Mille), Baden (9,9 pro Mille)
und Elsaß-Lothringen (8,3 pro Mille) bedeutend hinter dem Reich
(13,6 pro Mille) zurück.
Am unmittelbarsten wird sich in der geschilderten Weise die
Verringerung des Sterbens der kleinen Kinder in den Erwä-
gungen der Erzeuger fühlbar machen, denn die Kinderzahl, die das
einzelne Elternpaar nicht gern überschreitet, wird eben, wenn ein
Kind mehr am Leben bleibt, bereits durch eine um 1 verringerte
Geburtenzahl erreicht. Ja, bei der Verringerung der Säuglings-
sterblichkeit kommt noch die rein physiologische Folge hinzu,
daß beim Lebenbleiben eines Kindes eine neue Empfängnis durch die
Laktation um ein Jahr und länger hinausgeschoben wird. Das schließt
aber in vielen Fällen ein weiteres Hinausschieben einer erneuten
Kindererzeugung oder auch das gänzliche Einstellen derselben in sich.
Die Wirkung dieses letzten Umstands hängt freilich von der
Verbreitung der Brusternährung im Deutschen Reich ab.
Obwohl nun jährlich über die Kindersterblichkeit zahlreiche Arbeiten
erscheinen, wissen wir über diesen wichtigsten Punkt eigentlich nichts.
Freilich hat Böckh schon vor 20 Jahren für Berlin gelegentlich
der Volkszählung die Ernährungsverhältnisse der Säuglinge metho-
disch ermittelt und auch für die Sterblichkeitsberechnung benutzt).
Berliner Verhältnisse können aber nicht ohne weiteres verallgemei-
nert werden, und da der Anteil der brusternährten Kinder von Volks-
zählung zu Volkszählung schließlich bis auf 38 Proz. herabgegangen
ist, müssen begründete Zweifel laut werden, ob überhaupt der all-
gemeine Volkszählungsapparat technisch geeignet ist, so intime
Familienfragen zu tragen. In Barmen hat man sich deshalb bei
einer neueren Erhebung über die Ernährungsverhältnisse der Säug-
linge auf die Geburtsregister gestützt und die ganze Aufnahme durch
1) Vergl. die Berliner Volkszählungsbände und das Berliner Statist. Jahrbuch.
20*
308 Karl Seutemann,
die Hebammen ausführen lassen !)., Von 100 Säuglingen wurden
1904 in Barmen 78 Proz. an der Brust und zwar 77,8 Proz. von
der Mutter genährt. Bis zur 8. Lebenswoche beträgt die Quote der
Brustkinder noch 90 Proz. und sinkt allmählich bis zum 12. Monat
auf 61 Proz. Nun sind in Barmen freilich verschiedene Umstände
zur Beförderung des Selbststillens wirksam: der große Umfang der
Arbeiterbevölkerung, der aus ökonomischen Gründen auf die Brust-
ernährung hingewiesen ist, die Art der Barmer Industrie, die ver-
heiratete Frauen wenig in der Fabrik beschäftigt, aber statt dessen
manche Hausarbeit bietet, die sehr geringe Zahl der unehelichen
(Geburten und die geringe Zahl der weiblichen Dienstboten, die ja
fast niemals ein uneheliches Kind selbst nähren können. Immerhin
wird man doch vielleicht im Deutschen Reich eine größere Ver-
breitung der Brusternährung annehmen dürfen, als man bisher zu-
zugeben geneigt war. Und dann ist auch jener direkte Einfluß der
verminderten Kindersterblichkeit auf die Geburtenhäufigkeit nicht
zu unterschätzen.
Ueber die Alterssterblichkeit haben wir für das Deutsche
teich Nachrichten erst seit 1901. Nur die Totgeburten sind
seit alters in den reichsstatistischen Nachrichten enthalten. Die
fötale Sterblichkeit ist in beständiger Abnahme begriffen; unter
100 Geburten waren im Deutschen Reich Totgeburten
1861/70 1871/80 1881/90 1891 1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898
4,1 4,0 3,7 3,3 3,3 3,2 3,3 3,3 3,3 32 32
1899 1900 1901 1902 1903 1904
‚2 3.1 3,1 Y re: 3,1 3,0
Der Anteil der Totgeburten ist bei den unehelichen Geburten größer
(1904 4,1 Proz.) als bei den ehelichen (2,9). Die Quote der unehe-
lich Geborenen ist etwas zurückgegangen. Aber das hat nur
unmerklich mitgewirkt. Tatsächlich sind 1000 Geburten im Laufe
der Jahre schon infolge der Abnahme der fötalen Sterblichkeit um
etwa 7 bis 10 ergiebiger geworden.
Die Säuglingssterbefälle betrugen im Deutschen Reich,
auf 100 Lebendgeborene berechnet ?):
1901 1902 1903 1904
20,7 18,3 20,4 19,6
1) Methode und Technik der Erhebung und die Ergebnisse sind genau dargelegt
bei Kriege und Seutemann, Ernährungsverhältnisse und Sterblichkeit der Säugliuge in
Barmen. Eine statistische Untersuchung. (Centralblatt für allgemeine Gesundheitspflege,
Jahrg. 25, 1906.)
2) Bezieht man die gestorbenen Säuglinge eines Jahres, z. B. 1903, auf die Lebend-
geborenen desselben Kalenderjahres, so ist diese Beziehung inkorrekt, weil sich die
Säuglingssterblichkeit des Geburtenstammes 1903 im Jahre 1904 fortsetzt und weil die
gestorbenen Säuglinge 1903 zum Teil aus dem Geburtenstamme 1902 hervorgegangen
sind. Man unterstellt also bei jener inkorrekten Beziehung, daß unter den Säuglings-
sterbefällen 1903 ebensoviele aus dem Geburtenstamme 1902 sind, wie unter den Säug-
lingssterbefällen 1904 aus dem Geburtenstamme 1903, so daß jene Sterbegesamtheit für
diese eingesetzt werden kann. Aus praktischen Gründen ist es ganz allgemein üblich,
so zu verfahren. Bei zeitlichen Reihen gleichen sich die Ungenauigkeiten überdies voll-
ständig aus.
Der Stand der Statistik der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reiche. 309
.. Das Schwanken der Zahlen darf uns nicht irre machen, da die
Säuglingssterblichkeit der einzelnen Jahre sehr von der Sommer-
temperatur der Jahre abhängig ist. Die Gliederung der Säuglings-
sterbefälle im Deutschen Reiche nach Kalendermonaten wird erst
die Statistik des Reichsgesundheitsamtes bringen. Einen Anhalt
kann uns aber schon die Häufigkeit der Sterbefälle überhaupt in den
Kalendermonaten geben. Es wurden auf einen Tag der folgenden
Monate gezählt . . . Sterbefälle:
Jahr | Jan. | Febr. | März | April | Mai | Juni | Juli | Aug. | Sept. | Okt. | Nov. | Dez.
] | 12 | aa az 128%
1901 | 3385 | 3385 | 3422 | 3362 | 3181 |3047 | 3460 | 3807 | 3058 | 2773 2835 | 2895
1902 | 2888 |3220 | 3271 |3172 |3324 | 3073 | 2844 | 2954 | 2919 | 2848 2915 | 3483
1903 | 3345 |3687 | 3531 |3465 |3330 p e | 3572
| 3520 | 3201 | 3003 | 3155
1904 | 3405 |3333 | 3445 |3339 |3236 |3080 |3610 |4112 |3336 | 2989 | 3022 | 3291
Die geringe Kindersterblichkeit des Jahres 1902 ist offenbar durch
die überaus geringe Kindersterblichkeit im Juli und August dieses
Jahres bewirkt. Diese Monate hatten im Jahre 1902 eine so niedrige
Temperatur (16,4° C und 15,3° C im Durchschnitt), wie sie seit
1893 1) niemals beobachtet ist.
In Preußen ergibt sich folgende längere Reihe der Säuglings-
sterblichkeit ?):
332 336 336 | 334 287 | 332 | 306
Familienstand Von 1000 Lebendgeborenen starben im 1. Lebensjahr
Stadt—Land 1881/85 | 1886/90 | 1891/95 (1896/1900 | 1901 |1902 | 1903 |1904
=== M M = mn
| j |
Bei den f Stadt | 211 210 203 195 | 195 | 162 | 183 | 179
Ehelichen | Land 186 | 187 187 185 | 183 | 162 | 184 | 172
Bei den f Stadt | 398 | 395 | 385 374 |377 |305 |342 |333
Unehelichen | Land 319 |
|
Die Säuglingssterblichkeit der Städte ist also schon seit längerer
Zeit beträchtlich gesunken, dagegen ist auf dem Lande eine an-
haltende Minderung der Sterblichkeit der Neugeborenen kaum zu
verzeichnen ë). Deshalb mag wohl auf dem Lande die Minderung der
Geburtsziffer erst später eingesetzt haben, viel unregelmäßiger als in
den Städten verlaufen sein und weniger ersichtliche Beziehungen zu
den Sterblichkeitsvorgängen haben. Immerhin kann auch in den
Städten die Minderung der Säuglingssterblichkeit nicht als aus-
reichender Antrieb zur Einschränkung der Kinderzahl gelten.
Denn der Mehrertrag an Lebenden, der durch den Abfall der fötalen
und Säuglingssterblichkeit in den preußischen Städten entsteht, be-
trägt nur etwa 30 auf 1000 Geburten im Verhältnis zum Jahre 1891,
während der Ausfall an Geburten fast 90 auf 1000 Geburten ausmacht.
Also müssen sich auch noch die Wandlungen der Sterblichkeit
1) Soweit reichen die Nachweise im Statist. Jahrb. f. d. Deutsche Reich zurück.
2) Statist. Jahrb. f. d. Preuß. Staat, 3. Jahrg., 1905, S. 20 ff.
_ 3) Ballod a. a. O. stellt, indem er sich auf die Ergebnisse einzelner Kalenderjahre
stützt, eine geringe Zunahme der Säuglingssterblichkeit auf dem Lande fest. Eine solche
liegt nicht vor.
310 Karl Seutemann,
der übereinjährigen Kinder als wirkungsvoll erweisen. Ueber
die Entwickelung der Alterssterblichkeit in Deutschland haben wir
in Ballods Arbeit über die mittlere Lebensdauer in Stadt und
Land eine neuere, auf zuverlässiger Methode fußende schöne Unter-
suchung. DBallod berechnet für Preußen folgende Zunahme der
mittleren Lebensdauer !):
Für Peischen Großstädte | Mittelstidte | Kleinstädte Land
` Zeitraum
im Alter von = í A | r
Männer|Frauen|Männer|Frauen{Männer Frauen Männer Frauen
0 Jahren | 1880/81 30,2 | 35,1 34,3 | 38,6 35,7 | 39,3 39,1 41,7
(Neuge- || 1595/96 | 37,8 | 43,6 | 39,2 | 44,6 | 40,3 | 44,8 | 43,2 | 45,8
borene) \ 1900/01 39,2 | 44,8 40,0 | 44,9 40,5 | 45,1 43,7 46,5
| 1880/81 36,6 | 42,0 | 35,5 | 40,7 36,9 | 40,6 | 40,1 42,0
20 Jahren | 1895/96 39,0 | 44,3 38,9 | 43,4 39,8 | 43,8 43,3 44,2
| 1900/01 39,3 | 446 | 39,3 | 44,0 | 39,8 | 43,6 | 43,12 | 44,4
Die Sterblichkeit der Kinder ist hiernach ungleich viel stärker als
die der Erwachsenen zurückgegangen, und zwar am stärksten in
den Städten. Namentlich hat sich auch die Sterblichkeit der Kinder
von 2 bis 5 Jahren vermindert. Nach Ballod starben von 1000 Lebend-
geborenen in Preußen im 1. Lebensjahr (a), bis zum 5. Lebensjahre (b):
Großstädte Mittelstädte Kleinstädtie Landgemeinden
Mädchen Knaben| Mädchen| Knaben! Mädchen
ale albia| b ajb] a|b
Knaben] Mi ädchen Knaben
alb/ja| bfa | b
S
1880/1881 306/428, 269. 395 Tiela 208 328 |229 BEE 306 206 1305| 179| 280
1890/1891 267/362 231 331 235| 1331) 199. 295|. |. | » j212|303)181| 273
1805/1896 248| 330 211,295 2221305 189) 268 |221) 295 189, 265 |211) 285179] 253
Die Sterblichkeit Hex 1. Dekana Nkras ist ganz ausschlaggebend von
dem Stande der Ernährungsverhältnisse abhängig. Darum kommen
die sänitären Verbesserungen ungehemmter bei den älteren Kindern
zur Geltung.
Das sollte bewiesen werden, daß der Rückgang der Sterbe-
ziffer in besonders starkem Maße durch den Rückgang der Sterb-
lichkeit der Kinder bewirkt sei. Denn so wird der Einfluß zurück-
gehender Sterblichkeit auf die Geburtsziffer am leichtesten verständ-
lich. Im letzten Resultat ist in Preußen, obwohl auch die
Sterblichkeit der Erwachsenen gesunken ist, der Anteil der gestor-
benen Kinder bis zu 15 Jahren an 1000 Gestorbenen überhaupt so
herabgegangen: 1886/90: 531, 1891/95: 523, 1896/1900: 513, 1901:
517, 1902: 479, 1903: 502, 1904: 487 2). Bis in die letzten Jahre war
also der Rückgang der Sterbeziffer am meisten den Kindern zu danken.
1) d. h. die durchschnittliche weitere Lebensdauer in Jahren, Summe der Jahre,
die die Personen eines bestimmten Lebensalters zusammen noch weiter leben, dividiert
durch die Anzahl dieser Personen. Die Zahlen für 1900/01 nach dem Statist. Jahrb.
f. d. Preuß. Staat, 3. Jahrg., 1905, S. 24.
2) Statist, Jahrb. f. d. Preuß, Staat, 3. Jahrg, 1905, S. 20. Vgl. auch Brösike
88.0.8558;
Der Stand der Statistik der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reiche. 311
Die Auffassung der geschilderten Zusammenhänge läßt den
Rückgang der Geburtsziffer im Deutschen Reiche in einer Beleuch-
tung erscheinen, bei der alles Ungünstige verschwindet. Wir brauchen
nicht mehr anzunehmen, daß er die Folge einer allzu verfeinerten
Kultur ist. Bei dem Anschauen dieses sich von selbst wiederher-
stellenden Gleichgewichtes verlieren auch sonstige populatio-
nistische Befürchtungen, zumal die wegen des volksver-
zehrenden Einflusses der Städte an Bedeutung. Zwar sind
die übertriebenen Vorstellungen, die über die Lebensfähigkeit der
städtischen Bevölkerung eine Zeit lang namentlich infolge des Buches
von G. Hansen herrschten, an der Hand der wertvollen Arbeiten
Bleicherst), Ballods!) und Kuczynskis?) wohl überall be-
richtigt. Unzweifelhaft haben aber die Städte im ganzen — wie
auch aus den oben gegebenen Darlegungen hervorgeht — infolge
einer bedeutend geringeren ehelichen Fruchtbarkeit und einer
größeren Sterblichkeit: gegenwärtig eine schwächere Regenerations-
und Entfaltungskraft als das Land. Der tatsächliche Geburten-
überschuß der Städte läßt diese Lebenskraft viel zu günstig
erscheinen, weil die städtische allgemeine Geburts- und Sterbeziffer
durch den Zuzug in den besten Altersjahren günstig
beeinflußt wird. Ballod hat es deshalb versucht, den städtischen
Geburtenüberschuß unabhängig vom Einflusse der Wanderungen
auf den Altersaufbau zu berechnen.
Bei der Sterblichkeitsberechnung weiß man dem stö-
renden Einfluß der Wanderungen auf die Altersverteilung dadurch
zu begegnen, daß die allgemeine Sterbeziffer nicht auf Grund der
tatsächlichen Altersverteilung, sondern nach der Altersgliederung der
Lebenden der Sterbetafel berechnet wird. Da die Alters-
gliederung der Lebenden der Sterbetafel entsteht, indem man die
Sterbehäufigkeit der einzelnen Altersabschnitte in einem bestimmten
Zeitraum als konstant unterstellt und sie auf eine Geborenengesamt-
heit anwendet, die nun vom 0. bis zum 100. Altersjahre je nach dem
Sterbemaße stufenweise abgeschrieben wird, so ist die allgemeine
Sterbeziffer der Sterbetafel ein genauer Ausdruck für die Ge-
samtwirkungen der Sterblichkeit eines bestimmten Zeitraumes.
Es werden zunächst die Wirkungen der Sterblichkeit auf die Alters-
verteilung der Bevölkerung ermittelt und schließlich die Wirkungen
dieser Altersgliederung auf die allgemeine Häufigkeit der Sterbefälle
festgestellt. Sofern es sich also um die Gewinnung eines abstrakten
allgemeinen Sterbemaßes für eine Bevölkerung handelt, unter Aus-
schluß des Einflusses sonstiger Bevölkerungsvorgänge, die wie
Wanderungen, Geburtenhöhe und bisherige Sterblichkeit die Alters-
gliederung und damit die Sterbehäufigkeit der Bevölkerung beein-
tlussen, ist die Sterbetafel der korrekte Weg dazu.
Böckh und nach ihm Ballod haben es nun versucht, auch
die Geburten in den einzelnen Altersklassen auf die Lebenden
1) a. a. O.
2) Der Zug nach der Stadt. Münchener volkswirtsch. Studien, No. 24, 1897.
312 Karl Seutemann,
der Sterbetafel zu reduzieren und danach die allgemeine
Geburtsziffer zu korrigieren. Ballod vergleicht dann diese korri-
gierte Geburtsziffern der preußischen Städte mit ihren aus der
Sterbetafel abgeleiteten Sterbeziffern und kommt zu dem Resultat,
daß in den östlichen Großstädten sogar ein Sterbeüberschuß zu kon-
statieren sei, sobald eben der günstige Einfluß der Wanderungen
ausgeschaltet werde.
Die ganze Berechnung und Beweisführung Ballods ist aber un-
haltbar. Für die Frage des Geburtsüberschusses können wir das
Sterblichkeitsmaß der Sterbetafel nicht gebrauchen, sondern wir
brauchen dafür die Sterbehäufigkeit der städtischen Bevölkerung
unter der Annahme eines nur durch die Wanderungen nicht alte-
rierten Altersaufbaus. Wir dürfen keineswegs auch den etwaigen Eintluß
zunehmender Geburtengesamtheiten auf den Altersaufbau
der Bevölkerung ausschalten. Und ebensowenig dürfen wir das bei der
Berechnung der allgemeinen Geburtsziffer tun. Denn der Alters-
aufbau der vom Zuzug abgeschnittenen städtischen Bevölkerung wird
doch nicht etwa bloß durch die Höhe der Sterblichkeit bestimmt,
sondern ebenso durch das Verhältnis der Zahl der Ge-
burten zur Zahl der Sterbefälle.
Ballod unterstellt das, was allenfalls zu beweisen war, daß
die sich selbst überlassene städtische Bevölkerung stationär sei.
Er kommt dann aber im Verlauf der Rechnung zu dem Resultat,
daß sie zum Teil einen Geburten-, zum Teil einen Sterbeüberschuß
hat, daß sie also nicht stationär ist. Wenn sie aber nicht stationär
ist und durchweg oder überwiegend einen Geburtenüberschuß hat, so
hat sie auf alle Fälle eine günstigere Sterbehäufigkeit, vielleicht
auch eine günstigere Geburtenhäufigkeit, mithin unbedingt einen
günstigeren Geburtenüberschuß, als wie Ballod berechnet.
Wie sich die Altersgliederung einer Bevölkerung mit Geburten-
überschuß (ohne erhebliche Wanderungseinflüsse) zu der Alters-
gliederung der Lebenden der Sterbetafel verhält, können wir bei
der preußischen Bevölkerung sehen. Von 100 der männlichen
bezw. weiblichen preußischen Bevölkerung standen 1900 im Alter
von... Jahren !)
bis 5 | über | über | über | über | über | über | über dar-
| 5—10 10—15 15— 20 120—30/30—40 40—50/50—60| über
u Á Männer 6
Fakt. Bevölkerung 13,7 11,8 10,8 9,6 16,8 13,2 | 10,0 7,2 6,9
Lebende d. Sterbetafel| 9,5 8,8 8,2 8,0 15,4 | 14,4 13,1 10,8 $ 12,5
Frauen
Fakt. Bevölkerung 13,1 | ı1,a | 10,4 | 9,2 16,6 | 13,1 10,2 7,9 8,1
Lebende d. Sterbetafel] 9,3 80 | 80 | 7,9 15,8 | 14,4 | 13,2 | ı1,6 | 121
1) Nach dem Volkszählungsband der Reichsstatistik und dem Statist. Jahrbuch
für den Preußischen Staat, Jahrgang 1903.
Der Stand der Statistik der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reiche. 313
Zwar haben die Lebenden der Sterbetafel verhältnismäßig weniger
Kinder in den am meisten gefährdeten Jahren; dafür sind sie aber
auch in den Altersklassen von 5 bis 30 Jahren, in denen die Sterb-
lichkeit die weitaus niedrigste ist, bedeutend schwächer und in
den höheren Altersklassen mit ihrer rasch zunehmenden Sterblich-
keit in ungleich höherem Maße beteiligt. Auch die für die Gebär-
tätigkeit besonders in Betracht kommende Altersklasse von 20 bis
30 Jahren ist bei den Lebenden der Sterbetafel schwächer besetzt,
doch wird das zum Teil wenigstens durch die Verhältnisse der
nächsten Altersklasse wieder ausgeglichen.
Es gibt keine Möglichkeit, den Altersaufbau der städtischen Be-
völkerung lediglich unter dem Einfluß der Sterblich-
keit und Geburtenhäufigkeit, unter Ausschluß der
Wanderungen zu berechnen. Denn dazu muß schon vorher
das bekannt sein, was das Ziel der Berechnung ist, nämlich die
Höhe des Geburtenüberschusses in der sich selbst überlassenen
städtischen Bevölkerung. Das Problem, an das sich Ballod heran-
gewagt hat, ist also in exakter Weise nicht zu lösen. Jedenfalls
ist aber der tatsächliche Geburtenüberschuß der Städte zu groß,
die eheliche Fruchtbarkeit der Stadtfrauen nicht stark genug dem
Lande gegenüber herabgesetzt, um die Annahme rechtfertigen zu
können, die Städte hätten nicht auch ohne Zuwanderung einen be-
trächtlichen Geburtenüberschuß.
Im Verlauf unserer Darstellung glaubten wir Tendenzen wahr-
nehmen und nachweisen zu können, die auf die Erhaltung des Gleich-
gewichts der wichtigsten Bevölkerungserscheinungen im Deutschen
Reich hinzielen. Die sinkende Geburtsziffer verliert dadurch ihr un-
günstiges Aussehen: sie ist nicht mehr ein Zeichen verweichlichter
Kraft, einer Begleiterscheinung steigenden Wohlstandes. Freilich,
wenn man die Zahlen nicht meistern, sondern ihnen lernend folgen
will, so kann man noch kein unbedingt sicheres Urteil fällen; denn
die Tatsachen sind zu kompliziert, sie widerstreben der Regel, weil
die Ursachen des Abweichenden nicht zu finden sind. Es werden
deshalb die Einzelheiten der weiteren deutschen Bevölkerungsent-
wiekelung fortlaufender Prüfung unterzogen werden müssen, und
zwar nach dem hier vorangestellten Gesichtspunkt, ob der Abfall der
Geburtsziffer eine selbständige oder nur eine Ausgleichserscheinung
ist. So wie sich jetzt die Statistik der Bevölkerungsbewegung im
Deutschen Reich gestaltet hat, fällt diese Aufgabe in das Arbeits-
gebiet der reichsstatistischen Aemter. Sie wird um so er-
folgreicher erfüllt werden können, je gründlicher sich die landes-
statistischen Aemter der Ursachenerforschung der Bevölkerungs-
erscheinungen der Landesteile widmen.
314 F. Lifschitz,
V
Zur Methode der Wirtschaftswissenschaft
bei D. Ricardo.
Von
Dr. F. Lifschitz, Bern.
In den letzten Jahren hat die Theorie auf dem Gebiete der
Wirtschaftswissenschaft einige Werke aufzuweisen, die wirklich un-
sere Wissenschaft zu bereichern im stande sind. Ich meine folgende
Schriften: Cannans „History of the theories of Production and
Distribution“, Marx’s „Theorien über den Mehrwert“ und Diehls
„Erläuterungen“, Werke, welche Gemeinsames darin haben, dab
sie sich auf die klassische Nationalökonomie beziehen, dogmen-
geschichtlich und dogmenkritisch zugleich verfahren. Was
das letztere anbelangt, d. h. das Verfahren dogmenkritisch, so muß
es hoch angeschlagen werden, zumal die Dogmenhistoriker die
Dogmenkritik fast immer zu vernachlässigen geneigt sind, so daß die
Theorie in einer Geschichte der Theorien aufgelöst wird und auf
diese Weise in den Historismus verfallen, der unbedingt bekämpft
werden muß. Denn er ändert an der Sache nichts, ob der „Histo-
rismus“ auf dem Gebiete der Wirtschafts- oder auf dem der Dogmen-
geschichte getrieben wird. Die Dogmengeschichte wie die Wirt-
schaftsgeschichte kann nur als Hilfsdisziplin der Wirtschafts-
wissenschaft, niemals als die Wirtschaftswissenschaft selbst betrachtet
werden. Es ist klar, wie wichtig die oben genannten Werke da-
durch sind, daß sie auch zugleich dogmenkritisch sind. Von den
drei genannten Werken kommt für diese Abhandlung hauptsächlich
das Werk von Diehl in Betracht, weil es sich mit Ricardo befaßt,
will sagen: ausschließlich der Ricardoforschung ist das Werk von
Diehl gewidmet. r
Die Methode Ricardos zu untersuchen bietet vielerlei Schwierig-
keiten. Ricardo selbst hat weder eine Methodenlehre geschrieben,
noch hat er Stellung zu der Methodologie genommen, so daß man
bei der Untersuchung über seine Methode Gefahr läuft, ihm nicht
gerecht zu bleiben, zumal das Feststellen der Methode eines Denkers
Zur Methode der Wirtschaftswissenschaft bei D. Ricardo. 315
nicht besonders leicht ist. Fügt man noch hinzu, daß unsere heutige
methodologische Terminologie sehr verschieden ist von der des
Rieardoschen Zeitalters und ferner, daß es hier sehr viel auf die
Genauigkeit des Ausdruckes ankommt, so liegt auf der Hand, wie
diese Untersuchung schwierig sein muß. Diese Schwierigkeiten
werden noch dadurch vergrößert, daß man bei der Behandlung der
Methode von Ricardo mit einer Reihe von Ansichten sich auseinander-
zusetzen hat, die die wissenschaftliche Literatur über die Methode
Ricardos besitzt. Die Forschungsweise Ricardos ist von mehreren
Wirtschaftstheoretikern getadelt worden. Jede Kritik einer Methode
aber setzt bekanntlich eine gewisse Auffassung von derselben voraus.
Demgemäß ist es auch geboten, zu der Kritik der Ricardoschen
Methode hier Stellung zu nehmen. Es wird ferner hier zu prüfen
sein, ob diejenigen Vorwürfe, die man Ricardo in methodischer
Beziehung gemacht hat, gerechtfertigt sind. Dies wird uns einen
tieferen Einblick gewähren in das Wesen der Methode der klassischen
Wirtschaftswissenschaft. Ich habe bereits mit Bezug auf die Methode
von Smith !), Say?) und Thünen ë) die irrtümlichen Ansichten zu
widerlegen gesucht. Nun soll im folgenden mit Bezug auf die
Methode Ricardo’s dasselbe geschehen.
Die Forschungsweise von Ricardo, wie bereits betont wurde,
ist von mehreren Wirtschaftstheoretikern getadelt worden. So meint
K. Bücher 4):
„Ricardo behandelt an verschiedenen Stellen den Jäger und
Fischer der Urzeit wie zwei kapitalistische Unternehmer.“ Und
K. Marx5) sagt unter anderem:
„Im übrigen betrachtet Ricardo die bürgerliche Form der Arbeit
als die ewige Naturform der gesellschaftlichen Arbeit. Den Urfischer
und den Urjäger läßt er sofort als Warenbesitzer Fisch und Wild
austauschen, im Verhältnis der in diesen Tauschwerten vergegen-
ständlichten Arbeitszeit. Bei dieser Gelegenheit fällt er in den
Anachronismus, daß Urfischer und Urjäger zur Berechnung ihrer
Arbeitsinstrumente die 1817 auf der Londoner Börse gangbaren
Annuitätentabellen zu Rate ziehen.“ Marx‘) spricht an einer anderen
Stelle von einer „wissenschaftlichen Mangelhaftigkeit“ des Ricardo’schen
Verfahrens. Auch sagt er’):
„Ricardo dagegen abstrahiert im Bewußtsein von der Form der
Konkurrenz, von dew Scheine der Konkurrenz, um die Gesetze
als solche aufzufassen. Einerseits ist ihm vorgeworfen, daß er
nicht weit genug geht, nicht vollständig genug in der Abstraktion
1) Vgl. meine Schrift Ad. Smiths Methode, Bern 1906.
2) Siehe meine Abh. in Conrads Jahrbüchern, 1904,
3) Vgl. meine Abh. in Conrads Jahrbüchern, 1903.
4) Die Entstehung der Volkswirtschaft, 3 Auf., 1901, S. 106.
5) Zur Kritik der polit. Oekonomie, Stuttgart 1903, S. 43; auch „Das Kapital“,
5. Auf., 1903. Bd. 1. S. 43, Note,
6) Theorie über den Mehrwert, II, 1. Teil, S. 5, 1905.
7) Ibidem, S. 72.
316 F. Lifschitz,
ist, andererseits, daß er die Erscheinungsform nur unmittelbar,
direkt, als Bewähr oder Darstellung der allgemeinen Gesetze auf-
faßt, keineswegs sie entwickelt. In Bezug auf das erstere ist
seine Abstraktion zu vollständig, in Bezug auf das zweite ist sie
formale Abstraktion, die an und für sich falsch ist. Und in einem
anderen Zusammenhange meint Marx !):
„Ferner behält Ricardo in einem anderen Punkte recht, nur
daß er ein historisches Phänomen in der Weise der Oekonomen in
ein ewiges Gesetz verwandelt.“ Nicht günstiger hat J. B. Say?)
über die Methode von Ricardo geurteilt. Am heftigsten ist die
Methode Ricardos seitens der „historischen Schule“ *) und neuer-
dings von Kleinwächter‘) bekämpft worden. Charakteristisch ist es
für die Kritiker der Ricardoschen Methode, daß selbst die Verehrer
von Ricardo seine Methode doch scharf kritisiert, so z. B. Marx.
Es ist ferner charakteristisch, daß gerade ein großer Verehrer von
Ricardo vieles dazu beigetragen hat, daß man die Ricardosche
Methode tadeln zu sollen glaubte. Ricardo’s großer Verehrer und
Uebersetzer Baumstark sagt folgendes °):
„Allein Ricardo forscht überall nach den unwandelbaren Grund-
gesetzen des Verkehrs, gerade so wie der Naturforscher nach den
unabänderlichen Grundgesetzen der Natur.“ Diese Worte schrieb
Baumstark in der Vorrede zu seiner Uebersetzung der „Principles“
von Ricardo, und man kann sich wohl leicht vorstellen, was sie für
einen großen Einfluß auf jeden Leser der Uebersetzung ausüben
mußte, zumal man durch die historische Methode mehr und
mehr Abneigung gegen die Ricardosche Methode empfunden hat.
Was Baumstark von Ricardo behauptete (allenfalls mit guter Ab-
sicht), wurde als die Ansicht von Ricardo selbst betrachtet und in
folgedessen gegen dieselbe losgezogen. Ob mit Recht — das werden
die folgenden Blätter zeigen.
Hat die „historische Schule“ die Ricardosche Methode deswegen
getadelt, weil sie das induktive Verfahren all zu sehr vernachlässige,
so meint hingegen Hasbach‘), daß Ricardo auch induktiv geforscht
habe, indem er den Nachweis zu liefern sucht, daß die Gesetze der
sog. theoretischen Nationalökonomie auch durch das induktive Ver-
fahren entstanden seien. Zu bemerken ist, daß Hasbach in den-
selben Irrtum verfällt, wie Mill”). welcher Einzelfall mit Induk-
tion verwechselt hat. So weit gehen die Ansichten über die Methode
Ricardos in der Literatur der Wirtschaftswissenschaft auseinander,
1) Theorie über den Mehrwert, II, 1. Teil, S. 171, 1905.
2) Vgl. darüber meine Abhandlung über Say in Conrads Jahrbüchern, 1904.
3) Vgl. R. Schüller, Die klass. Nationalökonomie und ihre Gegner, 1895.
4) Vgl. dessen Lehrbuch der Nationalökonomie und Hasbachs Kritik in Conrads
Jahrbüchern, 1903.
5) S. II—IV der „Grundgesetze, 1877,
6) Vgl. dessen Abhandlung in Conrads Jahrbüchern, 1904: „Mit welcher Methode
wurden die Gesetze der theoretischen Nationalök. gefunden“?
7) Vgl. meine Abhandlung über Thünen in Conrads Jahrbüchern, 1903.
Zur Methode der Wirtschaftswissenschaft bei D. Ricardo. 317
sie sind zum Teil gerade entgegengesetzt. Und dies ist auch be-
greiflich. Man ist über das Problem der Methodologie der Wirt-
schaftswissenschaft uneinig, jeder spricht sogar seine Sprache, und
daher sind die Auffassungen von der Methode Ricardos auch ver-
schieden. Bei einer Darstellung der Methode Ricardos gilt es mit
diesen verschiedenen Meinungen sich auseinanderzusetzen.
Und wenn man unternehmen will, mit den Ansichten über
Ricardos Methode sich auseinanderzusetzen, so muß es hauptsächlich
mit den Ansichten von Diehl geschehen, weil der letztere!) ein-
gehend sich mit Ricardo befaßt hat. Es ist daher geboten, die Auf-
fassung Diehls von der Ricardoschen Methode vorzuführen, wie
auch dessen diesbezügliche Kritik. Es kann sich hier nur um die
Kritik der Ansichten Diehls über die Methode von Ricardo, keines-
wegs aber um die Methodologie Diehls im allgemeinen handeln.
Dies soll an einer anderen Stelle geschehen.
„Wenn Ricardo“ — meint Diehl?) — „die Unterscheidung
zwischen den verschiedenen Stufen der volkswirtschaftlichen Ent-
wickelung bei seiner Werttheorie nicht berücksichtigt, ihr vielmehr
einen „allgemeinen“, keinen „historischen“ Charakter zuweist, so
hat dies seinen Grund in seiner Auffassung der Volkswirtschaft.
Für ihn ist der schlechthin „natürliche“ und „ewige“ Zustand der
Volkswirtschaft. der, wobei Privateigentümer unter einander im freien
Wettbewerb ihre Güter austauschen.“ Auch sagt Diehl?) bei einem
anderen Zusammenhang: „Im Gegensatze zu Ricardo hat Marx sein
Wertgesetz nur für eine bestimmte Phase des Wirtschaftslebens
aufgestellt, oder anders ausgedrückt: bei Marx hat das Wertgesetz
nur historische, beiRicardo allgemeine Bedeutung: wo immer
Menschen wirtschaften, tauschen sie auch — meint Ricardo — nach
dem Arbeitswerte. Demnach war das Wertgesetz für Ricardo ein
allgemeines, „ewiges“ Gesetz für alle Formen und Epochen des
Wirtschaftslebens. Ganz anders bei Marx: Marx kennt allgemeine
„ewige“ Wirtschaftsgesetze überhaupt nicht, sondern nur Gesetze
für bestimmte Produktionsverhältnisse.“ Wiederholt behauptet
Diehl’) von Ricardo, der letztere habe „Naturgesetze*, „ewige“
und „allgemeine“ aufgestellt. Der Ausgangspunkt Diehls in seiner
Kritik der Methode von Ricardo läßt sich in kurzem etwa so zu-
sammenfassen: man müsse unterscheiden zwischen „Natur“ und
„Kultur“; auf dem Gebiete der „Kulturwissenschaften“ kann von
„Naturgesetzen“ keine Rede sein. Ricardo betrachte aber die Wirt-
schaftswissenschaft als eine Naturwissenschaft, bezw. er stelle „Natur-
gesetze“ auf, was nach Diehl unzulässig sei.
Wie bereits betont wurde, so werden wir hier mit der allge-
1) Vgl. dessen „Sozialwissenschaftliche Erläuterungen zu D. Ricardos Grund-
gesetzen“ ete., 2 Bde., Leipzig, 1905.
2) Erläuterungen, Bd. 1, S. 20—21.
3) Ibidem, S. 97.
4) Ibidem, Bd. 2, S. 486—493.
318 F. Lifschitz,
meinen Methodologie!) der Wirtschaftswissenschaft uns nicht be-
schäftigen, sondern lediglich mit der Methode von Ricardo zu tun
haben. Die Auseinandersetzung mit Diehl mit Bezug auf die
Methodologie soll bei einem anderen Zusammenhang geschehen.
Hier fragt sich nun folgendes: Sind wirklich die Vorwürfe, die Diehl
Ricardo in methodischer Beziehung macht, berechtigt? Hat wirklich
Ricardo „allgemeine“, „ewige“, „absolute“ Gesetze, „Naturgesetze‘
aufgestellt? Wie hat Ricardo das Geltungsbereich seiner „Gesetze“
sich vorgestellt und vollends: hat Ricardo in der Tat geglaubt, daß
man auf dem Gebiete der Wirtschaftswissenschaft von „festen”
Prinzipien, von „ewigen Gesetzen“ reden darf, oder mit anderen
Worten: wie hat sich Ricardo zu der Vollkommenheit oder Unvoll-
kommenheit der Wirtschaftswissenschaft gestellt? Das sind Fragen
von eminenter Wichtigkeit, zumal man gegen den „Dogmatismus
von Ricardo von jeher loszuziehen zu sollen glaubte. Im allge-
meinen hat man Ricardo entweder sehr gelobt oder viel geschimpft.
aber am wenigsten studiert. Und in der Tat ist es sehr schwierig,
in dem Ricardoschen Gedankengang sich einzuleben. Er ist sehr
abstrakt; dem Flachkopf zu „metaphysisch“, so daß er es nicht
recht verdauen "kann und mit dem Wort „Metaphysik“ abtut. Es
ist wirklich höchst zu begrüßen, daß Diehl unternommen hat, Ricardos
Lehren eingehend zu untersuchen. Dementsprechend muß die
folgende Kritik der Diehlschen Auffassung von der Methode Ricardos
um so ausführlicher gehalten werden. Mit ernsten Arbeiten mub
man wohl ernst rechnen.
Wir wissen nun, daß Diehl, wie mehrere andere, die „Natur-
gesetze“, die Ricardo aufgestellt haben soll, bekämpft, er weist also
den „Absolutismus“ der Dogmen entschieden zurück. Bekanntlich
besteht der „Absolutismus* der Dogmen eigentlich darin, daß man
bei der Aufstellung eines Gesetzes oder eines Dogmas demselben
ein Geltungsbereich einräumt ohne Rücksicht auf Ort und Zeit.
Z. B. habe ich ein Wertgesetz aufgestellt im „absoluten“ Sinne,
so heißt es, daß dies Wertgesetz seine Geltung überall und
immer hat ohne Rücksicht auf die Verschiedenheit der Länder
und der historischen Epochen. Diese Verschiedenheit ist sehr
mannigfaltig und daher ist es auch klar, daß das Unberücksichtigen
der Zeit- und Örtsverschiedenheit, das bei dem „absoluten“ Gesetz
stattfindet, das Ignorieren auch von anderen Bedingungen mit sich
bringt. Dies muß mit Bezug auf Ricardo nun einer Prüfung unter-
worfen werden. Es liegt Schreiber dieser Zeilen fern. Ricardos
Methode zu „modernisieren“, obwohl es andere mehrmals getan
haben?), sondern lediglich objektiv zu prüfen. Unsere Prüfung soll
1) Vgl. diesbezüglich meine Abhandlung „Zur Methodologie der Wirtschafts-
wissenschaft im Archiv für system. Philosophie, 1905.
2) Ad. Held in „Zwei Bücher zur soz. Gesch. Englands“, S. 161 meint, dab
Smith bereits erkannt habe, Eigentum und Kapital seien „historische Kategorien“, in-
dem Smith sagt, daß ein Urzustand weder Kapitalansammlung noch Privatgrundbesitz
vorhanden gewesen wären. Von dieser Auffassung der „historischen Kategorie‘ könnte
Zur Methode der Wirtschaftswissenschaft bei D. Ricardo. 319
mit folgender Frage sich befassen: nimmt Ricardo Rücksicht auf die
psychischen Eigenschaften der Menschen und deren Einfluß auf die
Volkswirtschaft? oder ignoriert er diese Eigenschaften vollständig bei
seinem Suchen nach „ewigen Gesetzen“? Bekanntlich ist die Anwen-
dung der Psychologie von vielen befürwortet worden mit Bezug auf die
Wirtschaftswissenschaft und das Fehlen derselben den Klassikern
mehrmals zum Vorwurf gemacht worden. Von der Frage der Be-
rechtigung der Psychologie auf dem Gebiete der Wirtschaftswissen-
schaft ist hier abzusehen, da es sich um das Problem der „Natur-
gesetze* bei Ricardo handelt, nicht aber um das psychologische
Problem auf dem Gebiete unserer Wissenschaft. Selbstverständlich
darf man nicht in dem Sinne verstehen, wenn davon die Rede sein
soll, daß Ricardo auch das Psychologische berücksichtigt, als ob
Ricardo im modernen Sinne des Wortes psychologisch verfahren
hätte. Es soll lediglich nur das gemeint sein, daß bereits Ricardo
zu seiner Zeit mit den psychischen Eigenschaften der Menschen
wohl gerechnet hat, daß: er bereits die dadurch entstehende Kom-
pliziertheit der wirtschaftlichen Erscheinungen geahnt hat und zwar
ohne dabei sich mit psychologischen Phrasen zu schmücken, wie es
heutzutage überall mode ist. Dies wird zur Genüge das Folgende
zeigen.
Ricardo !) betont, daß die Gestaltung des Preises von solchem
Faktor abhängig ist wie „the caprice of taste“. Ferner, daß bei der
Wahl einer Beschäftigung der Kapitalist?) mit solchen Bedingungen
rechnet, wie „cleanliness, ease, or any other real or fancied advantage
which one employment may possess over another“. Er zieht auch
in Betracht die Wirkung der Mode ë). Und mit Bezug auf den
natürlichen Preis der Arbeit meint er) unter anderem: „it essentially
depends on the habits and customs of the people“. Er betont’) auch
den Einfluß der Mode auf die Profitgestaltung. Charakteristisch ist
dieser Passus 6); „Experience, however, shews, that the fancied or
real insecurity of capital, wher not under the immediate control of
man ebenfalls Ricardo zu denjenigen zählen, die das Grundeigentum und Kapital als
„historische Kategorien‘ betrachten, denn in seinen „Principles“ führt er den Smithschen
Satz zusiimmend an. Vgl. Principles, S. 3—4, 3. Aufl., London 1821. Allein die
Heldsche Auffassung der „hist. Kategorie‘ ist nicht zutreffend. Denn daß man erkannt
hat, im Urzustand sei kein Privateigentum vorhanden gewesen, sagt nichts für eine
historische Auffassung. Allerdings ist Smith der Meinung, daß Grundbesitz und
Kapital hist. Kategorien seien, weil sie nach ihm je nach den historischen Bedin-
gungen wechseln. Vgl. darüber meine Schrift „Smiths Methode“, 1906. In der deut-
schen Literatur ist meines Wissens J. Schön der erste gewesen, welcher gesagt hat:
„Das Grundeigentum ist eine historische Erscheinung, die: von tausend Umständen ab-
hängig ist“. Vgl. dessen „Neue Untersuchung der Nationalökonomie“, S. 143, 1835.
1) Principles, 3. Aufl., S. 82, London 1821; ich zitiere im folgenden immer nach
dieser Auflage.
2) Ibidem.
3) Ibidem, S. 83; auch S. 277, 290.
4) Ibidem, 8. 91.
5) Ibidem, 8. 120.
6) Ibidem, S. 143.
320 F. Lifschitz,
its owner, together with the natural disinclination which every man
has not quit the country of his birth and connexions, and intrust
himself with all his habits fixed, to a strenge government and new
laws, check the emigration of capital.“ Die Nachfrage hängt nach
Ricardo auch von psychischen Faktoren ab 1).
Die angeführten Stellen zeigen zur Genüge, daß Ricardo mit
den psychischen Faktoren gerechnet hat. Da die psychischen Eigen-
schaften dem Wechsel unterworfen sind, so wird es klar, daß es
demnach schwer ist, anzunehmen, daß Ricardo „ewige“ Gesetze
aufgestellt hat. Trotzdem wird es von Ricardo behauptet. Es bleibt
nun übrig, zu untersuchen, was für ein Geltungsbereich hat Ricardo
seinen „Gesetzen“ eingeräumt.
Daß Ricardo fern davon war, „Naturgesetze“ für alle Ewigkeit
aufzustellen, geht aus mehreren Ansichten hervor, die er selbst dar-
gestellt hat. Bekanntlich war Ricardo Freihändler, und doch macht
er Konzessionen auch dem Schutzzoll und zwar nicht nur in seiner
Schrift „Zum Schutz des Ackerbaues*, sondern auch in den früheren
Schriften ?). Er selbst macht Malthus zum Vorwurf, er „verall-
gemeinere“, indem er von Malthus sagt:
„Are there no circumstances under which the fertility of the
land, and the plenty of its produce may be diminished, without
occasioning a diminished excess of its price above the cost of pro-
duetion, that is to say, a diminished rent? If there are, Mr. Mal-
thus’s proposition is much too universal; for he appears to me to
state it as a general principle true under all circumstances, that
rent will rise with the increased fertility of the land, and will fall
with its diminished fertility“ ®). Hier ist klar gesagt, wie weit Ri-
cardo selbst gegen „ewige“ Gesetze war. Das werden wir noch
mehrmals bei ihm finden. Wir müssen aber vor allem noch unter-
suchen die Form, in welcher Ricardo seine „Gesetze“ zum Aus-
druck bringt. Denn die Form, in welcher ein „Gesetz“ zum Ausdruck
gelangt, kann manchmal darüber Aufschluß geben, inwiefern und
wieweit der Urheber des „Gesetzes dogmatisch-absolut ge-
dacht hat und umgekehrt. Gerade bei Ricardo werden wir es erfahren,
daß er durchaus eine höchst reservierte Sprache führt mit Bezug
auf seine „Gesetze“. Wunder muß es doch uns nehmen, daß trotz-
dem Ricardo zum Vorwurf gemacht wurde, er hätte „allgemeine“.
„ewige“ Naturgesetze aufgestellt!
Die Form, in welche Ricardo seine „Gesetze“ *) kleidet, ist
1) Principles, S$. 307,
2) „Wenn auch das Land, selbst bei einem nur vorübergehend hohen Getreide-
preis, mehr verliert, als die Pächter gewinnen, so ist es doch vielleicht billig, für drei
oder vier Jahre die Einfuhr einschränkende Zölle aufzulegen und zu erklären, daß
nach dieser Zeit der Getreidehandel frei sein soll, und eingeführtes Getreide keiner
anderen Abgabe unterliegt als einer solchen, womit wir etwa geeignet finden unser
inländisches Getreide zu belasten“. Ricardo: „Ein Versuch über den Einfluß“ ete., 1815,
deutsch vor Leser, 1905, S. 33—34; auch „Prineiples“, S. 312—313.
3) Principles, S. 489.
4) Vergl. Principles, S. V, preface und S. 9, 25, 35, 53, 55, 77, 80, 81, 85.
86, 101, 107, 132, 138, 231, 244, 421.
Zur Methode der Wirtschaftswissenschaft bei D. Ricardo. 321
á
eine durchaus verschiedene. So gebraucht er z. B. „Laws“, „general
Laws“, „rule“ und auch „general rule“, „principle“, „tends“ und
„has tendency“. Vergleicht man diese verschiedenen Ausdrücke mit
Bezug auf den Begriff des Absolutismus der „Dogmen“, so
leuchtet jedem ein, daß der Begriff „principle“ im dogmatischen
Sinne der weitgehendste ist. Denn wir wissen jetzt, wie J. Bonar’)
hervorgehoben hat, daß bei den englischen ökonomischen Schrift-
stellern noch vor kurzem das Wort „Law“ willkürlich für beinahe
jede Gleichförmigkeit im Gebrauche war. Also, wie man sieht, hatte
das Wort „Law“ beinahe dieselbe Bedeutung wie „Regel“. Ferner
ist noch das in Betracht zu ziehen, daß der Ausdruck „principle“
in der englischen Wirtschaftswissenschaft ?) älter ist als der Aus-
druck „Law“. Nach Bonar’) wäre Ricardo der erste gewesen,
welcher in der englischen Wirtschaftswissenschaft das Wort „Law“
für „Principien“ gebracht hat.
Zwar hat Ricardo sein Buch mit dem Namen „Principles“ be-
titelt, allein der Ausdruck .„prineiple* kommt am allerwenigsten in
diesem Buche vor, indem Ricardo von „Law“, „Rule“ und „has a ten-
dency“ spricht. Nur ein paarmal finden wir den Ausdruck „prin-
ciple“ in seinen „Principles“. Man sieht hier klar, daß Ricardo an
der Stelle von „principle“ einen anderen Ausdruck suchen zu sollen
glaubte. Daß er doch sein Buch mit „Principles“ betitelt, wird
wohl darauf zurückzuführen sein, daß der Ausdruck „principle“
älter ist als „Law“. Zieht man alles dies in Betracht, d. h. daß
Ricardo von „Law“ und „Rule“, „has a tendency“ spricht und „Law“
zu seiner Zeit für jede Gleichförmigkeit gebraucht wurde, so muß
ohne weiteres zugegeben werden, daß es unzulässig ist, Ricardo zum
Vorwurf zu machen, er hätte „Naturgesetze“, „ewige“ Wirtschafts-
gesetze aufgestellt, zumal wir den Ausdruck „Naturgesetze* bei ihm
überhaupt nicht‘) finden. Allein mit den oben angeführten Be-
weisen gegen die angeblichen „Naturgesetze“ Ricardo’s ist noch
lange nicht erschöpft, was man gegen diese Behauptung noch an-
führen kann. Ricardo macht noch größere Vorbehalte mit Bezug
auf seine Theorien und Lehren, welche er aufzustellen sucht. Es
istin der Tat unbegreiflich, wie man Ricardo zum Vorwurf macht,
er habe „Naturgesetze“ für „alle Ewigkeit“ aufgestellt, wenn man
seine Ausdrucksweise sorgfältig verfolgt. Denn die reservierten Aus-
drücke, wie „almost“, „probably“, „perhaps“ und „nearly“ kommen
1) Vergl. dessen: „Der Gebrauch des Ausdruckes „Gesetz“ in der Nationalök.“ in
Zeitschr. f. Volksw., Sozialp. u. Verw., 1892, 8. 201.
2) Ibidem, S. 204.
3) Ibidem, S. 205.
4) Wenn Aug. Oncken in seiner Besprechung über Diehl (Krit. Blätter, 1905)
sagt, daß man bei Ricardo keine „Naturgesetze‘ finde, so hat er recht. Andererseits
beruht es auf einem Mißverständnis, wenn er glaubt, Diehl wäre nicht konsequent ge-
blieben, indem er „Naturgesetze‘‘ verwirft und steht doch auf dem Standpunkt des
Gesetzes des abnehmenden Bodenertrages! Nicht ‚„Naturgesetze‘“ auf dem Gebiete der
Natarwissenschaften, sondern auf dem der Geisteswissenschaften sucht Diehl zu be-
streiten,
Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVII), 21
322 F. Lifschitz,
bei Ricardo mehrmals vor!) und zwar in Zusammenhang mit seinen
wichtigen Lehren, was gegen den angeblichen Absolutismus
seiner „Dogmen“ deutlich genug spricht. So viel kann man schließen
aus der Form des Ausdruckes Ricardos mit Bezug auf das Geltungs
bereich seiner „Gesetze“. Es bleibt nun übrig, zu untersuchen, wie hat
Ricardo selbst die Ausdehnung seiner „Gesetze“ sich vorgestellt,
ob er mit Zeit- und Ortsverhältnissen rechnen zu müssen geglaubt
hat. Daß selbst Ricardo seine „Gesetze“ noch nicht als „abge-
schlossen“ und „feststehend“ hält, geht aus dem Passus hervor ?):
„If the principles which he deems correct, should be found to be
so, it will be for others, more able than himself, to trace them to
all their important consequences.“
Die Bedeutung der Zeit- und Ortsverhältnisse für die Wirt-
schaftswissenschaft hat Ricardo niemals unterschätzt. Er sagt aus-
drücklich ë): „But in different stages of society, the proportions of
the whole produce of the earth which will be allotted to each of
these classes, under the names of rent, profit, and wages, will be
essentially different.“ Nun ist es doch klar, daß wenn Ricardo selbst
die Verschiedenheit der Bedingungen betont, er doch nicht ein
„ewiges“ Gesetz aufstellen wird, zumal er diese Verschiedenheit
der Verhältnisse wiederholt betont mit Bezug auf das Aufstellen
von „Gesetzen“. So z. B. bei dem Feststellen des Verhältnisses
zwischen zwei verschiedenen Arbeitsquantitäten %). Sehr charakteri-
stisch für seinen methodischen Standpunkt sind seine Ausführungen
mit Bezug auf seine Lohntheorie. Er sagt nämlich 5):
„It is not to be understood that the natural price of labour,
estimated even in food and necessaries, is absolutely fixed and con-
stant. it varies at different times in the same country, and very
materielly differs in different countries.“ Hier fügt Ricardo ê) folgende
Note bei, welche sehr charakteristisch ist: „The shelter and the clothing
which are indispensable in done country may be no way necessary
in another; and a labourer in Hindostan may continue to work with
perfect vigour, though receiving, as his natural wages, only such a
supply of covering as would be insufficient to preserve a labourer
in Russia from perishing. Even in countries situated in the same
climate, different habits of living will often occasion variations in
the natural price of labour, as considerable as those which are
produced by natural causes. — p. 68. An Essay on the external
Corn Trade, by Torrens, Esq. The whole of this subject in most
ably illustrated by Colonel Torrens.“ ;
Diese angeführten Stellen sprechen klipp und klar, daß es Ri-
cardo fern lag, sein „Lohngesetz“ für alle Ewigkeit und alle Zeiten
zu konstruieren, wie es ihm immer zum Vorwurf gemacht wird.
Noch mehr: aus der Hervorhebung der Vorzüge des Torrensschen
1) Vergl. Principles, S. 3. 7, 8, 9, 13, 40, 44, 81, 140, 148, 269, 277, 310.
2) Ibidem, preface, p. VII. 3) Ibidem, preface, p. V.
4) Ibidem, p. 13, Note. 5) Principles, p. 91.
6) Ibidem, Note.
Zur Methode der Wirtschaftswissenschaft bei D. Ricardo. 323
Werkes kann man entnehmen, daß Ricardo keineswegs gegen die
empirische Forschungsweise abgeneigt war, sondern vielmehr ihre
Vorzüge anerkennt, obzwar er selbst dieser Methode sich fast nicht
bedient. Begreiflich ist es daher, daß!) Ricardo mehrmals die Ver-
schiedenheit der Bedingungen mit allem Nachdruck betont, wie es
aus verschiedenen Stellen seiner „Principles“ deutlich hervorgeht.
Demgemäß kann von „ewigen Gesetzen“ bei Ricardo keine Rede
sein. Dies wird auch durch sein „Wertgesetz“ bestätigt. Er unter-
sucht „the relative value“ und nicht „absolute value“. Ferner das
„Wertgesetz“ hat seine Geltung nicht für alle Waren ?) und vollends,
wo das Wertgesetz seine Geltung hat, spricht auch Ricardo >) von
„almost“! Mit anderen Worten: von Ricardos „Wertgesetz“ als von
einem „ewigen“ Gesetz zu sprechen, ist durchaus unzulässig. Sehr
charakteristisch ist Diehls Stellung zum Wertgesetz Ricardo wie auch
seine Kritik. Einerseits meint Diehl‘): „Das Gebiet, für welches
die Ricardosche Wertlehre gelten soll, ist sachlich zu eng be-
grenzt.“ Mit anderen Worten wird es heißen, sie ist nicht allge-
mein genug. Und andererseits sagt auch Diehl°): „Ist somit die
Ricardosche Werttheorie — wenn man alle die Güter ausnimmt, die
nach dem Gesagten ausscheiden müssen, eine sachlich sehr be-
grenzte, so ist sie andererseits zeitlich so umfassend, daß sie die
allerverschiedensten Produktionsverhältnisse gleichmäßig umfaßt.“
Hier ist Ricardo, Diehl nach, zu allgemein in seiner Werttheorie.
Diehl scheint aber vergessen zu haben, daß wir bei Ricardo den
Ausdruck „almost“ finden, und daher kann kaum von einer zu weit-
gehenden Verallgemeinerung die Rede sein. Ferner, vergleicht man
diese zwei Vorwürfe Diehls miteinander, so wird man wohl schließen
dürfen, daß Ricardo keineswegs „Naturgesetze“ habe aufstellen wollen.
Denn das Weitgehende und das Einschränkende gleichen sich gegen-
seitig aus. Man sieht, daß das Ricardosche Wertgesetz keineswegs
im Sinne eines „ewigen“ Gesetzes zu verstehen ist. Dies wird noch
mehr bekräftigt, wenn man das in Betracht zieht, was Ricardo mit
Bezug auf „on an invariable measure of value“ 6) geschrieben hat.
Nicht uninteressant ist es zu erfahren, daß Diehl’), welcher gegen
den „Absolutismus“ der Dogmen Ricardos kämpft, doch am nächsten
Ricardo in einer Theorie steht, welche die weitaus dogmatischte ist
mit Bezug auf die übrigen Lehren Ricardos, nämlich die Renten-
theorie! Es soll damit keineswegs Ricardo zum Vorwurf gemacht
werden, Ricardo sei zu absolut in seiner Rententheorie, sondern
1) Principles, S. preface V, 3, 5, 13, 14, 15, 25, 40, 42, 43, 44, 80, 91, 94, 113,
114, 119, 121, 122, 136, 139, 140, 152, 153, 176, 217, 228, 236, 279, 290, 305, 312,
393, 449, 489.
2) Principles, p. 15. 3) Ibidem, p. 2.
4) Erläuterungen, Bd. 1, S. 15.
5) Ibidem 8. 19.
6) Principles, p. 41.
7) Die diesbezügliche Auseinandersetzung mit Diehl geschieht in einem auderen
Zusammenhang.
21*
en en nn
324 F. Lifschitz, Zur Methode der Wirtschaftswissenschaft bei D. Ricardo.
lediglich gemeint sein: bei seiner Rententheorie ist Ricardo viel
„dogmatischer“ als sonst.
Faßt man das zusammen, was über die Methode Ricardos hier
gesagt worden ist, so muß man zum Resultat gelangen: weder „Natur-
gesetze“ im Sinne der Naturwissenschaften, noch „ewige“ Gesetze
hat Ricardo aufstellen wollen. Die Vorwürfe, welche man Ricardo
methodisch in dieser Beziehung gemacht hat, sind durchaus unbe-
rechtigt. Ricardo forscht „deduktiv“, aber keineswegs nach „un
wandelbaren, ewigen“ Gesetzen der Volkswirtschaft !).
Bern 1906.
1) Bei dieser Gelegenheit sei auf einen Widerspruch bei Ricardo hier aufmerksam
gemacht. In den „Principles“ ist er gegen die sogenannte Cyklentheorie, ibidem
p- 310, während er bei einem anderen Zusammenhange, nämlich in einer Parlament-
rede (zitiert bei Diehl, Bd. 1, S. 339) sich auf den Standpunkt der soge nannten Cyklen-
theorie stellt. Auf die übrigen Widersprüche Ricardos komme in bei einem anderen
Zusammenhang noch zurück.
Robert Liefmann, Die heutige amerikanische Trustform. 325
VI.
Die heutige amerikanische Trustform und
ihre Anwendbarkeit in Deutschland.
Von
Prof. Dr. Robert Liefmann, Freiburg ijB.
Inhalt. I. Die populäre Gegenüberstellung von „Kartellen“ und „Trusts“ ist
unklar und wertlos. II. Wesen der heutigen amerikanischen Trustform, der Holding
Company, Kontrollgesellschaft. III. Was haben wir in Deutschland derselben gegenüber-
zustellen? Fusionen und Kombinationen, Interessengemeinschaften, Beteiligungen.
IV. Warum begnügte man sich in Amerika nicht mit diesen, sondern schuf besondere
Kontrollgesellschaften? V. Warum haben andererseits wir die amerikanische Trustform
nicht akzeptiert, und hat sie Aussicht auf Verbreitung in Deutschland?
I.
Nachdem die Trustbewegung in den Vereinigten Staaten von
Amerika und die Kartellbewegung bei uns die allgemeine Aufmerk-
samkeit auf sich gezogen hat, sind Vergleiche dieser beiden Ent-
wickelungserscheinungen an der Tagesordnung. Sehr häufig wird
dabei, namentlich in der Presse, aber auch in der wissenschaftlichen
Literatur!) die Anschauung vertreten, daß die Kartelle eigentlich
schon eine rückständige Entwickelungsstufe seien und wir aus Gründen
internationaler Konkurrenzfähigkeit möglichst schnell zu den ameri-
kanischen Trusts gelangen müßten. Aber diese Vergleiche sind zu-
meist sehr oberflächlich und führen nicht zu wissenschaftlich
brauchbaren Resultaten, weil die Begriffe, die man mit den Worten
Kartell und Trust verbindet, so durchaus unklar und unbestimmt
sind. Faßt man nämlich den Begriff des Trust so weit, wie der ge-
wöhnliche Sprachgebrauch es leider oft tut, daß jede größere aus
einer Verschmelzung oder Angliederung von Betrieben entstandene
Unternehmung als Trust bezeichnet wird, so ist klar, daß diese
„Irusts* mit den Kartellen überhaupt nicht zu vergleichen sind,
ebensowenig wie man etwa Kartell und Aktiengesellschaft vergleichen
kann. Denn ein solcher „Trust“ in diesem weitesten Sinne ist
1) So namentlich H. Schacht in seinem Aufsatze Trust oder Kartelle: Preußische
Jahrbücher, Bd. 110, ihm folgend Alfred Weber in seinem Referat für den 7. Ver-
tretertag des nationalsozialen Vereins in Hannover.
326 Robert Liefmann,
immer eine Unternehmung, das Kartell ist aber eine vertrags-
mäßige Vereinigung zwischen mehreren Unternehmungen nit
monopolistischem Zweck!). Ein tertium comparationis zwischen
Kartell und Trust gibt es also nur, wenn man den letzteren auch
als monopolistische Organisation auffaßt; das ist der Begriff des
Trust im engeren Sinne. Der Monopolzweck ist das Gemeinsame,
die Art, wie derselbe erreicht wird, also die Organisation und ihre
Wirkungen, das zu Vergleichende.
Ein solcher Vergleich der Kartelle mit den (monopeolistischen)
Trusts soll hier nun nicht durchgeführt werden, denn er hat wenig
Zweck. Erstens weil es von vornherein klar ist, daß eine einheit-
liche Unternehmung, wie der Trust sie darstellt, eine für den Mono-
polzweck vollkommenere Organisation ist, als die auf bloß vertrags-
mäßiger Grundlage beruhende Konkurrenzbeseitigung der Kartelle.
Zweitens deswegen, weil es solche monopolistische Trusts selbst in
ihrem Heimatlande, den Vereinigten Staaten, nur in verhältnis-
mäßig geringer Zahl gibt, vielmehr auch dort der größte Teil der
eine monopolistische Stellung einnehmenden wirtschaftlichen Organi-
sationen in, freilich losen Kartellen, pools, agreements besteht.
Endlich drittens ist ein Vergleich dieser beiden Organisationen des-
halb von geringem Wert, weil es dabei den meisten, die derartiges
versuchten, ohne daß sie sich dessen freilich immer bewußt wurden,
weniger darauf ankam, theoretisch zwei verschiedene volkswirtschaft-
liche Organisationsprinzipien einander gegenüberzustellen, als darauf
überhaupt die neueste großindustrielle Organisation der beiden in der
schnellsten Entwickelung befindlichen Industriestaaten miteinander
auf ihren Wert hin zu vergleichen. Dieser Vergleich, der bei der
immer schärfer werdenden Rivalität der beiden Länder das größte
wirtschaftliche Interesse besitzt — was eben die vielfache Behand-
lung des Gegenstands erklärt, — ist aber gar nicht durchzuführen mit
einer bloßen Gegenüberstellung von Kartellen und Trusts. Denn
einmal sind die Kartelle — das hat man stets verkannt — nicht die
einzige großindustrielle Organisation, die den Trusts gegenüberzu-
stellen ist, und dann darf man, wenn man die Verhältnisse beider
1) Wohl kann auf Grund dieses Vertrages bei den höchsten Kartellformen eine
besondere Gesellschaft gebildet werden, die die Form einer Handelsunternehmung an
nehmen kann, aber dieselbe ist nie eine Zusammenfassung der kartellierten Unter-
nehmungen selbst, sondern nur ein Organ derselben, die einzelnen Unternehmungen
bleiben stets selbständig. — Nach dem Gesagten ist es daher auch z. B. durchaus falsch,
wenn Georg Bernhard in den Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik (S. 324)
gegen Schmoller meint: „In der Tat ist der Trust denn auch (im Vergleich zum
Kartell) das wirtschaftlich höher stehende Konlitionsgebilde“. Der Trust ist überhaupt
keine Koalition, keine vertragsmäßige Vereinigung, kein „Verband“, sondern er ist, wie
insbesondere Tschierschky (Kartell und Trust) gut dargelegt hat, eine Unter-
nehmung, eine Organisation auf Grund von Besitz, und als Koalitionsgebilde,
das die Konkurrenz beseitigen soll, steht das Kartell weit höher als die große Masse
der nur einen beschränkten Teil der Unternehmungen eines Gewerbes zusammenfassen-
den sog. Trusts. Mit Recht hat zweifellos Vogelstein in den Verhandlungen des
Vereins für Sozialpolitik (S. 392) die Anschauung vertreten, „die Monopole haben in
den Vereinigten Staaten eine viel geringere Bedeutung als in Deutschland“.
Die heutige amerikanische Trustform und ihre Anwendbarkeit in Deutschland. 327
Länder vergleichen will, auch in Amerika nicht nur die Trusts in
Betracht ziehen, sondern müßte die Gesamtheit der industriellen
Entwickelungstendenzen in beiden Ländern einander gegenüberstellen.
Das ist nun heute nicht möglich, weil diese anderen Entwicke-
lungstendenzen außer den Kartellen und Trusts, die bisher allein das
allgemeine Interesse aufsich gezogen haben, noch so gut wie gar nicht
wissenschaftlich untersucht sind!). Wenn daher ein Vergleich der
Trusts im engeren Sinne mit den Kartellen keinen Wert hat, ein
Vergleich der gesamten Entwickelungstendenzen in beiden Ländern
aber noch nicht möglich ist, so muß aber eine andere Fragestellung
gefunden werden, und da ergibt sich als das Nächstliegende, ein-
mal die Frage aufzuwerfen, ob diejenige Erscheinung, die heute dem,
was man in Amerika Trust nennt, in den meisten Fällen zu Grunde
liegt, in Deutschland schon besteht und Aussicht auf Entwickelung
hat. Diese Frage ist deshalb leichter zu beantworten, weil sich aus
dem im allgemeinen so unklaren Begriffe des Trust doch in Amerika
eine spezifische, klar abzugrenzende Unternehmungsform aus-
scheiden läßt und es also nur darauf ankommt, die deutschen wirt-
schaftlichen Zustände auf das Vorkommen dieser Organisationsform
hin zu untersuchen und die Anwendbarkeit derselben bei uns zu
erörtern.
Das ist der Zweck des vorliegenden Aufsatzes.
II.
Jedermann weiß, daß die sogenannten Trusts in den Ver-
einigten Staaten von Amerika unter dem Einfluß der Gesetzgebung
ihre Rechtsform mehrfach geändert haben. Die ursprüngliche Form
war die der Treuhandgesellschaft. des eigentlichen Trust im englischen
und amerikanischen Rechtssinne, bei welchem die Aktien mehrerer
Gesellschaften einem Komitee von Treuhändern in Verwahrung ge-
geben werden und dadurch die gewünschte einheitliche Leitung der
Unternehmungen herbeigeführt wird. Nur wenige Trusts im heutigen
populären Sinne des Wortes, die ältesten, sind in dieser Form
entstanden. Während einzelne derselben unter dem Einfluß der
Antitrustgesetze sich im Wege der Fusion zu einheitlichen Unter-
nehmungen umwandelten, nahmen andere. und fast alle neueren
Trusts, die Form der Holding Company an. Jetzt „hält“ eine
Gesellschaft die Aktien derjenigen Unternehmungen, die sie unter
einheitliche Verwaltung bringen will, in ihrem Besitz und „kontrolliert“
1) Es ist merkwürdig genug, daß zwar zahlreiche Nationalökonomen sich historisch
mit den Anfängen des Kapitalismus beschäftigen, es aber kaum einen gibt, der die
Erscheinungen des „modernen Kapitalismus“ im wahren Sinne des Wortes andauernd
und systematisch verfolgt. Es liegt leider offenbar so, daß eine moderne Erscheinung,
um wissenschaftlich behandelt zu werden, erst zu einem aktuellen Problem der Wirt-
schaftspolitik gediehen sein muß. So hat z. B. wegen des Interesses an der Börsen-
gesetzgebung die Fusionsbewegung oder, wie man es mögliehst unbestimmt zu nennen
pflegt, die „Konzentrationstendenz“ im Bankwesen plötzlich die allgemeine Aufmerk-
samkeit und eine Menge von Schriften hervorgerufen, aber niemandem ist es eingefallen,
daß diese Bewegung eine viel allgemeinere Erscheinung ist.
328 Robert Liefmann,
dadurch die letzteren. Die kontrollierten Unternehmungen müssen
daher, wie auch schon beim eigentlichen Trust, Gesellschaftsunter-
nehmungen sein.
Es ist schon oben darauf hingewiesen worden, daß diese soge-
nannten Trusts in der Regel keine monopolistischen Organisationen
sind und daher mit unseren Kartellen, die stets Monopolzwecke
verfolgen, nicht allgemein verglichen werden können. Sie kontrol-
lieren also meist nicht den größeren Teil der Unternehmungen in
einer Industrie, sondern verfolgen eigentlich nur denselben Zweck,
der bei uns durch Fusionen, Beteiligungen und neuerdings nament-
lich auch durch Bildung von Interessengemeinschaften erreicht wird:
nämlich die Konkurrenz, wenn auch nicht zu beseitigen, so doch
innerhalb der verbundenen Unternehmungen zu beschränken und
ein Zusammengehen derselben herbeizuführen. Jedoch schafft die
Holding Company durch die finanzielle Beherrschung aller Unter-
nehmungen, deren Aktien sie besitzt, eine größere Einheitlichkeit,
als das bei unseren Interessengemeinschaften der Fall ist.
Der Name Trust ist bei uns, wie in Amerika, auf alle diese
Organisationen ausgedehnt worden und wird gern für jeden durch
Fusion oder Aktienkontrolle verbundenen Unternehmungskomplex
gebraucht. Wissenschaftlich empfiehlt sich aber diese weite Aus-
legung des Begriffes nicht, weil man doch gewöhnlich dem Trust
Wirkungen zuschreibt und unter diesem Begriffe erörtert, die nur
bei monopolistischen Organisationen vorhanden sind. Man
wird also den Begriff Trust wissenschaftlich auf solche Unterneh-
mungen beschränken, die durch Fusion oder Kontrolle anderer Ge-
sellschaften eine monopolistische Stellung einnehmen).
Für die in Amerika als Holding Company bezeichnete Unter-
nehmungsform könnte man. wofern man diesen Namen nicht
beibehalten will, vielleicht in wörtlicher und ihrer Wirksamkeit
entsprechender Uebersetzung die Bezeichnung (Effekten-)Hal-
tungsgesellschaft wählen. Denn das „Halten“, Festhalten und
Festlegen der Aktien der Untergesellschaften ist das charakteristische
Moment derselben. Man kann sie aber auch als Kontrollgesell-
schaften?) bezeichnen, da der Ausdruck „kontrollieren“, der auch
bei uns immer mehr üblich wird, nichts anderes bedeutet, als daß
durch das Festhalten des größten Teils der Aktien anderer Gesell-
schaften eine Herrschaft über diese ausgeübt werden soll. Der Name
Beteiligungsgesellschaften, den ich in meiner Schrift Kar-
1) Die Definition Trust = monopolistische Fusion, die ich in meinen Unternehmer-
verbänden aufstellte, ist zu eng. Seit dem Aufkommen der Holding Company, die mir
damals noch unbekannt war, ist vielmehr die Errichtung einer Unternehmung mit mono-
polistischer Stellung aus mehreren früher selbständigen auch im Wege des Erwerbs und der
Festlegung ihrer Aktien in einer Kontrollgesellschaft möglich. Als Fusion kann diese
Maßnahme aber nicht bezeichnet werden.
2) Jörgens, Finanzielle Trustgesellschaften, Münchener volkswirtschaftliche Studien I,
u. 54. Stück, spricht S. 8 von „Aktienkontrolltrustgesellschaften‘“ in einem etwas engeren
Sinne, als das hier geschieht. Auf die von Jörgens verwendete Bezeichnung werde ich
bei anderer Gelegenheit näher eingehen.
Die heutige amerikanische Trustform und ihre Anwendbarkeit in Deutschland. 329
telle und Trusts vorgeschlagen habe empfiehlt sich für die Holding
Companies allein nicht, weil er, wie ich in einer späteren Arbeit
zeigen werde, einem viel allgemeineren Kreise von Unternehmungs-
formen zukommt, von dem die Kontrollgesellschaft nur ein Teil ist. —
Eine Holding Company stellt eine eigentümliche Form der Zu-
sammenfassung mehrerer Unternehmungen in einer einzigen dar.
Die Zusammenfassung ist durchaus nicht nur'eine finanzielle. Viel-
mehr wird in weitgehendem Maße eine Einheitlichkeit der Leitung,
werden Arbeitsteilung und Kooperation durchgeführt. Aber anderer-
seits ist die Selbständigkeit der in eine Holding Company eintre-
tenden Unternehmungen durchaus nicht voll beseitigt. Gerade bei
den größten derartigen Gesellschaften, deren Einzelunternehmungen
selbst wieder große fusionierte und kombinierte Gesellschaften sind,
wie bei der United States Steel Company, ist die Selbständigkeit der
Untergesellschaften weitgehend. Sie können gegenseitig Forderungen
und Schulden haben, können selbst Dividenden erklären, können
auch, allerdings mit Zustimmung der gemeinsamen Verwaltung, selbst
Obligationen ausgeben, die Holding Company braucht die Zinsen
auf die Bonds der Untergesellschaften nicht zu garantieren, jede
derselben hat ihre eigene Verkaufsorganisation u. s. w.!). Es ist
klar, daß die Intensität und überhaupt die Art der Vereinigung in
den einzelnen Industrien sehr verschieden sein kann. Die Holding
Company gibt nur den allgemeinen und sehr dehnbaren Rahmen
ab, der erst durch die inneren Einrichtungen der gemeinsamen Ge-
sellschaft und ihr Verhältnis zu den Untergesellschaften seinen be-
stimmten Inhalt empfängt. Dieser kann sehr verschieden sein, und
hier findet das Organisationstalent der leitenden Männer, die diese
großen „Combinations“ zusammenbringen, ein weites Feld seiner
Betätigung. Es kommt dabei darauf an, diejenige Art der Zusam-
menfassung und der gegenseitigen Beziehungen zu finden, die für
die betreffende Industrie am passendsten ist. Diese wird anders
sein bei Exportindustrien als bei solchen, die hauptsächlich für den
inneren Markt produzieren, wieder anders bei solchen, wo die Trans-
portkosten der Rohstoffen oder diejenigen des fertigen Produktes
stark ins Gewicht fallen als bei Industrien, bei denen dies nicht zutrifft.
Ob die Untergesellschaften sich alle auf eine und dieselbe Pro-
duktionstätigkeit beschränken, oder ob sie sich auf verschiedene
erstrecken und sich dann gegenseitig in die Hände arbeiten können,
ob sie Produkte herstellen, die von den Konjunkturen stark betroffen
werden oder solche mit ziemlich stabilem Konsum, das alles beein-
flußt das Verhältnis der Untergesellschaften zueinander und zu der
1) Ueber die inneren Verhältnisse des amerikanischen „Stahltrust‘“ orientiert jetzt
die unter meiner Anleitung verfaßte Schrift von Dr. J. Gutmann, Ueber den amerika-
nischen Stahltrust, mit besonderer Berücksichtigung des deutschen Stahlwerksverbandes.
Essen 1906 G. D. Bädeker. — Es ist aber darauf hinzuweisen, daß die Organisation
dieser Kontrollgesellschaft und ihrer Beziehungen zu den Untergellschaften durchaus
nicht ohne weiteres für die Holding Companies anderer Industrien Geltung hat; s. dar-
über unten.
330 Robert Liefmann,
Kontrollgesellschaft, das Maß der Einheitlichkeit in der Verwaltung
und den Grad der Selbständigkeit der einzelnen und muß berück-
sichtigt werden, wenn es gilt, die zweckmäßigste Organisation zu
finden.
Auf diese Verschiedenheiten und Einzelheiten der Organisation
näher einzugehen, ist hier nicht der Ort. Allgemein, kann man
sagen, hat die Zusammenfassung mehrerer Unternehmungen unter
einer Kontrollgesellschaft den Vorteilder größeren Einheitlichkeit. Sie
schafft eine Gemeinsamkeit der Interessen zwischen sonst konkurrie-
renden Unternehmungen. Der Konkurrenzkampf wird so gut wie
ausgeschaltet, mindestens verschwindet das Bestreben, auf Kosten
der anderen Mitglieder Gewinne zu erzielen. Statt dessen bleibt nur
eine gewisse Rivalität der einzelnen Unternehmungen, möglichst rationell
zu wirtschaften, möglichst hohe Ueberschüsse zu erzielen, mit den
besten Einrichtungen versehen zu sein. Geht die Zusammenfassung
so weit, daß der größte Teil der Unternehmungen einer Industrie
in einer Holding Company vereinigt ist, so können natürlich auch
die monopolistischen Wirkungen der Kartelle, Einfluß auf die Preis-
gestaltung, erzielt werden. Und dieselben können über die der
Kartelle insofern erheblich hinausgehen, als der Trust als kapitali-
stische Unternehmung außenstehende Konkurrenz zumeist mit größerer
Energie bekämpfen kann. Aber auch wenn die Kontrollgesellschaft
keine monopolistische Stellung hat, erleichtert sie doch die Bildung
monopolistischer Vereinigungen durch Verträge mit den übrigen
Angehörigen des Gewerbes. Dies dadurch, daß sie die Zahl der
erforderlichen Kontrahenten vermindert, ferner dadurch, daß sie in
vielen Fällen eine gewisse Uebermacht den übrigen Unternehmungen
gegenüber besitzt und daher oft einen Druck auf sie ausüben kann.
Von größter Bedeutung sind die produktions- und arbeitstech-
nischen Vorteile, die mit der Unterstellung mehrerer Unternehmungen
unter eine Kontrollgesellschaft erzielt werden können. Sie traten
wohl am meisten in der Eisenindustrie zu Tage. Die dort erzielten
Vorteile: weitgehende Spezialisierung, zweckmäßigstes Einander-in-
-die-Hände-arbeiten, billigste Versorgung mit Rohstoffen beste Aus-
nutzung der Produktionseinrichtungen, günstigste Verteilung des
Absatzes dürfen aber, wie gesagt, nicht ohne weiteres für andere
Industrien verallgemeinert werden. (Uebrigens ist die Kombinations-
tendenz schon bei den Untergesellschaften, die jetzt den Stahltrust
bilden, in weitestem Maße zur Durchführung gelangt.) In anderen
Industrien, in welchen die Zusammenfassung verschiedener Produk-
tionsstadien nicht in dem Grade möglich ist wie in der Eisenindu-
strie, wird aber auch die Angliederung von Rohstoff liefernden und
weiterverarbeitenden Betrieben, von Nebengewerben, die Ausschal-
tung veralteter Betriebe gefördert, und es können technische Erspar-
nisse mancherlei Art erzielt werden. Im allgemeinen aber werden
hier die kaufmännischen und finanziellen Vorteile der
Zusammenfassung überwiegen. Die Kontrollgesellschaft kann die
Versorgung der Konsumenten zweckmäßig unter die einzelnen Werke
Die heutige amerikanische Trustform und ihre Anwendbarkeit in Deutschland. 331
verteilen und dadurch Transportkosten sparen. Sie kann ebenso
bei der Versorgung mit Rohstoffen vorgehen. Es können durch die
Vereinheitlichung der Reklame, durch Verminderung der Zahl der
Agenten und Reisenden große Ersparnisse erzielt werden. Eine
solche große Unternehmung kann sich leichter neues Kapital be-
schaffen als dies kleineren möglich ist, ihre Aktien bilden eine mark-
gängigere Ware.
Wie diese Vorteile der „Trusts“, so sind auch die mit ihnen
verbundenen Gefahren oft genug geschildert worden. Sie treten zu
Tage 1) schon bei der Gründung der Kontrollgesellschaften: die
bekannte Ueberkapitalisation und die Gefahr, daß das große Publi-
kum, das die Aktien übernimmt, dadurch geschädigt wird. Ferner
die Gefahr, daß diese großen Unternehmungen in die Hände von
Finanzleuten kamen, welche nur Gründungs- und Spekulationsge-
winne erzielen wollen, aber an einer stetigen Entwickelung der
Werke kein Interesse haben. Diese Gefahren zeigen sich auch 2)
bei der Verwaltung: Kapitalkräftige Leute können so Einfluß auf
ganze Industrien bekommen, ohne daß sie etwas davon verstehen,
sie können ihren Besitz zu Spekulationen benutzen und dadurch
die ganze Volkswirtschaft schädigen. Aber auch wenn das vermieden
wird, ist doch bei einer solchen Kontrollgesellschaft für die große
Masse der Aktionäre der Nachteil vorhanden, daß sie die Verhält-
nisse der Gesellschaft gar nicht übersehen können.
Um einen klaren Einblick zu gewähren, müßte die Bilanz einer
solchen Holding Company die Verhältnisse aller Einzelunternehmungen
genau anführen. Das geschieht aber nur selten, vielmehr ist Un-
klarheiten in der Vermögensaufstellung, Bilanzverschleierungen,
Schiebungen aller Art Tür und Tor geöffnet. Den Nachteil davon
pflegen die kleinen Aktionäre zu haben, die sich keinen Einblick
verschaffen können. Im Gegensatz dazu können die Hauptaktionäre
und Leiter der Kontrollgesellschaften so mit verhältnismäßig wenig
eigenem Kapital ganze Industriezweige beherrschen, und durch diese
Organisation wird daher die Herrschaft über einen großen Teil der
Kapitalkraft des Landes seitens einer verhältnismäßig kleinen Zahl
von Leuten gefördert.
III.
Wir haben nun hier, wie schon gesagt, nicht die ganze
Trustfrage in der üblichen Weise zu behandeln, sondern hatten
nur die Besonderheiten der Kontrollgesellschaften als Unterneh-
mungsform zu erörtern, und nachdem dies kurz geschehen ist,
können wir uns der Hauptfrage zuwenden, ob sie sich auch in
Deutschland einbürgern wird. Da ergibt sich zunächst als Aufgabe,
festzustellen, ob es nicht schon Organisationen in Deutschland gibt,
die eben solche oder ähnliche Zwecke verfolgen. Wenn nämlich
von einigen gewünscht wird, daß wir im Interesse unserer Kon-
kurrenzfähigkeit gegenüber dem Auslande sobald wie möglich die
amerikanische Trustform statt unserer Kartelle akzeptieren, wenn von
332 Robert Liefmann,
anderen dagegen behauptet wird, wir seien in der Epoche der Trusts
schon mitten darin!), wenn endlich die meisten es als unbedingt
sicher annehmen, daß jedenfalls die Entwickelung zum Trust uns
unvermeidbar bevorsteht und wir damit in die letzte Stufe der
kapitalistischen Wirtschaftsordnung vor Einbruch der sozialistischen
eintreten, so leiden alle diese populären Wünsche, Anschauungen
und Prophezeiungen an dem Mangel, daß sie, einer bekannten
deutschen Angewohnheit folgend, zwar mit Bewunderung ins Aus-
land blicken, aber die Betrachtung unserer eigenen Verhältnisse
vernachlässigt haben; und wie ich des öfteren habe feststellen können,
daß Leute zwar nicht von unseren einheimischen Kartellen, wohl
aber von den amerikanischen Trusts Kenntnis hatten, so geht es
auch hier: das Ausländische wird kritiklos bewundert, was wir selbst
haben, aber keiner näheren Betrachtung gewürdigt. Deshalb muß
unsere nächste Frage lauten: Was haben wir in Deutschland der
heutigen amerikanischen Trustform, der Holding Company, gegenüber-
zustellen? Gibt es bei uns keine Organisationen, die dieselben oder
ähnliche Zwecke verfolgen und erreichen ?
Wer auf Grund dieser Fragestellung unsere heutige Volkswirt-
schaft etwas näher durchforscht, wird bald auf drei oder, wenn man
will, vier Erscheinungen stoßen, die jede zu einem Teile bei uns die
Organisation der Holding Company in gewissem Sinne ersetzt und
deren Zwecke erfüllt. Es sind Fusionen und Kombinationen, Inter-
essengemeinschaften und Beteiligungen. Wenn ich auch auf alle
diese Erscheinungen seit Jahren in meinen Schriften häufig hin-
gewiesen habe), so sind sie doch noch nie zusammenfassend und
1) So z. B. Bergrat Gothein in den Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik
(S. 321). Diese Verschiedenheit der Ansichten ist nur möglich wegen der Unklar-
heit über den Begriff des Trust und beweist die Notwendigkeit, sich wissenschaftlich
darüber zu einigen.
2) Auf die Fusionen als besondere Entwickelungserscheinung neben den Kartellen
schon in meinen Unternehmerverbänden (1897), auf die Kombinationen und die
für den Vergleich mit den Trusts wichtigste hierher gehörige Erscheinung, die Be-
teiligung unter anderen in meiner Schrift Schutzzoll und Kartelle, auf alle
diese Dinge, kurz zusammenfassend, wie es einer kleinen populären Schrift entspricht,
in Kartelle und Trusts (S. 37—41, 103—114) und an manchen anderen Stellen,
wo ich auch überall die Notwendigkeit betont habe, die verschiedenen Organisations-
formen auseinanderzuhalten (S. 41). Gegenüber der Tatsache, daß dies fast alles
ganz neuartige Erscheinungen sind, auf deren Bedeutung für die weitere industrielle
Entwickelung ich größtenteils zum ersten Male hingewiesen habe, ist es bemerkenswert
und vielleicht charakteristisch, daß Plenge, von dessen Arbeiten auf diesem Gebiete
noch niemand das geringste gesehen hat, in seiner Kritik meiner „sämtlichen Kartell-
schriften“ (Zeitschrift f. d. ges. Staatswissenschaft, 1906, Heft 2) schlankweg behauptet,
daß ich nur die Kartelle im Auge habe und als „Kartellspezialist“ und ein „zu sehr
der Wirklichkeit fernstehender Gelehrter“ (!) die „Entwickelungsvorgänge neben den
Kartellen nieht in der richtigen Perspektive sehe“. Welches nun aber die richtige
Perspektive ist, darüber sagt Plenge leider kein Wort, er macht hier, wie an anderen
Stellen seiner Kritik, nicht den geringsten Versuch einer Begründung seiner Behaup-
tungen, sondern hält offenbar die eigene Autorität in allen diesen Fragen so über jeden
Zweifel erhaben, daß er, der sich, wie seine Kritik mit ihren zahlreichen Irrtümern,
leider nur zu deutlich zeigt, niemals näher mit ihnen beschäftigt hat, sich dennoch für
berechtigt hält, die Fachgenossen vor den unwissenschaftlichen Schriften des Kartell-
spezialisten zu warnen!
Die heutige amerikanische Trustform und ihre Anwendbarkeit in Deutschland. 333
systematisch behandelt worden. und es knüpfen sich daher an diese
Bezeichnungen noch nicht allgemein bekannte, klare Vorstellungen.
An dieser Stelle kann natürlich nur eine ganz kurze Skizze ge-
geben werden.
1) Die Zusammenfassung mehrerer Unternehmungen in einer
Kontrollgesellschaft ist juristisch nicht als eine Fusion derselben
aufzufassen und daher auch der Ausdruck monopolistischer
Fusion für Trust in formaler Hinsicht zu eng. Es gibt aber, wie
bekannt, auch in Amerika Trusts, welche durch vollständige Ver-
schmelzung der Unternehmungen zu einer einzigen entstanden sind.
Wo derartiges vorliegt, wo also eine völlige Verschmelzung von
Unternehmungen einen solchen Umfang annimmt, wie in Amerika
die Zusammenfassung in Kontrollgesellschaften, da werden diese
Fusionen die letzteren in ihren Wirkungen nicht nur erreichen, son-
dern übertreffen. Denn die Fusion ist als solche natürlich eine viel
engere Vereinigungsform als die Zusammenfassung unter einer Kon-
trollgesellschaft. Nur ist bei uns die Fusionstendenz noch nicht so
stark entwickelt wie in Amerika die Bildung von Kontrollgesellschaften.
Immerhin haben wir, und zwar zum Teil schon seit langem, Unter-
nehmungen, die durch Fusionierung aus einer so großen Zahl
anderer entstanden sind, daß sie, wenn sie auch keine monopo-
listische Stellung haben, doch eine so bedeutende Macht in ihrem
Gewerbe darstellen, daß sie darin der Mehrzahl der amerikanischen
Trusts vollkommen gleichstehen. Ich nenne z. B. die Vereinigten
Pinselfabriken, die Vereinigten Cöln-Rottweiler Pulverfabriken, Ver-
einigte Strohstofffabriken, Vereinigte Hanfschlauchfabriken, Ver-
einigte Ultramarinfabriken, Verein deutscher Oelmühlen, Rheinische
Kalkwerke; Hagener Akkumulatorenwerke u. a. m. Uebrigens sind
auch unsere größten Kohlenwerke, Gelsenkirchen, Harpen u. s. w.,
und unsere größten Banken auf Grund so zahlreicher Fusionen mit
anderen Unternehmungen derselben Art zu ihrem heutigen Umfang
geliehen, daß sie darin manchen der sogenannten Trusts in Amerika
gleichwertig sind.
2) Wir haben gesehen, daß durch Bildung von Kontrollgesell-
schaften auch die Zusammenfassung aufeinanderangewiesener
Produktionsstadien, die sogenannte Kombinationsten-
denz gefördert wird. Auch sie läßt sich aber bei uns konstatieren.
Ebenso aber wie vor Bildung des Stahltrusts ein großer Teil der in
ihn eintretenden Gesellschaften schon kombinierte Unternehmungen
waren, die Kombination dann aber durch ihn immer mehr ausge-
dehnt wurde, ebenso ist es unter dem Einfluß der Kartelle auch bei
uns gewesen. Die Dortmunder Union, der Hörder Verein, die Gute
Hoffnungshütte, Krupp u. a. sind fast von Anfang an kombinierte
Unternehmungen gewesen. Aber neuerdings haben unter dem Ein-
fluß der Kartelle diese Kombinationen bei uns ebenso weitere Fort-
schritte gemacht wie in Amerika durch die Kontrollgesellschaften.
Im allgemeinen ist die Kombination, wenigstens in der Eisenindustrie,
ei uns mindestens ebensoweit vorgeschritten, wie in den Ver-
334 Robert Liefmann,
einigten Staaten !), und unsere großen Werke, wie Krupp, die
Thyssenschen Unternehmungen, Phönix-Hörde, Laurahütte u. a. sind
ebenso „Vertikale Trusts“ wie die entsprechenden Organisationen
Amerikas. Richtig ist allerdings, daß bei uns zwar die ganze Be-
wegung wenigstens in der Eisenindustrie wohl den gleichen Umfang
angenommen hat, wie in Amerika, daß aber der Umfang der
einzelnen Trusts noch kein so riesenhafter ist wie dort. Das
hat jedoch, wie wir noch zeigen werden, teils in dem Bestehen
unserer Kartelle ihren Grund, welche zwischen den großen kombi-
nierten Unternehmungen den Konkurrenzkampf beseitigten und
einen engeren Zusammenschluß, der technisch keine weiteren Vor-
teile gebracht hätte, unnötig machten, teils sehen wir neuerdings
diesen Unterschied immer mehr zurücktreten durch das Aufkommen
der dritten Organisationsform, welche uns die Holding Company
zum Teil ersetzt:
3) Es sind die Interessengemeinschaften. Wir finden
neuerdings häufiger, daß, wo wenige große Unternehmungen oder
Unternehmungskomplexe vorhanden sind, diese in engere Verbindung
zu treten versuchen und die Konkurrenz untereinander ausschalten.
Namentlich zeigt sich das, wo das gewöhnliche Mittel der Kartell-
bildung nicht anwendbar ist wegen der Verschiedenheit oder Viel-
seitigkeit der Produkte (Eisenindustrie, chemische Industrie) oder
aus anderen Gründen (Bankwesen). Die Ausschaltung des Wettbe-
werbs geschieht dabei weder im Wege der Fusion, noch in dem der
Kontrollgesellschaft, sondern durch Bildung der sogenannten Interessen-
gemeinschaften, welche, im einzelnen oft verschiedenartig organisiert,
doch stets darauf hinauslaufen, die Gewinne zusammenzuwerfen
und nach einem bestimmten Verhältnis zu verteilen, dadurch ein ge-
meinsames Interesse zu schaffen und die gemeinsame Durchfühurng
größerer Geschäfte zu ermöglichen.
Ich habe solche Interessengemeinschaften aus älterer Zeit schon
in meinen „Unternehmerverbänden“ erwähnt. Neuerdings haben
derartige Verbindungen zwischen zwei großen Bankgruppen, zwischen
großen Eisen- und Kohlenwerken, zwischen Elektrizitätsgesellschaften,
zwischen drei der größten chemischen Fabriken besondere Bedeutung
erlangt. Diese Interessengemeinschaften können ihrem Inhalt nach
ebenso vielseitig sein wie die Holding Companies. Es kann bei einer
bloß äußerlichen Beseitigung des Wettbewerbs bleiben, es können
aber auch die inneren Produktions- und Absatzverhältnisse der ver-
bundenen Unternehmungen weitgehend einander angepaßt und diese
dadurch technisch und kommerziell zu einem organischen Ganzen
vereinigt werden. So können die Wirkungen der Holding Company
rein vertragsmäßig erzielt werden, ohne daß es zur Bildung einer
besonderen, den einzelnen Unternehmungen übergeordneten Gesell-
schaft kommt.
1) Die neuesten damit in Verbindung stehenden technischen Errungenschaften,
namentlich Verwendung der Hochofengase als Triebkraft, sind sogar bei uns schon
weiter durchgeführt als in Amerika; s. Gutmann, a. a. O., S. 62.
Die heutige amerikanische Trustform und ihre Anwendbarkeit in Deutschland. 335
4) Endlich ist noch auf eine Erscheinung in Deutschland auf-
merksam zu machen, die ihrem Wesen nach den Kontrollgesell-
schaften am nächsten kommt. Wenn wir nämlich das Wesen der
heutigen amerikanischen Trustform, der Holding Company, näher
ins Auge fassen, so erkennen wir, daß dieses Kontrollieren von äußer-
lich selbständig bleibenden Unternehmungen durch eine Gesellschaft,
die deren Aktien besitzt, nur die höchste Stufe einer im modernen
Wirtschaftsleben sehr allgemeinen und sehr bedeutsamen Erscheinung
ist, nämlich der Beteiligung einer Unternehmung an anderen über-
haupt. Diese bisher in ihrer Allgemeinheit noch nicht untersuchte
wirtschaftliche Erscheinung!) konnte sich ebenso wie der Trust erst ent-
wickeln seit der heutigen Ausdehnung des Aktienwesens. Solange das-
selbenoch in den Anfängen stand, war Beteiligung einer Unternehmung
ananderen nur im Wege der Kommanditierung möglich, und diese Form
wurde und wird noch heute von Einzelunternehmen nicht selten ange-
wandt. Erst mit der Ausbreitung des Aktienwesens wurde es in viel ein-
facherer Form möglich, daß eine Unternehmung an einer anderen
ein finanzielles Interesse nahm durch Erwerb von Aktien der-
selben. Dies ist heute so allgemein üblich, daß man geradezu sagen
kann, es gibt wenige große Unternehmungen, die nicht Aktien von
solchen derselben oder verwandten Art in Besitz haben. Man braucht
nur unsere Börsenhandbücher durchzublättern, um unzählige Bei-
spiele dafür zu finden. So figurieren z. B. in der Bilanz von Lud-
wig Löwe u. Co. Grundstücke, Gebäude, Betriebsanlagen, Materialien,
und Fabrikate mit noch nicht 10 Mill. M., Beteiligungen mit über
13 Mill. M. bei 71), Mill. M. Aktienkapital nnd 10Mill. M. Obligationen.
Die Stettiner Chamottefabrik hat in der eigenen Fabrikation, inkl.
Waren, 4,2 Mill. M. investiert, über 5 Mill. M. Fabrikenbeteiligungskonto,
außerdem noch 2,4 Mill. M. sonstige Effekten. Die Diskontogesell-
schaft ist bei 170 Mill. M. Aktienkapital mit 50 Mill. M. bei der
Norddeutschen Bank, mit 17,7 Mill. M. bei anderen Banken beteiligt
(Allgemeine Deutsche Kreditanstalt 7,8 Mill. M., Brasilianische Bank
etc.) und hat außerdem noch Konsortialbeteiligungen für 75 Mill.M.
ausgewiesen, unter denen zwar der größte Teil nicht realisierte
Emissionen sein werden, unter dem aber auch viele dauernde Be-
teililgungen enthalten sind: Compagnie parisienne de lair comprimé
(Popp), Große Venezuela-Eisenbahn, Dortmunder Union, Terrains,
einige Kolonial- und Petroleumgesellschaften. Diese Beispiele
ließen sich noch zahlreich vermehren. Es gibt in Deutschland eine
große Zahl von Unternehmungen, die ebenso Kontrollgesellschaften
wie Fabrikationsgesellschaften sind.
Dieses sind, in kurzen . Zügen dargestellt, die Organisationen,
die bei uns den amerikanischen Trusts gegenüberstehen. Von ihnen
können die eben geschilderten Beteiligungen so weit gehen, daß die
1) Viel Material darüber enthält die ausgezeichnete Schrift von Jeidels, Das Ver-
hältnis der deutschen Großbanken zur Industrie. Staats- und sozialwissenschaftliche
Forschungen, Bd. 24, Heft 2.
336 Robert Liefmann,
betreffenden Gesellschaften vollständig die Wirkungen einer Holding
Company auf die Unternehmungen haben, deren Aktien sie besitzen.
Die amerikanische Holding Company unterscheidet sich aber von
den oben als Beispiel angeführten Gesellschaften dadurch, daß sie
nur Effektenhaltungsgesellschaft ist, eine Unternehmung, deren Be-
sitz in nichts anderem als den Wertpapieren der Untergesellschaften
besteht, die also gar keine eigene Wirtschaftstätigkeit ausübt.
IV.
Warum — das ist jetzt die nächste Frage — begnügte man
sich nun in Amerika nicht wie bei uns mit solchen direkten Beteili-
gungen oder mit Interessengemeinschaften oder Fusionen? Warum
ging man dort dazu über, besondere Gesellschaften zu er-
richten, welche die Aktien der Unternehmungen, die man kontrollieren
wollte, erwarben ?
1) Daß die Verminderung des Wettbewerbes zwischen einzelnen
Unternehmungen und die Herbeiführung einer größeren Einheitlich-
keit nicht durch Fusionen erfolgt ist, hat in den amerikanischen
Rechtsverhältnissen seinen Grund, da die Gesetze zahlreicher Staaten
den in ihnen inkorporierten Unternehmungen die Aufsaugung anderer
verbieten. Ebenso ist die Bildung von Interessengemeinschaften
durch die Gesetzgebung mindestens sehr erschwert. Denn die Ver-
teilung der Gewinne und dadurch herbeigeführte Beseitigung des
Wettbewerbes ist ja gerade das, was in den ältesten amerikanischen
Kartellen, den Eisenbahnpools, das Charakteristische war — der ur-
sprüngliche Begriff des pool entspricht unserer Interessengemein-
schaft — und was durch die Gesetzgebung im Interesse der Auf-
rechterhaltung eines gesunden Wettbewerbs verboten wurde. So blieb
denn nur die direkte Beteiligung an anderen Unternehmungen übrig.
Aber auch hier ist es in mehreren Staaten der Union nicht erlaubt,
den „stock“ anderer Korporationen in Besitz zu haben. Es ist kein
Zweifel, daß nichtsdestoweniger die direkte Beteiligung in Amerika
eine ebenso große Rolle spielt wie bei uns. Aber zur Erwerbung
einer Kontrolle über eine größere Zahl von Unternehmungen
war dies Mittel offenbar unzureichend. Eine gewisse Einheitlichkeit
der Leitung und der Interessen war auf diesem Wege höchstens dann
zu erzielen, wenn eine Gesellschaft so über die andere hervorragte,
daß sie leicht die Aktien der letzteren übernehmen und ihre eigenen
dem Publikum an deren Stelle anbieten konnte. Wo eine solche
Ueberlegenheit nicht vorhanden war, waren Verträge, durch die sich
die verschiedenen Gesellschaften verpflichteten, alle in einer von ihnen
aufzugehen, natürlich sehr schwer durchzusetzen. Der Weg des
langsamen Aufkaufs der Aktien der anderen: Unternehmungen war
ebenfalls kaum möglich, teils aus Mangel an Kapital, teils weil ein
derartiges Vorgehen gegen den Willen der betreffenden Besitzer über-
haupt aussichtslos war. Daher blieb nur die Möglichkeit, besondere
Gesellschaften zu errichten, welche mit den bestehenden Unterneh-
Die heutige amerikanische Trustform und ihre Anwendbarkeit in Deutschland. 337
mungen Verträge abschlossen zwecks Ueberantwortung ihrer Aktien
an jene, die Kontrollgesellschaft.
Auch derartige Gesellschaften, eben die Holding Companies, waren
ursprünglich verboten. In keinem Staate war es erlaubt, Korpora-
tionen zu gründen, die nur den Zweck hatten, Aktien anderer Kor-
porationen in Besitz zu halten und zu kontrollieren. Erst durch
Benutzung des Gesetzes des Staates New Jersey von 1889, welches
erlaubte, in diesem Staate Gesellschaften zu inkorporieren, die aus-
schließlich den Zweck hatten, die Anteile anderer Gesellschaften in
Besitz zu haben, wurde es möglich, eine Kontrolle über eine größere
Zahl anderer Gesellschaften in dieser Form zu errichten, die über
das ganze Gebiet der Vereinigten Staaten Gültigkeit hatte.
2) Es kommt als zweiter Grund hinzu, daß, wenn solche Ver-
träge abgeschlossen sind, durch welche eine Anzahl von Unterneh-
mungen ihre Aktien einer Holding Company überantworten, die neue
Gesellschaft auf Grund der von der Vereinheitlichung erwarteten
wirtschaftlichen und technischen Vorteile viel leichter sich neues
Kapital beschaffen konnte, als wenn eine der schon bestehenden
Unternehmungen die anderen alle hätte übernehmen wollen. Diese
leichtere Kapitalbeschaffung würde allerdings keine Rolle spielen,
wenn es sich nur darum handelte, die Aktien der eintretenden Ge-
sellschaften durch die Kontrollgesellschaft zu ersetzen, wenn also ein
einfacher Austausch möglich wäre. Das ist natürlich bei sehr vielen
Trusts der Fall gewesen, aber dennoch war meistens bei ihrer Gründung
Bedarf für neues Kapital vorhanden, sei es um Vorbesitzer abzu-
finden, die bares Geld verlangten, sei es — und das ganz besonders —
weil gewöhnlich mit der Errichtung eines Trusts neue Kapitalinve-
stitionen erfolgen. In beiden Fällen ist das Kapital viel leichter
zu beschaffen durch eine große Zentralgesellschaft, als wenn eine
einzelne Gesellschaft. dies hätte tun wollen.
3) Wenn es sich bei den amerikanischen Trustgründungen wirk-
lich nur darum gehandelt hätte, die bisher isolierten Unternehmungen
unter einen Hut zu bringen, so würde die Bildung der Holding Com-
pany den großen finanziellen Apparat gar nicht gebraucht haben, der
tatsächlich in Amerika entfaltet wurde. Dann hätten wie bei unseren
Fusionen die Vorbesitzer der einzelnen Unternehmungen einfach im
Verhältnis zum Wert derselben Aktien des Trust erhalten und die
Leiter der ersteren hätten sich auch in die Leitung des Trust geteilt.
Es wäre das also der „demokratische Trust“, die Holding Company,
die nur äußerlich über den einzelnen Unternehmungen steht, in
Wahrheit aber mit der Gesamtheit der Unternehmer identisch ist.
Diese demokratische Holding company existiert aber in Amerika
regelmäßig nicht, und es ist auch leicht erklärlich, daß je größer ein
solcher Trust ist, um so weniger die Möglichkeit vorliegt, ihn auf
demokratischer Grundlage zu errichten. Wachsen doch schon in
unseren Kartellen die Schwierigkeiten rapid mit der Zahl der Mit-
glieder. Auch bei uns würde, wenn die Holding Company einmal
Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIII). 22
338 Robert Liefmann,
an Stelle der Kartelle treten sollte, das demokratische Prinzip der
letzteren nicht aufrecht erhalten werden können. Dasselbe wider-
sprieht schon überhaupt dem Charakter einer kapitalistischen, d.h.
mit in Effekten verkörpertem Kapital ausgestatteten Unternehmung.
wie es auch z. B. schon in der Aktiengesellschaft unmöglich ist, daß
alle Beteiligten Einfluß und Leitung haben. Noch weit mehr aber
widerspricht es dem Charakter der Kontrollgesellschaft. Denn diese
setzt voraus, daß schon die von ihr zusammengefaßten Unterneh-
mungen Gesellschaften sind, ihr Kapital in Effekten verkörpert hatten,
daß also schon bei ihnen der Zusammenhang zwischen Besitz und
Leitung gelockert war. Aber selbst wenn, wie es auch vorkommt,
eine in einen Trust eintretende Unternehmung bis dahin noch Privat-
eigentum war und vielleicht erst zum Zwecke des Eintritts in eine
Aktiengesellschaft umgewandelt wurde, so machen, je größer der Zu-
sammenschluß ist, die einem solchen Vorbesitzer zu gewährenden
Anteile doch meist nur einen so geringen Teil des Gesamtkapitals
aus, daß der Einfluß eines derartigen Großaktionärs in der Regel
hinter dem der Leiter verschwindet. Manchmal sind natürlich die
Vorbesitzer der in eine Holding Company eintretenden Unternehmungen
mit den Gründern der letzteren identisch, dann ist die Kontrollgesell-
schaft eben für sie das Mittel, die Beteiligten unter einen Hut, nämlich
ihren eigenen Einfluß zu bringen, und sie sorgen dann selbst dafür,
daß die anderen Aktionäre keinen großen Einfluß haben.
4) In den meisten Fällen sind aber in Amerika die großen Trust-
bildungen bekanntlich von Finanzleuten und Kapitalisten ausgegangen,
die oft selbst in der betreffenden Industrie vorher gar nicht tätig
waren, und darin liegt ein weiterer Grund, weshalb in den Vereinigten
Staaten die Bildung besonderer Kontrollgesellschaften statt direkter
Beteiligung oder Fusionen das Uebliche ist. Den promoters, die aus
der Errichtung und Gründung von großen Gesellschaftsunternehmungen
ein Geschäft machen, ist diejenige Gründungsform am liebsten, bei
welchen sie möglichst wenig eigenes Kapital zu investieren brauchen
und es schnell wieder herauszuziehen vermögen. Diesen Leuten paßt
es nicht, wie es unsere Gründungsbanken machen müssen, in einer
der Unternehmungen, die sie verschmelzen wollte, erst auf längere
Zeit ihr Kapital festzulegen, und wenn sie dann darin Einfluß haben,
durch Vergrößerung dieser die anderen aufzukaufen. Für sie ist die
Gründung einer besonderen Kontrollgesellschaft die gegebene Form.
Sie schließen zunächst mit den einzelnen Gesellschaften Verträge ab
behufs Eintritts derselben in die neu zu gründende Gesellschaft, dann
wird diese errichtet und das Publikum durch die Aussicht auf Fusions-
vorteile zur Zeichnung herangezogen !). Dies geschieht mit Hilfe der
underwriting syndicates, deren Häupter gewöhnlich die großen Bank-
firmen sind. Sie übernehmen die ausgegebenen Aktien in der Ab-
sicht, sie bei ihrer Klientel und eventuell derjenigen der Unterbe-
teiligten wieder abzusetzen. Für alle diese Leute kommt es darauf
1) Ueber die Tätigkeit der Promoters s. insbesondere Meade, Trust Finance, S. 47 if.
Die heutige amerikanische Trustform und ihre Anwendbarkeit in Deutschland. 339
an, das große Publikum bei Errichtung einer Kontrollgesellschaft
möglichst heranzuziehen, was wenigstens anfangs bei der großen
Spekulationssucht der Amerikaner auch trotz starker Ueberkapitali-
sation immer gelang. In manchen Fällen vermochte der Promoter
auch direkt ohne die Mithilfe der underwriting syndicates die Aktien
ans Publikum abzusetzen !).
Neben diesen berufsmäßigen Promoters gibt es aber noch eine
andere Art von Trustgründern, die großen Kapitalisten, die dauernde
Anlagen ihrer Kapitalien in einer Industrie bezwecken. Die großen
Petroleum-, Eisenbahn-, Zuckerkönige u. s. w. benutzen die Kontroll-
gesellschaften, um mit verhältnismäßig wenig Kapital ganze
Komplexe von Unternehmungen, ja selbst ganze Industriezweige zu
beherrschen. Sie sind damit auch in der Lage, große Effekten-
spekulationen in den Werten dieser Unternehmungen in ihrem Sinne
zu beeinflussen.
Aus allen diesen Gründen haben in den Vereinigten Staaten
die Holding Companies mit den gleichen volkswirtschaftlichen
Wirkungen wie unsere Fusionen, Beteiligungen und Interessenge-
meinschaften sich entwickelt. Einige von diesen haben auch eine
monopolistische Stellung erlangt und dann zugleich die Wirkungen
unserer Kartelle. In manchen Industrien sind auch, regelmäßig
allerdings sehr lose, Kartellverträge (agreements) zwischen mehreren
solcher großen Kontrollgesellschaften zu stande gekommen, und die
vorherige Zusammenfassung eines Teiles der Unternehmungen und
die dadurch verminderte Zahl der Konkurrenten erleichtert, wie ge-
sagt, den vertragsmäßigen Ausschluß der Konkurrenz.
V.
Nachdem wir so die Gründe der Entwickelung der heutigen
amerikanischen Trustform gezeichnet haben, können wir zur Beant-
wortung der Hauptfrage übergehen: Was veranlaßt die weit ausge-
breitete Anschauung, daß diese Unternehmungsform sich auch bei
uns werde entwickeln müssen bezw. schon in der Entwickelung be-
griffen sei? Was zunächst die letztere Meinung betrifft, als beständen
schon Trusts im Sinne der amerikanischen Kontrollgesellschaften
bei uns, so ist sie, mit einer gleich zu erwähnenden Ausnahme, un-
richtig. Es gibt wohl zahlreiche Unternehmungen bei uns, die die
Aktien oder Obligationen anderer Gesellschaften in ihrem Besitz
haben: finanzielle Trustgesellschaften ?2), Investment Trusts u. dgl.,
die ich unter dem Namen Beteiligungsgesellschaften zusammenfasse
und in einer späteren Studie systematisch darzustellen gedenke, aber
1) S. Meade, a. a. O. S. 111.
2) Diesem von Jörgens a. a. O. eingeführten Ausdruck habe ich schon in Schutz-
zoll und Kartelle (S. 69) als unzweckmäßig zurückgewiesen. Lexis im Handwörterbuch
der Staatswissenschaften, Bd. IV, 976 und Rathgen im Wörterbuch der Volkswirtschaft,
II. Aufl., Bd. I, S. 828 sprechen von Finanz- bezw. Finanz- und Trustgesellschaften
in etwas weiterem Sinne. An einer scharfen Unterscheidung der verschiedenen Formen
fehlt es hisher.
22*
340 Robert Liefmann,
es gibt keine Unternehmungen bei uns, die begründet sind, um die
Mehrheit der Aktien anderer Unternehmungen zu erwerben, zum
Zwecke der Beherrschung und Unterwerfung dersel-
ben unter einer einheitlichen Verwaltung.
Es gibt meines Wissens nur eine einzige Ausnahme und das
ist keine deutsche, sondern eine in England inkorporierte Gesell-
schaft, die allerdings den größten Teil ihres Geschäftsbetriebes in
Deutschland hat: The Nobel Dynamite Trust Company Ltd. Es ist
dies eine Holding Company in den Formen eines wirklichen Trust
im Sinne des englischen Rechts; an der Spitze steht nämlich ein
Board of Directors, der die Direktoren der Einzelgesellschaften um-
faßt, aus denen sich der Trust gebildet hat. Aber nicht nur diese,
sondern auch einige andere Personen, so der Generaldirektor der
Cöln-Rottweiler Pulverfabriken, die mit dem Trust in Kartell stehen,
ein Direktor der Norddeutschen Bank in Hamburg gehören zu diesem
Komitee. Das Unternehmen ist eine Holding Company, weil dieser
Board of Directors nun nicht von sich aus Trustcertifikate ausge-
geben hat, sondern es ist, wie schon der Name sagt, eine besondere
Aktiengesellschaft gegründet worden. Die Gründung ist in keiner
Weise nach dem Vorbilde der amerikanischen Trusts erfolgt, denn
bei Errichtung im Jahre 1886 gab es in Amerika überhaupt erst
2 Trusts. Bei der Gründung wurde eine englische Dynamitfabrik
und 4 deutsche aufgenommen, die letzteren waren schon vorher
in einem Kartell vereinigt. Die Gesellschaft hat sich dann auf ver-
schiedene andere Länder ausgedehnt. In ähnlicher Weise wurden
die französischen, italienischen, schweizerischen u. s. w. Sprengstof-
fabriken, die nach den Nobelschen Patenten arbeiten, in der Société
centrale de la Dynamite vereinigt.
Der Dynamittrust hat bis heute in Deutschland keine Nachfolge
gefunden. Wenn mehrere Unternehmungen derselben Art sich in
Deutschland unter eine einheitliche Organisation bringen wollen, so
hat sich entweder die größte an den anderen beteiligt, oder sie
haben sich fusioniert, oder sie haben, wenn ihre Zahl gering ist,
eine Interessengemeinschaft geschlossen. Der Weg aber,
sie in einer gemeinsamen Kontrollgesellschaft zusammenzu-
fassen, ist in Deutschland nicht üblich.
Es ist auch nach meiner Kenntnis und Auffassung der heutigen
kapitalistischen Strömungen in der deutschen Volkswirtschaft nicht
anzunehmen, daß die Kontrollgesellschaften in absehbarer Zeit bei
uns eine bedeutende Entwickelung nehmen werden. Die Gründe da-
für finden wir in gewissem Sinne durch Umkehrung der obigen Er-
örterungen, welche untersuchten, weshalb man in Amerika nicht bei
den oben geschilderten, uns eigentümlichen Organisationen ge
blieben ist.
In Deutschland mit seiner so vielälteren und ruhiger entwickelten
Kultur, seinen stabileren und einheitlicheren Rechtsverhältnissen,
seiner weniger heftigen und weniger tiefgreifenden Börsenspekulation,
mit seinen gemäßigteren und weniger rücksichtslosen Formen des
Die heutige amerikanische Trustform und ihre Anwendbarkeit in Deutschland. 341
Wettbewerbs genügten zur Ausschaltung des letzteren rein ver-
tragsmäßige Vereinigungen, wie Kartell und Interessengemein-
schaften sie darstellen. In den Vereingten Staaten, wo auch die Rechts-
ordnung ihnen weniger günstig war, haben derartige komplizierte Ver-
träge wenig Ausicht auf Erfolg und allgemeine Durchführung. Dort
mußte, wenn ein Auschluß des Wettbewerbs erfolgen sollte, eine
Einheitlichkeit des Vermögensbesitzes zur Durchführung
gelangen. Es genügte nicht, vertragsmäßig die Gewinne zu ver-
teilen und dadurch den Antrieb zur Konkurrenz auszuschalten,
sondern es mußte eine Eigentumsgemeinschaft geschaffen werden.
Dafür war die Holding Company diejenige Form, die den so zu-
sammengefaßten Unternehmungen den weitesten Spielraum, die größte
Selbständigkeit ließ.
Genau derselbe Spielraumaberist beiuns gegeben
doch die oben charakterisiertte Verschiedenheit der Me-
thoden, einen Zusammenschluß und eine Verein-
heitlichung von Unternehmungen herbeizuführen. Wir
haben also keine besonderen Kartellgesellschaften nötig, weil ihre
Wirkungen, je nachdem was man bezweckt, mit den verschiedenen
Mitteln der Fusionen und Kombinationen, der Beteiligungen und
Bildung von Interessengemeinschaften erreicht werden können. Aller-
dings ist die Vereinheitlichung einer ganzen Industrie durch direkte
Beteiligung oder Fusionierung nur in kleineren Industrien möglich.
Nur in solchen ist es denkbar, daß eine der größten Unternehmungen
die anderen alle in sich aufnimmt oder sich durch direkte Beteilig-
ung an allen anderen die Herrschaft über sie sichert. In kleineren
Industrien werden daher zwar keine besonderen Kontrollgesell-
schaften, wohl aber möglicherweise Trusts in diesem Sinne, Ver-
schmelzungen des größten Teils der in Betracht kommenden Unter-
nehmungen durch Fusion oder Beteiligung zu stande kommen, da
bei uns nicht die rechtlichen Hindernisse vorhanden sind wie in
Amerika. Solche gibt es auch schon bei uns und namentlich sind
sie in Oesterreich nicht selten t). Die meisten Fusionen aber haben
keine Monopolstellung. Für kleinere Industrien brauchen wir also
besondere Kontrollgesellschaften nicht, weil, wenn die Kartellbildung
als ein zu loses Band erscheinen sollte, die direkte Verschmelzung
1) Den Charakter einer monopolistischen Fusion hat z. B. die Aktiengesellschaft
österreichischer Fezfabriken, in gewissem Grade auch wohl die Aktiengesellschaft für
chemische Industrie (österreichischer Leimtrust), neuerdings die Aktiengesellschaft Solo
(österreichischer Zündwarentrust) und der in Bildung begriffene Trust der- Emaillege-
schirrfabriken. Wo kein vollständiges Fusionsmonopol erzielt ist, stehen die fusionierten
Fabriken aber doch mit den außerhalb befindlichen in Kartell. Uebrigens haben, um
das hier schon zu erwähnen — auf die deutschen Verhältnisse wird unten näher ein-
gegangen werden — die österreichischen Banken bei der Gründnng dieser Organisationen
eine viel größere Rolle gespielt als dies in Deutschland seitens der Banken der Fall
war. Es liegt dies wohl daran, daß überhaupt in Ländern mit geringerem Kapitalreich-
tum, weniger vorgeschrittener kapitalistischer Entwickelung und weniger abgeschlossenem
Gründungswesen der Einfluß der Banken auf industrielle Unternehmungen größer zu
sein pflegt.
342 Robert Liefmann,
zur Verfügung steht. Für große Industrien aber hat die Unter-
werfung unter eine Kontrollgesellschaft keine überwiegenden Vorteile.
Vielmehr überwiegen die Nachteile und Gefahren, die mit ihnen ver-
bunden sind. Wenn hier die Kartellbildung nicht genügt — und
daß sie nicht genügt, zeigt sich immer mehr — dann ist der Weg der,
daß sich durch engeren Zusammenschluß, Fusionen
und Beteiligungen einige wenige große Unterneh-
mungskomplexe bilden und diese schließen dann Kar-
telle. Das ist die heute erkennbare Entwickelungin
Deutschland. Für die Bildung einer kleinen Zahl derartiger
. Unternehmungsgruppen braucht man aber keine Kontrollgesellschaften.
Hier genügen unsere direkten Beteiligungen, Fusionen und Interessen-
gemeinschaften, um auf einem lokal- oder technisch enger abge-
grenzten Gebiete eine Einheitlichkeit herbeizuführen. Den allge-
meinen Ausschluß der Konkurrenz vermögen dann diese großen
Unternehmungskomplexe durch Kartelle zu vollziehen, die, je geringer
die Zahl der Beteiligten ist, um so leichter zu stande kommen und
um so sicherer Bestand haben.
Daß dieser Weg heute bei uns beschritten wird, habe ich in
anderen Arbeiten gezeigt, wo ich die Entwickelungstendenzen, die
neben den Kartellen in der deutschen Volkswirtschaft zu konstatieren
sind, schilderte. „Welchen Vorzug hat es — schrieb ich 1903!) —
wenn alle deutschen Eisenwerke zu einer einzigen Riesengesellschaft
vereinigt sind; selbst wenn es deren mehrere gibt, ist die umfassendste
Angliederung vorausgehender und nachfolgender Produktionsstadien
in größtem Umfang möglich u. s. w.“ „Es ist nicht einzusehen,
weshalb nicht z. B. das Vorhandensein weniger großer Betriebe,
die miteinander in Kartell stehen, ebenso zweckmäßig sein kann
und warum sie gerade eine einzige Gesellschaft bilden müssen.“
Daher brauchen wir auch hier keine Kontrollgesellschaften, und
die Trusts haben, wenn man nicht dem Wort eine ganz unzu-
lässige Ausdehnung geben will, in absehbarer Zeit bei uns keine
Zukunft.
Es ist deshalb meines Erachtens nicht richtig, wenn bei jeder
größeren Fusion, wie z. B. neuerdings der Gelsenkirchener Berg-
werksgesellschaft mit dem Schalker Gruben- und Hüttenverein und
dem Aachener Hüttenverein Rote Erde, oder wie bei der Ver-
schmelzung der Bergwerksgesellschaft Nordstern mit Phönix-Hörde,
die Presse davon spricht, daß die Entwickelung „vom Kartell zum
Trust“ gehe, die Trusts die Kartelle immer mehr verdrängen. Selbst
wenn man meinetwegen jede sehr große kombinierte Unternehmung
Trust nennen will — gegen den einmal populär gewordenen Sprach-
gebrauch ist ja schwer anzukämpfen — ist es doch falsch, von einer
Beseitigung und Ersetzung der Kartelle durch die Trusts zu reden.
Natürlich, die heutige Organisation mancher Kartelle, das heutige
1) Schutzzoll und Kartelle, S. 37.
Die heutige amerikanische Trustform und ihre Anwendbarkeit in Deutschland. 343
Kohlensyndikat, das ursprünglich nur für die reinen Kohlenzechen
gegründet war, der jetzige Stahlwerksverband werden eine große
Umwandlung erleiden — und unsere Handels- und Börsenpresse
beschränkt ihr Interesse ja zumeist auf die Verhältnisse des Augen-
blicks — aber auch die so herbeigeführten Erschütterungen dieser
Kartelle sind nicht größer als sie z. B. im Kalisyndikat vorhanden
sind, wo bisher von Trustbildungen nichts zu verzeichnen war.
Jedenfalls ist nicht anzunehmen, daß die so entstehenden wenigen
großen Unternehmungskomplexe wie die Gelsenkirchener, die Phönix-
gruppe, der Thyssen-, Haniel-, Krupp-„Konzern*“ sowie die einst-
weilen noch isolierten großen Werke sich schließlich alle zu einem
einzigen wirklichen Trust verschmelzen werden, und ebensowenig
ist daran zu denken, daß sie sich einmal längere Zeit bekämpfen
könnten. Daher werden die Kartelle nach wie vor ihre Bedeutung
behalten. Sie haben die Entwickelung zu großen kombinierten Unter-
nehmungen gefördert und verändern sich mit ihnen, aber ihr Prinzip
bleibt bestehen und ebenso ihre volkswirtschaftliche Bedeutung.
Dies ist, sozusagen, die volkswirtschaftliche Seite der
Frage, die auf die Entwickelung der für den wirtschaftlichen Fort-
schritt notwendigen Organisationsformen gerichtet ist. Ihr steht
gegenüber die privatwirtschaftliche Seite, die von der Möglichkeit
ausgeht, daß das Aufkommen von Kontrollgesellschaften in Deutsch-
land vielleicht im Interesse gewisser Erwerbskreise liegen und diese
auch die Macht haben können, sie durchzusetzen ; die Auffassung also,
daß wir zwar für den wirtschaftlichen Fortschritt besondere Kontroll-
gesellschaften nicht brauchen, daß sie aber trotzdem entstehen
könnten, geschaffen aus dem Interesse gewisser Erwerbskreise. Dies ist
die populäre Anschauung des Problems. Sie geht auf die sozialistische
Gedankenwelt zurück, tritt aber in zwei Formen auf. Die einen, un-
klarsten, meinen, daß „das Großkapital“, wie man sich möglichst
unbestimmt ausdrückt, die Tendenz habe, alle Unternehmungen an
sich zu reißen. Der unpersönliche Kapitalismus, ein um so ge-
heimnisvollerer Moloch, je weniger man sich unter diesem Schlag-
wort vorstellen kann, werde alles verschlingen. Die anderen fassen
die Sache mehr individualistisch auf und meinen, daß, wie in den
Vereinigten Staaten Morgan, Rockefeller u. s. w., so auch bei uns
die Thyssen, Kirdorf, Rathenau u. A. nur darauf ausgingen, schließ-
lich die Herrschaft und den Besitz ganzer Industrien an sich zu
reißen. Aber selbst bürgerliche Nationalökonomen, die die tatsäch-
lichen Verhältnisse nicht genügend studiert haben und einige wenige
Fälle unzulässig verallgemeinern, reden gerne davon, daß „das Groß-
kapital“, „Bank und Börseninteressen* bei den neuen Entwickelungs-
erscheinungen der Kartelle, Kombinationen, Fusionen, Beteiligungen,
Interessengemeinschaften eine größere Rolle gespielt haben und
spielen als die Bedürfnisse des Lebens und die Notwendigkeit des
wirtschaftlichen Fortschritts, und daß, weil in Amerika die Trusts
gerade in finanzieller Hinsicht zu großen Mißbräuchen geführt haben,
344 Robert Liefmann,
dies auch bei uns eintreten müßte. Man verkennt dabei, daß die
Voraussetzungen und die ganze Entwickelung bei uns wesentlich
andere sind als in den Vereinigten Staaten.
Was zunächst den unpersönlichen Kapitalismus betrifft, so denkt
man dabei an die großen Banken. Die enorme Ausdehnung der-
selben, die bekannte „Konzentration“, ist ja eine viel erörterte Er-
scheinung geworden und weit verbreitet, selbst in der wissenschaft-
lichen Literatur, ist die auch wieder durch den Sozialismus
imputierte Anschauung, daß das in den Banken konzentrierte un-
persönliche Großkapital allmählich die Herrschaft über die Industrie
an sich reißen und deren Entwickelung und Weiterbildung dann
nicht mehr durch produktionstechnische Gesichtspunkte, sondern
weitgehend durch Bank- und Börseninteressen bestimmt und ge
leitet werden würde.
Um von der Vertretung derartiger Ansichten in der Tagespresse
ganz abzusehen, hat namentlich Adolf Wagner in der Kartellenquete
diese Anschauung betont!), und auch in den Verhandlungen des
Vereins für Sozialpolitik ist sie mehrfach und zwar regelmäßig unter
erheblicher Zustimmung aus der Versammlung vertreten worden,
vor allen von Georg Bernhard, dem zufolge „die übertrieben schnelle
(industrielle) Konzentration in der Hauptsache auf die Entwickelung
unseres Bankwesens zurückzuführen ist“ ?2). Das ist nun keinesfalls
richtig, und wenn auch diesem Autor nicht, wie manchen anderen,
die ähnliche Anschauungen vertreten haben, eine nähere Kenntnis
1) Verhandlungen über die Stahlwerksverbände, Bd. 4, S. 409.
2) Verhandlungen S. 326. — Charakteristisch dafür, wie weit infolge mangelnder
Detailkenntnisse die Anschauungen über diese Fragen auseinandergehen können, ist,
daß z. B. Alfred Weber in der letzten seiner Thesen für den nationalsozialen Vertreter-
tag gerade von den Banken die Führung im Kampfe gegen die Kartelle und zu den von
ihm gewünschten Trusts erwartet: „Aufgabe unseres Bankwesens — sagt er — wird &
sein, unseren weiterverarbeitenden Industrien diejenigen Organisationsformen zu geben
die sie von der Preiserhöhung ihrer Materialien durch die Kartelle befreien, und für des
internationalen Konkurrenzkampf kräftiger wachen (Finanzierung von Kombinations-
unternehmungen. die alle Produktionsstufen umfassen)“. Nun ist es ganz richtig, daß die
Kombinationstendenz, die teils neben den Kartellen sich entwickelt, teils durch sie ge
fördert wird, hier und da, namentlich unter dem Einfluß der neuesten Reichsgerichts-
entscheidungen in der Hüttenzechenfrage, den Bestand einiger heutiger Kartelle ge-
führdet. Aber erstens sind diese Kombinationen mtt einer Ausnahme (s. unten) nicht
durch die Banken ins Leben gerufen worden, zweitens ist es ganz verkehrt, anzunehmen,
daß die Kombinationsunternehmungen eine Befreiung von den Kartellen bedeuten, sie
überflüssig machen würden; und noch verkehrter ist es natürlich drittens, von den Ban-
ken Förderung in dieser Richtung zu erwarten. Gewiß, die Banken werden stets
gern Fusionen schaffen, weil dabei etwas zu verdienen ist, aber daß sie berufen sein
könnten, unserer Industrie die zweckmäßigste Organisation zu geben, davon kann im
Ernst nicht die Rede sein. Unsere Bankdirektoren als Organisatoren der Industrie
im Kampf gegen die Kartelle! Das ist sicherlich noch keinem derselben in seinen
kühnsten Träumen eingefallen, und wer derartiges für möglich hält, muß dies
Herren, wie unsere Industriellen sehr wenig kennen. — Mit der hier vertretenen An-
schauung übereinstimmend H. Schuhmacher, Die Ursachen und Wirkungen der Konzen-
tration im deutschen Bankwesen in Schmollers Jahrbuch, Bd. 38, Heft 3, der auch
betont, daß die Führung bei der industriellen Weiterbildung jedenfalls die Industrie
selbst und nicht das Bankgewerbe haben werde.
Die heutige amerikanische Trustform und ihre Anwendbarkeit in Deutschland. 345
unserer industriellen Verhältnisse abgesprochen werden kann, so bin
ich doch der Meinung, daß sie bei ihm ebenso wie bei A. Wagner
mehr auf vorgefaßte Meinung, d. h. auf die allgemeine Grund-
anschauung von der Entwickelung zum Sozialismus, als auf tat-
sächlicher Kenntnis beruht. Die wenigen Fälle, daß wirklich die
Banken in die Weiterbildung der industriellen Organisationen be-
stimmend eingegriffen haben, werden unzulässig verallgemeinert.
In dieser Ansicht stimme ich, wie ich in einer persönlichen Unter-
haltung vor Erscheinen seines Buches feststellte, mit Dr. Jeidels
überein, der die Beziehungen zwischen Banken und Industrie am
eingehendsten untersucht hat !).
Im allgemeinen hat sicherlich Kirdorf vielmehr recht mit seiner
scharfen Formulierung), daß „niemals der Einfluß der Großbanken
in der Großindustrie Rheinlands und Westfalens vorher so gering
gewesen sei, wie er zur Zeit ist“. Es ist natürlich, daß mit der
Ausdehnung des Aktienwesens die Bedeutung der Banken für die
Industrie im allgemeinen wuchs, aber es ist in der Tat kein Zweifel,
daß sie gerade deshalb in den Zeiten, als die meisten Aktiengesell-
schaften gegründet wurden, also z. B. in den 70er Jahren, größer
war als heute, wo doch die Gründungsbewegung ihren Höhepunkt
schon überschritten hat. Und wenn es auch vielleicht etwas über-
trieben ist, wenn Kirdorf meinte: „Die Großbanken buhlen um das
Wohlwollen der Industrie, aber nicht umgekehrt“, so trifft es doch
sicher das Richtige, wenn mir schon vor einigen Jahren ein Direktor
der Deutschen Bank sagte: „Wenn Thyssen zu uns kommt, schwindelt
uns immer der Kopf von all den großen Plänen, die er mit unserem
Gelde ausführen will“. Und ein anderer meinte nach einer solchen
Konferenz mit diesem Manne, der bei der Weiterbildung unserer
industriellen Organisationen mehr die treibende Kraft gewesen ist
als alle deutschen Bankdirektoren zusammen: „der verfügt ja über
unsere Millionen, als ob sie ihm gehörten“.
Eines ist richtig: Wenn die Banken den Versuch machen wollten,
unsere Industrie zu beherrschen, dann wären die Kontrollgesell-
1) Ich selbst habe eine dahingehende, schon ziemlich weitgeführte Untersuchung,
für die ich seit Jahren Material sammelte, eben des negativen Resultats wegen,
zu dem ich gelangte und das keine befriedigende Darstellung ermöglichte, wieder
aufgegeben. — Als charakteristisch für die Gründlichkeit Plengescher Kritik sei übrigens
angeführt, daß er meine diesbezüglichen Anschaunngen einfach mit dem Hinweis auf
das Buch von Jeidels widerlegen zu können glaubt, welches in keiner Weise etwas
meinen Anschauungen Widersprechendes enthält. — Daß das negative Resultat hinsicht-
lich des Einflusses der Banken auf die Weiterbildung der industriellen Organisation bei
Jeidels nicht so deutlich hervortritt, hat darin seinen Grund, daß er naturgemäß vor
allem die wenigen Fälle anführt, in denen ein solcher Einfluß vorhanden war. Da-
durch können Leute, die die Verhältnisse nicht aus eigenen Feststellungen kennen,
leicht verleitet werden, diese Fälle zu verallgemeinern, zumal wenn sie mit ihrer son-
stigen allgemeinen wirtschaftspolitischen Ideenrichtung übereinstimmten.
2) a. a. O. S. 285. Es sei übrigens, namentlich auch den Angriffen Plenges
gegenüber, darauf hingewiesen, daß ich schon 1905 an dieser Stelle dieselbe Anschauung
vertreten und näher begründet habe (Zur heutigen Lage der deutschen Gußeisenindustrie
Bd. 30, S. 676).
346 Robert Liefmann,
schaften die gegebene Organisationsform, die eine rein finanzielle
Beherrschung und damit die Durchführung der größten Einheitlich-
keit gestattet und doch technisch und kommerziell den einzelnen
Unternehmungen den weitesten Spielraum läßt. Sicher ist auch und
bekannt genug, daß sich die Banken bei uns nicht auf die regu-
lären Bankgeschäfte, die kurzfristigen Kreditgeschäfte und etwa
den Hypothekarkredit beschränken; sie wollen an Handel und In-
dustrie nicht nur durch Gewährung von Umlaufskredit verdienen.
So ergriffen sie zunächst das Gründungsgeschäft als ein geeignetes
Feld gewinnbringender Betätigung. Nachdem nun aber in Deutsch-
land nicht mehr genügend zu gründen ist, um ihre großen Kapitalien
dauernd zu beschäftigen, suchen sie neue Erwerbsgelegenheiten.
Einerseits wendeten sie sich mehr ausländischen Gründungsgeschäften
zu. Es ist möglich, daß sie in Zukunft häufiger als bisher besondere
Beteiligungsgesellschaften gründen, welche die so geschaffenen Werte,
die schwer ans Publikum zu bringen sind, aufnehmen. Aber das sind
keine Kontrollgesellschaften, sie werden nicht errichtet, damit die
Banken mit ihnen eine größere Zahl von Unternehmungen unter ein-
heitliche Verwaltung bringen und beherrschen, sondern sie stellen
einen anderen Typus der Beteiligungsgesellschaft dar, den ich als
Effektenübernahmegesellschaft bezeichne.
Einen anderen Ersatz für das Gründungswesen haben die Banken
heute in den Fusionierungen gefunden. Es ist ja möglich, daß
einmal auf diesem Gebiete zu viel geschieht, daß die Banken in
erster Linie ihres Gewinnes wegen, nicht um wirtschaftlicher und
technischer Fortschritte willen, sich bei Fusionen beteiligen, daß wir
einmal einen „Fusionsschwindel“ erleben, wie es einen Gründungs-
schwindel gab. Aber bisher sind nicht die geringsten Anfänge dazu
zu konstatieren. Was an Fusionen großer Unternehmungen zu stande
gekommen ist, verdankt seine Entstehung fast ausschließlich An-
regungen aus der Industrie; denn fast immer sind auch die In-
dustriellen allein und nicht die Bankdirektoren im stande, die
mutmaßlichen Vorteile von Verschmelzungen und Kombinationen
vorauszusehen. Es gibt eigentlich nur einen einzigen Fall, daß ein
Bankinstitut ganz von sich aus eine große Unternehmung aus anderen,
an denen es zum Teil finanziell stark beteiligt war, zusammenge-
schweißt und nach amerikanischen Vorbildern finanziert hat. Das
ist die Bildung und Ausgestaltung der deutsch-luxemburgischen
Bergwerksgesellschaft, und der Spiritus actor dieses Unternehmens,
der einzige deutsche Bankdirektor, der versucht hat, amerikanische
Finanzierungs- und Verschmelzungsmethoden nach Deutschland zu
verpflanzen, ist inzwischen seiner Wirksamkeit als „Finanzierungs-
und Sanierungsrat* zur Erfüllung größerer Aufgaben entzogen
worden!). Etwas Derartiges kann aber gar nicht sehr häufig vor-
1) Gerade der Fall der deutsch-Juxemburgischen Bergwerksgesellschaft, der zu
Kurstreibereien und Spekulationen geführt hat, wie sie sonst in Deutschland selten sind,
zeigt aber, wohin wir kommen würden, wenn (was Alfred Weber wünscht und andere
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Die heutige amerikanische Trustform und ihre Anwendbarkeit in Deutschland. 347
kommen. Denn es ist nur dann möglich, wenn Unternehmungen
notleidend und ganz abhängig von den ihnen kreditierenden Banken
sind. Das sind aber nur ganz wenige, und die großen Unterneh-
mungen der Eisen- und Kohlenindustrie sind mit zwei Ausnahmen
keineswegs in den Händen der Banken.
Es ist auch richtig, daß die Banken an den umfassendsten
modernen Organisationen, an den Kartellen, ein Interesse haben.
Aber dieses Interesse der Banken ist auf den Bestand und möglichste
Stabilität des Kartells gerichtet. Und es ist nicht deswegen vor-
handen, weil eine Bank an dem einen oder den anderen kartellierten
Unternehmen finanziell interessiert ist, sondern weil sie überhaupt
an der Herbeiführung einer größeren Ruhe und Stetigkeit im Wirt-
schaftsleben und der damit geschaffenen größeren Sicherheit aller
Kreditverhältnisse ein Interesse haben.
Trotzalledem tritt aber nirgends ein Streben der großen Banken
zu Tage, ganze Industriezweige dauernd zu beherrschen und zu
diesem Zwecke sich Kontrollgesellschaften anzugliedern. Es wäre
dies auch nur denkbar, wenn sich die Banken auf bestimmte In-
dustrien spezialisieren würden. Aber davon ist keine Rede, sie
machen sich vielmehr auf den meisten Finanzierungsgebieten scharfe
Konkurrenz. Wenn aber irgendwo eine Bank versuchen wollte, einen
ganzen Unternehmungszweig kapitalistisch zu beherrschen, würde
unsere Großindustrie wohl stark genug sein, dem entgegenzutreten.
Von dem in den Banken verkörperten, unpersönlichen Kapital
ist also die Errichtung von Kontrollgesellschaften und die Zusammen-
fassung ganzer Industrien oder größerer Unternehmungskomplexe
in solchen nicht zu erwarten. Es bleibt daher nur die Möglichkeit,
daß auch bei uns Kapitalmagnaten als Finanziers großen Stiles auf-
treten und nach Art eines Rockefeller ganze Industrien zu beherrschen
trachten. Eine solche Möglichkeit ist aus verschiedenen Gründen
bei uns gering. Sie ist in Amerika und England in viel größerem
Umfange vorhanden; denn dort ist das Gründen und Finanzieren
in der Hauptsache eine Erwerbstätigkeit von Privatleuten und vom
eigentlichen Bankgeschäft ganz getrennt. Daher ist es dort viel
eher möglich, daß gelegentlich organisatorische Finanzierungstalente
ungeheuere Kapitalzusammenballungen in die Wege leiten. Bei uns
dagegen liegt die Emissions- und Finanzierungstätigkeit zum weitaus
größten Teil bei den großen Kreditbanken. Private Kapitalmagnaten
fürchten, aber als schon vorhanden annehmen) wirklich ein Einfluß der Banken auf
die industriellen Organisationen allgemein und maßgebend sein würde. Es hat fast den
Anschein, als ob diese Gesellschaft, die die Darmstädter Bank, um nach berühmten
Mustern Sanierungsgewinne zu erzielen, aus verschiedenen notleidenden Unternehmungen
zusammengeschweißt hat, auch von allen neueren großen Fusionen und Kombinationen der
Eisenindustrie die am meisten willkürliche und am wenigsten technisch gelungen wäre.
Und ohne selbst in den mehrfach gerügten Fehler unzulässiger Verallgemeinerungen zu
fallen, möchte ich doch behaupten, daß im allgemeinen die Initiative der Banken in
diesen Dingen sicherlich nicht erwünscht, sondern eher mit Mißtrauen zu betrachten ist,
und daß diejenigen Verschmelzungen und Kombinationen, die von der Industrie selbst
ausgehen, mehr Wahrscheinlichkeit haben, von wirtschaftlichen Nutzen zu sein.
348 Robert Liefmann,
haben ihr Kapital fast immer in der Industrie stecken, nicht aber
wie englische und amerikanische Finanziers als Geldkapital zur Ver-
fügung, und der größte private Geldkapitalbesitzer Deutschlands, die
Firma Mendelssohn, hält sich überhaupt von allen Finanzierungs-
und Emissionsgeschäften (abgesehen von der Uebernahme von Staats-
und Kommunalanleihen) fern.
Die Verquickung unserer Kreditbanken mit dem Emissionsge-
schäft bietet also eine gewisse Gewähr, daß private Finanziers in
Deutschland nicht die Rolle spielen wie in den Vereinigten Staaten
und in England. Auch sonst sind die Verhältnisse dem Aufkommen
solcher Leute bei uns nicht günstig. Die öffentliche Meinung, die
die Ansammlung großer Industriekapitalien in den Händen eines
Krupp, Borsig, Thyssen und anderer Industriemagnaten ruhig er-
trägt, würde sich einem Börsen- und Spekulationskönige gegenüber,
der seine Herrschaft über ein ungeheueres Effektenkapital günstigen
Börsenspekulationen verdankt!), ganz anders verhalten, während in
Amerika, bei der urteilslosen, großen Masse wenigstens, nur der
„Wert“ eines Mannes in Millionenziffern seines Vermögens ausge-
drückt in Betracht kommt, der erfolgreiche Spieler kaum weniger
bewundert wird als der erfolgreiche Industrieunternehmer.
Auch dürfte es bei unserer ja viel zahmeren Börsenspekulation
gar nicht so leicht möglich sein, durch Spekulationen so große Ver-
mögen zusammenzubringen, wie sie zur Beherrschung ganzer In-
dustrien nötig sind. Und wenn auch so große Spekulanten auftreten
würden, würden sie, sobald sie versuchen sollten, durch Bildung
von Kontrollgesellschaften das Publikum und dessen Kapital heran-
zuziehen, sich aber die Herrschaft zu bewahren, sich doch einem viel
urteilsfähigeren und nicht so spekulationslustigen Publikum gegen-
übersehen.
So scheint mir die bisherige Entwickelung des „modernen Kapi-
talismus“ in Deutschland, die vielfach auftretenden pessimistischen
Zukunftserwartungen nicht zu rechtfertigen. Es liegen keine An-
zeichen vor, daß wir amerikanischen Trustmißständen auch bei uns
entgegengehen, noch weniger, daß wir damit und danach direkt dem
Sozialismus zusteuern. Nicht als ob die Entwickelung zu Monopolen
und Riesenunternehmungen keine Gefahren mit sich brächte, aber
diese liegen meines Erachtens nicht sowohl im Entstehen derselben,
als in der Art, wie sie gehandhabt werden. Hier kann aber die
allgemeine kulturelle Erziehung des Volkes der Ausbreitung eines
brutalen, geschäftlichen Egoismus und rücksichtslosen
Mammonismus — in dessen Verwerfung jeder mit Schmoller,
der diese Gefahren besonders betont hat?), übereinstimmen wird —
wohl erfolgreich entgegenwirken, eine Erziehung, die den rein beruf-
1) Allerdings ist der Fall, daß solche Spekulanten ihren Besitz längere Zeit
aufrecht zu erhalten vermochten, bisher nur äußerst selten vorgekommen.
2) In seinem Referat in den Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik.
Die heutige amerikanische Trustform und ihre Anwendbarkeit in Deutschland. 349
lichen Interessen gegenüber dem Sinn für Natur, Kunst und körper-
liche Ausbildung (Sport u. dergl.) weckt.
Wenn gleichzeitig in den weitesten Schichten das soziale Em-
pfinden gestärkt wird und in der Gesetzgebung und in der Verwaltung
der großen Unternehmungen entsprechenden Ausdruck findet, dann
dürfte auch die zweite Gefahr, daß die immer zahlreicher werdende
Schar der Arbeiter und Angestellten bei dieser Entwicke-
lung geschädigt werde, nicht unvermeidlich sein. Und wenn dann
trotzalledem noch die dritte und Hauptgefahr auftritt, daß die
Monopole hie und da ihre Macht im Interesse kleinerer Wirtschafts-
kreise gegen die letzten Konsumenten auszubeuten versuchen,
dann dürfte es doch, wie ich in anderen Arbeiten erörtert habe, den
öffentlichen Gewalten nicht an Mitteln fehlen, sie in ihre Schranken
zu weisen, auch ohne daß man gleich an das Allheilmittel des
Sozialismus, die Verstaatlichung, zu denken braucht, die vielmehr
wohl nur in Ausnahmefällen als Lösung in Betracht käme.
350 Nationalökonomische Gesetzgebung.
Nationalökonomische Gesetzgebung.
III.
Die wirtschaftliche Gesetzgebung des Deutschen Reiches
im Jahre 1906.
Von Albert Hesse, Halle a. 8.
Reichsgesetzblatt 1906.
Uebereinkunft zum Schutze der für die Landwirtschaft nützlichen
Vögel. Vom 19. März 1902, S. 89.
Viehseuchenübereinkommen zwischen dem Deutschen Reiche und
Oesterreich-Ungarn. Vom 25. Januar 1905, S. 287.
Bekanntmachung, betr. das Gesetz über die Schlachtvieh- und
Fleischbeschau, vom 3. Juni 1900. Vom 14. Juni 1906, S. 737.
Kaiserliche Bergverordnung für die afrikanischen und Südseeschutz-
gebiete, mit Ausnahme von Deutschsüdwestafrika. Vom 27. Februar 1906,
S. 363.
I. Allgemeine Vorschriften. a) Edelmineralien. b) Gemeine Mineralien.
II. Vom Schürfen. A) Im allgemeinen. B) Vom Schürffelde.e III Vom Berg-
bau. A) Vom Bergwerkseigentum im allgemeinen. B) Von den einzelnen Rechten und
Pflichten des Bergwerkseigentümers. C) Von der Aufhebung des Bergwerkseigentums.
IV. Von den Rechtsverhältnissen zwischen den Bergbautreibenden
und den Eigentümern von Grundstücken sowie den zur Nutzung der
Grundstücke Berechtigten. A) Von der Grundabtretung. B) Von dem Schadens-
ersatze für Beschädigungen von Grundstücken. V. Von der Bergpolizei. VI. Straf-
bestimmungen. VII. Schlußbestimmungen.
Bekanntmachung, betr. den Schutz von Erfindungen, Mustern und
Warenzeichen auf den 1906 in Mailand und in Berlin-Schöneberg statt-
findenden Ausstellungen. Vom 26. Februar 1906, S. 361.
Bekanntmachung, betr. den Schutz von Erfindungen, Mustern und
Warenzeichen auf der 1906 in Nürnberg stattfindenden Ausstellung.
Vom 3. April 1906, S. 460.
Bekauntmachung, betr. den Schutz von Erfindungen, Mustern und
Warenzeichen auf der 1906 in Dresden stattfindenden Kunstgewerbe-
ausstellung. Vom 12. April 1906, S. 461.
Verordnung zur Ausführung des Gesetzes zum Schutze der Waren-
bezeichnungen vom 12. Mai 1894. Vom 17. Mai 1906, S. 474.
Bekanntmachung, betr. Ausnahme von dem Verbote der Sonntags-
arbeit im Gewerbebetriebe Vom 23. Mai 1906, S. 475.
Bekanntmachung, betr. die Beschäftigung von Arbeiterinnen und
Nationalökonomische Gesetzgebung. 351
jugendlichen Arbeitern in Walz- und Hammerwerken. Vom 6. Juli
1906, S. 653.
Bekanntmachung, betr. die Erweiterung der Rayons für die Festung
Graudenz. Vom 2. August 1906, S. 857.
Handels-, Zoll- und Schiffahrtsvertrag zwischen dem Deutschen
Reiche und Bulgarien. Vom 1. August 1905, S. 1. Dazu Berichtigung
auf S. 142.
Notiz, betr. Inkraftsetzung des Tarifs B und der darauf bezüglichen
Bestimmungen des deutsch-bulgarischen Handels-, Zoll- und Schiffahrts-
vertrags vom 1. August 1905, S. 102.
Zusatzvertrag zum Handels- und Zollvertrage zwischen dem Deutschen
Reiche und Oesterreich-Ungarn vom 6. Dezember 1891. Vom 25. Januar
1905, S. 143. — Erklärung über die Inkraftsetzung dieses Zusatzver-
trages. Vom 28. Februar 1905, S. 287.
Viehseuchenübereinkommen zwischen dem Deutschen Reiche und
Oesterreich-Ungarn. Vom 25. Januar 1905, S. 287.
Zusatzvertrag zum Handels- und Zollvertrag zwischen dem Deutschen
Reiche und Serbien vom 21./9. August 1892, vom 29./16. November 1904,
S. 319.
Vertrag zwischen dem Deutschen Reiche und der Schweiz, betr.
die Errichtung deutscher Zollabfertigungsstellen auf den linksrheinischen
Bahnhöfen in Basel. Vom 16. August 1905, S. 349.
Gesetz, betr. die Handelsbeziehungen zu den Vereinigten Staaten
von Amerika. Vom 26. Februar 1906, S. 355.
Bekanntmachung, betr. die Handelsbeziehungen zu den Vereinigten
Staaten von Amerika. Vom 26. Februar 1906, S. 357.
Deutsch -äthiopischer Freundschafts- und Handelsvertrag. Vom
7. März 1905, S. 470.
Handels- und Schiffahrtsvertrag zwischen dem Deutschen Reiche
und Schweden. Vom 8. Mai 1906, S. 739.
Niederlassungsvertrag zwischen dem Deutschen Reiche und den
Niederlanden. Vom 17. Dezember 1904, S. 879.
Bekanntmachung, betr. die Ratifikation des Niederlassungsvertrags
zwischen dem Deutschen Reiche und den Niederlanden vom 17. Dezember
1904 und den Austausch der Ratifikationsurkunden, sowie eine zur
Ausführung des Vertrags am 29. Oktober 1906 zwischen beiden Teilen
getroffene Verständigung. Vom 6. Dezember 1906, S. 887.
Gesetz zur Ausführung der Generalakte der internationalen Konferenz
von Algeciras vom 7. April 1906. Vom 21. Dezember 1906, S. 889.
Gesetz wegen Abänderung des Gesetzes, betr. die Statistik des
Warenverkehrs des deutschen Zollgebiets mit dem Auslande. Vom
7. Februar 1906, S. 104.
Bekanntmachung der Fassung des Gesetzes, betr. die Statistik des
Warenverkehrs mit dem Auslande. Vom 7. Februar 1906, S. 108.
Gesetz, betr. die Statistik des Warenverkehrs mit dem Auslande.
Vom 7. Februar 1906, S. 109.
ch 1. Die Waren, welche über die Grenzen des deutschen Zollgebiets, aber
einschließlich der Zollausschlüsse, ein-, aus- oder durchgeführt werden, sowie die
352 Nationalökonomische Gesetzgebung.
Versendungen aus diesen Gebieten durch das Ausland nach diesen Gebieten sind den
mit den Anschreibungen für die Verkehrsstatistik beauftragten Amtsstellen ($$ 3, 4)
nach Gattung, Menge, Herkunfts- und Bestimmungsland anzumelden. Die
stimmungen finden keine Anwendung auf die Insel Helgoland und die badischen
Zollausschlüsse. Abs. 2. Der Bundesrat kann für bestimmte Waren vorschreiben,
daß auch deren Wert anzumelden ist. Abs. 3. Als Land der Herkunft der Waren
ist dasjenige Land, aus dessen Gebiet die Versendung erfolgt ist, und als Land
der Bestimmung der Waren dasjenige Land, wohin die Versendung gerichtet ist,
anzusehen. Abs. 4. Die Verpflichtung zur Anmeldung erstreckt sich nicht auf:
1) die Gegenstände der im $ 6 des Zolltarifgesetzes vom 25. Dezember 1902 (Reichs-
Gesetzbl. 1902, S. 303) unter Ziffer 1, 3 bis 11, 13 und 14 bezeichneten Art,
2) Sendungen zollfreier Waren im Gewichte von 250 g oder weniger.
82. In der Regel muß die Gattung jeder Ware nach deren handelsüblicher
oder sonst sprachgebräuchlicher Benennung und der Art der Beschaffenheit, die
Menge nach dem (Gewicht angegeben werden. Abs. 2. Bei den nach Gewicht an-
zumeldenden verpackten Waren ist das Reingewicht anzugeben. Doch genügt für
Packstücke, welche nur eine Warengattung enthalten, das Rohgewicht unter An-
gabe der Verpackungsart. Beim Durchfuhrverkehr genügt die Angabe des Roh-
ewichts. Abs. 3. Bei Zusammenpackung verschiedenartiger Waren können die
auptzoll- oder Hauptsteuerämter oder andere durch die oberste Landesfinanzbe-
hörde zu bezeichnende Aemter ausnahmsweise eine allgemeine Bezeichnung des
Gesamtinhalts des Packstücks und die Angabe des Gesamtrohgewichts nebst Ver-
Perkungent unter der Bedingung zulassen, daß der Wert angemeldet wird. Abs. 4.
as Nähere über die Einteilung und Maßstäbe der Waren für die statistischen
Anmeldungen bestimmt das öffentlich bekannt zu machende statistische Waren-
verzeichnis.
§ 3. Die Anmeldung erfolgt nach näherer Bestimmung des Bundesrats ent-
weder durch den Warenführer oder den Empfänger oder den Versender oder den
Absender mittels Uebergabe eines Anmeldescheins an die Anmeldestelle. Für jedes
seewärts beladen ein- oder ausgehende Schiff ist von dem Schiffsführer oder dessen
Vertreter (Schiffsmakler, Schiffsagenten) ein Ladungsverzeichnis einzureichen, das
alle geladenen Güter aufführen, mit den Konnossementen (Seefrachtscheinen) über-
einstimmen und mit der Unterschrift des Schiffsführers oder seines Vertreters
versehen sein muß. Beim kleinen Grenzverkehre genügt mündliche Anmeldung.
Abs. 2. Ueber die Anmeldung der im $ 6 Ziffer 2 des Zolltarifgesetzes vom
25. Dezember 1902 aufgeführten Gegenstände trifft der Bundesrat nähere An-
ordnung. Abs. 3. Anmeldestellen sind die Zollämter im Grenzbezirke. Außerdem
werden Anmeldestellen nach Bedürfnis dort errichtet. Die Gemeindebehörden im
Grenzbezirk, an deren Sitz sich ein Zollamt nicht befindet, sind zur Uebernahme
der Geschäfte einer Anmeldestelle gegen entsprechende Vergütung verpflichtet.
Abs. 4. Ausnahmsweise können auch außerhalb des Grenzbezirkes sowie außerhalb
der Zollgrenze Anmeldestellen errichtet werden.
$ 4. An Stelle der Anmeldescheine tritt für die Waren, welche nach Maß-
gabe der Zoll- oder Steuergesetze bei der Ein-, Aus- oder Durchfuhr den Zoll-
oder Steuerdehörden schriftlich, desgleichen für die zollpflichtigen Waren, welche
ihnen mündlich angemeldet werden, die Zoll- oder Steueranmeldung. Abs.2. Doch
ist bei schriftlicher Anmeldung im Anmeldepapiere, bei mündlicher Anmeldung
mündlich auch die Herkunft und Bestimmung der Waren anzugeben. Ferner
müssen bei der Abfertigung zum Eingang in den freien Verkehr sowie beim Ver-
edelungsverkehr in den Anmeldungen die Angaben über die Gattung und Menge
nach den Vorschriften dieses Gesetzes ergänzt werden. Abs. 3. Hat der Bundes-
rat für bestimmte Waren die Angabe des Wertes vorgeschrieben, so ist in den An-
meldungen solcher Waren auch deren Wert anzugeben. Abs. 4. Für die im
Abs. 1 bis 3 bezeichneten Waren gelten die betreffenden Zoll- oder Steuerstellen
als Anmeldestellen.
$5. Die Ausstellung des Anmeldescheines liegt nach näherer Bestimmung
des Bundesrates dem Empfänger, dem Versender oder dem Absender ob. Dem
Warenführer ist die Vertretung gestattet, öffentlichen Beförderungsanstalten und
Güterbeförderung gewerbsmäßig treibenden Personen jedoch nur dann, wenn der
Empfänger, der Versender oder der Absender weder im deutschen Zollgebiete noch
—
Nationalökonomische Gesetzgebung. 353
in den Zollausschlüssen wohnt. Abs. 2. Für die Richtigkeit und Vollständigkeit
der Angaben des Anmeldescheins ist der Aussteller, wenn dieser aber außerhalb
des deutschen Zollgebiets und der Zollausschlüsse wohnt, der Warenführer verant-
wortlich. Abs. 3. Die gleiche Verantwortlichkeit trifft diejenigen, welche münd-
lich anmelden oder nach $ 4 Angaben machen.
$ 6. Die öffentlichen Beförderungsanstalten und diejenigen Personen, welche
Güter gewerbsmäßig befördern, dürfen nach dem Zollauslande gerichtete Sendungen
nur dann befördern oder, falls ihnen die Bestimmung der Waren in das Zollaus-
land erst während der Beförderung bekannt wird, weiter befördern, nachdem ihnen
die erforderlichen Anmeldescheine überwiesen worden sind und wenn letztere so-
wohl in formeller Hinsicht den erteilten Vorschriften entsprechen, als auch ihrem
Inhalte nach mit den Frachtbriefen übereinstimmen. Abs. 2. Für die Ausfuhr
kann ausnahmsweise die Nachlieferung des Anmeldescheins binnen längstens acht-
tägiger Frist, gegen Einreichung eines Zwischenscheins (Interimsscheins), gestattet
werden. Der Zwischenschein weist die Massengüter nur nach der Gattung, die
Stückgüter nur nach Zahl und Merkzeichen der Packstücke nach.
$ 7. Nachdem eine der Anmeldeptlicht unterliegende Sendung am Sitze
der Anmeldestelle angekommen oder dort zur Beförderung aufgegeben ist, hat nach
näherer Bestimmung des Bundesrates entweder der Warenführer oder der Em-
pfänger oder der Versender oder der Absender ohne Verzug die Anmeldung zu be-
wirken. Für Fälle, in welchen Sendungen den Sitz einer Anmeldestelle nicht be-
rühren, ist von den Zolldirektivbehörden den örtlichen Verhältnissen entsprechend
Bestimmung zu treffen. Abs. 2. Die öffentlichen Beförderungsanstalten und die
Personen, welche Güter gewerbsmäßig befördern, haben bei Vebergabe der An-
meldescheine oder Zwischenscheine an die Anmeldestelle schriftlich zu erklären,
daß die Scheine alle der Anmeldepflicht unterliegenden Waren umfassen. Abs. 3.
Fehlt ein Anmeldeschein ordnungswidrig oder wird ein Zwischenschein nicht recht-
zeitig durch den Anmeldeschein eingelöst, so kann die Nachreichung innerhalb be-
stimmter Frist bei Strafe aufgegeben werden.
$ 8. Die Anmeldestellen sind zur Beschau der Waren durch äußere Besichtigung
befugt. Ihnen liegt ob, ohne Verzug die Anmeldescheine zu prüfen ; erforderlichen-
falls haben sie deren Angaben mit den Frachtpapieren und dem Warenbefunde zu
vergleichen und die Berichtigung oder Vervollständigung zu veranlassen.
§9. Der Bundesrat kann beim Postverkehr, bei Sendungen vom Zollgebiet,
einschließlich der Zollausschlüsse, durch das Ausland nach diesen Gebieten, beim
kleinen Grenzverkehr, bei der Durchfuhr auf kurzen Straßenstrecken, beim Verkehre
mit den Zollausschlüssen sowie in Rücksicht auf sonstige besondere Verhältnisse
Erleichterungen bezüglich der Verpflichtung zur Anmeldung eintreten lassen.
$ 10. Die Anmeldungen, desgleichen die Angaben nach § 4 Abs. 2, 3 dürfen
nur für die Zwecke der amtlichen Statistik benutzt werden.
$ 11. Von den schriftlich anzumeldenden Waren ist eine in die Reichskasse
fließende Gebühr — statistische Gebühr — zu entrichten. Abs. 2. Dieselbe be-
trägt für die in demselben Anmeldeschein oder derselben Anmeldung aufgeführten
Waren: 1) Wenn dieselben ganz oder teilweise verpackt sind, für je 500 k
5 Pfennig, 2) wenn dieselben unverpackt sind, für je 1000 kg 5 Pfennig, 3) bei
Kohlen, Koks, Torf, Holz, Getreide, Kartofieln, Erzen, Steinen, Salz, Rindsen;
Zement, Düngungsmitteln, Rohstoffen zum Verspinnen und anderen, vom Bundes-
rate zu bezeichnenden Massengütern in Wagenladungen, Schiffen oder Flößen ver-
packt oder unverpackt, für je 10000 kg 10 Pfennig, 4) bei Pferden, Maultieren,
seln, Rindvieh, Schweinen, Schafen und Ziegen ist zu entrichten für je fünf Stück
5 Pfennig. Von anderen nicht in Umschließungen verwahrten lebenden Tieren
wird eine Gebühr nicht erhoben. Für Bruchteile der Mengeneinheiten kommt
die volle Gebühr in Anrechnung.
$ 12. Von der statistischen Gebühr sind befreit: 1) die Waren, welche a)
unter Zollüberwachung versendet, b) auf Niederlagen für unverzollte Gegenstände
gebracht, ec) nach Entrichtung des Eingangszolls in den freien Verkehr gesetzt,
oder d) zum Zwecke der Zurückvergütung oder des Erlasses von Abgaben unter
amtlicher Ueberwachung ausgeführt werden; 2) die Waren, welche auf Grund
unmittelbarer Begleitpapiere im freien Verkehre a) durch das deutsche Zollgebiet
durchgeführt, oder b) aus demselben durch das Ausland nach dem Zollgebiet oder
Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVII). 23
354 Nationalökonomische Gesetzgebung.
nach den Zollausschlüssen befördert werden; 3) die Waren, welche a) in die Zoll-
ausschlüsse gebracht, von dort nach dem Auslande ausgeführt oder durch sie durch-
geführt werden, b) aus diesen Gebieten ausgehen mit der Bestimmung, durch das
Ausland nach diesen Gebieten oder nach dem Zollgebiete befördert zu werden;
4) Ausstellungsgüter; 5) die im $ 6 Ziffer 2 des Zolltarifgesetzes vom 25. Dezember
1902 genannten Gegenstände; 6) die Postsendungen; 7) andere Sendungen unter
20 kg Rohrewicht. Die Befreiung von der statistischen Gebühr erstreckt sich nicht:
1) auf die einer Zollabfertigung unterworfenen zollfreien Waren, welche nach vor-
heriger Versendung unter Zollüberwachung bei einem Amte im Innern in den
freien Verkehr gesetzt; 2) auf Waren, welche aus dem freien Verkehre des Zoll-
gebiets stammen und von Niederlagen für unverzollte Gegenstände unter Zoll
überwachung nach dem Auslande verbracht; 3) auf ausländische Waren, die in
die Zollausschlüsse zum Zwecke des Verbrauchs gebracht werden; 4) auf Waren
des freien Verkehrs des Zollgebiets, welche in die Zollausschlüsse gebracht werden
und dort nicht zum Verbrauche bestimmt sind.
& 13. Die Verpflichtung zur Entrichtung der statistischen Gebühr ($ 11)
wird durch Verwendung von Reichsstempelmarken in dem erforderlichen Wert-
betrag auf den Anmeldescheinen oder in den dieselben nach $ 4 vertretenden
Papieren vor Uebergabe derselben an die Anmeldestellen erfüllt. Abs. 2. Für die
Entrichtung der statistischen Gebühr haftet dem Reiche gegenüber derjenige, welcher
zur Zeit, wo die Anmeldung stattzufinden hat, Besitzer der Ware ist.
$ 14. Für die den Bundesstaaten durch die Statistik des auswärtigen Waren-
verkehrs erwachsenden Kosten wird aus dem Ertrage der statistischen Gebühr
eine durch den Bundesrat festzustellende Vergütung gewährt.
§ 15. Die für die Prüfung der Zölle bestehenden Vorschriften finden auf
die statistische Gebühr Anwendung. Abs. 2. Auf die Verjährung der statistischen
Gebühr finden die für die Zollgefälle geltenden Bestimmungen entsprechende An-
wendung.
g 16. Die Organe der Zollverwaltung und die mit den statistischen Erhe-
bungen sonst betrauten Organe haben die Beobachtung der Vorschriften dieses
eg zu überwachen und Zuwiderhandlungen gegen dieselben zur Anzeige zu
ringen.
§ 17. Zuwiderhandlungen gegen die Vorschriften dieses Gesetzes sowie der
infolge derselben erlassenen und öffentlich bekannt gemachten Ausführungsbestim-
mungen von seiten der Warenführer und inländischen Empfänger, Versender oder
Absender sind, unbeschadet der Vorschriften in $$ 275 und 276 des Strafgesetzbuchs,
mit einer Ordnungsstrafe bis zu einhundert Mark zu bestrafen. Handel und Gewerbe-
treibende, Eisenbahnverwaltungen und Dampfschiffahrtsgesellschaften sowie andere
nicht zur handel- und gewerbetreibenden Klasse gehörende Personen haften bezüg-
lich der von Dritten begangenen Verletzungen der gesetzlichen und Ausführung-
vorschriften nach Maßgabe des $ 153 des Vereins-Zollgesetzes. Abs. 2. In betreff
der Feststellung, Untersuchung, Entscheidung und Verjährung der Zuwiderhand-
lungen gegen die Vorschriften dieses Gesetzes und der dazu erlassenen Ausfüh-
rungsbestimmungen sowie in betreff der Strafmilderung und des Erlasses der Strafen
im (Gnadenwege kommen die Vorschriften zur Anwendung, nach welchen sich das
Verfahren wegen Zuwiderhandlungen gegen die Zollgesetze bestimmt. Abs. 3. Die
auf Grund dieses Gesetzes erkannten Geldstrafen fallen der Staatskasse desjenigen
Bundesstaates zu, von dessen Behörden die Strafentscheidung erlassen ist.
$ 18. Das dem Warenführer nach Artikel 440 des Handelsgesetzbuchs an
dem Frachtgute zustehende Pfandrecht erstreckt sich auch auf die Ansprüche,
welche dem Warenführer aus der Erfüllung der ihm nach diesem Gesetz obliegen-
den Verpflichtungen oder aus der Vertretung des Empfängers, Versenders oder
Absenders ($ 5) erwachsen.
§ 19. Dieses Gesetz tritt mit dem 1. März 1906 in Kraft.
Gesetz, betr. die Wertbestimmung der Einfuhrscheine im Zoll-
verkehre. Vom 12. Februar 1906, S. 137.
§ 1. Der Wertbestimmung von Einfuhrscheinen, welche gemäß $ 11 Ziffer 1,
5 und 6 des Zolltarifgesetzes vom 25. Dezember 1902 (Reichs-Gesetzbl. S. 303) bei
der in der Zeit vom 1. März 1906 bis einschließlich 28. Februar 1907 stattfinden-
den Ausfuhr von Roggen, Weizen, Spelz, Hafer, Buchweizen und Speisebohnen zu
Nationalökonomische Gesetzgebung. 355
erteilen sind, werden die auf die Einfuhr derartiger Waren vor dem 1. März 1906
vertragsmäßig zur Anwendung kommenden Zollsätze zu Grunde gelegt.
$2. Soweit bei der Ausfuhr während des im $ 1 bestimmten Zeitraums
durch Vorlegung von Bescheinungen der Zollbehörden nachgewiesen wird, daß
Waren der vorbezeichneten Art nach dem 28. Februar 1906 unter Entrichtung des
ER ENAT: nach den vom 1. März 1906 ab geltenden Zollsätzen in den freien
Verkehr des Zollgebiets eingeführt worden sind, werden der Wertbestimmung der
Einfuhrscheine bis zur Höhe des Zollwerts der in den Bescheinigungen nachge-
wiesenen Mengen die vom 1. März 1906 ab geltenden vertragsmäßigen Zollsätze
zu Grunde geist.
$ 3. Die Vorschriften der $$ 1 und 2 finden bei der Ausfuhr von Müllerei-
ee a welche aus den im $ 1 bezeichneten Fruchtarten im freien Verkehre
des Zollgebiets hergestellt worden sind, nach Maßgabe der Vorschriften im $ 11
Ziffer 3 des Zolltarifgesetzes vom 25. Dezember 1902 entprechende Anwendung.
$ 4. Die näheren Anordnungen, insbesondere in Bezug auf die Form der
im $ 2 vorgesehenen Bescheinigungen, trifft der Bundesrat. Abs. 2. Dieser ist auch
ermächtigt, die Vorschriften dieses Gesetzes zu einem früheren als den im $ 1
bestimmten Zeitpunkt außer Kraft zu setzen.
Bekanntmachung, betr. den Aufruf und die Einziehung der Noten der
Braunschweigischen Bank zu Braunschweig. Vom 14. April 1906, S. 461.
Bekanntmachung, betr. den Anteil der Reichsbank an dem Ge-
samtbetrage des steuerfreien ungedeckten Notenumlaufs. Vom 14. April
1906, S. 462.
Verordnung, betr. Ergänzung und Abänderung der Verordnung zur
Verhütung des Zusammenstoßens der Schiffe auf See vom 9. Mai 1897.
Vom 5. Februar 1906, S. 115.
Seestraßenordnung vom 5. Februar 1906, S. 120.
I. Einleitung. II. Lichter u. s. w. III. Schallsignale bei Nebel u. s. w. IV.
Mäßigung der Geschwindigkeit bei Nebel u. s. w. V. Ausweichen. VI. Schallsignale
für Fahrzeuge, welche einander ansichtig sind. VII. Notwendigkeit anderweiter Vor-
sichtsmaßregeln. VIII. Vorbehalt in betref der Häfen und Binnengewässer. IX. Not-
signale. X. Verpflichtung der Schiffseigentümer und Schiffsführer. IX. Schlußbestim-
MUngen.
Bekanntmachung, betr. Abänderung der Vorschriften über den Be-
tähigungsnachweis und die Prüfung der Seeschiffer und Seesteuerleute auf
deutschen Kauffahrteischiffen. Vom 14. März 1906, S. 427.
Bekanntmachung, betr. Aenderung der Anlage B zur Eisenbahn-
Verkehrsordnung. Vom 8. Februar 1906, S. 139. Entsprechende Be-
kanntmachungen vom 7. März 1906, S. 389, vom 19. März 1906,
S. 431, vom 25. März 1906, S. 433, vom 23. Juni 1906, S. 845, vom
9. August 1906, S. 859, vom 27. August 1906, S. 861, vom 7. Oktober 1906,
S. 863, vom 6. November 1906, S. 865, vom 10. November 1906, S. 867.
Bekanntmachung, betr. eine neue Ausgabe der dem internationalen
Uebereinkommen über den Eisenbahnfrachtverkehr beigefügten Liste.
Vom 3. März 1906, S. 403.
Bekanntmachung, betr. die dem internationalen Uebereinkommen
über den Eisenbahnfrachtverkehr beigefügte Liste. Vom 9. Juni 1906,
8. 736. Entsprechende Bekanntmachungen vom 28. Juli 1906, S. 856,
vom 11. Dezember 1906, S. 877.
Bekanntmachung, betr. die Vereinbarung leichterer Vorschriften
für den wechselseitigen Verkehr zwischen den Eisenbahnen Deutschlands
und Luxemburgs. Vom 12. März 1906, S. 430.
23*
356 Nationalökonomische Gesetzgebung.
Bekanntmachung, betr. den Umlauf von Scheidemünzen öster-
reichischer Währung auf preußischen Eisenbahnstationen. Vom 28. Juni
1906, S. 852.
Bekanntmachung, betr. Ergänzung des Militärtarifs für Eisenbahnen
und Aenderung der Anlagen V und VI zur Militärtransportordnung
für Eisenbahnen. Vom 16. Februar 1906, S. 141.
Bekanntmachung, betr. Aenderung der Militärtransportordnung.
Vom 23. Mai 1906, S. 558.
Bekanntmachung, betr. die Bestimmungen über die Befähigung von
Eisenbahnbetriebs- und Polizeibeamten. Vom 8. März 1906, S. 391.
Bekanntmachung, betr. die freie Fahrt der Mitglieder des Reichs-
tags auf den deutschen Eisenbahnen. Vom 27. Juni 1906, S. 850.
Gesetz, betr. die Kontrolle des Reichshaushalts, des Landeshaus-
halts von Elsaß-Lothringen und des Haushalts der Schutzgebiete. Vom
5. Februar 1906, 5. 103.
Gesetz, betr. die Feststellung eines dritten Nachtrags zum Reichs-
haushaltsetat für das Rechnungsjahr 1905. Vom 27. März 1906, S. 435.
$ 1. Der diesem Gesetz als Anlage beigefügte dritte Nachtrag zum Reichs-
haushaltsetat für das Rechnungsjahr 1905 tritt dem Reichshaushaltsetat für das
Rechnungsjahr 1905 hinzu.
$ 2. Der Reichskanzler wird ermächtigt, zur Bestreitung einmaliger außer-
ordentlicher Ausgaben die Summe von 1690800 M. im Wege des Kredits flüssig
zu machen.
$3. Für alle Ausgaben, welche zu den Verwendungszwecken des im $ 1
bezeichneten Nachtragsetats bereits geleistet sind, wird dem Reichskanzler Indem-
nität erteilt. Abs. 2. Die bereits geleisteten Ausgaben kommen auf den im $ 2
bewilligten Kredit in Anrechnung.
Gesetz, betr. die Feststellung eines dritten Nachtrags zum Haus-
haltsetat für die Schutzgebiete auf das Rechnungsjahr 1905. Vom
27. März 1906, S. 437.
Der diesem Gesetz als Anlage beigefügte dritte Nachtrag zum Etat der
Schutzgebiete auf das Rechnungsjahr 1905 wird in Einnahme und Ausgabe für das
ostafrikanische Schutzgebiet auf 2104925 M. festgestellt und tritt dem Etat der
Schutzgebiete für 1905 hinzu.
Gesetz, betr. die Feststellung eines vierten Nachtrags zum Reichs-
haushaltsetat für das Rechnungsjahr 1905. Vom 27. März 1906, S. 439.
§ 1. Der diesem Gesetz als Anlage beigefügte vierte Nachtrag zum Reichs-
haushaltsetat für das Rechnungsjahr 1905 tritt dem Reichshaushaltsetat für das
Rechnungsjahr 1905 hinzu.
$ 2. Der Reichskanzler wird ermächtigt, zur Bestreitung einmaliger außer-
ordentlicher Ausgaben die Summe von 30 600 000 M. im Wege des Kredits flüssig
zu machen.
Gesetz, betr. die Feststellung eines vierten Nachtrags zum Haus-
haltsetat für die Schutzgebiete auf das Rechnungsjahr 1905. Vom
27. März 1906, S. 440.
Der diesem Gesetz als Anlage bopeipis vierte Nachtrag zum Etat der
Schutzgebiete auf das Rechnungsjahr 1905 wird in Einnahme und Ausgabe für das
südwestafrikanische Schutzgebiet auf 30 600 000 M. festgestellt und tritt dem Etat
der Schutzgebiete für 1905 hinzu.
Gesetz, betr. die Feststellung eines fünften Nachtrags zum Reichs-
haushaltsetat für das Rechnungsjahr 1905. Vom 27. März 1906, S. 441.
Nationalökonomische Gesetzgebung. 357
Gesetz, betr. die vorläufige Regelung des Reichshaushalts für die
Monate April und Mai 1906. Vom 31. März 1906, S. 443.
Gesetz, betr. die vorläufige Regelung des Haushalts der Schutzge-
biete für die Monate April und Mai 1906. Vom 31. März 1906, S. 446.
Gesetz, betr. die Feststellung des Reichshaushaltsetats für das
Rechnungsjahr 1906. Vom 31. Mai 1906, S. 477.
$ 1. Der diesem Gesetz als Anlage beigefü, Reichshaushaltsetat für das
Rechnungsjahr vom 1. April 1906 bis 31. März 1907 wird in Ausgabe und Ein-
nahme auf 2397 324105 M. festgestellt und zwar
im ordentlichen Etat auf 2 153 354 678 M.
im außerordentlichen Etat auf 243 969427 „
Summa 2 397 324 105 M.
$ 2. Der Reichskanzler wird ermächtigt, zur Bestreitung einmaliger außer-
a aa Ausgaben die Summe von 239038815 M. im Wege des Kredits flüssig
zu machen.
$ 3. Der Reichskanzler wird ermächtigt, zur vorübergehenden Verstärkung
der ordentlichen Betriebsmittel der Reichshauptkasse nach Bedarf, jedoch nicht
über den Betrag von 350 Mill. M. hinaus, Schatzanweisungen auszugeben.
§ 4. Der Reichskanzler wird ermächtigt, die Erhebung der nach $ 4 Abs. 2
des Gesetzes, betreffend die Feststellung des Reichshaushaltsetats für das Rech-
nungsjahr 1905 (Reichsgesetzbl. S. 181), vorläufig gestundeten Matrikularbeiträge
auch für das Rechnungsjahr 1906 auszusetzen, bis der zur Deckung des Bedarfs
nach den wirklichen Ergebnissen des Reichshaushalts für die Rechnungsjahre 1905
und 1906 erforderliche Betrag festgestellt ist. Abs. 2. Soweit die n Artikel 70
der Reichsverfassung von den Bundesstaaten für das Rechnungsjahr 1906 aufzu-
bringenden Matrikularbeiträge den Sollbetrag der Ueberweisungen um mehr als
40 Pfg. auf den Kopf der Bevölkerung übersteigen, wird die Erhebung des Mehr-
betrages für dieses Rechnungsjahr ausgesetzt. Abs. 3. Soweit ein solcher Mehr-
betrag sich auch nach der Rechnung ergibt, findet dessen Erhebung, sofern nicht
durch ein Etatsgesetz ein anderes bestimmt wird, im Juli des Rechnungsjahrs
1909 statt. ?
§§ 5—7.
Reichshaushaltsetat für das Rechnungsjahr 1906, S. 479.
A. Ordentlicher Etat.
Ausgaben.
I. Fortdauernde Ausgaben.
I. Bundesrat — M.
II. Reichstag 764500 ,
III. Reichskanzler und Reichskanzlei 284 510 ,,
IV. Auswärtiges Amt 17456795 „
V. Reichsamt des Innern 75 562 247 „
VI. Verwaltung des Reichsheeres 616 177 342 „
VIa. Reichsmilitärgericht 570811 „
VII. Verwaltung der Kaiserlichen Marine 112774 183 „,
VIII. Reichs-Justizverwaltung 2351705 „
IX. Reichsschatzamt 254 005 155 „
X. RBeichseisenbahnamt 424 700 „
XI. Reichsschuld 127 555 500 ,„
XII. Rechnungshof 1026 700 ,
XIII. Allgemeiner Pensionsfonds 98 420 307 „,
XIV. Reichs-Invalidenfonds 36661748 „,
XV. Reichs-Post- und Telegraphenverwaltung 466 669 048 „,
XVI. Reichsdruckerei 5983 620 ,
XVII. Reichseisenbahnverwaltung 80 509 900 ,
XVIII. Zu verschiedenen neuen Maßnahmen 10 899 004 „,
Summe der fortdauernden Ausgaben I 908 097 775 M.
358 Nationalökonomische Gesetzgebung.
U. Einmalige Ausgaben.
I. Reichstag — M.
Ia. Reichskanzler und Reichskanzlei 250000 „,
II. Auswärtiges Amt 20 393479 „
III. Reichsamt des Innern 3040050 „
IV. Reichs-Post- und Telegraphenverwaltung 14 966 375 „
IVa. Reichsdruckerei 87034 „
V. Verwaltung des Reichsheeres 87 521672 „
Va. Reichsmilitärgericht 13 000 ,„
VI. Verwaltung der Kaiserlichen Marine 101 813 150 „
VII. Reichsschatzamt 44 700 „
VIII. Reichsschuld - a
IX. Rechnungshof 352000 „,
X. Reichs-Eisenbahnverwaltung 6722000 „
XI. Zur Deckung des Fehlbetrags für das Rechnungs- P
jahr 1904 8 559339 „
XII. Zur Deckung gemeinschaftlicher außerordent- »
licher Ausgaben 1494954 „
Summe der einmaligen Ausgaben 245 256 903 M.
Hierzu Summe der fortdauernden s5 1908 097 775 „
Summe der Ausgabe des ordentlichen Etats 2 153 354 678 M.
Einnahmen.
I. Zölle und Verbrauchssteuern 908 682 220 M.
II. Reichsstempelabgaben 103 311000 „
Ila. Einnahmen auf Grund der neuen Steuergesetz-
entwürfe 61 660 000 „,
III. Reichs-Post- und Telegraphenverwaltung 551815500 „
IV. Reichsdruckerei 8933 000 „
V. Reichs-Eisenbahnverwaltung 107 382 700 „
VI. Bankwesen 15 691 000 „
VII. Verschiedene Verwaltungseinnahmen 407330676 „
VIII. Aus dem Reichs-Invalidenfonds 46715 151 „
IX. Ueberschüsse aus früheren Jahren i 329400 „
X. Zum Ausgleiche für die nicht allen Bundes-
staaten gemeinsamen Einnahmen 20 356 183 „
XI. Matrikularbeiträge 287 744 848 .
Summe der Einnahmen des ordentlichen Etats 2 153 354 678 M.
Die Ausgabe des ordentlichen Etats beträgt 2 153 354 678 M.
B. Außerordentlicher Etat.
Ausgaben. i
I. Auswärtiges Amt 1 200 000 M.
II. Reichsamt des Innern 5 000 000 „,
II. Verwaltung des Reichsheeres 38752627 „
IV. Verwaltung der Kaiserlichen Marine 50815000 „
V. Reiehsschatzamt — n
VI. Reichs-Post- und Telegraphenverwaltung 38 610000 „
VII. KReichseisenbahnverwaltung 17 416000 „
VIII. Aus Anlaß der Expedition nach Ostasien 8477500 „
IX. Aus Anlaß der Expedition in das Südwest-
afrikanische Schutzgebiet 83 392 900 „
X. Aus Anlaß der Expedition in das Östafrikanische
Schutzgebiet 305 400 „
Summe der Ausgabe des außerordentlichen Etats 243 969 427 M.
Nationalökonomische Gesetzgebung. 359
Einnahmen.
I. Rückzahlungen und Tilgungsraten aus der Ver-
wendung des Fonds zur Förderung der Her-
stellung geeigneter Kleinwohnungen für Arbeiter
und gering besoldete Beamte in Betrieben und
Verwaltungen des Reichs (Kapitel 2 Titel 1 der
Ausgabe des außerordentlichen Etats) 158000 M.
Il. Erlöse aus dem Verkaufe von freiwerdenden
Festungsgrundstücken und Festungsbaulichkeiten 1940520 ,„
III. Aus Anlaß der Expedition nach Ostasien 630 277 „
IV. Rückerstattungen auf die aus dem Reichsfestungs-
baufonds geleisteten Vorschüsse 51761 „
V. Kaufpreis für die an den Staat Bremen ver-
kaufte Batterie Brinkamerhof I, 2. Rate 500 000 „,
VI. Von dem Schutzgebiete Togo zur Tilgung des
Reichsdarlehens, 2. Rate 156000 „,
VII" Aus dem ordentlichen Etat zur Deckung gemein-
schaftlicher außerordentlicher Ausgaben 1494054 „
VIII. Aus der Anleihe 239038815 „
Summe der Einnahmen des außerordentlichen Etats 243 909 427 M.
Die Ausgabe des außerordentlichen Etats beträgt 243 969 427 „
Abschluß.
Summe der Ausgabe des ordentlichen und des
außerordentlichen Etats 2 397 324 105 M.
Summe der Einnahme des ordentlichen und des
außerordentlichen Etats 2397 324 105 „
Gesetz, betr. die Feststellung des Haushaltsetats für die Schutz-
gebiete auf das Rechnungsjahr 1906. Vom 31. Mai 1906, S. 512.
Der diesem Gesetz als Anlage beigefügte Haushaltsetat der Schutzgebiete auf
das Rechnungsjahr 1406 wird in Einnahme und Ausgabe auf 128379929 M. fest-
gesetzt.
I. Ostafrikanisches Schutzgebiet.
Ausgaben 10 625 948 M.
Eigene Einnahmen des Schutzgebiets 4657 881 „
Reichszuschuß 5 968 067 M.
I. Schutzgebiet Kamerun.
Ausgaben 5458745 M.
Eigene Einnahmen des Schutzgebiets 2872900 „
teichszuschuß 2585845 M.
III. Schutzgebiet Togo.
Ausgaben 3 031036 M.
Eigene Einnahmen des Schutzgebiets 1831036 „
Darlehn des Reichs 1200000 M.
IV. Südwestafrikanisches Schutzgebiet.
Ausgaben 92 212 915 M.
Eigene Einnahmen des Schutzgebiets 1823 800 „
> Reichszuschuß 90 389 115 M.
V. Schutzgebiet Neuguinea.
Ausgaben 1494 240 M.
Eigene Einnahmen des Schutzgebiets f 335 277 »
Reichszuschuß = 1158963 M.
360 Nationalökonomische Gesetzgebung.
VI. Verwaltung der Karolinen, Palau, Marianen und Marschallinseln.
Ausgaben 640 305 M.
Eigene Einnahmen der Schutzgebiets 132815 „
Reichszuschuß 507 550 M.
VO. Schutzgebiet Samoa.
Ausgaben 718680 M.
Eigene Einnahmen des Schutzgebiets 485 949 »
Reichszuschuß 232731 M.
VII. Schutzgebiet Kiautschou,
Ausgaben 14 198 000 M.
Eigene Einnahmen des Schutzgebiets 1048000 „,
Reichszuschuß 13 150000 M.
Gesetz zur Aenderung des Gesetzes, betr. die Ausgabe von Reichs-
kassenscheinen. Vom 5. Juni 1906, S. 730.
$ 1. Im§1 Abs. 1 des Gesetzes, betr. die Ausgabe von Reichskassenscheinen,
vom 30. April 1874 werden die Worte: „20 und 50“ durch die Worte „und zu 10“
ersetzt.
Gesetz, betr. die Entlastung des Reichsinvalidenfonds. Vom 9. Juni
1906, S. 730.
$1. Vom 1. April 1906 ab sind aus dem Reichsinvalidenfonds nur zu be
streiten: 1) die Pensionsgebührnisse für diejenigen Militärpersonen und Beamten
des Reichsheeres und der Kaiserlichen Marine, welche infolge des Krieges von
1870/71 Invalide und dienstunfähig geworden sind, soweit diese Gebührnisse auf
den Militärpensionsgesetzen beruhen, 2) die gesetzlichen Beihilfen für Hinterbliebene
derjenigen Militärpersonen und Beamten des Reichsheeres und der Kaiserlichen
Marine, welche im Kriege 1870/71 gefallen oder an den in diesem Kriege erlittenen
Verwundungen oder Beschädigungen gestorben sind, sowie die auf § 17 des Kriegs-
invalidengesetzes vom 31. Mai 1901 beruhenden Beihilfen für Witwen von Invaliden
des Krieges von 1870/71, 3) die Kosten, welche nach Maßgabe des Reichshaus-
haltsetats durch die Geschäftsführung der Verwaltung des Reichsinvalidenfonds
entstehen.
§ 2. Die Bereitstellung der Deckungsmittel für Ausgaben, welche bis zum
31. März 1906 über die im $ I bezeichneten Zwecke hinaus aus dem Reichsinvaliden-
fonds zu bestreiten waren, erfolgt vom 1. April 1906 ab nach Maßgabe des Reichs-
haushaltsetats aus den ordentlichen Mitteln des Reichs.
§ 3. Dieses Gesetz tritt gleichzeitig mit dem Gesetze, betr. die Ordnung des
Reichshaushalts und die Tilgung der Reichsschuld, in Kraft.
Gesetz, betr. Uebernahme einer Garantie des Reichs in Bezug auf
eine Eisenbahn von Duala nach den Manengubabergen. Vom 4. Mai
1906, S. 525.
§ 1. Zum Bau und zum Betrieb einer Eisenbahn von Duala nach den
Manengubabergen durch die Kamerun-Eisenbahngesellschaft wird den Inhabern der
Anteile Reihe $ der genannten Gesellschaft nach Maßgabe der vorerwähnten Kon-
zession eine Garantie des Reiches bewilligt, und zwar: a) für die Verzinsung des
auf die Anteile Reihe B entfallenden Teiles des Gtesellschaftskapitals in Höhe von
11 Mill. M. mit 3 Proz. vom Tage der Einzahlung an, b) für die Zahlung des um
20 Proz. erhöhten Nennbetrags der jeweilig gelosten und als solche abzustempeln-
den Anteilscheine Reihe B. Abs. 2. Hinsichtlich des auf die Anteile Reihe A
entfallenden Teiles des Gesellschaftskapitales in Höhe von 5640000 M. wird
seitens des Reichs eine Garantie weder für die Verzinsung noch für eine Rückzahlung
übernommen.
$ 2. Das Privateigentum auf der Halbinsel Bona Beri ist vom Mungo Krick
Nationalökonomische Gesetzgebung. 361
bis Bonpamatumba 2 km landeinwärts alsbald zu enteignen; für dieses Gebiet ist
ein Bebauungsplan festzustellen.
$ 3. Die im Verkehrsbezirke der zu erbauenden Eisenbahn tätigen Landge-
sellschaften und Plantagenbesitzer sind, soweit sie besondere Interessen am Bahn-
bau haben, zu einer entsprechenden Leistung zu Gunsten des Fiskus des Schutz-
gebiets Kamerun heranzuziehen.
$ 4. Der Reichskanzler ist mit der Ausführung dieses Gesetzes beauftragt.
Bau- und Betriebskonzession für die Kameruneisenbahngesellschaft.
S. 526.
Gesetz wegen Aenderung einiger Vorschriften des Reichsstempel-
gesetzes. Vom 3. Juni 1906, S. 615.
Gesetz, betr. die Ordnung des Reichshaushalts und die Tilgung der
Reichsschuld. Vom 3. Juni 1906, S. 620.
Vergl. Jahrbücher, Bd. 82, S. 29 f., 209 f.
Bekanntmachung, betr. die Fassung des Brausteuergesetzes.. Vom
7. Juni 1906, S. 675.
Bekanntmachung, betr. die Fassung des Reichsstempelgesetzes. Vom
7. Juni 1906, S. 695.
Verordnung, betr. die anderweite Regelung der Verwaltung und
der Rechtsverhältnisse im Schutzgebiet der Marschall-, Brown- und Provi-
denceinseln.. Vom 18. Januar 1906, S. 138.
Gesetz, betr. die Ueberleitung von Hypotheken des früheren Rechts.
Vom 17. März 1906, S. 429.
Bekanntmachung, betr. den Gerichtsstand für Deutsche, die keinem
Bundesstaat angehören. Vom 21. April 1906, S. 463.
Bekanntmachung, betr. den Gerichtsstand für die Reichsbehörden
in Berlin und Charlottenburg. Vom 21. April 1906, S. 464.
Bekanntmachung, betr. die Entschädigung der Angehörigen Däne-
marks, Norwegens und Schwedens für unschuldig erlittene Untersuchungs-
haft. Vom 3. Mai 1906, S. 465.
Gesetz, betr. die Abänderung mehrerer Reichstagswahlkreise. Vom
18. Februar 1906, S. 317.
Verordnung, betr. die Verrichtungen der Standesbeamten in Bezug
auf solche Militärpersonen der Kaiserlichen Marine, welche ihr Stand-
quartier nicht innerhalb des Deutschen Reichs haben oder dasselbe
nach eingetretener Mobilmachung verlassen haben, sowie in Bezug auf
alle Militärpersonen, welche sich auf den in Dienst gestellten Schiffen
oder anderen Fahrzeugen der Kaiserlichen Marine befinden. Vom 20.
Februar 1906, S. 359.
Gesetz, betr. Aenderung des Gesetzes über die Angelegenheiten der
freiwilligen Gerichtsbarkeit. Vom 5. März 1906, S. 387.
Ausführungsbestimmungen zu den Verordnungen über die Umzugs-
kosten der Reichsbeamten. Vom 4. März 1906, S. 388.
Gesetz, betr. die Aenderung des Artikels 32 der Reichsverfassung.
Vom 21. Mai 1906, S. 467.
§ 1. An Stelle des Artikels 32 der Reichsverfassung treten folgende Vor-
schriften: Die Mitglieder des Reichstags dürfen als solche keine Besoldung beziehen.
Bie erhalten eine Entschädigung nach Maßgabe des Gesetzes.
$ 2. Dieses Gesetz tritt mit dem Tage seiner Verkündigung in Kraft.
362 Nationalökonomische Gesetzgebung.
Gesetz, betr. die Gewährung einer Entschädigung an die Mitglieder
des Reichstags. Vom 21. Mai 1906, S. 468.
$ 1. Die Mitglieder des Reichstags erhalten a) für die Dauer der Sitzung-
periode, sowie 8 Tage vor deren Beginn und 8 Tage nach deren Schluß freie Fahrt
auf den deutschen Eisenbahnen, sowie b) vorbehaltlich der Bestimmungen im $ 3
aus der Reichskasse eine jährliche Aufwandsentschädigung von insgesamt 3000 M.,
die am 1. Dezember mit 200 M., am 1. Januar mit 300 M., am 1. Februar mit
400 M., am 1. März mit 500 M., am 1. April mit 600 M. und am Tage der Ver-
tagung (Artikel 26 der Reichsverfassung) oder Schließung des Reichstags mit 1000 M.
zahlbar wird. Abs. 2. Der Bundesrat ist ermächtigt, Grundsätze für die Aus-
führung der Bestimmungen unter a aufzustellen.
$ 2. Für jeden Tag, an dem ein Mitglied des Reichstags der Plenarsitzung
ferngeblieben ist, wird von der nächstfälligen Entschädigungsrate ein Betrag von
20 M. in Abzug gebracht.
$ 3. Ein Mitglied des Reichstags, das neu gewählt wird, während der Reichs-
tag versammelt ist, erhält an Stelle der nächsten Entschädigungsrate ($ 1 Abs. 1
unter b) bis zu deren Höhe 20 M. Tagegeld für jeden Tag der Anwesenheit in einer
Plenarsitzung. Abs. 2. Ein Mitglied des Reichstags, dessen Mandat, während
der Reichstag versammelt ist, erlischt oder niedergelegt wird, erhält während der
Zeit seit dem Fälligkeitstage der letzten Entschädigungsrate 20 M. Tagegeld für
jeden Tag der Anwesenheit in einer Plenarsitzung mit der Maßgabe, daß der Ge
samtbetrag der Tagegelder den Höchstbetrag der Entschädigung nicht übersteigen
darf, die nach $ 1 Abs. 1 unter b am nächsten Fälligkeitstage zu zahlen gewesen
wäre. Das Gleiche gilt, wenn der Reichstag aufgelöst wird, während er ver-
sammelt ist.
$ 4. Die Anwesenheit in der Plenarversammlung wird dadurch nachgewiesen,
daß das Mitglied des Reichstags sich während der Dauer der Sitzung in eine An-
wesenheitsliste einträgt. Abs. 2. Wer an einer namentlichen Abstimmung nicht
teilnimmt, gilt im Sinne dieses Gesetzes als abwesend, auch wenn er sich in die
Liste eingetragen hat.
$ 5. Die näheren Bestimmungen über die Anwesenheitsliste, insbesondere über
Ort, Zeit und Form ihrer Auslegung, trifft der Präsident des Reichstags. Von ihm
wird auch die Entschädigung ($ 1 Abs. 1 unter b, $ 3) für jedes Mitglied des
Reichstags auf Grund der Anwesenheitsliste sowie der Listen über namenulıche Ab-
stimmungen festgesetzt und angewiesen.
$6. Ein Mitglied des Reichstags darf in seiner Eigenschaft als Mitglied
einer anderen politischen Körperschaft, wenn beide Körperschaften gleichzeitig
versammelt sind, nur für diejenigen Tage Vergütung beziehen, für welche ihm au
Grund dieses Gesetzes ein Abzug von der Entschädigung gemacht ist oder in den
Fällen des $ 3 Tagegeld nicht gewährt wird. Auch darf es in dieser Eigenschaft
res der Dauer der freien Fahrt auf den Eisenbahnen keine Eisenbahnfuhrkosten
annehmen,
§ 7. Der Reichstag gilt im Sinne dieses Gesetzes nicht als versammelt, wenn
er gemäß Artikel 12 der Reichsverfassung vertagt ist.
$8. Ein Verzicht auf die Aufwandsentschädigung ist unzulässig. Der An-
spruch auf Aufwandsentschädigung ist nicht übertragbar.
$ 9. Ist im Falle des Todes eines Mitgliedes des Reichstags eine Ehefrau
hinterblieben, so kann die Zahlung an diese erfolgen, ohne daß deren Erbrecht
nachgewiesen zu werden braucht.
$ 10. Während der Zeit bis zum 30. November 1906 wird bei der Vertagun
oder Schließung des Reichstags den Mitgliedern an Stelle der nach § 1 Abs.
unter b zu zahlenden Entschädigung eine solche von 2500 M. gewährt. Abs. 2.
Mitglieder des Reichstags, die in der Zeit vom Inkrafttreten des Gesetzes bis zur
Vertagung oder Schließung des Reichstags neu gewählt werden, erhalten an Stelle
der in Abs. 1 bezeichneten Entschädigung 20 M. Tagegeld für jeden Tag der An-
wesenheit in einer Plenarsitzung. Abs. 3. Mitglieder des Reichstags, deren Mandat
in der Zeit vom Inkrafttreten dieses Gesetzes bis zur Vertagung oder Schließung
des Reichstags erlischt oder niedergelegt wird, erhalten im Falle des Abs. 1 die
Entschädigung unter Abzug von 20 M. für jeden Tag von dem Erlöschen oder der
Nationalökonomische Gesetzgebung. 363
Niederlegung des Mandats bis zur Vertagung oder Schließung des Reichstags.
Abs. 4. Die §§ 2, 4, 5, 6 und 9 finden für die Zeit vom Inkrafttreten des Ge-
setzes ab entsprechende Anwendung.
$ 11. Dieses Gesetz tritt mit dem Tage seiner Verkündigung in Kraft.
Gesetz über die Pensionierung der Offiziere einschließlich Sanitäts-
offiziere des Reichsheeres, der Kaiserlichen Marine und der Kaiserlichen
Schutztruppen. Vom 31. Mai 1906, S. 565. '
Gesetz über die Versorgung der Personen der Unterklassen des
Reichsheeres, der Kaiserlichen Marine und der Kaiserlichen Schutz-
truppen. Vom 31. Mai 1906, S. 593.
Novelle zum Gesetze, betr. die Deutsche Flotte, vom 14. Juni 1900.
Vom 5. Juni 1906, S. 729.
Gesetz, betr. die Aenderung des Gesetzes über die Naturalleistungen
für die bewaffnete Macht im Frieden. Vom 9. Juni 1906, S. 735.
Gesetz, betr. Abänderung des Gesetzes über die Bewilligung von
Wohnungszuschüssen, vom 30. Juni 1873. Vom 9. Juni 1906, S. 731.
Verordnung über das Telegraphenwesen in den deutschen Schutz-
gebieten ausschließlich Kiautschou. Vom 15. Juni 1906, S. 843.
364 Miszellen.
Miszellen.
VI.
Die Entlastung der öffentlichen Armenpflege durch die
Arbeiterversicherung,
Von David Grünspecht,
(Fortsetzung und Schluß.)
§ 8.
Einen weit größeren Anteil an der Entlastung der Armenpfleg
durch die Sozialgesetzgebung müssen wir der Invaliden- und
Altersversicherung zuschreiben.
Das Urteil der Armenverbände über den Einfluß dieses Gesetzes
auf die Armenpflege muß im Gegensatz zu der Beurteilung der Unfall-
versicherungsgesetze ein viel begründeteres sein, erhalten sie doch fast
ausnahmslos durch Vermittlung der unteren Verwaltungsbehörde der
rein staatlichen Organisation dieses Versicherungszweiges Nachricht über
die erfolgten Bewilligungen, Entziehungen u. s. w. Wenngleich eine
genaue Kenntnis der Versicherungsleistungen seitens der Armenverbände
sehr erwünscht ist, so muß doch vom sozialpolitischen Standpunkte aus
die Vereinigung des gemeindlichen Versicherungsbureaus mit dem Bureau
der Armenverwaltung als wenig empfehlenswerte Einrichtung bezeichnet
werden.
Die Invalidenversicherung ist schon ihres großen Umfangs wegen
— umfaßt sie doch den größten Kreis von allen drei Versicherungsarten
— am ersten im stande, eine bedeutende Entlastung der Armenpflegt
zu bewirken. Sie ist bestrebt, den ärmeren Volksklassen die Sorge für
die Zeiten langwieriger Krankheit oder dauernder Beschränkung der
Erwerbsfähigkeit, für das Greisenalter möglichst abzunehmen.
Untersuchungen über die Gründe der Unterstützungsbedürftigkeit
bei den Almosenempfängern im Reiche haben statistisch folgendes
ergeben:
Krankheit, Verletzung 30,2 Proz.
Verwaisung 187°
Körperliche und geistige Gebrechen I24 ,„
Altersschwäche 14,8 »
Große Kinderzahl IE
Arbeitslosigkeit 60»
Arbeitsscheu und Trunksucht I. 8
Miszellen. 365
Wenn auch die Ergebnisse einer solchen Statistik keinen Anspruch
auf absolute Genauigkeit machen können, so darf man doch als be-
wiesen erachten, „daß ein übergroßer Teil der Personen, welche der
öffentlichen Armenpflege anheimfallen, infolge von Invalidität und Alter
verdienstlos geworden sind; und die Aussicht, im Alter auf Almosen
angewiesen zu sein, ist für die unteren Klassen vielfach der Anlaß zu
tiefgreifender Unzufriedenheit und selbst Erbitterung gegen unsere Zu-
stände. Deshalb hat die berühmte Botschaft Kaiser Wilhelms I. am
17. Novernber 1881 auch bereits die Fürsorge für diese Kategorien in
Aussicht genommen, indem es darin heißt: „Auch diejenigen, welche
durch Alter und Invalidität erwerbsunfähig werden, haben der Gesammt-
heit gegenüber einen begründeten Anspruch auf ein höheres Maaß staat-
licher Fürsorge, als ihnen bisher hat zu Theil werden können t).“
Wie oft gerade die Invalidität infolge von Alter „une maladie sans
remede et cause principale de la misere“ — wie man es daher wohl
auch genannt — Ursache der Verarmung ist, das beweist die Tatsache,
daß in den 77 Städten, die Böhmert beobachtet hat, von den zu dauernder
Unterstützung berechtigten Männern 39,94 Proz. der Altersklasse 60 bis
65 Jahren angehörten; und beim weiblichen Geschlechte ist Alters-
schwäche als Unterstützungsursache gewöhnlich noch viel häufiger als
beim männlichen Geschlechte. Hierfür nur einige typische Beispiele:
Altersschwäche als Unterstützungsursache?):
an... A ee er a cA
Dortmund an G ia? itá io
paw fe a O a
Halle Eman M E
1 0 re Ale A He
Hierbei darf nicht außer acht gelassen werden, um sich vor einer
Ueberschätzung einer durch die Invalidenversicherung zu bewirkenden
Entlastung der Armenpflege zu hüten, daß ein großer Teil der Almosen-
empfänger entweder gar nicht dem Versicherungszwange unterlag oder
nicht die ganze Wartezeit im versicherungspflichtigen Berufe tätig ge-
wesen ist. Das Gesetz konnte auch denjenigen nicht seine Segnungen
bieten, die zur Zeit seines Erlasses schon invalide waren. Jedoch kann
dies alles nicht hinderlich sein, daß die Invalidenversicherung doch zu
großen Hoffnungen auf eine nachhaltige Entlastung der Armenpflege be-
rechtigt. Vor allem ist dem Einfluß der Invalidenversicherung auf die
Armenpflege schon der Umstand günstig, daß sie der Zweig der staat-
lichen Arbeiterversicherung ist, bei dem das weibliche Element relativ
am meisten vertreten ist. Die Gesamtzahl der Versicherten der In-
1) Conrad, J., Grundriß der politischen Oekonomie, 2. Teil, 4. Aufl., Jena 1904.
2) Die Angaben sind Heft 21 der Schriften des Deutschen Vereins für Armen-
pflege und Wohltätigkeit entnommen und beziehen sich auf die Jahre 1880, 1885, 1890
und 1893.
366 Miszellen.
validenversicherung — sowie das Verhältnis der beiden Geschlechter —
sind nur schätzungsweise bekannt. Für 1903 nimmt man an, daß sie
8980600 Männer und 4586600 Frauen umfaßte.
Und wenn auch nur ein Teil der Almosenempfänger, d. h. ein Teil
derjenigen, die beim Fehlen der Versicherung der Almosenpflege an-
heimgefallen wären, in den Genuß einer Rente der Invalidenversicherung
oder Altersversicherung tritt, so liegt darin schon eine ganz erhebliche
Entlastung; sind doch die Leistungen der Almosenpflege nicht einmalige,
sondern regelmäßige und fast durchweg langjährige. Wenn eine Ent-
lastung, die sich ziffernmäßig nur durch eine genaue Untersuchung der
wirtschaftlichen Verhältnisse aller im Rentengenuß Stehenden ergeben
könnte — da doch der Einfluß der Unfallversicherung vor allem ausge
schaltet werden muß — zur Zeit der Erhebungen noch nicht genügend
verspürt wurde, so liegt dies hauptsächlich daran, daß das Invaliden-
versicherungsgesetz noch zu kurze Zeit in Kraft gewesen war. Die in
den ersten Jahren ausbezahlten Renten waren auch noch verhältnis
mäßig kleine Beträge, die sehr häufig ein ergänzendes Eingreifen der
Armenpflege nötig machten; vor allem wohl immer da, wo die Rente
nicht zum Unterhalte des Empfängers allein, sondern auch zur Er-
nährung seiner Familie diente. Die Höhe der Rente ist nun abhängig
von der Zahl der geleisteten Beiträge, also steigend. Ich kann mich
aber der optimistischen Ansicht Freunds !) nicht anschließen, der den
Standpunkt vertritt, dal, da die Rente mit jeder verwendeten Beitrags-
marke wachse, dieser Grund (für das Eingreifen der Armenpflege neben
der Versicherungsleistung) mit den Jahren hinwegfalle. Die Invaliden-
rente, die ein Versicherter erlangen kann, wenn er jedes Jahr 52 Wochen
Beiträge geleistet, würde folgende Höhe erreichen:
Zahl der
in Lohnklasse
peitragsjabte ' I o] o | IV i | =
5 117,80 | 135,60 ' 150,80 166,00 181,20
10 125,60 | 151,20 171,60 192,00 212,40
20 141,20 | 182,40 | 213,20 | 244,90 274.80
30 156,80 | 213,50 | 254,50 206,00 337,20
40 172,40 244,80 296,40 348,00 399,60
50 188,00 | 276,00 | 338,00 400,00 462,00
Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, daß in Zeiten unver
schuldeter Arbeitslosigkeit, welche gewöhnlich nicht durch Weiterver
sicherung gedeckt zu sein pflegen, unbescheinigter Krankheit u.s.w.
die Rente in ihrem Steigen behindert wird. Ich möchte dabei auch
nicht unerwähnt lassen, daß nach § 40 L-V.-G. vom 13, Juli 1899 für
Fälle bescheinigter Krankheit und militärischer Dienstleistungen bei Be
rechnung der Rente einheitlich die Lohnklasse II zu Grunde gelegt
wird, so daß für Renten der Versicherten der III., IV. und V. Klasse
die Zunahme eine geringere ist. Zu dem langsamen Steigen der Rente
sagt Frankenberg?) folgendes:
1) Dr. Freund a. a. O.
2) Brauns „Archiv“, Bd. XII, Berlin 1898.
Miszellen. 367
„Es ist ja überhaupt ein Uebelstand, daß die Invalidenrente nur
ganz langsam für jedes Beitragsjahr sich erhöht, welches in dem Ver-
sicherengsverhältnis bis zum Eintritte der völligen Erwerbsunfähigkeit
gebracht ist. Ihr Mindestsatz, wie er frühestens nach Ablauf der
ersten 47 Wochen seit 1. Januar 1891, also seit dem 17. November 1891,
zur Anweisung kommen konnte, stellte sich auf jährlich 111 M. oder
9,25 M. pro Monat. Jeder Wochenbeitrag erhöht die Rente um 2, 6, 9,
13 Pf. Demnach konnte vom 1. Januar 1898 ab ein Arbeiter, der ununter-
brochen beschäftigt gewesen, mit mehr als 850 M. Jahresverdienst in
den Jahren 1891—1897 pro Monat nur 13,15 M. verlangen, Der äußerst
bescheidene Anfangssatz vergrößert sich also günstigen Falles jährlich
um etwa 6 M., so daß selbst ein hochgelohnter, ständig beschäftigter
Arbeiter heute (1898) noch über 20 Jahre sich gedulden muß, bis er
eine für ihn und allenfalls für seine Frau ausreichende Rente von
25 M. erwarten kann.“ Diese Berechnungen würden sich nach der
Novelle zum Invalidenversicherungsgesetz vom 13. Juli 1899 etwas anders
gestalten, jedoch steht fest, daß der Durchschnittsbetrag der Invaliden-
rente sich jährlich um 3 M. hebt), so daß diese auch im Beharrungs-
zustande noch keine für die Bedürfnisse des Empfängers und seiner
Familie ausreichende Summe darstellen wird.
Die Altersrente steht im Gegensatz zur Invalidenrente ein für alle-
mal fest. Der Versicherte erhält sie, wenn er mindestens 1200 Wochen
Beitrag geleistet hat, nach vollendetem 70. Lebensjahr, selbst wenn er
noch vollkommen arbeitsfähig ist. Sie beträgt nach $ 37 L-V.-G. vom
13. Juli 1899 für
pro Jahr | pro Monat
nn jr Min he Mi
Klasse I , 110 | 9,20
„ H 140 11,70
w IM 170 14,20
nr Ay 200 | 16,70
p W 230 19,20
Kommen Beiträge in verschiedenen Lohnklassen in Betracht, so
wird der Durchschnitt der diesen Beiträgen entsprechenden Altersrente
gewährt. Sind mehr als 1200 Beitragswochen nachgewiesen, so sind
1200 Beiträge der höchsten Lohnklassen der Berechnung zu Grunde zu
legen (§ 37). Die geleisteten Beiträge, die die Zahl 1200 der für den
Versicherten günstigsten Marken überschießen, sind demnach für die Be-
rechnung der Altersrente ohne jede Bedeutung; sie behalten jedoch
ihren Wert für die Berechnung einer demselben Versicherten etwa
später statt der Altersrente zu bewilligenden Invalidenrente. Die Alters-
rente bietet somit selbst in ihrem Höchstbetrage kein genügendes Aus-
kommen für das Leben in der Stadt (s. später), wenn auch einen sehr
nennenswerten Zuschuß für das Budget des Greises. Die Herabsetzung
der Altersgrenze für die Altersrente, etwa auf das 65. Lebensjahr würde
1) Durchschnittsbetrag der Invalidenrente 1891: 113,49 M., 1895: 124,73 M.,
1900: 142,04 M., 1903: 152,27 M.
368 Miszellen.
sehr berechtigten Anforderungen Rechnung tragen. Allerdings müßte
einer solch einschneidenden Maßnahme eine gründliche Untersuchung
der Frage vorausgehen, ob diese Erweiterung auch finanziell durch-
führbar ist; denn jede finanzielle Ueberspannung würde die gesunde
Fortentwickelung der Sozialversicherung gefährden.
In Hinsicht auf die entlastende Einwirkung des Gesetzes auf die
Armenpflege wird außer den vorher beregten Lücken dem Invaliden-
versicherungsgesetz vom 13. Juli 1899 noch ein sehr schwerer Vorwurf
nicht erspart bleiben können. Der $ 46 des Gesetzes lautet nämlich:
„Die aus der Versicherungspflicht sich ergebende Anwartschaft erlischt,
wenn während zweier Jahre nach dem auf der Quittungskarte ver-
zeichneten Ausstellungstage ein die Versicherungspflicht begründendes
Arbeits- oder Dienstverhältnis, auf Grund dessen Beiträge entrichtet
sind, oder die Weiterversicherung nicht oder in weniger als insgesamt
20 Beitragswochen bestanden hat.“
Hierzu der $ 146 desselben Gesetzes:
„Die nachträgliche Entrichtung von Beiträgen für eine versiche-
rungspflichtige Beschäftigung ist nach Ablauf von zwei Jahren, sotern
aber die Beitragsleistung wegen verspäteter Feststellung einer bisher
streitigen Versicherungspflicht oder aus anderen Gründen ohne Ver-
schulden der Beteiligten unterblieben ist, nach Ablauf von vier Jahren
seit der Fälligkeit unzulässig.“
Das Erlöschen der Anwartschaft, das in der Mehrzahl der Fälle
eine große Härte bedeutet, macht oft gerade die Möglichkeit einer Ent-
lastung der Arıenpflege durch die Invalidenversicherung zunichte.
Weymann!) führt in einer sehr interessanten Arbeit Näheres über das
Verhängnisvolle dieser Bestimmungen aus. Einige Sätze aus diesen Aus-
führungen mögen folgen: „.. . aber wer in der Praxis die Wirkungen
dieser Vorschriften beobachtet, der wird kaum der Erkenntnis aus-
weichen können, daß $ 46 in Verbindung mit $ 146 des Gesetzes bei
aller Bescheidenheit seiner Anforderungen doch ganz außerordentliche
Härten in sich trägt, Härten, die in beklagenswert vielen Fällen den
vom Gesetz gewollten Erfolg zerstören; Härten, die mit der wachsenden
wirtschaftlichen Einsicht und Kenntnis des Gesetzes auf seiten der
Versicherten schwinden zu sehen, nur geringe Aussicht besteht; und vor
allem Härten, deren es durchaus nicht bedarf, um die Zwecke, die der
Gesetzgeber mit $ 46 verfolgt, zu erreichen“. Und weiter unten: „Wenn
ein Arbeiter 40—50 Jahre seines Lebens hindurch Woche für Woche
seinen Beitrag entrichtet und auf diese Weise Hunderte von Mark der
Versicherungsanstalt zugeführt hat, dann wird es jedenfalls im Rechtsbe-
wußtsein des einfachen Mannes als eine schwere Unbilligkeit empfunden
werden, wenn er die dadurch erworbenen Ansprüche verliert, dadurch,
daß er versäumt, den Betrag von 2,80 M. — unter Umständen sogar
nur den Betrag von 14 Pfg., denn der Mangel einer einzigen Marke
kann das ganze Rentenrecht vernichten — rechtzeitig einzuzahlen; wenn
er nicht anders als derjenige behandelt wird, der überhaupt nur ein
1) K. Weymann in „Die Arbeiterversorgung‘, Jg. 21, No. 17.
Miszellen. 369
paar Groschen oder Mark eingezahlt hat. Diese Empfindung wird
doppelt so stark sein, wenn der Versicherte sich sagt, daß diese ver-
hältnismäßig geringfügige Versäumnis ihm einträgt den Verlust nicht
etwa irgend eines beliebigen entbehrlichen, wenn auch vielleicht wert-
vollen Gutes, sondern der unentbehrlichen Sicherheit seines Alters, der
Sicherheit, welche ihm zu verschaffen der Oeffentlichkeit so wichtig erschien,
daß er um deswillen gezwungen worden ist, sein ganzes Arbeiterleben
hindurch dafür zu sparen. Und wenn dieser Verlust sich wenigstens durch
eine Nachzahlung, sei es selbst mit einem hohen Aufschlag als Säumnis-
strafe, abwenden ließe, dann würden die üblen Folgen der Säumnis mit
einem, wenn auch vielleicht sehr empfindlichen Schlage ausgestanden
sein. Aber daß das Unterlassen der Zahlung von 3 oder 4 M. oder
gar von wenigen Pfennigen den Verlust des ganzen auf viele Hunderte,
unter Umständen Tausende von Mark zu bewertenden, für den kleinen
Mann ein Vermögen darstellenden Rentenrechts bedeutet, daß keine noch
bedeutende Nachzahlung angenommen wird, daß der Versicherte sich
so wieder 4 Jahre lang allen Unsicherheiten des Schicksals preisgegeben
sieht, das ist eine Tatsache, deren wirtschaftlich und psychologisch ver-
hängnisvolle Bedeutung sich, wie mir scheint, schwer überschätzen läßt.
Vier Jahre sind eine lange Zeit für den, der mit dem baldigen Eintritte
der Erwerbsunfähigkeit rechnen muß...“ „Wer sich die Menge der
Fälle vergegenwärtigt, in denen in der Praxis das Erlöschen der An-
wartschaft zur Sprache kommt — und sie gehören ja zum täglichen
Brot der Rechtsprechungsinstanzen — wird mir zustimmen, wenn ich
sage, daß in der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle das Erlöschen
nicht als das naturgemäße Ergebnis einer wirtschaftlichen Entwickelung
sich darstellt, sondern gerade als das Ergebnis entweder besonders
gedrückter wirtschaftlicher Verhältnisse, die jenen Schutz besonders
wünschenswert machen, oder aber mangelnder wirtschaftlicher Schulung
und Einsicht.“
Es wäre in unserem Sinne, hinsichtlich einer durch die Arbeiter-
versicherung zu bewirkenden Entlastung der Armenpflege, sehr zu be-
grüßen, wenn eine baldige Novelle diese Paragraphen fallen ließe.
In den Kleinstädten und auf dem Lande, da ist das Feld der
Wirksamkeit der Altersversicherung. In den Großstädten ist es ge-
radezu eine Seltenheit, daß ein Arbeiter das 70. Lebensjahr vollendet.
Manche ältere Arbeiter, die früher in die Großstadt verzogen sind,
kehren in höherem Alter wieder aufs Land zurück, da ihnen dort noch
am ersten Gelegenheit zum Unterhalte durch eigene Hände Arbeit ge-
boten ist. In der Mehrzahl der Fälle, selbst in kleineren Städten und
sogar auf dem Lande, haben Arbeiter in höherem Alter doch schließlich
die Hilfe der Armenpflege in Anspruch nehmen müssen. In jüngeren
Jahren konnten sie keine Rücklagen machen, selbst wenn sie den Trieb
hierzu — was auch zu den Seltenheiten gehören mag — verspürt hätten.
Ihre Kinder, zwar oft in größerer Zahl vorhanden, sind in der Mehrzahl
der Fälle wieder in derselben wirtschaftlichen Lage wie die Eltern und
können, selbst bei dem besten Willen, nichts für sie tun. Auf dem
Dritte Folge Bd, XXXIII (LXXXVIII), 24
370 Miszellen.
Lande sind alte Leute, die von ihren Söhnen und Töchtern nicht ernährt
werden können, meistens die einzigen Almosenempfänger gewesen; und
hier ist es auch relativ am häufigsten, daß Versicherte die Altersgrenze
erreichen, bei der die Altersversicherung eingreift. Die Armenpflege hat
nun nıcht mehr nötig, einstweilen einzutreten und den Angehörigen in un-
erquicklichen, langwierigen Verhandlungen ihre Alimentationspflichten
zum Bewußtsein zu bringen. Die Altersrenten reichen nicht nur allein
dazu aus, die Bedürfnisse des Empfängers zu befriedigen, sondern können
bei den bescheidenen ländlichen Verhältnissen dem Greise ruhige Tage
seines Alters, einen schönen Lebensabend bereiten. Die Kinder werden
den im Rentengenuß stehenden Vater gerne aufnehmen und nicht als
„überflüssigen Esser mit scheelen Blicken betrachten“, da er ihnen jetzt
nicht mehr zur Last fallen kann, sondern sogar ein garantiertes Ein-
kommen auf Lebenszeit besitzt.
Noch bis vor einigen Jahren war es ein ungeheuerer Uebelstand,
daß die Invalidenversicherung erst dann eingriff, wenn eine zweiund-
fünfzigwöchentliche Krankheit den Arbeiter „invalide“ gemacht hatte,
und die Leistungen der Krankenkassen endeten schon nach 13 Wochen —
den Kranken in den weitaus meisten Fällen der Sorge der Armenpflege
überantwortend, die keineswegs die so wohlgeordnete Krankenfürsorge
der Krankenversicherung fortsetzte. In der neuesten Zeit — die Novelle
datiert vom 25. Mai 1903 — ist darin völlig Wandel geschaffen: die
Krankenfürsorge der Krankenversicherung und die der Invalidenver-
sicherung gehen in denjenigen Fällen, in denen eine langwährende
Krankheit das Eingreifen der letzteren bedingt, in der 27. Woche der
Krankheit gesetzlich ineinander über. Die Krankenfürsorge wird fort-
gesetzt und zwar sehr intensiv, da hierdurch oftmals einer schwereren
Belastung durch dauernde Invalidität vorgebeugt wird. Hierdurch wird
die Invalidenversicherung dem Prinzip der gesamten Sozialgesetzgebung,
als Schutzhort für Leben und Gesundheit zu dienen und die möglichst
lange Erhaltung der Arbeitskraft jedes einzelnen Versicherten anzu-
streben, zu ihrem Teile gerecht. Die gesetzliche Grundlage der Heil-
bestrebungen der Invalidenversicherung bilden die $$ 18—23 und 47
des Invalidenversicherungsgesetzes vom 13. Juli 1899. Im $ 18 dieses
Gesetzes heißt es:
„Ist ein Versicherter dergestalt erkrankt, daß als Folge der Krank-
heit Erwerbsunfähigkeit zu besorgen ist, welche einen Anspruch auf
reichsgesetzliche Invalidenrente begründet, so ist die Versicherungs-
anstalt befugt, zur Abwendung dieses Nachteils ein Heilverfahren in
dem ihr geeignet erscheinenden Umfange eintreten zu lassen.
Die Versicherungsanstalt kann das Heilverfahren durch Unter-
bringung des Erkrankten in einem Krankenhause oder in einer Anstalt
für Genesende gewähren. Ist der Erkrankte verheiratet oder hat er
eine eigene Haushaltung oder ist er Mitglied der Haushaltung seiner
Familie, so bedarf es hierzu seiner Zustimmung ....... “
Es handelt sich hierbei also nicht um Krankheiten, die vorüber-
gehend sind, sondern ausnahmslos um solche, die ihrer Natur nach
geeignet sind, einen Dauerzustand, die Invalidität im Sinne des Ge-
Miszellen. 371
setzes herbeizuführen. Wenngleich die Rentenleistung tatsächlich und
gesetzlich die Hauptaufgabe der Invalidenversicberung ist und es sich
bei ihrer Tätigkeit der Krankenfürsorge eigentlich nur um Neben-
leistungen handelt, so sind doch die Träger der Invalidenversicherung
— da ihr finanzielles Interesse sie auf eine möglichst lange Erhaltung
der Arbeitskraft jedes einzelnen Versicherten hinweist und infolge ihrer
pekuniären Leistungsfähigkeit — geradezu die „Grundpfeiler der auf
die Bekämpfung und Verhütung der Volkskrankheiten gerichteten Be-
strebungen geworden“. Hierbei spielt der Kampf gegen die Tuber-
kulose die größte Rolle, und die Invalidenversicherung hat viel dazu
beigetragen, eine Eindämmung dieser „Geißel des Menschengeschlechts“
berbeizuführen. Wie sehr die Tuberkulose verbreitet ist, das zeigten
bereits des öfteren die im Reichsversicherungsamt bearbeiteten Sta-
tistiken der Invaliditätsursachen, und die Todesursachenstatistiken des
Reichsgesundheitsamts konnten nur die traurige Tatsache bestätigen.
Ein guter Kenner der Verhältnisse, Dr. Rumpf, sagt in einer Abhand-
lung in der Zeitschrift des Deutschen Vereins für Versicherungswissen-
schaft, daß von den im versicherungspflichtigen Alter stehenden Per-
sonen jeder Dritte an Lungentuberkulose stirbt. „Mitten unter uns
haust ein Feind, frißt heimlich am Marke unseres Volkes, verschont
nicht hoch noch niedrig und hält jahraus, jahrein eine Ernte von
180 000 Menschen in unserem Volke: die Lungentuberkulose“ !), Eine
solche Verbreitung der Tuberkulose und der riesige Anteil derselben
an der Herbeiführung der Invalidität mußte ja die Organe der Invaliden-
versicherung darauf hinweisen, daß die erfolgreiche Bekämpfung der
Tuberkulose ihre Aufgabe — als in ihrem pekuniären Interesse liegend —
sein müßte. Und so zeigen denn die Ausgaben der Organe der staat-
lichen Invalidenversicherung eine rapide Zunahme in den Aufwendungen
für das Heilverfahren, wobei die allergrößte Steigerung, auf der er-
wähnten Erkenntnis fußend, auf die Heilbehandlung Tuberkulöser entfällt.
Heilbehandlungskosten
Im für die Im für die
Jahr r Behandlung Jahr : Behandlung
allgemeinen Tuberkulöser allgemeinen Tuberkulöser
1891 373 — 1898 2 769 330 1548 364
1892 31 884 — 1899 4056975 2 405 037
1893 108 339 — 1900 6 210720 3 760 761
1894 364 576 — 1901 7912219 5038 751
1895 631 789 — 1902 9 056 240 5 861 166
1896 I 175 504 — 1903 II 501 205 6781 507
1897 2011149 1027 096 1904 12 735 080 8 474 281
Die Aufstellungen des Reichsversicherungsamtes lassen erkennen, daß die
Behandlung der Tuberkulose hauptsächlich in den zahlreichen Heilstätten
1) Dr. Weicker in „Die Invaliden- und Altersversorgung‘, Jahrg. 1895/96.
24*
372 Miszellen.
für Lungenkranke sich vollzogen hat. Die Versicherungsanstalten haben
sogar eigene Heilanstalten errichtet und bis Ende 1903 die sehr be-
trächtliche Aufwendung von 29068861 M. hierfür gemacht. Der Heil-
erfolg wird jedenfalls sehr gefördert, indem bei Aufnahme in ein Sana-
torium die Versicherungsanstalten für die zurückbleibenden Angehörigen
des Kranken möglichst ausreichend sorgen. Hierdurch wird nicht nur
eine größere Bereitwilligkeit des Kranken, sich einem geordneten Heil-
verfahren Zu unterziehen, erreicht, sondern auch durch Beseitigung eines
psychologischen Hindernisses der Heilung, die Möglichkeit des Erfolges
bedeutend erhöht. Es ist nicht einmal für die Uebernahme des Heil-
verfahrens durch eine Versicherungsanstalt nötig, daß die zu behan-
delnde Person die für die Entstehung eines Rentenanspruchs erforder-
liche Wartezeit zurückgelegt hat, was insbesondere für die Tuberkulose-
bekämpfung sehr in Frage kommt. Die Aufstellungen über die Erfolge,
die die Versicherungsanstalten mit ihren Heilbestrebungen erzielt haben,
ergeben, daß der Aufwand in einer angemessenen Zahl der Fälle sich
sehr wohl gelohnt hat. (S. Tabellen 6a und 6b.)
Tabelle 6a.
Das ständige Heilverfahren wegen Lungentuberkulose wurde ab-
geschlossen bei:
Jahr Männern | Frauen
1897 2 598 736
1898 3 806 1104
1899 6032 1 666
1900 8 442 2652
1901 10 812 3844
1902 12 187 4 302
1903 14 937 5211
1904 16 957 6520
Von 100 Behandelten erlangten — behielten — Erwerbsfähigkeit.
| 1897 | 1898 | 1899 | 1900 | 1901 | 1902 | 1903 | 1904
i E Männer
Am Ende des Behandlungsjahres 61 67 67 66 70 72 3 | 74
„nnd | 42 | 44 | 48 48 | 53 | 57 | 59
3 S „» 2. t Jahres nach der 29 37 39 40 45 48 A
EEE 8. | Behandlung 28.| 31|.33 35,138 | i
» » „4. 25 28 30 | 30 =
Frauen
Am Ende des Behandlungsjahres 64 | 69 67 67 72 76:77 77
er i 50 | 49 | 5I 52 | 6o | 62 | 65 |
a PR » 2. X Jahres nach der 35 43 43 46 5I 54 .
33 » »„ 3 Behandlung 36 39 40 40 | 45 R al
» mo mk 32 | 38 | 37 | 35 .
Miszellen. 373
Tabelle 6b.
Das ständige Heilverfahren bei anderen Krankheiten (außer Lungen-
tuberkulose) wurde abgeschlossen bei:
Jahr | Männern Frauen
1897 4 082 1 806
1898 5 025 2489 3
1899 6 870 3 802
1900 8755 5 276
1901 9 176 6 009
1902 9837 6 196
1903 11 868 7 761
1904 12 182 8 426
Von 100 Behandelten erlangten — behielten — Erwerbsfähigkeit:
o 1897 | 1898 | 1899 | 1900 | 1901 | 1902 | 1903 | 1904
=T F = Männer —
Am Ende des Behandlungsjahres 60o | 66 | 60 62 | 65 64 , 69 zı
» » 4 45 | 48 | 47 48 53 52 56 à
“o » — » 2. \ Jahres nach der 39 | 43 |4 | 42 47 | 46 s
now mo Behandlung 36 | 40 | 37 | 39 | 43
ET 34 | 37 | 35 | 35 |
Frauen
Am Ende des Behandlungsjahres 58 | 66 | 62 , 66 | 67 | 70 | 72 | 76
"nd 43 49 | 48 | 51 56 59 62 $
w w 2. {| Jahres nach der 39 45 | 43 45 51I 53 .
„on m 9 Behandlung 35 42 40 43 u er
no „4 35 40 39 39 A ali
(Aus: Die deutsche Arbeiterversicherung als soziale Einrichtung. Berlin 1905.)
Selbst wenn man nur in einer bescheidenen Zahl der Fälle von
einem Dauererfolg wird reden können — macht doch die Lage der
Familie es fast immer erforderlich, daß der zurückgekehrte Ernährer
sofort seine Arbeit, möglichst in vollem Umfange, wieder aufnimmt und
droht hierdurch bei dem Aufenthalte in engen, dumpfigen Räumen
manch schöner Heilerfolg wieder verloren zu gehen — so darf man
aber andererseits nicht aus dem Auge lassen, daß die Rentabilität der
für den Versicherten aufgewendeten Summen nicht an ihm allein zu
messen ist, da der Einfluß einer geordneten Heilbehandlung sicherlich
über seine eigene Person hinausgeht. „Zurückgekehrt in seinen Kreis
wird er Träger und Apostel der Hygiene werden, weil er in den ge-
sundheitlichen Mißbräuchen daheim jetzt eine Gefahr für sich selbst
sieht. So wird der einzelne, der unter dem Dache der Heilstätte seine
Heilung oder Besserung erlangt hat, außerhalb derselben ein Mitarbeiter
an der großen Aufgabe der Volksgesundung !)!
mn
1) Dr. Weicker a. a. O.
374 Miszellen.
Handelt es sich bei der Heilbestrebung der Invalidenversicherung
also im großen und ganzen um eine rentierliche Anlage der aufgewen-
deten Summen, so bietet dagegen die Einrichtung von „Invalidenheimen“
für den finanziellen Stand der Versicherungsanstalten keine solch ver-
lockenden Aussichten. Nur reiche Anstalten, solche, die bei ihrem „Sonder-
vermögen“ nennenswerte Ueberschüsse erzielt haben, sind überhaupt
im stande, an die Stelle der Rentengewährung ihren Invaliden- und
Altersrentnern Aufnahme in ein Invalidenheim zu bieten. Anstoß zu
dieser Art der Leistung der Organe der Invalidenversicherung gab die
Landesversicherungsanstalt Braunschweig durch die Veranstaltung einer
Umfrage bei den über 50 Jahre alten Invalidenrentenempfängern ihres
Bezirkes, ob sie geneigt seien, gegen Ueberlassung ihrer Rente an die
"Versicherungsanstalt in ein Invalidenheim zu gehen, das die Anstalt zu
erbauen beabsichtige.e Wohl auf diese Anregung hin nahm die Novelle
zum Invalidenversicherungsgesetz vom 13. Juli 1899 im $ 25 folgende
Bestimmung auf:
„Auf Grund statutarischer Bestimmung der Versicherungsanstalt
kann der Vorstand einem Rentenempfänger auf seinen Antrag an Stelle
der Rente Aufnahme in ein Invalidenhaus oder in ähnliche von Dritten
unterhaltene Anstalten auf Kosten der Versicherungsanstalt gewähren.
Der Aufgenommene ist auf ein Vierteljahr und, wenn er die Erklärung
nicht einen Monat vor Ablauf dieses Zeitraumes zurücknimmt, jedesmal
auf ein weiteres Vierteljahr an den Verzicht auf die Rente gebunden.“
Es wird hierdurch vor allen denjenigen Rentnern, die ohne Familien-
angehörige sind, Gelegenheit geboten, in Ruhe, bei entsprechender Pflege,
ihre Renten zu genießen. Die zweite Bestimmung des zitierten Paragraphen
hat wohl den Zweck, eine übereilte Kündigung von seiten des Ver-
sicherten zu hintertreiben, „sie soll verhindern, daß aus augenblicklichem
Mißmut oder gar aus leichtfertigen Gründen auf die Benutzung einer
Einrichtung verzichtet wird, die im wohlverstandenen Interesse aller
Beteiligten gelegen ist“!
In einem Punkte berühren sich die beiden vorerwähnten Bestre-
bungen, wo es sich um die Aufnahme Tuberkulöser in ein Invalidenhaus
handelt. Gerade für unheilbare Lungenkranke ist diese Einrichtung von
unschätzbarem Werte, nicht allein deshalb, weil ihnen dort die in erhöhtem
Maße nötige Pflege vollauf gewährt werden kann, sondern weil sie auch
immer einen Infektionsherd und damit eine ständige Gefahr für ihre
Mitmenschen bilden. Somit dürften sich in dieser Hinsicht Armenpflege
und Invalidenversicherung die Hand reichen, indem in einer Unter-
drückung der „Geißel der Menschheit“ nicht zuletzt die Quelle einer
reichen, nachhaltigen Entlastung der Armenpflege liegen muß.
Die Kette der Maßnahmen des Invalidenversicherungsgesetzes, durch
welche eine Entlastung der Armenpflege unbedingt herbeigeführt werden
muß, enthält noch ein sehr wichtiges Glied. Das Gesetz gibt den Ver-
sicherungsanstalten das Recht, unter gewissen Bedingungen Ueberschüsse,
ihres „Sondervermögens“ über den zur Deckung ihrer Verpflichtungen
dauernd erforderlichen Bedarf zu anderen als den im Gesetze vorgesehenen
Leistungen im wirtschaftlichen Interesse der der Versicherungsanstalt an-
Miszellen. 375
gehörenden Rentenempfänger, Versicherten, sowie ihrer Angehörigen zu
verwenden. Von diesem Rechte haben die Versicherungsanstalten ausge-
dehnten Gebrauch gemacht. In dem Schaffen gesunder Arbeiterwohnungen
eine sehr rationelle Fortsetzung ihrer Heilbestrebungen, einen nicht zu
unterschätzenden Alliierten in dem Kampfe gegen die Tuberkulose er-
blickend, haben sie die von Vereinen oder Genossenschaften ausgehenden
Bestrebungen dieser Art stets in entgegenkommendster Weise unterstützt.
So haben die sämtlichen Träger der Invalidenversicherung bis Ende 1904
nicht weniger als 133 525 433 M. zu niedrigem Zinstuße und erleich-
terten Rückzahlungsbedingungen zum Bau von Arbeiterwohnungen aus-
geliehen. Riesige Kapitalien, bis Ende 1904 284 444 008 M. aus dem
„Sondervermögen“ der Versicherungsanstalten machten die Anlage von
Volksbädern, Krankenhäusern und ähnlicher gemeinnütziger Institutionen
möglich und wirkten somit indirekt auch im Sinne der Sozialgesetzgebung,
indem sie zur Hinausschiebung der Invalidität der Versicherten beitrugen,
mitarbeiteten an der Hebung der Volksgesundheit und hierdurch auch Er-
hebliches für eine Entlastung der öffentlichen Armenpflege leisteten!
Wenn eine unmittelbare Entlastung der Armenpflege durch die
Invalidenversicherung zur Zeit da die Erhebungen stattfanden noch
nicht genügend verspürt wurde, so liegt dies, wie erwähnt, wohl vor
allem daran, daß das Gesetz noch zu kurze Zeit in Kraft gewesen war.
Auch konnte, solange die „Uebergangsbestimmungen“ des IVG. vom
22. Juni 1889 noch in Kraft waren — Nachweise verlangend, die nur eine
sehr beschränkte Anzahl von Arbeitern zu erbringen vermochte — der
Einfluß des Gesetzes nicht in seinem ganzen Umfange in die Erscheinung
treten. Ferner, „bevor nicht der alte Bestand der Almosenempfänger
durch Tod oder aus anderen Gründen aus der Armenpflege ausgeschieden
sein wird“, kann das Gesetz nicht seine volle Wirksamkeit entfalten.
Das neue Geschlecht ist unter der Wirksamkeit dieser Gesetze
aufgewachsen und wird bestrebt sein, sich deren Segnungen soviel als
möglich zu eigen zu machen!
Teil II.
Unsere Ausführungen ergaben somit, daß schon eine recht beträcht-
liche Entlastung der Armenpflege durch die Arbeiterversicherung statt-
gefunden hat. Fürwahr wir können mit Recht stolz sein auf das, was
wir erreicht haben! Mögen jedoch unsere Erfolge für uns nur der Sporn
zu weiterer Tätigkeit sein, zum Ausbau unserer Sozialgesetzgebung.
Große Probleme harren hier noch der Lösung. Es betrifft dies, außer
anderen bereits oben erwähnten Vorschlägen zur Weiterentwickelung
unserer Arbeiterversicherung, vor allem die Errichtung einer staatlichen
Witwen- und Waisenversicherung und die Arbeitslosenfürsorge auf dem
Wege der Versicherung.
Zu allen beiden finden sich schon recht erfreuliche Ansätze in der
bestehenden Gesetzgebung, und zwar in den Unfallversicherungsgesetzen.
Die Berufsgenossenschaften sind bekanntlich verpflichtet, für die Witwen
und Waisen ihrer durch Betriebsunfall getöteten Versicherten durch
376 Miszellen.
Gewährung von Renten zu sorgen. Was den Ansatz der Sozialversiche-
rung zu einer Arbeitslosenversicherung betrifft, so ist hiermit die Be-
stimmung des $ 9 des Gewerbeunfallversicherungsgesetzes gemeint, dahin
lautend, daß der Genossenschaftsvorstand befugt ist, die Teilrente eines
Versicherten zur Vollrente zu erhöhen, solange der Verletzte aus Anlaß
des Unfalls tatsächlich und unverschuldet arbeitslos ist. (S. auch Parallel-
paragraphen der übrigen Unfallversicherungsgesetze.)
Kranken- und Invalidenversicherung gewähren ja als eigentliche
Leistungen den Versicherten und ihren Angehörigen nur Unterstützungen,
die regelmäßig mit dem Tode des Versicherten enden. Die kleinen Geld-
beträge, die die Krankenversicherung aus etwaigen Ueberschüssen des
gesetzlichen Sterbegeldes und die Invalidenversicherung durch Rück-
gewähr des auf einen verstorbenen Versicherten entfallenden Teils der
eingezahlten Beiträge — unter gewissen Bedingungen — an dessen Hinter-
bliebenen, außer ihren gesetzlichen Hauptleistungen ihren Mitgliedern
zukommen lassen, tragen nicht im mindesten den Charakter einer Witwen-
und Waisenversorgung. Eine Ausnahmestellung nahm bislang nur der
Bergbau ein, wozu in letzter Zeit noch die Seeberufsgenossenschaft als
Trägerin einer Witwen- und Waisenversicherung hinzugekommen ist.
Der $ 11 IVG. vom 13. Juli 1899 sagt: „Durch Beschluß des Bundes-
rats kann der auf Grund des Gesetzes vom 13. Juli 1887 errichteten
Seeberufsgenossenschaft gestattet werden, unter ihrer Haftung eine be-
sondere Einrichtung zu dem Zwecke zu begründen, die Invalidenver-
sicherung nach Maßgabe dieses Gesetzes für diejenigen Personen zu
übernehmen, welche in den zur Genossenschaft gehörenden Betrieben
oder einzelnen Arten dieser Betriebe beschäftigt werden, sowie für die-
jenigen Unternehmer, welche gleichzeitig der Unfallversicherung und
der Invalidenversicherung unterliegen. Eine solche Einrichtung darf
jedoch nur gestattet werden, wenn für die Hinterbliebenen der darin
versicherten Personen von der Genossenschaft zugleich eine Witwen-
und Waisenversorgung begründet wird. Werden solche Einrichtungen
getroffen, so sind in denselben diejenigen Personen, für welche sie
bestimmt sind, kraft Gesetzes versichert.“
In der allerneuesten Zeit hat die Seeberufsgenossenschaft die In-
validenversicherung ihrer Mitglieder und für den im Gesetze näher
umgrenzten weiteren Personenkreis übernommen, wodurch also auch
für denselben die Witwen- und Waisenversicherung obligatorisch ge-
worden ist.
Schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sagte ein Autor:
„Es gehört ohne allen Widerspruch zur Vorsorge einer weisen Regie-
rung, soviel als möglich für den Unterhalt der Witwen und Waisen zu
sorgen und ihre gänzliche Verarmung zu verhindern“! Nun, nach dem
Erlasse unserer Sozialgesetze, mußte sich die Debatte über die Notwen-
digkeit einer staatlichen Fürsorge für Witwen und Waisen insofern
ändern, als sie sich auf den entsprechenden Ausbau unserer Sozialversiche-
rung konzentrierte. Daß das Fehlen dieser Versicherung im Rahmen
unserer Arbeiterversicherung eine große Lücke derselben bedeutet, wird
wohl allgemein anerkannt. „Zur Arbeiterversicherung gehört auch die
Miszellen. 377
Versorgung der Hinterbliebenen des Arbeiterstandes. Dieser Zweig der
Versicherung ist aber auch da, wo die Arbeiterversicherung zu einer
öffentlich rechtlichen Institution geworden ist, wie in Deutschland,
noch nicht geregelt. Erst dann aber wird die Arbeiterversicherung als
abgeschlossen angesehen werden können, wenn auch die Witwen- und
Waisenversorgung in sie aufgenommen ist“ 1).
Drängt schon die Anlage unserer Sozialversicherung zu diesem Zweige
staatlicher Fürsorge hin, so lassen auch die täglichen Beobachtungen
über die Lage der Witwen keinen Zweifel darüber aufkommen, daß
eine solche Vorsorge dringend nötig ist. Sehr interessant sind die
Ausführungen Prinzings ?) über diese Frage. Der Kern seiner Ausfüh-
rungen: „Mehr als !/, aller Witwen in Deutschland ist also entweder
auf öffentliche Armenpflege oder private Wohltätigkeit angewiesen oder
lebt, namentlich in den Städten, wegen des unsicheren und ungenügenden
Verdienstes, in den ungünstigsten Verhältnissen“, weist wieder mit Schärfe
auf die unbedingte Notwendigkeit einer staatlichen Vorsorge für Witwen
und Waisen deutlich hin, welche des öfteren von offizieller Stelle, vom
Reichskanzler und dem Reichstag, anerkannt worden ist. Einen Schritt
zur Lösung dieses Problems haben die gesetzgebenden Faktoren bereits
unternommen, indem sie in das Zolltarifgesetz vom 25. XII. 1903 die
Bestimmung aufgenommen haben, daß der auf den Kopf der Bevölke-
rung des Deutschen Reiches entfallende Nettozollertrag der nach den
Tarifstellen 1, 2 u. s. w. des Zolltarifs zu verzollenden Waren, welcher
den nach dem Durchschnitt der Rechnungsjahre 1898—1903 auf den
Kopf der Bevölkerung entfallenden Nettozollertrag derselben Waren
übersteigt, zur Erleichterung der Durchführung einer Witwen- und
Waisenversicherung zu verwenden ist. Ueber diese Versicherung ist
durch ein besonderes Gesetz Bestimmung zu treffen. Bis zum Inkraft-
treten dieses Gesetzes sind die Mehrbeträge für Rechnung des Reiches
anzusammeln und zinslich anzulegen ... Die praktische Tragweite dieser
Bestimmung läßt sich im voraus noch nicht einmal schätzen, viel weniger
auch nur annähernd bestimmen. Aber es ist schon sehr wichtig, die
bloße Tatsache zu konstatieren, daß die gesetzgebenden Körperschaften
hierdurch wieder einmal die unbedingte Notwendigkeit dieser Reform
anerkannt und gar schon Schritte zu deren Lösung unternommen haben.
Auch die Versicherung gegen unverschuldete Arbeitslosigkeit sollte
durch die Organe unserer Arbeiterversicherung mitübernommen werden.
Dabei handelt es sich gewiß nicht um arbeitsscheues Gesindel, soll der
Trägheit nicht Vorschub geleistet werden; nein, es betrifft die „Opfer“
unserer wirtschaftlichen Entwickelung, Personen, die gerne arbeiten
möchten, aber keine Gelegenheit finden, ihre Arbeitskraft in lohnendem Er-
werbe zu verwerten. Nicht bloß einen schweren wirtschaftlichen Verlust für
unsere nationale Wohlfahrt bedeutet es, wenn Hunderttausende von Arbeits-
kräften so brach liegen, nein, auch sehr hoch anzuschlagen ist die Einbuße
an sittlicher Kraft und Zufriedenheit, welche die Gesamtheit erleidet!
1) Elster, Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 7, Jena 1901.
2) Prinzing, in Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Jahrg. 3.
378 Miszellen.
Erörterungen über die Möglichkeit der praktischen Lösung dieser
Probleme, vor allem auch die Beleuchtung der Frage, an welchen Zweig
der bestehenden Arbeiterversicherung diese Versicherungen angeschlossen
werden sollen, wer die Beiträge leisten soll u. s. w., gehören nicht in
den Rahmen dieser Untersuchung. Hoffen wir, daß in Bälde sich Mittel
und Wege finden lassen möchten, um im Wege der Versicherung auch
diese Verarmungsgründe zu erfassen, um viele Opfer der Verhältnisse
vor dem traurigen, deprimierenden Schritte zu bewahren, die Hilfe der
öffentlichen Armenpflege anrufen zu müssen.
Möchte die Arbeiterversicherung in ihrer Vollendung der Armen-
pflege immer mehr Boden abgewinnen und ihn durch einen besseren,
fruchtbareren ersetzen, auf daß wir der Zeit entgegengehen (die Armen-
pflege wird wohl nie ganz außer Wirksamkeit treten können), in der die-
jenigen, welche die Hilfe der öffentlichen Armenpflege in Anspruch nehmen
müssen, auf eine Minimalzahl vom Unglück Verfolgter beschränkt sind!
Miszellen. 379
VII.
Preisaufgaben der Rubenow-Stiftung.
L Die Stellung des deutschen Richters zu dem Gesetz seit dem
Ausgang des 18. Jahrhunderts.
Es ist zu erforschen, wie sich seit dem Einsetzen der Kodifikationen
bis auf die Jetztzeit die Wissenschaft, die Gesetzgebung und die Ge-
richtspraxis zu dem Problem gestellt haben, ob der Richter nur zur An-
wendung der Gesetze oder auch zur Ergänzung von Gesetzeslücken resp.
sogar zur Abänderung von Gesetzesbestimmungen berufen sei. Für die
Gerichtspraxis ist zunächst festzustellen, inwieweit sieim tatsächlichen
Erfolge zu Ergänzungen und Aenderungen der Gesetze gelangt ist:
des weiteren aber auch, ob sie solche rechtschöpferische Tätigkeit nur
unbewußt (im Glauben, das Gesetz lediglich auszulegen) oder auch be-
wult geübt, und welche Methoden sie dabei befolgt hat.
Als Forschungsgebiet kommen die Verhältnisse in Deutschland (und
speziell in Preußen) in Frage. Aber Ausblicke auf die französischen
und englisch-amerikanischen Zustände werden nötig sein. Der Schwer-
punkt ist auf die Erforschung der Zivilrechtspraxis zu legen.
IL Entwickelung und Aussichten des deutschen Ausfuhrhandels.
Die Produktionsbedingungen der wichtigeren Deutschen Ausfuhr-
gewerbe und die Konkurrenzlage ihrer hauptsächlichen Absatzmärkte
sind auf Grund der deutschen und ausländischen amtlichen und privaten
Berichterstattung ohne unnötige Breite darzustellen. Auf die benutzten
Quellen ist fortlaufend zu verweisen. Die Vorgeschichte des heutigen
deutschen Ausfuhrbandels kann bis zur Gründung des deutschen Reiches
Insoweit zurückverfolgt werden, als sie für die Prognose seiner künftigen
Entwiekelung lehrreich ist. Der Ausblick in die Zukunft soll nicht auf
die nächsten Jahre beschränkt, sondern auf die dauerhaften Entwickelungs-
tendenzen gerichtet werden. Neben der quantitativen Ausdehnungsfähig-
keit des Absatzes sind die spezifischen Vorteile und Nachteile des deutschen
Konkurrenten zu ermitteln und deren letzte Ursachen zu suchen, um so
eine Theorie der internationalen Arbeitsteilung vorzubereiten. Ausfuhr-
gewerbe, die noch unbedeutend, aber entwickelungsfähig sind, sollen
nitberücksichtigt werden.
380 Miszellen.
Praktische Kenntnis des Weltmarktes und Befragung hervorragender
Exportkaufleute und Exportfabrikanten ist erwünscht, Beherrschung der
nationalökonomischen Theorie unerläßlich. Wirtschaftspolitische Ten-
denzen dürfen nicht zum Ausdruck kommen.
III. Die Wirksamkeit des Oberpräsidenten J. A. Sack von Pommern
(1818 — 1831) soll mit besonderer Berücksichtigung der Organisation
der Verwaltung und der Entwickelung der Hilfsquellen der Provinz
quellenmäßig ergründet und dargestellt werden.
Die Bewerbungsschriften sind in deutscher Sprache abzufassen. Sie
dürfen den Namen des Verfassers nicht enthalten, sondern sind mit einem
Wabhlspruche zu versehen. Der Name des Verfassers ist in einem ver-
siegelten Zettel zu verzeichnen, der außen denselben Wahlspruch trägt.
Die Einsendung der Bewerbungsschriften muß spätestens bis zum
1. März 1911 an uns geschehen. Die Zuerkennung der Preise erfolgt
am 17. Oktober 1911.
Als Preis für jede der drei Aufgaben haben wir 1500 Mk. fest-
gesetzt.
Greifswald, im Dezember 1906.
Rektor und Senat
hiesiger Königlicher Universität.
Bonnet.
Miszellen. 381
VIII.
Die „Partei der Nichtwähler“,
Von Dr. Eugen Würzburger.
1. Bei den Reichstagswahlen von 1903.
Anläßlich der Reichstagswahlen ist die Tatsache viel besprochen
worden, daß bei den Hauptwahlen von 1903 fast genau 3 Millionen
unter den 121/, Millionen Wahlberechtigen, das ist 24 Proz., von ihrem
Wahlrecht keinen Gebrauch gemacht haben!). Auf vielen Seiten hat
man die Ursache dieser Erscheinung ausschließlich oder hauptsächlich
in der Lauheit oder Bequemlichkeit der Nichtwähler gesucht und zu-
gleich es als eine keines weiteren Beweises bedürftige Tatsache be-
trachtet, daß jene 3 Millionen durch ihre Teilnahme wesentliche Aende-
rungen in der Parteizusammensetzung des Reichstages herbeizuführen
vermocht hätten.
Gewiß haben beide Annahmen scheinbar etwas Einleuchtendes, und
es soll auch gar nicht bestritten werden, daß der Vorwurf der Lauheit
in der Tat vielen Nichtwählern gegenüber berechtigt ist. Aber die
Zahl derjenigen Personen, deren Wahlenthaltung notwendig oder min-
destens entschuldbar ist, pflegt doch in ähnlichem Maße unterschätzt zu
werden, wie der Einfluß der Nichtwähler auf das Wahlergebnis über-
schätzt wird.
Aus verschiedenen, überall mehr oder minder wirksamen Gründen
kann unter normalen Umständen nur auf 90 bis etwa 92 Proz. Wahl-
beteiligung gerechnet werden ?); und weiter ist nicht zu übersehen, daß
die Wahlkreise, welche das Hauptkontingent der Nichtwähler stellten,
zum großen Teile solche sind, in denen auch bei stärkerer Beteiligung
das Ergebnis sicherlich kein anderes gewesen wäre.
1) Bei den früheren Wahlen waren es noch erheblich mehr (1898 noch 32 Proz.).
2) Die Beteiligung erreichte 90 Proz. bei den Hauptwahlen in den 7 Wahlkreisen
Wirsitz-Schubin (92,9), Bremen (92,2), Hagenau (90.3), Lübeck (90,1), Essen, Wanzleben
und Waldenburg (je 90,0). Bei den engeren Wahlen kamen hierzu noch 5 Wahlkreise
(Straßburg-Land, Germersheim, Magdeburg, Graudenz, Zweibrücken). Die stärkste Wahl-
beteiligung überhaupt wurde bei der engeren Wahl in Hagenau mit 93,2 Proz. erzielt,
während im Jahre 1898 bei den Hauptwahlen in keinem, bei den engeren Wahlen nur
in einem Wahlkreis (Ottweiler-Sankt Wendel mit 90,3) die Ziffer von 90 Proz. erreicht
worden ist.
Außer den 7 Wahlkreisen mit 90 Proz. oder mehr hatten bei den Hauptwahlen
von 1903 noch 119 eine Beteiligung von mindestens 80 Proz., 249 standen zwischen 60
und 80 Proz. und 22 (gegenüber 87 im Jahre 1898) noch unter diesen Ziffern.
382 Miszellen.
Versucht man, die Nichtwähler nach den Ursachen ihrer Wahl-
enthaltung und nach dem Einfluß derselben auf die Wahlergebnisse
zu unterscheiden, so sind als schuldlos zunächst die Kranken zu nennen,
deren Zahl in Ermangelung anderer geeigneter Unterlagen an der Hand
der Statistik der Krankenkassen geschätzt werden soll. Der tägliche
Krankenbestand beträgt bei diesen Kassen im ganzen durchschnittlich
2—3, bei einzelnen Kassen aber bis zu 12 oder 14 Proz. der Mitglieder.
Er muß notwendig günstiger sein als unter den Reichstagswählern, weil
unter den Kassenmitgliedern zahlreiche junge Leute im widerstands-
fähigsten Alter, die das Wahlrecht noch nicht besitzen, sich befinden,
und andererseits die im höheren Alter stehenden, Erkrankungen mehr
ausgesetzten Personen verhältnismälig weniger zahlreich vertreten sind,
als unter der Wählerschaft.
Ein anderer, als berechtigt anzuerkennender Grund des Nichtwählens
ist die berufliche oder sonst notwendige vorübergehende Abwesenheit
vom Wohnort am Walltage. Zur Schätzung der Zahl dieser Personen
fehlte bis jetzt fast jeder Anhalt. Es sind zwar bei Volkszählungen
bisweilen die vorübergehend Abwesenden gezählt worden, und das Er-
gebnis einer solchen Ermittelung war z. B. im Hamburgischen Staate
am 1. Dez. 1900 die Abwesenheit von 1,6 Proz. der männlichen Be-
völkerung. Abgesehen davon, daß der Volkszählungsbegriff der vorüber-
gehenden Abwesenheit nicht ganz der für die Ausübung des Wahlrechts
in Frage kommende ist, und von der notorischen Unvollständigkeit der
Ermittelung, kann aber jene Ziffer deswegen nur als ein Mindestbetrag
gelten, weil der Anfang des Monats Dezember diejenige Jahreszeit ist,
in der die Bevölkerung am seßhaftesten ist (weshalb auch der Volks-
zählungstag auf den 1. Dezember gelegt zu werden pflegt), während die
Wahlen von 1903 im Sommer stattfanden; außerdem aber, weil jene
Ziffer die männliche Gesamtbevölkerung aller Altersklassen betrifft, so
daß die Abwesenheitsziffer der im beruflichen Leben stehenden und
darum überdurchschnittlich fluktuanten Erwachsenen bei weitem nicht
voll zum Ausdruck kommen kann. Die Annahme, daß mindestens 4 Proz.
der Reichstagswähler durch vorübergehende Abwesenheit von der Wahl
abgehalten zu sein pflegen, dürfte der Wahrheit näher kommen 3).
Eine dritte Gruppe entschuldbarer Nichtwähler bilden die in den
Städten vielleicht nicht häufigen, aber doch auch hier nicht ganz fehlen-
den Personen, deren geistiger Horizont zur Bıldung einer politischen
Meinung nicht, oder wegen hohen Alters nicht mehr ausreicht.
Endlich darf noch ein Zweifel daran ausgesprochen werden, ob die
festgestellten Verhältnisziffern der Beteiligung richtig und nicht niedriger
3) In Bezug auf gewisse Wahlkreise mit besonders schwacher Beteiligungsziffer
liegt die ohne Einblick in die Wahllisten allerdings nicht zu beweisende Vermutung
nahe, daß die große Zahl der Nichtwähler vielleicht hauptsächlich durch deren Ab-
wesenheit zu erklären ist. So im Fürstentum Lippe mit seinen im Sommer auswandern-
den Zieglern, das mit 47,8 Proz. nächst dem bayerischen Zentrumswahlkreis Deggendorf
die geringste Wählerziffer aufweist; 1898 waren es sogar nur 38,0 Proz. Bei den eben-
falls sehr niedrigen Ziffern der Küstenwahlkreise Tondern (54,8 Proz.). Jever (57,4 Proz.)
und Aurich (61,0 Proz.) liegt der Gedanke an die behufs Fischerei ete. auf See befind-
lichen Wähler nahe.
Miszellen. 383
sind als die wirkliche Beteiligung der Wahlberechtigten. Dieser Zweifel
gilt nicht etwa der rechnerischen Richtigkeit, sondern den Wählerlisten
selbst. Diese müssen bekanntlich gewöhnlich in großer Eile aufgestellt
werden, und Personenregister, die so geführt werden, daß sie ohne
weiteres als zuverlässige Grundlagen der Wählerlisten dienen können,
sind meines Wissens durchaus nicht überall vorhanden. Es ist daher
unvermeidlich, daß namentlich in den größeren Städten manche Wahl-
berechtigte darin fehlen, und andere eingetragen werden, ohne in
dem betreffenden Bezirk oder überhaupt wahlberechtigt zu sein; außer-
dem bringt die Zeit zwischen der Anlegung der Listen und der
Wahl noch manche Veränderungen in der Wählerschaft. Durch die
Einsichtnahme seitens der Wähler wird nun zwar der Unvollständig-
keit der Listen zum Teil abgeholfen; wenn aber Fehler, die sich in
entgegengesetzter Richtung bewegen, in den Listen enthalten, also z. B.
Personen aufgenommen sind, die in dem Wahlbezirk nicht mehr wohnen
oder die ausländischer Btaatsangehörigkeit sind, so wird dies wohl in
der Regel unentdeckt bleiben. Die Wahlbeteiligungsziffer erscheint dann,
weil auf Grund einer zu hohen Berechtigtenzahl ermittelt, kleiner als
sie in Wirklichkeit ist.
Wir kommen daher zu dem Schlusse, daß die Zahl der an der
Urne erscheinenden Wähler aus ganz natürlichen Gründen allenthalben
um einen gewissen Prozentsatz kleiner sein muß, als die der in die
Listen Eingetragenen, und daß dieser Prozentsatz je nach der Art der
Zusammensetzung der Bevölkerung der verschiedenen Wahlkreise und
auch nach der Jahreszeit verschieden sein, kaum aber weniger als 8 Proz.
betragen wird. Er ist, wegen der geringeren Beweglichkeit der Bevölke-
rung, wahrscheinlich auf dem Lande kleiner als in der Stadt, im
Winter kleiner als im Sommer.
Was nun die oft gehörte Annahme betrifft, die Nichtwähler ge-
hörten alle einer einzigen Richtung an, so ist dies bezüglich der durch
triftige Gründe abgehaltenen Wähler offenbar durchaus unwahrschein-
lich. Diese dürften sich vielmehr, soweit sie politische Ueberzeugungen
haben, ungefähr ebenso auf die verschiedenen Parteien verteilen wie
die Wähler selbst, so daß ihre Wahlenthaltung einflußlos bleibt.
Es gibt aber noch eine weitere Klasse von Personen, die, ob-
wolıl bestimmten politischen Parteien angehörend, dennoch aus anderen
Gründen als aus bloßer Bequemlichkeit der Wahlhandlung fernbleiben.
Es sind diejenigen, welche in Walılkreisen wohnen, in denen Kandi-
daturen ihrer eigenen Partei oder doch einer dieser Partei nahestehenden
Richtung nicht aufgestellt oder völlig aussichtslos sind. Auch die aus
diesem Grunde geübte Wahlenthaltung wird bei Personen, für die die
Sunog mit einem Opfer an Zeit, Mühe oder Verdienst verbunden
, bis zu einem gewissen Grade als entschuldbar anerkannt werden
ne — folgen diese Nichtwähler doch zum Teil sogar einer Parole
ihrer Partei — und das gleiche gilt von den nicht wenigen Wahl-
berechtigten, die einer in dem Wahlkreis ihres Sieges sicheren Partei
zugehören und die Stimmabgabe als überflüssig unterlassen.
Auf Grund vorstehender Ausführungen und der Zahlen der amt-
384 Miszellen.
lichen Statistik gelangen wir zu folgender Einteilung der 3 Millionen
Nichtwähler von 1903:
Mindestens 1 Million (d. i. 8 Proz. der Wahlberechtigten) ist durch
Krankheit oder Abwesenheit etc. entschuldigt. Was die absichtliche
Wablenthaltung angeht, so sind als Wahlkreise, in welchen selbst die
allerregste Beteiligung am Ergebnis nichts geändert haben würde, die-
jenigen 178 anzusehen, in denen der gewählte Abgeordnete mehr als
45 Proz. der Stimmen der Wahlberechtigten auf sich vereinigt hat,
und ferner die 11, in welchen er zwar eine verhältnismäßig geringere
Stimmenzahl, aber keinen ernstlich in Frage kommenden Gegner hatte.
Diesen 189 Wahlkreisen mit 6 Millionen Wahlberechtigten gehörten,
wie die Statistik ergibt, im ganzen 1250000 Nichtwähler, darunter
mindestens 8 Proz. = 480000 persönlich Verhinderte, an. Auf die
übrigen 208 Wahlkreise mit 61/, Millionen Wahlberechtigten entfallen
1 750 000 Nichtwähler; nach Abzug von 520000 persönlich Verhinderten
bleiben 1230 000 Niehtwähler, welche demnach als solche zu bezeichnen
sind, deren Stimmabgabe einen Einfluß auf das Wahlergebnis hätte üben
können, wenn sie ihr Stimmgewicht einseitig zu Gunsten bestimmter
Parteien in die Wagschale geworfen hätten. Aber selbst unter dieser
wenig wahrscheinlichen Voraussetzung ist nicht anzunehmen, daß die
beiden großen Parteigruppen, die sich bei der entscheidenden Abstin-
mung am 13. Dez. 1906 zusammenfanden, sich an Stärke verändert haben
würden. Denn jene 208 Wahlkreise waren nicht etwa hauptsächlich
durch Gegner, sondern durch 118 Anhänger und 90 Gegner der Kolonial-
vorlage vertreten. Ihre Rivalen mit der der ihrigen am nächsten kom-
menden Stimmenzahl waren bei den Wahlen von 1903 in 64 Wahlkreisen
(bei 42 Anhängern und 22 Gegnern) Angehörige der nämlichen, in
144 Fällen (bei 76 Anhängern und 68 Gegnern) solche der anderen
Gruppe. Nur eine allgemeine Beteiligung der Nichtwähler in den letzt-
genannten 68 Wahlkreisen (mit 23%/, Mill. Wahlberechtigten, darunter
220.000 wirklich verhinderten und 410000 sonstigen Nichtwählern) im
Sinne der kolonialfreundlichen Parteien hätte das Ergebnis der Ab-
stimmung vom 13. Dezember ändern können. Es besteht aber die
Wahrscheinlichkeit, daß bei allgemeiner Beteiligung der Nichtwähler
die Gewinne und Verluste auf beiden Seiten sich ungefähr aus-
geglichen haben würden. Hierbei ist auch daran zu erinnern, daß unter
den Wahlkreisen mit 90 Proz., also der stärksten Beteiligung, 5 sind,
in denen die Sozialdemokratie den übrigen Parteien gegenüberstand,
und daß sie in 4 unter diesen 5 Wahlkreisen das Mandat erlangt hat;
darf es da etwa als gewiß bezeichnet werden, daß in anderen Wabl-
kreisen bei gesteigerter Beteiligung die Kolonialfreunde ihre Gegner
verdrängt haben würden ?
So erweist sich denn die ausschlaggebende Bedeutung der „Partei
der Nichtwähler“, was die Wahlen von 1903 betrifft, bei näherem Zu-
sehen als etwas recht Fragliches. Angesichts des vielfach bestehenden
Verlangens nach Einführung eines Wahlzwangs dürfte der vor-
stehende Versuch zur Beleuchtung der Sache von einer anderen Seite
nicht überflüssig erscheinen.
Miszellen. 385
2. Bei den Reichstagswahlen von 1907.
Die Wahlen zum Reichstag vom 25. Januar 1907 haben die weitere,
bedeutende Herabminderung der Wahlenthaltungen von 24 Proz. im
Jahre 1903 auf 15,7 Proz. (2100267 Nichtwähler unter 13382840
Wahlberechtigten) gebracht.
In 48 Wahlkreisen, deren im Jahre 1903 gewählte Abgeordnete
Parteien angehörten, die am 13. Dezember 1906 die Regierungsvorlage
ablehnten, wurden teils bei den ordentlichen Wahlen vom 25. Januar,
teils bei den engeren Wahlen von Anfang Februar kolonialfreundliche
Abgeordnete gewählt, während das Umgekehrte für 11 Wahlkreise gilt.
Es ist nun von Interesse, festzustellen, inwiefern dieses Ergebnis
dem Eingreifen bisheriger Nichtwähler, die wir „Neuwähler“ nennen
wollen, zuzuschreiben ist. Zu dem Behuf wenden wir folgende Me-
thode an:
Zunächst wird berechnet, welches im Jahre 1907 die absolute Zahl
der Nichtwähler in den einzelnen Wahlkreisen gewesen sein würde,
wenn die Nichtwähler den nämlichen Prozentsatz der Wahlberechtigten
ausgemacht hätten, wie 1903; der Unterschied zwischen der so er-
rechneten Zahl und der wirklichen Zahl der Nichtwähler gibt die der
Neuwähler N von 1907. Sodann ist die im Jahre 1907 gegenüber 1903
eingetretene Verschiebung V in der für die beiden einander gegenüber-
stehenden Gruppen G (Gegner) und A (Anhänger) abgegebenen Stimmen-
zahl zu ermitteln, nachdem die Stimmenzahlen von 1903 ebenfalls einen
der Vermehrung der Wahlberechtigten entsprechenden Zuschlag er-
halten haben; und zwar ist V gleich der Summe der Stimmen, die die
Gruppe @ im Jahre 1903 mehr, und derjenigen, die sie im Jahre 1907
weniger hatte als A.
Ist nun N kleiner als V, so würden in den erstgenannten 48 Wahl-
kreisen die Neuwähler, selbst wenn sie einmütig zu Gunsten von A ein-
getreten sind, nicht im stande gewesen sein, den Erfolg herbeizuführen,
wenn nicht gleichzeitig ein mindestens 1, (V—N) betragender Uebertritt
früherer Gegner ins Lager der A-Gruppe stattgefunden hätte.
Ist dagegen N größer als V, so hat der Zuwachs an Neuwählern —
vorausgesetzt, daß diese für A gestimmt haben — zur Herbeiführung
des Erfolgs genügt; außerdem aber muß ein Teil der Neuwähler, der
mindestens !/, (N—V) beträgt, für die G-Gruppe gestimmt haben 4).
Die Art der Berechnung bedarf keiner weiteren Erläuterung für
die Wahlkreise, in denen die Entscheidung in beiden Jahren entweder
schon in der ordentlichen oder erst in der engeren Wahl fiel; die Be-
rechnung ist dann für die entscheidende Wahl angestellt worden. Für
Wahlkreise, die 1903 in der ordentlichen Wahl Kolonialgegner, 1907
4) Selbstverständlich entspricht die hier angenommene Identität der übrigen
Wahlberechtigten und Wähler von 1907 mit jenen von 1903 zum Teil nicht der Wirk-
lichkeit; denn es gehören zu den Neuwählern nicht bloß die hier so bezeichneten, sondern
auch die erst seit 1903 ins wahlfähige Alter eingetretenen Personen. Trotzdem dürfte
unsere Annahme unbedenklich sein, weil die Struktur der Wählerschaft nach Alter,
sozialer Stellung u. s. w. sich in den 4 Jahren gewiß nicht wesentlich verändert hat.
Dritte Folge Bd. XXXLUI (LXXXVIII). 25
386 Miszellen.
in der engeren Wahl Kolonialfreunde wählten, ist dann, wenn die engere
Wahl dadurch herbeigeführt worden ist, daß mehrere kolonialfreund-
liche Kandidaten aufgestellt waren, die zusammen schon in der ordent-
lichen Wahl die Mehrheit hatten, die engere Wahl außer Betracht ge-
blieben; wenn aber die Kolonialfreunde bei der ordentlichen Wahl die
Minderheit bildeten und sie ihre Mehrheit bei der engeren Wahl augen-
scheinlich der Unterstützung seitens einer der gegnerischen Parteien
verdanken, so wurde der Wahlkreis als hier nicht in Frage kommend
weggelassen 5). Aehnlich war da, wo 1903 in der engeren Wahl Gegner,
1907 aber schon in der ordentlichen Wahl Anhänger gewählt wurden,
zu unterscheiden, ob bei der ordentlichen Wahl von 1903 die Anhänger
oder die Gegner die Mehrheit hatten. War ersteres der Fall und also
der Sieg der Gegner bei der engeren Wahl nur der Uneinigkeit der
Anhänger zuzuschreiben, so steht von vornherein fest, daß es nur ein-
mütigen Vorgehens der Kolonialfreunde, aber weder des Eingreifens von
Neuwählern, noch eines Zuwachses aus dem gegnerischen Lager be-
durfte; für diese Wahlkreise 6) wurden daher keine Berechnungen
angestellt. Hatten aber die Gegner bei der ordentlichen Wahl von
1903 die Mehrheit, so wurden die Veränderungen zwischen den ordent-
lichen Wahlen der beiden Jahre in Betracht gezogen.
Endlich war die Berechnung für die 3 Wahlkreise unnötig, in
denen die Zahl der Nichtwähler nicht ab-, sondern zugenommen hat).
Was die 11 im Jahre 1903 kolonialfreundlich, 1907 aber gegnerisch
vertretenen Wahlkreise 8) betrifft, so besalen die Gegner, zusammen-
genommen, auch überall bereits bei den ordentlichen Wahlen von 1903
die absolute Mehrheit, die sie bei den engeren Wahlen infolge des
Eintretens einer der gegnerischen Parteien für den kolonialfreundlichen
Kandidaten verloren. Auch diese Wahlkreise bleiben daher außer Be-
tracht; denn der Mandatsübergang ist nicht durch das Eingreifen der
Neuwähler, sondern durch die veränderte Parteigruppierung herbei-
geführt worden.
Es bleiben somit von den 59 Wahlkreisen 38 als Gegenstand unserer
Berechnung übrig, die folgendes ergibt:
(Siehe Tabelle auf S. 387.)
Demnach sind unter den 48 Wahlkreisen, die 1903 Gegner, 1907
Anhänger der Kolonialvorlage wählten, nur 9, in denen die ver-
mehrte Teilnahme früherer Nichtwähler allein dieses Er-
gebnis herbeigeführt haben kann (Spalte 6 der Uebersicht).
Aber auch diese Zahl bezeichnet nur das Maximum der Möglichkeit,
und es können auch in den 9 Wahlkreisen Uebertritte aus dem gegne-
5) Es sind die Wahlkreise Düsseldorf 2 (Elberfeld-Barmen) und Trier 6 (Ottweiler-
St. Wendel).
6) Breslau 6 (Stadt, Ost), Sachsen 9 (Freiberg) und 12 (Leipzig), Württemberg 4
(Böblingen) und 5 (Eßlingen).
7) Demnach sind bei No. 3 der folgenden Uebersicht Mecklenburg 5 (Rostock) und
Bremen, bei No, 4 Stettin 4 (Stadt) zuzurechnen. x
8) Marienwerder 5 (Schwetz), Wiesbaden 2 (Stadt), Kassel 8 (Hanau), Arnsberg í
(Hamm), Düsseldorf 6 (Duisburg), Pfalz 3 (Germersheim) und 4 (Zweibrücken), Hessen 2
(Offenbach), Elsaß-Lothringen 2 (Mülhausen), 8 (Straßburg) und 9 (Straßburg-Land).
Miszellen. 387
z -
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¿ amt Verschie- \Genügten d. Mindestzahl der
© pa wire Neu- bung der | Neuwähler |Uebertrittel Neu-
= Yahlkrei berechti wähler | Stimmen- zur Herbei-| früherer |wähler, die
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z er oat | 1907 1903 des Um- , den An- |nialgegner
< o/o 1". KR schwungs? | hängern | stimniten
| ' | |
1 De A 6 A Bu:
1) Wahlkreise, die in der ordentlichen Wahl 1903 Kolonialgegner, 1907 Kolonial-
freunde wählten
Breslau 7 (Stadt, West) 9,19 5353 4209 ja
| = 572
Merseburg 4 (Halle) 11,31 | 2625| 4529 nein 952 —
je 8 (Naumburg) 5.06 4075 7602 ae 1764 —
Sachsen 2 (Löbau) 2,68 3021 5315 = 1147 —
= 8 (Pirna) 4,46 | 2523| 7076 r 2277 —
„ 22 (Reichenbach) 5,80 | 1071 7074 % 3002 —
Braunschweig 1 (Stadt pp.) 2,10 5627| 4877 ja _ 375
S.-Meiningen 2 (Sonneberg) 6,79 | 3114, 3183 nein 35 =
S.-Gotha 2 (Gotha) 3,47 |3278| 2031 ja — 174
Schwarzburg-Rudolstadt —7,02 | 3514| 3423 3 — 6
Reuß ä. L. 3,79 | 795| 2366 | nein 786 —
euB j. L. 4,07 | 4o0or4| 5273 Pa 630 u
2) Wahlkreise, die 1903 in der engeren Wahl Kolonialgegner, 1907 in der
ordentlichen Wahl Kolonialfreunde wählten °)
Königsberg 3 (Stadt) 8,62 6023| 3300 | ja — 1362
Magdeburg 4 (Stadt) 9,08 5189; 2551 | j — 1319
Hannover 7 (Nienburg) 3,27 4071, 6964 nein 1447 —
A 14 (Gifhorn) | 483 3716| 3308 | ja — | 204
N 3 15 (Uelzen) V 3;8i 4524| 5204 nein 340 —
S| Württemberg 10 (Gmünd) | ‚25 1250| 544I er 2096 —
3) Wahlkreise, die 1903 in der ordentlichen Wahl Kolonialgegner, 1907 in der
engeren Wahl Kolonialfreunde wählten '°)
Potsdam 8 (Brandenburg) | 1,72 1406! 1737 nein 166 ==
Stettin 3 (Greifenhagen) 213,4 192) 4912 u 360 =
Schl.-Holstein 6 (Pinneberg) 5,91 | 4440| 6032 is 796 --
2] Sachsen 1 (Zittau) 2,36 2040. 2069 r 15 —
n 5 (Dresden-Altst.) | 2,01 : 3450| 9275 $ 2913 —
en 7 (Meißen) 4,36 | 2291 5974 A 1842 —
„ 10 (Döbeln) l- 3528 1829, 3608 r 890 —
» 21 (Annaberg) | 4,9 2258| 6652 $ | 2197 =
» 23 (Plauen) | 9,39 4976 10530 á | 77 —
25] Hessen 4 (Darmstadt) 13,21 | 2408! 6413 sy 2003 =
29| Sachsen-Altenburg 4,94 3950| 4970 ı A 510 —
4) Wahlkreise, die in der engeren Wahl 1903 Kolonialgegner, 1907 Kolonialfreunde
wählten !!)
Sehl.-Holstein 2 (Flensburg) 2,98 1261 5348 nein 2044 | —
10 (Lauenburg) 1,92 605 | 4106 ip 1781 | =
2] Hannover 5 (Diepholz) | 416 2130| 2586 = 288 |; —
33| Wiesbaden 6 (Frankfurt) 5,37 16431 |» 4762 ja — | 5835
34| Düsseldorf 1 (Lennep) 6,70 3 247 7 499 nein 2126 —
35| Oberbayern 1 (München 1) | —1,14 9752| 6229 ja — 1762
i| Sachsen 11 (Oschatz) 2,08 | 879| 4048 nein 1585 —
3 14 (Borna) 2,10 1188| 5509 i 2161 —
S.-Weimar 1 (Weimar) 3,25 2947| 5772 Y 1413 | =
9) Hierzu noch die 5 in Anmerkung 6 genannten Wahlkreise.
10) Hierzu je 2 in Anmerkung 5 und 7 genannte Wahlkreise.
11) Hierzu der in Anmerkung 7 genannte Wahlkreis Stettin.
25*
388 Miszellen.
rischen Lager zum Erfolg mitgewirkt haben; denn für jede Stimme,
welche von Neuwählern über die in Spalte 8 unserer Uebersicht be-
rechnete Mindestzahl hinaus für Kolonialgegner etwa wirklich abge-
geben worden ist, muß den Kolonialfreunden eine früher gegnerische
Stimme zugefallen sein, —
|
|
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Y Gründe der Wahlenthaltung ŽS A 1® È 2 A 5
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2 | nicht wahlberechtigt 1°) 35 gl 2 19 § (=a 2
3ļim Bezirk nicht aufzufinden č I, 33 1 Za 9 .— |=| i=
zusammen a+”) | 83 12 | 7 40) 9 |—|;5 10
4 | Krankheit +) | 345 47 | 29 146 11 |14] 7/91
5 f Gebrechlichkeit, hohes Alter | 24 2 = 3 — Eae PER IN
6 | vorübergehende Abwesenheit | 423 76 | 119 | 180 5 [16 gl 12
7 | Uebersiedelung nach anderen Orten '°)| 266 25 31 181 4 4|10 1l
zusammen b 1058| 150 179 | 5ı0ol 20 |34]|32 133
8f hat angeblich anderswo gewählt !®) 19| — 1 16 ı |—|-| 1
9 | Geschäftliche oder dienstliche Ver-
hinderung !*) 137 24 iot 8ı ı |18l ı 2
zusammen e | 156 24° 1m | '97 2: 1718-4 5
10 [absichtlich nicht gewählt +7) 20 4 2 2 — —— 2
11 | Säumigkeit, Vergeßlichkeit, Verspätung) 149 23 17 | 102| — jı 3l 3
12 | Interesselosigkeit, Unkenntnis | 32 5 u y i |= U4
zusammen d |, 201 32 1 S iSl, pl 2] 4j 9
13 [nicht nachgefragt 352l 47 63 | 204| ı0 4| 6| 1
14 |keine Auskunft erhalten | 1900| 14 16 | 135) 5 Jı2) 2] 6
überhaupt }2040| 279 | 299 i1117) 47 |69 50 I179
Bei Verteilung der Personen zu No. 13 auf die 4 Gruppen a bis d erhöhen sich die Zahlen
der letzteren, wie folgt:
a: nicht wahlberechtigt 103 15 9 | 50, r2 |— 5n
b: tatsächlich verhindert 1306| 183 | 231 | 644 26 |37 3714
c: angeblich verhindert t93) 29 | 14 "1233 3- Iga
d: nicht verhindert 248 38 | 29 | ı65 I a
keine Auskunft erhalten 190 14 16 | 135 E A N..
zusammen 2040| 279 299 'ı1ı7 47 |69 50 179
12) Nicht reichsangehörig, Militärpersonen, geisteskrank, Wahlrecht entzogen.
13) Da die Wahllisten in Dresden auf vorhandenen Individualkarten, die stets sul
dem Laufenden gehalten werden, beruhen und daher einen hohen Grad von Zuver
lässigkeit besitzen, so dürften unter No. 1, 2, 3 und 7 der „Gründe“ in der Haupt-
sache nur Personen erscheinen, die in der Zeit zwischen der Anlegung der Listen und
dem Wahltag verstorben oder verzogen oder des Wahlrechts verlustig gegangen sind.
14) In 3 Fällen Krankheit von Angehörigen.
15) Darunter 3 Fälle irrtümlicher Annahme, nicht wahlberechtigt zu sein.
16) Darunter in 1 Fall ungünstige Lage des Wahllokals.
17) Darunter in 5 Fällen Nichtaufstellung eines zusagenden Kandidaten.
Miszellen. 389
Im Anschluß an die vorausgehende Schätzung der Zahl der tat-
sächlich an der Ausübung ihres Wahlrechts behinderten
Wähler mit Unterscheidung der Abhaltungsgründe können nun-
mehr die Ergebnisse einer Auszäblung in einigen zur Stadt Dresden ge-
hörenden Teilen des 4. und 6. sächsischen Wahlkreises mitgeteilt werden,
die unmittelbar nach dem 25. Januar auf Grund persönlicher Erkun-
digungen veranstaltet worden ist. Sie betraf 25 in verschiedenen
Gegenden der Neustadt und der Vorstädte gelegene Bezirke mit ins-
gesamt 17 774 in die Listen eingetragenen Wahlberechtigten, von denen
2040 nicht abstimmten. Bei 1688 Nichtwählern wurde nach den Ab-
haltungsgründen gefragt und bei 1498 der gewünschte Aufschluß er-
langt; bei den übrigen 352 konnte in Ermangelung genügenden Per-
sonals nicht angefragt werden.
Danach unterscheiden sich die Nichtwähler nach den Gründen und
nach dem Beruf folgendermaßen:
(Siehe Tabelle auf S. 388.)
Die 1602 Personen, die unter a bis ce fallen, bilden 9 Proz., die
zu a und b allein 8 Proz. der Wahlberechtigten. Dieses Ergebnis
spricht für die Richtigkeit unserer Schätzung der Ziffern der unter
normalen Verhältnissen stets verlinderten Wahlberechtigten auf 8 bis
10 Proz., und zwar selbst wenn man annimmt, daß die 190 Nichtwähler,
die keine Auskunft gegeben haben, sämtlich zu den „nicht verhinderten“
gehören.
Dresden, März 1907.
390 Miszellen.
IX.
Sind die Einkommen- und Ergänzungssteuern richtig verteilt?
Von Bönisch, Kgl. Baurat a. D.
Wenn man vorstehende Frage beantworten will, muß man die
Prozentsätze ausrechnen, nach denen die Steuern in den einzelnen
Stufen gegenwärtig bemessen sind und gezahlt werden. Hierzu ist nötig,
daß man das Mittel zwischen den Grenzen der Steuerstufen feststellt
(Spalte 2); den jährlichen Steuerbetrag enthält die bekannte Tabelle
zu $ 17 des Gesetzes (hier Spalte 3). Aus den beiden Zahlen ergibt
sich durch eine einfache Rechnung der entsprechende Satz in Spalte 4.
In der vorliegenden Tabelle ist diese Ermittelung für die ersten 30
Stufen vorgenommen; weiterhin erscheint sie überflüssig, da bei Stufe
27, wie aus den letzten Reihen ersichtlich, ein konstanter Prozentsatz,
nämlich 3, einsetzt; weiterhin erhöht sich auch dieser Satz noch um
eine Kleinigkeit, indessen hätte an der Fortsetzung der Tabelle nur
eine schon recht gut situierte Minderheit ein — oder vielleicht auch
kein — Interesse.
Es ergibt sich nun aus Spalte 4, daß wir in der ersten Stufe nur
0,615 Proz., in der 26. Stufe schon 3 Proz. bezahlen müssen. Die Ein-
kommensteuer ist also in gewissen Grenzen progressiv, d. h. sie wird
mit dem höheren Einkommen nicht nur absolut, sondern auch relativ
höher, letzteres aber leider nicht überall. Wären die zu $ 17 des Gesetzes
gehörigen Sätze richtig bemessen, so müßten die Zahlen von 0,615 bis 3
in Spalte 4 nach einem bestimmten Gesetze und System größer werden,
entweder indem die Differenz von 2,385 auf die zwischenliegenden 24
Steuerstufen gleichmäßig oder wieder allmählich zunehmend verteilt wird.
Letztere Methode wäre unbedingt vorzuziehen, damit die stärkeren
Schultern stärker belastet werden, wobei allerdings nicht außer acht
gelassen werden darf, daß der Staat nicht nur den Steuersatz, sondern
nebenher auch die Zahl der Steuerzahler im Auge haben muß, weil er
möglichst viel herausschlagen will. Die Anzahl der Steuerpflichtigen
wechselt zwar beständig und ist als perpetuum mobile mit Sicherheit
a priori nicht zu ermitteln, indessen werden einzelne Gruppen als die
zahlreichsten herausgeschält werden können. Die Statistik gibt hierfür
genügende Anhaltspunkte.
Die Spalte 5 zeigt uns wunderliche Erscheinungen; die einzelnen
Prozentsätze zeigen zwischen je 2 Stufen Unterschiede von 0,011 bis
‘Miszellen. 391
0,211, sind also um 0,20 verschieden, denn von der 7. zur 8. Stufe
erhebt sich der Prozentsatz von 1,589 auf nur 1,600, dagegen von
der 4. zur 5. Stufe von 1,122 auf 1,833. Wenn jede Ungerechtig-
keit und Benachteiligung vermieden worden wäre, was durchaus nicht
zu den Unmöglichkeiten gerechnet werden kann, müßte die Spalte 6b
ganz verschwinden und in der Spalte 6a dürfen nur Zahlen erscheinen,
die wenig voneinander verschieden wären. Die Steuertechnik hat nur
zu berücksichtigen, daß die sich ergebenden Sätze nicht Bruchteile von
Pfennigen bei der Verteilung auf die einzelnen Quartale ergeben.
Tabelle.
1 u u Te N oa 6 | 7
E R Prozent- |
== „Mittlerer lst uersatz satz der | Differenz R b |
E E ; SER | 5 1 Steuer | | Zunahme | Abnahme, Bemerkungen
Zg M | M | M |
ae — i = — a = =
1 975 | 6 GUE | 018%
; ‚18:
2: |, A 125 9 0800" || 0,441 ER ans 6 Stufen,
3 1275 12 rl), Toast ni, 25060 => springend um
4 | 1425 16 ae) 5, 0,030 _ ! 16) =.
5 1575) 21 1,333 | _ 0,037 z
6 1725 26 1,50% Sisi | — 0,092
T 1950 31 1,589 0.043 | -=+ 0,071
8 2 250 36 1,600 ER | 0,114 =
9 2 550 44 1,725 SR — 0,026
10 | 2850 | 52 1,824 et | = 0,019 9 Stufen,
11 | 3150 60 1,904 | Eh z | 0,045 — ; springend um
12 3450 | 70 2,029 olin | — 0,021 | 300 M.
13 3750 | 80 2,133 Ee se 0,034 —
14 | 4050 92 2,271 iza i 0,018 |
15 4350 104 2,391 Eon — | 0,027
16 4750 118 2,484 0.080 — | .09083 '}
17 5 250 | 132 2,514 A | — | 0,005
18 5750 146 2,539 onti _ 0,004
19 6250 | 160 | 2,560 Sr 0,026 — 10 Stufen,
20 6750 176 2,607 2 ie — 0,006 springend um
21 | 7250 ' 192 2,648 ois 0,046 | — 500 M.
22 | 7750 212 2,735 OOTI == 0,010
23 8250 , 232 2,812 Ben 5 0,009
0,068
24 ; 8750 252 2,880 | o103 0,035 —
25 9 250 276 2,983 oa = 0,086
26 10 000 300 3,000 | San = 0,017
27 11 000 330 3000 1 0000 o o | 21 Stufen,
28 ı 12000 360 3,000 | g.pon o o springend um
29 13000 | 390 goo: ea o o Í 1000 M.
30 ' 14000 | 420 3,000 ? o o |
Vorstehende Angaben würden, da die trockenen Zahlen der Tabelle
noch nicht anschaulich genug sind, mit größerer Klarheit hervortreten,
wenn man die Zahlen der Spalte 2 als Abscissen und diejenigen der
Spalte 4 als Ordinaten in beliebigem Maßstabe aufträgt. Ein solches
Schaubild läßt die Ungerechtigkeiten des $ 17 mit erschreckender
Deutlichkeit erkennen und zeigt, wie die Zahlen in den Spalten 6a und
392 Miszellen
6b ebenfalls beweisen, daß die prozentuale Zunahme ganz unregelmäßig
gestaltet ist. Diese schwankt in den Grenzen von 0,030 bis 0,114, die
Abnahme zwischen 0,004 bis 0,092. Solche Differenzen sind vom Ge-
setzgeber nicht gewollt und offenbar nur versehentlich in den Tarif ge-
raten. Dieser bedarf daher unbedingt einer Korrektur, um so mehr,
als er die Grundlage bildet für diverse Kommunalsteuern, Kirchen-
steuern etc., seine Fehler sich also vermehrfachen.
Bei der Ergänzungssteuer finden sich ebenfalls auffüllige Erscheinungen
im Tarif. Auf 9 Stufen, deren Grenzen 2000 M. auseinanderliegen,
folgen wieder 9 andere mit der doppelten Spannweite, hierauf gleich
14 Stufen, von 10 zu 10 Tausend springend, dann ungezählte mit
20000 M. Spannung. Annähernd beträgt die Steuer selbst 0,5 Proz.;
aber statt progressiv zu sein, nimmt der Prozentsatz nach oben hin
ab; während er nämlich z. B. in der 4. Stufe 0,494 Proz. beträgt, stellt
er sich in der 10. Stufe auf nur 0,484 Proz. und bleibt dann in ungefähr
derselben Höhe. Offenbar ist der Sprung von der 9. zur 10, Stufe,
ebenso wie derjenige von der 18. zur 19. Stufe zu groß und unver-
mittel. Auch durften Herabminderungen des Prozentsatzes nicht ein-
treten, im Gegenteil, es wären kleine, aber fortschreitende Erhöhungen
zweckmälig und angemessen.
Graphisch ausgedrückt, müßte die Linie in den Schaubildern, welche
die Zunahme der Steuerlast nach den höheren Einkommen hin anschau-
lich macht, eine Kurve sein, deren „Wachstum“ nirgends abnimmt,
sondern beim Vorschreiten immer größer wird; mathematisch bezeichnet:
die 2. Ableitung der Funktion muß positiv sein. Dieser Forderung
entpricht z. B. die Cissoide. Man könnte bei solcher Darstellung den
jeder Stufe entsprechenden Steuersatz mit dem Zirkel abgreifen. und
hätte nur nötig, ihn eventuell so weit abzuändern, daß er durch 4 teil-
bar wird, ohne Bruchteile von Mark oder Pfennigen zu ergeben.
Dem preußischen Landtage wird die Korrektur der Tarife zur
Ausgleichung der vorhandenen offenbaren Ungerechtigkeiten dringend
empfohlen.
Breslau, Dezember 1906.
Miszellen. 393
X.
Das indische Geldwesen unter besonderer Berücksichtigung
seiner Reformen seit 1893'),
Von Reichsbankassessor Dr. A. Arnold.
Die unserem Gesichtskreis einst ganz entrückten Länder Süd- und
Ostasiens sind uns im Laufe weniger Jahrzehnte sehr nahe getreten.
Gemeinsame wirtschaftliche und politische Berührungspunkte zwischen
ihnen und den Ländern abendländischer Kultur sind immer häufiger
geworden. Damit ist auch unser Interesse für das Geldwesen jener
Linder, insbesondere für das indische gewachsen, welches als der inter-
essanteste und für uns wichtigste Vertreter der Währungen Asiens
bezeichnet werden darf. Denn auf die indische Rupienwährung ist unter
anderem das Geldwesen in unserem bedeutendsten und zukunftsreichsten
Schutzgebiete Deutsch-Ostafrika zurückzuführen. Ganz abgesehen von
der Wichtigkeit Indiens als eines der gewaltigsten Wirtschaftsgebiete
der Welt und der hervorragenden Bedeutung, welche dieses Land von
jeher für die Silberfrage hatte, ist uns die Rupienwährung in ihrer
neuesten Gestalt bemerkenswert als erster und oberster Typus einer ganz
neuen Art der Geldverfassung. Eingehende Kenntnisse des indischen
Geldwesens sind daher aus wirtschaftlichen und mehr noch aus prak-
tischen Gesichtspunkten wünschenswert.
Diese Kenntnisse will uns das vorliegende Werk vermitteln, und
dieser Aufgabe wird es zweifellos auch gerecht. Der Verf. gibt in ihm
die zusammenhängende Gesamtdarstellung des indischen Geldwesens,
welche in der deutschen und, soweit ich übersehen kann, auch in der
Literatur des Auslandes noch fehlte.
Das Werk gliedert sich in vier Teile. Der erste bietet die Dar-
stellung der Rupienwährung in ihrem Zustande vor der Einstellung
der Freisilberprägung im Jahre 1893. Die überaus interessante histo-
rische Seite, die Vorgeschichte der britisch-indischen Rupie, kommt
hier zu ihrem vollen Rechte. Durch eine geschichtliche Darstellung
will der Verf., wie er selbst hervorhebt, den Unterbau schaffen für
das Verständnis all derjenigen Erscheinungen auf wirtschaftlichem und
monetärem Gebiete, welche durch die Silberentwertung hervorgerufen
wurden und schließlich die Reform herbeigeführt haben. Der Verf.
1) Verlag von Gustav Fischer, Jena.
394 Miszellen.
gibt die Geschichte der britisch-indischen Rupie und ihres Münz-
systems, die er uns als treuestes Spiegelbild der Begründung und
des Wachstums der englischen Herrschaft in Indien darstellt, ab
ovo. So wie sich die Engländer einst als harmlose Handelsherren
in Indien einschlichen, so begannen sie die Begründung ihres Münz-
wesens damit, daß sie das Geld der eingeborenen Herrscher ver-
stohlen nachprägten. Aus dieser Praxis wurden mit der wachsenden
Macht Albions in Indien legitime Rechte, die mit der Zeit in immer
weiteren Gebieten ausgeübt werden konnten, bis endlich bei Beginn
des vorigen Jahrhunderts die Dinge so weit gediehen waren, daß man
an die Beseitigung der verschiedensten Rupiensysteme und an die Ver-
einheitlichung des Geldwesens in den britisch-indischen Territorien denken
konnte. Diese große Reform ist indes erst im Jahre 1835 zum Abschluß
gebracht worden.
Der Darstellung des in jenem Jahre begründeten einheitlichen
Münzsystems, das heute noch in Kraft ist, ist ein besonderes Kapitel
„Das indische Geldwesen in den Jahren 1885—1893“ gewidmet. Daran
schließt sich das Kapitel „Geldumlaut, Valuta und indischer Geldmarkt“.
Insbesondere der letztere weist ganz andere Züge auf als das, was wir
unter dem Begriff Geldmarkt zu verstehen gewohnt sind. Auch die
Gestaltung des indischen Geldmarktes ist zum Teil durch wesentlich
anders geartete Faktoren bedingt als diejenigen, welche bei uns mal-
gebend sind. P
Diesem ersten Teil des Buches lege ich um so größere Bedeutung bei,
als das in ihm Gebotene in den Werken „Die indische Währungsreform“
von Dr. Otto Heyn und „Die indische Währungsreform seit 1893“ von
Dr. M. Bothe, die sich noch am eingehendsten mit dem indischen Geld-
wesen befassen, kaum gestreift ist. Daher bringt dieser Teil besonders
viel Neues. Er stellt manche veraltete und unhaltbare Ansicht richtig.
Der zweite bringt den dem grundstürzenden Ereignis von 1893 voraus-
gegangenen Meinungsstreit über die Vorteile und Nachteile des früheren
Zustandes und die Notwendigkeit und Ziele einer Reform zur Dar-
stellung. Es handelt sich in ihm um die Wirkungen einer sich ent-
wertenden Valuta auf Staatshaushalt und Volkswirtschaft.
Der Verf. behandelt diese Frage im wesentlichen in concreto, wo-
mit ich sagen will, an der Hand der Erscheinungen, so wie sie in der
Volkswirtschaft und dem Geldwesen Indiens in der Zeit der Rupien-
entwertung auftraten. Er konnte sich hierbei auf eine Reihe tüchtiger
Vorarbeiten stützen. Vieles war deshalb vorher schon geklärt. Indes
blieb noch manches, das, wie in dem vorliegenden Werke geschehen,
vertieft und aufgehellt werden konnte, und es will mir scheinen,
daß gerade auf diesem Gebiet für die Bearbeitung auch heute noch
Stoff in Fülle vorhanden ist.
Auch in diesem Teil setzt der Verf. bei den Anfangsgründen ein.
Die in Frage kommenden — im allgemeinen längst feststehenden —
Theorien werden im engsten Rahmen vorgeführt, so daß bei der Er-
örterung des spezifisch Indischen jeder folgen kann, auch wenn er sich
das Geldwesen nicht zum Spezialstudium erwählt hat. Gleichwohl hält
Miszellen. 395
sich die Erörterung in diesem wie in den übrigen Teilen des Werkes
durchaus auf dem Niveau des Wissenschaftlichen.
Dıe Behandlung des Stoffes erfolgte vorzugsweise vom Standpunkt
der Statistik aus. Von hier aus entdeckt der Verf. in der — wie man
bisher allgemein annahm — ganz regellosen Gestaltung der indischen
Warenpreise eine ganz bestimmte Ordnung. Und zwar findet er, daß
die gesamten für den indischen Markt in Frage kommenden Güter sich
in zwei Hauptgruppen einteilen lassen, die sich hinsichtlich der Preis-
gestaltung völlig verschieden verhalten, während die Preise der Waren
innerhalb dieser beiden Gruppen gleiche Entwickelungstendenzen er-
kennen lassen. Zu der einen Gruppe gehören diejenigen Waren, die
nur für das indische Inland Bedeutung haben, weil sie nur in Indien
gewonnen und verbraucht werden, wie die spezifisch indischen Getreide-
arten, z. B. Jawar und Ragi; sodann auch diejenigen Waren, in denen
Indien am Weltmarkt keine oder doch nur geringfügige Konkurrenz zu
bestehen hat, wie z. B. Jute. Deshalb ist die Preisbildung bei diesen
Waren ausschließlich oder doch überwiegend von Faktoren der in-
dischen Volkswirtschaft abhängig. Zur zweiten Gruppe gehören die-
jenigen indischen Erzeugnisse, aut welche der Weltmarkt nicht unbe-
dingt angewiesen ist, und welche ihm die indische Volkswirtschaft auch
nicht in solcher Menge zuführt, daß hier das indische Angebot für die
Preisbildung ausschlaggebend sein könnte, wie z. B. Weizen und Baum-
wolle. Die Preise dieser Produkte sind daher von denjenigen des Welt-
marktes abhängig. Die Preisbildung vollzieht sich hier im wesent-
lichen unter der Einwirkung anderer Faktoren als bei der ersten Gruppe
von Waren. Selbstverständlich folgen ihr auch die Preise derjenigen
Waren, bei deren Bezug Indien in der Hauptsache auf das Ausland
angewiesen ist, wie z. B. des Eisens. Ich möchte im Nachweis dieser
zwei Gruppen von Warenpreisen die Generalwiderlegung des Irrtums
erblicken, ein Land mit entwerteter Valuta könne der Produktion in
den Ländern mit intakter Valuta eine ruinöse Konkurrenz bereiten.
Das Wesen und die Durchführung der Reform selbst, sowie ihre
Rückwirkung auf die Währungen der übrigen Welt sind in den
beiden letzten Teilen geschildert. Dieselben erscheinen mir namentlich
wichtig für die Praktiker der Volkswirtschaft. Sie veranschaulichen
den Mechanismus, welcher die indische Währung an die britische an-
gliedert, und rücken die hohe Bedeutung, welche das indische Münz-
wesen in Zeiten der Krisis für England erlangen kann, in das rechte
Licht. Wohl nicht mit Unrecht ist in einer Besprechung des vor-
liegenden Werkes die Meinung ausgesprochen worden, der verhältnis-
mäßig niedrige Diskont, mit welchem die Bank von England im vorigen
Winter auskam, sei zum Teil auf den starken Rückhalt zurückzuführen
gewesen, den das englische Geldwesen an der Goldwährung Indiens
findet. Hier herrschte damals bis in den Dezember hinein leichter
Geldstand. In diesem Winter besteht in Indien selbst eine empfind-
liche Geldknappheit, so daß jetzt ein Zurückgreifen auf die indischen
Goldvorräte seitens Englands nicht in Frage kommen kann.
Die nach indischem Muster und im wesentlichen als Folge der
396 Miszellen.
indischen Geldreform in Ceylon, Britisch- und Deutsch-Ostafrika, auf den
Philippinen, in den Straits, Siam, Französisch-Indo-China, Mexiko und
Panama geschaffenen oder projektierten Währungen sind in knappen
Zügen charakterisiert. In allen diesen Staaten handelt es sich um ein
auf der Goldbasis beruhendes Silberkurantgeld, dessen Goldwert den
Schmelzwert beim heutigen Silberpreis nahezu erreicht und zum Teil
bereits überschritten hat. Dieser Umstand hat das Gelingen jener Re-
formen sehr erleichtert. Er bildet aber jetzt, bei der zur Zeit herrschen-
den Tendenz weiteren Steigens des Silberpreises, für die Währungen
dieser Länder eine große Gefahr. Bereits sind Silberausfuhrverbote
notwendig geworden. Vielleicht darf man in dieser Hinsicht noch
weiteren Ueberraschungen entgegensehen.
Als Anlagen sind dem Werke umfangreiche statistische Materialien
und die indischen Münz- und Papiergeldgesetze im Originaltexte beige-
gegeben. Sie dürften von besonderem Werte sein. Hierbei möchte ich
bemerken, daß das wiederholt amendierte indische Münzgesetz —
Akte XXIII von 1870 — inzwischen durch die Akte III von 1906
ersetzt worden ist. Sie sieht die Neuprägung eines Annastückes aus
Nickel, sowie den Ersatz der Kupfermünzen durch Bronzemünzen vor
und stellt die seit mehreren Jahren bestehende Praxis der Behandlung
von Silbermünzen, deren Gewicht durch Abnutzung unter das Passier-
gewicht gesunken ist, auf gesetzliche Grundlage, läßt aber im übrigen
den bestehenden Zustand unverändert.
Wenn ich noch hervorhebe, daß der in Betracht kommende Stoff,
wenn auch zum Teil knapp, so doch erschöpfend zur Darstellung ge-
langt, der Aufbau logisch und durchsichtig, und das Verständnis für
die Eigenart des indischen Geldwesens und seine Bedeutung auch für
die außerindische Welt durch eine ins einzelne gehende Gliederung des
Stoffes erleichtert ist, so glaube ich der außerordentlich fleißigen und
höchst wertvollen Arbeit des Verf. voll gerecht geworden zu sein. Ich
halte sie für das Beste und Vollständigste, das bisher auf diesem
speziellen Gebiete geschrieben worden ist.
v. Lumm.
Literatur. 397
Literatur.
III.
Knut Wicksell, Föreläsningar i nationalekonomi.
(Vorlesungen tiber Nationalökonomie) I, 2; Stockholm 1906.
Von M. Marcus.
Knut Wicksell, der jetzige Inhaber des Lehrstuhls für National-
ökonomie an der Universität Lund in Schweden, ist dem Auslande
schon früher bekannt durch einige in deutscher Sprache veröffentlichte
Arbeiten !), in denen er sich als ein selbständiger und scharfsinniger
Forscher über theoretische Fragen der Wissenschaft auf dem Boden
der modernen Werttheorie erwiesen.
Seit langer Zeit hatte er schon den Wunsch gehegt, ein Lehrbuch
der Nationalökonomie, das durch und durch eine folgerechte Anwendung
der neueren Wert- und Kapitaltheorien sein sollte, in einer der großen
Kultursprachen zu veröffentlichen 2). So weit ist er jedoch noch nicht
gelangt. Einstweilen hat er seine akademischen Vorlesungen in der
Weise geordnet, daß sie einen zusammenhängenden Kursus der Wissen-
schaft geben sollten, welcher als Grundlage des geplanten Lehrbuches,
des ersten seiner Art in der Weltliteratur, dienen könnte. Von diesen
Vorlesungen liegt jetzt der erste Teil in zwei Bänden in schwedischer
Sprache vor. Der somit beendete Abschnitt des Werkes stellt den
„theoretischen“ Teil vor, dem noch ein „praktischer“ (angewandte National-
ökonomie, spezielle Produktions- und Distributionslehre) und ein „sozialer“
Teil (Untersuchung der bestmöglichen Ausnutzung der theoretischen
Lehren und praktischen Erfahrungen, nebst kritischer Prüfung des be-
stehenden Systems von Privateigentum und freier Konkurrenz) hinzu-
zufügen sein werden. Ein System also in der Hauptsache dem Vor-
bilde Walras’ entlehnt, doch nicht immer mit derselben Begründung.
Der erste Band des theoretischen Teiles, der schon im Jahre 1901
erschien, stellt die Bevölkerungslehre an die Spitze der Darstellung.
Wicksell faßt diese nämlich als die quantitative Seite der Lehre von
1) Ueber Wert, Kapital und Rente, Jena 1893; Finanztheoretische Untersuchungen,
Jena 1896; Geldzins und Güterpreise, Jena 1898,
2) Diesen Plan teilt er im Vorworte der Vorlesungen erster Teil mit.
398 |Literatur.;
den Bedürfnissen auf und reiht ihr als zweiten, qualitativen Gesichts-
punkt die Lehre vom Werte und Tausch an. Dann folgt die Dar-
stellung der Produktion und der Verteilung, wo Wicksell Gelegenheit
findet die Ausführungen in seiner ersten deutschen Schrift (Wert, Kapital
und Rente) in systematischer Weise zu wiederholen. Ueberhaupt hat
er in diesem Abschnitt etwas überaus Interessantes und Hervorragendes
geleistet — es liegt hier, abgesehen von einigen Ausführungen bei
Wicksteedt) und Marshall?), der erste Versuch in neuerer Literatur
vor, das Produktions- und Verteilungsproblem einer einheitlichen syn-
thetischen Behandlung zu unterstellen. Zwar kann dieser Versuch kaum
als im ganzen befriedigend bezeichnet werden — dazu leidet er zu viel
an Wicksells allzugroßem Hang zum Abstrakten und Einseitigen —
aber es wird hier mit großer Schärfe des Denkens ein neuer und tiefer
Grund zu diesem Teile der Theorie gelegt, die auf spätere Ausfüh-
rungen auf diesem Gebiete befruchtend wirken müssen. Als Schluß
dieses ersten Bandes folgt eine vortreffliche Darstellung der Bedeutung
einer Theorie der Kapitalbildung und Andeutungen über einige der
wichtigsten Fragen, die mit diesem Problem in Zusammenhang stehen,
aber noch immer sehr wenig durchforscht sind.
Den zweiten und letzten Band des theoretischen Teiles seiner
Arbeit, der hier zunächst Gegenstand der Besprechung ausmachen soll,
hat Wicksell ganz der Lehre von „Geld und Kredit“ gewidmet, so dal
diese Schrift eine in sich abgeschlossene, selbständige Arbeit bildet.
Schon in seinem Buche „Geldzins und Güterpreise“ hat Wicksell die
Ursachen der Veränderungen des Geldwerts und der Warenpreise ein-
gehend zu erforschen versucht), und auch das Hauptinteresse der hier
vorliegenden Arbeit sammelt sich um diesen Punkt. Das Wesentliche
der früberen Schrift ist hier wiederholt worden, doch mit vielen Ver-
änderungen und Verbesserungen.
Nach einem einleitenden Abschnitt, der den Begriff des Geldes und
seine Funktionen klar entwickelt und eine kurze Darstellung der Technik,
Geschichte und Bedeutung des Münzwesens gibt, kommt Wicksell rasch
zum Kapitel von der Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes, einem Moment,
das für den Ausbau seiner Theorie große Bedeutung besitzt. „Die Zeit“,
sagt Wicksell, „die jedes Geldstück durchschnittlich in der Kasse zwischen
einem Verkauf und dem darauffolgenden Kauf verbringt, nennen wir
die durchschnittliche Ruhezeit des Geldes, und der invertierte Wert
dieses Zeitabschnittes in einer gewissen Zeitperiode, z. B. dem Jahr als
Einheit ausgedrückt, wird dann die durchschnittliche Umlaufsgeschwindig-
keit des Geldes“ (S. 58). Das stärkste aller Mittel, die Geldzirkulation
zu beschleunigen, ist nun der Kredit. Der Gewinn, den die Volkswirt-
schaft daraus zieht, daß Tauschmittel erspart werden, tritt als ein ge-
waltiger Ansporn hervor, um neue Kreditmittel zu erfinden und sie in
weitmöglichster Ausdehnung zu gebrauchen, so daß sie „ein inte-
1) Coordination of the laws of distribution, London 1894.
2) Principles of economics, London 1898, versch. St.
3) Diese Schrift wurde bisher in keiner deutschen Publikation besprochen.
Literatur. 399
grierender Teil des Verkehrsmechanismus werden“ (S. 63). Die Fälle
nun, in welchen der Kredit das Geld ersetzt und es als überflüssig er-
scheinen läßt, können als Spezialformen der allgemeinen Umlaufsaccele-
ration betrachtet werden, wobei an die Stelle einer rein physischen
Platzveränderung des Geldes eine virtuelle tritt, d. h. eine, die nur
gedacht oder möglich, aber von derselben Kraft ist. Ein derartiger
virtueller Umlauf ist derjenige der Banknoten und er wird auch durch
solche Transaktionen wie das Giroverfahren, das Bezahlen durch Wechsel
und Devisen, herbeigeführt.
In diesen Abschnitt hat Wicksell auch seine Darstellung vom
Bankwesen verlegt, aber er beschäftigt sich hiermit und mit der Lehre
vom Kredit nur insofern, als sie das Geldproblem selbst influieren.
Besonders interessiert ihn der sogenannte universelle Komptabilismus,
diejenige ideelle Vervollkommnung des Bankwesens, welche in der Theorie
dann bestehen würde, wenn das ganze Bankgeschäft eines Landes oder
gar der ganzen Welt in ‘einer einzigen Bank mit einer größtmöglichen
Anzahl von Filialen konzentriert und das Halten von Bankrechnung
auf alle Teile der Bevölkerung erstreckt sei. Dann brauchte ja das
Bargeld nie in den allgemeinen Verkehr zu dringen, alle Zahlungen
würden durch Schecks o. d. bewerkstelligt werden und der ganze
Hartgeldvorrat würde sich in den Kammern der Bank ansammeln und
dort als eine unbewegliche Masse verbleiben. Dadurch wäre die virtuelle
Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes ins Unendliche gesteigert — auch
die kleinste Geldmenge würde für die größte Umsatzsumme genügen.
Für die Durchführung dieses Systems in der Praxis findet Wicksell
die größten Schwierigkeiten nicht auf dem Wege zur Zentralisation
liegen — diese werden im Gegenteil mit jedem Tage leichter über-
wunden — sondern es kommen hier in Betracht die speziellen Bedürf-
nisse von seiten der kleinen Zahlungen, besonders der Arbeiterlöhne
und des Kleinhandels, dann auclf die internationalen Geschättsausgleiche
und zuletzt die Nachfrage der Industrie nach den Goldmetallen. Indem
Wicksell im folgenden diese drei Punkte je für sich behandelt, kommt
er im ganzen zu dem Schlusse, daß das Geld in beliebiger Ausdehnung
vom Kredit ersetzt werden könnte und daß also die großen Goldmünzen-
vorräte, die mit so vieler Arbeit und Mühe angesammelt worden und
sich stets vermehren, im Grunde unnütz und übertlüssig sind — doch
mit einer Einschränkung, die gleich zu erwähnen ist. Besonders ver-
neint er beim jetzigen Entwickelungsstandpunkt des Bankwesens die
Notwendigkeit der großen Goldreserven der Banken für Zahlungen an
das Ausland. Um alle anderen Goldsendungen von einem Lande zum
andern zu vermeiden als diejenigen, welche nur die Bewegung des neu-
produzierten Goldes vom Produktionsorte bezeichnen oder mit dem
Uebergange eines Landes zum Goldmünzfuße in Zusammenhang stehen,
so brauchten die modernen Großbanken der verschiedenen Staaten nur
ein Uebereinkommen zu treffen, auf einander gezogene a vista-Wechsel
ohne Kursunterschied zu verkaufen oder gar ihre Noten gegenseitig in
die Noten oder die Münze des eigenen Landes auch al pari einzulösen.
Goldsendungen würden dann nur in den Fällen lohnend werden, wenn
400 Literatur.
sie für den Bedarf der Industrie in Frage kämen oder für eine einzelne
Bank, die aus irgend einer Ursache ihren Goldvorrat zu vermehren
wünschte. Eine derartige Vereinbarung zwischen den Banken wäre
kaum als eine Unmöglichkeit zu betrachten — zwischen den Zentral-
banken der skandinavischen Länder existiert sie, wie bekannt, schon
seit Jahren und ist die Erfahrung über ihre Wirkungen als eine überaus
günstige zu bezeichnen.
Zu der in diesem Zusammenhange notwendig auftauchenden Frage,
ob also das Gold als Verkehrs- und Wertbewahrungsmittel ganz oder
in der Hauptsache entbehrt werden könnte, verhält sich Wicksell je-
doch verneinend. Im Gegensatz zu Ad. Wagner!) u. A. betont er
nämlich, daß rücksichtlich des Aufrechterhaltens einer Wertkonstanz
des Geldes, solange wie das metallische Gold als solches Wertmesser
verbleibt und also für private Rechnung frei ausgeprägt werden darf,
das Halten großer Goldvorräte eine bedauernswerte Notwendigkeit ist.
Aber diese Notwendigkeit ist zuletzt durchaus keine feste Garantie für
die Wertkonstanz des Geldes. Einst wird man sich darüber klar werden,
meint Wicksell, wie gefährlich es sei, ein ganzes ökonomisches System
auf dem Grunde eines so launenhaften Umstandes wie des Vorhanden-
seins eines edlen Metalles zu bauen. Nur dadurch, daß der Geldwert
vom Metalle oder von dessen Warenfunktion losgerissen wird, könne
diese Gefahr gehoben werden, nur auf diesem Wege sei ein vollendetes
Kreditsystem, das billigst mögliche Geldwesen und die Voraussetzungen
eines konstanten Goldwerts durchzuführen. Und damit kommen wir
auf den letzten Abschnitt der Arbeit, welcher die Frage von den Be-
. stimmungsgründen des Tauschwertes des Geldes zur Lösung aufnimmt.
Dieser Teil bildet den Kernpunkt des Buches. Man muß Wicksell
unzweifelhaft recht geben, wenn er darauf hinweist, wie die meisten der
neueren Verfasser es unterlassen haben, diesem Problem eine eingehende
Untersuchung zu widmen und somit die zentralste Frage der Geldtheorie
ihrer Lösung kaum näher gebracht, als es der Wissenschaft vor 1850
gelungen war. Seinen Ausführungen stellt Wicksell hier seine Definition
des Begriffs Geldwert voraus, welchen er ausdrücklich als den Tausch-
wert des Geldes bestimmt, als dessen Kaufkraft, den Waren und Dienst-
leistungen gegenüber. „Geldwert und Warenpreisniveau sind synonyme
oder, richtiger, korrelative Begriffe“ (S. 125). Kurz werden dann die
verschiedenen Versuche der Messung des durchschnittlichen Waren-
preisniveaus behandelt, wobei mit großer Schärfe dargetan wird, wie
alle diese Indextabellen von Unvollkommenheiten leiden müssen, weil
es einen solchen, wie von den Tabellen beabsichtigten Preisdurchschnitt,
der für die Volkswirtschaft von unveränderlicher Bedeutung sein solle,
wie auch die Warenpreise untereinander wechseln, gar nicht gibt, oder
vielmehr, dessen Berechnung müsse die Kenntnis von ganz anderen,
tieferen Umständen voraussetzen, als dem Verzeichnen einiger Waren-
mengen und deren Preisen an verschiedenen Zeitpunkten. Jedoch kommt
diesen Messungsversuchen eine gewisse Bedeutung zu, die in hohem
1) Geld- und Kredittheorie der Peelschen Bankakte, S. 217 passim.
Literatur. 401
Maße verstärkt werden könnte, wenn sie in jedem Lande erfolgen und
all dieses preisstatistische Material dann nach vereinbarter Norm zu
jährlichen Weltiudexzahlen zusammengefügt werden könnten. Aber wie
vollendet die Messung des Geldwertes und dessen Veränderungen auch
werden möge, es verbleibt dies jedoch die leichtere Hälfte des Problems.
Die weit schwierigere ist die Frage von den Ursachen zu diesen Ver-
änderungen und den Mitteln, sie zu verhüten.
Unter all den Theorien des Geldwerts, die aufgestellt worden
sind, ist für Wicksell die Quantitätstheorie die einzige, die er spezi-
fisch nennen will, welche nicht nur einen Versuch darstellt, die
Sätze der allgemeinen Wertlehre auch auf die Lehre vom Geld-
werte auszustrecken und welche allein Anspruch auf wissenschaft-
lichen Wert machen kann. Der sogenannten Produktionskostentheorie
(Senior, Marx) wirft er ihr einseitiges Rücksichtnehmen nur auf
die Produktionskosten bezw. marginellen Produktionskosten des Goldes
vor, räumt ihr aber einen Platz als Bestandteil der Quantitäts-
theorie ein und spricht ihr das Lob zu, die Ursache zu den Ver-
änderungen im Geldwerte wenigstens in Umständen gesucht zu haben,
die mit dem Gelde selbst etwas zu schaffen haben. Dagegen findet
er das Geld in den meisten modernen Erörterungen über dieses
Thema als eine formlose Masse aufgefaßt, die sich ganz passiv der
Preisbildung gegenüber verhält, während diese nur von Umständen
seitens der Waren reguliert werden könne. Die Quantitätstheorie war
aber noch keine vollendete Theorie — ihr Hauptfehler ist, die Prä-
missen nicht klar zu beweisen. Es ist wohl möglich und auch richtig,
wie diese Theorie es behauptet, daß eine große und eine kleine Geld-
menge dem Warenumsatze immer gleich gut dienen könne, wenn
nur die Warenpreise sich in Proportion veränderten, aber es muß auch
gezeigt und untersucht werden, warum und wie eine solche Preis-
änderung immer eine Aenderung in der Geldmenge begleiten müsse.
Den Versuch hierzu leistet nun Wicksell im folgenden, und seine eigene
Geldtheorie stellt sich dabei als eine modifizierte Quantitätstheorie heraus,
vertieft durch eine gründliche Untersuchung ihrer Voraussetzungen und
modifiziert durch Rücksichtnahme auf die Umlaufsgeschwindigkeit des
Geldes als Bestandteil der Theorie. Von seinen hierher gehörigen, scharf-
sinnigen, überaus interessanten Deduktionen kann bier leider keine
Darstellung gebracht werden — es muß genügen, das Hauptsächliche
der Ergebnisse anzudeuten. Zuerst behandelt er die Wirkungen einer
relativen Erhöhung oder Verminderung der metallischen Geldmenge,
wie auch des Staatspapiergeldes und der nneinlöslichen Banknoten,
wobei er zu dem Schlusse kommt, daß eine Preissteigerung stattfinden
wird in den nicht goldproduzierenden Ländern, wenn dort der Gold-
bedarf bei den faktischen Warenpreisen geringer an Stärke ist als die
Nachfrage nach Waren von seiten der goldproduzierenden Länder, und
daß diese Preissteigerung von einer relativ zum Umsatze verstärkten
Geldmenge begleitet, im allgemeinen aber nicht von dieser verur-
sacht wird. Eine Preissenkung und eine relativ verminderte Geldmenge
sind das Ergebnis der umgekehrten Voraussetzungen. Den gleichen Gesetzen
Dritte Folge Bå. XXXII! (LXXXVIII). 26
402 Literatur.
wie die Veränderungen in der Hartgeldmenge sind nun auch die Ver-
änderungen in der Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes unterworfen.
Besonders beachtenswert wird hier die Untersuchung von den Wirkungen
des Kredits, des großen Haupttaktors beim Beschleunigen oder Ver-
zögern des Geldumlaufs, und ganz speziell von den Mitteln der Banken
und Regierungen, um auf den Geldwert einzuwirken. Im Grunde liegt,
meint Wicksell, diese wichtige und äußerst schwierige Frage unter all
den Streitigkeiten über dieses Thema, welche die Männer unserer
Wissenschaft und der Bankpraxis während des letzten Jahrhunderts
in verschiedene Parteien geteilt. Er gibt eine vorzügliche Darstellung
des Wesens und der Geschichte des currency und des banking principle,
dessen Theorien er auf Ricardo und Tooke zurückführt und ein-
gehend kritisiert. Er findet, daß das moderne Bankwesen aus einem
Kompromiß der beiden Theorien allmählich herausgebaut worden ist,
daß aber der Gegensatz in den betreffenden Auffassungen über das
Einwirken des Kreditwesens auf die Warenpreise noch immer so grob
wie möglich ist. Das einzige Mittel, um aus dieser Fülle von ent-
gegengesetzten Ansichten zur richtigen Lösung des Problems herauszu-
kommen, sei das Heranrufen von allgemein anerkannten ökonomischen
Grundsätzen, auf denen eine Theorie aufgebaut werden kann, die wenigstens
als provisorische Hypothese gelten und als Leitfaden eines näheren
Erforschens der Wirklichkeit dienen möge.
Ein solches allgemein beglaubigtes ökonomisches Prinzip findet
Wicksell nun in dem Satze, daß die Höhe des Geldzinses im
letzten Falle von Nachfrage und Angebot von Realkapital abhängig
ist. Dieses Kapital entsteht so — es ist dies der Kern der Wicksell-
schen Kapitalbildungstheorie — daß die Sparenden sich dazu ent-
schließen, für die nächste Zukunft einen Teil ihres Einkommens
nicht zu verzehren. Hierdurch vermindert sich ihre Nachfrage nach
Konsumtionsgütern, und die Produktionskräfte, die zum Herstellen
dieser Güter verwandt werden sollen, können freigestellt werden
zur Hervorbringung des gebundenen festen Kapitals (Häuser, Schiffe,
Maschinen etc.) tür zukünftige Produktion und Konsumtion, und
sie werden auch von den Unternehmern zu diesem Zweke in An-
spruch genommen mit Hilfe gerade des Geldes, das die Sparenden zur
Verfügung stellen. Der Zinsfuß, bei welchem Nachfrage nach Leihkapital
und Angebot von Sparmitteln genau dieselbe Höhe erreichen, wird dann
der normale oder natürliche Zins. Dieser ist in seinem Wesen unver-
änderlich, er steigt bei vermehrter Nachfrage nach Leihbkapital, bis da-
durch das Sparen sich vermehrt, die Nachtrage zurücktritt und Gleich-
gewicht auf dem Leihmarkte bei einem etwas erhöhten Zinsfuße wieder
hergestellt worden ist. Dieses einfache Verhältnis zwischen Leih- und
Kapitalzins kommt doch nur bei eintachem Kredit vor. Kommt der
organisierte Kredit, besonders die Wirksamkeit der Banken hinzu, so
kann ein Zusammenhang zwischen den beiden nur durch die Preisbe-
wegung als Zwischenglied dargetan werden. Wenn die Banken ihr
Geld zu einem wesentlich niedrigeren Zinstuß als dem normalen abgeben,
so wird erstens das Sparen zurückgehalten, und dadurch entsteht eine
Literatur. 403
erhöhte Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen für jetzige Kon-
sumtion. Zweitens vergrößert der niedrige Zins auch die Gewinnaus-
sichten der Unternehmer, wodurch die Nachfrage nach Waren etc. für
zukünftige Produktion steigt. Da also die Nachfrage nach zwei Seiten
hin in die Höhe gegangen, das Angebot aber bestens unverändert bleibt,
muß die Folge ein Steigen der Warenpreise, Arbeitslöhne und Grundrente
werden. Bis zu welcher Höhe diese Preissteigerung im Anfang gehen
kann, ist unmöglich vorauszusagen, wichtig ist aber festzuhalten, daß
sie nicht aufhören kann, solange die Ursache, der niedrige Zinsfuß,
anhält. Ein neues Preisniveau ist entstanden, das nachher den Ausgangs-
punkt für alle Schatzungen der Zukunft bilden muß, und diese Schraube
übt ihre Wirkung aus, bis die Banken den Zinsfuß zur Höhe des
normalen Zinses wiederhergestellt haben. In derselben Weise kann
nun dargetan werden, wie eine starke Erhöhung des Leihzinses zu
einem unbegrenzten Fallen der Preise leiten müsse. Wenn man nun
von diesen Sätzen ausgeht, so werden alle Erscheinungen des Geldwesens
sehr leicht erklärt und es wird auch klar, weshalb die Banken an
einen Zinsfuß gebunden werden, der im ganzen mit dem normalen
Zinse übereinstimmt. Am häufigsten wird gegen die Richtigkeit dieser
Sätze auf den Umstand hingewiesen, daß steigende Warenpreise in
Wirklichkeit öfter mit einem steigenden oder hohen als mit einem
niedrigen oder fallenden Zinsfuß zusammentreffen. Aber dieser £in-
wand verliert seine Bedeutung, wenn man betont, daß die Veränderungen
in der Bankrente nie ganz beliebig von seiten der Banken erfolgen,
sondern daß diese in ihrer Diskontopolitik immer mehr oder weniger
gebunden sind und daß sie, nur von äußeren Umständen gezwungen,
den Zinsfuß verändern. Die faktischen Fluktuationen des Warenpreis-
niveaus haben also sehr oft eine andere Ursache, nämlich die periodischen
Veränderungen des realen Kapitalzinsfußes. Dieser influiert aber nicht
direkt auf die Preise, sondern der Zusammenhang ist so aufzufassen,
daß die Differenz zwischen dem faktischen Leihzins und dem normalen
Zins — dieser tiefste Grund der Warenpreisveränderungen — weniger
oft dadurch entstehe, daß der Leihzins sich willkürlich verändert bei
unverändertem normalen Zinse, sondern öfter dadurch, daß der normale
Zins steigt oder sinkt bei stillstehendem oder nur langsam nachfolgen-
dem Leihzinse.
Die Wicksellsche Theorie stellt also als Schlußergebnis zwei Haupt-
ursachen der Warenpreisveränderungen fest: erstens die Nachfrage
nach Waren von seiten der goldproduzierenden !) Länder, begleitet von
Goldsendungen als Zahlung für diese Waren; zweitens den Umstand,
daß der Zins für geliehenes Geld aus irgend einer Ursache über oder
unter dem Niveau zu liegen kommt, das normalerweise von dem gleich-
zeitig herrschenden realen Kapitalzinse bedingt wäre. Zum Schlusse
untersucht er nun kurz — seine an der Darstellung der Theorie ge-
knüpften, der sonstigen Auffassung sehr verschiedenen Ausführung über
1) Alle Produktionsorte edler Metalle kommen natürlich in Betracht — in der
Jetztzeit jedoch hauptsächlich die des Goldes.
26*
404 Literatur.
die Kapitalbildung bei guter und schlechter Konjunktur muß hier leider
übergangen werden — wie es in der Praxis möglich sei, das Preis-
niveau zu kontrollieren. Der ersten Ursache, der Goldproduktion,
stehen wir, meint er, machtlos gegenüber, solange diese Produktion
dem privaten Unternehmen überlassen und die freie Prägung des
Goldes auch beibehalten ist. Aber auch dem Kontrollieren der zweiten
Ursache, der Diskontopolitik der Banken, stehen fast unüberwindbare
Schwierigkeiten entgegen. Bei dem jetzigen Zustande, mit einem Au-
gebot von Gold über den Bedarf hinaus, sieht Wicksell gegen die zu-
nebhmende Goldproduktion kein anderes Mittel, als das Einstellen der
Goldprägung für private Rechnung, welches gemeinsam von allen großen
Goldländern unternommen werden müsse. Bei einer solchen Anordnung
könne man die Vorteile des jetzigen Systems beibehalten, ohne von dessen
Uebelständen zu leiden. Man würde eine Wertkonstanz des Geldes so-
wohl räumlich als zeitlich erlangen. Die räumliche Wertkonstanz, d.h.
das Beibehalten eines unveränderlichen Wertes der Goldmünzen der
verschiedenen Länder untereinander, würde in der früher geschilderten
Weise durch ein allgemeines Vereinbaren der Zentralbanken !) relativ
leicht zu erzielen sein. Weit schwieriger ist das Aufrechterhalten der
Wertkonstanz in der Zeit, einer stabilen Kaufkraft des Geldes den
Waren gegenüber. Der Weg wäre auch hier ein gemeinsames Auf-
treten aller Länder und deren Zentralbanken und zwar mit den Mitteln
der Diskontopolitik. An die Seite von gegenseitigen Zinsmaßnahmen,
welche dazu dıenen sollen, die internationalen Zahlungsbilanzen auszu-
gleichen, müsse auch eine gemeinschaftliche Diskontopolitik treten, die
den Baukzinsfuß zu erhöhen oder zu drücken hätte, um das Waren-
preisniveau an allzu starkem Abweichen nach oben oder nach unten
zu verhindern. Wenn die Banken der Welt in dieser Art zur Arbeit
auf gemeinsamem Grunde zu gemeinsamen Zielen gerüstet stehen, da
kann auch die Zeit kommen, wo man anstatt materielle Gegenstände,
wie Gold und Silber, die Banknote oder die Bankrechnungsmünzeinheit
als Wertmesser einsetzen und in der räumlichen und zeitlichen Wert-
konstanz bewahren kann. Es ist dies das Ideal, dem das Geläwesen sich
zu nähern streben muß. —
Dies ist der Hauptinhalt des Wicksellschen Werkes. Da es als
eine Zusammenstellung von akademischen Vorlesungen erscheint, sind
verschiedene Teile des Stoffes, mit denen die enorme Literatur über
diese Frage sich eingehend beschäftigt, nur im Vorübergehen gestreift
und praktische Hinweise auf die wichtigste Literatur mitgeteilt.
Um diese Vorlesungen zu einem Lehrbuche zu verwandeln, das Wicksell
erhoftt, einst in deutscher Sprache veröffentlichen zu können, müssen sie
also einer gründlichen Umarbeitung unterzogen werden, wobei es dem
Werke vorteilhaft sein würde, wenn die Teile, welche juristische
Fragen in die Diskussion mit aufnehmen, in etwas revidierter Form
erscheinen würden. Was aber die Hauptsache betrifft, das Aufstellen,
Auseinandersetzen und Verteidigen seiner Geldwerttheorie, so ist es Wick-
1) Oben S. 400.
Literatur. 405
sell in diesem Werke gelungen, sie in vorzüglicher, oft geradezu glänzen-
der Klarheit und Form der Sprache zu geben. Wenn er sich jedoch
nicht von dem Vorwurf vor Einseitigkeit freihalten kann, so trifft
dieser Einwand weniger die Theorie und ihre Darstellung selbst, als
den allzu großen Optimismus, mit welchem Wicksell die praktischen
Konsequenzen daraus zieht. Gegen den Inhalt der Theorie können ja
auch manche Einwände gemacht werden — sie überschätzt den Wert
eines konstanten Preisniveaus, unterschätzt die Kompliziertheit der auf
die Peisveränderungen einwirkenden Faktoren — sie berühren aber
kaum den eigentlichen Kern, der als eine mit großem Scharfsinn er-
sonnene Hypothese fast als unwidersprechlich dastehen muß, bis die
Zeit kommt, wo eine Vollendung der Preisstatistik es erreicht hat, sie
zu widerlegen oder zu — beglaubigen. Es soll aber stets das Ver-
dienst Wicksells bleiben, in eine der schwierigsten Fragen unserer
Theorie tiefer als die Meisten hineingedrungen zu sein, und das Lesen
seiner Arbeit bereitet fast stets die Freude, die das Werk eines selb-
Ständigen und bedeutenden nationalökonomischen Denkers in sich schließt.
Boräs, Schweden.
406 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands
und des Auslandes,
1. Geschichte der Wissenschaft. Encyklopädisches. Lehrbücher. Spezielle
theoretische Untersuchungen.
Schäffle, A., Abriß der Soziologie, berausg. von Karl Bücher.
Tübingen (H. Laupp) 1906.
Es war Schäffle nicht vergönnt, seine Soziologie ohne Parallelisie-
rung mit organischen Vorgängen auszubauen. Was in dieser Richtung
hier vorliegt, ist unvollendet, vielfach ohne einheitliche Durchführung.
Immerhin zeigt auch das vorliegende Werk die gewaltige Gestaltungs-
kraft Schäffles bei systematischer Einordnung der Tatsachen des sozialen
Lebens.
Sch. geht von der Klarlegung des grundlegenden Begriftes Volk
aus. Er sieht im Volk eine durch höher bewußtes Wollen, Fühlen
und Denken herbeigeführte Vereinigung. In seiner innerlichen geistigen
Verknüpfung, in seinem Land- und Sachgüterbesitz sowie in seiner
Fähigkeit, Gemeinschaften zu den verschiedensten Zwecken in sich zu
entwickeln und zu einem einheitlichen Ganzen zu verbinden, stellt das
Volk eine von allen anderen sozialen Lebensformen verschiedene
Schöpfung dar. Alle Merkmale zusammengefaßt, erscheint als Volk:
„die geistig verknüpfte, ein Land behauptende, gesittungsfähige Dauer-
und Massenvereinigung von Personen nebst ihren zugehörigen Sach-
güterausstattungen (Besitzen)“.
Die Gesamtheit der die Erde bewohnenden Völkerwelt, als Ge-
sellschaft im soziologischen Sinne, zeigt eine bestimmte Stellung
innerhalb der Welt; innerlich trägt sie das Merkmal der Gesittung, so-
wohl nach der Zusammensetzung, als nach ihren Zwecken. Ihre Be-
standteile sind handlungsfähige Personen und Gemeinschaften; deren
Handeln erscheint als Machen und Werten, gerichtet auf Schaffen wie
Brauchen.
Die Personen stehen zueinander in einem Verhältnis der Wechsel-
wirkung oder des Verkehres, und zwar: äußeren Verkehres als selb-
ständige Einzel- und Samtpersonen, inneren Verkehres als Mitglieder
einer Gemeinschaft. Der Verkehr selbst ist Abkehrung (Abstoßung,
Streit) oder Zukehrung (Anziehung).
Die Gesellschaft ist psychische Wechselbeziehung zwischen Indivi-
duen, zu deren Verwirklichung sie äußerer Güter und der aus ihnen
gebildeten Veranstaltungen bedarf. Sie wird zusammengehalten durch
eigentümliche Bindemittel: durch Sprache und ästhetischen Völker-
besitz; durch Raum- und Zeitverknüpfungen (die in Wohnung und Ver-
m
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 407
kehrswesen gelegenen räumlichen Verbindungeu, bezw. Anhäufung und
Uebertragung von Bildung und Nutzungsvorräten in der Zeit); Ver-
knüpfung der gesellschaftlichen Schätzung (bezw. Verurteilung); In-
einandergreifen der Willensbestrebungen durch Sitte und Recht; prak-
tische Verknüpfung durch die Werktätigkeit oder Technik, endlich
Verknüpfung durch Machtzusammenfassung (Herrschaftsverhältnisse mit
oder ohne Zwang).
Machen und Werten, Schaffen und Brauchen der Gesellschaft sind
gerichtet auf die Außenwelt sowie auf die Entfaltung und Erhaltung
der Völker selbst. Auf die Außenwelt: vorbeugend und unterdrückend,
durch Sicherung gegen Gefahr, durch Dienstunterwerfung und Raub,
— auf die Entfaltung der Völker: durch Förderung und Pflege von
Sprache, Kunst, der Raum- und Zeitverknüpfung, der Geselligkeit, des
Rechtes, der Moral, der Wirtschaft und der Gewaltübung.
Die Gesellschaft ist abhängig von Verkettungen infolge ihrer Ver-
knüpfung mit der äußeren Natur, sowie vermöge der geschichtlichen
Zeitfolge des Geschehens. Hier ist ibre Macht beschränkt: nur Voraus-
sicht und Vorsicht, geübt durch Ansammlung von Notvorräten kann
ihnen begegnen und schädliche Wirkungen abschwächen.
Das Gesellschaftsbewußtsein definiert Sch. als einen Zu-
sammenhang innerer Zustände verschiedener Personen, aber auf eine
Potenz erhoben, welche dem Individualbewußtsein fehlt. Das Gesell-
schaftsbewußtsein ist den verbundenen Einzelgeistern innewohnend; das
ganze Geistesleben der einzelnen ist aber von der geistigen Massen-
strömung des Gesellschaftsbewußtseins umfangen.
Sch. scheidet Einzelbewußtsein und Massen bewußtsein und beim
Einzelbewußtsein das Individualbewußtsein von dem Bewußtsein
einer bestimmten Gemeinschaft (als Samtperson): dem Samt- oder
Gemeinschaftsbewußtsein. Die individuelle Vernunft ist mit und in der
Gesellschaft entstanden; auch das Individualbewußtsein hat daher einen
sozialen Charakter. Das Gemeinschaftsbewußtsein nimmt Elemente vom
Bewußtsein vieler in sich auf, umfaßt aber niemals die Mitglieder mit
ihrem ganzen Wollen, Fühlen und Denken. Weiter zeigt es die Merk-
male der inneren Gebrochenheit (verschiedene Grade der Harmonie und
Disharmonie) und der Abstufung (Instanzierung oder Hierarchie), in-
dem sich Führerschaften, Herrschaften und Gewalten entwickeln, deren
Aufgabe in der Anfrechterhaltung der Ordnung und Bewegung der
Gemeinschaft, sowie in der Aufrechterhaltung des Einklanges mit allen
im äußeren Gesamtverkehr stehenden Individuen und Gemeinschaften
besteht. — Massenbewußtsein stellt eine allgemeine Willens-, Gefühls-
und Gedankenströmung dar, welche von größeren oder kleineren, aber
nicht geschlossenen Personenkreisen ausgeht. Als solches übt es einen
wichtigen Einfluß auf alles Einzelbewußtsein, auf die Zuneigungen wie
Abneigungen bestimmter Personen und Personenkreise Es zeigt eine
Ausbreitung in Raum und Zeit, erstere durch die Publizität, letztere
durch die Tradition bewirkt.
Die Grundbestandteile des „Gesellschaftskörpers“ sind: das Land,
das Volksvermögen und die Bevölkerung.
}
a MHM 0 nn ua
408 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Land ist nicht bloß Boden allein, sondern auch alles was im Boden,
am Boden, über dem Boden an Stoffen, Kräften, an Floren und Faunen
gegeben ist. Landlose Völker gibt es nicht; mit dem Verluste seines
Landes geht das Volk unter oder wird Symbiont anderer („wirklicher“)
Völker.
Das Volksvermögen umfaßt alle einem Volke zur Verfügung stehen-
den sachlichen Brauchlichkeiten. Letztere sind jedoch nicht die einzigen
Güter, welche wert gehalten werden: auch die persönlichen Güter, alle
Energien des Leibes und Geistes, erfahren eine Wertschätzung, haupt-
sächlich in den Auslösungen der Energien, welche anderen zugute kon-
men. Mit der Tatsache des Verbrauches sind die Beziehungen der Sach-
güter zur Bevölkerung nicht erschöpft; auch ihrer Entstehung nach,
d. h. als Erzeugnisse der Arbeit, stehen sie mit ihr im Zusammenhang.
Vom soziologischen Standpunkte lassen sich vornehmlich Sachgüter der
Darstellung und Mitteilung, sowie Produktionsmittel und Mittel zum
Konsum unterscheiden.
Die Bevölkerung ist die aktive Trägerin aller Handlungstähigkeit.
Da die Massenzusammenhänge (Landsmannschaft, Nachbarschaft, Ver-
wandtschaft, Standes- und Klassenzusammenhang, Nationalität, Glaubens-
zusammenhang etc.) als Massenerscheinungen des aktiven Volkselementes
zu betrachten sind, können sie auch in die Bevölkerungslehre eingereiht
werden. Die Bevölkerung erfährt unausgesetzt sowohl eine numerische,
als eine qualitative Bewegung, letztere durch leiblich-geistige Vervoll-
kommnung oder Verschlechterung.
Es würde zu weit führen, auf die weiteren Einzelausführungen ein-
zugehen. Wir wollen uns darauf beschränken, Umänderungen anzu-
merken, die Schäffle gegenüber seiner früheren Darstellung (in „Bau
und Leben“) vorgenommen.
Sie betreffen hauptsächlich die Systemisierung der Veranstaltungen
und Funktionen der nationalen Gesellschaft. Die Vermeidung biolo-
gischer und psychologischer Analogien macht wohl nicht ein Aufgeben
der früheren Klassierung notwendig, erheischt aber immerhin gewisse
Veränderungen. Sch. unterscheidet jetzt:
I. Veranstaltungen für die Betätigung des Volksbewußtseins: Sprache,
Literatur, Presse, Publizität, Ueberlieferung.
II. Allgemeine Veranstaltungen alles Handelns und die besonderen
Veranstaltungen für einzelne Gesittungszwecke;
A. Die Gemeinveranstaltungen: für Recht und Moral; tür
die Technik; für die Oekonomik (Wirtlichkeit); für die Wertgebungen;
für das Raum- und Zeitleben.
B. Die besonderen Gesittungsveranstaltungen: für
materielle Volksinteressen wie Versicherungswesen, persönliche Fort-
pflanzung, Leibesunterhalt und körperliche Erziehung, Volkswirtschaft,
Anstalten zum Schutze von Leben und Gesundheit gegen Naturgefahr,
zum Schutze des Volksvermögens und Landes gegen Naturgefahren, end-
lich zum Schutze von Volk, Land und Volksvermögen gegen äußere
und innere Feinde; für immaterielle Zwecke, weltliche und religiöse
wie Unterrichts- und Erziehungswesen, Wissenschaft, Kunst, Gesellig-
keit, Volksglauben.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 409
Die nähere Ausführung vorstehender Klassierung der Organ- und
Funktionssysteme des Volkskörpers ist unvollendet; besondere Sorgfalt
ist nur auf die Darstellung der Organisation der Macht verwendet.
Macht ist der Gemeinschaften und Verkehre bestimmende Einfluß von
Personen ; Organisation der Macht umfaßt alles, was Begründung und
Erhaltung der Macht bewirkt. Macht beruht einerseits auf persönlicher
oder besitzlicher Ueberlegenheit der einen Personen und auf Getolgs-
willigkeit von seiten anderer. Die persönliche Ueberiegenheit kann
sowohl leiblich als geistig sein; letztere tritt im Laufe der Entwicke-
lung gegenüber der leiblichen immer mehr hervor. Die Organisation
der Macht besteht einerseits in allen Vorkehrungen der Anhäufung von
Bildung und Besitz bei einzelnen, Ständen und Klassen, andererseits
in allen Vorkehrungen, durch welche die nicht zur Führung befähigten
Massen bestimmt werden, sich unter die Führung der überlegenen
Personen zu begeben. Zurückzuweisen ist die Anschauung, daß Macht
bloße Zwangsgewalt sei; diese ist weit mehr Wirkung, denn Ursache
der Macht.
Alles internationale Tun und Lassen der Völker ist, wie das-
jenige der nationalen Gesellschaft, Bewußtseinsbetätigung unter der Ab-
hängigkeit von Konjunktionen und Konjunkturen. Doch tritt ein
mächtiger Unterschied in dem Mangel einer gemeinsamen Sprache der
Völker gegenüber der nationalen Gesellschaft hervor. Das hervor-
ragendste Merkmal der internationalen Gesellschaft besteht darin, daß
sie ein staatseiniges Gemeinwesen nicht bildet und nicht besitzen kann:
Völker stehen zu Völkern nur auf dem Vertragsfuß oder dem Fuße
der Unterwerfung, nicht im Verhältnisse der Abhängigkeit von der-
selben Staats- oder Kommunalgewalt.
Wien. Max Rind.
Raffel, Dr. Friedrich, Englische Freihändler vor Adam Smith.
Tübingen (H. Laupp) 1905. 193 SS.
Alfred Marschall sagt einmal in seinen Principles of Economics von
Adam Smith: „Obschon er ohne Zweifel viel von anderen entlehnt hat,
so erscheint doch sein Genie feiner, seine Kenntnis größer und sein Urteil
noch stärker ausgeglichen, je mehr man ihn mit denen, vergleicht. die vor
ihm waren und nach ihm kamen“. Die Studie von F. Raffel über die
freihändlerischen Vorgänger des Adam Smith vertritt jene Auffassung
des englischen Nationalökonomen nicht. Es werden eine Reihe von
Schriftstellern vorgeführt, welche als Vorläufer der späteren Freihan-
delsschule gelten können, und ihre Ansichten sowohl über den binnen-
ländischen „free trade“ — den Kampf gegen die Monopole — wie über
die Befreiung des auswärtigen Handels von merkantilen Fesseln ein-
gehend erörtert. Solche Schriftsteller sind: der Verfasser der Schrift
„Englands Great Happiness“, Barbon, Sir Dudley North, Vanderlint,
Decker, Hume, Tucker u. a An Hand der handelspolitischen Lehren
jener Männer gelangt der Verfasser zu dem Schluß, daß Smiths Ver-
dienst um die Entwickelung der Freihandelsdoktrin weniger darin be-
ruhe, „neue und originelle Argumente geschaffen, als das Ueberlieferte
in sich aufgenommen, gründlich verarbeitet und systematischer darge-
410 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
stellt haben“. Ob man aus dem Material, das Raifel beibringt, diesen
Schluß ziehen wird, ist zweifelhaft. Nein, es erscheint, im Gegenteil,
gerade an Hand des reichen Materials, das der Verfasser beibringt,
Adam Smith deshalb als originaler Denker, weil er die Argumente ge-
wisser volkswirtschattlicher Praktiker — vielleicht im besten Falle
politischer Aritlımetiker — auf ihre theoretische Bedeutung geprüft und
soweit vereinheitlicht hat, daß eine wissenschaftliche Lehre, eben die Frei-
handelslehre, daraus wurde. Von denjenigen aber, die mit ihren frei-
händlerischen Argumenten eine gewisse Einheit der Grundauffassung
bereits verbanden, wie z. B. von Tucker unterschied sich Smith dadurch,
daß er seine Lehre nicht mit dem Bestehen einer deistischen Ord-
nung, sondern allein durch das Prinzip der Wirtschaftlichkeit rechtfer-
tigte. So erscheint gerade unter Berücksichtigung des Raffelschen Ma-
terials die Stellung Adam Smiths zu den Praktikern einerseits, zu den
philosophischen Schriftstellern andererseits zu beweisen, daß er sich in
seiner Freihandelslehre als der erste moderne, wissenschattliche Volks-
wirt erwies und daß hierin seine Originalität zu suchen ist. Damit
aber wären wir dem Urteile Marshalls näher als demjenigen Raffels.
Die Betrachtungen Raffels über Ricardo am Schlusse seiner Ar-
beit können seiner Gründlichkeit keinen Ruhm eintragen. Völlig ver-
kehrt ist es, wenn Ricardo von ihm „kein radikaler Freihändler“ ge-
nannt wird, „der auf Verwirklichung seiner Prinzipien drängt“. Eine
Beschäftigung mit den Erörterungen Karl Diehls über diese Frage hätte
ihn eines anderen belehren können. Und es ist bedauerlich, daß die
Schrift Raffels am Schlusse ein etwas hastiges Urteil aufweist, und in
wenigen Worten mit einem Manne abrechnet, der für die Erweiterung
der Freibandelslehre wichtiger war als die Vorgänger des Adam Smith
für die Anfänge derselben. Sehen wir aber von diesen Schlub-
bemerkungen Raffels ab, so bietet seine Arbeit einen interessanten
Beitrag zur Geschichte der Nationalökonomie und dies in einer ange-
nehmen und anregenden Form wissenschaftlicher Schreibweise.
Hermann Levy.
Posener, Paul, Besondere Volkswirtschaftslehre. 26. Band des
Grundriß des gesamten deutschen Rechts in Einzelausgaben. Berlin
(Guttentag) 1904.
Fridrichowicz, Eugen, Kurzgefaßtes Kompendium der Staats-
wissenschaften in Frage und Antwort. Berlin (Calvary & Co.) 1904.
Für viele Studierende liegt zweifellos das Bedürfnis nach einem
Hilfsmittel vor, um kurz vor dem Examen nochmals den ganzen Stoff
repetieren zu können. Allerdings wird man dabei immer im Auge be-
halten müssen, daß auf nationalökonomischem Gebiete mehr gedankliche
und weniger Gedächtnisarbeit verlangt wird, als etwa beim juristischen
Examen mit seinen Anforderungen an Legaldefinitionen und Paragraphen-
kenntnis. Diesen Umstand hat Posener richtig erkannt und berück-
sichtigt, indem er auf knapp 30 Oktavseiten die wichtigeren Schlagworte
der Volkswirtschaftspolitik in kurzen Sätzen zusammengefaßt und so dem
Studenten einen Anhalt bietet, seine Kenntnis noch einmal selbst zu
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 411
prüfen. Anders aber Fridrichowiez, der uns nicht weniger als 12 Bänd-
chen von teilweise mehreren hundert Seiten vorlegt, die zusammen
natürlich den Preis eines kürzeren, zusammenhängenden Lehrbuchs er-
fordern. Meiner Ansicht nach sollte sich jeder Studierende lieber an
ein solches halten, statt F. zu folgen, der obendrein durchaus nicht
immer zuverlässig ist. Geschäftlich ist sein Unternehmeu wahr-
scheinlich gut gedacht, denn es wird immer Liebhaber finden, die sich
mit seiner Hilfe fürs Examen einpauken. Für sie aber kann es leicht
recht unangenehme Folgen haben; denn einen Examinator, der so prüft,
wie man es nach diesen Heften annehmen müßte, gibt es nicht.
Halle. Georg Brodnitz.
Bernstein, Eduard, Die Grundbedingungen des Wirtschaftslebens. Wirtschafts-
wesen und Wirtschaftswerden. II. Vortrag. Berlin, Vorwärts, 1906. 8. 32 SS. M. 0,50.
Comte, Aug., Soziologie. Aus dem französischen Original ins Deutsche über-
tragen von Valentine Dorn und eingeleitet von (Prof.) Heinrich Waentig. 1. Bd.: Der
dogmatische Teil der Sozialphilosophie. Jena, Gustav Fischer, 1907. 8. XX—534 SS.
M. 6.—. (Sammlung sozialwissenschaftlicher Meister. Bd. 8.)
Cuhel, Franz (Regierungs-R.), Zur Lehre von den Bedürfnissen. Theoretische
Untersuchungen über das Grenzgebiet der Oekonomik und der Psychologie. Innsbruck,
Wagner, 1907. gr. 8 XX1V—320 SS. M. 10.—.
Kalinoff, Dimitri, David Ricardo und die Grenzwerttheorie. Tübingen, H. Laupp,
1907. gr. 8. 140 SS. M. 3.—. (Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. Er-
gänzungsheft XXII.)
Kampffmeyer, Paul, Die Sozialdemokratie im Lichte der Kulturgeschichte.
Eine Führung durch die sozialdemokratische Bewegung und Literatur. 3. verm. Aufl.
Berlin, Vorwärts, 1907. 8. 92 SS. M. 1,20.
Lifschitz, F., Der ökonomische Liberalismus. Bern, Gottfr. Iseli, 1907. 8.
16 SS. M. 0,45. (Schriften der freien Studentenschaft der Universität Bern. Heft 1.)
Meltzing, Otto, Grundprobleme der Volkswirtschaftslehre. Vier Vorträge.
Leipzig (Kühnel, 1907). gr. 8. 124 SS. M. 0,85.
Psenner, Ludwig, Christliche Volkswirtschaftslehre. 1. Teil. Graz, U. Moser,
1907. 8. M. 2.—
Schönemann, M., Wirrungen in der deutschen Sozialdemokratie, Halle, E. Anton,
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419 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
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2. Geschichte und Darstellung der wirtschaftlichen Kultur.
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Verwertung in sämtlichen Staaten der Erde. II. Band. Asien, Afrika,
Amerika und Australien mit Ozeanien. Herausgegeben mit Unterstützung
der Kais. Akademie der Wissenhaften in Wien aus der Treitl-Stiftung.
Leipzig (Wilhelm Engelmann) 1906. XVI, 506 SS. gr. 8%. i8 M., gbd.
22 M.
Wenn auch der unter der Presse befindliche Band, welcher Europa
behandelt, im großen und ganzen auf ein höheres Interesse zu rechnen
haben wird als der vorliegende Teil, so ist letzterer um so wichtiger, als
sein Iuhalt ungleich schwerer zugänglich ist, ja vielfach als ziemlich unzu-
gänglich bezeichnet werden mul. Verf. gelang es nur auf Grund von
Fragebogen, welche an sämtliche k. u. k. österr.-ungar. Kousularämter
gesandt wurden, das einschlägige Material zu erhalten, das dann von
fachmännischer Seite vielfach ergänzt werden konnte.
Die Reihenfolge der Länder ist nach der Einwohnerzahl ange-
ordnet, fremde Wert- wie Maßangaben sind auf österreichische Kronen-
währung bezw. das metrische Maß zurückgeführt. Jedes Land hat an
seiner Spitze ein Verzeichnis der benutzten Quellen, so daß man jeder-
zeit im stande ist, sich nach ausführlicher Belehrung umzusehen. Das
Material folgt stets in der Reihentolge: Salzvorkommen, Salzgewinnung,
Salzeinfuhr, Salzaustuhr, Salzhandel, Salzverbrauch.
Leider ließ sich bei manchem Lande kein neueres Material auf-
treiben, so daß auf das 1846 erschienene Buch von C. J. B. Karsten:
„Ueber das Vorkommen und die Gewinnung des Kochsalzes auf der
Oberfläche der Erde“ zurückgegriffen werden mußte. Das eigentliche
Gewinnungsverfahren ist stets kurz abgetan. Die zollgesetzlichen Be-
stimmungen sind stets in vollem Maße berücksichtigt, ebenfalls gesetz-
liche wie administrative Bestimmungen da, wo das Salz Gegenstand eines
Monopoles oder einer Steuer bildet.
Das Kapitel Salzverbrauch mußte sich leider meist auf die in der
Regel auf sehr ungefähren Schätzungen beruhenden Angaben der Konsular-
ämter stützen, manchmal ist er auch nur nach dem theoretischen Durch-
schnittmaß von 6,5 kg pro Kopf und Jahr auf Grund der Bevölke-
rungszahl berechnet, in zivilisierten Ländern erhält man eine zu geringe
Ziffer, für unzivilisierte dürfte sie aber doch noch zu hoch ausfallen.
So genügt beispielsweise für die bei Hongkong gelegene Niederlassung
Macao eine Menge von theoretisch ermittelten 520 tn., während die aus-
gegebene Einfuhr statt der 6,5 kg 37 kg ergibt!
Erwünscht wäre es, in dem noch zu erwartenden ersten Band ein
Register über beide beigegeben zu finden; die Inhaltsangabe macht das
Auffinden der einzelnen Abschnitte doch zu unbequem.
Halle a./S. E. Roth.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 413
Sander, Paul, Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs, dar-
gestellt auf Grund ihres Zustandes von 1431 bis 1440. 1. und 2. Halbbd.,
Leipzig (B. G. Teubner) 1902.
Es muß dem Wirtschaftshistoriker doch manches zu denken geben,
daß ein politischer Vorgang des 14. Jahrhunderts der wirtschafts-
geschichtlichen Forschung des 20. Jahrhunderts einen äußerst wert-
vollen Dienst geleistet hat. Die Zentralisation der öffentlichen Gewalt
durch den Rat war es, die der städtischen Geschäfts- und Buchführung
und dem Archivwesen der alten Reichsstadt Nürnberg zu gute ge-
kommen ist und unter der Einwirkung einer umsichtigen administrativen
Einheit ein reichhaltiges und musterhatt georduetes verwaltungsgeschicht-
liches Material bewahrt hat, das unsere Kenutnis der mittelalterlichen
Stadtverwaltung wesentlich zu erweitern ermöglicht. Mit redlichem
Fleiß bat Paul Sander dieses Material in den Akten des Nürnberger
Kreisarchives durchgearbeitet und in zwei Halbbänden die Ergebnisse
seiner Ermittelungen niedergelegt.
Aus dem Urkundenschatz von 4. Jahrhunderten griff er das Jahr-
zehnt von 1431—1440 heraus, in dem keine außerordentlichen, aber
doch alle die Anforderungen an jene mittelalterliche Stadtverwaltung
herantraten, mit denen sie normalerweise zu rechnen hatte. Der Be-
trachtung des Rates, der Verwaltungsämter, des Rechnungswesens und
der öffentlichen Einnahmen hat er dann die öffentlichen Ausgaben im
zweiten Halbbande angereiht. Diese Teile des Buches im zweiten Halb-
bande sind wirtschaftsgeschichtlich deshalb von ganz besonderem Inter-
esse, weil sie uns in das Verständnis der sozialen Wirksamkeit eines
unserer bedeutendsten und bestgeleiteten mittelalterlichen Gemeinwesen
einlühren. Da lernen wir im einzelnen die Ausgaben für die Aemter
der allgemeinen Verwaltung, für die bewaffnete Macht, für den städtischen
Sicherheitsdienst, für Kriegszüge und auswärtige Händel, für den vom Reich
und von den Reichsstäuden gewährten Rechtschutz, für Gesandtschafts-
und Nachrichtendienst, für Ehrendienst und Rechtspflege, Polizei- und
Wohlfahrtspflege, für das Bauwesen und die Verzinsung der öffentlichen
Schuld, für den Erwerb von Besitz- und Forderungsrechten in ausführ-
licherem Detail kennen. Ich glaube kaum, daß die Befürchtung des
Verf. auf S. 421, man möchte seine Kategorien verschwommen und un-
klar schelten, sich als gerechtfertigt erweisen dürfte. Jeder, der in
einer gleichen oder ähnlichen Materie einmal gearbeitet hat, weiß, daß
eine Klassifizierung, mag sie noch so reitlich erwogen und noch so vor-
sichtig zu stande gebracht sein, niemals einer vollkommen scharfen be-
grifflichen Unterscheidung stand hält. Es geht der Klassifizierung eines
Jeden geschichtlichen Stotfes wie dem Versuch einer Periodisierung ge-
schichtlichen Lebens überhaupt, die Willkür läßt sich niemals durchaus
ausschalten, und nur ein relativer Wert waltet dabei ob: den Stoff
selber durch überlegene Kraft zu meistern und also den Nachprüfenden
zum besseren Verständnis hinzuleiten. Meines Dafürhaltens kann kaum
ein Zweifel darüber obwalten, daß die Kategorien des Verf. einer solchen
wertung bestens entsprechen. Und der mit den Urkundenschätzen
selber nicht vertraute Beurteiler wird auch weiterhin zugeben dürfen,
414 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslande.
daß anscheinend das Material, das der Verf. bringt, in Vollständigkeit
und Zuverlässigkeit vorliegt.
Dagegen läßt sich eher darüber streiten, ob es wohlgetan war, den
Wortlaut des Originals in den meisten Fällen zu beseitigen und die
einzelnen Registereinträge dem modernen Sprachgebrauch anzupassen.
Durch ein derartiges Vorgehen bekundet der Verf. deutlich genug, dab
er seine Angaben nicht als Quellenveröffentlichung, sondern als Dar-
stellung angesehen haben will. Naturgemäß erhebt sich freilich als-
dann die weitere Frage, ob eine Darstellung wieder bis zu dem Grade,
wie es schließlich doch geschehen ist, den Eigentümlichkeiten der
Registereinträge Rechnung tragen und die Gesichtspunkte, unter denen
sie von den Zeitgenossen gebucht worden sind, im wesentlichen bei-
behalten darf. Das Dilemma, in dem er steckt, hat der Verf. auch
selber offenbar gefühlt. Das bezeugte mir nicht allein der Inhalt
seiner Ausführungen auf S. 419 bis 422, sondern vor allem der Umstand,
daß er seiner „Darstellung“ noch in einem 6. Teil eine historische Dar-
stellung in der Weise, wie wir sonst den Begriff zu fassen gewohnt
sind, angegliedert hat. Mißlich bleibt nach alledem, daß Darstellung
und Quellenstoff miteinander verquickt sind, daß im allgemeinen bei
dem Buche weder die heute anerkannten Grundsätze über die Edition
von Geschichtsquellen noch — abgesehen vom 6. Teil — die Anforde-
rungen, die wir an eine geschichtliche Darstellung zu stellen gewohnt
sind, gebührende Berücksichtigung gefunden haben.
Derartige prinzipielle Bedenken mehr methodologischer Art können
aber keineswegs die Befriedigung beeinträchtigen, die der Wirtschafts-
historiker beim Anblick des reichhaltiren und umfassenden Materials
empfinden muß, das ihm hier zur Erkenntnis einer mittelalterlichen
deutschen Stadtverwaltung geboten wird. Und seine Befriedigung wird
noch dadurch gesteigert, daß zum Schluß auch die weitere Entwickelung
des Stadthanshaltes bis zum Jahre 1794 in die eigentliche Darstellung
einbezogen worden ist. Je schmerzlicher die Wirtschaftsgeschichte es
noch immer beklagen muß, daß die wirtschaftliche Gestaltung des 17.
und 18. Jahrhunderts und die Entstehungszeiten der modernen Industrie,
des modernen Unternehmertums und der modernen Kommunalverwaltung
noch nahezu von der Forschung unangebaut daliegen, um so aufrichtigere
Freude weckt jeder Spatenstich eines wackeren Arbeiters.
Halle a. S. Theo Sommerlad.
Ankenbrand, Andreas (Bauamtsassessor), Wege zur Wirtschaftsunion Deutsch-
land-Oesterreich-Ungarn. Mit 1 Kartenskizze. Berlin-Grunewald, A. Troschel, 1907.
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Dove, K. (Prof.), Die angelsächsischen Riesenreiche. Eine wirtschaftsgeographische
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Nikel, Johannes (Prof.), Allgemeine Kulturgeschichte. Im Grundriß dargestellt.
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Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 415
Schrader, Th., Die Rechnungsbücher der hamburgischen Gesandten in Avignon
1338 bis 1355. Herausgeg. vom Verein für hamburgische Geschichte. Hamburg,
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Wild, Karl, Staat und Wirtschaft in den Bistümern Würzburg und Bamberg.
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La Mazelière, Marquis de, Le Japon, histoire et civilisation. 3 vol. Paris,
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3. Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik. Auswanderung
und Kolonisation.
Wismüller, Franz X., Die bayerische Moorkolonie Großkaro-
linenfeld. Im Auftrage des Kgl. Bayerischen Staatsministeriums des Innern.
Mit einer Karte und einer Ansicht von Großkarolinenfeld. Stuttgart
und Berlin (J. G. Cottasche Buchhandlung Nachfolger) 1906. XVI und
670 SS.
Die vorliegende Schrift stellt das Resultat von Untersuchungen
dar, welche der Verfasser im behördlichen Auftrage über die Kolonie
Großkarolinenfeld bei Rosenheim in Oberbayern angestellt hat. Es han-
delte sich dabei für das Königl. Bayerische Ministerium einmal um die
praktische Frage, welche Aussichten diese Kolonie für die Zukunft in
betreff der Sicherheit ihrer Existenz hat und ob für die Ansiedler da-
selbst wirtschaftliche Gefahren irgendwelcher Art bestehen. Sodann
soll die Untersuchung zugleich ein historisch begründetes Bild von der
Entwickelung einer derartigen Kolonie überhaupt liefern, wobei gerade
die vorliegende sich insofern eignet, als sie nunmehr auf ein Dasein
von rund 100 Jahren zurückblicken kann. Die Erfahrungen, die man
hierbei gemacht hat, sind in vielfacher Beziehung in der neueren Zeit
außerordentlich wichtig, da die Frage der Besiedelung unkultivierter
und wüster Gebiete, besonders von Moorflächen, in Deutschland an ver-
schiedenen Stellen in Betracht kommt. Bei derartigen Besiedelungen
von Moorgebieten hat man in den verschiedensten Teilen Deutschlands,
sowohl in Ostfriesland, als auch in Ostpreußen, wie auch anderwärts
in Bayern, vielfache Schwierigkeiten gehabt, so daß man diese Aufgabe
noch als eine der schwierigsten im Ansiedelungswesen ansehen muß,
im Gegensatz zu Holland, wo die Moorkolonien von Anfang an gut
gediehen.
In der vorliegenden Schrift führt der Verfasser zunächst die Ge-
schichte der Kolonie Großkarolinenfeld von 1802 an sehr eingehend
aus, wobei er sich überall auf amtliche Unterlagen und zum Teil auf
eigene Nachforschungen am Orte stützt. Sodann behandelt er den heutigen
Zustand der Kolonie mit Rückblicken auf frühere Verhältnisse, sowie
416 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslande.
auch die Aussichten für die Zukunft. Auch hierbei liefert er ganz
außerordentlich gründliche Belege durch die verschiedensten statisti-
schen Zusammenstellungen über die wirtschaftlichen Verhältnisse da-
selbst, so daß hier das aktenmälig zuverlässige Material einer hundert-
jährigen Entwickelung bis zur größten Einzelheit vorliegt.
Wenn man nach dem Studium des vorliegenden Buches die Frage
stellt, was daraus für die Ansiedelungstrage unter schwierigen Kultur-
verhältnissen, wie es auf Torfmooren der Fall ist, lernen kann, so findet
man eine ganze Anzahl wichtiger Punkte, die man auch fast ohne Aus-
nahme überall anderwärts bei ähnlichen Versuchen konstatieren kanı.
Dazu gehört vor allem beim Anfang, daß zur Ansiedelung unter schwierigen
Wirtschaftsverhältnissen der Besitz eines genügenden Reservekapitals für
jeden Ansiedler die unerläßliche Bedingung ist, wenn nicht sofort die grölten
Gefahren und der Keim zu unauthörlichen Schwierigkeiten gelegt werde
soll. Es wird bekanntlich jetzt mit Recht auch bei der Ansiedelungs
frase in überseeischen Gebieten, z. B. Brasilien, immer wieder darauf
aufmerksam gemacht, daß diese Bedingung erfüllt sein muß. Hier in
Großkarolinenfeld sehen wir aus der Geschichte der Kolonie, daß zum
Teil mittellose Ansiedler zugelassen wurden, unter Verhältnissen, in
denen, zunächst zum mindesten, für einige Jahre auf keinen Ertrag zu
rechnen war, Die Folge war, daß wenn die unter Biliigung des Staates
herangezogenen Kolonisten nicht dem vollständigen Ruin überantwortet
werden sollten, der Staat unaufhörlich mit Unterstützungen ihre Esi-
stenz ermöglichen mufte. Das Verhängnisvolle ist, daß, wenn nicht
anderweitige bessere Bedingungen eintreten, die Notwendigkeit der staat-
lichen Unterstützung in solchen Fällen zum chronischen Uebel wird.
Die Kolonie begann erst wirtschaftlich existenzfähig zu werden, als
etwa 1830 die Benutzbarkeit des Torfes zu Brennzwecken „entdeckt“
wurde. Als der Absatz dieses Brennmaterials sich dann immer weiter
ausdehnte, und als besonders 1857 nach Erbauung der Eisenbahn diese
den Hauptabnehmer bildete, war der Grundwert der Kolonie sofort be-
trächtlich gesteigert und die Existeuz der Kolonisten gesichert. Wir
sehen hier dieselbe Ursache für die Sicherung der Verhältnisse, wie sie
in den holländischen Kolonien von Anfang an vorhanden war. Wir
sehen andererseits hier einen Beweis dafür, daß in den norddeutschen
Torfmooren von Ostfriesland, wie auch von Ostpreußen das mangelhatte
Vorwärtskommen daselbst mit Recht durch die Schwierigkeit erklärt
wird, den Torf in genügender Weise als Brennmaterial verkaufen zu
können. Dadurch, daß, speziell an der Nordseeküste, durch die bequeme
Zufuhr und Billigkeit der englischen Steinkohle der Torf als Brenn-
material nur mangelhaft konkurrenzfähig ist, ist dort eine Blüte der
Moorkolonien außerordentlich erschwert.
Die Ausbeute des Torfs zu Brennzwecken ist nun aber eine Art
der Bodennutzung, die nicht wie die landwirtschaftliche unerschöpflich
ist, sondern früher oder später mit dem Ende rechnen muß. Für diese
spätere Zeit bieten in der neueren Zeit die Hilfsmittel der landwirt
schaftlichen Moorkultur die Möglichkeit, die Flächen ergiebig auszu-
nutzen, wozu allerdings nicht geringe Anlagekapitalien notwendig sind.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.. 417
Nachdem man in der Kolonie Großkarolinenfeld in der neueren Zeit zu
dieser Art der Bodenbenutzung nach der allmählich weitergehenden
Ausbeutung des Brenntorfes übergegangen ist, hat sich nun eine andere
Forderung dort ergeben, welche ebentalls fast überall anderwärts bei
landwirtschaftlichen Ansiedelungen sich gezeigt hat. Es ist das die, daß
die Ansiedler eine genügende Landfläche zur Verfügung haben müssen.
‚In dieser Beziehung ist ebenfalls fast überall, besonders in den deut-
schen Moorkolonien, gefehlt worden. Der Verfasser stellt in der vor-
liegenden Schrift fest, daß auf Torfmoor eine Fläche von 5 Hektar das
Mindeste darstellt, was zu einem lebensfähigen landwirtschaftlichen
Betriebe erforderlich ist. Die kleineren Ansiedler, die sich auch in der
oberbayerischen Kolonie in der Mehrzahl befinden, bezeichnet er als
wirtschaftlich nicht selbständig lebensfähig, sondern als ständig ange-
wiesen auf irgendwelche außerhalb liegenden Beschäftigungen, worunter
die eigentliche Kolonisation und Hebung der Bodenkultur jedoch leidet.
Man sieht also, daß aus der Geschichte, wie auch aus der Untersuchung
der wirtschaftlichen Verhältnisse einer solchen Kolonie mit langjährigen
Erfahrungen für die Ansiedelungstrage viel Brauchbares zu lernen ist.
In dieser Beziehung hat die vorliegende Schrift nicht nur für die baye-
rische Verwaltung, sondern auch allgemein für das Kolonisationswesen
eine Bedeutung.
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Merckel, Curt (Bau-R.), Schöpfungen der Ingenieurtechnik der Neuzeit. Mit
55 Abbildungen im Text und auf Tafeln. 2. Aufl. Leipzig, B. G. Teubner, 1907. 8.
IV—143 SS. M. 1.—. (Aus Natur und Geisteswelt. 28.)
Methoden des gewerblichen Einigungswesens. Verhandlungen der 3. General-
versammlung der Gesellschaft für Soziale Reform am 3. und 4. Dezember in Berlin.
Jena, Gustav Fischer, 1907. 8. 240 SS. M. 1,50. (Schriften der Gesellschaft für Soziale
Reform. Bd. II. Heft 11 u. 12.)
Rosenhaupt, Karl, Die Nürnberg-Fürther Metallspielwarenindustrie in ge-
schichtlicher und sozialpolitischer Beleuchtung. Stuttgart, J. G. Cotta Nachf., 1907. 8.
X—219 SS. M. 4,80. (Münchener volkswirtschaftliche Studien. Stück 82.)
Louis, Paul, Histoire du mouvement syndical en France 1789—1906. Paris,
Felix Alean, 1907. 8. IV—282 pag. fr. 3,50.
Noël, Maurice, La limitation des heures de travail. Étude sociale. Algers,
imprimerie A. Burdin et C", 1907. 8. XI—452 pag. fr. 6.—.
Clark, Victor 8., The labour movement in Australasia. A study in social-
democracy. London, Archibald Constable & Co., 1907. 8. X--327 pp. 6/.—.
Hiscox, Gardner D., Modern steam engineering in theory and practice. London,
Lockwood, 1907. 8. 488 pp. 12/.6.
6. Handel und Verkehr.
Berichte über Handel und Industrie. Zusammengestellt im Reiehsamt des Innern.
Bd. 10, Heft 1: Volkswirtschaft Finlands. Berlin, Carl Heymanns Verlag, 1907. gr. 8.
110 SS. Pro Bd. M. 10.—.
Eröffnung, Die, der Handelshochschule Berlin am 27. Oktober 1906. Steno-
graphische Berichte über die gehaltenen Ansprachen. Herausgeg. von der Korporation
der Kaufmannschaft von Berlin. Berlin, G. Reimer, 1906. Lex.-8. 37 SS. M. 0,60.
Gehrke, Franz, Die neuere Entwickelung des Petroleumhandels in Deutschland.
Tübingen, H. Laupp, 1906. 8. VII—121 SS. M. 3.—. (Zeitschrift für die gesamte
Staatswissenschaft. Ergünzungsheft XX.)
Lignitz, v. (General d. Inf. z. D.), Deutschlands Interessen in Ostasien und die
Gelbe Gefahr. Mit einem Titelbilde und einer Karten-Anlage. Berlin, Vossische Buch-
handlung, 1907. gr. 8. XI—164 SS. M. 4,50.
Loewe, Heinrich, Lexikon der Handelskorrespondenz Deutsch— Euglisch—Fran-
zösisch. Unter Mitwirkung von Harry Alcock und C. Charmillot herausgeg. 7. Aufl.
Berlin, M. Regenhardt, 1907. 8. 1V—571 SS. M. 7,50.
Moltke, Siegfried (Handelsk.-Bibliothekar), Leipzigs Handelskorporationen.
Herausgeg. von der Handelskammer zu Leipzig. Leipzig (A. Twietmeyer) 1907. gr. 8.
VIII— 249 SS. mit 1 Abbildung und 8 Tafeln. M. 10.—.
Neubaur, Paul, Der Norddeutsche Lloyd. 3 Bde. Leipzig, F. W. Grunow,
1907. 4. M. 50.—.
Schwartz, Heinrich Ernst, Wie führe ich ein Detail-Geschäft? Anregungen
278
420 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
und Winke für den praktischen Kaufmann. Wien, Verlag der Neuen Bibliothek, 1906.
8. 57 SS. M. 1,80. (Neue Bibliothek. Nr. 2.)
Teubert (Öber- und Geheimer Bau-R. a. D.), Der zukünftige Binnenschiffahrts-
betrieb auf den durchgehenden Hauptwasserstraßen der Verbandsländer. Mit 1 Ab-
bildung im Text. Berlin-Grunewald, A. Troschel, 1906. gr. 8. 32 SS. M. 1.—. (Ver-
bands-Schriften des deutsch-österreichisch-ungarischen Verbandes für Binnenschiffahrt.
N. F. Nr. 36.)
Wickersheimer, E., À propos du rachat du chemin de fer de l’Ouest. In-
dustries d’ftat—Administrations privées. Paris, H. Dunod et E. Pinat, 1906. 8. 39 pag.
fr. 2.—
Flora, Federico, La politica delle tariffe ferroviarie. Catania 1906. 4. 120 pp.
l. 3.—.
7. Finanzwesen.
Renauld, Joseph Ritter von (Oberst a. D.), Finanzen und Branntweinbesteue-
rung des Deutschen Reichs in ihren Grundzügen. Mit 4 Tabellen. München, L. Schnitz-
ler & Co., 1907. 8. 76 SS. M. 2.—.
Toussaint, A., Richtige Steuern-Einschätzung und Reklamation nach den neuesten
gesetzlichen Bestimmungen. 12. Aufl. Braunschweig, F. Euler, 1907. 8. 111 SS.
M. 1.—.
Guyot, Pierre, Traité formulaire de procédure en matière d'enregistrement.
Paris, Marchal et Billard, 1907. 8. fr. 6.—.
8. Geld-, Bank-, Kredit- und Versicherungswesen.
Hauser, R., Die Deutschen Ueberseebanken. (Abhandlungen des
staatswissenschaftlichen Seminars zu Jena, herausgegeben von Prof. Dr.
Pierstorff. 3. Band, Heft 4.) Jena (Gustav Fischer) 1906. 96 SS.
Die Errichtung der deutschen Ueberseebanken kann hauptsächlich
auf zwei Faktoren zurückgeführt werden. Nachdem sich Deutschland
in immer höherem Maße zum Industriestaat entwickelt hatte, Einfuhr
und Ausfuhr sich wesentlich gehoben und die geschäftlichen Beziehungen
zum Auslande eine immer größere Bedeutung erlangt haben, ergab sich
die Notwendigkeit, den deutschen Kaufleuten und Fabrikanten in ver-
schiedenen überseeischen Ländern, die für den Güteraustausch okku-
pationsreif waren oder hierfür geeignet erschienen, einen direkten finan-
ziellen Schutz und Anhalt zu verschaffen. Hierzu kam die Konzentration
des deutschen Bankwesens. Wie in der Praxis scharf erkannt und
vielfach bereits auch in der bankwissenschaftlichen Literatur hervor-
gehoben ist, hat dieselbe für das Inland ihren eigentlichen Abschluß
bereits gefunden. Die großen Berliner Effektenbanken sind Monopol-
kompagnien geworden, die die hervorragendsten Privatbankhäuser auf-
gesaugt und fast alle banktechnischen Aktiv- und Passivtransaktionen
übernommen haben und mit Erfolg durchführen. Neue Gebiete sind
hier schwer zu erobern. Der Betätigungsdrang jener Institute ist natur-
gemäß angewiesen, Erweiterungssphären aufzusuchen und hierfür auch
das Ausland in höherem Maße wie bisher für die eigenen Geschäfts-
und Erwerbsinteressen nutzbar zu machen. So entstanden vielfach
Ueberseebanken. Sie lehnen sich fast durchweg an die großen Berliner
Effektenbanken an und sind durchschnittlich als deren direkte oder
indirekte Zweigniederlassungen im Ausland zu bezeichnen. Ihre Er-
richtung ist in mannigfacher Beziehung reizvoll. Sie gewähren die
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.. 4921
Möglichkeit einer hohen Verzinsung des Anlagekapitals, und über-
seeische Geschäftsbeziehungen, die auch indirekte Vorteile bieten, können
durch sie zu Gunsten der Mutterinstitute leicht eingeleitet werden.
Hierdurch wird deren Beteiligung an vielen öffentlichen Kreditopera-
tionen des Auslandes herbeigeführt und ihr nationaler und internationaler
Einfluß sowie ihre gesamte Machtstellung gehoben.
Die vorliegende Schrift macht dasjenige, was in der Vergangenheit
bisher geleistet worden ist, zum Gegenstand der Erörterung. Die
Deutsche Ueberseeische Bank, die Deutsch-Asiatische Bank, die Brasi-
lianische Bank für Deutschland, die Bank für Chile und Deutschland,
die Deutsch-Ostafrikanische Bank, die Deutsch-Westafrikanische Bank
sind in den einzelnen Phasen ihrer Entwickelung geschildert und die
wichtigsten Bilanzposten, z. B. Aktienkapital, Reserven, Accepte, Depo-
siten, Dividendensätze u. s. w. teilweise aufgeführt.
Die Gesamtresultate, die das deutsche Bankwesen auf diesem immer-
hin sehr spröden Gebiete bisher erzielt hat, sind in finanzieller und
volkswirtschaftlicher Beziehung durchaus nicht zu unterschätzen. Wenn
auch die Deutsch-Westafrikanische Bank bei dem gegenwärtigen Ent-
wickelungsstand des Schutzgebietes für Jahre hinaus erhebliche Er-
trägnisse nicht zu erzielen in der Lage sein dürfte, so haben doch die
anderen Banken vielfach den Erwartungen ihrer Errichtung entsprochen.
Die Deutsche Ueberseeische Bank hat schrittweise vordringend fast das
gesamte spanische Sprachgebiet in ihre Interessensphäre gezogen und
dem deutschen Handel in Südamerika bereits die wertvollsten Dienste
geleistet. Die Deutsch-Asiatische Bank ist als führendes Finanz-
institut im fernen Osten aufgetreten, und die geschäftlichen Resultate,
die sie bisher erzielte, sind um so anerkennenswerter und bedeutungs-
voller, als sie in noch höherem Male wie die übrigen Uebersee-
banken mit der ausländischen, namentlich englischen Konkurrenz
zu kämpfen hat. Die Brasilianische Bank für Deutschland ist stets
bestrebt gewesen, unter Wahrung solider Geschäftsgrundsätze der
deutschen Kaufmannschaft jene Vorteile zu sichern, welcher sich die
englische Handelswelt durch nationale Bankverbindungen seit langen
Jahren erfreut; sie hat es verstanden, sich unter Beobachtung einer
vorsichtigen Finanzpolitik zu einem der ersten fremdländischen Bank-
institute in Brasilien emporzuschwingen. Die Bank für Chile und
Deutschland endlich vermochte zwar in den ersten Jahren ihres Be-
stehens nur geringfügige Resultate zu erzielen, aber allmählich ist es
auch ihr gelungen, zur Förderung der deutschen Handelsinteressen im
Auslande wesentlich beizutragen. So möge den deutschen Uebersee-
banken auch ferner ein reiches Betätigungsgebiet zum Nutzen der
Nation und im Interesse ihrer Aktionäre beschieden sein!
Der Aufbau der Hauserschen Schrift ist gut und logisch. Einzelne
Geschäftstransaktionen, wie der für den überseeischen Handel so wichtige
Konossementverkehr sind, wenn auch für den Laien nicht genügend an-
schaulich, so doch richtig und treffend geschildert. Die Statuten und
Geschäftsberichte der in Betracht zu ziehenden Banken hat der Ver-
fasser voll, vielleicht fast zu wörtlich benutzt. Teilweise werden jedoch
422 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes,
hierdurch auch interessante Beiträge zur internationalen Wirtschafts-
geschichte geliefert. So kann die vorliegende Studie als eine recht lesens-
und empfehlenswerte bezeichnet werden.
Berlin. Otto Warschauer.
Archiv für Arbeiterversicherung. Herausgeg. von A. Wengler. 1. Jahrg. 1907,
12 Hefte. Leipzig, Fischer & Kürsten. 8. M. 10.—.
Dilloo, Wilhelm, Pensionseinrichtungen für Privatbeamte. Berlin, Carl Hey-
manns Verl., 1907. 8. M. 4.—.
Grober, J. (Prof.), Einführung in die Versicherungsmedizin. Vorlesungen für
Studierende und Aerzte. Jena, Gustav Fischer, 1907. gr. 8. VII—187 SS. M. 3,60.
Hannemann, Adolf und Franz Hannemann, Die Schulsparkasse in
Friedenau. Berlin, Carl Heymanns Verl., 1907. 8. M. 1.—.
Hanow, Hugo (Senats-Vorsitzender), Erläuterungen zu den Satzungen der In-
validen-, Witwen- und Waisenversicherungskasse der See-Berufsgenossenschaft. Unter
Benutzung amtlicher Quellen. Berlin, Behrend & Co., 1907. 8. VI—236 SS. M.4.—.
Heintze, Carl, Staatskredit. Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht, 1907. 8.
136 SS. M. 3.—.
Knebel Doeberitz, Hugo v. (vortr. Rat im Minist. des Innern), Das Spar-
kassenwesen in Preußen. Berlin, Ernst Siegfried Mittler und Sohn, 1907. gr. 8. XI
—228 SS. M. 4.—.
Vierteljahrsrundschau über das Versicherungswesen. Herausgeg. vom
deutschen Haftpflicht- und Versicherungs-Schutzverband. Schriftleitung: (Handelshoch-
sch.-Dozent) Paul Moldenhauer. 1. Jahrg. 1907. 4 Hefte. (1. Heft 36 SS.) Berlin,
F. Siemenroth. gr. 8. M. 4.—.
Wittstock, Otto Max, Die Londoner Fondsbörse. Berlin, C. A. Schwetschke
& Sohn, 1907. 8. M. 2,50.
Guénard, Albert, Comment on doit gérer son capital et le faire fructifier.
Finance pratique. 3* édition. Paris, A. Méricant, 1907. 8. fr. 0,95.
9. Soziale Frage.
Roscher, System der Armenpflege und Armenpolitik. 3. Auflage,
ergänzt von Christian J. Klumker, 1906.
Schriften des deutschen Vereins für Armenpflege
und Wohltätigkeit, Heft 70/71, 1904/1905.
Roschers bewährtes Werk hat in der neuen Auflage einige schätzens-
werte Ergänzungen erhalten, so über die Fortbildung des Elberfelder
Systems, über Kinderfürsorge u. s. f. Wenn man es aber überhaupt
unternahm, das Buch auf den Standpunkt der Gegenwart zu bringen,
mußte man meines Erachtens entschieden vollständiger verfahren. So
werden wiederholentlich die älteren Ausführungen von Charles Booth
herangezogen, ohne daß auf sein neueres Hauptwerk verwiesen wird.
In diesem Zusammenhang hätte auch Rowntree (Poverty, a study of
town life) erwähnt werden müssen. S. 61 stehen noch die alten An-
gaben über die Peabody Buildings, aber ihre neuere Entwickelung, ihre
Ergänzung durch die Rowton-Häuser und die kontinentale Entwickelung
der Ledigenheime hommt nicht zu Worte. Daß neuere Pläne einer
staatlichen Altersversicherung in England gescheitert sind (S. 343),
ist milverständlich, sie sind bisher nur noch nicht ausgeführt. In $ 60
vermissen wir den unbedingt nötigen Hinweis auf das Reichsgesetz
über die privaten Versicherungsunternehmen von 1901. Auch eine
Korrektur des ungebräuchlichen Zitates: „Conrads Staats wörter-
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 493
buch“ (statt Handwörterbuch, wie es richtig, z. B. S. 193 steht) wäre
zu empfehlen.
Wir haben diese Einzelheiten herausgehoben, weil wir den prinzi-
piellen Standpunkt zum Ausdruck bringen wollten, daß man ältere Werke
entweder unverändert oder aber mit allen erforderlichen Ergänzungen
herausgeben möge. Ein Mittelweg, der nur wichtigere Punkte ver-
bessert, vermeintlich minder wichtige aber in einer heute nicht mehr
brauchbaren Form stehen läßt, ist nicht zweckentsprechend.
Aus den neueren Verötfentlichungen des Vereins für Armenpflege
möchten wir die Hefte 70/71 warm empfehlen, die sich mit der Be-
ratung Bedürftiger in Rechtsangelegenheiten und den Versammlungs-
verhandlungen über dies Thema beschäftigen. Ihr Inhalt, zumal das
ausgezeichnete Referat des Stadtrat von Frankenberg, verdient gerade
gegenwärtig, wo mancherlei Veränderungen im Rechtsleben (z. B. im
amtsgerichtlichen Verfahren) bevorstehen, weitgehende Beachtung. Es
wäre zu wünschen, daß bei den künftigen Retormen die aufgestellten
Grundsätze volle Berücksichtigung fänden.
Halle a. S. Georg Brodnitz.
Arbeitsnachweis, Der. Mitteilungen des Reichsverbandes der allgemeinen
Arbeitsvermittelungsanstalten Oesterreichs. Herausgeg. von (Prof.) Ernst Mischler und
(Bez.-Komm.) Rud. v. Fürer. Jahrg. 1, 1907, Heft 1. Troppau (O. Gollmann). gr. 8.
53 SS. M. 1.—.
Fink, J. W., Kann das Christentum das soziale Elend beseitigen? Tübingen,
J. W. Fink, 1906. kl. 8. 40 SS. M. 0,30.
Hyan, Hans, Schwere Jungen. Berlin, H. Seemann Nachf. (1906). gr. 8. 76 SS.
M. 1.—. (Großstadt-Dokumente. 23.)
Küster, Konrad, (Gesammelte Schriften. 1. Bd. Lösung der sozialen Frage
durch Gesundung der wirtschaftlichen Verhältnisse. Berlin, J. Harrwitz Nachf., 1907.
8. M. 1,50. 2
Mahling, Frdr., Probleme der modernen Frauenfrage. Hamburg, Agentur des
Rauhen Hauses, 1907. 8. M. 1.—.
Ostwald, Hans, Das Berliner Dirnentum. 7. Bd. Schlupfwinkel der Prostitution.
1. Tausend. Leipzig, W. Fiedler (1907). 8. 93 SS. M. 1,50. j
Ragaz, L. (Pfarrer), Das Evangelium und der soziale Kampf der Gegenwart.
Basel, C. F. Lendorff, 1906. gr. 8. VI—66 SS. M. 0,80.
Rösler, Augustin (P.), Die Frauenfrage, vom Standpunkte der Natur, der Ge-
schichte und der Offenbarung beantwortet. 2., gänzlich umgearb. Aufl. Freiburg i. Br.,
Herder, 1907. gr. 8. XIX—579 SS. M. 8.—.
Schaukal, Richard, Die Mietwohnung. Eine Kulturfrage. Darmstadt, A. Koch,
1907. 8. M. 1,20.
Weis, Wilhelm, Die Gemarkungs-, Boden-, Bau- und Wohnungspolitik der
Stadt Mannheim seit 1892. Karlsruhe, G. Braunsche Hofbuchdruckerei, 1907. gr. 8.
1II—83 SS. M. 2.—. (Volkswirtschaftliche Abhandlungen der badischen Hochschulen.
Bd. IX. Heft 2.)
Paultre, Christian, De la répression de la mendicité et du vagabondage en
France sous l’ancien régime. Paris, Larose et Tenin, 1907. 8. fr. 10.—.
Manufacture, The, of paupers. A protest and a policy. With an introduction
by J. H. Loe Strachey. London, John Murray, 1907. 8. 146 pp. 2/.6.
Pratt, Edwin A., Licensing and temperance in Sweden, Norway, and Denmark.
London, John Murray, 1907. 8. 128 pp. 2/.6.
Rossi, Leonardo Emilio, Milano benefica e previdente: cenni storici e
statistici sulle istituzione di beneficenza e di previdenza, Milano, tip. F. Marcolli, 1906.
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424 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
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Berlin, F. Vahlen, 1907. gr. 8. 36 SS. M. 0.80. (Veröffentlichungen des Berliner
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Freudenthal, Berthold (Prof.), Amerikanische Kriminalpolitik. Oeffentlicher
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Fuld, Ludwig (Rechtsanwalt), Gesetz, betreffend das Urheberrecht an Werken
der bildenden Künste und der Photographie. Text-Ausg. mit Anmerkungen und Sach-
register. Berlin, J. Guttentag, 1907. 16. 91 SS. M. 1.—. (Guttentags Sammlung
deutscher Reichsgesetze. Nr. 81.)
Georgi, Otto (Ober-Bürgermeister a. D.), Der sächsische Entwurf eines Wasser-
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Guyer, E. (Rechtsanwalt), Das zukünftige schweizerische Patentrecht, unter Be
rücksichtigung des Entwurfes zu einem neuen schweizerischen Bundesgesetze betreffend
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M. 1,40.
Hüttner, Rud. (Ger.-Assessor a. D.), Das Handelsrecht. Kurzgefaßte Darstellung
des Handelsrechts mit Ausschluß des Seerechts. Leipzig, Roßberg, 1907. IX—319 SS.
M. 4.—.
Korkisch, Hubert, Gesetz vom 16. Dezember 1906, RGBl. 1907 Nr. 1, be-
treffend die Peusionsversicherung der in privaten Diensten und einiger in öffentlichen
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Löwe, E. (weil. Reichsger.-Senatspräs.), Die Strafprozeßordnung für das Deutsche
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Meyer, Friedrich (Landesversicherungsanst.-Dir.), Führer durch das Invaliden-
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Pabst, Max (Rechtsanwalt), Einführung in den Strafprozeß. Berlin, Carl Hey-
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Paul, Richard, Die Rechte und Pflichten der Teilhaber von Fabriks-, Handels-
und Erwerbsgesellschaften aller Art. Nebst vielen Anmeldungsformularen. 8. Ster.-Aufl.
Leipzig, G. Weigel (1907). 8. VIII—157 SS. M. 1,50.
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Straffa, Angelo, Studi di diritto commerciale. Firenze 1906. 8. 386 pp.
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M. Poppen & Sohn, 1907. 8. 47 SS. M. 0,50.
Hedemann, Just. Wilhelm, Moderne Bürgerpflichten. Vortrag. Jena, Gustav
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Loening, Edgar (Prof.), Grundzüge der Verfassung des Deutschen Reiches.
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Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 495
Savigny, Leo v. (Prof.), Das parlamentarische Wahlrecht im Reiche und in
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Schmidt, Richard (Regierungs-R.), Die Verfassung der rheinischen Landge-
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der abändernden und ergänzenden Gesetze. 3. neu bearb. Aufl. Trier, J. Lintz, 1907.
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Sieber, J. (Prof.), Das Staatsbürgerrecht im internationalen Verkehr, seine Er-
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Stead, William T., Peers or people? The House of Lords weighed in the
balances and found wanting. An appeal to history. London, T. Fisher Unwin, 1907.
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Donati, Donato, I trattati internazionali nel diritto costituzionale. Vol. I. Torino
1906. 8. XXVI—610 pp. l. 12.—.'
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Deutsches Reich.
Statistik des Deutschen Reichs. Herausgeg. vom Kaiserlichen Statistischen Amt.
Bd. 175. Die Binnen-Schiffahrt im Jahre 1905. Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht,
1907. Imp.-4. II—III—134—99 SS. M. 5.—.
Mitteilungen aus der Verwaltung der direkten Steuern im preußischen Staate.
Statistik der preußischen Einkommensteuer-Veranlagung für das Jahr 1906. Im Auf-
trage des Herrn Finanzministers bearb. vom Königlich Preußischen Statistischen Landes-
amt. Berlin, Königliches Statistisches Landesamt, 1906. Imp.-4. III—XIV—215 SS.
M. 5.—.
Nachweisungen, Statistische, aus dem Gebiete der landwirtschaftlichen Ver-
waltung von Preußen. Bearb. im Königlich Preußischen Ministerium für Landwirt-
schaft, Domänen und Forsten. Jahrg. 1905. Berlin, Paul Parey, 1906. Lex.-8. VI—
171 SS. M. 4,50. (Landwirtschaftliche Jahrbücher. Bd. XXXV. Ergänzungsbd. VI.)
Statistik, Preußische. (Amtliches Quellenwerk.) Herausgeg. in zwanglosen Heften
vom Königlich Preußischen Statistischen Landesamt in Berlin. Heft 199. Die Sterb-
lichkeit nach Todesursachen und Altersklassen der Gestorbenen im preußischen Staate
während des Jahres 1905. Berlin, Königliches Statistisches Landesamt, 1907. Imp.-4.
IV—XXVI-210 SS. M. 6,20.
Oesterreich-Ungarn.
Schilder, Sigmund, Agrarische Bevölkerung und Staatsein -
nahmen in Oesterreich. Leipzig und Wien (Franz Deuticke) 1906.
176 SS. 8°. M. 3,60.
Der Verfasser hat es sich in erster Linie zur Aufgabe gesetzt, den
Anteil der agrarischen und der nichtagrarischen Bevölkerung Oester-
reichs an den österreichischen Staatseinnahmen ziffermäßig zu berechnen.
Zu diesem Zwecke hat er die Staatsrechnungsabschlüsse, Budgetvorlagen
und sonstigen Materialien mit äußerster Umsicht und Sorgfalt durch-
gearbeitet. Nur in seltenen Fällen lag das fragliche Verhältnis klar zu
Tag; in der Regel mußte es durch Berechnung oder Schätzung näherungs-
weise festgestellt werden. Die Darlegung der hierbei eingehaltenen
Methode und ihrer Anwendung auf die einzelnen Kapitel des öster-
reichischen Staatsvoranschlags macht die größere Hälfte des Buches
aus. In dem ersten Abschnitte werden die durch alles Folgende zu be-
gründenden ziffermäßigen Endergebnisse vorweggenommen und die wirt-
schaftspolitischen Folgerungen daraus abgeleitet.
Der Verfasser berechnet, daß im Jahre 1900 die agrarische Be-
426 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes,
völkerung (Angehörige der Hauptberufsklasse Land- und Forstwirtschaft,
mit 52,43 Proz. an der gesamten Volkszahl, aber nur mit 31,38 Proz.
an den Steuereinnahmen Oesterreichs beteiligt war. Ein Angehöriger der
nicht agrarischen Bevölkerungsschicht trug somit 2,41mal soviel zum
Staatsaufwand bei, wie ein Angehöriger der landwirtschaftlichen Gruppe.
Ich rechne es dem Verfasser hoch an, daß er aus den mit großem Fleib
und Scharfsinn gewonnenen Zitfern nicht übertriebene Folgerungen ab-
leitet. Die Beruiszählung ist keine Volksabstimmung über den Bereich
agrarischer und antiagrarischer Interessen und der Anteil der beiden großen
gegensätzlichen Berufskreise an der Stenerleistung begründet nicht etwa
den Anspruch auf rücksichtslose Durchführung ihrer besonderen Anliegen
an den Staat. Schilder selbst führt mit Recht aus, wie verschiedenartige
Interessen innerhalb des großen Blocks der agrarischen Bevölkerung
wirksam sind, und daß die Agrarier mit der hohen Bevölkerungsquote
ihre Bedeutung für den Staat, mit der geringen Steue -quote ihre Notlage
glaubhaft zu machen versuchen würden. Die Ziffern belegen Tatsachen
und enthüllen Entwickelungstendenzen; aber sie beweisen nicht ohne
weiteres die Richtigkeit oder Dringlichkeit wirtschaftlicher Partei-
programme: dieselben werden stets auf die Zweckmäligkeit der em-
pfohlenen Mittel und auf ihre Rückwirkung auf die gesamte Volkswirt-
schaft hin überprüft werden müssen. Neues Material hierzu beigebracht,
das vorhandene übersichtlicher bereit gelegt zu haben, ist das unleug-
bare und große Verdienst des Verfassers.
Die Zahlen über den absoluten Stillstand und den relativen Rück-
gang der landwirtschaftlichen Bevölkerung Oesterreichs geben dem Ver-
fasser Anlaß zu treffenden Bemerkungen über die Ursachen der „Land-
flucht“ und zu einer scharfen Kritik des offiziellen agrarischen Programms.
Der Verfasser selbst steht auf dem bodenreformerischen Standpunkte
und befürwortet als einzig wirksame Maßnahme gegen die Entvölkerung
des flachen Landes die innere Kolonisation im Sinne Fr. Oppenheimers.
H. Rauchberg.
Arbeitseinstellungen, Die, und Aussperrungen in Oesterreich während des
Jahres 1905. Herausgeg. vom k. k. Arbeitsstatistischen Amte im Handelsministerium.
(Brünn, Friedrich Irrgang, 1906.) Lex.-8. 145 SS. (Beilage zur Statistischen Monats-
schrift. Neue Folge. Jahrg. XI, 1906.)
Ernteergebnis der wichtigsten Körnerfrüchte im Jahre 1906. Nach amt-
lichen Quellen im k. k. Ackerbauministerium zusammengestellt. Mit 5 Diagrammen.
Brünn, Friedrich Irrgang, 1906. Lex.-8. 12 SS. (Beilage zur Statistischen Monats-
schrift. Neue Folge. Jahrg. XI, 1906.)
Mitteilungen, Statistische. Herausgeg. von der k. k. Statistischen Zentral-
kommission in Wien, 1. Jahrg. 1907. 24 Nrn. (Nr. 1. 6 Bl.) Brünn, Friedrich Irr-
gang. Lex.-8. M. 22,50.
13. Verschiedenes.
Andenken, Dem, der Universität Frankfurt 26. IV. 1506 bis 10. VIII 1811.
Festschrift zur 400. Wiederkehr ihres Gründungstages 26. IV. 1906. Frankfurt a/O.
(Waldow, 1907). gr. 8. 114 SS. mit 1 Abbildung. M. 1,50.
Bartholome (Seminar-Direktor), Die Förderung des Volksschulwesens im Staate
der Hohenzollern. Geschichtlicher Ueberblick. 2. Aufl. Düsseldorf, L. Schwann, 1907.
8. VII—291 SS. M. 2,60.
Brode, Reinhold (Prof.), Die Friedrichs-Universität zu Halle. 2 Jahrhunderte
deutscher Geistesgeschichte. Halle, C. Nietschmann, 1907. gr. 8. IV—68 SS. M. 2.—.
Die periodische Presse des Auslandes. 427
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Von einem Capitaine. Linz, Zentraldruckerei vorm. E. Mareis, 1907. 8. 40 SS. mit
1 Tabelle. M. 1.—.
Eucken, Rudolf, Grundlinien einer neuen Lebensanschauung. Leipzig, Veit
& Comp., 1907. gr. 8. VIII—-314 SS. M. 4.—.
Hannemann, Franz (Rektor), Erziehungsarbeit in der Schule. Berlin, Carl
Heymanns Verl., 1907. gr. 8. 192 SS. M. 3.—.
Herzfelder, Henriette, Die gemeinsame Erziehung der Geschlechter. Leipzig,
Felix Dietrich, 1907. 8. 40 SS. M. 0,50. (Sozialer Fortschritt. 92. 93.)
Höller, Konrad, Die sexuelle Frage und die Schule, nebst Versuch einer Ein-
gliederung des zur sexuellen Aufklärung notwendigen Lehrstoffs in den Lehrplan einer
achtstufigen Schule. Leipzig, E. Nägele, 1907. gr. 8. 56 SS. M. 1.—.
Meyer, Eduard, Humanistische und geschichtliche Bildung. Vortrag. Berlin,
Weidman, 1907. 8. 41 SS. M. 0,60.
Schelling, Friedrich von, Vorlesungen über die Methode des akademischen
Studiums. Herausgeg. von Otto Braun. Leipzig, Quelle & Meyer, 1907. 8. XXIII
—170 SS. 8. M. 2,60.
Simon, Helene, Schule und Brot. Hamburg und Leipzig, Leopold Voss, 1907.
89088. M. 1.—.
Zimmer, Heinrich, Randglossen eines Keltisten zum Schulstreik in Posen-
Westpreußen und zur Ostmarkenfrage. Berlin, Weidmann, 1907. 8. 124 SS. M. 1,40.
Mattot, A., La santé dans le travail ou 20 leçons d’hygiene populaire. Bruxelles,
Lebegue, 1907. 8. Avec 180 gravures. fr. 1,50.
Asquith, H. H., Ancient universities and the modern world. An address deli-
vered before the University of Glasgow on January 11, 1907. Glasgow, Mac Lehose,
1907. 8. 1/.—.
Josephson, Henry, The sanitary evolution of London. London, T. Fisher
Unwin, 1907. 8. 440 pp. 6/.—.
Lustig, Alessandro, Igiene della scuola, ad uso degli insegnanti e dei medici. _
Milano 1906. 8. 320 pp. l. 7.—.
Die periodische Presse des Auslandes.
A. Frankreich.
Bulletin de Statistique et de Législation comparée. XXX* année, 1906, décembre:
Loi portant modification des lois des 11 janvier 1302, 16 août 1895, 21 décembre 1905
et 13 juillet 1906. (Tarif des douanes.) — Les produits de l’enregistrement, des do-
maines et du timbre, constatés et recouyr& en France, pendant l’exereice 1905. —
Droits sur les alcools et consommation moyenne par habitant dans les principales villes
en 1905. — ete. — XXXI’ année, 1907, janvier: Les Ministres des finances depuis 1789,
— Les fabriques de sucre et leurs procédés de fabrication en 1905—06. — L’exploi-
tation du monopole des tahnes en 1905. — ete.
Journal des Économistes. 66° année, 1907, janvier: 1906, par G. de Molinari. —
Le marché financier en 1906, par A. Raffalovich. — Le mouvement colonial en 1906,
par Daniel Bellet. — La mutualité agricole, par Paul Bonnaud. — Contrat politique
et contrat économique, par Rouxel. — etc.
Journal de la Société de Statistique de Paris. Année 48, 1907, N° 1, Janvier:
L'apprentissage dans les métiers de ameublement, par Barrat. — Rapport du Ministre
de Pintérieur sur les résultats du recensement du 4 mars 1906. — ete.
Réforme Sociale, La. XXVI’ année, n° 25, 1% janvier 1907: Les Jaunes et les
questions sociales, par Pierre Biétry. — Le droit électoral féminin, en Languedoc, au
moyen-âge, par Alphonse Roque-Ferrier. — Les jardins ouvriers de Beaune en 1906,
par A. Fontaine. — ete. — n° 26, 16 janvier 1907: L’Anerbenrecht en Allemagne, par
Otto Fischer. — Les Jaunes et les questions sociales, par Biétry. [Suite] — Les
retraites ouvrières et le socialisme. Réflexions d’un contribuable à propos d’un livre
récent, par René de Kérallain. [Fin.] — L'École de la paix sociale, par F. Auburtin.
498 Die periodische Presse des Auslandes.
— ete. — n° 27, 1" février 1907: Patrons et ouvriers, par Arthur Roguenant. — Les
warrants agricoles d’après les lois des 30 avril 1906 et 18 juillet 1898, par Pierre
Hans. —- Le rachat du chemin de fer de l’Ouest, par Louis Rivière. — A propos de
la d&population des campagnes et des logements ouvriers, par Georges Blondel. — ete.
Revue générale d’administration. Année XXIX, 1906, décembre: Le personnel
des ministères, par G. Demartial. [Suite et fin.] — De la compétence en matière de
propriété, par Albert Roux. [Suite.] — ete. — Année XXX, 1907, janvier: Les types
sociaux: le fonctionnaire, par Ch. Rabany. — Le domaine des hospices de Paris depuis
la Révolution, par Amédée Bonde. [Suite.] — ete.
Revue d’Économie Politique. 20° Année, 1906, N® 8-9, Aoùt-Septembre: Un
économiste méconnu: Otto Effertz, par Adolphe Landry. — Le mercantilisme libéral à
la fin du XVII" siècle: les idées économiques et politiques de M. de Belesbat, par
Albert Schatz et Robert Caillemer. [Suite.] — ete. — N” 10-11, Octobre-Novembre:
Contribution à une théorie réaliste de la monnaie, par Bertrand Nogaro. — La banque
nationale Suisse, par Julius Landmann. — La théorie économique pendant l’année 1905
—1906, par Adolphe Landry. — etc.
Revue internationale de Sociologie. XIV* Année, N° 12, Décembre 1906: La
philosophie socialiste et sa revision critique, par Francesco Cosentini. — Société de
Sociologie de Paris, Séance du 14 novembre 1906 : Les types sociaux: le fonctionnaire,
communication de Ch. Rabany, discussion par P. Grimanelli, M™ J. de Maguerie, Léon
Philippe. — ete.'
BJ England.
Century, The Nineteenth, and after. No. 360, February 1907: The revived
Channel tunnel project. — The forests of India and their administration, by John Nisbet
(late Indian Forest Service). — Montenegro, by Lady Thompson. — ete.
Edinburgh Review, The. N° 419, January, 1907: The English industrial
revolution of the eighteenth century. — Admiralty administration and naval policy. —
The state of Russia. — The first Earl of Durham and colonial aspiration. — ete.
Journal of the Institute of Actuaries. Vol. XL, part III, July 1906: On a form
of spurious selection which may arise when mortality tables are amalgamated, by W.
Palin Elderton. — Some aspects of registration of title to land, by James Robert Hart.
— ete. — Part IV, October 1906: Reversionary securities as investments, by C. R.
V. Coutts. — French assurance law, 1905. — ete. — Vol. XLI, part I, January 1907:
Model office reserves for endowment assurances, by James Buchanan. — On the error
introduced into mortality tables by summation formulas of graduation, by George
King. — ete.
Journal of the Institute of Bankers. Vol. XXVII, 1906, Part 7, October: The
history of banks and banking in Essex, by Miller Christy. — ete. — Part 8, November:
The organization of a large bank, by Leonard Arthur Stanley. — ete. — Part 9,
December: Inaugural address of the President, J. Spencer Phillips. — ete.
Review, The Contemporary. No. 494, February, 1907: The retail bookseller,
by Robet Bowes. — North-eastern Asia after the war, by Alexander Ular. — The
Channel tunnel, by (Lt.-Col.) Walter H. James. — Japan and Russia: how peace was
brought about, by E. J. Dillon. — ete.
Review, The Economie. Published for the Oxford University Branch of the
Christian Social Union. Vol. XVII, 1907, No. 1, January: Bournville, by J. A. Dale.
— Eeonomie crises and some aspects of trusts, by (Prof.) W. Neurath. — The poplar
workhouse inquiry, by Gordon Crosse. — Imprisonment for debt, by M. J. Landa.
— ete.
Review, The National. No. 288, February 1907: The Valentine compact: &
year after, by Compatriot. — Some thoughts on Indian discontent, by His Highness
the Aga Khan. — The Unionist leadership, by W. G. Howard Gritten. — Temperance
reform — a reply to Sir Thomas Whittaker, by E. N. Buxton. — ete.
Review, The Quarterly. No. 410, January, 1907: Imperial unity and the
colonial conference. — The Charity Organisation Society. — British sea-fisheries. — ete.
C. Oesterjreich.
Handels-Museum, Das. Herausgeg. vom k. k. österr. Handels-Museum. Bd. 22,
1907, No. 3: Oesterreichs Handelsbeziehungen zu Chile. — Geschäftliche Verhältnisse
Die periodische Presse des Auslandes. 429
in Rußland. — ete. — Nr. 4: Die Regelung der Konkurrenzverhältnisse in der deutschen
Müllerei, von Viktor Heller. — Das internationale Exportgeschäft. — ete. — Nr. 5:
Die Vorsorge für den Seeverkehr Oesterreichs, von Adolf Drucker. — ete. — Nr. 6:
Das neue Gewerbegesetz, von (Prof.) Rud. Kobatsch. — ete.
Monatscehrift, Statistische. Herausgeg. von der k. k. Statistischen Zentral-
Kommission. Neue Folge. Jahrg. XI, November-Dezember-Heft: Die stichprobenweisen
Viehschätzungen. Eine kritisch-methodologische Untersuchung von Richard Pfaundler
und Franz Weyr. — Studentenstiftungen im Jahre 1905, von Alfred Lorenz. — Bericht
über die Tätigkeit des statistischen Seminars an der k. k. Universität in Wien im
Wintersemester 1905/06. — etc. 6 .
Rundschau, Soziale. Herausgeg. vom k. k. Arbeitsstatistischen Amte im Handels-
ministerium. Jahrg. VII, Nr. 12, Dezember 1906: Die neuere Entwickelung des Arbeiter-
schutzes bei Vergebung öffentlicher Arbeiten in Oesterreich, von Franz Ziäek. — Arbeits-
zeitverlängerungen in den fabrikmäßigen Betrieben Oesterreichs im III. Quartale 1906.
— Unentgeltlicher Wohnungsnachweis im Anschluß an die gemeinnützige Arbeitsver-
mittlung in Graz im Jahre 1905, von (Prof.) E. Mischler. — ete.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung. Organ der Ge-
sellschaft österreichischer Volkswirte. Bd. 15, 1906, Bd. V u. VI: Zur neuesten Literatur
über Kapital und Kapitalzins, von Eugen von Böhm-Bawerk. — Schmollers Volkswirt-
schaitslehre, von Karl Theodor von Inama-Sternegg. — Das Einkommen nach dem
Beruf und nach der Stellung im Berufe in Oesterreich, von Eugen von Philippovich.
— Anfänge des Kapitalismus bei den abendländischen Juden im früheren Mittelalter,
von Ignaz Schipper. — Die Hebung. der österreichischen Alpenwirtschaften, von Prof.
Ferdinand Schmid (Innsbruck). — Die preußischen Verwaltungsakademien, von Georg
Michalski. — etc.
F. Italien.
Giornale degli Economisti. Serie II, Anno XVII, Ottobre 1906: Per la difesa
di un testo: la teoria del costo di riproduzione e la critica, di D. Berardi. — Della
obbiettività dell’ economia politica come scienza, di (Prof.) Emilio Cossa. — Statistiche
agrarie, studio di metodologia statistica, di (Prof.) E. Fornasari di Verce. [Continuazione.]
— ete. — Novembre 1906: Applicazioni della matematica all economia politica del
Prof. Vilfredo Pareto. (Traduzione dal tedesco del Prof. Guido Sensini.) — La statistica
del movimento migratorio e il calcolo dell’ aumento della popolazione, di Aldo Contento.
— Il patrimonio minerario dei comuni e la loro attività economica, di F. G. Tenerelli.
— La periodicità nei fenomeni collettivi, di Fr. Corridore. — ete.
G. Holland.
Economist, De, opgericht door J. L. de Bruyn Kops. LVI’ jaarg., 1907, Januari:
De Zwitsersche Spoorwegen, door R. W. J. van den Wall Bake. — Gewone en buiten-
gewone uitgaven, I, door S. J. R. de Monchy. — Nieuwe uitgaven : de arbeidsdag in
de industrie, door G. L. de Vries Feijens. — etc.
H. Schweiz.
Blätter, Schweizerische, für Wirtschafts- und Sozialpolitik. Jahrg. XIV, 1906,
Heft 19/20: Tuberkulosebekämpfung und Krankenversicherung, von Max Bollag
(Liestal. — Verhandlungen der diplomatischen Konferenz für internationalen Arbeiter-
schutz (Bern, 17—26. September 1906), von (alt Bundes-R.) E. Frey (Bern). — ete.
Monatschrift für christliche Sozialreform. Jahrg. 29, Januar, Februar 1907:
„Los von der Erbschaft“, von E. Feigenwinter. — Gelehrtes Proletariat, von Hans
Schorer (Freiburg, Schweiz). — Die III. deutsche Kunstgewerbeausstellung Dresden 1906
und ihre soziale Bedeutung, von H. Rodewald (München). — Ueber Arbeiterseelsorge,
Briefe an einen städtischen Vikar, VI. VII. Brief, von (Prof.) J. Beck. — Unser Geld,
von E. A. Stückelberg. — etc.
J. Belgien.
Revue Économique internationale. Année 4, Vol. I, N. 1, Janvier 1907: Traités
de commerce et conventions commerciales, par (Sénateur) J. Möline. — L’assurance
ouvrière allemande a-t-elle répondu à son attente? Par (Prof.) Frédéric Zahn. — Les
États-Unis comme puissance mondiale, par (Prof.) Archibald Cary Coolidge. — La
430 Die periodische Presse Deutschlands.
taxation des plus-values immobilières, par Marcel Rouffie. — Observations critiques sur
P&tatisme municipal, par E. Levasseur. — L’Amörique approche-t-elle d’une nouvelle
crise? Par A. Piatt Andrew. — Un trust européen du pétrole, par Leo Müffelmann
(Berlin). — L'immigration en Angleterre et la concurrence qui en résulte dans la main-
d’euvre et l’industrie nationales, par Auguste Monnier. — etc.
M. Amerika.
Annals, The, of the American Academy of Political and Social Science.
Vol. XXVIII, No. 1, July, 1906: The business professions: Book publishing, by J.
Bertram- Lippincott. — The profession of accountaney, by J. E. Sterrett. — Busines
and science, by James T. Young. — College men in business, by H. J. Hapgood. —
The life insurance profession, by L. G. Fouse. — The study of insurance in American
Universities, by S. Huebner. — Higher education for business pursuits and manv-
faeturing, by John H. Converse. — The desirability of a college education for railroad
work, by A. J. County. — Railway professional education, its objeets and limitations,
by W. M. Acworth. — Publicity and reform in business, by Henry Clews. — ete. —
No. 2, September, 1906: Woman’s work and organizations: Meaning of the woman’s
club movement, by Sarah S. Platt Decker. — Workingwomen and the laws: a record
of neglect, by Josephine C. Goldmark. — ete. — No. 3, November, 1906: Municipal
problems: Munieipal ownersbip as a form of governmental eontrol, by F. A. Cleveland.
— American municipal services from the standpoint of the entrepreneur, by Chester
Lloyd Jones. — Chicago traction: a study in political evolution, by Willard E. Hotch-
kiss. — Some social effects of a reform movement, by Franklin Spencer Edmonds. — ete.
Journal, The Quarterly, of Economics. Published for Harvard University,
Vol. XXI, No. 1, November, 1906: Capital and interest once more: I. Capital versus
capital goods, by E. Böhm-Bawerk. — The Interstate Commerce Act as amended, by
Frank Haigh Dixon. — The taxation of personal property in Pennsylvania, by Roswell
C. McCrea. — The telephone in Great Britain, by A. N. Holcombe. — Co-operation in
the apple industry in Canada, by R. H. Coats. — Seligman’s “Principles of Economics”:
a reply and a rejoinder, by E. R. A. Seligman and F. W. Taussig. —- etc.
Die periodische Presse Deutschlands.
Alkoholfrage, Die. Vierteljahrsschrift zur Erforschung der Wirkungen des Al-
kohols. Jahrg. III, 1906, Heft 4: Krankengeschichte eines Alkoholwahnsinnigen. — Der
Alkoholismus in München, von Hoppe. — Die Aerzte und unsere Trinksitten, von
Werner A. Stille. — Berichtigungen betr. Dr. Starke und sein Buch. — Weitere Unter-
suchungen der Alkoholfrage auf Grund von Fragebogen für Mäßige oder Enthaltsame,
von (Prof.) Böhmert. — Turner und Alkoholismus, von Herm, Kuhr. — Nachschrift zu
Kuhr, Turner und Alkoholismus, von (Prof.) Böhmert. — etc.
Annalen des Deutschen Reichs. Jahrg. 40, 1907, N’ 1: Studien zur Rheinschiff-
fahrtsakte, von (Prof.) Otto Mayer (Leipzig). — Japans Geld- und Bankwesen, vou
(Prof.) K. Th. v. Eheberg (Erlangen). — Die Gewinnbeteiligung der Arbeiter in Deutsch-
land, von W. Heissner (Berlin). — Ueber Lohnstatistik, von Hans Fehlinger (München).
— ete.
Arbeiterfreund, Der. Jahrg. XLIV, 1906, Vierteljahrsheft 4: Ernst Abbe in
seinen „Sozialpolitischen Schriften“, von A. Emminghaus (Gotha). — Rückblick auf
die „Ausstellung für Kindeswohl“ in Berlin, von Oscar Neve (Berlin). — Die soziale
Lage der seefahrenden Bevölkerung von (Öberleutn. a. D.) Hahn (Jena). — ete.
Archiv für Eisenbahnwesen. Herausgeg. im Könglich Preußischen Ministerium der
öffentlichen Arbeiten. Jahrg. 1907, Heft 1, Januar und Februar: Das neue Bundes-
eisenbahngesetz in den Vereinigten Staaten, von (Prof.) B. H. Meyer. — Wohliahrts-
einrichtungen der preußisch-hessischen FEisenbahngemeinschaft im Jahre 1905, von (vortr.
Rat im Ministerium d. öff. Arb.) Rüdlin. — Der Erwerb der österreichischen Kaiser
Ferdinands-Nordbahn für den Staat, von (Regierungsassessor) Wolff (Berlin). — ete.
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Der neuen Folge Bd. VI, Heft 1,
Januar 1907: Der Untergang des englischen Bauernstandes in neuer Beleuchtung, von
Die periodische Presse Deutschlands. 431
(Prof.) Wilhelm Hasbach. — Arbeiterbewegung und Arbeiterpolitik in Australasien von
1590 bis 1905, I, von Käthe Lux. — Der Entwurf eines Gesetzes betreffend gewerbliche
Berufsvereine und seine erste Lesung im Reichstage, von (Magistrats-R.) M. v. Schulz
(Berlin). — R. Stammlers „Ueberwindung‘ der materialistischen Geschichtsauffassung,
von Max Weber. — ete.
Blätter, Volkswirtschaftliche. Jahrg. VI, 1907, N" 3: Die Organisation der
Landwirtschaftskammern, von W. Wygodzinski (Bonn) und P. Wagner (Altenburg, 8.-A.).
— Fischer und Bromme, von de Corti. — Rein praktisch, von Rocke, Limburg, Pott-
hoff. — ete.
Export. Jahrg. XXIX, 1907, N'4: Handelspolitische Aufgaben des neuen Reichs-
tages, — Die Fischereiplätze der Bank von Arguin, von Gruvel. — Kinderarbeit in den
Glashütten. [Schluß.] — ete. — N" 5: Brasilien im Jahre 1906, von Carl Bolle. — Die
Fischereiplätze der Bank von Arguin, von Gruvel. [Schluß] — ete. — N’ 6. 7: Vom
Sklaven empor, von Booker Washington, von L. J. — Die Geschichte der französischen
Kolonisation in Algier, von Henri Froidevaux. [Forts. u. Sehluß.)] — Rußland und
Deutschland, von (Prof.) Otto Harnack. — ete.
Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich.
Jahrg. 31, 1907, Heft 1: Ernst Abbes Sozialpolitische Schriften, ein Beitrag zur Lehre
vom Wesen und Gewinn der modernen Großunternehmung und von der Stellung der
Arbeiter in ihr, von Gustav Schmoller. — Das Rentenprinzip in der Verteilungslehre,
I, von Joseph Schumpeter. — Organisation, Lage und Zukunft des deutschen Buch-
handels, zugleich ein Beitrag zur Kartellfrage, I, von August Koppel. — Wie kann die
Börse mehr der Allgemeinheit dienstbar gemacht werden? Von einem Praktiker. —
Organisation des amerikanischen Bankwesens, I, von A. Stubbe. — Ueber die Aktien-
form der Unternehmung, von Adolf Gottschewski. — Ulpianus als Statistiker, von Karl
Sentemann. — Bericht über die 26. Jahresversammlung des Deutschen Vereins für
Armenpflege und Wohltätigkeit, von Emil Münsterberg. — Ueber Arbeitslosenversiche-
rung und Arbeitsnachweis, I, von K. Oldenberg. — Die Aussichten der vom Verbrauch
ausgehenden Ordnung der Volkswirtschaft, von Ernst Günther. — Ethik und materia-
listische Geschichtsauffassung, von August Koppel. — ete.
Jahrbücher, Preußische. Bd. 127, Heft IT, Februar 1907: Der amerikanische
„Boss“ und seine politische Maschine, von Carl Mencke. — Die Hiberniafrage und das
Aktienrecht, von Ernst Barthel. — ete.
Industrie-Zeitung, Deutsche. Jahrg. XXVI, 1907, N’4: Die Streikpolitik der
Gewerkschaften im Lichte der Statistik, von Arnold Steinmann-Bucher. — Wirtschaft-
liche Entwicklung der Vereinigten Staaten von Amerika. — ete. — N" 5: Wirtschaft-
liche Entwicklung der Vereinigten Staaten von Amerika. [Schluß.] — Das Gewerkschafts-
Regiment in San Francisco, von O. B. — ete. — N" 6: Präsident Bödiker, von H. A.
Bueck. — Eine sozialdemokratische Verteidigung der Kartelle, von O. Ballerstedt. —
ete. — N’ 7: Ausfuhr deutscher Industrie-Erzeugnisse im Jahre 1906. — ete.
Mitteilungen des Handelsvertragsvereins. (Jahrg. 6.) 1907, N’ 3: Der neue
Reichstag und die künftige deutsche Wirtschaftspolitik. — ete. — N" 4: Amerika, von
Walther Borgius. — Agrarische Hoffnungen und Entwürfe, von Rud. Breitscheid. —
Deutschland und die englischen Kolonien, von Max Nitzsche. — ete.
Oekonomist, Der Deutsche. Jahrg. XXV, 1907, N" 1257: Die Heimlichkeit
in den Aktiengesellschaften. — ete. — N’ 1258. 1259: Reform des Aufsichtsrats der
Aktiengesellschaft. — ete. — N" 1260: Der Staat und die Monopolbildung im Berg-
bau. — ete.
Plutus. Jahr 4, 1907, Heft 4: Dr. Strousberg, von Siegbert Salter (Berlin). —
etc. — Heft 5: Die Prokura im Grundstücksverkehr, von Kurt Calmon (Berlin). —
ete. — Heft 6: Cognac, von (Patentanwalt) Georg Neumann (Berlin). — ete. — Heft 7:
Gambrinus in Nord und Süd, von (Bücherrevisor) Rud. Taeuber (Leipzig). — ete.
Rechtsschutz, Gewerblicher, und Urheberrecht. Jahrg. 12, 1907, N’ 1, Januar:
Urheberrecht und Aesthetik, von (Hof- und Gerichtsadvokat) Josef Schmidl (Wien). —
Auslegung und Ausführung der Bestimmungen der internationalen Konvention in Eng-
land in Patent- und Warenzeichenanmeldungen, von Jos. Hübers (London). — ete.
Revue, Deutsche. Jahrg. 32, 1907, Februar: Der Kaufmann und die Kolonien,
von Woldemar Schütze (Hamburg). — ete.
Revue, Politisch-Anthropologische. Jahrg. V, Nr. 11, Februar 1907: Die Anfänge
der Wissenschaft vom Menschen, von Ludwig Woltmann. — Alkoholismus und Geistes-
432 Die periodische Presse Deutschlands.
zustand, von Georg Lomer. — Zur Frage der Mutterschaftsversicherung, von W. Borgius.
— ete.
Revue, Soziale. (Essen-Ruhr.) Jahrg. VII, 1907, Quartalheft 1: Die soziale Tätig-
keit der Stadtgemeinde Essen, von T. Kellen (Essen). — Die ländliche Volkshochschule
in Deutschland, von Keller (Heimbach, Baden). — Die Massenverbreitung guter Bücher
durch volkstümliche Bibliotheken, von (Redakteur) Hermann Herz (Bonn). — Die
Rechtsfähigkeit der Berufsvereine, von Retzbach (Freiburg i. Br... — Der öffentliche
Arbeitsnachweis, von Jakob Lorenz (Rorschach). — ete.
Vierteljahrschrift für Social- und Wirtschaftsgeschichte. Bd. IV, 1906, Heft 4:
Hansische Handelsgesellschaften, vornehmlich des 14. Jahrhunderts, von F. Keutgen.
[Forts. u. Schluß.] — Francois Quesnay und die Agrarkrisis im Ancien Régime, von
Ottomar Thiele. [Forts. u. Schluß.) — Il prezzo del frumento in Ispagna, in Africa e
in Oriente durante l'età imperiale romana, di Corrado Barbagallo. — An early Bill of
Lading and Charter-party, by Robert Jowitt Whitwell. — ete.
Wirtschafts-Zeitung, Deutsche. Jahrg. III, 1907, N" 3: Das Privatvermögen
in der Bilanz des Kaufmannes, von (Prof.) J. Fr. Schär (Berlin). — Der Entwurf eines
Reichsgesetzes betreffend die Sicherung der Bauforderungen, von (Justiz-R.) Felix Kauf-
mann (Berlin). [Schluß.] -— ete.
Zeit, Die Neue. Jahrg. 25, 1907, N". 17: Mathematische Formeln gegen Karl
Marx, von L. B. Boudin (New York). [Forts.] — Zur Bevölkerungslehre, von M. Beer.
— ete. — N’ 18: Die sozialdemokratische Bewegung in Bulgarien, von Georg Bakaloff.
— Mathematische Formeln gegen Karl Marx, von L. B. Boudin (New York). [Schluß.]
— ete. — N’ 19: Friedrich Engels und die Naturwissenschaft, von Friedrich Adler. —
ete. — N" 20: Die Arbeiterpolitik der letzten Jahre in Rußland, von Paul Dange
(Moskau). — etc.
Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Kolonialwirtschaft. Herausgeg.
von der Deutschen Kolonialgesellschaft. Jahrg. IX, Heft 1, Januar 1907: Die Pro-
duktionsfähigkeit der Böden trockener Gebiete, von (Oekonomie-R.) Oetken (Oldenburg).
— Kolonialpolitik und Auswanderung, von Adolf Goetz (Hamburg). — Die großen
Epochen der neuzeitlichen Kolonialgeschichte, von (Prof.) E. von Halle. — Die Marokko-
frage, vom weltwirtschaftlichen Standpunkte aus beurteilt, von Carl Bolle. — Die pan-
islamitische Bewegung, von J. Wiese. — etc.
Zeitschrift für Sozialwissenschaft. Jahrg. X, 1907, Heft 1: Zur Lehre vom
Tarifvertrag, von (Prof.) Paul Oertmann (Erlangen). — Bevölkerungstheoretische Pro-
bleme, von Friedrich Prinzing (Ulm). — Die Stadtgemeinschaft in ihren kulturellen Be-
ziehungen, I, von (Prof.) J. Jastrow (Berlin). — Die erste Konferenz der mitteleuro-
päischen Wirtschaftsvereine, von Julius Wolf. — etc.
Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. Jahrg. 63, 1907, Heft 1: Wirt-
schaft und Verbrechen, von (Privatdoz.) Hugo Herz (Brünn). — Die Entwicklung der
oberschwäbischen Zementindustrie, von Otto Kehm (Ulm a. D.). — Die Organisation
des Medizinalwesens im früheren Herzogtum Nassau und deren moderne Fortsetzungen,
von (Regierungs-R.) Seidel (Allenstein). — Miszellen : Zur Reform der Volksversicherung,
von (Prof.) Otto v. Zwiedineck-Südenhorst (Karlsruhe). — Ernst Abbe als Sozialpolitiker,
von Georg Hahn (Jena). — Die Zukunft der deutschen Müllerei und die in Anregung
gebrachte Umsatzsteuer für Großmühlen, von (Oekonomie-R.) Hempel (Hannover). —
Zur Frage: Haushaltungsbudgets oder Wirtschaftsrechnungen? Von Karl Bücher. — ete.
Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft. Bd. VII, 1907, Heft 1:
Die Bedeutung der beiden Berliner Internationalen Kongresse für Versicherungs- Wissen-
schaft, von (Prof.) A. Emminghaus (Gotha). — Der IV. Internationale Kongreß für Versiche-
rungs-Medicin in Berlin, von (Prof.) Florschütz (Gotha). — Der versicherungsrechtliche
Interesse-Begriff, von (Landgerichts-R.) Otto Hagen (Berlin). — Die Gewinnbeteiligung
der Mitglieder größerer deutscher Feuerversicherungs-Vereine auf Gegenseitigkeit, von
(Justiz-R.) Karl Domizlaff (Hannover). — Das neue preußische Knappschaftsgesetz, von
(Amtsgerichts-R.) Julius Hahn (Berlin). — Das neue Versicherungsgesetz des Staates New
York, von (Regierungs-R.) Broecker (Berlin). — Bedenken gegen die Haftpflichtgarantie-
Versicherung, von H. Serini (Stuttgart). — ete.
Frommanusche Buchdruckerei (Hermann Pohle) in Jena.
N. Schaposchnicoff, Die Böhm-Bawerksche Kapitalzinstheorie. 433
VII.
Die Böhm-Bawerksche Kapitalzinstheorie’^).
N. Schaposchnicoff.
Die Kapitalzinstheorie gehört zu den verwirrtesten ökonomischen
Problemen, denn obwohl diese Frage vor vielen anderen Wirtschafts-
problemen die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, herrscht hier
auch heutzutage noch große Meinungsverschiedenheit 2), zumal selbst
der Begriff des Kapitals bisher durchaus keine allgemein anerkannte
Definition erhalten hat.
Der geringe Erfolg der ökonomischen Wissenschaft betreffs
dieser Fragen hängt übrigens nicht so sehr von ihrer eigenen Kom-
pliziertheit ab, als von der Tatsache, daß mit dieser oder jener Lösung
der Frage zugleich auch sehr brennende soziale Interessen verbunden
sind. Die meisten Zinstheoretiker besitzen eben kein ausreichend
1) Die vorliegende Abhandlung war lange abgeschlossen und befand sich beim
Uebersetzer, als ich auf die Arbeit Bortkewiecz’ über den gleichen Gegenstand
(Schmollers Jahrbuch, Jahrg. XXX, 1906) aufmerksam gemacht wurde. Bortke-
wiecz gelangt zu dem Ergebnis, daß die Böhm-Bawerksche Theorie nur eine Variante
der Produktivitätstheorie darstellt. Meiner Ansicht nach beruht diese Auffassung auf
einem Irrtum, denn Böhm-Bawerk nimmt einen diesem diametral entgegengesetzten
Standpunkt ein, und gerade darin besteht vielleicht sein größtes Verdienst. Für ihn
ist das Zinsproblem im letzten Grunde ein Wertproblem und nicht ein Produktions-
problem. Er führt alles auf die Untersuchung der Gesetze des Arbeitswertes zurück.
Wollten wir Böhm-Bawerk zu den Produktivitätstheoretikern rechnen, so müßten wir
diesen auch Marx und Rodbertus hinzuzählen. Denn alle diese Forscher vertreten den
Standpunkt: die Entstehung des Zinses wird durch die Tatsache bedingt, daß der Ar-
beiter nicht den vollen Ertrag seiner Arbeit empfange.
Den interessantesten Teil der Arbeit Bortkewiecz’ bildet die Kritik des dritten
Grundes, mit deren Hilfe Böhm-Bawerk die höhere Bewertung der gegenwärtigen Güter
erklärt. Dieser dritte Grund wird von Bortkewieez auf ersten reduziert und hat seiner
Ansicht nach keinen selbständigen Wert. Ich stimme darin mit Bortkewieez ganz überein,
gehe aber insofern weiter, als ich noch den Nachweis zu liefern versucht habe, daß er
überhaupt unrichtig ist.
2) „Und so weist der heutige Stand der Theorie des Kapitalzinses eine bunte
Musterkarte der verschiedenartigen Meinungen auf, von denen keine zu siegen im stande
und keine sich für besiegt zu geben willens ist, deren Vielzahl allein aber dem Un-
parteiischen anzeigt, welche Masse Irrtums notwendig in ihnen walten muß“. Vergl.
Böhm-Bawerk, Kapital und Kapitalzins, 2. Aufl., Bd. 1, S. 6.
Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVII) 28
434 N. Schaposchnicoftf,
ruhiges wissenschaftlich-unparteiisches Urteil, was sie unwillkürlich
zur Anpassung ihrer Theorien an ihre sozialpolitischen Ideale zwingt.
Sie haben daher in erster Linie die Rechtfertigung oder Ver-
urteilung des Zinses im Auge, nicht aber die Klarlegung seines
Wesens und seiner Ursachen.
Alle Zinstheorien können dementsprechend in zwei große Gruppen
eingeteilt werden: die den Zins verurteilenden und die ihn recht-
fertigenden Theorien. Die Anhänger der ersten Auffassung bemühen
sich zu beweisen, daß der Kapitalzins durch die heutigen Produk-
tionsverhältnisse bedingt ist und daß der Kapitalzins daher nur eine
historische Kategorie bildet. Die Theorien der zweiten Gruppe
vertreten entgegengesetzte Ansicht. Sie behaupten, daß der Kapital-
zins keine historische, sondern eine ökonomische Kategorie sei und
nicht durch die besonderen sozialen Verhältnisse des heutigen Wirt-
schaftssystems bedingt, sondern durch die Grundgesetze der wirt-
schaftlichen Tätigkeit, d. h. mit anderen Worten mit der Abschaffung
der kapitalistischen Produktionsweise wird der Kapitalzins keines-
wegs verschwinden.
Einer der angesehensten Vertreter der letzteren Richtung ist
der österreichische Gelehrte Prof. Böhm-Bawerk, der schon im Jahre
1888 den zweiten Band seiner Untersuchungen herausgab, in welchen
seine Kapitalzinstheorie entwickelt wird. Wir wollen im nachstehen-
den zunächst die Darstellung und im Anschluß daran eine Kritik
dieser Theorie zu geben versuchen.
Vor allem, was ist Kapitalzins? Die heutigen sozialen Verhält-
nisse ermöglichen jedem, der ein Vermögen besitzt, die Erlangung
eines bestimmten Einkommens. Um dies zu erreichen, braucht er
sein Vermögen nur nicht müßig liegen zu lassen, sei es indem er
es einem anderen gegen einen bestimmten Entgelt überläßt, sei es
daß er es selber zu produktiven Zwecken verwendet. In beiden
Fällen wird ihm sein Vermögen nach Verlauf einer bestimmten Zeit-
periode ein gewisses Einkommen einbringen; im ersten Falle erhält
dieses Einkommen den Namen Leihzins, im zweiten, d. h. wenn es
durch die produktive Verwendung des Vermögens erlangt wird,
nennt man es Kapitalzins. Wir wollen hier zunächst den Leihzins
beiseite lassen und nur die mit dem Kapitalzins im Zusammenhang
stehenden Probleme erörtern.
Bei normaler Sachlage erlangt jeder Unternehmer beim Verkauf
seiner Ware mehr, als die Herstellung ihm gekostet hat. Dieser
Ueberschuß der Einnahmen über die Produktionskosten bildet den
Kapitalzins. Welche Erscheinungen bedingen nun dieses Phänomen’
Während eine Anzahl von Nationalökonomen die Ansicht vertritt,
daß dieser Gewinn seinen Ursprung der Produktivität des Kapitals
zu verdanken hat und nichts anderes als den Lohn für die
Dienste des Kapitals darstellt, behaupten andere, daß er die Ver-
gütung für persönliche Mitwirkung des Unternehmers am Pro-
duktionsprozeß (für Geschäftsleitung oder auch dafür, daß er sem
Vermögen nicht verschwendet hat etc. etc.) bildet. Andere endlich
Die Böhm-Bawerksche Kapitalzinstheorie. 435
betrachten ihn als Ergebnis des billigen Einkaufs der Produktions-
mittel seitens des Unternehmers. Zu dieser letzteren Gruppe ge-
hören vor allem die Vertreter des wissenschaftlichen Sozialismus.
Hierher, wie seltsam es auch klingen mag, gehört auch der eifrigste
Gegner dieser Schule — Böhm-Bawerk.
. Er weist nämlich wiederholt darauf hin, der Unternehmer beziehe
seinen Kapitalgewinn deshalb, weil er seine Produktivmittel billig ein-
kauft. Wie die Grundbesitzer für die Bodennutzungen, so erhalten auch
die Arbeiter von den Kapitalisten für ihre Arbeit nicht das ganze
Produkt ausbezahlt, das mit ihrer Hilfe geschaffen wurde, sondern
nur einen Teil desselben. Die Sozialisten, sagt Böhm-Bawerk '),
erklären mit Recht den billigen Einkauf von Produktivmitteln für
die Quelle des Kapitalgewinnes. Unrecht haben sie nur insofern,
als sie ihn für die Frucht einer Ausbeutung der Arbeiter durch die
Besitzenden betrachten. Die Unternehmer kaufen die Arbeit um
ihren vollen Wert, nur ist der Wert der Arbeit dem Werte des
Produktes dieser Arbeit nicht gleich. Dies ist die Folge der Ein-
wirkung des Zeitmomentes auf den Wert. Um eine richtige Quelle
des Kapitalzinses zu finden, muß man den Einfluß der Zeit auf den
Wert der Güter analysieren. „Das Zinsproblem ist im letzten Grunde
ein Wertproblem“ 2).
Die Gesamtheit der wirtschaftlichen Güter, sagt Böhm-Bawerk,
muß in zwei große Gruppen zerlegt werden, je nachdem sie der
Befriedigung gegenwärtiger oder künftiger Bedürfnisse dienen. Die
Güter der ersten Art werden von ihm als gegenwärtige, die der
zweiten als künftige Güter betrachtet. So z. B. 100 Rbl. in meiner
Tasche haben den Charakter eines gegenwärtigen Gutes, während
100 Rbl., die ich erst in einem Jahre erhalte, ein künftiges Gut dar-
stellen. Alle Produktionsgüter (die sogenannten Produktivmittel)
müssen auch zur Kategorie der künftigen Güter gerechnet werden,
weil sie erst nach dem Schlusse des Produktionsprozesses, d. h. nach
Verlauf einer bestimmten Frist, zu Genußgütern werden °).
Nach Feststellung dieser Klassifikation kommt Böhm-Bawerk
zur Analyse der Quellen des Kapitalzinses. Der Prozeß, welchem
der Kapitalzins seine Entstehung verdankt, ist nach ihm der Tausch
gegenwärtiger gegen künftige Güter. Wenn ein Wucherer 100 Rbl.
ausleiht, gibt er seinem Schuldner ein gegenwärtiges Gut, weil man
dieses Geld sofort utilisieren kann, und erhält statt dessen ein Recht,
diese 100 Rbl. in einem Jahre zu verlangen, d. h. ein Recht auf ein
künftiges Gut. Bei Anstellung eines Arbeiters gibt ihm der Unter-
nehmer in der Form des Arbeitslohnes ebenfalls ein gegenwärtiges
1) Bd. 2, S. 317.
2) Bd. 1, S. 604.
3) Bd. 2, S. 315. Uebrigens hält Böhm-Bawerk an dieser Klassifikation nur be-
treffs der Arbeit und des Grund und Bodens fest. Die Rohstoffe und Maschinen zählt
er dagegen manchmal zu den Gegenwartsgütern. „Angebot an Gegenwartsware wird
durch jeweiligen Vermögensstock der Volkswirtschaft repräsentiert“ (Bd. 2, S. 404, 409).
Vergl. auch das Kapitel „Allgemeiner Subsistenzmittelmarkt“., Mi
28
436 N. Schaposchnicoftf,
Gut, das der Arbeiter zur Befriedigung seiner sofortigen Bedürf-
nisse verwenden kann, und erhält statt dessen die Arbeit, welche
erst nach Verlauf einer bestimmten Frist die Gestalt des Produktes
annimmt und zum gegenwärtigen Gute wird.
Mit dem Umtausch der gegenwärtigen Güter gegen die künf-
tigen beginnt also der wirtschaftliche Prozeß, welchem der Kapital-
zins seine Entstehung verdankt, wobei dieser Umsatz nach Böhn-
Bawerk nicht nur als das erste Stadium der Bildung des Kapital-
gewinnes, sondern auch als das wesentlich ihn bestimmende Moment
erscheint. Auf Grund einer ganzen Reihe von Umständen, die wir
später kennen lernen werden, übt der Zeitmoment einen großen
Einfluß auf den Wert der Güter aus. Und zwar: ein Gut, über
welches wir erst nach Verlauf einer bestimmten Zeit verfügen können
und welches folglich erst in Zukunft unsere Bedürfnisse befriedigen
kann (ein künftiges Gut) wird schon kraft dieses Umstandes allein
in unseren Augen einen geringeren Wert haben, als ein Gut, das
schon im gegebenen Augenblick diese Fähigkeit besitzt (ein gegen-
wärtiges Gut). Der Wert eines künftigen Gutes wird also in der
Regel geringer sein, als der Wert eines gegenwärtigen Gutes. Im
Verlaufe der Zeit wird sich aber das künftige Gut allmählich in
ein gegenwärtiges verwandeln, d. h. im Werte steigen, bis es end-
lich den vollen Wert des gegenwärtigen Gutes erhält. Dieser Wert-
zuwachs bildet den Kapitalzins?). Erläutern wir das Gesagte durch
irgend ein Beispiel. Angenommen, ich habe 1000 Rbl. und will sie
auf ein Jahr ausleihen; mit anderen Worten, wird hier ein gegen-
wärtiges Gut (das Geld, das ich bereits besitze) gegen ein künftiges
(die Geldsumme, die ich erst in einem Jahre zu erhalten hoffe) ver-
tauscht. Da ich aber keineswegs den Wunsch hege, meinem Schuld-
ner Wohltaten zukommen zu lassen oder ihn auszubeuten, so muß ich
verlangen, daß er mir statt meiner 1000 Rbl. etwas Gleichwertiges
zurückgibt. Was wird aber in diesem Fall ein Aequivalent sein?
Wird das die der ausgeliehenen gleichgroße Geldsumme sein? Keines-
wegs, sagt Böhm-Bawerk. Die fraglichen 1000 Rbl. sind für mich
nicht 1000 Rbl., sondern, sagen wir, 1050 Rbl. in einem Jahre gleich.
Ich werde daher von meinem Schuldner verlangen müssen, daß er
mir 1050 Rbl. zurückzahle. Dies wird keinesfalls eine Ausbeutung
meines Schuldners sein, da auch für ihn der Wert der 1000 Rbl.
die er sofort erhält, dem Werte von 1050 oder sogar von noch mehr
im nächsten Jahre gleich ist. Dieses Mehr von 50 Rbl. wird nun
meinen Kapitalzins bilden.
Der Kapitalzins ist demnach die Wertdifferenz zwischen gegen-
wärtigen und künftigen Gütern. Und er wird so lange existieren,
als diese Wertdifferenz fortdauert. Der Kapitalzins ist somit nicht
eine historische, sondern eine ökonomische Kategorie, welche in den
Grundeigenschaften der menschlichen Seele wurzelt. Da man sich
aber keine Menschen vorstellen kann, für die es gänzlich gleich-
1) Bd. 2, 8. 319.
Die Böhm-Bawerksche Kapitalzinstheorie. 437
gültig wäre, ob sie irgend einen Gegenstand sofort oder erst in
10 Jahren erhalten, d. h. Menschen, die mit dem Zeitmoment nicht
zu rechnen haben, so kann man sich auch keine gesellschaftliche
Organisation vorstellen, in welcher diese Art der Kapitalrente fehlen
würde. Die sozialistischen Schriftsteller, sagt Böhm-Bawerk, be-
finden sich im Irrtum, wenn sie in ihren Träumen vom Zukunfts-
staat dieser Art der Kapitalrente die Existenzberechtigung abstreiten.
„Die Kapitalrente, welche heute die Sozialisten als einen Ausbeu-
tungsgewinn, als einen Raub am Arbeitsprodukte schmähen, würde
auch im Sozialistenstaate nicht verschwinden“. „Sogar in der ein-
samen Wirtschaft eines Robinson könnte der Grundzug des Zins-
phänomens, das Wertschwellen der für den Dienst der Zukunft vor-
bereiteten Güter und Nutzleistungen nicht fehlen“ 1). Die Böhm-
Bawerksche Theorie liefert demnach zugleich gute Waffen gegen die
Kritiker der heutigen Wirtschaftsordnung, indem sie die Kapitalrente
als in den Grundgesetzen der menschlichen Tätigkeit, in der Tatsache,
daß der Mensch mit der Zeit zu rechnen hat, wurzelnd darstellt.
Aehnliche Berufungen auf die Grundgesetze der menschlichen Natur
behufs Rechtfertigung der zur Zeit herrschenden Grundsätze der
Güterverteilung findet man übrigens auch bei anderen Schriftstellern.
Hierher gehören z. B. das bekannte Malthussche Gesetz und die be-
rühmte Lohnfondstheorie. Als die Arbeiter auf kollektivem Wege
die Erhöhung des Arbeitslohnes anstrebten, suchten die Lohnfonds-
theoretiker durch allerlei Hinweise sie davon abzuhalten. „Es nützt
nichts, so sagte man den Arbeitern, gegen eine der vier grund-
legenden arithmetischen Regeln anzustreiten. Die Lohnfrage ist eine
Divisionsaufgabe“ ?).
Neuerdings hat die Lohnfondstheorie ihr Prestige eingebüßt. Die
Kapitalzinstheorien, welche die Quelle dieses Phänomens in den
natürlichen, allen Epochen der wirtschaftlichen Entwickelung gemein-
samen Bedingungen sehen, genießen demgegenüber auch jetzt noch
großes Ansehen. Wir wollen nunmehr zur Kritik der Böhm-Bawerk-
schen Theorie, hauptsächlich von diesem Gesichtspunkte aus über-
gehen, wobei unsere Hauptaufgabe sein wird zu beweisen, daß die
Zuziehung des Zeitmomentes zur Erklärung des Wesens des Kapital-
zinses auf einer irrtümlicher Auffassung der Verhältnisse der mo-
dernen Wirtschaft basiert ist. Die Quelle des-Kapitalzinses nämlich
liegt keineswegs dort, wo sie von Böhm-Bawerk gesucht wird. Man
muß sie eben nicht in natürlichen, sondern in historischen Bedin-
gungen der modernen Wirtschaft suchen.
Wie oben bereits hervorgehoben, ist der Kapitalzins, nach Böhm-
1) Bd. 2, S. 396.
2) Perry, Elements of pol. econ., S. 123 zitiert bei Webb Theorie und Praxis,
Bd. 2, S. 139. Sotoff, „Einigungsämter und Schiedsgerichte“ (russisch), S. 306, zitiert
einen Fall, in welchem ein bekannter Schiedsrichter, sich hauptsächlich auf die Lobn-
fondstheorie stützend, ein Urteil füllte, das die Herabsetzung des Arbeitslohnes der Berg-
leute verfügte. Die Arbeiter haben gegen dieses Urteil nicht protestiert. Ein inter-
essantes Beispiel für die Beeinflussung der Praxis durch die Theorie.
438 N. Schaposchnicoff,
Bawerk, das Ergebnis des Umsatzes gegenwärtiger gegen künftige
Güter. Indem der Unternehmer Werkzeuge, Rohstoffe und Arbeits-
leistungen einkauft, kauft er eben künftige Güter, die von ihm auf
Grund des allgemeinen Wertgesetzes nicht nach dem Werte bezahlt
werden, den sie haben werden, wenn sie zu gegenwärtigen Gütern
geworden sind, sondern mit einem geringeren Preis. Nehmen wir
an, eine Arbeitergruppe habe ein Produkt im Werte von 1000 Rbl.
hergestellt. Der Unternehmer, welcher die Arbeit dieser Arbeiter
kauft, wird ihnen nicht 1000 Rbl., sondern weniger bezahlen, je
nach der Dauer des Produktionsprozesses. Um dabei ins klare
über die Quelle des Kapitalzinses zu kommen, muß man die Größe
der Produktionskosten, die der Unternehmer zu tragen hat, kennen.
Da diese Produktionskosten aber zu allerletzt doch nichts anderes
sind, als das Aequivalent für die Ausgaben zum Einkauf der Arbeit
und zur Vergütung für die Bodennutzung, so bedarf es hier einiger
Hinweise hinsichtlich der Preisbildung dieser Faktoren oder richtiger
des wichtigeren Faktors — der Arbeit!). Läßt man also den weniger
wichtigen Faktor (den Boden) außer Betracht, so wird der Kapital-
zins durch den Preis der Arbeit, d. h. durch den Arbeitslohn, be-
stimmt. Was bestimmt aber den Arbeitspreis und warum erhält der
Arbeiter nicht den vollen Wert seines Arbeitsproduktes? Zur Er-
klärung dieses Phänomens bedient sich Böhm-Bawerk seiner Wert-
theorie, indem er behauptet, daß der Preis der Arbeit, wie der’Preis
jeder anderen Ware, eine Resultante der subjektiven Wertschätzungen
darstellt, und daß die Kollision der subjektiven Wertschätzungen
von seiten der Käufer und Verkäufer es eben herbeiführt, daß der
Arbeiter nicht das ganze Produkt seiner Arbeit, sondern nur einen
Teil desselben erhält.
Die Wertschätzung eines Gutes, das zum Tausche bestimmt ist,
hängt aber — wie darauf von Böhm-Bawerk in seiner Werttheorie
hingewiesen wird — von zwei Momenten ab: von dem subjektiven
Werte des Gutes, das man hingibt, und von dem subjektiven Werte
des Gutes, das man beim Tausche erhält. Wir haben uns daher
vor allem der Analyse des Phänomens der subjektiven Wertschätz-
ungen zuzuwenden.
Wir beginnen mit dem Arbeiter. Die Arbeit, worauf Böhm-Bawerk
vielfach hinweist, hat keinen unmittelbaren Wert; ihr Wert, wie der
Wert aller Produktivgüter, wird durch den Wert der Güter be-
stimmt, die man vermittelst dieser Arbeit herstellen kann. In der
modernen Volkswirtschaft ist aber der Arbeiter nicht imstande, seine
Arbeit selbständig in der Produktion zu verwenden, und kann sie
nur auf Umwege durch Abtretung an den Kapitalisten ausnützen.
1) Nach Böhm-Bawerk (Bd. 2, S. 329 ff. u. 358) kann der Kapitalzins entweder
durch den billigen Einkauf der Arbeitsleistung oder durch den billigen Einkauf der Nutz-
leistungen des Grund und Bodens entstehen. In meiner Kritik der Böhm-Bawerkschen
Theorie werde ich mich nur mit dem ersten Fall beschäftigen, zumal dieser, wie Böhm-
Bawerk selbst zugibt, die Hauptrolle spielt.
Die Böhm-Bawerksche Kapitalzinstheorie. 439
Die Arbeit hat für ihn also keinen subjektiven Wert!). Um die von
ihm benötigten Genußgüter zu erlangen, wird er daher in der Regel
ein beliebiges Quantum der Arbeit hergeben wollen. Denn die
subjektive Wertschätzung der Arbeitsleistung von seiten des Arbei-
ters ist unendlich klein, die subjektive Wertschätzung der Genußgüter
dagegen, die er vom Unternehmer im natura oder im Geldform er-
hält — unendlich groß. Die subjektive Wertschätzung seiner Leistung
durch den Arbeiter kann den Lohn nicht bestimmen, weil diese Wert-
schätzung keine bestimmte Größe hat. Daß auch Böhm-Bawerk
diese Ansicht vertritt, läßt sich aus folgenden Ausführungen auf
S. 409 ersehen: „Die Arbeiter brauchen gegenwärtige Güter dringend
und können mit ihrer Arbeit auf eigene Rechnung nichts oder fast
nichts anfangen, sie werden also bis zum letzten Mann ihre Arbeit
lieber billig, als gar nicht verkaufen.“ Kann aber der Arbeiter mit
seiner Arbeitskraft nichts anfangen, so wird diese für ihn auch
keinen subjektiven Wert haben. Man muß also aus den preisbe-
stimmenden Momenten die subjektive Wertschätzung der Arbeit
seitens der Arbeiter ausschließen. Der Ausschluß der subjektiven
Wertschätzungen der Arbeiter untergräbt allerdings nicht den Grund-
satz Böhm-Bawerks. als ob der Preis der Arbeit die Resultante der
subjektiven Wertschätzungen ist, indem gleich dem Preise mancher
anderer Waren auch der Preis der Arbeit sich ausschließlich in
Abhängigkeit von den subjektiven Wertschätzungen der Käufer be-
wegen kann. In letzterer Hinsicht behauptet nun Böhm-Bawerk, die
Kapitalisten müssen der Arbeit (als einem künftigen Gut) eine min-
derwertige Abschätzung angedeihen lassen. Wenn z. B. ein Unter-
nehmer die Arbeit von 100 Arbeitern kauft, die ein Produkt im
Werte von 1000 Rubel herstellen, wird er, kraft rein psychologischer
Motive wegen des Einflusses des Zeitmomentes auf die Wertbildung,
diese Arbeit nicht mit 1000 Rubel, sondern mit einer geringeren
Summe bewerten. Würde es uns also gelingen, die Unrichtigkeit
dieser Behauptung zu beweisen, so würde damit auch der Zusam-
menbruch der ganzen Theorie Böhm-Bawerks besiegelt sein, welche
den Kapitalzins auf der Preisdifferenz zwischen gegenwärtigen und
künftigen Gütern aufbaut. Wir müssen daher die Beweisführung
Böhm-Bawerks prüfen, der zufolge die gegenwärtigen Güter von
den Menschen höher als die künftigen geschätzt werden. Im ganzen
kommen dabei folgende drei Beweisgründe in Betracht):
1) In der modernen Volkswirtschaft hat die Arbeit für den Arbeiter bloß den
subjektiven Tauschwert; er bewertet sie nur als ein Mittel, ein bestimmtes Quantum
von Genußgütern zu erlangen, indem er sie dem Kapitalisten verkauft. Ich lasse hier
die Frage hinsichtlich des Einflusses der „Arbeitsplage“ unberücksichtigt, weil Böhm-
Bawerk sich zu diesem Moment der Wertbildung negativ verhält (Zeitschrift für Volks-
wirtschaft, Bd. 3, 1894, S. 201—209), wie denn überhaupt die österreichische Schule,
im Gegensatz zu der neueren englischen und amerikanischen Nationalökonomie, diesem
Phänomen keine große Bedeutung beimißt. Vergl. u. a. Wieser, „Ueber den Ursprung“
ete., 8. 106—107, 110. „Der natürliche Wert“, S. 188 ff.; Zuckerkandl, „Zur Theorie
des Preises“, S. 319 ff.
2) Bd. 2, S. 262—286.
440 N. Schaposchnicoff,
1) Die gegenwärtigen Güter besitzen im Vergleich zu den künf-
tigen einen höheren Wert, weil die meisten Menschen eine Besserung
ihrer materiellen Lage erhoffen. Für einen angehenden Rechtsan-
walt haben z. B. 1000 Rubel in der Gegenwart einen viel größeren
Wert als dieselben 1000 Rubel nach fünf Jahren, weil er dann
schon auf ein beträchtliches Einkommen zurückblicken kann; das-
selbe gilt für Aerzte u. s. w.
2) Die zweite Erwägung besagt, daß die zukünftigen Bedürf-
nisse, schon deshalb weil sie künftig sind, eine geringere Intensität
besitzen und infolge dessen wird auch den Mitteln zu ihrer Befrie-
digung ein geringerer Wert beigemessen.
Um den dritten Beweisgrund Böhm-Bawerks klarzustellen !),
muß man des näheren auf die Analyse des Produktionsprozesses ein-
gehen, die Böhm-Bawerk im ersten Buche des zweiten Bandes gibt.
Die Produktion, sagt hier Böhm-Bawerk, ist um so erfolgreicher,
je länger der Produktionsprozeß dauert. Der Fischfang, der mit
Händen vollzogen wird, stellt den kürzesten, zugleich aber auch den
am wenigsten ergiebigen Arbeitsprozeß dar; werden wir dagegen
eine bestimmte Zeit zur Anfertigung der Fischangel verwenden, um
den Fischfang nicht mehr mit Händen, sondern mit der Angel zu
betreiben, so werden wir auch mehr Fische fangen; der Arbeitspro-
zeß wird dabei aber länger dauern. Würden wir endlich eine ge-
wisse Zeit der Anfertigung von Booten, Netzen u. d. m. widmen,
so wird der Fang selbstverständlich noch reicher ausfallen. Jede
Verlängerung der Produktionsperiode wird also von einer Zunahme
der Produktivität begleitet, welch letztere aber, wie er im Anschluß
daran hinzufügt, eine abnehmende Tendenz aufweist ?). Die Richtig-
keit letzterer Behauptung kann allerdings bestritten werden, zumal
man eine Reihe von Beispielen anführen könnte, in denen die Zu-
nahme der Produktivität nicht durch Verlängerung, sondern gerade
durch Verkürzung der:Produktionsperioden hervorgerufen wurde’).
Nach diesen Vorbemerkungen können wir ohne weiteres zur
Analyse des dritten Grundes Böhm-Bawerks übergehen. Angenom-
men, sagt er, wir verfügen über irgend welche drei Produktiv-
güter, z. B. über einen Arbeitsmonat einer bestimmten Anzahl von
1) Böhm-Bawerk mißt diesem Beweise eine sehr große Bedeutung bei, denn er
ermöglicht ihm die sogen. Produktivität des Kapitals auf den ihr gebührenden Platz
zu stellen. Böhm-Bawerk sieht darin übrigens auch den wesentlichen Unterschied
zwischen seiner Theorie und der von Rae, die viele Berührungspunkte mit der Auf-
fassung Böhm-Bawerks hat, Bd. 1, S. 401—407.
2) Die Ansichten Böhm-Bawerks über den Charakter der kapitalistischen Produk-
tion haben viel Gemeinsames mit dem bekannten Thünenschen Gesetz, allerdings mit
dem Unterschiede, daß Böhm-Bawerk die Ursache der abnehmenden Produktivität nicht
in der Zunahme des Kapitals, sondern in der Verlängerung des Produktionsprozesses
sieht.
3) Die Ansichten Böhm-Bawerks über den Charakter der kapitalistischen Produk-
tion werden treffend kritisiert von Lexis in seiner Besprechung des Buches von Knut
Wieksell (Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, Bd. 19, S. 332
—337). Vergl. ferner Gobson, „Die Evolution des modernen Kapitalismus“ (russisch),
S. 196,
Die Böhm-Bawerksche Kapitalzinstheorie. 441
Arbeitern im Jahre 1888, dann über einen Arbeitsmonat im Jahre
1859 und endlich über einen im Jahre 1890!) Wie werden wir
diese drei Produktivgüter bewerten? Werden wir sie als gleich-
wertig betrachten? Im allgemeinen haben die Produktivmittel
keinen selbständigen Wert, sondern erhalten einen solchen vom
Werte des mit ihrer Hilfe hergestellten Produktes. Wir müssen
daher den Wert eines Arbeitsmonats nach dem Werte der vermittelst
dieser Arbeit hergestellten Produktes bemessen. Ein Arbeitsmonat
wird aber ein verschiedenes Quantum von Produkten ergeben, je
nachdem er in diesem und jenem Produktionsprozeß zur Verwen-
dung gelangt. In einem einjährigen Produktionsprozeß wird er 100
Produkteinheiten liefern, in einem zweijährigen 200 u. s. w.
Tabelle I.
Ein Arbeitsmonat aus dem Jahre
1888 1889 1890
„© 1888 100 — — a
#2 1889 200 100 — 38
e © 1890 280 200 100 3
= S 1891 350 280 200 .&
23 1892 400 350 280 $
2g 1893 440 400 350 3
Sg 1894 470 440 400 È
m 2 1895 500 470 440o =
Diese Tabelle zeigt, daß jedes unserer Produktivgüter, je nach
der Dauer der Produktionsperiode, verschiedene Resultate liefert.
Wie wird dann der Wert dieser Produktivgüter bemessen ?
Ist irgend ein Gut, lautet in dieser Hinsicht die Grenznutzen-
theorie, zu verschiedenen einander ausschließenden Verwendungsarten
brauchbar, so wird für die Wertfeststellung des Gutes diejenige
Verwendung entscheidend sein, welche die höchste Wertsumme er-
gibt?). Wir müssen uns daher etwas eingehender mit der Analyse
der Werthöhe des Produktes unserer Produktion beschäftigen, welches
en von Böhm-Bawerk durch nachstehende Tabelle klargelegt
wird.
Tabelle II.
Ein Arbeitsmonat aus dem Jahre
1888 1889 1890
o 1888 500 — -- Pn
õa 1889 800 400 = $
E E 2 1890 924 660 300 ®
232 1891 875 700 soo =
288 189 880 770 616 3
= 1893 924 840 7355 2
= 1894 940 880 800 F
1895 750 705 660
1) Ich möchte hier noch hervorheben, daß Böhm-Bawerk den Satz hinsichtlich
der Mehrwertung gegenwärtiger Güter gegenüber den künftigen ausschließlich vermittelst
der Beispiele mit künftigen Gütern (Arbeit) beweist.
2) Bd. 2, 8. 172 ff.
442 N. Schaposchnicoff,
Ein Arbeitsmonat aus dem Jahre 1888 bietet also nicht nur die
Möglichkeit zu einer bestimmten Zeit (z. B. im Jahre 1894) eine
größere Produktenmenge zu erhalten, sondern auch der maximale
Wert des mit seiner Hilfe geschaffenen Produktes wird dem maxi-
malen Werte des mit Hilfe des 1889er Arbeitsmonats hergestellten
Produktes überlegen sein. Daher wird auch der Wert des Arbeits-
monats der gegenwärtigen Arbeit höher als der Wert der künftigen
Arbeit sein. Und in der Tat, wie dies aus der Tabelle II folgt,
sind die Wertsummen des Arbeitsmonats aus den Jahren 1888, 1889
und 1890 940, 880 und 800 Werteinheiten gleich. Je später also
das produktive Gut zu unserer Verfügung gelangen wird, desto ge-
ringer wird auch sein Wert sein. Damit meint Böhm-Bawerk einen
weiteren Beweis zu Gunsten seines Prinzips betreffend den Einfluß
der Zeit auf den Güterwert gesichert zu haben.
Obwohl auf dieser Beweisführung die ganze Kapitalzinstheorie
Böhm-Bawerks ruht, hat die Kritik ihr bisher relativ wenig Auf-
merksamkeit gewidmet. Letzteres erscheint um so auffallender, als
die Argumentation Böhm-Bawerks nicht nur widerspruchsvoll, son-
dern auch direkt falsch ist und daher mit Naturnotwendigkeit zu
unrichtigen Schlußfolgerungen führen muß. Sehen wir uns z. B. nur
etwas näher die Zusammensetzung der Tabelle II an. Hier werden
uns die verschiedenen Produktenwerte vorgeführt, die vermittelst
eines bestimmten Produktivgutes hergestellt sind. Der Wert irgend
einer Produktenmenge wird bestimmt durch den Wert der Produkt-
einheit, multipliziert mit der Stückzahl der Güter. Wir müssen da-
her zunächst den Wert der Produkteinheit bestimmen, der jeder
Produktionsperiode in der zweiten Tabelle entspricht. Zu diesem
Zwecke muß man die in der zweiten Tabelle angeführten Wert-
größen durch die entsprechenden Wertgrößen der ersten Tabelle
dividieren, woraus sich folgende Tabelle ergibt.
Tabelle III.
ee Ein Arbeitsmonat aus dem Jahre
der Produk- 1888 1889 . 1890
Hion Der Wert der Produkteinheit
1888 5 aa o
1889 4 4 ES
1890 3,3 3,3 3,3
1891 2,5 25 35
1892 2,2 2,2 2.2
1893 2,1 2,1 2,1
1894 2 2 2
1895 1,5 1,5 1,5
Die Analyse dieser Tabelle zeigt, daß der Wert der Produkt-
einheit bezw. der Grenznutzen sich bloß in vertikaler Richtung ver-
ändert; in horizontaler dagegen bleibt er unverändert, obwohl die
Produktmasse (vgl. Tab. I) sich in beiden Richtungen verändert.
Während z. B. im Jahre 1894 470, 440, 400 Produkteinheiten her-
gestellt werden können, bleibt der Wert (der Grenznutzen) der
Die Böhm-Bawerksche Kapitalzinstheorie. 443
Produkteinheit in allen drei Fällen einer und derselben Größe 2
gleich. Andererseits ungeachtet der Tatsache, daß die der Schätzung
unterliegenden Gütermengen gleich groß sind, ist der Grenznutzen
der Produkteinheit verschieden. So ist z. B. der Grenznutzen von
100 Produkteinheiten in der ersten Rubrik gleich 5, der zweiten 4,
der dritten 3,3. Mit anderen Worten: der Produktenzuwachs übt
nur dann einen Einfluß auf den Grenznutzen aus, wenn dieser Zu-
wachs von längeren Produktionsumwegen begleitet wird.
Zieht man all das in Betracht, so muß man zum Schluß ge-
langen, daß die Höhe des Grenznutzens in den Böhm-Bawerkschen
Tabellen !) scheinbar in keinem Zusammenhange mit der Menge des
hergestellten Produktes steht. Die Veränderung des Grenznutzens,
sein allmähliches Sinken in der vertikalen Richtung (vgl. die Tab.)
wird denn auch tatsächlich, wie Böhm-Bawerk auf S. 281 behauptet,
durch den Zeitmoment bedingt. Der Wohlstand der Menschen steigt,
die Gestaltung der Versorgungsverhältnisse verbesserte sich mit der
Zeit und infolgedessen sinkt der Grenznutzen der Produkteinheit ?).
Wir sind damit also zum ersten Grundprinzip Böhm-Bawerks
zurückgekommen. Ohne die Tatsache näher zu untersuchen, ob man
die Lage des angehenden Arztes oder Rechtsanwalts als eine all-
gemein gültige Regel betrachten darf, will ich mich hier nur damit
begnügen, zu untersuchen, ob man sich der Böhm-Bawerkschen
Tabellen in der von ihm beliebten Weise bedienen darf.
Die Erwägungen, die Böhm-Bawerk zur Aufstellung des mit der
Zeit sinkenden Grenznutzens veranlaßten, lassen sich folgendermaßen
zergliedern :
Der Grenznutzen der Produkteinheit hängt von den Versorgungs-
verhältnissen ab.
Der Grenznutzen der Produkteinheit hängt von dem Verhältnis
zwischen Bedarf und Deckung ab.
Die Versorgungsverhältnisse hängen von der Ergiebigkeit der
Produktion ab.
Die Ergiebigkeit der Produktion hängt von der Länge des
Produktionsprozesses, von der Zeit ab.
Läßt man also die Zwischenglieder weg, so gelangt man zum
Schluß, daß der Grenznutzen von der Zeit abhängt.
Man darf aber nicht außer Acht lassen, daß die Zeit nicht un-
mittelbar, sondern nur vermittelst einer ganzen Reihe von Zwischen-
gliedern, der Verlängerung der Produktionsumwege und der ver-
änderten Versorgungsverhältnisse, die Größe des Grenznutzens be-
einflußt. Uebt aber das Zeitmoment infolge irgend welcher Umstände
diesen Einfluß auf die Produktionsumwege und somit auf die Ver-
sorgungsverhältnisse nicht aus, so kann es ihn auch auf die Größe
des Grenznutzens nicht ausüben. Böhm-Bawerk läßt das aber
1) Die Aufgabe dieser Tabellen ist, die Richtigkeit der Behauptung von der Wert-
überlegenheit gegenwärtiger Güter gegenüber den künftigen „zu gerade zwingender
mathematischer Evidenz“ zu machen (Bd. 2 S. 278).
2) Bd. 2 8. 262—266.
———— erg i
444 N. Schaposchnicoff,
leider unberücksichtigt, indem er einfach annimmt, daß der Grenz-
nutzen für jedes Jahr des Produktionsabschlusses, mögen wir die
Produktion im Jahre 1888, 1889 oder 1890 anfangen (vgl. Tab. III),
der gleiche bleiben wird. Die Menge der produzierten Güter und
infolgedessen auch der Grad unserer Versorgung werden aber in
Wirklichkeit sehr verschieden sein. Im Jahre 1894 werden wir z. B.
über 470, 440 oder 400 Produkteinheiten verfügen. Böhm-Bawerk
vergißt also in diesem Fall nachzuweisen, weshalb der Grenznutzen
eigentlich in allen drei Fällen unverändert bleibt und außerdem
wird von ihm das Grundgesetz der Werttheorie ignoriert, demzufolge
der Grenznutzen von der Menge der Güter abhängt, die der Schätzung
unterliegen.
Wir sehen also, daß Böhm-Bawerk bei Aufstellung seines dritten
Grundsatzes zu der Annahme gelangt, als ob die Zeit allein und für
sich trotz der veränderten Gütermenge ein Sinken des Grenznutzens
hervorruft. Das ist das Prinzip, auf dem die ganze Beweiskraft
seiner Tabellen ruht. Vermeidet man aber den logischen Fehler, das
als erwiesen zu betrachten, was noch zu beweisen ist, so läßt sich
alles, was man den Böhm-Bawerkschen Tabellen entnehmen kann,
auf den nachstehenden, keineswegs neue Wahrheiten entdeckenden
Satz zurückführen. Ein um ein Jahr früher verfügbarer Arbeits-
monat wird auch um ein Jahr früher sein Produkt abliefern, d. h.
verfügen wir über einen Arbeitsmonat im Jahre 1888, so können
wir schon im Jahre 1894 ein Produkt im Werte von 940 bekommen,
während derselbe Arbeitsmonat vom Jahre 1889 ein Produkt im
gleichen Werte erst im Jahre 1895 liefern wird. Das ist aber auch
alles, was vom fraglichen Grundsatz („Grundpfeiler“, Bd. 2, S. 278)
der Böhm-Bawerkschen Theorie übrig bleibt.
Nach erfolgter Prüfung der Beweisführung Böhm-Bawerks hin-
sichtlich des Mehrwertes gegenwärtiger Güter im Vergleiche zu den
künftigen, wobei von uns festgestellt wurde, daß in Wirklichkeit nur
die beiden ersten Gründe irgend welche Bedeutung haben, können
wir nunmehr untersuchen, inwieweit auch die Böhm-Bawerksche
Behauptung zutrifft, als ob der Kapitalgewinn das Resultat des Zeit-
einflusses auf den subjektiven Wert der Güter sei. Wir haben be-
reits gesehen, daß die Schätzung der Arbeit von seiten des Arbeiters
keine bestimmte Größe darstellen kann, wenn man dieser Schätzung
die von Böhm-Bawerk erwähnten Erwägungen zu Grunde legt.
Denn die Arbeit ist für den Arbeiter weder ein künftiges Gut, noch
ein Gut schlechthin und zwar deshalb, weil unter gegenwärtigen
Wirtschaftsverhältnissen der Arbeiter ohne Kapitalvermittlung seine
Arbeit überhaupt nicht zur Produktion verwenden kann. Maßgebend
kann daher allein die Schätzung der Kapitalisten sein. Wir müßten
also beweisen, daß die Kapitalisten die gegenwärtigen Güter höher
als die künftigen bewerten. Ferner wäre der Beweis dafür zu liefern,
daß, wenn die Kapitalisten den Arbeitern nicht das ganze Produkt
ihrer Arbeit hergeben, das nicht deshalb geschieht, weil sie sich
in einer günstigeren Lage als die Arbeiter befinden und daher einen
Die Böhm-Bawerksche Kapitalzinstheorie. 445
Teil des Produktes ohne weiteres sich aneignen können, sondern des-
halb, weil die Arbeit ihnen als „künftiges“ Gut erscheint und infolge-
dessen als minderwertig geschätzt wird.
Bei seiner diesbezüglichen Beweisführung beeilt sich nun Böhm-
Bawerk zu erklären, daß für die Masse der Kapitalisten die ersten
zwei Gründe, sofern es sich um den Mehrwert gegenwärtiger Güter
handelt, keine Rolle spielen +). Wenn also die Kapitalisten trotz
alledem die gegenwärtigen Güter höher als die künftigen bewerten,
so kann das ausschließlich auf Grund des an dritter Stelle genannten
Momentes (Bd. 2, S. 333) geschehen. Die in letzterer Hinsicht an-
gewandte Beweisführung ist aber, wie wir gesehen haben, auf einem
Mißverständnis basiert. Uebrigens, wenn seine diesbezügliche Be-
weisführung auch durchaus folgerichtig wäre, würde man damit nicht
viel ausrichten können. Denn Böhm-Bawerk behauptet bekanntlich,
daß ein Gut, über welches wir in diesem Momente verfügen, einen
größeren Wert hat, als ein Gut, das erst nach einiger Zeit in unseren
Besitz gelangt, weil das erstere sofort produktiv verwendet werden
kann und folglich ein Endprodukt vom größten Wert liefern wird.
Angenommen, die Behauptung sei richtig. Welchen Schluß können
wir daraus hinsichtlich des subjektiven Wertes gegenwärtiger Güter
für den Unternehmer ziehen ?
Ein gegenwärtiges Gut hat dem künftigen Gut gegenüber einen
Mehrwert, weil es sofort zur Produktion verwendet werden kann.
Um den gegenwärtigen Gütern, als deren Verkäufer der Unternehmer
auftritt, einen höheren subjektiven Wert zu verleihen, ist also not-
wendig, daß der Unternehmer sie zur Produktion verwendet. Da
aber die gegenwärtigen Güter Genußgüter sind, so kann sie der
Unternehmer bei den heutigen Verhältnissen nur dann produktiv
anlegen, wenn er sie gegen Arbeit umtauscht. Der Umtausch gegen
Arbeit erscheint hier also als ein Mittel gegen zwecklose Verschwen-
dung gegenwärtiger Güter. Die Kapitalisten müßten daher das künf-
tige Gut (die Arbeit) nicht minder, sondern eher höher bewerten.
Ausgenommen sind dabei natürlich die Fälle, in welchen der Unter-
nehmer, ohne zum Tausche gegen die Arbeit Zuflucht nehmen zu
müssen, seinem Vorrat an gegenwärtigen Gütern eine produktive
Verwendung sichern kann. Das wird nur dann der Fall sein, wenn
der Unternehmer alleiniger Produzent ist und wenn also der Vorrat
der gegenwärtigen Güter ihm einen längeren Produktionsprozeß er-
möglicht. Denn nur in diesem Ausnahmefall könnte man sagen, daß
die gegenwärtigen Güter kraft des dritten Grundes höher als die
künftigen geschätzt würden. Böhm-Bawerk ist sich offenbar dieser
1) Bd. 2, S. 409. Diese beiden Momente üben auf die Kapitalisten eher eine ent-
gegengesetzte Wirkung aus (Bd. 2, S. 332). Würde z. B. der Kapitalist sein ganzes
Vermögen in gegenwärtigen Gütern anlegen, statt es zu produktiven Zwecken zu ver-
wenden, so würde daraus selbstverständlich für die Gegenwart ein Ueberschuß gegen-
über dem wirklichen Bedarf entstehen, während der Bedarf der Zukunft ungedeckt
bliebe. Weil er aber in der Gegenwart besser versorgt wäre, müßte er die künftigen
Güter höher schätzen.
446 N. Schaposchnicoft,
Schwäche bewußt und illustriert daher seine Beweisführung mit einem
Beispiel, in welchem ein kleiner Handwerker figuriert!), der bei der
Unternehmung mitwirkt. Dieser bewertet, meint Böhm-Bawerk,
gegenwärtige Güter höher als künftige, weil sie ihm längere und
ergiebigere Produktionsprozesse ermöglichen. Im weiteren muß aber
Böhm-Bawerk zugeben, daß unter den heutigen Produktionsverhält-
nissen, bei denen die Unternehmer sich am Produktionswerke per-
sönlich nicht beteiligen, die Sachlage nicht mehr so einfach sei. ..
„So ist nach dem oben Gesagten für die modernen Wirtschaftsver-
hältnisse anzunehmen, daß für die Kapitalisten der subjektive Ge-
brauchswert der gegenwärtigen Güter nicht größer ist als der der
künftigen Güter. Sie würden daher äußersten Falles bereit sein,
für eine Arbeitswoche, die ihnen zehn Gulden in zwei Jahren ein-
bringt, nahezu volle zehn gegenwärtige Gulden zu geben ?).
Die Analyse der subjektiven Wertschätzungen sowohl von seiten
der Kapitalisten als auch der Arbeiter gibt uns also kein Recht, zu
behaupten, daß der Umstand, weshalb der Arbeiter nur einen Teil
seines Arbeitsproduktes erhält, durch den Einfluß des Zeitmoments
auf den Arbeitswert zu erklären sei.
In dem Kapitel „Allgemeiner Subsistenzmittelmarkt* kommt
Böhm-Bawerk wieder auf diese Frage zu sprechen, und bemüht
sich, unter Außerachtlassung des Einflusses des Zeitmomentes auf
den Güterwert, nachzuweisen, daß der geringere Wert der Arbeit
von dem Ueberfluß des Arbeitsangebots gegenüber der Arbeitsnach-
frage herrührt. Nur ist dieser Gedanke hier etwas anders formuliert.
Er spricht diesmal nämlich nicht von dem Minderwert der Arbeit,
sondern von dem Mehrwert der gegenwärtigen Güter den künftigen
gegenüber. Die Erscheinung wird durch das numerische Ueber-
gewicht auf seiten der künftigen Güter erklärt.
Wir sehen also, daß Böhm-Bawerk bei der Analyse der wich-
tigsten und interessantesten Art des Kapitalzinses (Kapitalgewinn
der Unternehmer) schließlich gezwungen ist, sich von seiner Theorie,
der zufolge der Kapitalzins als Resultat des Zeiteinflusses auf die
subjektive Schätzung der gegenwärtigen und künftigen Güter er-
scheint. loszusagen. Am besten kommt das in dem Kapitel zum
Vorschein, in welchem die Höhe des Kapitalzinses besprochen wird.
Denn die Höhe des Kapitalzinses hängt von Momenten ab, die mit
der subjektiven Schätzung gegenwärtiger und künftiger Güter nichts
Gemeinsames haben, wobei von dem Umtausch gegenwärtiger Güter
gegen künftige nicht einmal, wie dies bereits von Knut Wicksell her-
vorgehoben wurde), die Rede ist.
Obwohl wir im vorhergehenden die Unhaltbarkeit der Böhm-
Bawerkschen Grundansicht über den Ursprung des Kapitalzinses
festgestellt haben, dürfen wir noch keineswegs behaupten, daß es uns
1) Vergl. Bd. 2, S. 333. Auf S. 287 illustriert Böhm-Bawerk die Richtigkeit
dieses Satzes mit Hilfe des Naturmenschen.
2) Vergl. Bd. 2, S. 349; ferner SS. 398, 405 u. 409.
3) Ueber Wert, Kapital und Rente, S. IX.
Die Böhm-Bawerksche Kapitalzinstheorie. 447
gelungen sei, die Unrichtigkeit seiner Theorie darzulegen und zwar
deshalb, weil sie nicht auf diesem Argument allein basiert ist. An
manchen Stellen seines Werkes begegnen wir nämlich noch einer
anderen Erwägung, welche auf die Notwendigkeit der Entstehung
des Kapitalzinses hinweist.
Böhm-Bawerk argumentiert dabei folgendermaßen: Der Kapital-
zins erscheint ihm als eine Art Belohnung dafür, daß die Kapitalisten
den Arbeitslohn vorschießen und die Arbeiter von der Notwendigkeit,
den Produktionsabschluß abzuwarten, befreien. Die Arbeiter ge-
langen nur dadurch, daß sie nicht warten können, in eine ökono-
mische Abhängigkeit von den Kapitalisten, die sich darin äußert,
daß sie nicht das ganze Produkt ihrer Arbeit erhalten. Könnten die
Arbeiter warten oder würde die Produktion sofort Früchte tragen,
so würde man die Kapitalisten ganz entbehren können. In seiner
Kritik der Rodbertusschen Theorie erklärt denn auch Böhm-Bawerk,
daß nicht das Privateigentum an Produktivmitteln, sondern die
„fatale Zeitdifferenz“ zwischen Anfang und Ende des kapitalistischen
Produktionsumweges den Grund der Abhängigkeit abgibt, in der die
Arbeiter sich befinden !). Böhm-Bawerk vertritt hier einen wesentlich
anderen Standpunkt als vorher. Denn er sieht die Quelle des Kapital-
zinses nicht mehr in dem Zeiteinflusse auf die subjektive Schätzung,
sondern in der Tatsache, daß die Produktion Zeit beansprucht. Die
Arbeiter müssen den Abschluß der Produktion abwarten; weil sie
es aber nicht können, müssen sie in die Bedingungen einwilligen,
die ihnen die Kapitalisten stellen. Diese Argumention spielt eine so
hervorragende Rolle in der Böhm-Bawerkschen Beweisführung, daß
wir sie einer näheren Betrachtung würdigen müssen.
Vor allem muß untersucht werden, ob es denn richtig sei, daß
die Arbeiter die Arbeitskraft deshalb billiger verkaufen müssen, weil
sie das Ende des Produktionsprozesses nicht abwarten können’?
Um diese Frage zu beantworten, muß die Rolle festgestellt werden,
welche der Zeitmoment in der modernen Volkswirtschaft spielt.
Dies kann aber nur dann geschehen, wenn man den individuell
wirtschaftlichen Standpunkt verläßt und die Volkswirtschaft als ein
Ganzes betrachtet. Dieser Standpunkt wird übrigens auch von
Böhm-Bawerk an anderen Stellen vertreten, so z. B. im Kapitel
„Allgemeiner Subsistenzmittelmarkt* und in den die Werthöhe be-
handelnden Kapiteln. „Es ist ein Charakterzug meiner Kapitals-
theorie“, sagt z. B. Böhm-Bawerk, „daß sie den Produktionsprozeß,
der zur Erzeugung der von uns begehrten Genußgüter hinführt, ...
als ein einheitliches Ganzes auffaßt und ihre wichtigsten Begriffe
und Gesetze aus Verhältnissen dieses Ganzen ableitet“ ?).
Diese Aeußerungen Böhm-Bawerks verdienen, nebenbei bemerkt,
1) Vergl. Bd. 2, S. 88 und außerdem Bd. 1, S. 466—479. Derselbe Gedanke,
nur etwas maskiert, ist zu finden in Bd. 2, S. 353—356.
Dieselben Beweise liegen auch der die Werthöhe bestimmenden Theorie zu Grunde.
Vergl. Abschnitt V.
2) Vergl. Böhm-Bawerk, Einige strittige Fragen der Kapitalstheorie, 8. 43,
448 N. Schaposchnicoff,
eine um so größere Anerkennung, da eine der Hauptursachen des
Streites über verschiedene ökonomische Grundprobleme (insbesondere
das Verteilungsproblem) meines Erachtens gerade der Umstand ist,
daß zu viele Forscher statt auf dem volkswirtschaftlichen auf dem
individual-wirtschaftlichen Standpunkte stehen. Es kann also nur
begrüßt werden, daß Böhm-Bawerk, einer der hervorragendsten
Vertreter der individualistischen Österreichischen Schule, für die
Untersuchung der Volkswirtschaft als eines einheitlichen Ganzen
eintritt.
Wenn wir aber die Nützlichkeit und sogar Notwendigkeit des
volkswirtschaftlichen Standpunktes bei der Untersuchung der Ver-
teilung der Güter anerkennen, so können wir doch nicht umhin,
darauf hinzuweisen, daß es durchaus fehlerhaft wäre, die Volks-
wirtschaft einfach als ein Aggregat von individuellen Wirtschaften
aufzufassen, zumal bei weitem nicht alle Begriffe aus der Sphäre
der privatwirtschaftlichen Tätigkeit für die Volkswirtschaft passen.
Läßt man daher die Kritik und die Analyse der Grundbegriffe, mit
denen man auf dem Gebiet der Volkswirtschaft zu operieren hat außer
Acht, so kann der Forscher nur zu leicht in eine Reihe von unlös-
lichen Widersprüchen mit der Wirklichkeit geraten, wobei die
Untersuchung, statt fruchtbar zu wirken, die Lösung der in Frage
kommenden Probleme noch mehr verwickeln kann. In letzterer
Hinsicht muß leider hervorgehoben werden, daß auch dem sonst so
feinsinnigen Böhm-Bawerk die Analyse der Volkswirtschaft nichts
Neues gab, sondern ihn im Gegenteil, wie wir bald sehen werden,
zu einer Reihe weiterer Widersprüche führte.
Böhm-Bawerk behauptet, der Arbeiter kann das ganze Produkt
seiner Arbeit nicht erhalten, weil dieses noch nicht existiert und der
Arbeiter außerdem nicht in der Lage ist, das Ende des Produktions-
prozesses abzuwarten. Er muß sich daher mit einem Teil seines
Arbeitsproduktes, der dem bereits hergestellten Gütervorrat als Vor-
schuß entnommen wird, begnügen, während der Rest in die Hände
der Kapitalisten gelangt.
Was ist aber der Fonds, aus dem die Arbeiter ihr Einkommen,
den Arbeitslohn, schöpfen können?
Das Produkt der gesellschaftlichen Arbeit ist selbstverständlich
nicht der Summe der Produkte gleich, die von allen in der Gesell-
schaft existierenden Unternehmungen produziert wurden, weil es
eine ganze Reihe von Unternehmungen gibt, die z. B. nur Halb-
fabrikate herstellen. Der Fonds, aus welchem alle Gesellschafts-
klassen die Befriedigung ihrer Bedürfnisse schöpfen, ist also auf die im
gegelfenen Moment vorhandenen Genußgüter beschränkt, wie daß wieder-
holt von den hervorragendsten Wirtschaftsforschern betont wurde. So
verfuhr z. B. sowohl Rodbertus, indem er aus der Gesamtmasse des Volks-
vermögens das Nationaleinkommen ausschied, als auch Karl Marx.
Böhm-Bawerk dagegen, obwohl auch er die Volkswirtschaft als ein
einheitliches Ganzes betrachten will, findet es nicht für nötig, an
diesem Unterschied festzuhalten. Der Fonds, aus welchem das Ein-
Die Böhm-Bawerksche Kapitalzinstheorie. 449
kommen der verschiedenen Gesellschaftsklassen gedeckt wird, wird
seiner Ansicht nach aus der Gesamtheit des Volksvermögens, Grund
und Boden ausgenommen, gebildet. Er läßt sich davon auch durch
die Tatsache nicht abbringen, daß ein bedeutender Teil dieses Ver-
mögens, wie Werkzeuge, Rohstoffe u. s. w. keine Genußgüter seien;
er zählt diese Produkte im Gegenteil zum Subsistenzmittelfonds, weil
sie „unter einem gewissen Zusatz an Vollendungsarbeit in mehr
oder weniger naher Zukunft zu fertigen Genußmitteln ausreifen“ 1).
Eine derartige Begründung klingt allerdings etwas seltsam. Denn
rechnet man zum Subsistenzmittelfonds die Halbfabrikate und Roh-
stoffe nur deshalb, weil sie nach einer bestimmten Zeit zu fertigen
Genußmitteln ausreifen, so ist es unklar, warum er aus diesem
Fonds die Arbeit ausscheidet, zumal die Arbeit ebenso nach einiger
Zeit in Genußmittel verwandelt werden kann. Und das gleiche gilt
vom Grund und Boden. Will man konsequent bleiben, so müßte man
auch diese beiden Faktoren in den Subsistenzmittelfonds einreihen ;
dadurch hätten wir aber die fragliche Begriffsbestimmung völlig un-
klar gemacht, weil sie in sich alles einschließen würde, was zur
Produktion dient.
Nach diesen Vorbemerkungen können wir zur Untersuchung der
Fragen übergehen, ob es dem Arbeiter wirklich nicht möglich sei,
das ganze Produkt seiner Arbeit zu erhalten, ob es ferner richtig
sei, daß er das Ende des Produktionsprozesses nicht abwarten könne
und ob er in Form des Arbeitslohnes vom Kapitalisten nur einen
Vorschuß bekomme, wobei der letztere den Zeitpunkt abwarten muß,
in dem das vom Arbeiter hergestellte Produkt eine definitive Form
annehme. Um diese Erscheinungen besser zu vergegenwärtigen,
kann man den ganzen Prozeß der gesellschaftlichen Produktion in
drei Gruppen einteilen. In die erste Gruppe gehört das erste
Stadium des Produktionsprozesses von Genußgütern, d. h. Gewinnung
von Rohstoffen, Herstellung von Maschinen, die zur Rohstoffproduktion
nötig sind, u. s. w. Zur zweiten Gruppe gehören diejenigen Stadien
des Produktionsprozesses, welche sich mit der weiteren Verarbeitung
der Rohstoffe beschäftigen: die Herstellung der Halbfabrikate sowohl
als der zur Produktion von Genußgütern benötigten Maschinen. Und
endlich zur dritten Gruppe gehört das letzte Stadium des Produktions-
prozesses: die Herstellung von Genußgütern. Nehmen wir nun an,
daß in jeder Gruppe und in jedem Produktionsstadium 10000 Ar-
beiter beschäftigt sind und daß außerdem der Produktionsprozeß
in jeder Gruppe ein Jahr dauert, so daß der ganze Produktions-
prozeß von Genußgütern drei Jahre in Anspruch. nehmen muß.
Wegen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung wird sich aber das
herzustellende Produkt gleichzeitig in allen drei Stadien befinden,
so daß ein Teil der Arbeiter im ersten Stadium der Genußgüter-
produktion Beschäftigung finden wird, während ein anderer Teil
im zweiten und der dritte im definitiven Stadium, als dessen Pro-
1) Vergl. Bd. 2, S. 340.
Dritte Folge Bd. XXXII! (LXXXVII). 29
450 N. Schaposchnicoff,
dukt fertige Genußgüter erscheinen, beschäftigt werden. Ungeachtet
also dessen, daß der Produktionsprozeß von Genußgütern eigentlich
eine dreijährige Periode beansprucht, werden diese Ende jedes
Jahres auf dem Markte erscheinen. Dies wird durch die Arbeits-
teilung bedingt, welcher es, wie das bereits von Marx hervorgehoben
wurde, zu verdanken ist, daß die Reihenfolge in der Zeit durch die
Reihenfolge im Raum ersetzt wird. Die jährlich auf dem Markte
erscheinenden Genußgüter müssen also als ein Produkt der Jahres-
arbeit der Gesamtzahl der Arbeiter betrachtet werden — oder mit
anderen Worten, in ihnen ist die Jahresarbeit von 30000 Arbeitern
verkörpert.
Infolge der Arbeitsteilung wird also auf den Markt jährlich das
Produkt der Jahresarbeit der ganzen Gesellschaft geworfen. Und
somit können die Arbeiter, trotz des drei Jahre umfassenden Pro-
duktionsprozesses, jährlich das ganze Produkt ihrer Arbeit erhalten.
Letzteres wird von Böhm-Bawerk allerdings bestritten und zwar auf
Grund nachstehenden Beispiels!). Nehmen wir an, sagt er, daß zur
Herstellung einer Dampfmaschine 5 Jahre lang 5 Arbeiter beschäftigt
werden. Der eine ist mit der Gewinnung der Eisenerze beschäftigt,
der andere verarbeitet die Erze zu Eisen, der dritte fertigt Stahl
an, der vierte verarbeitet diesen Stahl zu Maschinenteilen und end-
lich der fünfte vereinigt alle diese Teile zu einer fertigen Maschine.
Nur der letzte Arbeiter, meint Böhm-Bawerk, kann seinen Lohn un-
mittelbar nach Vollendung der Arbeit erhalten, während die übrigen
mehr oder weniger lang warten müssen.
Tatsächlich würden aber die Arbeiter nur im Falle warten müssen,
wenn die Dampfmaschinenproduktion gerade um diese Zeit über-
haupt erst in Angriff genommen wäre und zwar so lange, bis die
erste Dampfmaschine fertig gestellt ist. Bei der Herstellung weiterer
Maschinen, wenn alle Produktionsstadien bereits zu tun haben werden,
wird es aber nicht mehr nötig sein, die Beendigung des Produktions-
prozesses abzuwarten. Denn neue Dampfmaschinen werden ja jähr-
lich hergestellt werden müssen und so werden die Arbeiter jährlich
auch ihre auf die Maschinenfabrikation verwendete Arbeit realisieren
können. Die Behauptung Böhm-Bawerks, als ob die Arbeiter un-
möglich das ganze gesellschaftliche Arbeitsprodukt für ihre Arbeit
beanspruchen können, weil sie das Ende des Produktionsprozesses
abzuwarten gezwungen sind, muß also darauf zurückgeführt werden,
daß er die Rolle der Arbeitsteilung in der modernen Produktion
ignoriert und außerdem das Moment unberücksichtigt läßt, daß in-
folge dieser Arbeitsteilung der Produktionsprozeß vom wirtschaft-
lichen und nicht vom technischen Standpunkt aus gekürzt wird.
Diejenigen Produkteinheiten, welche die Arbeit eines gegebenen
Jahres repräsentieren, kann der Arbeiter in der Tat erst nach Voll-
endung des ganzen Produktionsprozesses erhalten ; daraus folgt aber
keineswegs, daß der Arbeiter ebenso lang auf seinen Arbeitslohn
1) Bd. 1, S. 472.
Die Böhm-Bawerksehe Kapitalzinstheorie. 451
warten müsse. Wenn er auch: das Produkt nicht erhalten kann,
welches die Arbeit dieses Jahres verkörpert, so kann er doch sehr
leicht statt dessen ein Produkt zugeteilt erhalten, das die Arbeit
verflossener Jahre verkörpert. Er braucht also weder auf seinen
Lohn zu warten, noch den Genuß zu verschieben, weil die Arbeits-
teilung es eben möglich macht, den gleichzeitigen Lauf eines Pro-
duktes durch verschiedene Produktionsstadien durchzusetzen !). Wir
sehen also, daß die Berufung Böhm-Bawerks auf die Notwendigkeit
des Wartens die Entstehung des Kapitalzinses keineswegs erklären
kann. Uebrigens, vorausgesetzt sogar, daß es richtig sei, daß man
auf das Ende des Produktionsprozesses lange warten müsse, würde
dieser Umstand die Entstehung des Kapitalzinses keineswegs be-
gründen können. Denn alles, was daraus gefolgert werden kann,
ist, daß die Arbeiter ihre Bedürfnisse mit den Produkten der vorher-
gehenden Produktionsperiode befriedigen müßten, nicht aber die
Ursache, weshalb die Arbeiter nicht das ganze Produkt des vor-
hergehenden Produktionsprozesses erhalten könnten. Das zuletzt
genannte Moment bildet aber die Kernfrage, welche von der Kapital-
zinstheorie aufgeworfen wird. Die Lösung des Problems des Kapital-
zinses ist vielmehr in der Tatsache zu suchen, daß das Produktions-
produkt Eigentum der Kapitalistenklasse bildet, während die Arbeiter
nichts außer ihrer Arbeitskraft besitzen.
Trotz aller dieser Mängel muß man jedoch anerkennen, daß die
Hauptfrage bei Böhm-Bawerk richtig gestellt ist. Denn er sucht
mit Recht die Ursache der Entstehung des Kapitalzinses nicht in
der Produktion, sondern im Verkehr, und anerkennt auch nicht, im
Gegensatz zu vielen anderen Forschern, die selbständige Produktivität
des Kapitals. Nicht der Produktionsprozeß ist nach ihm für die
Entstehung des Kapitalzinses maßgebend, sondern der Schätzungs-
prozeß, d. h. die Feststellung des Preises der Produktionsfaktoren.
Als den Hauptfaktor betrachtet er dabei ganz richtig die Momente,
welche den Preis der Arbeit bestimmen.
Die Prämissen Böhm-Bawerks sind also einwandsfrei, dessen un-
geachtet hat er die richtige Lösung nicht erzielt. Das Zinsproblem
ist nicht gelöst: weder im Einfluß des Zeitmoments auf den sub-
jektivren Wert, noch in dem notgedrungenen Warten des Arbeiters
kann man die Quelle des Zinses ersehen. Hierdurch könnten viel-
leicht Einzelheiten des Konsumtionskredits erhellt werden, zum Auf-
bau einer allgemeinen Zinstheorie jedoch sind sie absulut unzulänglich.
1) Als Beispiel dafür, in welcher Weise der Arbeitsteilung, wenn nicht vom tech-
nischen, so doch wenigstens vom wirtschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, den Pro-
duktionsprozeß abkürzt, kann die Weltgetreideproduktion angeführt werden. Trotz der
Machtlosigkeit des Menschen betreffs Beschleunigung der Getreidereife kann er doch
vermöge Ausnützung der Verschiedenheit der klimatischen Bedingungen monatlich das
Getreide einer neuen Ernte einheimsen.
29*
452 F. W. R. Zimmermann,
VIII.
Gutszertrümmerungen und die
braunschweigische Statistik über dieselben.
Vom
Geheimen Finanzrat Dr. F. W. R. Zimmermann zu Braunschweig.
Inhalt: 1. Einleitung. 2. Wirtschaftliche Wirkung der Gutszertrümmerungen.
3. Hohe Zahl der Gutszertrümmerungen bei gesunder wirtschaftlicher Lage. 4. Ursache
für die ungünstige Beurteilung der Gutszertrümmerungen. 5. Gutszertrümmerung,
schroffer Eingriff in die bestehenden Besitzverhältnisse. 6. Folge der Gutszertrümme-
rung für das zertrümmerte Anwesen. 7. Verbleib der vom zertrümmerten Anwesen ab-
getrennten Grundflächen. 8. Grund der Gutszertrümmerung. 9. Gewerbsmäßige Guts-
zertrümmerung. 10. Schlußwort.
1. Einleitung. Wie wir in diesen Jahrbüchern (1901,
III. Folge, Bd. 21, S. 168 ff.) näher zur Darstellung gebracht haben,
ist man im Herzogtum Braunschweig erst zu einem verhältnismäßig
späten Zeitpunkt, im Jahre 1874, dazu geschritten, die nach Jahr-
hunderte alter gesetzlicher Regelung bestehende Geschlossenheit des
bäuerlichen Grundbesitzes aufzugeben und dem Eigentümer eines
Bauerngutes die Befugnis, über dasselbe und dessen Zubehörungen
unter Lebenden und von Todeswegen in den gesetzlichen Formen
frei zu verfügen, im Wege besonderer Landesgesetzgebung einzu-
räumen. Man hat dann aber, allerdings unter der bei entsprechen-
der Neuordnung subsidiären Beibehaltung der dem Bauernrechte
eigentümlichen Institute des Anerbenrechts, der Interimswirtschaft
und der Leibzucht, sofort die volle Verfügungsfreiheit des
Eigentümers über den ländlichen Grundbesitz eintreten
lassen, ohne dabei irgend welche Beschränkungen, wie sie sonst
wohl in der Fixierung eines unteilbaren Minimums, in der Zulassung
nur einer begrenzten Abtrennung von einem gekauften Grundbesitz
durch den Käufer und dergleichen häufiger vorkommen, zu treffen.
Gerade mit Rücksicht hierauf mußte man aber die Entwickelung der
Grundbesitzverhältnisse, wie sie sich unter der neuen von den
früheren Schranken befreienden . Gesetzgebung vollzog, nach allen
Richtungen und Einzelheiten hin mit einer besonderen Sorgfalt ver-
folgen, da im allgemeinen die Verteilung des landwirtschaftlichen
Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik über dieselben. 453
Grundbesitzes im Herzogtum auf größere, mittlere und kleinere Be-
triebe in gesunder Vermischung nur als eine günstige und nach
Tunlichkeit zu erhaltende angesehen werden konnte, wenngleich eine
gewisse Bewegungsfreiheit bezüglich des Grundbesitzes ebenmäßig
im Interesse der vollen landwirtschaftlichen Ausnutzung des Grund
und Bodens und der vorteilhaften Anwendung der neuzeitlichen durch
Fortschritt von Wissenschaft und Technik gewonnenen Errungen-
schaften erwünscht erscheinen mußte.
Aus diesem Bedürfnis, sich stets möglichst in Klarheit über den
Fortgang der Grundbesitzentwickelung zu erhalten, ist es dann auch
hervorgegangen, daß das Herzogliche Staatsministerium durch die
Verfügung vom 13. Februar 1897 nach dem gleichen Vorgehen vom
Königreich Bayern eine fortlaufende statistische Erhebung
über die Gutszertrümmerungen im Herzogtum vom Jahre
1896 an zur Einführung brachte, eine statistische Erhebung, wie sie
außer Bayern und Braunschweig bislang kein deutscher Staat besitzt,
obwohl vielleicht einzelne Anklänge daran in der Statistik des König-
reichs Preußen über den Besitzwechsel land- und forstwirtschaftlicher
Grundstücke, sowie in Spezialstatistiken über Zwangsveräußerungen
und Zwangsversteigerungen von Grundstücken, wie denen für das
Großherzogtum Hessen und das Großherzogtum Baden, wohl vor-
kommen. Diese besonderen und eingehenderen statistischen Fest-
legungen über die Gutszertrümmerungen müssen aber bei dem bis-
herigen allgemeinen Mangel einer eigenen und einer irgendwie aus-
reichenden Statistik über die Besitzverteilung am Grund und Boden
insofern wiederum eine vorragendere Bewertung und ein allgemeineres
Interesse in Anspruch nehmen, als sie immerhin über einen wesent-
lichen, wenn nicht den wesentlichsten Teil der Verschiebungen in
der Grundbesitzverteilung bis zu einem gewissen Grade Aufschluß
geben und so jenes Fehlen einer Statistik über die Grundbesitzver-
teilung bezüglich der Besitzverschiebung oder der allgemeinen Fort-
FAE in der Besitzverteilung wenigstens begrenzt ersetzen
önnen.
Unter diesem Gesichtspunkte dürfte es vielleicht nicht ungerecht-
fertigt erscheinen, wenn wir im Nachstehenden unter Heraus-
hebung einzelner allgemeiner Grundsätze über die
Gutszertrümmerungen für einige Ergebnisse der bezüg-
lichen braunschweigischen Erhebung, soweit sie gene-
reller Natur und eventuell auch als typische zu betrachten sind, eine
Beachtung weiterer Kreise in Anspruch nehmen. Wir hatten auf
die ersten bezüglichen Ergebnisse schon in unserer oben bezeich-
neten Arbeit kurz Bezug genommen, zum Teil werden sich dem
unsere jetzigen Darstellungen als eine weitere und durch den Lauf der
Zeit vervollständigte Ausführung anschließen. Das Material der
braunschweigischen Statistik der Gutszertrümmerungen liegt für die
zehn Kalenderjahre 1896—1905 vor; eine Verarbeitung der Ergeb-
nisse ist bereits für das erste Jahr gewissermaßen probeweise vor-
genommen und in den Beiträgen zur Statistik des Herzogtums Braun-
454 F. W. R. Zimmermann,
schweig, 1898, Heft 14, S. 17 ff. veröffentlicht; nunmehr sind aber
auch die Ergebnisse für die ersten zehn Jahre 1896/1905 zusammen-
fassend bearbeitet und in den Beiträgen zur Statistik des Herzog-
tums Braunschweig, 1907, Heft 20, S. 41 ff. zur Veröffentlichung ge-
langt. Auch die Ergebnisse der bayerischen Erhebung sind, wie
wir hier gleich vorweg mit Rücksicht auf demnächstige weitere Be-
zugnahmen darauf hervorheben wollen, für die ersten zehn Jahre,
die Zeit vom 1. März 1894 bis zum 1. März 1904 in dem 66. Heft
der Beiträge zur Statistik des Königreichs Bayern unter den Stati-
stischen Mitteilungen über die Landwirtschaft in Bayern nach Er-
hebungen von 1894—1904, 2. Teil, 1905, S. 499 ff. zur Verarbeitung
und Publikation gebracht. ;
2. Wirtschaftliche Wirkung der Gutszertrümme-
rungen. Mit der Bezeichnung „Gutszertrüämmerung“ ver-
bindet man nicht nur im gewöhnlichen Leben, sondern in einer
ähnlichen Weise auch wohl in der Wissenschaft eine gewisse bedenk-
liche, mehr oder weniger in das Unrechtliche oder Unlautere
schlagende Nebenbedeutung, welche in anderen Ausdrücken, die
durchweg mit der Gutszertrümmerung als gleichbedeutend hingestellt
werden, wie Hofausschlachtungen, Güterschlächterei, Hofmetzgerei
vielleicht noch mit größerer Schärfe auch äußerlich hervortritt. In
den äußersten Konsequenzen geht dieses sogar so weit, daß man die
Gutszertrümmerungen an sich dem Grundstückswucher gleich-
achtet und sie ohne weiteres auch als solchen bezeichnet. Dieses
können wir aber in dem Maße nicht für berechtigt erachten, wir er-
blicken darin vielmehr nur eine einer näheren Prüfung nicht stand
haltende Verallgemeinerung, mit welcher Mißstände, welche aller-
dings bei einzelnen Gutszertrümmerungen, und vorwiegender auch
bei einzelnen Arten derselben, sich möglicherweise zeigen können,
allgemein auf die Gutszertrüämmerungen als solche als ein Charakte-
ristikum derselben oder gewissermaßen als eine conditio sine qua non
übertragen werden. Als Gutszertrümmerung ist dem Begriff nach
jedes Geschäft anzusehen, welches dazu geführt hat, daß ein land-
wirtschaftliches (in der Regel bäuerliches) Anwesen als solches nicht
mehr fortbesteht oder durch Abtrennung von Grundstücken so wesent-
lich verkleinert worden ist, daß sich hieraus nachteilige Folgen für
den Fortbestand und die gedeihliche Fortführung der betreffenden
Wirtschaft ergeben müssen. Wir sind damit der Begriffsbestimmung
der bayerischen und der braunschweigischen Statistik über die Guts-
zertrümmerungen gefolgt, welche sich insofern nicht in den möglicher-
weise zu ziehenden engsten Grenzen hält, als sie eine Gutszertrüm-
merung auch dann noch als vorhanden annimmt, wenn das berührte
Anwesen trotz der durchgeführten Zertrümmerung immerhin noch
als bäuerliches Anwesen bestehen geblieben ist.
Betrachten wir die geschaffene Sachlage rein vom wirtschaft-
lichen Standpunkte aus, so ist ja wiederum nicht zu verkennen, daß
an und für sich ein wirtschaftlicher Nachteil durch den Fortfall
einer festbegrenzten Betriebsstätte, sei es überhaupt, sei
Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik über dieselben. 455
es doch in der bisherigen höheren Charakterisierung, gegeben sein
muß. Dieser wirtschaftliche Nachteil wird, wie ferner unbedingt zu-
zugeben ist, auch dadurch noch um so bedeutungsvoller, daß es sich
hier um eine landwirtschaftliche, auf dem Grund und Boden be-
ruhende Betriebsstätte handelt, an deren Erhaltung und an deren
Leistungsfähigkeit die Gesamtwirtschaft gerade besonders interessiert
erscheint. Demgegenüber ist aber zu berücksichtigen, daß der Fort-
fall eines landwirtschaftlichen Anwesens in seiner bisherigen Gestalt
keineswegs die einzige Folge oder der alleinige Erfolg der Gutszer-
trümmerung ist, daß jenem Fortfall doch stets die neue Ausge-
staltung durch die Grundflächen des zertrümmerten
Anwesens als Korrelat entgegenstehen muß. Diese neue Ausge-
staltung kann nun wiederum eine verschiedenartige sein.
Einerseits — und dieses wird wohl der am meisten vorkommende
Fall sein — können die einzelnen Trümmerstücke des früheren An-
wesens mit anderen bereits bestehenden Anwesen ver-
einigt werden; der Regel nach werden sie dann die wirtschaftliche
Leistungsfähigkeit der letzteren erhöhen, und es steht dahin, ob hier
nicht vielleicht meist oder doch in der Mehrzahl der Fälle ein wirt-
schaftlicher Vorteil erreicht wird, der den durch den Fortfall des
zertrümmerten Anwesens gegebenen Nachteil vollständig ausgleicht
oder gar überholt. Aus den Einzelteilen des zertrümmerten An-
wesens können dann aber auch ferner eine Reihe neuer kleinerer
Anwesen gebildet sein, die je für sich zwar von geringerer Be-
deutung wie das frühere Anwesen, aber immerhin von entsprechender
Lebensfähigkeit und Leistungsfähigkeit sind; daß diese neuen An-
wesen entstanden sind, wird gleicherweise für den regelmäßigen
Fall schon an und für sich als ein wirtschaftlicher Vorteil anzusehen
sein, der dann aber unter der besonderen wirtschaftlichen Lage zu
einer ganz wesentlichen Höhe anwachsen kann, je nachdem sich ein
Bedürfnis nach jenen kleineren Anwesen mehr oder weniger als vor-
tretend erweist; eine Ausgleichung zwischen wirtschaftlichem Vorteil
und Nachteil und sogar über letzteren hinaus liegt mithin auch hier
sehr wohl im Gebiet der Möglichkeit. Endlich kann aber auch in
Betracht kommen, daß dem zertrümmerten Anwesen selbst in seiner
neuen Gestalt eine besondere und zum mindesten im Verhältnis
größere Leistungsfähigkeit als bisher gewonnen ist, daß
es sich daher jetzt im allgemeinen in seiner beschränkteren Quali-
fikation als wirtschaftlich vorteilhafter wie früher zeigt, mithin auf
diese Weise schon der Nachteil des Fortfalls in der früheren Quali-
fikation aufgewogen wird. Hierbei werden dann allerdings an Stelle
der rein sachlichen, in der Betriebsstätte selbst belegenen Momente
vorwiegender mehr persönliche, nur in dem jeweiligen Eigentümer ge-
gebene Umstände, wie unzureichende Kapitalkraft, Verschuldung,
beschränktere Arbeitskraft ete. ausschlaggebend sein, und würde man
solches bei Bewertung des wirtschaftlichen Vorteils entsprechend zu
berücksichtigen haben. Ergänzend ist aber noch darauf hinzuweisen,
daß die vorbehandelten verschiedenen Fälle bis zu einem gewissen
456 F. W. R. Zimmermann,
Grade bei der einzelnen Zertrümmerung auch vereint erscheinen
können, und daß dadurch eventuell ihr wirtschaftlicher Vorteil nicht
unerheblich gesteigert werden kann, weil eben hier die Möglichkeit
geboten ist, jeden einzelnen Teil des zertrümmerten Anwesens zu
tunlichstem wirtschaftlichen Vorteil auszunützen.
Ziehen wir aus dem Vorausgeführten ein Endergebnis, so
geht solches dahin, daß bei jeder Gutszertrümmerung dem an
sich gegebenen wirtschaftlichen Nachteil des Fortfalls einer landwirt-
schaftlichen Betriebsstätte auch ein gewisser wirtschaftlicher Vorteil
aus der nunmehrigen Verwendung der einzelnen Teile des zer-
trümmerten Anwesens gegenüberstehen muß, daß das Verhältnis
zwischen Nachteil und Vorteil niemals allgemein und prinzipiell, sei
es zu Gunsten des ersteren, sei es zu Gunsten des letzteren, festge-
legt werden kann, sondern stets nach den besonderen Umständen
des einzelnen Falls selbständig und eigenartig zu bestimmen ist,
daß aber bei normaler Sachlage stets ein Ausgleich zwischen Nach-
teil und Vorteil bis zu einem gewissen Grade, vielfach wohl gar bis
zur Vollständigkeit hin, stattfinden wird.
3. Hohe Zahl der Gutszertrümmerungen bei ge-
sunder wirtschaftlicher Lage. Danach werden wir also der
Gutszertrümmerung an und für sich und von vornherein weder einen
schädlichen noch einen nützlichen Charakter nach der wirtschaft-
lichen Seite hin beilegen können. Dieselbe stellt lediglich einen
Vorgang im bürgerlichen Leben dar, welcher wirtschaftlich ebenso-
wohl einen Vorteil wie einen Nachteil bedeuten kann, dessen bezüg-
licher Erfolg und Tragweite aber ausschließlich nach den besonderen
Verhältnissen des einzelnen Falls in der Regel zu beurteilen sein
wird. Man wird daher die Gutszertrümmerung als solche und als
Moment des wirtschaftlichen Lebens nicht schon von vornherein zu
verdammen haben, ebensowenig, wie man die sonstigen zahlreichen
Momente und Vorgänge, welche je nach der besonderen Lage des
Falls wirtschaftlich bald zum Vorteil, bald zum Nachteil gereichen
können, ohne weiteres und allgemein als ungünstig wirkend hin-
stellen und behandeln wird. Andererseits würde man ja die an sich
nicht unerhebliche Zahl der Gutszerträmmerungen, welche
für Braunschweig und für Bayern in den zehn Erhebungsjahren
statistisch festgelegt worden sind, unbedingt als ein höchst bedenk-
liches Symptom für die wirtschaftliche Lage aufzufassen haben, ein
Symptom, das aber nicht nur für jene beiden Staaten, sondern wohl
allgemeiner für das Deutsche Reich in Betracht gezogen werden
müßte, da nicht anzunehmen ist, daß in den übrigen Teilen des
Deutschen Reiches die Verhältnisse, welche für dieselben nicht näher
konstatiert sind, allgemein und durchgängig wesentlich anders liegen
werden.
In Braunschweig sind in den zehn Erhebungsjahren insgesamt
383 Gutszertrümmerungen vorgekommen, das trägt also rund 38 nach
dem Durchschnitt für das einzelne Jahr. Bringt man die Zahl in
ein Verhältnis zu den landwirtschaftlichen Betrieben (Berufs- und
Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik über dieselben. 457
Betriebszählung 1895), so entfallen auf 10000 Betriebe 65,93
oder rund 66 Gutszertrümmerungen. Die von den Gutszertrüm-
merungen betroffene Grundfläche stellt sich insgesamt für die Zer-
trümmerungen der zehn Jahre auf 6691,37 ha, nach dem Durch-
schnitt für das einzelne Jahr mithin auf rund 669 ha. Im Verhält-
nis zu der gesamten landwirtschaftlichen Fläche berechnen sich
263,7 ha zertrümmerter Fläche auf je 10000 ha Gesamtfläche.
Im Verhältnis überragt Bayern, was die Zahl der Gutszertrüm-
merungen anlangt (8758 Gutszertrümmerungen in den zehn Er-
hebungsjahren rund 876 durchschnittlich für das Jahr und 132,0
auf 10000 landwirtschaftliche Betriebe), Braunschweig wesentlich,
wogegen es bezüglich der zertrümmerten Fläche (133 430,98 ha
insgesamt, 13343 ha für das Jahr und 224,4 ha auf 10000 ha
Gesamtfläche) ein wenig hinter Braunschweig zurückbleibt. Es sind
dieses immerhin doch für beide Staaten beachtenswerte Zahlen, die
sich voraussichtlich in einer ähnlichen Weise auch für die anderen
Teile des Deutschen Reiches ergeben würden.
Wenn aber die Gutszertrümmerung an sich, und damit hier
jeder einzelne Fall derselben, schon einen nachteiligen Vorgang in
der wirtschaftlichen Entwickelung bedeuten würde, so müßte aus
jenen Zahlen wohl unbedingt auch das Vorhandensein höchst krank-
hafter Verhältnisse in den Verschiebungen des Eigentums am Grund
und Boden geschlossen werden, beziehungsweise die verhältnismäßig
große Zahl von Gutszertrümmerungen, also von wirtschaftlich nach-
teiligen Vorgängen, müßte einen derartigen Zustand bereits geschaffen
und durch ihr gleichmäßiges Erscheinen bezüglich einer ganzen Reihe
von Jahren solchen stetig verschärft haben. Glücklicherweise können
wir aber aus einer ganzen Anzahl anderer Erscheinungen mit voller
Sicherheit konstatieren, daß der allgemeine Stand der Grundbesitz-
verhältnisse und die in demselben sich zeigende Bewegung für das
Deutsche Reich und ebenmäßig auch für die beiden speziell ange-
führten Staaten desselben als ein durchaus normaler und keineswegs
als ein irgendwie krankender anzusehen und daß zu besonderen Be-
sorgnissen nach besagten Richtungen hin keinerlei Anlaß gegeben
ist. Die vorgekommenen Gutszertrümmerungen, wenn sie ohne
weiteres wirtschaftlich nachteilig wirken würden, wären aber nicht
nur der Anlaß, sondern ebenso auch das sichere Zeichen für einen
derartigen ungesunden Grundbesitzzustand gewesen.
Es ist aber auch in den beiden amtlichen Bearbeitungen der
besonderen Statistiken über die Gutszertrümmerungen, welche wir
oben angeführt haben, in keiner Weise zum Ausdruck gebracht, daß
das Auftreten der Gutszertrümmerungen überhaupt und in den be-
sagten Zahlen als etwas Anormales oder Außerordentliches oder gar
Ungesundes betrachtet werden müsse. Uebereinstimmend sehen
beide Veröffentlichungen die Gutszertrümmerung als einen Vorgang
an, der als solcher weder einen wirtschaftlichen Nachteil, noch einen
wirtschaftlichen Vorteil bedeutet, also nach dieser Richtung hin
zunächst sich als indifferent erweist, der aber je nach den besonderen
458 F. W. R. Zimmermann,
Umständen des Einzelfalles und nach der Art und Weise, speziell
nach der Häufigkeit seines Auftretens, sowohl zu einem Nachteil
wie zu einem Vorteil nicht nur für die unmittelbar betroffenen
Einzelwirtschaften, sondern auch für die Gesamtwirtschaft, für die
Volkswirtschaft werden kann. Nach dieser Sachlage muß es be-
rechtigt erscheinen, bei einer wirtschaftlichen Würdigung der Guts-
zertrümmerung zunächst das allgemeine Vorurteil gegen dieselben
in seinem prinzipiellen Stand und seiner Unbeschränktheit zurück-
zuweisen.
4. Ursache für die ungünstige Beurteilung der
Gutszerträmmerungen. Wenn gegen einen wirtschaftlichen
Vorgang sich ein derartiges allgemeines Vorurteil ausgebildet hat,
so daß man mit der einfachen Bezeichnung desselben, mit dem
Worte Gutszertrümmerung, schon ohne weiteres den Begriff eines
wirtschaftlichen Nachteiles verbindet, so ist nicht anzunehmen, daß
solches ohne allen inneren Grund geschehen ist. Die Gutszer-
trümmerung als wirtschaftlicher Vorgang muß in sich Momente ent-
halten, welche, sei es vermöge der in ihnen selbst liegenden größeren
Gefahr, sei es vermöge Ueberschätzung ihrer Bedeutung, sei es
vermöge ihrer unrichtigen Einschätzung überhaupt, jenem Vor-
urteil eine mehr oder weniger breite Unterlage bieten konnten
und bieten mußten. Einer näheren Prüfung dürfte es nicht
schwer fallen, derartige Momente von entsprechender Bedeutung
nachzuweisen. Wir wollen dieselben im Nachstehenden etwas spe-
zieller betrachten und auf das richtige Maß und ihre eigentliche
Tragweite zurückzuführen suchen, dabei namentlich das weitere, in
der amtlichen Publikation nicht berührte Material der braunschweigi-
schen Statistik so weit als möglich zu näheren, auch zahlenmäßigen
Nachweisungen verwertend.
5. Gutszertrümmerungen, schroffer Eingriff in
die bestehenden Besitzverhältnisse. Ein lediglich äußeres
und deshalb an sich vielleicht weniger zu Buche schlagendes Moment,
welches wir vorweg nur kurz berühren wollen, ist schon darin ge-
geben, daß man im allgemeinen allseitig mehr geneigt ist, bezüglich
des Grundbesitzes tunlichst eine gewisse Erhaltung der bestehenden
Verhältnisse und speziell der Besitzverhältnisse als einer normalen
und gesunden wirtschaftlichen Lage entsprechend anzusehen und daß
man daher von vornherein gegen jeden mehr oder weniger schroffen
Eingriff in die Verhältnisse des Grundbesitzes und des Besitzes am
Grund und Boden das wenn auch unbestimmte Gefühl hat, ob der
wirtschaftlichen Lage im Einzelnen und in der Gesamtheit dadurch
nicht eine Schädigung zugefügt werde oder zugefügt werden müsse.
Die Gutszertrümmerung stellt sich nun allerdings als ein recht
schroffer Eingriff in die bestehenden Besitzverhält-
nisse am Grund und Boden dar, dessen äußerer Eindruck da-
durch noch verschärft und mehr einseitig gelenkt werden muß, daß
er stets zunächst und in erster Linie in der Vernichtung einer wirt-
schaftlichen Einheit zum Ausdruck komnt, die, wie sie bislang bezw.
Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik über dieselben. 459
früher mit Erfolg und zu Nutzen bestanden hat, solches normaler-
weise auch noch für die Folge würde leisten können, die aber vor-
wiegend, wenn nicht ausschließlich, den lediglich persönlichen Ver-
hältnissen des jeweiligen Eigentümers nunmehr zum Opfer gebracht
wird.
Gerade ein derartiges äußerlich im wesentlichen als Zerstörung
sich charakterisierendes Eingreifen in die Grundbesitzverhältnisse
muß aber der bezüglich der letzteren durchweg mehr konservativ
ausgeprägten Anschauung gegenüber ein gewisses Mißtrauen gegen
sich erwecken. Dieses Mißtrauen kann sich aber nicht etwa nur auf
einen einzelnen speziellen Fall einer Gutszertrümmerung beschränken,
sondern es muß sich vielmehr, da jenes zerstörende Eingreifen in
die Besitzverhältnisse stets mit der Gutszertrümmerung verbunden
ist und ein wesentliches Charakteristikum derselben bildet, gegen
den ganzen wirtschaftlichen Vorgang überhaupt, gegen jede Guts-
zertrümmerung als solche richten. Schon in dieser vorwiegenden
Aeußerlichkeit sehen wir also ein Moment, welches dazu führen
kann und führen wird, die Gutszertrümmerung als solche allgemein
zu den wirtschaftlich schädlich wirkenden Erscheinungen zu zählen.
6. Folge der Gutszertrümmerung für das zer-
trümmerte Anwesen. Ein weiteres mit dem Vorberührten in
gewisser Weise zusammenhängendes, aber doch mehr in das Materielle
übergreifendes Moment für das Vorurteil gegen die Gutszertrümme-
rungen liegt wohl darin, daß man die eine, allerdings stets zunächst
vortretende Seite des wirtschaftlichen Vorganges der Gutszertrüm-
merung, die schon eben behandelte Zerstörung einer bestehenden
Grundbesitzeinheit, vorwiegender im Auge hat und dabei einerseits
diese mehr oder weniger wesentlich überschätzt, sowie andererseits
die Kehrseite, den Verbleib der Grundflächen des zertrümmerten
Anwesens, nicht in entsprechender Weise bewertet.
Schon bezüglich der Zerstörung der bestehenden Grundbesitz-
einheit als solcher ist zu betonen, daß es sich doch eigentlich nie-
mals um eine vollkommene Zerstörung handeln kann, da doch stets
das Anwesen an sich, gleichgültig bis zu welchem Grade verkleinert,
bestehen bleiben muß. Verschieden ist es ja hierbei wiederum, wie
weit in dem einzelnen Fall die Zertrümmerung durchgeführt wird
und speziell welche Grundflächen bei dem zertrüämmerten Anwesen
selbst verbleiben. Je nachdem man nach dieser Richtung hin eine
Grenze zieht, wird der Begriff der Gutszertrümmerung selbst ein
engerer oder ein weiterer. Die braunschweigische Statistik hat in
dieser Beziehung wohl die weitest zulässige Begrenzung der Guts-
zertrümmerungen gewählt. Sie faßt die vollständigen und die un-
vollständigen Gutszertrümmerungen zusammen und versteht unter
den ersteren diejenigen, bei denen das gesamte Anwesen in mehr
oder weniger kleine Parzellen geteilt wird, während sie diesen dann
als unvollständige Gutszertrümmerungen gegenüberstellt: einmal eine
Zertrümmerung, so daß die Restfläche des früheren Anwesens noch
eine verhältnismäßig große bleibt, sodann eine Zertrümmerung unter
460 F. W. R. Zimmermann,
Rückbehalt eines größeren Teiles des Grundbesitzes in der Hand
des Zertrümmerers, weiter eine lediglich als Abtrennung einer ver-
hältnismäßig großen Fläche vom Anwesen sich darstellende Guts-
zertrümmerung und endlich den Verkauf des Landes eines Anwesens
in Eins an einen Dritten. Wir mußten diese Begriffsbegrenzung
hier hervorheben, weil nur dadurch die im Nachstehenden aufge-
nommenen Daten aus der braunschweigischen Statistik in richtiger
Weise bewertet werden können. Um aber die Tragweite der Zer-
störung von bestehenden Anwesen genauer zu kennzeichnen, müssen
wir auf jene braunschweigischen Daten Bezug nehmen.
So wollen wir nach den letzteren zunächst die lediglich zer-
störende Wirkung der Gutszertrümmerungen, die Wirkung der-
selben auf das zertrümmerte Anwesen in seinen Größen-
verhältnissen und der dadurch bestimmten Einrangierung in die
üblichen Grundbesitzklassen etwas näher zahlenmäßig erläutern.
Unter den im Herzogtum Braunschweig in den 10 Jahren insgesamt
zertrümmerten 333 Anwesen waren 21 Parzellenbesitzungen (unter
2 ha), 59 kleine Bauernbesitzungen (2—5 ha), 196 mittlere Bauern-
besitzungen (5—20 ha), 86 große Bauernbesitzungen niederer Art
(20—50 ha; die großen Bauernbesitzungen sind nochmals in zwei
Unterabteilungen geschieden, um die Abstufung von oben nach unten
in den Daten und der Entwickelung derselben genauer verfolgen zu
können), 20 große Bauernbesitzungen höherer Art (50—100 ha) und
ein Großgrundbesitz (100 ha und darüber). Durch die Zertrümme-
rung wurden diese zertrümmerten Anwesen umgestaltet in 164 An-
bauerwesen (unter 0,25 ha), welche Kategorie als solche hier neu
erscheint, da sie für die Zertrümmerung selbst nicht in Frage kam,
120 Parzellenbesitzungen, 42 kleine Bauernbesitzungen, 43 mittlere
Bauernbesitzungen, 13 große Bauernbesitzungen niederer und eine
große Bauernbesitzung höherer Art. Die Veränderung, welche für
das Herzogtum als Ganzes bezüglich der Besitzverhältnisse von
Grund und Boden nach Grundbesitzgrößenklassen lediglich durch die
zertrümmerten Anwesen als solche gegeben ist, stellt sich demnach
folgendermaßen dar: es sind neu hinzugekommen 164 Anbauerwesen
und 99 Parzellenbesitzungen, dagegen sind weggefallen 17 kleine
Bauernbesitzungen, 153 mittlere Bauernbesitzungen, 73 große Bauern-
besitzungen niederer Art, 19 große Bauernbesitzungen höherer Art
und 1 Großgrundbesitz.
Für die Gesamtheit sind demnach in den 383 Zertrümme-
rungsfällen nur 263 Veränderungsfälle, Verschiebungen in den Grund-
besitzkategorien, eingetreten, die demnach ein wenig über °/, der
ersteren ausmachen, wogegen etwa ! der Zertrümmerungsfälle für
die Veränderungsziffer ausfällt. Die Wirkung der Zertrümmerung
als Ganzes aufgefaßt, zeigt sich danach doch schon ganz erheblich
abgeschwächt, für nahezu ein Drittel der Zertrüämmerungsfälle kann
man von einer Zerstörung im Größenklassencharakter nicht reden,
eine solche kommt vielmehr nur zu zwei Dritteln in Betracht. Diese
Daten geben uns natürlich nur den Anhalt dafür, daß der Einfluß der
Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik über dieselben. 461
Zertrüämmerungen in Wirklichkeit keineswegs so groß zu sein braucht,
wie er nach den Zertrümmerungsfällen selbst zunächst erscheinen
muß und wie er damit auch meist angenommen werden wird. Ja,
man wird wohl noch weiter gehen und die Behauptung aufstellen
dürfen, daß die besagte Unstimmigkeit zwischen Wirklichkeit und
erstem Anschein weitaus die Regel bilden und danach auch als das
Uebliche anzusehen sein wird.
Andererseits ist aber immerhin mit der Möglichkeit, daß bei
sämtlichen Zertrümmerungen das Anwesen in die geringste Größen-
kategorie versetzt wird und Zertrümmerungs- und Veränderungszahl
sich gleichen, vorhanden, doch handelt es sich dabei lediglich nur
um einen äußersten Ausnahmefall, bei dem dann regelmäßig wohl
ohne weiteres auf einen ungesunden Zustand in den Entwickelungs-
verhältnissen des Grundbesitzes, auf ein zu starkes Vortreten der
Parzellenbesitzungen zu schließen sein würde. Gleicherweise kann
aber auch noch eine weitere Ausgleichung zwischen den Zertrümme-
rungsfällen und den Veränderungsfällen, wie die, welche in den braun-
schweigischen Daten erscheint, sich zeigen, und würde dadurch die
Ueberschätzung der Zerstörungswirkung bei den Gutszertrümme-
rungen in ein noch schärferes Licht gesetzt werden. Das bezügliche
Verhältnis in den braunschweigischen Daten darf immerhin, was die
wirtschaftliche Seite anlangt, als ein normales und günstiges ange-
sehen werden und auf Grund desselben wird man nicht zu der An-
nahme gelangen können, daß sich die vermöge der Gutszertrümme-
rungen stattfindende Verschiebung in dem Besitz von Grund und
Boden in einer ungesunden oder krankhaften Richtung bewege.
7. Verbleib der vom zertrümmerten Anwesen abge-
trennten Grundflächen. Ebenso wie nach unseren vorstehenden
Ausführungen das Zerstörungsmoment für die zertrümmerten An-
wesen bei der Beurteilung der Gutszertrümmerungen stets erst auf
das richtige Maß zurückzuschrauben ist, ebenso ist aber auch dem
Verbleib der Grundabtrennungen von dem zertrüm-
merten Anwesen daneben in entsprechender Weise Rechnung zu
tragen. Ueber diesen Verbleib gibt uns die braunschweigische
Statistik leider einen zahlenmäßigen Nachweis nicht, ebensowenig
übrigens die bayerische. Eine Ausdehnung nach dieser Richtung hin
hat man unterlassen, um die Statistik nicht über das notwendige
Maß hinaus zu erweitern und namentlich nicht die Gemeindebe-
hörden, welche das Urmaterial für dieselbe zu liefern haben, über
das dringendste Bedürfnis zu belasten, zumal gerade durch eine ge-
naue zahlenmäßige Festlegung über den Verbleib der Grundab-
trennungen bei allen Fällen eine nicht unwesentliche derartige Be-
lastung hervorgerufen sein würde. Das braunschweigische Er-
hebungsformular enthält aber eine eigene Rubrik für „Bemerkungen
und besondere Wahrnehmungen“, für welche dann ausdrücklich vor-
geschrieben ist, daß in derselben zu bemerken sei, ob und in welcher
Weise die vereinzelten Grundstücke anderen Anwesen zugelegt sind.
Die nach Maßgabe dieser Anweisung gemachten Angaben, bezüglich
462 F. W. R. Zimmermann,
deren eine Ergänzung durch weitere Nachfrage bei der Bearbeitung
der Statistik nicht stattgefunden hat, sind aber keineswegs voll-
ständige; bei einer Anzahl von Fällen fehlen sie ganz, in den übrigen
sind sie bald eingehender, bald nur ganz im allgemeinen zugefügt;
in der amtlichen Publikation ist das bezügliche Material daher nicht
weiter bearbeitet.
Aus den berührten Angaben läßt sich aber das immerhin mit
Sicherheit entnehmen, daß bei den Gutszertrümmerungen einerseits die
zerschlagene Grundfläche in einer ganz verschiedenen, eine bunte
Mischung zeigenden Weise sowohl in größeren wie in kleineren
Parzellen aufgeteilt ist, und andererseits auch die Zulegung zu bereits
bestehenden landwirtschaftlichen Anwesen, wie sie weitaus die Regel
bildet, ebenmäßig eine verschiedenartige gewesen ist und bald größere,
bald mittlere, bald kleinere Anwesen betroffen hat, wobei gegenüber
dem Verhältnis der einzelnen Größenkategorien zueinander vielleicht
die größeren und mittleren Anwesen eine etwas vorwiegendere Be-
teiligung aufzuweisen haben. Bezüglich der allgemeinen wirtschaft-
lichen Wirkung der Gutszertrümmerungen für das Herzogtum Braun-
schweig ist hiernach zunächst als ein günstiges Ergebnis zu kon-
statieren, daß die durch die Gutszertrümmerungen veranlaßte Ver-
schiebung in den Grundbesitzverhältnissen sich keineswegs einseitig
nach den Extremen, nach dem stärkeren Vortreten der Parzellen- wie
der Latifundienwirtschaft zu bewegt, sondern sich in einer mehr oder
weniger ausgleichenden mittleren Richtung, wie sie wohl als normal
anzusehen ist, hält.
Als eine grundsätzliche TAN APAT ergibt sich
dann aber aus dem betreffenden für Braunschweig nachgewiesenen
Verhältnis, welches gleichzeitig als der Regel entsprechend zu be-
trachten ist, noch weiter das Folgende, daß durch die Zulegung der
Zertrümmerungsflächen in bald größeren, bald kleineren Abschnitten
an bald größere, bald kleinere landwirtschaftliche Anwesen not-
wendig auch der Stand in den Größenkategorien des landwirtschaft-
lichen Grundbesitzes und zwar von unten nach oben, also nach
den größeren Besitzungen zu verändert werden, daß mithin dadurch
eine gewisse Anzahl von Anwesen aus der Kategorie der Anbauer-
besitzungen in die der Parzellenbesitzungen, aus den Parzellenbe-
sitzungen in die kleinen Bauernbesitzungen, aus den kleinen in die
mittleren Bauernbesitzungen und aus den mittleren in die großen
Bauernbesitzungen gehoben werden muß, womit dann die umgekehrte
Verschiebung von oben nach unten, wie sie in der Veränderung mit
den zertrümmerten Anwesen selbst enthalten und oben näher nach-
gewiesen ist, in einem mehr oder weniger ausgedehntem Maß wieder
zur Ausgleichung kommen würde.
Um nach dieser Richtung hin eine gewisse zahlenmäßige
Aufklärung zu erlangen, haben wir versucht, bei dem Mangel
eines vollen Nachweises wenigstens einen ungefähren Anhalt aus
dem braunschweigischen Material unter Zuhilfenahme von Berech-
nungen und bestimmten Annahmen zu erbringen. Wir haben zu
Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik über dieselben. 463
dem Zwecke für drei voneinander getrennt liegende Jahre —
es wurden dazu 1898, 1901 und 1905 herausgegriffen — nach
den in der Rubrik Bemerkungen gemachten brauchbaren An-
gaben die einzelnen Zertrümmerungsflächen nach ihrer Größe aus-
gezogen und entsprechend zusammengestellt; es zeigte sich dabei,
daß im Durchschnitt etwa für zwei Drittel der Zertrüämmerungs-
fälle die bezüglichen Angaben zu dem fraglichen Zweck zu ver-
werten waren.
Das Ergebnis, für die drei Jahre zusammengezogen, stellt sich
folgendermaßen: es wurden durch die Zertrümmerungen anderer
Anwesen zugelegt Grundflächen von weniger als 1 ha in 93 Fällen,
von 1—2 ha in 91 Fällen, von 2—3 ha in 68 Fällen, von 3—4 ha
in 28 Fällen, von 4—5 ha in 18 Fällen, von 5—6 ha in 15 Fällen,
von 6—7 ha in 7 Fällen, von 7—8 ha in 5 Fällen, von 8—9 ha in
2 Fällen. von 9—10 ha in 4 Fällen, von 10—15 ha in 11 Fällen,
von 15—20 ha in 2 Fällen, von 20—30 ha in 3 Fällen, von 30—40 ha
in 1 Fall und von 40—50 ha in 1 Fall. Wir sehen aus diesen
Zahlen, daß die Trennstücke bei den Zertrümmerungen sehr ver-
schiedenartige sind und noch bis zu einem verhältnismäßig großen
Flächenumfang hinaufreichen. Daß sich die Zahl der Fälle nach
oben hin, also nach den größeren Flächenabtrennungen zu, in einem
stärkeren Maße verringert, kann nur als in der Natur der Sache
liegend angesehen werden; immerhin sind aber Fälle größerer Trenn-
stücke, als welche wir hier schon solche von 10 ha an zu betrachten
haben, noch in einer an sich nennenswerten Zahl in unseren Daten
nachgewiesen.
Dadurch aber, daß in einer so großen Gesamtzahl von Fällen
von den zertrümmerten Anwesen Trennstücke ganz verschiedener
Größe anderen bestehenden Anwesen zugelegt werden, vollzieht sich
wiederum eine Verschiebung in der Grundbesitzver-
teilung, welche notwendig gleicherzeit einen mehr oder weniger
starken Einfluß auf die Verteilung der Anwesen auf die verschiedenen
Größenklassen ausgeübt haben muß, denn in zahlreichen Fällen
wird das vergrößerte Anwesen durch die Zulegung von der Zer-
trümmerung die Grenze seiner bisherigen Größenklasse überschritten
haben und in eine höhere Klasse eingerückt sein, damit den durch
die Zertrümmerungen in den betreffenden Größenklassen entstandenen
Abgang wiederum ausgleichend.
Inwieweit ein solcher Ausgleich gegenüber dem oben genau
nachgewiesenen Ausfall von Anwesen in den höheren Größenklassen,
wie er durch die Umgestaltung des zertrümmerten Anwesens be-
wirkt wird, tatsächlich stattfindet, können wir aus unserem Material
zwar nicht zahlenmäßig genau klarstellen, wir sind jedoch in der
Lage, aus den obigen Zahlen durch entsprechende Berechnungen
wenigstens einen zuverlässigen ungefähren Anhalt dafür zu geben,
einen Anhalt, der uns zeigt, daß der Ausgleich doch in einem an
sich hohen Maße stattfinden muß. Vorweg ist dazu herauszuheben,
daß nach Lage der Sache die obigen Daten sehr wohl geeignet er-
464 F. W. R. Zimmermann,
scheinen, um aus ihnen durch Berechnung ein Ergebnis für den
zehnjährigen Zeitraum festzulegen, denn in ihrem Gesamtverhältnis
weichen die zehn Jahre nicht weiter voneinander ab und für die drei
die Daten gebenden Jahre machen sich in keiner Weise Sonder-
heiten, welche die Zuverlässigkeit eines Rechnungsergebnisses für
die zehn Jahre in Frage stellen könnten, geltend.
Wie schon oben bemerkt, waren durchschnittlich für zwei Drittel
der Zertrümmerungsfälle brauchbare Angaben bezüglich des Ver-
bleibs der Zertrümmerungsflächen gemacht; um die Zahlen für die
Gesamtheit der Fälle zu gewinnen, müßten mithin unsere obigen Daten
um die Hälfte in die Höhe gesetzt werden. Aus den so erhöhten
Ziffern wäre das Ergebnis für die zehn Jahre durch eine Division
mit 3 und demnächstige Multiplikation mit 10 zu ziehen. Zur
Vereinfachung und um gleichzeitig die Möglichkeit, in unseren Be-
rechnungen auf zu hohe Zahlen zu kommen, auszuschließen, wollen
wir lediglich unsere obigen Daten mit 4 multiplizieren und solches
als das Gesamtergebnis für die zehn Jahre ansetzen; an sich würde
es dieser Rechnung entsprechen, wenn nicht nur für zwei Drittel,
sondern für drei Viertel der vorgekommenen Fälle die Angaben ge-
braucht und wenn sie nicht für drei, sondern für drei und ein
Drittel Jahr gemacht wären, so daß unsere Rechnung also nach zwei
Richtungen eine Herabsetzung bedeutet, die als solche nicht uner-
heblich betrachtet werden kann. Wir werden dann aber zugleich
für die weitere Betrachtung unsere obigen Daten nach den Größen
für die sonst ausgeschiedenen Grundbesitzklassen zusammenziehen.
Nach der bezüglichen Multiplikation stellt sich für die zehn Jahre
die Gesamtzahl der Trennstückzulegungen in folgender
Weise: die Zulegungen umfaßten eine Fläche von weniger als 2 ha
in 736 Fällen, von 2—5 ha in 456 Fällen, von 5—20 ha in 184 Fällen
und von 20—50 ha in 20 Fällen.
Ebenso wie die durch die Zertrüämmerung geschaffenen Trenn-
stücke nach dem Vorstehenden eine bunte Verschiedenheit bezüg-
lich ihrer Größe zeigen, ebenso trifft aber auch ihre Vereinigung
mit bestehenden Anwesen nicht nur eine oder einzelne Größenklassen
der letzteren, sondern alle Klassen von Besitzungen, wie wir schon
oben bemerkt haben. Die Angaben dieser Vereinigung, inwieweit
bezüglich derselben Parzellenbesitzungen, kleine, mittlere, große
Bauernbesitzungen oder Großgrundbesitz in Frage kommen, sind in
unserem Materiale noch weit unzulänglichere, wie die über die Größe
der Trennstücke. Mit einiger Sicherheit läßt sich als allgemeines
Ergebnis aber wenigstens das hinstellen, daß die Zulegung der
Trennstücke alle Größenklassen der Grundbesitzungen trifft, daß
dieses aber nicht in dem Verhältnis, in dem die Größenklassen nach
der Zahl der in ihnen vorhandenen Besitzungen zueinander stehen,
geschieht, sondern daß die höheren Größenklassen nicht unerheblich
über dieses Verhältnis hinaus, namentlich die bäuerlichen Besitzungen
gegenüber den die überwiegende Masse repräsentierenden Parzellen-
und Anbauerbesitzungen, an den Zulegungen beteiligt sind, und
Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik über dieselben. 465
endlich, daß die Trennstücke von einem größeren Flächengehalt vor-
wiegender mit den größeren Grundbesitzungen vereinigt worden
sind, wofür ja in der größeren Leistungsfähigkeit und Kapitalkraft,
welche mit diesen verbunden ist, ohne weiteres der natürliche
Grund zu finden ist.
Wir haben sodann auch noch einen Versuch gemacht, hierfür aus
dem Material einen ungefähren zahlenmäßigen Anhalt zu gewinnen
und dazu die Zählpapiere von 1905 gewählt. Nur in einer verhältnis-
mäßig kleinen Zahl (14) derselben waren Angaben von der not-
dürftigsten Bestimmtheit vorhanden und verteilten sich danach die
Zulegungen ungefähr zu ®/,, auf Parzellen- und Anbauerbesitzungen,
zu ?/,, auf kleine Bauernbesitzungen, zu 3/,, auf mittlere Bauern-
besitzungen, zu ?/,, auf große Bauernbesitzungen niederer Art und
zu %,, auf große Bauernbesitzungen höherer Art und Großgrund-
besitz, welche letzteren beiden nicht zu trennen waren. Es muß aber
besonders noch befürwortet werden, daß dieser Maßstab nur als einen
ganz ungefähren Anhalt bietend angesehen und, dementsprechend
benutzt werden kann.
Nunmehr wollen wir wiederum zu den oben berechneten Daten
über die zertrümmerten Flächen nach ihrer Größe zurück-
kehren. Dieselben zeigten uns zunächst, daß in 736 Fällen Trenn-
stücke von einer Fläche bis zu 2 ha durch die Gutszer-
trümmerungen geschaffen waren. Nach Maßgabe des vorberührten
ungefähren Verteilungsverhältnisses und unter Berücksichtigung des
Umstandes, daß an den kleineren Trennstückeu auch die kleineren
Besitzungen vorherrschender beteiligt sind, wird man annehmen
dürfen, daß in mehr als der Hälfte, sagen wir rund in 400 Fällen,
eine Vereinigung der Trennstücke mit Parzellen- und Anbauerbe-
sitzungen stattgefunden hat. Es ist nach Lage der Sache wahr-
scheinlich, daß in weitaus der Mehrzahl dieser Fälle — das Entgegen-
gesetzte mag vielleicht nur eine Ausnahme bilden — hier zum
mindesten Parzellenbesitzungen geschaffen bezw. aus den Anbauer-
wesen sich herausgebildet haben, was an sich stets einen Fortschritt
zu den leistungsfähigeren landwirtschaftlichen Anwesen und zweifellos
einen wirtschaftlichen Vorteil bedeuten muß.
Es verteilen sich aber, wie die oben zunächst gegebenen
spezielleren Daten ersehen lassen, die Trennstücke dieser Größen-
klasse in fast gleichen Hälften auf solche mit weniger und mit
mehr als 1 ha Fläche; nimmt man des weiteren an, daß gegen die
Hälfte oder ein Drittel der Parzellenbesitzungen, mit denen eine Ver-
einigung stattgefunden hat, bereits mit einer Fläche von mindestens
einem Hektar ausgestattet ist, so muß für diese Anwesen durch die
Zulegung des Trennstückes aus der Zertrümmerung immerhin schon
ein Aufrücken in die nächsthöhere Klasse, die der kleinen Bauern-
besitzungen, bewirkt werden. Die Zahl der Fälle, in denen ein
solches eingetreten, läßt sich natürlich nur ganz oberflächlich schätzen,
wir glauben aber unter keinen Umständen zu hoch zu greifen, wenn
wir dieselben auf etwa 50 veranschlagen. Da sich nun aber der
Dritte Folge Bd. XXXI (LXXXVIII). 30
466 F. W. R. Zimmermann,
Verlust, der durch die anderweite Größencharakterisierung der zer-
trümmerten Anwesen selbst herbeigeführt wird, in dieser Größen-
klasse nach unseren obigen Feststellungen nur auf 17 beläuft, so
wird derselbe schon hier durch die Zulegungen weit mehr als aus-
geglichen und wir werden bereits jetzt konstatieren können, daß
auch die kleinen Bauernbesitzungen infolge der Gutszertrümmerungen
tatsächlich eine Vermehrung und nicht etwa einen Rückgang, wie
zunächst anzunehmen war, erfahren haben. In den übrigen Fällen
der Zulegung zu Anbauer- und Parzellenbesitzungen wird aber
durchweg die Leistungsfähigkeit der erweiterten Anwesen erhöht
und insofern gleicherweise ein wirtschaftlicher Vorteil erzielt. Die
noch verbleibenden 336 Fälle der Zulegungen von Trennstücken bis
zu 2 ha zu den größeren Besitzungen möchten wir, unter Anwendung
der gleichen Grundsätze wie oben, etwa mit 100 auf die kleinen, mit
116 auf die mittleren und mit 120 auf die großen (je 60 auf jede
der beiden Arten) Bauernbesitzungen verteilen. Die Zulegung
einer weniger als 2 ha haltenden Fläche, obwohl sie stets von einem
gewissen wirtschaftlichen Vorteil für das betreffende Grundstück be-
gleitet sein wird, kann bei. den großen Besitzungen im Verhältnis
keine so erhebliche Bedeutung wie bei den kleineren haben und
muß diese Bedeutung mit der Größe der Besitzungen nach oben zu
sich immer mehr verringern. Daß durch die Zulegung ein Grund-
besitz in die nächsthöhere Größenklasse gerückt wird, kann hier nur
in geringerem Maße stattfinden, da nur die schon an sich der oberen
Grenze nahestehenden Besitzungen überhaupt in Frage kommen.
Nennenswerter wird die Verschiebung höchstens von den kleinen zu
den mittleren Bauernbesitzungen sich zeigen, weil bei den kleinen
Bauernbesitzungen die untere und die obere Grenze schon so wie
so näher aneinander liegen ; bei äußerst vorsichtiger Schätzung werden
wir darauf vielleicht ein Fünftel der 100 Fälle, also 20 in Ansatz
bringen dürfen, so daß wir also eine Vermehrung der mittleren
Bauernbesitzungen um 20 hier haben würden. Für die übrigen
Größenklassen wollen wir von einer bezüglichen zahlenmäßigen Ver-
anschlagung mit Rücksicht auf die Geringfügigkeit und die Unsicher-
heit der Schätzung überhaupt absehen.
Zweitens würden wir dann die 456 Fälle, bei denen die
Trennstücke eine Fläche zwischen 2 und 5 ha umfassen,
entsprechend nach ihrer Wirkung zu zergliedern haben. Hier wird
man die höheren Klassen schon stärker zu bedenken haben; mit
Rücksicht darauf scheint uns folgende Verteilung etwa angemessen
zu sein: 106 Parzellenbesitzungen, 80 kleine Bauernbesitzungen,
110 mittlere Bauernbesitzungen und je 80 große Bauernbesitzungen
in jeder der beiden Arten. Es handelt sich hier um Trennstücke
von 2—5 ha, also um Größenflächen, wie sie an sich schon den
Grund und Boden einer kleinen Bauernbesitzung ausmachen. Dem-
gemäß müssen alle Parzellenbesitzungen, welche von den fraglichen
Zulegungen betroffen werden, zum mindesten in die Kategorie der
kleinen Bauernbesitzungen einrücken; es wird sogar vorkommen
Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik über dieselben. 467
können, daß einzelne derselben sich auch gleich bis zu den mittleren
Bauernbesitzungen erheben, doch wollen wir diesen Umstand als
weniger bedeutend und zahlenmäßig mit irgend Zuverlässigkeit
nicht zu schätzen außer Betracht lassen. Wir würden demnach für
rund 100 Fälle einen Zugang zu den kleinen Bauernbesitzungen
anzunehmen haben. Von den kleinen Bauernbesitzungen, die hier
für SO Fälle in Frage stehen, würde nach Lage der Sache die große
Mehrheit durch eine Erweiterung um 2—5 ha in die nächsthöhere
Klasse der mittleren Bauernbesitzungen versetzt; wir werden wohl
kaum zu weit gehen, wenn wir solches für 70 Fälle veranschlagen.
Ganz wesentlich kleiner wird bei der nunmehr eintretenden weiteren
Begrenzung der Teil der mittleren Bauernbesitzungen sein, der
durch die bezügliche Zulegung in die höhere Kategorie der großen
Bauernbesitzungen gerückt wird; von den 110 bezüglichen Fällen
dürften vielleicht nur 30 dahin schlagen. Noch weit geringer wird
sich der Uebergang von einer großen Bauernbesitzung niederer Art
zu einer solchen höherer Art infolge einer Grundbesitzerweiterung
von 2—5 ha stellen, so daß wir eine zahlenmäßige Veranschlagung
hierfür unterlassen zu sollen glauben. Nach Ausgleichung der Ab-
und Zugänge in der gleichen Kategorie würden die Zulegungen der
Trennstücke von 2—5 ha zum mindesten eine Zunahme der kleinen
Bauernbesitzungen um 30, der mittleren Bauernbesitzungen um 40
und der großen Bauernbesitzungen um 30 bewirken.
Nunmehr haben wir nach den gleichen Grundsätzen wie bisher
die 138 Fälle mit Trennstücken von 5—20 ha Fläche auf die
einzelnen Größenklassen zu verteilen und wird dieses am sachge-
mäßesten geschehen, wenn wir 20 Fälle den Parzellenbesitzungen,
24 Fälle den kleinen Bauernbesitzungen, 30 Fälle den mittleren,
30 Fälle den großen niederer Art und 34 Fälle den großen höherer
Art zurechnen. Da hier ein Grundbesitz, wie er die mittlere
Bauernbesitzung charakterisiert, in Frage steht, so müssen wieder-
um die Parzellenbesitzungen und die kleinen Bauernbesitzungen
durch die betreffenden Zulegungen mindestens zu mittleren Bauern-
besitzungen werden; ein Teil geht auch wohl noch darüber hinaus,
doch wollen wir dieses als nicht schätzbar außer Betracht lassen;
wir haben für die mittleren Bauernbesitzungen aber einen Zugang
von rund 40 zu konstatieren. Bei den 30 Fällen, in denen den
mittleren Bauernbesitzungen eine Fläche von 5—20 ha zugelegt wird,
wird dann zum Teil ein Aufrücken zu dem großen Bauernbesitz
niederer Art stattfinden, wir werden diesen Teil zum wenigsten wohl
auf ein Drittel veranschlagen dürfen, so daß also durch die Zulegung
von Trennstücken zertrümmerter Höfe 10 mittlere Bauernbesitzungen
in große umgewandelt würden. Ebenmäßig ist anzunehmen, daß
durch Zulegung in der fraglichen Höhe einzelne große Bauernbe-
Sitzungen mittlerer Art in solche höherer Art umgestaltet werden;
von den 30 Fällen würde nach Lage der Sache doch nach dieser
Richtung hin nur eine verhältnismäßig geringere Anzahl in Betracht
30*
468 F. W. R. Zimmermann,
zu ziehen sein und wollen wir deshalb von einer zahlenmäßigen
Veranschlagung wiederum absehen.
Diejenigen Fälle, in denen die vom zertrümmerten Grundstücke
zugelegte Grundfläche die den großen Bauernbesitz niederer Art
charakterisierende Größe von 20—50 ha erreicht, sind an sich
nur von der geringen Zahl 15. Die Zulegung wird der Mehrzahl
nach schon die großen Bauernbesitzungen getroffen haben und wird
dadurch zum Teil ein Aufrücken von großen Bauernbesitzungen
niederer Art zu solchen höherer Art veranlaßt sein, ja es ist immer-
hin auch mit der Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit zu rechnen,
daß die eine oder die andere große Bauernbesitzung sich vermöge
der Zulegung in die Kategorie des Großgrundbesitzes emporge-
schwungen hat, und daß damit der Wegfall durch Zertrümmerung
bezüglich des Großgrundbesitzes nicht nur zur Ausgleichung gelangt
wäre, sondern möglicherweise sogar eine Zunahme des Großgrund-
besitzes, obwohl nur eine ganz geringfügige, stattgefunden hätte.
Wo das Trennstück von 20—50 ha mit einem Anwesen unter der
Kategorie des großen Bauernbesitzes vereinigt worden ist, hat stets
ein großer Bauernbesitz neu entstehen müssen. Die Zahl der Fälle
ist hier aber überall für eine zahlenmäßige Veranschlagung zu
niedrig.
Ziehen wir nun lediglich die zahlenmäßigen Veranschla-
gungen, welche wir im Vorstehenden gemacht haben, in eins
unter entsprechender Ausgleichung des Ab- und Zugangs in der-
selben Grundbesitzkategorie zusammen, so ergibt sich für die kleinen
Bauernbesitzungen ein Zugang von 40, für die mittleren ein solcher
von 90 und für die großen ein solcher von 40. Da wir nun aber
in einer ganzen Reihe von Fällen eine zahlenmäßige Veranschlagung
mit Rücksicht auf die geringfügige Zahl im einzelnen unterlassen
haben, diese Fälle zusammengenommen nicht ohne eine gewisse und
in der Gesamtheit zu beachtende Wirkung sein würden, so werden
wir aus diesem Grunde noch einen namentlich in den höheren
Klassen sich verstärkenden Zuschlag zu obigen Zahlen machen
können oder, streng genommen, sogar machen müssen. Ohne von
dem stets beobachteten Prinzip einer tunlichst niedrigen Veranschla-
gung abzuweichen, werden wir den Zugang bei den kleinen Bauern-
besitzungen auf 50, bei den mittleren auf 110, bei den großen
Bauernbesitzungen niederer Art auf 50 und bei den großen Bauern-
besitzungen höherer Art auf 10 setzen können. Der Rückgang,
welchen wir in den zertrümmerten Anwesen selbst durch die
Zertrümmerung zu verzeichnen hatten, belief sich bei den einzelnen
Kategorien auf 17, bezw. 153, bezw. 73, bezw. 19. Demgemäß würde
durch die Zulegungen der anfangs zu konstatierende Rückgang in
den kleinen Bauernbesitzungen sich in eine Zunahme derselben um-
gestalten, der Rückgang der mittleren Bauernwirtschaften sich auf
rund 40, der der großen Bauernwirtschaften niederer Art auf rund
20 und der der großen Bauernwirtschaften höherer Art auf rund 10
vermindern.
Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik über dieselben. 469
Die ganze Verschiebung in der Verteilung des Grundbesitzes
auf die einzelnen Größenklassen, welche durch die Gutszertrümme-
rungen im Herzogtum Braunschweig in den zehn Jahren herbeige-
führt ist, reduziert sich also auf eine an und für sich und im Ver-
hältnis nur geringfügige Verminderung der mittleren und der großen
Bauernwirtschaften zu Gunsten des kleinen Bauern-, des Parzellen-
und des Anbauerbesitzes und eventuell nach unseren obigen Aus-
führungen auch etwas, aber ganz gering, zu Gunsten des Großgrund-
besitzes.. Eine Verminderung um 40 oder 30 Anwesen im Laufe
von zehn Jahren kann an sich nicht als erheblich erachtet werden,
sie kann aber noch weniger im Verhältnis so eingeschätzt werden,
wenn man berücksichtigt, daß durch die Berufs- und land-
wirtschaftliche Betriebszählung von 1895 für das Herzogtum Braun-
schweig 6122 landwirtschaftliche Betriebe mit 5—20 ha und 2256
mit 20—100 ha Grundfläche festgestellt worden sind. Außerdem
ist dabei endlich noch zu beachten, daß wir bei allen unseren
Veranschlagungen uns stets immer streng an der untersten Grenze
gehalten und damit soweit als irgend möglich auf das Erscheinen
einer Verminderung in den Daten hingewirkt haben. Es ist daher
nicht nur möglich, sondern eher vielleicht wiederum sogar wahr-
scheinlich, daß tatsächlich die Verschiebung und die Verminderung
der beiden Grundbesitzkategorien sich noch geringfügiger ge-
staltet hat.
Als das allgemeine Ergebnis unserer vorhergehenden Be-
trachtungen und Veranschlagungen werden wir es danach hinstellen
können, daß vermöge der Zulegung der durch die Gutszertrümme-
rungen abgetrennten Grundflächen zu anderen bereits bestehenden
Anwesen die Verschiebung in der Verteilung des Grundbesitzes auf
die einzelnen Größenklassen der Besitzungen, welche durch die Zer-
trümmerungen insgesamt hervorgerufen wurde, nach der Braunschweigi-
schen Statistik nur eine unbedeutende gewesen ist und keinen
Wechsel zum Nachteil bedeuten kann. Das Verhältnis, wie wir es
für Braunschweig nachgewiesen haben, beruht aber keineswegs auf
irgend besonderen Erscheinungen oder auf eigenartigen, nur für
Braunschweig gegebenen Umständen. Es stellt sich vielmehr nach
unseren ganzen Ausführungen lediglich als ein durch die Natur der
Sache und den normalen Zustand bedingtes dar. Es würde voraus-
sichtlich sich auch in einer ganz ähnlichen Weise für das König-
reich Bayern gezeigt haben, wenn dort durch die Statistik die näheren
Nachweise erbracht wären, was leider nicht geschehen ; irgendwelche
anormale Zustände wurden aber auch für Bayern nicht geltend gemacht.
Auf Grund der unter normaler Sachlage für Braunschweig erfolgten
Nachweise ist ebenmäßig für die Gutszertrümmerungen als solche
anzunehmen, daß die Einwirkung derselben auf die Grundbesitzver-
teilung nach Größenklassen im allgemeinen und für gewöhnlich
keine besonders erhebliche Bedeutung erlangt, und daß es folgeweise
unrichtig ist, wenn man mit dem Begriff der Gutszertrümmerung
ohne weiteres eine derartige Einwirkung von größerem Umfang oder
470 F. W. R. Zimmermann,
wohl gar eine Einwirkung in ungünstiger Weise verbindet und in
derselben eine Verschiebung in ungesunder oder krankhafter Rich-
tung finden zu müssen glaubt.
8. Grund der Gutszertrümmerung. Ein weiteres Mo-
ment, das einer sachgemäßen Würdigung nach den tatsächlichen
Verhältnissen des einzelnen Falles dringend bedarf, solcher aber
keineswegs von der Allgemeinheit in einem genügendem Maße zu
teil wird, liegt in dem Grund der Gutszertrümmerung.
Dieser Grund der Zertrümmerung kann ein doppelter sein, nämlich
einmal ein sozusagen sachlicher, d. h. ein in dem zur Zertrümme-
rung gelangenden Grundbesitz selbst belegener, und ferner ein
persönlicher, d. h. ein durch die besonderen Verhältnisse des letzten
Bewirtschafters und Eigentümers des Anwesens begründeter. Der
erste als sachlicher bezeichnete Grund wird immer nur eine ziem-
lich vereinzelte Ausnahme bilden, denn daß ein landwirtschaftliches
Anwesen in sich selbst schon die Ursachen für eine Zertrümmerung
trägt, muß stets durch ganz besondere Umstände bedingt sein und
wird daher nur verhältnismäßig selten überhaupt vorkommen können.
Wir wollen deshalb diese Art des Zertrümmerungsgrundes hier ganz
außer Betracht lassen und heben bezüglich derselben nur das eine
heraus, daß bei dem Vorhandensein eines solchen Grundes die Zer-
trümmerung selbst stets einen wirtschaftlichen Vorteil bedeuten muß,
weil durch die Zertrümmerung erst die Möglichkeit gegeben ist, die
Grundflächen des betreffenden Anwesens bezw. dieses selbst in einer
dem inneren Gehalt entsprechenden Weise zu behandeln und aus-
zunutzen.
Was dann aber die zweite Kategorie des Zertrümmerungsgrundes
oder die Fälle, in denen die Zertrümmerung lediglich durch die
persönlichen Verhältnisse des letzten wirtschaftenden Eigen-
tümers veranlaßt ist, anlangt, so zeigt sich hierin eine gewisse
reichere Mannigfaltigkeit. Obwohl die letztere als in der Natur der
Sache liegend angesehen werden dürfte, verallgemeinert man doch im
gewöhnlichen Leben diesen Grund insofern, als man in oder neben
demselben durchweg eine mehr oder weniger ungerechtfertigte Be-
einflussung oder auch Ausnutzung der wirtschaftlichen Lage des
Besitzers des zertrümmerten Anwesens sehen zu müssen glaubt und
dadurch den Grund regelmäßig als einen verwerflichen und wirt-
schaftlich nachteiligen verurteilt. Auch hierin geht man wiederum
falsch, wie eine nähere Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse
unschwer erkennen lassen wird. Wir wollen zu einer solchen wieder
die Ergebnisse der braunschweigischen Statistik benutzen.
In den Zählpapieren der letzteren sollte wie bezüglich des
Verbleibs und der Art der Trennstücke so auch bezüglich des
Grundes der Zertrümmerung tunlichst eine Angabe in der Rubrik
Bemerkungen gemacht werden. Diese Angaben erwiesen sich je-
doch als zu unvollständig und ungenügend, um in der amtlichen Ver-
arbeitung zu einem zahlenmäßigen Ergebnis verwertet zu werden.
Für unseren Zweck müssen die Angaben aber als vollkommen ge-
Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik über dieselben. 471
nügend angesehen werden, denn für diesen wird es eines ganz ge-
nauen zahlenmäßigen Nachweises mit Erfassung aller einzelnen Fälle
nicht bedürfen; es erscheint vielmehr hier die Erreichung eines ge-
wissen und im allgemeinen zuverlässigen Anhalts wie bei dem Ver-
bleib der Trennstücke vollkommen ausreichend. Wir haben deshalb
für 3 Jahre (1899, 1902, 1904) die Angaben über den Grund der
Zerträmmerung ausgezogen und entsprechend verarbeitet und sind
damit zu einem durchaus befriedigenden Ergebnis gelangt. In
24 Fällen oder 22,0 Proz. der insgesamt in Betracht kommenden
109 Fälle waren keine oder unbrauchbare Angaben gemacht; es
verblieben danach immer mehr als drei Viertel der Gesamtfälle
mit zulänglichen Angaben und diese auch an sich noch nennens-
werte Anzahl muß als vollständig ausreichend angesehen werden,
um für unsere Zwecke den gewünschten Anhalt mit der nötigen
Sicherheit zu bieten. Nach den fraglichen Angaben sind sechs
Kategorien von Zertrümmerungsgründen auszuscheiden.
Der Zahl nach obenan steht unter diesen nun allerdings die
Verschuldung mit 34 Fällen oder 31,2 Proz. der Gesamtheit,
also gerade diejenige Kategorie, bei welcher die oben angeführten
Bedenken in erster Linie und vielleicht allein als zutreffend und ge-
rechtfertigt anerkannt werden können. Nun wird man aber keines-
wegs sagen dürfen, daß in jedem Falle, in welchem eine Guts-
zertrümmerung durch Verschuldung des letzten wirtschaftenden
Eigentümers herbeigeführt ist, irgendwelche besondere unlautere
oder doch zum mindesten nahe an das Unlautere grenzende Mani-
pulationen, wie wir sie näher bei der gewerbsmäßigen Gutszertrümme-
rung zu berühren haben werden, zu Ungunsten des letzten Eigentümers
stattgefundden haben oder stattgefunden haben müssen, ebensowenig wie
man solches bei jeder anderen Veräußerung, die durch Verschuldung
des Eigentümers herbeigeführt worden ist, wird sagen können. Die-
jenigen Fälle, in welchen eine Verschuldung des Grundeigentümers
durch die besondere Tätigkeit eines Dritten gefördert und in zweifel-
hafter Weise ausgebeutet ist, sind doch der Hauptsache nach nur
als Ausnahmen zu betrachten und man wird diese Ausnahmefälle
unter keinen Umständen verallgemeineren dürfen. Hierfür ist be-
züglich der Gutszertrümmerungen ebensowenig ein Anhalt wie be-
züglich der sonstigen Veräußerungen von Grundeigentum gegeben,
denn eine Verschuldung kann in beiden Fällen übereinstimmend
auch auf ganz normale Weise und ohne irgend eine bedenkliche Ein-
Wirkung eines Dritten herbeigeführt sein, wie durch zu starke Ab-
findungsbelastung des Hofes, zu geringes Betriebskapital, rasch auf-
einanderfolgende Fehlernten, besondere Unglücksfälle ete.
Es wird aber bezüglich der Gutszertrümmerungen sogar in
doppelter Richtung verallgemeinert, indem man einmal Vorkomm-
Risse, welche möglicherweise bei einem Teil der Zertrümmerungen
infolge Verschuldung stattfinden können, nicht nur auf alle Ver-
schu dungszertrümmerungen, sondern sogar auf alle Zertrümmerungs-
fille überhaupt überträgt und solche dadurch in ein bedenkliches
472 F. W. R. Zimmermann,
Licht stellt. Die Ungerechtfertigtkeit eines solchen Verfahrens liegt
aber um so mehr auf der Hand, als nach Ausweis der braun-
schweigischen Statistik die Verschuldung als solche überhaupt nicht
einmal ganz für ! der sämtlichen Gutszertrümmerungen den Zer-
trümmerungsgrund abgibt, man also von einem kleineren Teil, einem
Drittel der Gesamtfälle, einen willkürlich erweiternden Rückschluß
auf die Gesamtheit machen würde.
Nicht mit zur Verschuldung haben wir diejenigen Fälle ge-
rechnet, in denen lediglich „große Belastung“ als Ursache der
Gutszertrümmerung angegeben war; es sind dieses 7 Fälle oder
6,4 Proz. sämtlicher Fälle (stets einschließlich der ohne bezügliche
Angaben berechnet). Die Fälle stehen der Verschuldung nahe und
können in gewisser Beziehung wohl als eine Vorstufe derselben an-
gesehen werden; noch ehe es zu einer eigentlichen Verschuldung
gelangt, erkennt hier der Eigentümer, daß er unter den jeweiligen
Zeitverhältnissen das landwirtschaftliche Anwesen bei der auf dem-
selben ruhenden Belastung nicht mit Erfolg wird bewirtschaften
können, und er veräußert dasselbe, um der Verschuldung zu ent-
gehen. Eine Gutszertrümmerung, welche auf einer solchen Ursache
beruht, kann an und für sich und nur als solche irgend bedenkliche
oder unreine Momente nicht zeitigen, sondern muß wie jeder Ver-
kauf als solcher lediglich indifferent erscheinen. Das Vorurteil gegen
die Gutszertrümmerungen überhaupt wird sich auf den aus diesem
Grund erfolgenden nicht begründen lassen.
Nächst der Verschuldung kommt am meisten — in 18 Fällen
oder 16,5 Proz. der Gesamtheit — als Ursache der Gutszertrüm-
merung der Todesfall des bewirtschaftenden Eigen-
tümers vor, dem wir dann gleich diejenigen Fälle — es sind 5
oder 4,6 Proz. der Gesamtheit — anschließen wollen, in denen
Krankheit des Eigentümers oder hohes Alter, eventuell
auch bei Kinderlosigkeit, die Zertrümmerungsursache bildet. Es sind
auch dieses durchaus normale Gründe für eine Gutszertrümmerung,
welche in keiner Weise irgend welche zweifelhafte Nebenumstände
bedingen. Eine Berechtigung zu ungünstiger Beurteilung der Guts-
zertrümmerungen kann, wie wohl auf der Hand liegt und nicht näher
zu begründen sein wird, aus diesen Fällen nicht abgeleitet werden.
Der Zahl nach die dritte Stelle nehmen dann die 16 Gutszer-
trümmerungen — 14,7 Proz. der Gesamtheit — ein, bei denen ein
anderweitiger Wohnort bezw. die Verlegungdes Wohn-
ortes des Eigentümers von dem Ort des Anwesens fort, sei
es, daß solche durch Ausheiratung, Verziehen oder anderswie er-
folgt, den Zertrümmerungsgrund abgibt, woneben endlich der Rest
— 5 Fälle oder 4,6 Proz. der Gesamtheit — als Sonstige Gründe
zusammenzufassen ist und Ursachen wie Unfähigkeit zur Bewirt-
schaftung, Abneigung dagegen, Ausgleich zwischen mehreren Kindern
und dergleichen enthält. Mit diesen Fällen verhält es sich ganz wie
mit den zuletzt erörterten, sie bieten an sich ebenso wenig wie jeder
Verkauf eine Handhabe dafür, daß in ihnen Zweifelhaftes oder Be-
Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik über dieselben. 473
denkliches gegeben sei, sondern stellen sich als etwas durchaus
Normales dar; auch hier kann daher von einem tatsächlichen Anhalt
für eine prinzipiell ungünstige Beurteilung der Gutszertrümmerungen
nicht die Rede sein.
Wenn wir aus diesen Feststellungen über die Ursachen der
Zertrümmerungen ein Gesamtergebnis ziehen, so kann dieses
nur dahin gehen, daß die Zahl der Fälle, in denen aus der Ursache
der Zertrümmerung überhaupt auf ein Vorhandensein unlauterer, das
bestehende Vorurteil gegen die Gutszertrümmerungen tatsächlich
begründender Momente geschlossen werden kann, gegenüber der
Gesamtzahl der Zertrümmerungen doch nur eine verhältnismäßig
recht geringe ist, wobei aber ferner noch als weiter einschränkend
zu berücksichtigen ist, daß tatsächlich die fraglichen Momente nur
wiederum in einem Teil jener Fälle vorhanden zu sein brauchen und
vorhanden sein werden. Allen diesen von uns nachgewiesenen Ur-
sachen ist aber wieder das gemeinsam, daß sie als solche und an
und für sich nicht unmittelbar auf die Gutszertrümmerungen hin-
führen, daß dem in ihnen gegebenen Bedürfnis nicht ausschließlich
durch solche Zertrümmerung genügt werden kann, daß sie sozu-
sagen nicht schon ein Charakteristikum der Gutszertrümmerungen
bilden und in steter enger Vereinigung mit diesen stehen. Die
Ursachen als solche lassen vielmehr lediglich eine Veräußerung des
zu ihnen in Bezug stehenden Grundstückes erforderlich erscheinen
und drängen auf eine solche hin. Wie sich diese Veräußerung voll-
zieht, würde an sich indifferent sein, sie könnte, um dem vorhandenen
Bedürfnis zu genügen, ebenso wohl durch einen Verkauf des An-
wesens im ganzen wie durch Verkauf unter Zerteilung erfolgen.
Nun ist aber den fraglichen Ursachen, wie sie hier auftreten,
regelmäßig noch das charakteristisch, daß sie mit einer gewissen
Plötzlichkeit akut werden und dementsprechend dringender eine
plötzliche Veräußerung bedingen. Bei einem landwirtschaft-
lichen Anwesen läßt sich aber eine plötzliche Veräußerung, ein Ver-
kauf unmittelbar im gegebenen Augenblick, häufig nur mit Schwierig-
keiten durchführen, da geeignete und leistungsfähige Käufer nicht
sogleich vorhanden zu sein pflegen; es wird in solchen Fällen nament-
lich schwer halten, aus der Veräußerung ein Entgelt, welches dem
wirklichen Wert des Anwesens voll oder auch nur annähernd ent-
sprechen würde, zu ziehen. Unter den gegebenen Umständen kann
sich allerdings die Gutszertrümmerung vorwiegender als die vor-
teilhafteste und deshalb für die fraglichen Fälle geeignetste Art der
Veräußerung erweisen. Vielfach wird nur durch sie sofort ein an-
gemessener Preis aus dem Verkauf des Anwesens zu erzielen sein,
da für einen sofortigen Verkauf kleinerer, auf das jeweilig vorhandene
Bedürfnis stets besonders zuzuschneidender Parzellen durchweg eine
regere und größere Nachfrage bei gleichzeitiger Kaufkraft vorhanden
sein wird und außerdem ein Bedürfnis gerade nach kleineren und
kleinsten Grundstücksabschnitten bei wachsender Bevölkerung und
zunehmender Industrie auf dem Lande in hervorragender Weise sich
474 F. W. R. Zimmermann,
geltend machen muß, dem so entgegengekommen wird. Die Guts-
zertrümmerung wird für die bestimmt gearteten Fälle lediglich des-
halb gewählt, weil sie den meisten Vorteil bringt. Irgend ein wirt-
schaftliches Bedenken kann gegen diese Anwendung als solche nicht
geltend gemacht werden, im Gegenteil, dieselbe muß sich insofern
noch als ein wirtschaftlicher Vorteil darstellen, als bei dem sofort
notwendigen Verkauf lediglich durch dieses Mittel ein dem Wert des
Anwesens wirklich entsprechendes Aequivalent und damit ein wirt-
schaftlich gerechter Ausgleich zu erzielen ist.
9. Gewerbsmäßige Gutszertrümmerung. Schließlich
haben wir als eines auf die allgemeine ungünstige Beurteilung der
Gutszertrümmerungen einwirkenden Momentes noch des Umstandes
zu gedenken, daß die Gutszertrümmerungen auch gewerbsmäßig
betrieben werden können und betrieben werden. Wir hatten im
Vorstehenden schon angedeutet, wie gerade die gewerbsmäßigen Guts-
zerirümmerungen gewisse bedenkliche und unlautere Erscheinungen,
die wiederum ein Vorurteil gegen solche sehr wohl begründen
könnten, zu zeitigen im stande seien, während solches in einem
gleichen Maße bei den sonstigen Gutszertrümmerungen nicht der Fall
sein würde. Es läßt sich auch nicht verkennen, daß der gewerbs-
mäßige Betrieb der Gutszertrümmerung sehr leicht zu ungesunden
und auch unrechtlichen Auswüchsen führen kann, denen unter Um-
ständen entgegenzutreten und durch besondere Vorschriften ent-
gegenzuwirken der Staat als verpflichtet anzusehen sein wird. Speziell
wird bei der gewerbsmäßigen Gutszertrümmerung auch dasjenige
zur Geltung kommen, was dazu geführt hat, die Gutszertrümmerung
mit dem Landwucher zu identifizieren oder als solchen zu be-
zeichnen.
Um einen möglichst hohen Gewinn aus seinem Geschäftsbetriebe
zu erzielen, muß der gewerbsmäßige Gutszertrümmerer einerseits
das zu zertrümmernde Anwesen möglichst billig zu erwerben und
andererseits die einzelnen Trennstücke, welche er aus demselben
macht, zu möglichst hohem Preise zu verwerten suchen. Hiergegen
würde sich an und für sich wohl kaum etwas einwenden lassen, denn
die Möglichkeit zu billigem Einkauf und teurem Verkauf wird jeder
Geschäftsmann in weitgehendster Weise auszunutzen bestrebt sein.
Bei dem Ankauf von Grundbesitz ist es aber leicht gegeben, daß
der gewerbsmäßige Käufer die für den Eigentümer mehr oder
weniger dringend bestehende Zwangslage zum Verkauf, wie sie ja
nach unseren vorigen Ausführungen bei den Gutszertrümmerungen
häufiger in Erscheinung zu treten pflegt, in einem über das Bil-
lige und Angemessene hinausgehenden Grade ausbeutet, zumal hier
die Konkurrenz und die Nachfrage nur in einem ganz geringen
Maße einen Ausgleich zu bieten vermag. Dem außerordentlich
großen und ohne inneren Grund erzielten Gewinn des gewerbsmäßigen
Käufers steht ein entsprechend hoher Verlust des früheren Eigen-
tümers gegenüber, wie er im allgemeinen als wirtschaftlich günstig
speziell bei Berücksichtigung der weiteren Begleiterscheinungen nicht
angesehen werden kann.
Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik über dieselben. 475
Dazu kommt nämlich, daß der gewerbsmäßige Gutszertrümmerer
behufs Beschaffung eines tauglichen Objektes für seinen gewerblichen
Betrieb unter Umständen auch die Zwangslage des Eigentümers,
welche den letzteren zu einem Verkauf seines Anwesens um jeden
Preis drängen muß, herbeizuführen oder zu fördern bestrebt ist und
dazu Mittel anwendet, welche nach den Gesetzen der Moral zweifel-
los nicht zu den rechtlichen zu zählen sind, obwohl das Recht selbst
meist nur schwer eine Handhabe dagegen bietet. Namentlich ist es
die Verschuldung des landwirtschaftlichen Eigentümers, die hier als
Uebergang zur Gutszertrüämmerung dienen muß. Ist ein Eigentümer
in eine gewisse finanzielle Bedrängnis geraten, so wird ihm von
dem gewerbsmäßigen Gutszertrümmerer bereitwilligst helfend beige-
sprungen und Geld unter harmlos und günstig erscheinenden Be-
dingungen vorgeliehen, welche sich aber durch bestimmte eigene
Verklausulierungen lediglich als wucherische erweisen. Je nach der
besonderen Lage des Falles und der noch vorhandenen Widerstands-
fähigkeit des Eigentümers wird dann das damit einsetzende Ab-
schlachtungsverfahren länger oder weniger lang ausgedehnt.
Dadurch, daß in für den Grundeigentümer kritischen Augen-
blicken die Rückzahlung der vorgeschossenen Geldbeträge gefordert
wird, werden dann für die weitere Gelddarleihung, welche regelmäßig
bei der Unfähigkeit des Eigentümers zur Rückzahlung erfolgt,
stets schärfere Bedingungen gesetzt und namentlich die Verschuldungs-
summen zu Beträgen, wie sie der verschuldete Eigentümer tatsächlich
niemals empfangen hat, erhöht. Auf diese Weise, welche sich im
einzelnen natürlich noch vielfach um- und ausgestalten kann, wird
der Hofbesitzer immer mehr in die Verschuldung hineingetrieben,
bis daß er schließlich entweder freiwillig seinen Grundbesitz dem
Abschlachter gegen einen tatsächlich unter dem Wert verbleibenden
Preis abtritt, um wenigstens noch einiges Barvermögen zu retten,
oder ganz zusammenbricht, wobei dann dem Abschlachter der Grund-
besitz regelmäßig zufallen muß. Durchweg ist der hauptsächlichste
Gewinn des Abschlachtenden, der aber in seiner wahren Höhe äußer-
lich nicht zur Erscheinung kommt, wohl schon gemacht, wenn er
den Grundbesitz auf diesem Wege in die Hände bekommt; durch
die Zertrümmerung selbst wird aber dieser Gewinn zum Teil erst
realisiert und dabei auf eine noch größere Höhe gebracht.
Die Zertrümmerung wird selbstredend wiederum so eingerichtet,
daß der für den Zertrümmerer daraus erwachsende Vorteil mög-
lichst in die Höhe geschraubt wird; es wird vor keinem Mittel,
wenn es nur den letzteren Zweck erfüllt, zurückgeschreckt, wenn
auch hier für zweifelhafte und bedenkliche Manipulationen weniger
Feld gegeben ist. Daß die Trennstücke so abgeteilt werden, wie sie
am zweckmäßigsten und besten zum Verkauf zu bringen sind, wird
man an sich als einwandfrei bezeichnen müssen. Anders ist es
schon, wenn die Herabminderungen des Grundbesitzes, welche durch
die regelmäßig bei Verschuldung eintretende Verschlechterung der
ewirtschaftung veranlaßt sind, zu verdecken gesucht werden, wenn
von Sondermitteln, um die Konkurrenz im Ankauf zu beleben, Ge-
476 F. W. R. Zimmermann,
brauch gemacht wird, wenn künstliche Preissteigerungen herbeige-
führt werden und dergleichen mehr. In allen Fällen wird der ge-
werbsmäßige Gutszertrümmerer, schon weil es sich bei ihm um
einen gewerbsmäßigen, also eine größere Anzahl von Zertrümmer-
ungen umfassenden Betrieb handelt, auch mit den unbedenklichen
und stets erlaubten Mitteln für eine nutzbringende Durchführung
der Zertrümmerung weit besser wie jeder andere, der nur in einem
einzelnen Falle ein solches Geschäft vornimmt, vertraut sein und
dementsprechend schon so wie so stets einen höheren Gewinn er-
zielen. Nimmt man des weiteren an, daß der gewerbsmälige Zer-
trümmerer von jedem überhaupt möglichen Mittel Gebrauch macht,
so wird sich sein Gewinn noch erheblich steigern können.
Daß die gewerbsmäßige Gutszertrümmerung sich in der vorbe-
zeichneten Art vollziehen kann und zum Teil auch vollzogen hat
oder noch vollzieht, steht wohl außer Frage und ist allseitig aner-
kannt. Als Beweis dafür brauchen wir nur auf das lediglich hier-
mit begründete besondere staatliche Vorgehen bezüglich des be-
treffenden Gewerbebetriebes hinzuweisen, wie es beispielsweise in
der Bekanntmachung des Königlich bayerischen Staatsministeriums
des Innern vom 1. Januar 1894, den gewerbsmäßigen Betrieb des
Handels mit fremden Grundstücken betreffend, gegeben ist, welche
eben zur weiteren Ausbildung der bayerischen Gutszertrümmerungs-
statistik geführt hat. Immerhin wird man die vorberührten Miß-
stände doch nur in dem Maße bewerten können, in welchem sie
tatsächlich vorkommen. Für dieses tatsächliche Vorkommen bieten
uns wieder die Ergebnisse der braunschweigischen sowie auch der
bayerischen Statistik behufs sachgemäßer Einschätzung bis zu einem
gewissen Grade einen Anhalt, der sich allerdings im wesentlichen
nur auf das Verhältnis der gewerbsmäßigen Gutszertrümmerungen
zu den Gutszertrümmerungen überhaupt bezieht.
Das letztere Verhältnis muß allerdings in erster Linie in Betracht
kommen, wenn es sich um die Frage handelt, ob besondere Vor-
kommnisse bei den gewerbsmäßigen Gutszertrümmerungen zur Be-
gründung eines allgemeinen Vorurteils gegen die Gutszertrümmer-
ungen überhaupt geeignet erscheinen können. Ein solches stände
doch nur anzunehmen, wenn die gewerbsmäßigen Gutszertrümmer-
ungen innerhalb der sämtlichen Gutszertrümmerungen eine derartige
Rolle spielen würden, daß sie die Gutszertrümmerungen überhaupt
mehr oder weniger vollständig beherrschten und daher im großen und
ganzen mit ihnen indentifiziert werden könnten. Das ist aber
nach den Ergebnissen der bezüglichen Statistiken nicht der Fall.
Nach der braunschweigischen Statistik machen die gewerbs-
mäßigen Gutszertrümmerungen für die sämtlichen zehn Erhebungs-
jahre unter der Gesamtzahl der Zertrümmerungen 27,68 Proz. aus;
es scheint allerdings, als ob der Anteil der gewerbsmäßigen Zer-
trümmerungen etwas im Ansteigen begriffen sei, wie ein solches
Ansteigen sich jedenfalls für den Lauf des zehnjährigen Zeitraums
bemerkbar macht, denn der Anteil der Gewerbszertrümmerungen
Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik über dieselben. 477
stellt sich bei einer Teilung des ganzen Zeitraums in zwei Abschnitte
für die erste fünfjährige Periode auf 22,22 Proz., für die zweite
aber auf 32,51 Proz. Demgemäß bewegt sich der Anteil der ge-
werbsmäßigen Zertrümmerungen in Braunschweig zwischen einem
Viertel und einem Drittel; von einen Vorwalten kann unter diesen
Umständen also nicht im entferntesten die Rede sein.
Für Bayern dreht sich das vorbeobachtete Verhältnis fast genau
um, so daß also die gewerbsmäßigen Gutszertrümmerungen stärker
in den Vordergrund kommen; die letzteren bringen es nach dem
Gesamtdurchschnitt aus den zehn Jahren immerhin auf 68,7 Proz.
der Gesamtzahl der Zertrümmerungen und für die einzelnen Jahre
wechselt dieser Anteilssatz zwischen 54,9 Proz. im Minimum und
74,0 Proz. im Maximum; der Anteilssatz begrenzt sich hier also
ungefähr zwischen zwei Drittel und drei Viertel. Wenn dadurch
die gewerbsmäßigen Zertrümmerungen unter der Gesamtzahl zwar
vorwalten, so ist dieses Vorwalten doch nicht derart, daß nach der
vorwaltenden Kategorie der Zertrümmerungen allein der Charakter
der Gutszertrümmerungen überhaupt zu bemessen stände und Eigen-
heiten der gewerbsmäßigen Gutszertrümmerungen kurzweg als Eigen-
heiten der Gutszertrümmerungen überhaupt angesehen werden
könnten.
Berücksichtigen wir nicht die Zahl der Zertrümmerungen, die
aber doch für die vorliegende Betrachtung stets das in erster Linie Aus-
schlaggebende sein muß, sondern die Grundfläche der zertrümmerten
Anwesen, so verschiebt sich das Verhältnis speziell für Braunschweig
um einiges. In Braunschweig entfallen von der Gesamtfläche der
zertümmerten Anwesen nach dem Ergebnis für die zehn Jahre
45,86 Proz. auf die gewerbsmäßigen Zertrümmerungen und für die
erste Periode 29,82 Proz., für die zweite Periode 56,89 Proz.; der
Satz schwankt also etwa um die Hälfte herum. In Bayern erhöht
sich der Satz nur um ein geringes, nämlich auf 75,6 Proz.; es ist
dieses wesentlich durch ein Aufrücken der Minimalgrenze bedingt,
denn das Minimaljahr weist den Satz von 70,0 Proz., das Maximal-
jahr den von 81,3 Proz. auf, so daß also drei Viertel immer noch
etwa den Mittelpunkt bildet. Auch unter diesen Daten sind unsere
früheren Ausführungen noch als geltend zu erachten.
Jene Mißstände, welche zu der allgemeinen Verurteilung der
Gutszertrümmerungen geführt haben, sind aber keineswegs stets
mit der gewerbsmäßigen Zertrümmerung verbunden; es ist oben nur
das Vorkommen konstatiert, nicht aber, daß sie stets vorkommen
müssen. Der Prozentsatz der gewerbsmäßigen Gutszertrümmerungen
zu der Gesamtheit der Zertrümmerungen wird also für unsere in
Frage stehende Beurteilung gar nicht einmal voll in Betracht kommen
können, sondern wiederum nur ein entsprechender Anteil desselben,
der sich eben nach dem Verhältnis des tatsächlichen Vorkommens
jener Mißstände bemißt. Nach Lage der Sache ist aber anzunehmen,
daß dieses tatsächliche Vorkommen im Verhältnis doch nur ein gering-
fügigeres ist. Schon an und für sich wird es nicht wahrscheinlich sein,
478 F. W. R. Zimmermann,
daß ein Gewerbebetrieb, der in immerhin zahlreichen Fällen äußer-
lich zur Erscheinung kommt, durchweg unter besagten Mißständen
und in unlauterer Weise sich überhaupt vollziehen kann, ohne zu
einem entschiedenen Einschreiten des Staates dagegen Veranlassung
zu geben. Man wird bereits allein hiernach folgern dürfen, daß die
Mißstände etc. keineswegs ständige Begleiterscheinungen der ge-
werbsmäßigen Gutszertrümmerungen bilden, sondern daß sie bei
denselben nur mehr oder weniger vereinzelt auftreten. Das wird
des weiteren durch das Ergebnis der Statistik bestätigt.
Hierfür ist in erster Linie die bayerische Statistik nutzbar, welche
in ihren bezüglichen Erhebungspapieren die Frage beantworten lät,
in wie viel Fällen gegen gewerbsmäßige Güterhändler Strafein-
schreitung auf Grund des Reichsgesetzes betreffend Ergänzung
der Bestimmungen über den Wucher vom 19. Juni 1893 (Reichs-
gesetzblatt 1893, S. 197 ff.) und der hierzu erlassenen Vollzugsvor-
schriften erfolgen mußte, ohne dabei allerdings weiter auf die Art
des Einschreitens, die Schwere der Vergehung und den Erfolg Rück-
sicht zu nehmen. Insgesamt sind dadurch in den zehn Jahren 351
Strafeinschreitungen festgestellt worden; gegenüber der Gesamtzahl
der vorgekommenen Gutszertrümmerungen zu 8758 erweist sich
dieses unter unserem Gesichtspunkte doch nur als verhältnis-
mäßig weniger bedeutend, es wird immer nur auf rund 25 Gutszer-
trümmerungen eine Strafeinschreitung entfallen. Auch das Verhält-
nis zu der Zahl der gewerbsmäßigen Güterhändler stellt sich ähnlich;
in den einzelnen zehn Erhebungsjahren von 1894/95 an kommt je
eine Strafeinschreitung auf 24 bezw. 25, 18, 29, 31, 27, 33, 29, 11
und 8 der eingetragenen Güterhändler. In der braunschweigischen
Statistik hätten die Strafeinschreitungen in der Rubrik Bemerkungen,
obwohl eine ausdrückliche Vorschrift darüber nicht verlautbart war,
eingetragen werden können und wäre solches voraussichtlich auch
wohl wenigstens stets dann, wenn die Strafeinschreitung zu größerem
oder auffallenderem Erfolge geführt hätte, ‚geschehen. Daß keinerlei
bezügliche Angaben gemacht sind, läßt in einem gewissen Grade
den Schluß zu, daß die Strafeinschreitungen von keinerlei vorragender
Bedeutung gewesen sind.
Ausdrücklich vorgeschrieben ist aber in der braunschweigischen
Statistik für die Bemerkungenspalte die Angabe über den ungefähren
Gewinn oder Verlust des Zertrümmerers, soweit sich
solcher ohne besondere Beschwerde feststellen läßt. Letzteres wird
ja stets nur in beschränkterer Weise der Fall sein. Diese An-
gaben können einen, wenn auch nur geringeren Anhalt für unsere
Frage gewähren, denn in denjenigen Fällen, in denen unlautere
Manipulationen vorgenommen sind, wird sich regelmäßig der Gewinn
aus der Zertrümmerung gerade auf Grund besagter Manipulationen
hoch stellen und wird ferner für diese Fälle meist eine bezügliche
Angabe möglich sein und vermöge des Vorurteils gegen die ge-
werbsmäßige Gutszertrümmerung auch aufgenommen sein. Die natur-
gemäße Folge eines häufigeren Vorkommens jener Manipulationen
Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik über dieselben. 479
müßte danach eine größere Zahl von Angaben über hohen Gewinn
des Zertrümmerers sein. Letztere Erscheinung zeigt sich aber
nicht.
Wir haben aus dem braunschweigischen Erhebungsmaterial die
Angaben über Gewinn und Verlust des Zertrümmerers für die drei
Jahre 1899, 1902 und 1904 bezüglich der gewerbsmäßigen Gutszer-
trümmerungen besonders ausgezogen und in einzelne Kategorien
zusammengestellt. Es dreht sich hierbei allerdings nur um an sich
geringere Zahlen, sie sind aber namentlich mit Rücksicht darauf,
daß sie das Gesamtresultat dreier getrennt voneinander liegender
Jahre umfassen, zu einer Beurteilung nach vorliegendem Zweck
vollkommen ausreichend. Von der Gesamtzahl der in Frage
kommenden Fälle zu 31 sind es zunächst 12 oder 38,7 Proz., in
denen eine Angabe über Gewinn oder Verlust des Zertrümmerers
nicht gemacht ist; in 6 Fällen oder 19,4 Proz. der Gesamtheit wird
es unbestimmt gelassen, ob das Zertrümmerungsgeschäft zu Gewinn
oder zu Verlust geführt habe; ein Verlust wird nur in einem Falle,
3,2 Proz., herausgehoben, ein Gewinn schlechthin ohne eine nähere
Bezeichnung, ob groß oder gering, in 5 Fällen oder 16,1 Proz., ein
geringer Gewinn in 3 Fällen oder 9,7 Proz. und endlich ein großer
Gewinn in 4 Fällen oder 12,9 Proz. Für unsere vorliegende Frage
werden wir unbedenklich die letzten Daten über den großen Gewinn
den sämtlichen übrigen Daten einschließlich derer über die fehlen-
den Angaben gegenüberstellen dürfen, denn die Zertrümmerungen
unter den unlauteren Manipulationen, auf welche sich unsere Frage
zuspitzt, pflegen allgemein bekannt zu werden und ein bei solchen
erzielter großer Gewinn würde zweifellos stets angegeben sein. Es
ist also nur eine an sich und im Verhältnis geringe Zahl von
Fällen mit großen Gewinn festgestellt worden und wir werden nach
unseren obigen Ausführungen hieraus den Schluß ziehen können,
daß auch die Fälle der unlauteren Manipulationen bei den Guts-
zertrümmerungen nur selten und vereinzelt vorgekommen sind.
In diesem Ergebnis stimmt sonach die braunschweigische Statistik
mit der bayerischen überein, so daß sich beide gegenseitig bekräftigen.
10. Schlußwort. Wir sind damit am Ende unserer Betracht-
ungen, welche einen doppelten Zweck hatten, nämlich einerseits den
Begriff der Zertrümmerungen in einer gewissen Weise gegenüber
dem allgemeinen Vorurteil gegen dieselben nach den tatsächlichen
Verhältnissen richtig zu stellen, und andererseits als einen näheren
Ausweis über diese tatsächlichen Verhältnisse solche Ergebnisse der
besonderen braunschweigischen Statistik über die Gutszertrümmer-
ungen, welche in der amtlichen Bekanntgabe über diese Statistik keinen
Raum gefunden hatten, aber doch ein allgemeines Interesse bean-
spruchen dürfen, weiter zur Kenntnis zu bringen. Wenn wir dabei zu
dem Schluß kommen, entgegen dem landläufigen Vorurteil, die Guts-
zertrümmerungen als solche keineswegs als etwas Verwerfliches oder
wirtschaftlich Ungesundes anzusehen, dieselben vielmehr als einen
zunächst nach Gut oder Böse indifferenten Vorgang im wirtschaft-
480 F. W. R. Zimmermann, Gutszertrümmerungen etc.
lichen Leben hinstellen und ihnen sogar vorwiegend einen solchen
Charakter zusprechen, der allerdings durch gewisse, aber nicht stets
oder auch nur vorherrschend sich zeigende Begleiterscheinungen oder
durch scharfe Zuspitzung in das Extrem oder nach einer Richtung
hin sich zu einem bedenklichen und krankhaften Moment umbilden
kann, schließlich auf Grund der tatsächlichen Unterlagen aus der
Statistik dabei sogar so weit gingen, den Gutszertrümmerungen jenen
indifferenten Charakter für die stark vorwiegende Masse der Einzel-
fälle zuzusprechen, so darf dieses unter keinen Umständen so auf-
gefaßt werden, als wollten wir ein besonderes Augenmerk der mal-
gebenden Organe auf die Gutszertrüämmerungen und speziell die auf
letzteren wiederum fußende Spezialerfassung der Zertrümınerungen
durch die Statistik als etwas Geringwertiges oder gar Ueberflüssiges
hinstellen. Gerade das Gegenteil ist der Fall.
Wir können in den Gutszertrümmerungen als solchen zwar nur
einen wirtschaftlichen Vorgang wie jeden anderen ohne die Beimisch-
ung des Krankhaften oder Verwerflichen sehen, aber als wirt-
schaftlichen Vorgang selbst müssen wir sie doch zu einer ganz
wesentlichen Bedeutung einschätzen, zumal sie stets vorwiegende
und weittragende Folgen für den wichtigsten wirtschaftlichen Besitz,
den Besitz am Grund und Boden, zeitigen können, Folgen, denen,
wenn sie erst einmal bis zu einem bestimmten Grade vorgeschritten
sind, nur äußerst schwer, wenn überhaupt entgegenzuarbeiten ist.
In der Hauptsache wegen dieser einschneidenden und unter Um-
ständen gefahrdrohenden Einwirkung auf die Verteilung des Grund-
besitzes und nebenher vielleicht auch etwas wegen der möglicher-
weise Platz greifenden unlauteren Begleiterscheinungen wird jede
vorsorgliche Verwaltung den Gutszertrümmerungen in ihrer Gesamt-
heit eine besondere Aufmerksamkeit zuwenden müssen und unter
diesen Umständen wird eine eigene statistische Erfassung der Guts-
zertrümmerungen, wie sie z. Z. in Bayern und Braunschweig statt-
findet, nur als zweckdienlich und angemessen erachtet werden können.
Wir glauben daher nur mit dem Wunsche schließen zu sollen.
daß jene bestehenden Sonderstatistiken vorbildlich behufs entsprechen-
der Einführung auch in anderen deutschen Staaten wirken möchten.
Friedrich Zahn, Der preußische Sparkassengesetzentwurf. 481
IX.
Der preussische Sparkassengesetzentwurf
vom Standpunkte städtischer Finanzpolitik.
Von
Friedrich Zahn, Düsseldorf.
Im Jahre 1906 legte die preußische Staatsregierung dem Land-
tag einen Gesetzentwurf betreffend Anlegung von Sparkassenbeständen
in Inhaberpapieren vor. Mit ihm befaßten sich sowohl das Herren-
haus wie das Abgeordnetenhaus, ohne ihn jedoch bisher zu verab-
schieden 1). Er hat folgenden Wortlaut:
Wir, Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen u. s. w.
verordnen mit Zustimmung der beiden Häuser des Landtages der Monarchie, was
folgt:
pa 1. Die öffentlichen Sparkassen haben von ihrem verzinslich angelegten
Vermögen mindestens 30 Proz. in mündelsicheren Schuldverschreibungen auf den
Inhaber anzulegen, davon mindestens die Hälfte in Schuldverschreibungen des
Deutschen Reiches oder Preußens. Der zuständige Minister kann unter besonderen
Verhältnissen ausnahmsweise eine Herabsetzung des in mündelsicheren Schuldver-
schreibungen anzulegenden Vermögensteiles auf 20 Proz. zulassen.
§ 2. Bis zur Erreichung des in $ 1 vorgeschriebenen Besitzstandes haben die
bestehenden öffentlichen Sparkassen ihren Besitz an mündelsicheren Schuldver-
schreibungen auf den Inhaber in der Weise zu vermehren, daß sie alljährlich
mindestens zwei Fünftel des Ueberschusses ihres verzinslich angelegten Vermögens-
bestandes über den des Vorjahres in mündelsicheren Schuldverschreibungen auf
den Inhaber, und zwar in dem im $ 1 vorgesehenen Anteilsverhältnisse anlegen.
§ 3°). Die öffentlichen Sparkassen können den durch dieses Gesetz vor-
geschriebenen Besitzstand an Tnhaberpapieren im Falle einer besonderen Notlage
Insoweit veräußern, als es zur Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebes unbedingt
notwendig ist. Der Oberpräsident, welchem von der erfolgten Veräußerung alsbald
Mitteilung zu machen ist, hat darüber zu bestimmen, in welcher Weise der vor-
geschriebene Besitzstand wieder herzustellen ist.
$ 4. Dieses Gesetz tritt mit dem 1. Januar 1907 in Kraft.
. §5. Die Minister der Finanzen und des Innern werden mit der Ausführung
dieses Gesetzes beauftragt.
Urkundlich u. s. w.
Wie aus der diesem Gesetzentwurf beigefügten Begründung
hervorgeht, bezweckt er ein Doppeltes.
Erstlich will er Fürsorge treffen für eine ebenso wünschens-
werte wie notwendige Liquiderhaltung (Zahlungsfähigkeit und Zah-
lungsbereitschaft) der Sparkasse. Die öffentlichen Sparkassen sollen
von ihrem verzinslich angelegten Vermögen mindestens 30 Proz. in
mündelsicheren Schuldverschreibungen auf den Inhaber anlegen,
1) Vergl. Drucksachen des preußischen Herrenhauses, Session 1905/06, No. 15,
No, 43; Verhandlungen vom 23. Januar und 9. März 1906. Ferner Abgeordnetenhaus,
Session 1905/06, No. 158; Verhandlungen vom 20. März 1906.
2) Der § 3 ist vom Herrenhause eingefügt worden.
Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVII 1). 81
482 Friedrich Zahn,
davon mindestens die Hälfte in Schuldverschreibungen des Deutschen
Reiches oder Preußens.
Diese Vorschrift schafft für eine Reihe von Sparkassen, auch
für die Düsseldorfer Sparkasse, nichts Neues. Letztere verfahren
längst in diesem Sinne und gehen noch über diese Vorschrift hinaus.
Die Anlagen in mündelsicheren Schuldverschreibungen sind z. B.
bei der Düsseldorfer Sparkasse nicht 30, sondern 45 Proz., die in
Reichsanleihen und preußischen Konsols allein 37 Proz., wie nach-
stehende Zusammenstellung ergibt.
Aber stark die Hälfte der preußischen Sparkassen hat ihre Be-
stände nur bis zu 20 Proz. in Inhaberpapieren angelegt; fast ein
Drittel gar nur bis zu 10 Proz.; 11 Proz. der Sparkassen besaßen
an Inhaberpapieren nur bis 5 Proz. und 5,10 Proz. der Sparkassen
gab es, die überhaupt keine Inhaberpapiere in ihren Beständen hatten.
Insgesamt waren von den 7 Milliarden Einlagekapital der 1354 öffent-
lichen Sparkassen Preußens im Jahre 1903 angelegt in:
Städtischen Hypotheken 35,46 Proz.
Ländlichen Hypotheken 23,02 „
Inhaberpapieren 27,0%
zusammen 85,51 Proz.
Der Rest verteilt sich auf Anlagen bei öffentlichen Korporationen
und Instituten, sowie in Schuldscheinen, Wechseln, Lombarddarlehen.
A. Preußische Sparkassen.
I. Arten der Sparkassen (einschließlich Privatsparkassen) und
Höhe ihrer zinsbar angelegten Bestände.
| asos) | 1904 | Mill. M.
Städtische (703) ' 717 | 4200
Landgemeinden (229) 228 | 479
Kreise und Aemter (416) 423 | 2574
Provinzialverbände ( 6 | 6 | 287
Vereine und Private (195) 190 593
l | | 8136
davon
a)
Zinsbar ange- b) D c) Inhab d) Gr
legte Bestände| Reichsanleihe A aii ih rta ER
überhaupt sanleıhbe uüberhaup
ni Mill. M. Mill. M. Mill. M. Mill. M!% -
1894 4179 117 422 1226
1895 4557 134 491 1390
1896 4883 134 540 1496
1897 5211 134 555 1546
1598 5545 131 556 1581
1899 5800 132 560 1629
1900 5375 126 549 1638
1901 6523 139 576 1769
1902 7038 141 594 1934
1903 7572 148 613 2100
1904 8136 152 651 2228
Der preuß. Sparkassengesetzentwurf vom Standpunkte städtischer Finanzpolitik. 483
II. Anlagen der Sparkassen (einschließlich Privatsparkassen)
in Prozenten.
1902 1903 | 1904 A
a) Städtische Hypotheken 3411 | 3541 | 36,24 N
b) Ländliche Hypotheken 23,03 22,46 22,02 7
c) Inhaberpapiere 27,02 27,29 26,90 y
d) Schuldscheine mit Bürgschaft 0,16 0,19 0,18 j
e) Schuldscheine ohne Bürgschaft 2,07 1,95 1,84 P
f) Wechsel 0,96 0,99 0,98 à|
g) Faustpfand (Lombard) 1,26 1,19 1,17 I
h) Anlagen bei Gemeinden und öf- 10,02 9,79 9,85 $
fentlichen Korporationen `
i) Sonstige 0,77 0,73 0,82
III. Anlagen der öffentlichen Sparkassen 1903 in Prozenten.
(Bei den Provinzen sind die Kolonnen ,„Schuldscheine“ und „Lombard“ als verhältnis-
mäßig gering und wenig interessierend nicht ausgefüllt.)
| Anlagen bei Š Son-
Hypotheken EN Wechsel Gemeinden u. Schuldseheine stige
ET Ariere öffentlichen | ohne | mit An-
städti- | länd- |PAP 'Korporationen Bürg- | Bürg- | lagen
sche | liche | schaft | schaft
Staat 35,46 | 23,02 | 27,04 | 0,75 10,19 0,20 | 1,91 | 0,46 A
Ostpreußen 42,14 | 15,14 | 26,93 | 4,98 3,01
Westpreußen 30,88 | 22,58 | 25,68 | 5,35 11,77
Berlin 18,82 | — | 79,37 | 1,64 0,16
Brandenburg 28,43 | 15,07 | 40,71 | 0,29 14,01
Pommern 33,08 | 24,38 | 28,98 | 2,00 8,56
Posen 35,01 | 19,43 | 25,16 | 5,96 10,47
Schlesien 30,52 | 16,67 | 37,41 | 1,28 12,48
Sachsen 28,57 | 28,68 | 29,78 | 0,04 11,65
Schleswig-Holstein | 37,64 | 37,40 | 6,95 | 0,33 6,48
Hannover 25,82 | 37,27 | 20,34 | 0,27 11,31
Westfalen 45,54 | 29,08 | 11,63 | 0,02 10,30
Hessen-Nassau 35,44 | 22,47 | 24,41 | 0,17 | 9,25
Rheinland 48,11 | 13,51 | 24,67 | 0,31 9,70
Hohenzollern 5,60 | 53,12 | 23,05 | 0,10 5,97
Stadt Düsseldorf 31,64 45,51 | 2,04 19,55 1) 0,97
B. Die Sparkasse der Stadt Düsseldorf
am 1. April 1906.
M. Proz.
Einlagenbestand am 1. April 1906 51462 694,48
Anlage des Sparkassevermögens in
A. Hypotheken
a) städtische Grundstücke
1. überhaupt 16 221 906,—
-~ 2. darunter Amort.-Hypotheken — 31,64
b) ländliche Grundstücke
1. überhaupt 1 064 900, —
2. darunter Amort.-Hypotheken 164 000, —
1) Hiervon entfallen auf die eigentliche Gemeinde 16,72 Proz.
Pr ” „» » auswärtigen Gemeinden 2,83 „
31*
484 Friedrich Zahn,
M. Proz.
B. Inhaberpapiere 24 859 390, — 45,51
darunter Reichs- und preußische
Staatsanleihen 20 403 178,— 37,37
Provinzialanleihen 4 234 138, — 7,75
Stadtobligationen 222 073,— 0,41
C. Schuldscheine 528 000, — 0,97
D. Wechsel I 115 829,— 2,04
E. Faustpfand 157 000, — 0,29
F. Anlage bei öffentlichen Instituten
und Korporationen 10 680 638, — 19,55
G. Sonstige Anlagen — —
Es erscheint im höchsten Maße zweckmäßig, daß den öffentlichen
Sparkassen allgemein einc angemessene Liquidität zur Pflicht gemacht
wird. Dies kann das Vertrauen des Publikums in die Solidität
unserer Sparkassen insgesamt und jeder einzelnen nur erhöhen.
In zweiter Linie bezweckt der Gesetzentwurf das Interesse
des Staatskredits, nämlich eine Hebung des Kurses der Staats-
und Reichsanleihen.
Insofern steht er in engem Zusammenhang mit dem schon 194
verabschiedeten preußischen Gesetze über die Erhöhung des Grund-
kapitals der Seehandlung (Gesetz vom 4. August 1904, Gesetzsamm-
lung S. 238), mit dem preußischen Gesetze über die Abänderung der
Bestimmungen über Gebührenerhebung für Eintragung in das Staats-
schuldbuch (Gesetz vom 24. Juli 1904, Gesetzsammlung S. 164) und
mit dem analogen Reichsgesetz für das Reichsschuldbuch vom 28. Juni
1904 (RGBl. 8. 251).
Alle die genannten gesetzlichen Maßnahmen gehen darauf aus,
die Stetigkeit und den Stand der Kurse der Staats- und Reichs-
anleihen zu heben.
In dem einen Falle wurde das Königlich preußische Bank-
institut durch Erhöhung seines Grundkapitals von 34,4 auf 6
Mill. M. in seiner Stellung auf dem Gebiete des Geld- und Bank-
wesens gegenüber den immer machtvoller auftretenden Mächten der
Großfinanz, der Großbanken, der Großbankgruppen wesentlich ge-
kräftigt. Dies geschah wesentlich mit aus dem Grunde, um die
Seehandlung zur Pflege und Ueberwachung des Marktes der preußi-
schen und Reichsanleihen besser zu befähigen. Dank der Verstärkung
ihrer Kapitalkraft kann sie durch Aufnahme größerer oder geringerer
Mengen schwimmenden Materials den von diesem ausgehenden Kurs-
druck leichter als seither beseitigen oder mildern. Dies ist in Anbetracht
der fast alljährlichen Begebung von großen Anlehensbeträgen seitens
des Reiches und von Preußen und im Hinblick darauf dringend
notwendig, daß ein Teil dieser Anleihen nur sehr langsam plaziert
wird, und sich der von dem herumschwimmenden Material ausgehende
Druck oft noch lange Zeit nach Begebung der Anleihen empfindlich
fühlbar macht. Ferner sollte die Erhöhung der Finanzkraft die See-
handlung mehr als bisher in den Stand setzen, Kursschwankungen
mit Aussicht auf Erfolg entgegenzutreten, Beunruhigungen des großen
an den Staatsanleihen und allen von diesen beeinflußten Fonds
Der preuß. Sparkassengesetzentwurf vom Standpunkte städtischer Finanzpolitik. 485
(Kommunalpapiere, landschaftliche Pfandbriefe etc.) beteiligten
kapitalistischen Publikums nach Möglichkeit zu verhüten und dessen
daraus folgende Verstimmung gegen die Reichs- und Staatsanleihen
mehr oder weniger zu beseitigen und so positiv die Beliebtheit
dieser Anlagewerte zu steigern. (Drucksachen des Abgeordneten-
hauses 1904, No. 225.)
Neben dieser Verbesserung der bankmäßigen Beziehungen des
Staates zum Geldmarkte suchte die Finanzverwaltung auch direkten
Einfluß zu gewinnen auf Angebot und Nachfrage bezüglich
der Staats- und Reichskonsols. In Anbetracht der Tatsache, daß von
Staats- und Reichsanleihen sich ein höherer Betrag im Verkehr am
offenen Markt befindet und nicht in dauernden Anlagen festgelegt
ist, suchte man unter Aufhebung der bisherigen Gebühren für Um-
wandlung der Konsols in Buchschulden, die Eintragung in Staats-
und Reichsschuldbuch im Wege der oben genannten Gesetze zu
fördern. Auf diese Weise hofft man, die dauernden Anlagen in
Staats- und Reichsanlehen zu vermehren und so das Angebot im
freien Verkehr zu verringern, und als weitere Folge davon eine
Belebung der Nachfrage am offenen Markt, sowie eine Festigung und
Steigerung des Kurses der Konsols selbst zu erzielen.
Nun kommt der gegenwärtige Sparkassengesetzentwurf und strebt
an, den Absatzmarkt für die Konsols bei den Sparkassen zu er-
weitern und durch die infolgedessen zu erwartende Nachfrage den
Kurs der Konsols zu steigern 1).
Es handelt sich also hier um ein zielbewußtes programmatisches
ae der Staatsregierung im Interesse der Förderung des Staats-
redits.
Zweifellos ist ein solches Vorgehen vom Standpunkte der natio-
nalen Wirtschaftspolitik zu begrüßen. Die bisherige Kursentwicke-
lung unserer Reichs- und Staatsanlehen ist tatsächlich recht uner-
freulich und dringender Abhilfe bedürftig.
Obschon die preußischen Staatsanlehen nach Sicherheit und
innerer Güte dem Anlagewert keines anderen Staates nachstehen,
vielmehr vor anderen den Vorzug haben, daß ihnen ein werbendes
Staatsvermögen von weit höherem Wert als die Beträge der Staats-
schuld gegenübersteht, so ist der Kurs durchschnittlich hinter dem
der staatlichen Werte Englands, Frankreichs, der Vereinigten Staaten
von Amerika und auch der kleineren Staaten wie der Schweiz, Hol-
land, Belgien, Dänemark zurückgeblieben, und zwar in einem Maße,
das durch die Verschiedenheit des landesüblichen Zinsfußes der
Kapitalanlagen nur zum Teil seine Erklärung findet, und er ist, auch
in normalen Zeiten, häufiger und stärker als die ausländischen Werte
Schwankungen ausgesetzt, die durch die allgemeine Lage des Geld-
und Anlagemarktes nicht gerechtfertigt sind. Das gleiche gilt von
den Kursverhältnissen der Reichsanlehen.
1) Hierher gehört auch die Bestimmung des Reichsgesetzes vom 3. Juni 1906,
Art. 4, wonach Kauf- oder sonstige Anschaffungsgeschäfte über Renten- und Schuld-
verschreibungen des Reichs oder der Bundesstaaten, sowie Interimsscheine über Ein-
zahlungen auf diese Wertpapiere von der Reichsstempelabgabe befreit sind.
Friedrich Zahn,
486
Uebersicht
über
die
Kurse der 3!,-prozentigen I
sowie der französischen und englischen Rente in den Jahren 1888 bis 1904.
und
3-prozentigen Reichsanleihe,
Kurs 1888 | 18589 | 1890 | 1891| 1892 | 1893 | 1894 | 1895 | 180 1897 1898 1899 | 1900 | 1901 1902 | 1903 | 1904 | 1905 | 1906
3!/,-prozentige Reichsanleihe.
höchster [104,30/104,40/103,40 |99,25|101,60|101,60 |104,60 |105,20 |105,70 |104,50 |104,00 |101,90| 99,10]101,75 |103,30 |103,30 |103,00|102,60| 101,50
niedrigster [100,20| 101,70) 97,00 196,50| 98,60| 99,20 |100,30 |103,30 |103,00 |102,60 [100,80 | 96,90| 92,75) 95,80 |101,20 |101,00 |101,30|100,30| 97,70
im Durch- | | |
schnitt [102,48|103,69|100,42 |98,38| 99,97|100,38 |102,39 104,44 A 103,58 |102,64 | 99,77. 95,82| 99,54 |102,06 |102,29 |101,94|101,33| 99,54
3-prozentige Reichsanleihe.
höchster i A . 187,10) 88,00| 88,00 | 95,75 |100,30 | 99,90 | 99,00 | 97,70 | 94,30| 89,00| 92,40 | 93,50 | 93,40 | 92,20| 91,80| 89,60
niedrigster] . 3 f [#478 84,00| 84,50 | 85,25 | 96,10 | 97,60 | 96,80 | 92,50 | 87,60| 84,90) 86,25 | 90,30 | 89,20 | 89,00| 88,40| 85,90
im Durch-
schnitt 3 : . |85,10| 86,27: 86,27 | 90,73 | 98,91 | 99,22 | 97,65 | 95,51 | 90,71| 86,74| 89,27 | 92,18 | 91,47 | 90,01| 90,08 87,73
3-prozentige französische Rente.
höchster 84,60| 88,10| 96,875|96,70|100,70| 99,60 |104,50 |103,75 |103,25 |105,25 |104,80 |103,05|102,30|102,45 |102,00 |100,17 | 99,10|100,45| 99,90
niedrigster | 80,90) 82,50| 87,40 Be 95,00| 93,60 | 96,80 | 99,60 |100,60 |101,60 |101,35 e 99,15| 99,85 | 98,15 | 96,25 | 94,00| 97,70| 94,95
im Durch-
schnitt | 81,64| 84,94| 90,72 |94,28| 97,39| 97,22 |100,05 |102,03 |102,16 lis 102,85 |IOI,24|100,60|101,22 |100,60 | 98,06 | 97,50| 99,21| 97,65
2°/,-prozentige englische Rente. 1)
höchster |ro2,00| 99,25| 98,75 |97,50| 98,25| 99,625/103,50 |108,375|113,875|113,875|112,875|111,50|103,25| 97,875 97,875| 93,625| 91,25| 91,65| 90,87
niedrigster | 95,50| 96,00) 93,375/94,25| 95,00) 97,00 | 98,375/103,375|105,125| 110,00 |108,875| 97,75 96,75] 91,00 msh 86,975| 85,00| 87,70| 85,75
im Durch- |
schnitt | 99,05| 98,01) 96,49 |95,73| 96,658| 98,37 |101,07 |106,20 ee [112,40 |110,96 |107,18| 99,63| 94,29 | 94,35 | 90,76 | 88,21] 89,83) 88,32
Vergl. über die Zahlen bis 1904 die Druckschrift Herrenhaus, Session 1905/06, No. 15.
1) Englische Konsols tragen seit dem 6. April 1903 nur noch 2'/, Proz. Zinsen.
Der preuß. Sparkassengesetzentwurf vom Standpunkte städtischer Finanzpoliiik. 487
Kurse der 3!,,-proz. und 3-proz. Reichsanleihe, letztere
ebenfalls in Kurse einer 3\/,-proz. Anleihe verwandelt’).
, 4-proz. Reichsan-
3!/,-proz. an 2 Tan Kurse der 3-proz.
Desan Reicksanleihe leiho; in 31/,-pros: Beichsanteihe
verwandelt
u
31. Oktober 1890 98,60 101,50 87,00
30. April 1891 99,10 99,85 85,60
31. Oktober 1891 99,75 99,85 85,60
30. April 1892 100,00 100,30 86,00
31. Oktober 1892 100,00 100,30 86,00
30. April 1893 101,20 101,75 87,20
31. Oktober 1893 99,60 99,40 85,20
30. April 1894 101,50 102,55 87,90
31. Oktober 1894 103,30 109,65 94,00
30. April 1895 105,00 114,55 98,20
31. Oktober 1895 104,25 115,85 99,30
30. April 1896 105,25 116,40 99,75
31. Oktober 1896 103,70 114,80 98,40
30. April 1897 103,90 114,35 98,00
31. Oktober 1897 102,75 113,05 96,90
30. April 1898 103,25 112,75 96,60
31. Oktober 1898 101,75 109,30 93,70
30. April 1899 100,40 107,10 91,80
31. Oktober 1899 98,10 104,40 89,50
30. April 1900 96,00 100,00 85,75
31. Oktober 1900 96,30 102,45 87,80
30. April 1906 100,80 100,30 88,40
31. Oktober 1906 97,80 97,80 86,10
15. März 1907 96,— 96,— 84,80
Ein solcher Zustand unserer Reichs- und Staatspapiere ist un-
erträglich vom Standpunkte der Staatsgläubiger, die die Staats-
papiere im Vertrauen auf ihre unbedingte Sicherheit erworben
haben, und die bei stärkeren Kursschwankungen nach Millionen sich
beziffernde Verluste erleiden. Er ist unerträglich vom Standpunkte
des Staates selbst, der seine Anlehen stets zu einem gewissen Kurs
sicher im eigenen Land muß begeben können. Er ist unerträglich
endlich vom Standpunkte des Ansehens unserer nationalen Finanz-
politik und unserer politischen Würdigung im Auslande.
Daß zur Beseitigung dieses Zustandes die öffentlichen Ver-
mögensbestände ihr gut Teil mit dazu beizutragen haben, erscheint
mir selbstverständlich. Insbesondere gilt diese Pflicht für die öffent-
lichen Sparkassen, deren Kredit auf dem Staat und seinen Ein-
richtungen gegründet ist. Sie leiten Ansehen, Vertrauen, das ihnen
von der Bevölkerung geschenkt wird, vom Staat und seiner Gesetz-
gebung, von der staatlichen Verleihung der Rechtsfähigkeit und
Mündelsicherheit, von der gesetzmäßigen Organisation sowie von der
staatlichen Aufsicht und Kontrolle ab. Es ist nur gerecht, wenn als
1) Vergl. Karl Kimmich, Die Ursachen des niedrigen Kursstandes deutscher
Staatsanleihen. Stuttgart 1906, S. 340.
488 Friedrich Zahn,
Entgelt hierfür den Sparkassen gewisse Pflichten zur Sicherheit des
Staatskredits auferlegt werden, namentlich wenn diese Pflichten den
eigenen Zwecken der Sparkasse, ihrem Liquiditätsbedürfnis ent-
sprechen.
Wenn nun die Sparkassen 30 Proz. ihrer Vermögensbestände
in mündelsicheren und zwar mindestens zu 15 Proz. in Reichs- und
Staatsanleihen anlegen sollen, so wird zwar noch nicht viel erreicht
im Sinne der Erweiterung des Absatzmarktes für die Konsols.
Immerhin machen bei einem Sparkassenvermögen von 7 Milliarden
die 30 Proz. 2,1 Milliarden und die obligatorischen 15 Proz. 1 Milliarde
aus. Das ist bei rund 6,3 Milliarden Reichsschuld und 7,4 Milliarden
preußischer Staatsschuld nicht zu unterschätzen. Allerdings voll-
zieht sich diese Berücksichtigung der Inhaberpapiere bezw. Staats-
und Reichsanlehen erst im Laufe von Jahren. Die Sparkassen sollen
zunächst nach $ 2 des Gesetzentwurfes alljährlich mindestens ?/, des
Ueberschusses ihres verzinslich angelegten Vermögensbestandes "über
den des Vorjahres in mündelsicheren Inhaberpapieren anlegen. Das
würde alljährlich eine Anlage von 60 Mill. in solchen Schuldver-
schreibungen bedeuten, aber nicht volle 60 Mill. mehr als bisher,
da ja eine Reihe von Sparkassen jetzt schon Reichs- und Staats-
anleihen in ausreichendem Maße berücksichtigt.
Es bedeutet diese Maßnahme also für Hebung des Kurses für
Staats- und Reichsanlehen in nächster Zeit nicht viel. Mehr schon,
wenn die Uebergangszeit erreicht ist. Dann ist von einer regelmäßigen
stetigen Aufnahme der Konsols durch die Sparkasse eine bessere
Stabilität des Kurses in gewissem Grad zu hoffen. An Stelle eines
Flottierens und häufigeren Zurückfließens der entsprechenden Beträge
an den öffentlichen Kapitalmarkt wird ein Festliegen derselben an
dazu geeigneten Stellen treten. Kursschwankungen kann mehr als
bisher entgegengewirkt, und bei ihrem Eintritt ihre Wirkung ver-
mindert oder gemildert werden.
Nach diesen allgemeinen nationalen Wirtschafts-
erwägungen nunmehr aber die weitere Frage: Kommt der
Zweck des Sparkassengesetzentwurfs auch speziell
den Gemeinden zu gute?
Allerdings, insofern der Kurs der Staatsanlehen Gradmesser ist
für den Kurs der Städteobligationen. Der Kurs der Staatspapiere
und seine Hebung für unsere Volkswirtschaft und unseren Kredit
äußert seinen Bintluß auf alle öffentlich-rechtlichen Papiere, Kommunal-
anleihen, landwirtschaftlichen Pfandbriefe u. s. w. Der Kurs der
letzteren folgt tatsächlich dem der Staatspapiere nach oben wie nach
unten. Wenn die Staatspapiere sinken, sinken die Städteobligationen
erst recht. Steigt andererseits der Kurs der Staatspapiere, so steigen
auch die Städteobligationen und lassen sich zu höheren Kursen
unterbringen. Wird demnach durch den Sparkassengesetzentwurf
ein günstiger Einfluß für den Kursstand der Staatskonsols bewirkt,
so kommt er mittelbar auch dem Kurse der Städteobligationen zu
gute.
Der preuß. Sparkassengesetzentwurf vom Standpunkte städtischer Finanzpolitik. 489
Außerdem wird durch den Sparkassengesetzentwurf unmittelbar
die „Möglichkeit“ geschaffen, daß, nach Abzug der obligatorischen
15 Proz. für Reichs- und Staatsanlehen, weitere 15 Proz. der Spar-
kassenbestände in sonstigen mündelsicheren Inhaberpapieren, also
auch in Städteobligationen angelegt werden. Die Absatz-„Möglich-
keit“ wird mithin auch für die kommunalen Obligationen erweitert.
Sie liegt nicht nur im Interesse der kleinen Gemeinden, die vielfach
bei Aufnahme von Anleihen sich in einer schwierigen Lage befinden,
da kein größerer Markt für die Papiere besteht, sondern kann für
die Städteobligationen überhaupt von Bedeutung sein, denen bis-
her ein aufnahmewilliger Markt viel zu wenig zur Seite stand.
Abgesehen davon, ist aber die eben betrachtete zielbewußte
Finanzpolitik des Staats — einerlei, ob die angestrebte Hebung des
Kurses der Konsols erreicht wird oder nicht — schon für sich hin-
reichend Anlaß für die Städte, bei sich selbst einmal Ein-
kehr zu halten und zu prüfen, wie es mit ihren Kursverhältnissen
steht, ob nicht auch für sie die Inangriffnahme einer ähn-
lichen Finanzpolitik am Platze ist.
Der Zustand auf dem Gebiete des deutschen Kommunalkredits
ist nichts weniger als erfreulich. Nicht, daß die hohen Schulden der
Kommunen selbst und ihre rasche Zunahme beängstigend wären:
(Siehe Tabellen auf S. 490 u. 491.)
Diese Schuldbeträge haben an sich nichts Bedrohliches. Unter
den Anleihenszwecken sind in hervorragendem Maße rentierende,
werbende Anlagen vertreten, in deren Erträgen die betreffenden
Anleihen wenigstens ihre regelmäßige Amortisation und Verzinsung
finden: Wasser-, Gas-, Elektrizitätswerke, Hafenanlagen, Markt-
anstalten, Straßen- und Kleinbalınen, Friedhofsanlagen. Außerdem
bietet Sicherheit gegen übermäßige Verschuldung der von den
Kommunen und Aufsichtsbehörden streng durchgeführte Grundsatz,
daß nur außerordentliche Ausgaben — also z. B. nicht Ausgaben für
Volksschulbauten oder gewöhnliche Pflasterarbeiten — durch An-
leihen gedeckt werden dürfen, und daß die Tilgung derselben dem
Charakter des Anleihezweckes angepaßt werde. Die deutschen Städte
haben also keinen Anlaß, wegen ihrer Schulden besorgt in die Zu-
kunft zu blicken !) 2).
Aber die Organisation des Kommunalkredits ist als solche höchst
mangelhaft. Die Kritik, welche Miquel in der Reichstagssitzung vom
2. Mai 1873 darüber fällte: „Kein so fortgeschrittenes Land hat eine
so jämmerliche und erbärmliche Organisation des Kommunalkredits
als Deutschland“, trifft so ziemlich auch heute noch zu. Die Orga-
nisation ist nicht bloß schlecht, sondern so gut wie überhaupt nicht
vorhanden.
1) Friedrieb Freund, Städtische Selbstverwaltung und Verschuldung. Bankarchiv,
15. Mai 1906. — Wilhelm Kähler, Die preußischen Kommunalanleihen 1897. — Rich.
v. Kaufmann, der Kommunalfinanzen in Großbritannien, Frankreich, Preußen, Leipzig
1906, Bd. 2, S. 459, 466, 476, 483 ff.
2) Die Bonität der Stadt Düsseldorf. Düsseldorfer Handelzeitung v. 30. Juni 1906.
Friedrich Zahn,
S
=
Die Schulden von 20 größeren Städten 1849, 1876, 1901 und 1902.
1849 1876 1901?) 1902
Städtische Schuld Städtische Schuld Städtische Schuld Städtische Schuld
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1. Berlin ') 401800114 756 625| 36,87 | 966 858/101 540620, 105,01 |1 896 052 329 654 719| 173,86 |1 920 648.331 971 267| 172,84
2. Breslau 1104 222| 4 281 786| 42,41 | 239050/ 24 201623 101,26 | 429993 60910745 141,66 | 436458 67 536 347 154,73
3. Cöln 88 356| 3 188 085| 36,21 | 135 371) 18976864 140,89 | 383 888 69935 344| 182,18 | 397 307| 86 449 283| 217,58
4. Königsbergi.P.| 70000| 4574799, 65,35 | 122636) 7450004) 60,75 | 190228 40291955| 211,81 | 192050| 43 829 655| 228,22
5. Danzig 58012| 1528 272) 26,35 97 931| 6080710) 62,09 | 145 340 14 208 598) 97,76 | 149080, 16 389 077| 109,98
6. Magdeburg 51 003| 1073493) 21,04 87 925 8402062 95,55 | 227 350 49694 223| 218,58 | 229 757| 50 370 912| 219,23
7. Aachen 48 687| 834.291] 17,13 79606| 1473992| 18,52 | 138 201 19186 105| 138,83 | 140530 23451445 166,87
8. Elberfeld 47 131| 962466] 20,43 80 589] 4256800 53,20 | 157800 49062 417| 310,92 | 160700 51 184 193) 318,50
9. Stettin 42980 1 917 501| 44,59 80972| 5214458 64,38 | 221960 46 112 784| 207,75 | 230820| 49 333 268| 207,75
10. Düsseldorf 39741) 933 621 23,45 80 695| 9160657, 113,51 | 222720 51383 856| 230,71 | 227 587| 55 042 262| 241,85
11. Posen 38 400| 177939| 4,63 60 998| 2275596 37,31 | 121280 18912 972| 155,94 | 124 580 22 299 057| 178.99
12. Crefeld 36 111 = j] = 62 905| 3521 580, 55,90 | 107 600| 18 140 605| 168,59 | 107 740 23 214.000| 215,46
13. Barmen 35984, 616 395| 17,12 86 504|) 4383606 50,67 | 145 117) 36 770 220| 253,38 | 148 054| 40 461 719| 273,29
14. Halle 32 493| 508 869! 15,66 60 503| 5469567) 90,41 | 161 990| 26 843 367| 165,74 | 166 150| 28 640 538| 172,37
15. Potsdam 31 000| 1 280628 41,31 45 003| 1492427| 33,16 60090 4658542| 77,53 60 310| 7 082 6o1| 117,48
16. Frankfurt a. O.| 28460) 1349451 47,35 47 180 903 906 19,16 62460 4861810 77,84 62380 5 234825! 83,91
26663 470679 17,63 48 030| 1942498 40,46 87 050| 11060 143, 127,06 88 690| 11 298 600| 127,38
17756 1128705, 63,57 45 310) 5917 583| 130,60 81 239, 10023 548| 123,38 82 004| 11 322 448| 138,07
19. Duisburg 11 546 89658 7,72 37 380| 2964 893| 79,31 93 650 17 898 354| 191,12 97 050) 18 721 558| 192,90
20. Dortmund 10 515| 18000) 1,71 57 742| 5217781, 89,90 | 148065 32709605! 220,91 | 152022 33 101 165) 217,73
Zusammen |1 220 86039691 263| 32,51 |2 523 188 220845227, 87,53 |5 082 073/912 324 972| 179,52 |5 173 917'976 934 220| 188,82
Zus. ohne Berlin 819 060 24 934 638| 30,44 [1 556 330119 304 607| 76,66 |3 186 021582 670 253| 182,88 |3 253 269,644 962 953| 198,25
1) Die Schulden Berlins und seiner 16 Vorortgemeinden zusammen betrugen am 31. März 1903: 446 455 500 M., gleich 175,6 M.
pro Kopf der Bevölkerung. — Die Schulden Berlins (ohne Vororte) erhöhten sich bis März 1907 auf rund 412 Mill. M. Daran
teil die 6 städtischen Werke (Gas, Wasser, Elektrizität ete.) mit 237°/, Mill. M. und die Stadthauptkasse (Kämmerei) mit 124'/, Mill. M.
Hiervon sollen 1907 rund 11 Mill. M. getilgt werden, wovon 8'/, Mill. auf die Werke, 2'/, Mill. M. auf die Stadthauptkasse entfallen.
Vergl. Prof. Dr. Silbergleit-Schöneberg, Die Entwickelung der deutschen Kommunalanleihen, Bankarchiv, 5. Jahrg., Berlin, 1. Juli 1906, No. 19.
2) Ende des Rechnungsjahres.
nehmen
Der preuß. Sparkassengesetzentwurf vom Standpunkte städtischer Finanzpolitik. 491
Die Obligationen von 20 größeren Städten
1876 und 1905.
Obligationenschuld
Stadt 1876 1905
M. M.
1. Berlin 85 791 270 | 400 938 050
2. Breslau 13 086 650 ; 50227 000
3. Cöln 12 776 250 | 104 620 000
4. Königsberg i. Pr. 7411560 | 40625 600
5. Danzig 197 925 | 6067 300
6. Magdeburg 8016300 | 47 672 800
7. Aachen — 15 680 500
8. Elberfeld 4256800 | 36781 000
9. Stettin 4 505 500 51 266 300
10. Düsseldorf 4 270657 54 000 300
11. Posen 6.096 26 193 200
12. Crefeld I 716 060 13 247 100
13. Barmen 3 741 000 41 928 300
14. Halle 4 994 000 17 494 600
15. Potsdam 192 450 5 635 598
16. Frankfurt a. O. 592 125 I 103 450
17. Erfurt 154350 12 393 000
18. Görlitz 5 803 725 2 928 100
19. Duisburg 2 688 800 18 702 525
20. Dortmund 4776000 | 37 061 000
Zusammen | 164 977518 985 225 723
Zusammen ohne Berlin 79 186 248 | 584 287 673
Vergl. Prof. Dr. Silbergleit-Schöneberg a. a. O.
. Greift man nur aus dem gesamten Kommunalkredit die bei der
Börse eingeführten Kommunalobligationen heraus, so gewahrt man
einen großen Wirrwarr. Nicht weniger als 132 Städte erscheinen im
Berliner Kurszettel mit 346 Einzelanleihen. Dazu kommen noch an
anderen Börsen (namentlich Leipzig, Dresden, Hamburg, Breslau,
Frankfurt a. M., Cöln, München) Obligationen von etwa 90 Städten,
deren Kurse in Berlin nicht notiert sind 1).
. Es sind Anleihen mit den verschiedensten Zwecken, mit den ver-
schiedensten Titeln, jede mit besonderem Tilgungs- und Auslosungs-
modus, und häufig handelt es sich nur um Beträge von nicht mehr
as einer Million im Einzelfalle, um so kleine Beträge, daß Angebot
ud Nachfrage sich schwer gegenseitig finden. Ist schon die in
Preußen von der Regierung geforderte Mindesthöhe der einzelnen
Anleihen ‚mit etwa !J, Mill. M. sehr niedrig gegriffen, so ist man
hdererseits unter diesen Satz noch weit herabgegangen. Pulnitz
at eine Anleihe von 100000 M., Dillingen eine solche von 70000 M.!
Es gibt Städte, die alle 2—3 Jahre mit einer überaus gering be-
messenen Anleihe an den Markt kommen, heute für Kanalisation,
morgen für Wasserwerke, dann für einen Schlachthof; immer andere
a
1) Karl Kimmich, a. a. O. 8. 52
492 Friedrich Zahn,
Zahlstellen, andere Zins- und Tilgungsbestimmungen, andere Stücke-
lung!
Von einem Kurs der Städteobligationen, der dem inneren
Wert entspricht, kann nicht gesprochen werden, trotzdem die Papiere
hinreichend sicher sind, da für die betreffende Schuld das Vermögen
und die Steuern der Kommunen haften. Auch die Kurse der Städte,
unter sich betrachtet, weisen keineswegs diejenigen Unterschiede auf,
welche der verschiedenen Solvenz der einzelnen Städte entsprechen
würden. Lediglich Angebot und Nachfrage regeln den Kurs, wobei
manches geschieht, um Angebot und Nachfrage künstlich zu beein-
flussen, jedoch nicht etwa nach Maßgabe der Qualität der betreffenden
Anlehen, sondern lediglich nach Maßgabe des Interesses, das die
Stadt oder der Emittent an dem Stand der Papiere haben.
(Siehe Tabelle auf S. 493.)
Der Kurs ist regelmäßig noch um 2—3 Proz. niedriger als der
Kurs der gleich verzinslichen Konsols und vielfach auch niedriger
als die Obligationen der mittleren und kleineren Bundesstaaten, als die
gleich verzinslichen Pfandbriefe der landwirtschaftlichen Kreditinstitute.
So notierten beispielsweise:
am
12. Febr. 1902 15. März 1907
3'/,-proz. Reichsanleihe, konvertiert 101,90 96,00
do. nicht konvertiert 102,90 96,00
3'/,-proz. preußische Konsols, konvertiert 101,80 96,00
do. nicht konvertiert 101,90 96,00
31/,-proz. sächsische Konsols 101,25 96,50
3'/,-proz. Hessische Konsols 100,00 94,60
3'/,-proz. Braunschweigische Obligationen 100,20 (®/,) 97,00
3'/,-proz. Rheinprovinz-Öbligationen (Landesbank) 99,50 95,00
3%,,-proz. Centrallandschafts-Pfandbriefe 100,00 94,50
3!/,-proz. Kur- und Neumark-Pfandbriefe 100,00 95,75
3'/,-proz. Schlesische Pfandbriefe 99,50 95,75
Die Folge des niedrigen Kursstandes der Städteanleihen ist, daß
auch bei der Emission der Begebungskurs sehr gedrückt wird. Die
Differenz zwischen den Begebungskursen der Städte- und der Staats-
papiere ist sogar anscheinend noch größer als die zwischen den an
der Börse notierten Kursen. Nach einer Aufstellung von Eberstadt
über die Emission des Jahres 1899 zeigen sich zwischen Begebungs-
kurs und Einführungskurs an der Börse beispielsweise folgende
Differenzen:
Begebungskurs Einführungskurs Differenz
3-proz. Reichsanleihe
3 s O F
„ preußische Konsols f 91°/s 92 2,629
3!/,-proz. Hamburger Anleihe 99,33 99,90 0,67
Hannoversche Prov.-Anleihe 95,78 96,50 0,72
ji Schlesw.-Holsteinsche Prov.-
Anleihe 95,78 96,50 0,72
3'/,-proz. Frankfurt a. M.-Anleihe 93,98 99,10 0,17
3 Cölner Anleihe 96,00 100,50 4,50
o. 94,88 95,80 0,92
4-proz. Elberfelder Anleihe 100,01 101,20 1,19
» Barmer Anleihe 100,08 101,20 1,12
» Düsseldorfer Anleihe 100,03 101,00 0,97
Der preuß. Sparkassengesetzentwurf vom Standpunkte städtischer Finanzpolitik. 493
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494 Friedrich Zahn,
Es war also in den hier mitgeteilten Fällen der Geschäfts-
gewinn der Emissionshäuser bei den Stadtanleihen durchweg ein
größerer als bei den Staats- und Provinzialanleihen. Gleichwohl
sind auch die Banken mit dem gegenwärtigen Zustand der Kom-
munalobligationen nicht zufrieden. Ihr Gewinn hängt ja nicht bloß
ab vom Unterschied zwischen Uebernahme- und Verkaufskurs, son-
dern namentlich von der Schnelligkeit, mit der die übernommenen
Anleihen zum Verkauf gebracht werden können. Das Tempo ist
aber langsam. Oft monate- und jahrelang bleiben Banken auf über-
nommenen Städteobligationen „sitzen“. Selbst der Absatz der An-
leihen größerer Städte geht zeitweise schleppend vor sich. Nicht
selten erwächst daher den Banken außer der Festlegung ihrer Kapi-
talien ein Verlust, so daß sie sich in vielen Fällen nur wegen des
mit der Emission von Stadtanleihen verbundenen Renommees zur
Uebernahme bereit erklären. Auch beim gewöhnlichen Handel in
Kommunalpapieren zeigen sich ähnlich unerfreuliche Erscheinungen.
Die Emissionsbanken müssen häufig das zurückströmende Material
in ihr Portefeuille zu einem von ihnen selbst diktierten Preise
zurücknehmen. Denn die Kursnotizen an der Börse sind oft nur
nominal und beziehen sich auf ganz geringfügige Umsätze, oft sind
die Kurse überhaupt gestrichen. Daher sind öfters selbst kleine
Summen von Obligationen nicht verkäuflich, da die betreffenden
Städte das Material nicht aufkaufen können und Interessenten nicht
zu finden sind. Zudem ist der Markt der meisten Städteanleihen
nur lokal; selbst die Anleihen größerer Städte wandern immer wieder
nach der Ausgabestadt zurück und haben nur hier bei lokalem An-
gebot und lokaler Nachfrage ernsthafte Kundschaft 1).
Dieser schlechte Stand der Kommunalobligationen findet die
nähere Erklärung teils in den nämlichen Gründen, auf die der ver-
hältnismäßige Tiefstand der Kurse der Konsols zurückzuführen ist,
teils noch in besonderen Verhältnissen.
In erster Beziehung spielt eine große Rolle der wirtschaftliche
Aufschwung Deutschlands und die damit zusammenhängende Neigung
des Publikums, seine Vermögensbestände industriellen Werten zuzu-
wenden, die eine höhere Verzinsung als Reich, Staat und Kommunen
gewähren. Dazu kommt die Konkurrenz der Hypothekenbanken mit
ihrer Unmenge von Pfandbriefen und deren rapiden Zunahme.
Ueberhaupt steht, im Gegensatz zu Frankreich, dem Streben nach
Verwendung der Kapitalien in Deutschland eine sehr mannigfaltige
Verwendungsmöglichkeit gegenüber (Pfandbriefe, Reichs-, Bundes-
staatsanlehen, Kommunenobligationen, ausländische Staatsfonds, zahl-
reiche Industriewerte). Dabei ist aber bei uns der Kapitalreichtum
geringer als in Frankreich und England, wo sich der einzelne eher
mit einer niedrigen Verzinsung begnügt und sichere Papiere mit ge-
ringer Verzinsung durchweg lebhafterem Interesse begegnen ?). Ferner
1) Kimmich, a. a. O. S. 53.
2) A. Plate, Munizipalsozialismus und städtisches Anleihewesen in England.
Schmollers Jahrbuch f. Gesetzgebung, Verwaltung u. Volkswirtschaft, 1906, S. 1197.
Der preuß. Sparkassengesetzentwurf vom Standpunkte städtischer Finanzpolitik. 495
werden die Staats- und Stadtanleihen beispielsweise von den eng-
lischen Depositenbanken und Sparkassen für die Anlage ihrer Gelder
stark in Anspruch genommen, überhaupt sind die Summen, die
in mündelsicheren Papieren angelegt werden müssen, in England
verhältnismäßig beträchtlicher. Ist daher von vornherein die Auf-
nahmefähigkeit und Aufnahmewilligkeit des eigenen Landes für
Reichs-, Staats- und Kommunalanleihen beschränkter als anderwärts,
so kommt noch hinzu die Häufigkeit, mit welcher eine um die andere
dieser Anleihen auf den Markt gebracht wird, ferner der Mangel an
gegenseitiger Rücksichtnahme, indem Reich, Staat und Städte bei
der Emission ihrer Fonds sich selbst gewisse Konkurrenz machen
(vielfach zu gleicher oder ungeeigneter Zeit emittieren) — von an-
deren Gründen, die in der Ausbildung der Bankkonzentration 1), in
Er bringt zur Veranschaulichung des oben Gesagten folgende Kursvergleiche für
13. Juni 1905:
Engl. Konsols 90°/,— 90°),
Local Loanes Stock 3 Proz. 99°; —100'/,
Metropolitan Cons. Stock 3'4, „ 1051/,.— 106",
” ” ” 3 n GY rez 98
Birmingham Corp. Stock 3%, „ 104 —106
» ” ” 3 ” 95 — 9
” ” ” 2, » 80 — 82
Liverpool Corp. Stock En 109 —III
» n ” 2, n 78 — 80
” ” ” » 9,
Oxford Corp. Stock 3 ” 90 — 92
Southampton Corp. Stock 3 ú 89 — 91
West-Ham Corp. Stock le 90o — 92
Deutsche Reichsanleihe 3i n 101,30
” ” n 90,50
Preuß. Konsols 3t» 101,30
” ”„ 3 ”» 90,50
Berlin 3'/, „ 100,70 bezw. 100,25
Breslau Sfr 99,90
Charlottenburg urn 100,90
Dortmund Ei 99,00
Potsdam S a 99,60
Stettin Seress 99,00
Düsseldorf 4 » 101,10
1) Vergl. Begründung zum Gesetzentwurf betr. Erhöhung des Grundkapitals der
Seehandlung, Drucksache des Hauses der preuß. Abgeordneten, 1904, No. 252, S. 10:
„Auch die fortgesetzt starke Zentralisierung des Bankwesens und der Bankgeschäfte in
den großen Privatbanken wirkt mittelbar nachteilig auf die Kursentwickelung ein, da
sie die Börse als den hier selbsttätig wirkenden Regulator geschwächt hat. Jede dieser
Großbanken ist eine Börse in sich; während früher die An- und Verkaufsaufträge des
Publikums einer großen Zahl verschiedener Börseninteressenten zugingen und ihre direkte
Erledigung an der Börse die Sicherheit gewährte, daß dort regelmäßig ein größerer Kreis
von Käufern vertreten war, strömt jetzt ein großer Teil dieser Aufträge bei den Groß-
banken zusammen und findet dort durch Kompensation seine Erledigung, während nur
die Aufnahme oder Hergabe der nicht ausgeglichenen Beträge die Börse beschäftigt.
Der Kreis der Interessenten an der Börse hat sich dadurch stark verringert; auch in
völlig normalen Zeiten wirken jetzt oft schon sehr mäßige Beträge, die an den Markt
kommen, kursdrückend, weil zufällig kein Käufer im Markt ist, und die willkürliche
Einwirkung auf den Kurs der Staatsanleihen bedarf meist keiner großen Mittel, um ihres
Erfolges gewiß zu sein“. — Ferner Herm. Schumacher, Die Ursachen und Wirkungen
der Konzentration im deutschen Bankwesen. Schmollers Jahrbuch, 1906, S. 918 ft.
u
496 Friedrich Zahn,
der neuen Börsen- und Stempelgesetzgebung'!) liegen u. s. w., ganz
zu schweigen.
Andererseits sind es, wie gesagt, noch besondere Verhältnisse,
die den Kurs der Kommunalobligationen drücken. Es interessiert
sich für diese überhaupt nur ein beschränkter Markt. Bei aller
Sicherheit, die den Papieren eignet, kann man sie kaufen, aber in
der Regel nur mit Verlust verkaufen. Schon durch eine kleine
Nachfrage oder ein kleines Angebot werden nicht selten verhältnis
mäßig beträchtliche Kurssteigerungen oder Rückgänge hervorge
rufen 2). Auch steht der Beliebtheit der Papiere zu Daueranlagen
die umfassende Auslosung im Wege; so sehr sie das Gute hat, daß
das Publikum aus ihr sieht, wie die Städte auf allmähliche Tilgung
ihrer Schulden bedacht sind und insofern das Vertrauen in die Soli-
dität der Städtepapiere erhöht, so muß doch der Inhaber der Stadt-
anleihen die Last fortlaufender Kontrolle bei Vermeidung von Zinsen-
verlust auf sich nehmen und damit rechnen, daß sein Kapital ihm
ratenweise zum Teil schon in kürzerer Frist heimgezahlt wird’).
Um den Kurs ihrer Anleihen kümmern sich die Städte nach Be-
gebung so gut wie gar nicht. Außerdem ist von Belang, daß, während
die Städte bisher fast jedwede Fühlung auf dem Gebiete des Kom-
munalkredits untereinander entbehren, ihre Geldvermittler, die Banken,
sich vorzüglich organisiert haben und ziemlich solidarisch bei Ange-
boten den Städten gegenübertreten.
Diese Bankorganisation, diese Konsortialbildung, vollzog sich
teils als Rückversicherung, teils als Korporation oder Unterordnung
unter eine führende Bank (Preußenkonsortium unter Führung der
1) Dies wird jetzt auch von der Reichsregierung zugegeben. Reichskanzler Fürst
Bülow sagte in dieser Hinsicht im Reichstag am 25. Februar 1907 folgendes: „Im
Interesse des Staatskredits und unseres ganzen Wirtschaftslebens werden, wie ich hoffe,
Rechte und Linke dahin wirken, daß unser Kapitalmarkt gekräftigt wird, und daß
unsere Börse in den Stand gesetzt wird, ihrer Aufgabe als wichtiges nationales Wirt-
schaftsinstrument gegenüber den Börsen des Auslandes besser als bisher gerecht zu
werden. Die Praxis hat zweifellos ergeben, daß durch einzelne Bestimmungen der
gegenwärtigen Gesetzgebung die deutschen Börsen in ihrem Wettbewerb mit den aus
ländischen Börsen in eine nachteilige Stellung gedrängt sind, die dem Gesamtinteress®
des Landes nicht entspricht.“
2) Vergl. Beispiele im Berl. Jahrbuch für Handel und Industrie, 1906, Bd. 1,
S. 167:
Bielefelder 4-proz. Stadt-Anl. 9. Mai 101,30 Proz. 10. Mai 102,00 Proz.
Berliner 4-proz. Stadtsyn.-Anl. Mrz 103,75 5 2. s 102.10 „
Spandauer 4-proz. Stadt-Anl. 3. Juli 100,75 „ 17. Juli 102,20 „
A 3'/-proz. Stadt-Anl. 9. Mai 98,735 u 22. Mai 97,00 u
Elberfelder 3'/,-proz. Stadt-Anl. 11. ,, 9740 „ A 98,40 »
Gießener 3'/,-proz. Stadt-Anl. 1. Aug. 98,00 „ 4. Aug. 96,25 „
3) Diese Unbeliebtheit von auszulosenden Wertpapieren zeigt sich auch im Kur
der 3'/,-proz. Berg.-Märk.-Eisenb.-Prior.-Obligationen, die bekanntlich ausgelost, nicht
zurückgekauft werden: sie stehen ständig niedriger als die anderen Staats- und Reichs-
konsols. Beispielsweise war am 22. Febr. 1907 der Kurs der ersteren 96,50, der letz
teren 97,40—97,60.
Der preuß. Sparkassengesetzentwurf vom Standpunkte städtischer Finanzpolitik. 497
Seehandlung). Angestrebt wird dabei, entweder größere Anleihe-
werte überhaupt unterzubringen, da der Markt sehr überschwemmt
ist mit Anleihewerten, oder den Uebernahmepreis für die Bank
günstiger zu gestalten durch entsprechenden Druck auf die Städte,
oder den Typus von 4 Proz. (statt 3!1/, Proz.) durchzusetzen, was
allerdings gleichzeitig den Wünschen des gegenüber niedrig verzins-
lichen Titres wenig kauflustigen Publikums entspricht, oder man
sucht das Risiko zu verteilen, d. h. die Gefahr, unter Umständen
jahrelang viele Millionen an schwer verkäuflichen Obligationen einer
Kommune in deren Tresors zu haben. Daß diese Koalition der
Banken ein großes Machtwort gegenüber den Städten spricht, hat
erst jüngst die Stadt Cöln bei ihrer Submission einer 36-Millionen-
anleihe am 12. Juni 1906 erfahren. Sie erhielt keinerlei Angebot
für 3Y;-proz. Anleihe, dagegen von den Banken die Erklärung, daß
die Lage des Geldmarktes die Uebernahme von 3'/,-proz. Stadt-
anleihen nicht möglich macht. Frankfurt a. M. war gezwungen, um
eine 3Y/,-proz. Anleihe von 15,5 Mill. M. begeben zu können, sich mit
Pariser Banken in Verbindung zu setzen!). Bei diesem Vorgehen der
Banken handelt es sich keineswegs um irgend eine Bankverschwörung
auf dem Geldmarkt, aber diese mächtigen, einflußreichen Konsortien,
mit ihrer zielbewußten, vielleicht auch richtig vorausschauenden
Bankpolitik, haben für ihre Gegenkontrahenten den Nachteil, daß sie
die Entwickelung beschleunigt und verschärft haben.
Es fragt sich, wie diesem unerfreulichen Zustand ab-
geholfen werden kann. Und nach Abhilfe muß schon um
deswillen gesucht werden, weil der hohe Stand der Kommunalver-
schuldungen und die Aussicht, daß bei den fortgesetzt wachsenden
Aufgaben der Städte der Kredit weiterhin in hohem Maße in An-
spruch genommen werden muß, eine Verminderung des Schulden-
dienstes dringend notwendig erscheinen läßt.
Bekanntlich sind Reich und Staat in dreifacher Richtung tätig,
um den Kursverhältnissen ihrer Konsols aufzuhelfen. Sie suchen
nach Erweiterung der Absatzgebiete, ferner nach einer besseren
Pflege des Geldmarktes durch eine entsprechend gekräftigte Staats-
bank, und erstreben eine größere Festlegung der Papiere oder Kon-
sols in dauernden Anlagen (durch Schuldbuch).
Um das Absatzgebiet für die Städteobligationen zu erweitern,
wird man dem begegnen müssen, was bisher ihrer Beliebtheit im
Wege stand: der zu großen Auslosung. Vielleicht können die Stadt-
gemeinden, da es ihnen ja zumeist frei steht oder unbedenklich bei
Erteilung neuer Anleiheprivilegien gestattet werden wird, statt all-
jährlicher Auslosung fortlaufende Rücklagen machen für einen Fonds,
1) Auch die eben verflossenen Monate Februar und März 1907 lieferten bei den
in dieser Zeit erfolgten Begebungen von Stadtanleihen zu dem oben Gesagten eine Reihe
typischer Beispiele.
Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII), 32
498 Friedrich Zahn,
der die Rückzahlung der gesamten Anleihe bei Ablauf der vorge-
schriebenen Tilgungsfrist ermöglicht.
Gegenüber der Konkurrenz der Hypothekenbanken, welche eine
höhere Provision bei Emission der Pfandbriefe bezahlen, bleibt
nichts übrig als daß auch die Städte die Vermittelungsgebühr für
ihre Emissionen höher ansetzen. Auch an regelmäßige entsprechende
Vergütungen für Vermittler wird zu denken sein. Der Interessenten-
kreis und damit die Zugänglichkeit des Marktes läßt sich möglicher-
weise schon auf diese Weise etwas erweitern.
Ferner wird vorgeschlagen (von Schott, Frankfurt a. M.), bei
Abschluß einer Anleihe solle die geldaufnehmende Stadt einen kleinen
Prozentsatz (!/ Proz. bis 1 Proz.) zurückstellen, um für die Auf-
nahme der angebotenen Obligationen, um für die Aufnahme des an
den Markt kommenden Materials Mittel zu sichern: also ein Sicher-
stellungsfonds für die Städte auf die Dauer von 5 Jahren. Dazu
kämen sonstige kleinere Mittel, die als Vergünstigungen den Be-
sitzern der Kommunalobligationen in Aussicht gestellt werden: mög-
lichst frühzeitige Einlösung der Coupons (14 Tage vor Verfall);
Benachrichtigung der Besitzer von ausgelosten Papieren soweit dies
möglich, um sie vor weiteren Verlusten zu bewahren, welche Mög-
lichkeit bei Coupons mit Adresse auf der Rückseite besteht. Auch
Entschädigung der Besitzer von ausgelosten Papieren, die den Zahl-
termin übersehen haben, durch Bewilligung einer herabgesetzten
Zinsvergütung bei Einlösung der ausgelosten Stücke innerhalb eines
bekannt gegebenen Zeitraumes vom Zahlungstermin ab. Ferner Er-
richtung zahlreicher Einlösungsstellen und deren Vermerk auf den
Coupons, denn jede Verkehrserleichterung bewirkt eine Verkehrs-
steigerung. Sodann Vergütung für die Einlösung der Coupons und
verlosten Stücke und Ausnahmspreise bei größerer Abnahme von
Stücken.
Außerdem wird, soweit es nicht schon geschieht, bei Begebung
von Anleihen das Mittel der Submission — beschränkte oder all-
gemeine — mehr als bisher zu verwerten sein. Und zwar ist nicht
der ganze aufgenommene Anleihebetrag in engere oder weitere
Submission zu stellen, sondern nur die Summe, die man braucht,
die anderen zu späterer Zeit, um selbst die jeweilige Konjunktur
ausnützen zu können. Daneben ist wichtig die Wahl eines mög-
lichst günstigen Zeitpunkts für die Begebung; zu dem Zweck ist
es rätlich, bei Einführung der oberaufsichtlichen Genehmigung das
Anleihebedürfnis gleich für mehrere Jahre festzustellen und sich
statt für verschiedene Duodezanleihen lieber gleich für eine herz-
hafte Anleihe die Zustimmung der vorgesetzten Behörde zu sichern,
dies verursacht dann nicht bloß weniger Kosten für Druck der An-
leihe etc., sondern gewährt noch freiere Hand dafür, die Anleihe zu den
jeweils erforderlichen Beträgen im richtigen Moment zu begeben. So-
dann können sich die Städte gegenseitig unterstützen bei Deckung ihres
Anleihebedürfnisses, indem die einen die anderen bei ihren Anlagen
berücksichtigen. Auch muß die Lombardierungsfähigkeit sowie die
Der preuß. Sparkassengesetzentwurf vom Standpunkte städtischer Finanzpolitik. 499
Möglichkeit der Einlösung der Coupons durch die Reichsbank ange-
strebt werden.
Das sind alles sogenannte kleine Mittel, die schon mehr oder
weniger bei den Städten eingeführt sind, die aber für sich allein
noch keine wesentliche Aenderung in den Kursen herbeiführen.
Es muß noch eine wesentliche Verbesserung der Stellung der
Städte auf dem Gebiete des Geld- und Bankwesens hinzutreten.
Die einzelne Stadt ist zu schwach gegenüber den Mächten, die hier
herrschen, gegenüber den Großbanken und den Bankgruppen, gegen-
über der Staatsbank. Aber vereint sind auch die Schwachen mächtig.
Der Städtekredit muß aus seiner Vereinzelung herausgebracht werden,
er muß den anlagesuchenden Kapitalisten gegenüber mehr einheit-
lich gestaltet werden. Dies ist nur möglich bei Koalition der Städte,
bei Zentralisierung des Kommunalkredits.
Versuche liegen bereits vor. Ich erinnere an die Provinzialhilfs-
kassen, die an Stelle vieler kleiner Gemeindepapiere wenigstens
innerhalb einer Provinz ein einheitliches setzen (Landesbank der
Rheinprovinz)!). Einen anderen Versuch stellen die Hypotheken-
banken vor, die mit dem Hypothekengeschäft den Kommunalkredit
verbinden (Preußische Zentralboden-Aktiengesellschaft, Berlin, Rhei-
nische Hypothekenbank, Mannheim, Aktiengesellschaft für Boden-
und Kommunalkredit in Elsaß-Lothringen, Schlesische Aktiengesell-
schaft). Sodann erinnere ich an die seit 1871 bestehende Kommunal-
bank für das Königreich Sachsen ?).
Es gilt meines Erachtens die bisherigen, gegenüber der großen
Aufgabe freilich bescheidenen Versuche auszugestalten. Die Städte
müssen sich zusammentun und gemeinsam ein Geldinstitut schaffen,
das ihre Kreditinteressen wahrnimmt, oder ein solches Institut an
vorhandene angliedern.
Für eine Neugründung käme in Frage entweder eine Genossen-
schaft, der die Hilfe der Preußischen Zentralgenossenschaft zur
Seite stehen könnte, oder ein eigenes Unternehmen der Städte im
Zusammenhang mit der Sparkassenkonzentration ë), oder eine Aktien-
gesellschaft mit den Rechten der Öbligationenausgabe oder eine
Zentralkommunalbank in Verbindung mit einer allgemeinen Grund-,
j 1) Zeitweise in Deutschland der Invalidenfonds, der vielleicht jetzt mittels der bei
ihm für Zwecke der Arbeiter-Witwen- und -Waisenversicherung angesammelten Gelder
seine Tätigkeit zu Gunsten des deutschen Kommunalkredits wieder aufnehmen könnte;
in Belgien der Credit Communal Belgique für die an dem dortigen Fonds communal
beteiligten ehemaligen Oktroikommunen; in Frankreich die Caisse des dépôts et con-
“ignations, deren elsaß-lothringische Abzweigung dort mit der gleichen Bestimmung weiter
Wirkt; in Schweden die Schwedische allgemeine städtische Hypothekenkasse in Stockholm.
; 2) Vergl. die sehr verdienstliche Darstellung von J. Jastrow, Der städtische An-
leihemarkt und seine Organisation in Deutschland. Conrads Jahrbücher für Nat.-Oek.,
Bd. 20, $. 310. — Dr. Koch, Städtische Anleihen und Bankpolitik in Wuttkes „Die
deutschen Städte“, Leipzig, 1904, Bd. 1, S. 690.
3) Vergl. die Erörterungen über Grundzüge für ein Zentralgeldinstitut der kom-
munalen preuß, Sparkassen. Volkswirtsch. Zeitschrift „Die Sparkasse“, 1899 No. 417,
418, 421, 422; 1900 No. 447; 1901 No. 454, 460—462. i
32*
500 Friedrich Zahn,
Renten- und Hypothekenanstalt, oder begründet von einer Großstadt,
der allmählich andere oder alle Städte einer Provinz oder eines
Bundesstaates sich anschlössen t). Beispielsweise wäre dies eine
würdige Aufgabe, für die Stadt Berlin, die schon bisher auf dem An-
leihemarkt eine mächtige Stellung einnimmt (Berlin braucht sich be-
kanntlich auf den 4-proz. Typus noch nicht einzulassen, hat nur
31,-proz. Anlehen, „braucht nicht zu antichambrieren“ — Miquel).
Jedenfalls muß es ein Rieseninstitut sein, da nur dieses gegenüber den
übrigen maßgebenden Geldmächten konkurrenzfähig auftreten kann.
Fraglich ist, ob eine solche Städtebank angegliedert werden darf an die
Staatsbank; die Verkoppelung der Finanzinteressen der Kommunen
mit denen des Staats verträgt sich nicht mit dem Wesen der Selbst-
verwaltung der Kommunalkörperschaften ?) und erscheint auch für den
Kriegsfall bedenklich (daher auch keine Postsparkassen). Dieserhalb
scheint mirs auch nicht richtig, vom Staat den Zusammenschluß der
Städte für den Anleihekredit zu erwarten.
Natürlich wäre mit einer Bank lediglich für die kleineren und
Mittelstädte wenig bezweckt. Es kann nur etwas erreicht werden,
wenn die Großstädte, Mittelstädte und Kleinstädte sich zusammentun.
Die Großstädte geben dem Institut das Ansehen, die anderen bringen
die Masse des Geschäfts. Beachtenswert ist der Vorschlag von Karl
Öttermann (Düsseldorf), zunächst den Versuch mit einer Städtebank
für die Rheinprovinz zu machen, deren Aufgabe es sein soll, sich der
Städteanleihen und überhaupt des Kommunalkredits der Provinz
anzunehmen. Er meint, die großen Städte der Rheinprovinz, Cöln,
Düsseldorf, Crefeld, Aachen, Barmen, Elberfeld, Essen, sollten zu-
sammen vielleicht mit den westfälischen Städten Dortmund, Bochum,
Hagen, Bielefeld, Münster, Minden eine (senossenschaftsbank in
Aussicht nehmen und zum Zwecke der Beteiligung daran gemeinsam
den Antrag stellen, jeder Stadt eine entsprechende Anleihe von
einigen Millionen zu bewilligen; eine Beteiligung weiterer Städte
könnte vorgesehen werden, ebenso wie das Gesetz über die Zentral-
genossenschaftskasse eine Beteiligung anderer Institute vorsieht.
Sollten jedoch die geeigneten Städte in genügender Zahl
sich zu einer Vereinigung für Ausgabe zentraler Kommunal-
obligationen sich nicht zusammenfinden — trotz des jetzigen
Deutschen Städtetages —, so ließe sich vielleicht nach Analogie der
allgemeinen deutschen Creditanstalt in Leipzig ?), die auf eigene
Faust die Kommunalbank des Königreichs Sachsen unter Zuhilfe-
1) Das englische Parlament billigt die Praxis, daß größere Städte Anleihen im
ausschließlichen Interesse kleinerer Gemeinden oder sonstiger Verwaltungskörper auf-
nehmen. Insbesondere spielt das London County Couneil den Bankier für die Metro-
politan Boroughs. Dieses Verfahren ist zweckmäßig, weil bekanntlich größere, leistungs-
fähige Städte das Geld viel billiger bekommen.
2) Riehard v. Kaufmann, Die Kommunalfinanzen, (Großbritannien, Frankreich,
Preußen). Leipzig 1906, Bd. 2, S. 448.
3) In Paris ist der Credit foncier in weitem Maße Darlehnsgeber der französischen
Kommunen geworden.
Der preuß. Sparkassengesetzentwurf vom Standpunkte städtischer Finanzpolitik. 501
nahme von Personalunionen gründete, eines der großen Bankkon-
sortien dazu gewinnen, die Städtebank ins Leben zu rufen; denn,
wie vorhin erwähnt, hat ja auch die Bankwelt an der Schaffung
eines einheitlichen Wertpapieres erhebliches Interesse, es braucht
also das Unternehmen einer Städtebank keineswegs gegen die Bank
zu erfolgen, sondern erfolgt zweckmäßig unter ausdrücklicher Mit-
wirkung derselben.
Die Finanzierung der Bank müßte derart sein, daß die Städte-
bank die bei ihr beteiligten Städte von dem jeweiligen Geldmarkt
einigermaßen unabhängig zu machen vermag; sie müßte in der Lage
sein, selbst unter ungünstigen Zeitverhältnissen Anleihen abzu-
schließen und Abschlagszahlungen auf die perfekt gewordenen An-
leihegeschäfte auch dann zu leisten, wenn der Markt der Anleihe-
scheine nicht sonderlich aufnahmefähig ist.
Die Tätigkeit der Städtebank hätte sich zu erstrecken und zu be-
schränken auf die Abschlüsse von Anlehensgeschäften mit den Ge-
meinden und auf die verzinsliche Anlegung ihres Betriebskapitals
in Lombard und sicheren Wertpapieren. Die Abschlüsse mit den
Gemeinden wären durchaus der freien Vereinbarung zu überlassen, so
daß ebenso Darlehen auf kürzere Zeit wie solche auf eine längere
Reihe von Jahren mit Rückzahlung des gesamten Kapitals in un-
getrennter Summe oder in Annuitäten abgeschlossen und der Zinsfuß
den Verhältnissen des Kapitalmarktes zur Zeit des Abschlusses an-
gepaßt werden kann. Auch hätte die Bank auf Wunsch bereits
bestehende Anleihen käuflich zu übernehmen.
In dem Maße als die Bank Anleihen mit Städten abschließt, muß
sie berechtigt sein, unter ihrer Firma Anlehensscheine (Zentralkommu-
nalobligationen) in Abschnitten auszugeben, die in gleichem Verhält-
nis getilgt werden wie die Anlehen der Gemeinden.
Den Inhabern der Anlehensscheine stünde ein Pfand an den
Forderungen zu, welche die Bank gegen Gemeinden erwirbt, so daß
sie direkt auf die nach Lage der Verhältnisse und der gesetzlichen
Bestimmungen unzweifelhaft Sicherheit bietende Steuerkraft der
letzteren angewiesen sind.
Diese Zentralkommunalobligationen hätten an Stelle der bisherigen
222 verschiedenen Städtepapiere zu treten und den nunmehr ver-
einheitlichten Kommunalkredit zu repräsentieren. Diese Papiere
würden ihren Umlaufbeträgen und ihrem Werte nach sich würdig
an die Seite der Reichsanleihen und preußischen Konsols reihen.
Mit welchen Summen die Städtebank arbeiten könnte, ergibt sich
aus folgendem: Es beziffern sich die Anleiheschulden (nicht nur der
Inhaberpapieranleihen) von 52 deutschen Städten mit über 50 000
Einwohnern im Jahre 1902 auf 2 Milliarden, die Anleiheschulden
des Reichs in demselben Jahre auf 2,7 Milliarden, von Preußen auf
6,7 Milliarden.
Die Städtebank würde also fast eine gleiche Schuldenmasse wie
die Reichsschuld und ein Drittel der preußischen Staatsschuld re-
Präsentieren.
502 Friedrich Zahn,
Auch die weitere Pflege dieses Papiers auf dem Geldmarkt
wäre natürlich Sache der Städtebank. Diese hat die Zinsscheine
und ausgelosten Wertpapiere einzulösen und bekommt einen Fonds,
um vorübergehend an der Börse Angebote der von ihr ausgegebenen
Stadtanleihen, die nicht gleich einen Käufer finden, aufzunehmen,
um sie bei nächster Gelegenheit wieder abzustoßen. Die Auslosung
kann auf ein Minimum reduziert werden und statt dessen ein ähn-
liches Verfahren, wie bei den Reichs- und Staatsanleihen eintreten.
Auslosungen und Rückkäufe von Zentralkommunalobligationen würden
nämlich ganz unterbleiben, soweit ihr Betrag, was regelmäßig der
Fall sein wird, durch Neuaufnahme von Anleihen überschritten wird.
(Im Jahre 1898 betrug der Ueberschuß der Neubegebungen über
die Tilgungssumme 74,8 Mill.) Während jetzt viele Millionen jähr-
lich zu Tilgungszwecken nutzlos dem Verkehr entzogen werden unter
Belästigung der Inhaber solcher Schuldverschreibungen, würde künftig
zwar jede Stadt auch tilgen, aber durch Zahlung an die Städtebank,
und diese würde, wie jetzt schon Reich und Staat, Obligationen nur
zurückziehen, falls kein neuer oder kein gleich hoher Anleihebedarl
vorhanden ist.
Die begebenen Anleihewerte werden zweifellos nunmehr einen
großen Markt erzielen, sie werden täglich an der Börse beachtet
werden, es werden fortgesetzt Umsätze in ihnen stattfinden. Die Be-
sitzer erhalten mehr als bisher die Gewißheit, Beträge von nicht über-
mäßiger Höhe ohne Beeinflussung des Kurses anbringen zu können.
Die Papiere erhalten einen ausgedehnten, willigen, leistungsfähigen,
börsengängigen Markt innerhalb ganz Deutschland, eventuell auch
an ausländischen Börsen. Je größer aber der Markt, um so leichter
sind die betreffenden Anleihepapiere nutzbar zu machen, um s0
höher steht ihre Bewertung, um so besser ihr Kurs überhaupt und
in Beziehung zum Kurs der Staatspapiere, um so günstigere Be-
dingungen können bei Neuemissionen für die einzelnen Geld
suchenden Städte erzielt werden, um so weniger brauchen sie Mittel
für den gesamten Schuldendienst zu verwenden, um so mehr können
sie die Steuerzahler schonen. Namentlich wird sich der 3!/,-proz.
Typus für die zentralen Kommunalobligationen wieder durchsetzen
lassen (vergl. Berlin) mit allen seinen Vorzügen für die Tilgung.
die ohne Auslosung, lediglich im Wege des Rückkaufs vollzogen
werden kann.
Die Mündelsicherheit solcher zentraler Kommunalobligationen
kann auf Grund $ 1807 Absatz 4 des BGB. beschafft werden, wo
nach der Bundesrat den Kreis der mündelsicheren Papiere er-
weitern kann.
Dann steht auch nichts im Wege, daß die Städtebank den größten
Teil des Kredits der städtischen Sparkassen an sich zieht.
Während die Sparkassen vorläufig vor Hereinnahme schwer wieder
loszuschlagender Stadtobligationen kleinsten Umfangs geradezu ge
warnt werden müssen, können sie, sobald ein marktgängiges Städte-
papier geschaffen, unbedenklich diesem Papier ihre Bestände zu-
Der preuß. Sparkassengesetzentwurf vom Standpunkte städtischer Finanzpolitik. 503
wenden. Der jetzige Sparkassengesetzentwurf wird daher nach
Schaffung eines einheitlichen Städtepapiers vorzüglich im Interesse
der Städte (und in Konkurrenz mit Reich und Staat) ausgenutzt
werden können.
Andererseits würden der Städtebank auch alle freien Bestände
der Städte und der Sparkassen zur vorübergehenden zinsbaren An-
legung zufließen können, wie dies jetzt gegenüber den Landesbanken
und der Preußischen Zentralgenossenschaftskasse geschieht.
Auch kann die Städtebank manche Geschäfte ohne Beschreitung
des allgemeinen Marktes abschließen; so läßt sich namentlich durch
die Städtebank auch die gelegentliche Geldbeschaffung für die Städte
(die städtischen Sparkassen) im Wechselverkehr unter Ver-
meidung der Lombardierung und des hohen Lombardzinsfußes viel
umfassender als bisher ermöglichen. Ein Wechsel, der die Unter-
schrift der Städtebank als Ausstellerin und z. B. der Stadt Düssel-
dorf als Bezogenen enthält, würde ein Primapapier sein und mit
Privatdiskont gehandelt werden.
Die Städtebank hätte ferner ein großes Netz von Filialen zur
Verfügung in Form der Mitarbeit der Städte selbst, nicht allein für
den Absatz, sondern auch für die Couponseinlösung.
Eine solche Organisierung des Kommunalkredits im Wege der
Zentralisierung wird sich immer mehr als notwendig erweisen, da
der Anleihebedarf mit den fortwährend wachsenden Aufgaben der
Kommunen weiter rasch zunehmen wird, und zugleich seitens des
Staates man daran denkt (aus den oben erwähnten Gründen) nicht
bloß Sparkassen, sondern auch andere Geldquellen, die sich bisher
den Städten zugänglich erwiesen, in höherem Maße für sich in An-
spruch zu nehmen; man spricht von Wiederaufnahme des Projekts
der Postsparkassen, von Beschränkungen der Landesbanken und
Provinzialhilfskassen, von Beschränkungen der Lebens-, der Landes-
versicherungsanstalten und Berufsgenossenschaften, die man ver-
pflichten möchte, ihr Vermögen zu einem gewissen Teil in Reichs-
und Staatspapieren anzulegen. Und auch die preußische Seehand-
lung, welche bekanntlich auch die Pflege des kommunalen Kredits,
des Anleihewesens der Provinzen, Kreise, Städte in den Bereich
ihrer Tätigkeit gezogen hat, wird auf die Dauer selbst beim besten
Willen nicht in der Lage sein, die immer steigenden Kreditbedürf-
nisse der Kommunen zu befriedigen, da ihrer zu umfassende Auf-
gaben seitens des Staats- und Reichskredits harren. Andererseits
wird sie hinreichend noch als Darlehnsvermittlerin für die an der
Städtebank nicht beteiligten Kommunen, Kreise und Provinzen und
auch als subsidiäre Darlehnsvermittlerin für die Kommunen der
Städtebank zu tun haben.
Wenn eine solche Städtebank mit einem Städtepapier vorhanden
ist, das einen breiten, sicheren, aufnahmewilligen Boden hat und in
großen Summen auf dem Markt ist und in seinen Werten und Um-
laufbeträgen an die Seite der Reichsanleihen und preußischen Konsols
504 Friedrich Zahn,
treten kann, dann ist auch die Zeit gegeben, die Einrichtung eines
Städteschuldbuches ernster in Erwägung zu ziehen.
Das Stadtschuldbuch, wie es bisher in Frankfurt a. M.!), Cöln,
Kassel durchgeführt ist, ist praktisch eine bankmäßige Aufbewahrung
und Verwaltung von Schuldverschreibungen der betreffenden Stadt,
es ist eine Art amtlicher Hinterlegungsstelle für städtische Schuld-
verschreibungen, ähnlich der amtlichen Hinterlegungsstelle der
Rheinischen Landesbank. Die Stadt besorgt die gesamte Verwal-
tung der hinterlegten Schuldverschreibungen, insbesondere auch die
Uebermittelung der Zinsen und die Kontrolle der Verlosung.
Die Eintragung der Schuldverschreibung ins Stadtschuldbuch
hat praktisch die gleiche Wirkung wie eine Umschreibung des Wert-
papiers auf Namen. Dazu kommt der Vorteil für den Gläubiger,
daß, wenn er seinen Besitz an Schuldverschreibungen ins Schuld-
buch eintragen läßt, ihm Mühe und Risiko, das aus der eigenen
Verwahrung und Kontrolle der Papiere entsteht, abgenommen ist.
Das Verlieren an Anleihescheinen und Coupons, die Schäden an
ihnen durch Diebstahl oder Verbrennen sind ausgeschlossen. Die
Schuldverschreibungen gewinnen also noch an Sicherheit und eignen
sich noch besser zur Anlegung von Mündelvermögen, weil die Stadt
als Schuldnerin der verbrieften Forderungen die Verwahrung über-
nimmt und infolgedessen auch für das Abhandenkommen der Papiere
— außer bei Zufällen und höherer Gewalt — haftet. Die Kontrolle
der Verlosung wird seitens der Stadt besorgt und Ersatzstücke
werden rechtzeitig beschafft. Auch darin mag für manchen ein Vor-
teil des Schuldbuchs liegen, daß die Forderung an die Stadt nicht
bei den ersten besten, wenn auch noch so wenig dringenden An-
lässen, versilbert werden kann. Außerdem kann eine Aufrechnung
der Zinsen mit Steuer- und sonstigen (Gas-, Wasser-)Rechnungen
des Besitzers mit dessen Einverständnis erfolgen.
Vom Standpunkt der Stadt bedeutet das Schuldbuch ein Mittel
für bessere Klassierung ihrer Anleihe. Der Besitz an Städtepapieren
wird seßhafter gemacht. Wenn ein größerer Teil der Schuldver-
schreibungen als bisher in festen Händen zu dauernder Anlage ge-
bracht wird, so wird das Angebot im freien Verkehr verringert, die
Nachfrage nach freien Schuldverschreibungen am offenen Markt be-
lebt, und auf deren Kurs ein befestigender, steigender Einfluß aus-
geübt. Allerdings, der freihändige Verkauf an Tilgungsraten (für
3t/-proz. Anleihe) wird erschwert. Und so lange Auslosungen statt-
finden müssen, besteht auch eine große Bewegung in den einge-
tragenen Schuldbuchmassen. Abgesehen davon erwächst für die
Stadt eine große Verwaltungsarbeit, nicht bloß durch Eintragungen
und Löschungen (wie beim Staatsschuldbuch), sondern außerdem
durch Verwahrung der eingelieferten Stücke, die sie nicht vernichten
kann wie Staat und Reich in Verbindung mit dem Reichs- und
Staatsschuldbuch.
1) Vergl. auch Georg Benkard, Das Stadtschuldbuch der Stadt Frankfurt a/M.
Berlin 1906.
Der preuß. Sparkassengesetzentwurf vom Standpunkte städtischer Finanzpolitik. 505
Die Erfolge, die bisher bei den Städten mit Stadtschuldbuch !)
erzielt worden sind, sind denn auch nicht so erheblich, daß die Ein-
richtung ohne weiteres für die anderen Städte zur Nachahmung sich
empfiehlt. Der Kursstand der Papiere von Städten mit Schuldbuch
steht nicht besser als der Kursstand der anderen Städtepapiere, die
Kursschwankungen sind bei jenen nicht geringer als bei diesen.
Bei neuen Emissionen haben die Städte mit Schuldbuch keine höheren
Uebernahmekurse als die anderen Städte erzielt.
Sobald aber für die Städte ein einheitliches Papier mit großen
Beträgen, umfassendem Markt, großen Umlaufsbeträgen und ent-
sprechender Beliebtheit beim Publikum erreicht ist, lassen sich die Vor-
teile, die tatsächlich mit dem Schuldbuch verbunden sind, ganz anders
ausnutzen und in ähnlicher Weise in den Dienst der Städte stellen,
wie das Reich und Preußen ausweislich nachstehender Tabelle es be-
reits durch das Reichs- und Staatsschuldbuch für sich getan haben.
a) Reichsschuldbuch?).
Davon waren in das
Gesamtbetrag
: der begebenen Reichsschuldbuch
Am 31. März] Reichsanleihen eingetragen
M. M. Proz.
1893 1 740 842 500 84 067 400 4,83
1894 1915714500 | 124 590 600 | 6,50
1895 2081 219800 | 186 137 200 8,94
1896 2 125 255 100 | 227 865 600 10,72
1897 2 141 242 300 | 246 579 500 11,52
1898 2 182 246 800 | 281 449 600 12,90
1899 2 222950 700 | 287 031 500 | 12,91
1900 2 298 500000 | 304 508 000 | 13,25
1901 2315650000 | 309 839 500 13,38
1902 2 733 500000 | 335 817 200 12,29
1903 2733 500000 | 347 694 700 12,72
1904 3 023 500000 | 379 371 000 12,55
1905 3 383 500 000 | 567 833 200 16,78
Ende August
1906 3 643 500 000 | 605 144 000 16,61
1) Betriebsziffern der Schuldbuchverwaltung in Frankfurt a./M.:
Stü
Gesamtanleihe- Stückzahl der
schulden M. Kontenzahl Betrag DER
Ende März 1903 88 10 592 900 7507
1904 131 000 000 160 13 516 800 9429
1905 136 000 000 270 16 825 800 11 271
September 1906 478 22 300 000
Ende 1905 bestanden 203 Konten für physische Personen mit 9468600 M., 67 Konten
für nicht-physische Personen mit 7357200 M. Die Zinsenzustellung erfolgte 1904/5
für 24 durch Postanweisung, 108 an der Kasse, 80 durch Vermittlung von Bankhäusern,
55 durch Gutschrift auf Sparkassenkonten, 3 durch Ansammlung zum Ankauf neuer
Schuldrerschreibungen.
Gebühren sind eingegangen bis Ende März 1904 7026,25 M.
J ú 7 Sr: „ 1905 8877,25 „
p also von 1904—1905 1851 M.
2) Nach Mitteilungen in der Begründung zum Gesetzentwurf betr. das Reichsschuld-
buch von 1904, 3
Friedrich Zahn,
b) Preußisches Staatsschuldbuch!)).
Zahl der | Höhe des Kapitals im
Preußische Konten im Staatsschuldbuch
Jahr Staatsschuld in | Staats- in Proz
Millionen M. schuld- absolut T Suie
buch M 2
M | schuld
31. März
1889 4457.1 6 781 387 804 400 8,70
1890 5230,9 7871 451 137 600 8,62
1891 5834,7 9 632 543 013 100 9,31
1892 6061,7 12 039 687 645 700| 11,34
1893 6243,7 14 295 848 777050, 13,59
1894 6371,5 15 897 949412450 14,90
1895 6353,8 16998 | 994816600 15,86
1896 65 13,9 18 037 1058733 800| 16,25
1897 6498,1 19 467 1 158 586 500| 17,83
1898 6485,2 21 569 1 288 193 100| 19,86
1899 6505,6 22 732 I 292 244 450| 19,86
1900 6591,6 26 102 1 385 316 900| 21,02
1901 6602,8 28 909 1 466 168 250| 22,21
1902 6720,8 30 337 1577323650 23,47
1903 7026,7 31383 1629 887 550| 23,20
1904 7035,0 32477 1709584 050° 24,30
1905 33 957 1 781 172 750
Jahr
31. März
1891
1894
1897
1899
1902
1905
we | In Buch-
Kapitalien Größere San Kontam
bis zu Kap physische | Wert juristische Wert
50 000 M.| anlagen Personen | | Personen
Proz. | Proz. | | M. M.
84,0 16,0 6203 |275 899050 1537 |158 207 850
84,3 15,7 10594 |457 590 400| 2599 |312 969 000
84,5 15,5 12988 1535 732 500| 3093 |407 789 300
84,7 15,3 15 132 [596614 450| 3613 |473 699 150
86,2 13,8 18372 |717 527 000 5515 1584 669 850
85,8 14,2 20493 |787 126 500| 6230 |682 490 250|102 734 000|
Dann lohnt sich es auch, Beamte und Räume für ein solches
einheitliches Städteschuldbuch bei der Städtebank zu schaffen und
es wird die ganze Verwaltungsarbeit in einem viel geringeren Ver-
hältnis stehen zu dem erzielten Nutzen, als dies einstweilen bei
Städten wie Cöln und Frankfurt der Fall ist.
Soviel vom Standpunkt der kommunalen Finanzpolitik über den
Sparkassengesetzentwurf und die hierin zum Ausdruck gelangte staat-
liche Finanzpolitik. Es ist ein großes Stadtproblem, das sich bei
dieser Betrachtung uns aufgetan hat, ein Problem, das schon ver-
schiedentlich erörtert wurde [Siegfried, Salings Börsenpapiere 1902,
1) Nach Mitteilungen in den preußischen Regierungsamtsblättern.
Der preuß. Sparkassengesetzentwurf vom Standpunkte städtischer Finanzpolitik. 507
S. 270, 401; Kähler 1897; Deutscher Sparkassenverband, General-
versammlungen vom 22. Oktober 1892, 20. November 1897; Rechts-
anwalt Hans Hoffmann, der bereits einen Statutenentwurf für eine
Städtebank 1897/98 dem preußischen Finanzministerium einreichte;
Jastrow, Nürnberger Verhandlungen, Conrads Jahrbücher; Koch], ein
Problem, das auch ich hier nur in großen Zügen und unfertig vor-
führen konnte. Aber die Frage wird immer akuter. Ihre ernstliche In-
angriffnahme läßt sich nicht lange mehr verschieben. Die Vorbeding-
ungen sind dazu jetzt, abgesehen von den drängenden Verhältnissen,
auch insofern günstiger als zuvor, als wir im Deutschen Städtetag
einen Verband deutscher Städte und Städteverbände haben mit dem
ausgesprochenen Zweck, die Wohlfahrt der ihm angehörenden Ge-
meinwesen zu pflegen, die gemeinschaftlichen Interessen der Städte
zu wahren, die Kenntnis und Ausbildung der Verwaltungseinricht-
ungen unter einander zu fördern. Er sollte sich dieses Stadt-
problems baldigst annehmen. Es handelt sich da um eminent wichtige
gemeinsame Interessen, um gemeinsame Finanzinteressen, und die
ie sind doch allerwärts das Rückgrat der Städte und der Stadt-
politik.
Die deutschen Städte genießen im Ausland (vergl. Sidney Low,
Standard, 13. Januar 1906) den Ruf, „daß sie mit Klugheit, Urteils-
gabe, praktischer Energie und wissenschaftlichen Kenntnissen ver-
waltet würden, daß Unternehmungsgeist, Auffassungsvermögen,
Kühnheit der Konzeption oder fester Entschluß, alles gut und
gründlich zu machen, den fortgeschrittenen Stand unserer Großstädte
bewirkt haben. Sie befinden sich hauptsächlich in Händen der
fähigeren Elemente der kaufmännischen Mittelklasse. Kaufleute und
Geschäftsleute, die es zu etwas gebracht haben, nehmen ein tätiges
Interesse an der Arbeit in den meisten der größeren und vielen der
kleineren Städte. Ueberall werden sie unterstützt von den besten
beruflichen Hilfskräften.*“ Zeigen wir, daß dieser kaufmännische
Geist auch zur Lösung des großen Finanzproblems stark genug ver-
treten ist in unseren deutschen Städten !
508 Nationalökonomische Gesetzgebung.
Nationalökonomische Gesetzgebung.
IV.
Die wirtschaftliche Gesetzgebung der deutschen Bundes-
staaten im Jahre 1906.
Von Albert Hesse, Halle a. S.
Preußen.
Gesetzsammlung für die Königlich Preußischen
Staaten. 1906.
Gesetz, betr. die Zulassung einer Verschuldungsgrenze für land-
oder forstwirtschaftlich genutzte Grundstücke. Vom 20. August 1906,
S. 389.
8 1. Ein land- oder forstwirtschaftlich genutztes Grundstück, das von der
nach $ 15 zuständigen Kreditanstalt beliehen werden darf, kann über die nach der
Verfassung der Anstalt zulässige Beleihungsgrenze hinaus weder mit Hypotheken,
Grundschulden und Rentenschulden, noch mit beständigen oder für eine
stimmte Zeit zu entrichtenden festen Geldrenten belastet werden, wenn diese Be-
schränkung (Verschuldungsgrenze) im Grundbuch eingetragen ist.
§ 2. Die Eintragung der Verschuldungsgrenze erfolgt auf Antrag des Eigen-
tümers. Der Antrag bedarf der im $ 29 Satz 1 der Grundbuchördaung bestimmten
Form. Abs. 2. Zum Nachweise der im $ 1 bezeichneten Erfordernisse hat der
Eigentümer auf Verlangen des Grundbuchamts eine von der zuständigen Kredit-
anstalt zu erteilende Bescheinigung beizubringen. Abs. 3. Beantragt der Eigen-
tümer die Eintragung einer gemeinsamen Verschuldungsgrenze für mehrere Grund-
stücke, so gilt dies zugleich als Antrag auf Vereinigung dieser Grundstücke im
Sinne des $ 890 Abs. 1 des BGB.
$ 3. Die Verschuldungsgrenze gilt auch für die Eintragung von Sicherungs-
hypotheken im Wege der Zwangsvollstreckung wegen Geldforderungen. Abs. 2.
Ohne Rücksicht auf die Verschuldungsgrenze können jedoch solche Sicherungs-
hypotheken dann eingetragen werden: 1) wenn die Forderung schon vor der Ein-
tragung der Verschuldungsgrenze gegen den Eigentümer, Auf dessen Antrag diese
Eintragung erfolgt ist, bestanden hat und die Eintragung der Sicherungshypothek
binnen 3 Jahren nach der Eintragung der Verschuldungsgrenze oder, falls die
Forderung erst später fällig geworden ist, binnen 3 Jahren nach dem Eintritt der
Fälligkeit beantragt wird. Für die Eintragung genügt es, wenn ihre Voraus-
setzungen aus dem Schuldtitel ersichtlich oder in einer Öffentlichen oder öffentlich
beglaubigten Urkunde von dem Eigentümer anerkannt oder ihm gegenüber durch
Urteil festgestellt sind. Abs. 2. Einer Forderung der vorbezeichneten Art steht
eine Forderung gegen einen Rechtsvorgänger des Eigentümers, der die Eintragung
der Verschuldungsgrenze beantragt hat, gleich, wenn der Eigentümer nach den
Vorschriften über die Anfechtung von Rechtshandlungen des Schuldners außerhalb
des Konkursverfahrens verpflichtet ist, die Zwangsvollstreckung in das Grundstück
wegen der Forderung zu dulden: 2) wenn die Zwangsversteigerung wegen der Forde-
rung nicht zulässig ist.
Nationalökonomische Gesetzgebung. 509
$ 4. Die Verschuldungsgrenze gilt nicht für Belastungen, die das für eine
Beleihung des Grundstücks mit Mündelgeld maßgebende Vielfache des staatlich
ermittelten Grundsteuerreinertrags nicht übersteigen.
$ 5. Eine Belastung, für welche die Verschuldungsgrenze gilt, darf nur ein-
getragen werden, wenn sie und die ihr etwa vorgehenden Belastungen einen Be-
trag nicht übersteigen, bis zu dem das Grundstück von der Kreditanstalt nach
deren Verfassung beliehen werden darf. Abs. 2. Der Betrag ist durch eine auf
Antrag des Eigentümers zu erteilende Bescheinigung der Kreditanstalt nachzuweisen.
Soweit bei seiner Feststellung vorgehende Belastungen bereits berücksichtigt sind,
ist dies in der Bescheinigung ersichtlich zu machen. Eines Nachweises der weiteren
im $ 1 bezeichneten Erfordernisse bedarf es nicht. Abs. 3. Bei der Eintragung
ist im Grundbuche anzugeben, daß die Belastung innerhalb des für die Verschul-
dungsgrenze maßgebenden Betrags liegt. Abs. 4. Wird die Eintragung einer
Sicherungshypothek im Wege der Zwangsvollstreckung wegen einer Geldforderun
beantragt, so hat das Grundbuchamt die Kreditanstalt um Erteilung der n
Abs. 1, 2 erforderlichen Bescheinigung zu ersuchen. Die Vorschriften des $ 18
Abs. 2 der Grundbuchordnung finden Anwendung. Abs. 5. Für die Kosten der
von dem Grundbuchamt erforderten Bescheinigung haftet der Kreditanstalt nur
der Eigentümer. Die Anstalt kann wegen der Kosten die Zwangsvollstreckung in
das bewegliche Vermögen des Schuldners nach den Vorschriften der Verordnung,
betreffend das Verwaltungszwangsverfahren wegen Beitreibung von Geldbeträgen,
vom 15. November 1899 (Gesetz-Samml. S. 545) betreiben.
§ 6. In den Fällen der $$ 4, 5 kommt bei der Feststellung der Zulässigkeit der
Belastung eine Hypothek mit dem Kapital- oder Höchstbetrag, eine Grundschuld
mit dem Kapitalbetrag, eine Rentenschuld mit dem Betrage der Ablösungssumme,
eine beständige oder für eine bestimmte Zeit zu entrichtende feste Geldrente mit
dem 25-fachen Jahresbetrag und, wenn der Gesamtbetrag der Rentenleistungen
geringer ist, mit diesem Betrage zur Anrechnung Abs. 2. Bedingte Rechte sind
wie unbedingte, Widersprüche oder Vormerkungen sind wie die durch sie zu
sichernden Rechte zu behandeln. Abs. 3. Ein Recht, mit dem noch ein anderes
Giundstüek belastet ist oder belastet werden soll, ist zu seinem vollen Betrage an-
zurechnen; sofern es jedoch nur an einem Teile des Grundstücks, bei dem die
Verschuldungsgrenze eingetragen ist, besteht und sein voller Betrag den von der
Kreditanstalt bescheinigten Beleihungswert des Teiles übersteigt, nur zum Betrage
dieses Beleihungswertes. Abs. 4. Vorgehende Rechte anderer als der im Abs. 1
bezeichneten Art bleiben außer Betracht. Das Gleiche gilt im Falle des $ 5 von
den bereits bei der Feststellung des bescheinigten Betrages berücksichtigten Rechten.
$ 7. Bestehende Rechte an dem Grundstücke werden von der Eintragung
der Verschuldungsgrenze nicht berührt.
$8. Auf die Zwangsversteigerung des Grundstücks finden nach der Ein-
tragung der Verschuldungsgrenze die allgemeinen Vorschriften mit folgenden Maß-
geben Anwendung: 1) Die Verschuldungsgrenze bleibt, soweit sich nicht aus den
orschriften der No. 2 ein anderes ergibt, von der Zwangsversteigerung unberührt.
Abs, 2. Die Eintragung von Sicherungshypotheken für die Forderung gegen den
Ersteher erfolgt ohne Rücksicht auf die Verschuldungsgrenze. Soweit die Siche-
rungshypotheken diese aber überschreiten und nicht zu Gunsten der im $ 10 No. 1
bis 4 des Reichsgesetzes über die Zwangsversteigerung und die Zwangsverwaltung
bezeichneten Ansprüche eingetragen sind, können sie nicht nach Maßgabe der Vor-
schriften der $$ 1180, 1186, 1198 des BGB. ihrem Inhalte nach geändert werden
und erlöschen, wenn sie sich mit dem Eigentum in einer Person vereinigen. 2) Ist
das Grundstück mit einem vor der Eintragung der Verschuldungsgrenze einge-
tragenen Rechte belastet, so ist es mit der Versteigerungsbedingung des Fort-
bestehens der Verschuldungsgrenze und ohne diese Bedingung auszubieten. Der Zu-
schlag wird auf Grund des mit der Bedingung erfolgten Ausgebots erteilt, wenn
das cht dadurch nicht beeinträchtigt wird. Abs. 3. Das Gleiche gilt, wenn nach
er Eintragung der Verschuldungsgrenze eine Sicherungshypothek wegen einer
Forderung der im § 3 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 bezeichneten Art im Wege der Zwangs-
vollstreckung eingetragen ist oder wenn der Gläubiger die Zwangsversteigerung wegen
einer solchen Forderung binnen der dort bezeichneten Frist beantragt und diese
Voraussetzungen spätestens im Versteigerungstermine vor der Aufforderung zur
510 Nationalökonomische Gesetzgebung
Abgabe von Geboten nachweist; die Vorschrift des § 3 Abs. 2 No. 1 Satz 2 findet
entsprechende Anwendung. 3) Die Kreditanstalt hat dem Gericht auf Ersuchen
eine Bescheinigung über den die Verschuldungsgrenze bestimmenden Höchstbetrag
zu erteilen.
$ 9. Eine Ueberschreitung der Verschuldungsgrenze ist nur mit Genehmigung
des nach $ 15 zuständigen staatlich bestellten Kommissars zulässig. Sie darf, außer
bei Belastungen auf Grund des Gesetzes, betreffend die Errichtung von Landes-
kulturrentenbanken vom 13. Mai 1579 (Gesetz-Samml. S. 367) ein Viertel des die
Verschuldungsgrenze bestimmenden Höchstbetrages nicht übersteigen. Vor der Ent-
scheidung über die Genehmigung ist die Kreditanstalt zu hören. Abs. 2. Die
Genehmigung darf nur auf Antrag des Eigentümers für den Einzelfall aus be
sonderen Gründen, namentlich für die Eintragung der Erbabfindungen von Pflicht-
teilsberechtigten, erteilt werden. In der Eintragung ist anzugeben, daß die Ge-
nehmigung erteilt ist. Abs.2. Erlischt die genehmigte Belastung mit dem Eintritt
eines bestimmten Zeitpunktes oder Ereignisses, so kann nach dem Eintritte des
Zeitpunkts oder Ereignisses der Kommissar das Grundbuchamt um die Löschung
der Belastung ersuchen. Die Löschung erfolgt auf Kosten des Eigentümers.
$ 10. Solange die Verschuldungsgrenze eingetragen ist, kann die grundbuch-
rechtliche Teilung des Grundstücks nur im Falle der Abveräußerung erfolgen.
$ 11. Die Verschuldungsgrenze wird durch Löschung im Grundbuch auf-
gehóhen. Die Löschung erfolgt auf Antrag des Eigentümers. Der Antrag bedarf
er im § 29 Satz 1 der Grundbuchordnung bestimmten Form. Abs. 2. Zur
Löschung ist die Genehmigung des nach § 15 zuständigen Kommissars erforderlich.
Vor der Entscheidung über die Genehmigung ist die Kreditanstalt zu hören. Abs. 3.
Die Genehmigung ist insbesondere zu erteilen, wenn die im § 1 bezeichneten Er-
fordernisse bei dem Grundstücke nicht mehr vorliegen.
$ 12. In den Fällen der $$ 9, 11 steht dem Eigentümer gegen die Ent-
scheidung des Kommissars binnen einer mit Zustellung der Entscheidung beginnen-
den Frist von 2 Wochen die bei dem Kommissar einzulegende Beschwerde an den
zuständigen Minister zu. Abs. 2. Dasselbe gilt für die Kreditanstalt, soweit die
Entscheidung des Kommissars von ihrer bei der Anhörung geäußerten Ansicht ab-
weicht. Abs. 3. Eine Eintragung im Grundbuch darf nur erfolgen auf Grund
einer Bescheinigung des Kommissars, daß die Genehmigung unanfechtbar ge-
worden ist.
$ 13. Die Eintragung der Verschuldungsgrenze sowie die gerichtliche Be-
urkundung oder Beglaubigung des dazu erforderlichen Antrags erfolgt gebührenfrei.
rs 2. Die im $ 2 Abs. 2 bezeichnete Bescheinigung ist von der Stempelsteuer
freit.
$ 14. Die zum Richteramte befähigten Beamten der Kreditanstalt sind für
die Beurkundung oder Beglaubigung der Anträge auf Eintragung oder Löschung
der Verschuldungsgrenze innerhalb der Grenzen ihrer Amtsbefugnisse zuständig.
§ 15. Der Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes in den einzelnen
Landesteilen sowie die für die Ausführung zuständigen öffentlichen Kreditanstalten
und die in den Fällen der $$ 9, 11 zuständigen Kommissare werden durch König-
liche Verordnung bestimmt.
N $ 16. Die Vorschriften zur Ausführung dieses Gesetzes erläßt der zuständige
Tinister.
Verordnung wegen Einführung des Gesetzes, betr. das Anerben-
recht bei Renten- und Ansiedelungsgütern, vom 8. Juni 1896, im Kreise
Herzogtum Lauenburg. Vom 10. Oktober 1906, S. 411.
Gesetz, betr. die Abänderung des Siebenten Titels im Allgemeinen
Berggesetze vom 24. Juni 1865. Vom 19. Juni 1906, S. 199.
Verordnung, betr. die Errichtung von Kanalbaudirektionen für die
Herstellung des Schiffahrtkanals vom Rhein zur Weser mit Nebenan-
lagen und eines Hauptbauamts für die Herstellung des Großschiffahrt-
weges Berlin— Stettin. Vom 2. April 1906, S. 113.
Nationalökonomische Gesetzgebung. 511
Staatsvertrag zwischen Preußen und Bremen über die Beteiligung
Bremens an den Kosten eines Rhein-Weserkanals. Vom 29. März 1906,
S. 227.
Staatsvertrag zwischen Preußen und Bremen über die Ausführung
einer Wehr- und Schleusenanlage bei Hemelingen. Vom 29. März 1906,
S. 230.
Staatsvertrag zwischen Preußen und Bremen über die weitere Ver-
tiefung der Unterweser zwischen Bremen und Geestemünde. Vom
29. März 1906, S. 236.
Staatsvertrag zwischen Preußen, Sachsen-Meiningen, Schwarzburg-
Rudolstadt und Reuß j. L. wegen Herstellung einer Eisenbahn von
Eichicht nach Lobenstein. Vom 14. März 1905, 8. 120.
Staatsvertrag zwischen Preußen und Oldenburg wegen Herstellung
einer durchgehenden Eisenbahnverbindung von Meppen nach Essen in
Oldenburg. Vom 31. März 1906/4. April 1906, S. 328.
Staatsvertrag zwischen Preußen und Sachsen-Meiningen wegen Her-
stellung einer Eisenbahn von Sonneberg nach Eisfeld.. Vom 1. Februar
1906, S. 394.
Staatsvertrag zwischen Preußen und Sachsen wegen Herstellung
einer Eisenbahnverbindung von Hoyerswerda nach Königswartha. Vom
24. März 1905, S. 443.
Gesetz, betr. die Erweiterung, Vervollständigung und bessere Aus-
rüstung des Staatseisenbahnnetzes und die Beteiligung des Staates an
dem Baue von Kleinbahnen. Vom 15. Juni 1906, S. 185.
$ 1. Die Staatsregierung wird ermächtigt:
I. Zur Herstellung von Eisenbahnen und zur Beschaffung
der für diese erforderlichen Betriebsmittel und zwar:
a) zum Bau von Eisenbahnen die Summe von 77 192 000 M.
b) zur Beschaffung von Betriebsmitteln 12 658 000 ,„
zusammen 89 850 000 M.
II. Zur Anlage des zweiten Gleises auf verschiedenen Strecken
und zu den dadurch bedingten Ergänzungen und Gleis-
veränderungen auf den Bahnhöfen die Summe von 68 504 000 M.
II. zum Ausbau verschiedener Haupt- und Nebenbahnen die
Summe von
IV. zur Beschaffung von Betriebsmitteln für die bereits be-
stehenden Staatsbahnen die Summe von 100 000 000 „
V. zur Förderung des Baues von Kleinbahnen die Summe von 5000 000 „
zusammen 271147000 M.
zu verwenden. Abs. 2. Ueber die Verwendung des Fonds zu V wird dem Landtag
alljährlich Rechenschaft abgelegt werden. Abs. 8. Mit der Ausführung der unter I aufge-
führten Eisenbahnen ıst erst dann vorzugehen, wenn bestimmt festgelegte Bedingungen
erfüllt sind.
$ 3. Die Staatsregierung wird ermächtigt, zur Deckung der zu den im $ 1 unter
No. I und II vorgesehenen Bauausführungen und Beschaffungen erforderlichen Mittel
von 158354 000 M. Baukostenzuschüsse von 10 400 000 M.
und dem preußischen Staate zur freien Verfügung anheimfallende
Fonds im Betrage von mindestens
7793000 „
182 000 ,,
insgesamt 10532 000 M.
zu verwenden. Abs. 2. Für den alsdann noch zu deckenden Restbetrag im $ 1 No.
und II von 147822000 M., sowie zur Deckung der für die im $ 1 unter III—V vorge
512 Nationalökonomische Gesetzgebung.
sehenen Bauausführungen und Beschaffungen u. s. w. erforderlichen Mittel im Betrage
von 112793000 M. sind Staatsschuldverschreibungen auszugeben. Ab. 3. An Stelle der
Schuldverschreibungen können vorübergehend Schatzanweisungen ausgegeben werden. Der
Fälligkeitstermin ist in den Schatzanweisungen anzugeben. Die Staatsregierung wird
ermächtigt, die Mittel zur Einlösung dieser Schatzanweisungen durch Ausgabe von neuen
Schatzanweisungen und von Schuldverschreibungen in dem erforderlichen Nennbetrage
zu beschaffen. Die Schatzanweisungen können wiederholt ausgegeben werden. Abs. 8.
Schatzanweisungen oder Schuldverschreibungen, die zur Einlösung von fällig werdenden
Schatzanweisungen bestimmt sind, hat die Hauptverwaltung der Staatsschulden auf An-
ordnung des Finanzministers 14 Tage vor dem Fälligkeitstermine zur Verfügung zu
halten. Die Verzinsung der neuen Schuldpapiere darf nicht vor dem Zeitpunkte be-
ginnen, mit dem die Verzinsung der einzulösenden Schatzanweisungen aufhört.
85. Jede Verfügung der Staatsregierung über die im $ 1 unter No. I, II und
III bezeichneten Eisenbahnen und Eisenbahnteile durch Veräußerung bedarf zu ihrer
Rechtsgültigkeit der Zustimmung beider Häuser des Landtags. Abs. 2. Diese Be-
stimmung bezieht sich nicht auf die beweglichen Bestandteile und Zubehörungen dieser
Eisenbahnen und Eisenbahnteile und auf die unbeweglichen insoweit nicht, als sie nach
der Erklärung des Ministers der öffentlichen Arbeiten für den Betrieb der betreffenden
Eisenbahnen entbehrlich sind.
Allerhöchster Erlaß, betr. Bau und Betrieb der in dem Gesetze
vom 28. Juni d. J. vorgesehenen neuen Eisenbahnlienien. Vom 28. Juni
1906, S. 331.
Gesetz, betr. Ergänzung des Gesetzes vom 1. Juni 1882, betr. die
Einsetzung von Bezirkseisenbahnräten und eines Landeseisenbahnrats
für die Staatseisenbahnverwaltung., Vom 15. Juni 1906, S. 321.
Bekanntmachung, betr. das teilweise Außerkrafttreten des Handels-
und Schiffahrtsvertrages zwischen Preußen und den Königreichen
Schweden und Norwegen vom 14. März 1827. Vom 25. Juni 1906,
S. 322.
Gesetz, betr. die Bewilligung weiterer Staatsmittel zur Verbesserung
der Wohnungsverhältnisse von Arbeitern, die in staatlichen Betrieben
beschäftigt sind, und von gering besoldeten Staatsbeamten. Vom 16. Juli
1906, S. 375.
$ 1. Der Staatsregierung wird ein weiterer Betrag von 15 Mill. M. zur Ver-
wendung nach Maßgabe des Gesetzes vom 13. August 1895 (Gesetzsamml. S. 521),
betr. die Bewilligung von Staatsmitteln zur Verbesserung der Wohnungsverhält-
nisse von Arbeitern, die in staatlichen Betrieben beschäftigt sind, und von gering
besoldeten Staatsbeamten, zur Verfügung gestellt.
$ 2. Zur Bereitstellung der in § 1 gedachten 15 Mill. M. ist eine Anleihe
durch Veräußerung eines entsprechenden Betrags von Schuldverschreibungen aufzu-
nehmen. Abs. 2. An Stelle der Schuldverschreibungen können vorübergehend
Schatzanweisungen ausgegeben werden. Der Fälligkeitstermin ist in den Schatzan-
weisungen anzugeben. Die Staatsregierung wird ermächtigt, die Mittel zur Em-
lösung dieser Schatzanweisungen durch Ausgabe von neuen Schatzanweisungen uni
von Schuldverschreibungen in dem erforderlichen Nennbetrage zu beschaffen. Die
Schatzanweisungen können wiederholt ausgegeben werden. Abs. 3. Schatzan-
weisungen oder Schuldverschreibungen, die zur Einlösung von fällig werdenden
Schatzanweisungen bestimmt sind, hat die Hauptverwaltung der Staatsschulden
auf Anordnung des Finanzministers 14 Tage vor dem Fälligkeitstermin zur Ver-
fügung zu halten. Die Verzinsung der neuen Schuldpapiere darf nicht vor dem
Zeitpunkte beginnen, mit dem die Verzinsung der einzulösenden Schatzan-
weisungen aufhört. h
$3. Wann, durch welche Stelle und in welchen Beträgen, zu welchem Zins-
fuße, zu welchen Bedingungen der Kündigung und zu welchen Kursen die Schatz-
Nationalökonomische Gesetzgebung. 513
anweiiungen und die Schuldverschreibungen verausgabt werden sollen, bestimmt
der Finanzminister. Abs. 2. Im übrigen kommen wegen Verwaltung und Tilgung
der Anleihe die Vorschriften des Gesetzes vom 19. Dezember 1869, betr. die Kon-
solidation preußischer Staatsanleihen (Gesetzsamml. S. 1197), des Gesetzes vom
8. März 1897, betr. die Tilgung von Staatsschulden (Gesetzsamml. S. 43) und des
Gesetzes vom 3. Mai 1993, betr. die Bildung eines Ausgleichsionds für die Eisen-
bahnverwaltung (Gesetzsamml. S. 155) zur Anwendung.
$4. Dem Landtag ist bei dessen nächster regelmäßiger Zusammenkunft
über die Ausführung dieses Gesetzes Rechenschaft zu geben.
Kirchengesetz, betr. die Erhebung von Kirchensteuern in den
Kirchengemeinden und Gesamtverbäuden der evangelisch-lutherischen
Kirche der Provinz Hannover. Vom 10. März 1906, S. 23.
I. Besteuerungsrecht der Kirchengemeinden. II. Steuerpflicht. III. Umlegung der
Kirchensteuer. a) Verteilungsmaßstab. b) Grundsätze über die Erhebung der Kirchen-
steuer. ec) Besondere Vereinbarungen. IV. Verfahren. a) Ausschreibung. b) Rechts-
mittel. e) Kosten. d) Besondere Bestimmungen. V. Besondere Bestimmungen für die
Gesamtverbände. VI. Aufsichtliche Genehmigungen und Anordnungen. VII. Ueber-
gangs- und Schlußbestimmungen.
Gesetz, betr. die Erhebung von Kirchensteuern in den Kirchen-
gemeinden und Gesamt-(Parochial-)Verbänden der evangelisch-luthe-
rischen Kirchen der Provinzen Hannover und Schleswig-Holstein sowie
in den Kirchengemeinden der evangelisch - reformierten Kirche in
Hannover. Vom 22. März 1906, S. 41.
Gesetz, betr. die Erhebung von Kirchensteuern in den Kirchen-
gemeinden der evangelischen Kirchen der Konsistorialbezirke Cassel,
Wiesbaden und Frankfurt a. M., in den Gesamtverbänden der evange-
lischen Kirche des Konsistorialbezirks Cassel sowie in der vereinigten
evangelisch-lutherischen und evangelisch -reformierten Stadtsynode zu
Frankfurt a. M. Vom 22. März 1906, S. 46.
Verordnung über das Inkrafttreten von Kirchengesetzen, betr. die
Erhebung von Kirchensteuern. Vom 23. März 1906, S. 51.
Verordnung über das Inkrafttreten von Gesetzen, betr. die Erhebung
von Kirchensteuern. Vom 23. März 1906, S. 52.
Verordnung über die Ausübung der Rechte des Staates gegenüber der
evangelischen Landeskirche der älteren Provinzen der Monarchie. Vom
23. März 1906, S. 53.
Verordnung über die Ausübung der Rechte des Staates gegenüber
den evangelisch-lutherischen Kirchen der Provinzen Hannover und
Schleswig-Holstein sowie der evangelisch-reformierten Kirche der Pro-
vinz Hannover. Vom 23. März 1906, S. 54.
Verordnung über die Ausübung der Rechte des Staates gegenüber
den evangelischen Kirchen der Konsistorialbezirke Cassel, Wiesbaden
und Frankfurt a. M. Vom 23. März 1906, S5. 55.
Verordnung über die Ausübung der Rechte des Staates gegenüber
den Kirchengemeinden und Gesamtverbänden in der katholischen Kirche.
Vom 23. März 1906, S. 56.
Gesetz, betr. die Erhebung von Abgaben für kirchliche Bedürfnisse
der Diözesen der katholischen Kirche in Preußen. Vom 21. März 1906,
S. 105.
Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII). 33
514 Nationalökonomische Gesetzgebung.
Kirchengesetz wegen Abänderung des Kirchengesetzes vom 2. Juli
1898, betr. das Diensteinkommen der Geistlichen der evangelisch-luthe-
rischen Kirche der Provinz Hannover. Vom 21. Mai 1906, S. 181.
Bekanntmachung, betr. die gegenseitige Freilassung der Angehörigen
des preulischen Staates einerseits und der Angehörigen von England,
Wales und Irland sowie der Vereinigten Staaten vou Amerika, anderer-
seits von der Erhebung von Kirchensteuern. Vom 30. Juni 1906,
S. 322.
Kirchengesetz, betr. die Anstellungsfähigkeit und Vorbildung der
Geistlichen in der evangelisch-lutherischen Kirche der Provinz Hannover.
Vom 16. Juli 1906, S. 365.
Kirchengesetz, betr. die Verstärkung des landeskirchlichen Hilfs-
fonds. Vom 16. Juli 1906, S. 370.
Verordnung über das Inkrafttreten des Kirchengesetzes vom 16. Juli
1906, betr. die Anstellungsfähigkeit und Vorbildung der Geistlichen in
der evangelisch-lutherischen Kirche der Provinz Hannover. Vom
1. November 1906, S. 413.
Bekanntmachung, betr. die gegenseitige Freilassung der Ange-
hörigen des Preußischen Staates einerseits und der Angehörigen der
Britischen Kolonien und Besitzungen, mit Ausnahme von Barbados, so-
wie der Angehörigen der Niederlande und von Niederländisch-Indien
andererseits von der Erhebung von Kirchensteuern. Vom 7. November
1906, S. 413.
Gesetz, betr. die Abänderung des Einkommensteuergesetzes und
des Erginzungssteuergesetzes. Vom 19. Juni 1906, S. 241.
Vergl. Bd. 82 8. 821 f. dieser Jahrbücher.
Verordnung, betr. die Vergütungen der Mitglieder der in Gemäß-
heit des $ 32 Abs. 3 und 4 des Einkommensteuergesetzes gebildeten
Voreinschätzungskommissionen. Vom 28. Juli 1906, S. 371.
Gesetz zur Abänderung des Kommunalabgabengesetzes vom 14. Juli
1893 (Gesetz-Samml. S. 152). Vom 24. Juli 1906, S. 377.
Gesetz, betr. die Feststellung des Staatshaushaltsetats für das Etats-
jahr 1906. Vom 31. März 1906, S. 59.
$ 1. Der diesem Gesetz als Anlage beigefügte Staatshaushaltsetat für das
Etatsjahr 1906 wird in Einnahme auf 2910344396 M. und in Ausgabe auf
2 410.344 396 M., nämlich auf 2 673 400 752 M. an fortdauernden und auf 236 943 6H
M. an einmaligen und außerordentlichen Ausgaben festgesetzt.
$ 2. Der diesem Gesetz als weitere Anlage beigefügte Etat der Verwaltungs-
einnahmen und -Ausgaben der Preußischen Zentral-Genossenschaftskasse für das
Etatsjahr 1906 wird in Einnahme auf 6200 M. und in Ausgabe auf 517250 M.
festgestellt.
$ 3. Im Etatsjahr 1906 können nach Anordnung des Finanzministers zur
vorübergehenden Verstärkung des Betriebsfonds der Generalstaatskasse Schatz-
anweisungen bis auf Höhe von 100000000 M., welche vor dem 1. Januar 148
verfallen müssen, wiederholt ausgegeben werden. Auf dieselben finden die Be-
stimmungen des $ 4 Abs. 1 und 2 und des § 6 des Gesetzes vom 28. September
1866 (Gesetz-Samml. S. 607) Anwendung.
$ 4. Der Finanzminister ist mit der Ausführung dieses Gesetzes beauftragt.
Staatshaushaltsetat für das Etatsjahr 1906.
Nationalökonomische Gesetzgebung.
Einnahme.
A. Einzelne Einnahmezweige.
T. Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten
II. Finanzministerium
III. Ministerium für Handel und Gewerbe
515
125 484 404 M.
459 596 700 M.
226 379 390 „
IV. Ministerium der öffentlichen Arbeiten 1740 868 208 ,„
Summe A. Einzelne Einnahmezweige 2552 328 697 M.
B. Dotationen und allgemeine Finanzverwaltung.
N
. Dotationen
II. Allgemeine Finanzverwaltung
Summe B. Dotationen etc.
C. Staatsverwaltungs- Einnahmen.
I. Staatsministerium
II. Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten
III. Finanzministerium
IV. Ministerium der öffentlichen Arbeiten
V. Ministerium für Handel und Gewerbe
VI. Justizministerium
VII. Ministerium des Innern
VIII. Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten
IX. Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegen-
heiten
X. Kriegsministerium
332 330
180 002 775 »
180 885 105
20 889 198
8 600
3587 397
14 657 100
4 346 225
92 831 320
28 102 050
6 985 910
6 822 494
300
M.
M.
Summe C. Staatsverw.-Einnahmen
177 680 594
Summe der Einnahme 2910 344 396
Ausgabe.
d. Betriebs-, Erhebungs- und Verwaltungskosien der einzelnen
Einnahmezweige.
I. Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten
I. Finanzministerium
Ill. Ministerium für Handel und Gewerbe
52 051 400
159 882 750
205 817 000
IV. Ministerium der öffentlichen Arbeiten 1072 620 480
Summe A. Betriebs- etc. -Kosten 1490 371580 M.
B. Dotationen und allgemeine Finanzverwaltung.
I. Dotationen
Il. Allgemeine Finanzverwaltung
”
M.
»
”
»
309 550 824 M.
222 986 578 „,
Summe B. Dotationen etc. 582 587 402 H.
C. Staatsverwaltungsausgaben.
I. Staatsministerium
Il. Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten
Il. Finanzministerium
IV. Ministerium der öffentlichen Arbeiten
V. Ministerium für Handel und Gewerbe
I. Justizministerium
VII. Ministerium des Innern
VIII. Ministerium Jür Landwirtschaft, Domänen und Forsten
IX. Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegen-
heiten
X. Kriegsministerium
Summe C. Staatsverwaltungsausgaben
545 400
144 805 485
37 848 787
15 647 959
130 394 000
92 971 250
32 677 448
171 871679
164 928
24 064 884 M.
”»
„
650 491770 M.
Summe der dauernden Ausgaben 2678 400752 „
Einmalige und außerordentliche Ausgaben 256 948 644 „
33*
516 Nationalökonomische Gesetzgebung.
Abschluß.
Es betragen
1) die Einnahmen 2 910 844 396 M.
2) die dauernden Ausgaben 2673 400762 M.
3) die einmaligen und außerordentlichen Ausgaben 236 948 644 »
2 910 344 346 M.
Staatsvertrag zwischen Preußen und Reuß j. L. zur Regelung der
Lotterieverhältnisse. Vom 30. Mai 1905, S. 129.
Staatsvertrag zwischen Preußen und den bei der Hessisch-Thürin-
gischen Staatslotterie beteiligten Staaten zur Regelung der Lotterie-
verhältnisse. Vom 17. Juni 1905, S. 134.
Staatsvertrag zwischen Preußen und Oldenburg zur Regelung der
Lotterieverhältnisse. Vom 9. Dezember 1905, S. 145.
Bekanntmachung, betr. die Ratifikation der zwischen Preußen und
Reuß j. L. am 30. Maı 1905, zwischen Preußen und den an der Hessisch-
Thüringischen Staatslotterie beteiligten Staaten (nämlich Hessen, Sachsen-
Weimar-Eisenach, Sachsen-Meiniugen, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Co-
burg-Gotha, Anhalt, Schwarzburg-Sondershausen, Schwarzburg-Rudol-
stadt, Reuß ä. L., Schaumburg-Lippe und Lippe) am 17. Juni 1905
‚und zwischen Preußen und Oldenburg am 9. Dezember 1905 zur Rege-
lung der Lotterieverhältnisse abgeschlossenen Staatsverträge und der
dazu gehörigen Schlulprotokolle sowie die Auswechselung der Ratifi-
kationsurkunden zu den Verträgen vom 30. Mai und 9. Dezember 1905
und die Hinterlegung der Ratitikationsurkunden zum Vertrage vom
17. Juni 1905. Vom 21. April 1906, S. 153.
Staatsvertrag zwischen Preußen und Braunschweig zur Regelung
der Lotterieverhältnisse. Vom 18. Mai 1906, S. 415.
Staatsvertrag zwischen Preußen und Bremen zur Regelung der
Lotterieverhältnisse. Vom 18. Mai 1906, S. 424.
Bekanntmachung, betr. die Ratifikation der zwischen Preußen und
Braunschweig sowie zwischen Preußen und Bremen am 18. Mai 1906
zur Regelung der Lotterieverhältnisse abgeschlossenen Staatsverträge
und den Austausch der Ratifikationsurkunden zu diesen Verträgen. Vom
18. November 1906, S. 434,
Kreis- und Provinzialabgabengesetz. Vom 23. April 1906, S. 159.
Abschnitt 1. Kreisabgaben.
$ 1. Die Kreise sind berechtigt, zur Deckung ihrer Ausgaben nach den Be-
stimmungen dieses Gesetzes Gebühren und Beiträge, indirekte und direkte Steuern
zu erheben. Abs. 2. Hinsichtlich der Chausseegelder und anderen Verkehrsabgaben,
der Jagdscheinabgaben, der Kosten im Verwaltungsstreit- und Beschlußverfahren
sowie hinsichtlich der Erhebung der Betriebs-, der Wanderlager- und der Waren-
haussteuer für Rechnung der Kreise bewendet es bei den "bestehenden Bestim-
mungen.
es 2. Die Kreise dürfen von der Befugnis, Steuern zu erheben, nur insoweit
Gebrauch machen, als die sonstigen Einnahmen, insbesondere aus dem Kreis-
vermögen, aus Gebühren, Beiträgen und aus den ihnen vom Staate oder von Be-
zirks- oder Provinzialverbänden überwiesenen Mitteln zur Deckung ihrer Ausgaben
nicht ausreichen. Auf Hundesteuern findet diese Bestimmung keine Anwendung.
Abs. 2. Durch direkte Steuern darf nur der Bedarf aufgebracht werden, welcher
nach Abzug des Autkommens der indirekten Steuern von dem gesamten Steuer-
bedarfe verbleibt.
Nationalökonoimische Gesetzgebung. 517
$ 3. Gewerbliche Unternehmungen der Kreise sind grundsätzlich so zu ver-
walten, daß durch die Einnahmen mindestens die gesamten, durch die Unterneh-
mung dem Kreise erwachsenden Ausgaben, einschließlich der Verzinsung und der
Tilgung des Anlagekapitales, aufgebracht werden. Abs. 2. Eine Ausnahme ist
zulässig, sofern die Unternehmung zugleich einem öffentlichen Interesse dient,
welches anderenfalls nicht befriedigt wird.
$4. Der Kreistag kann beschließen, daß für die Benutzung der von dem
Kreise im öffentlichen Interesse unterhaltenen Veranstaltungen (Anlagen, Anstalten
und Einrichtungen) besondere Vergütungen (Gebühren) erhoben werden, Abs. 2.
Die Gebühren sind im voraus nach festen Normen und Sätzen zu bestimmen.
Dabei ist eine Abstufung der Gebührensätze — auch nach Maßgabe der Leistungs-
täbigkeit — bis zur gänzlichen Freilassung zulässig.
$5. Der Kreistag kann beschließen, daß behufs Deckung der Kosten für
Herstellung und Unterhaltung von Veranstaltungen, welche durch das öffentliche
Interesse erfordert werden, von denjenigen Grundeigentümern und Gewerbetreiben-
den, denen hierdurch besondere wirtschaftliche Vorteile erwachsen, Beiträge zu den
Kosten der Veranstaltungen erhoben werden. Die Beiträge sind nach den Vor-
teilen zu bemessen. Abs. 2. Durch Beschluß des Kreistags kann den Beitrags-
pflichtigen gestattet werden, die Beiträge ganz oder teilweise durch Naturalleistungen
nach bestimmten, vom Kreistage festzustellenden Grundsätzen zu ersetzen.
Abs. 3 u. 4. Bekanntmachungen.
$6. Der Kreistag ist befugt, mittels Erlasses von Steuerordnungen indirekte
Steuern zu legen 1) auf den Erwerb von Grundstücken und von Rechten, für
welche die auf Grundstücke bezüglichen Vorschriften gelten. Durch die Steuer-
ordnung können Befreiungen von der Steuer, insbesondere einzelner Erwerbsarten,
vorgesehen werden. Der Erwerb durch Erbgang, durch Enteignung und durch
Uebergabevertrag zwischen Verwandten auf- und absteigender Linie ist freizulassen ;
2) auf die Erlangung der Erlaubnis zum ständigen Betriebe der Gastwirtschaft,
Schankwirtschaft oder des Kleinhandels mit Branntwein oder Spiritus ($ 33 der
RGO.); 3) auf das Halten von Hunden. Abs. 2. Dabei ist eine Abstufung der
Steuersätze — insbesondere auch nach Kreisteilen — zulässig. Abs. 3. Die Ein-
führung einer indirekten Steuer durch den Kreis berührt nicht das Recht der Ge-
meinden zur Erhebung einer entsprechenden Steuer.
§ 7. Zur Aufbringung der direkten Kreissteuern sind die einzelnen Gemeinden
und Gutsbezirke verptlichtet. Abs. 2. Als Maßstab der Verteilung der Kreis-
steuern auf diese Verbände dient das Soll der Einkommensteuer und der vom
Staat veranlagten Realsteuern, einschließlich der Betriebssteuer, wie es in Gemeinden
nach den Vorschriften des Kommunalabgabengesetzes, nach Gemeindebeschlüssen
und Vereinbarungen mit Steuerpflichtigen der Gemeindebesteuerung zu Grunde zu
legen und in Gutsbezirken gemäß § 13 für die Unterverteilung zu veranlagen ist.
Abs. 3. Der Einkommensteuer sind die auf Einkommen von nicht mehr als
900 M. entfallenden Steuerbeträge — § 38 Abs. 1 des Kommunalabgabengesetzes —
hinzuzuzählen ; indessen kann der Kreistag beschließen, diese Steuerbeträge ins-
esamt oder teilweise freizulassen oder mit einem geringeren Prozentsatz als die Ein-
commensteuer heranzuziehen. Abs. 4. Soweit in Gemeinden eine Steuerart zu «den
(remeindeabgaben nicht herangezogen worden ist, wird das Steuersoll durch den
Kreisausschuß veranlagt. Abs. 5. MaßBgebend für die Verteilung ist das Steuer-
soll des dem jedesmaligen Etatsjahre vorangegangenen Rechnungsjahres nach dem
Stande des 1. Januar und zwar unter Berücksichtigung der bis zu diesem Zeit-
punkt endgültig eingetretenen Berichtigungen und Veränderungen. Stenerbeträge,
welche erst Aneh dem 1. Januar für das Rechnungsjahr veranlagt werden, obwohl
die Steuerpflicht schon* vor diesem Zeitpunkte begonnen hatte, werden dem
Steuersoll des nächsten Rechnungsjahres hinzugerechnet; Steuerbeträge, welche für
die Vorjahre veranlagt worden sind, werden dem Steuersoll des Jahres, in dem die
Veranlagung erfolgt ist, oder dem des nächsten Rechuungsjahrs hinzugerechnet,
je nachdem die Veranlagung vor oder nach dem 1. Januar erfolgt ist. Abs. 6.
Neben den nach Abs. 1 Verptlichteten haben diejenigen im Kreise wohnenden oder
darin ein Einkommen beziehenden ($ 33 Abs. 1 Ziffer 1 und 2 des Kommunalab-
gabengesetzes) Personen, welchen in Abweichung von dem bisherigen Kreissteuer-
rechte, nach dem Kommunalabgabengesetz eine gänzliche oder teilweise Einkommen-
518 Nationalökonomische Gesetzgebung.
steuerfreiheit zusteht, zu den auf die Einkommensteuer gelegten Kreissteuern inso-
weit besonders beizutragen, als ihr Einkommen nicht schon gemeindesteuerpflichtig
ist. In gleicher Weise wird der Fıskus mit seinem Einkommen aus den von ihm
zu Ansiedelungszwecken angekauften Besitzungen zu den Kreisabgaben herangezogen.
Die besonderen Steuersätze sind unter sinngemäßer Anwendung der für die Ge-
meindeeinkommensteuer geltenden Vorschriften einheitlich für den Kreis vom Kreis-
ausschuß zu veranlagen und nach dessen näherer Bestimmung von den Veranlagten
unmittelbar zu erheben. Die Rechtsmittel der Veranlagten regeln sich nach dem
§ 14 Abs. 2, 3 und nach dem $ 11 Abs. 4, 5 dieses Gesetzes mit der Maßgabe,
daß die Frist für den Antrag auf Verteilung kreissteuerpflichtigen Einkommens
auf verschiedene Kreise 2 Monate beträgt und zur Beschlußfassung der Bezirksaus-
schuß zuständig ist. Im übrigen findet auf die Veranlagung, Nachforderung, Ver-
jährung und Beitreibung dieser Steuerbeträge $ 16 Anwendung.
$ 8. Der Kreistag kann mittels Erlasses einer Steuerordnung beschließen, daß
die der Verteilung der direkten Kreissteuern auf Gemeinden und Gutsbezirke zu
Grunde zu legende Grund- und Gebäudesteuer durch eine nach dem Maßstabe de
Wertes zu veranlagende Steuer vom Grundbesitz ersetzt wird. Dabei soll der Be-
wertung von Grundstücken, welche dauernd land- oder forstwirtschaftlichen Zwecken
zu dienen bestimmt sind, in der Regel der Reinertrag zu Grunde gelegt werden,
den die Grundstücke nach ihrer bisherigen wirtschaftlichen Bestimmung bei ord-
nungsmäßiger Bewirtschaftung nachhaltig gewähren. Abs. 2. Die Grundwertsteuer
ist vom Kreisausschusse zu veranlagen.
ş 9. Die Realsteuern sind in der Regel mit dem gleichen Prozentsatz heran-
zuziehen, mit welchem die Einkommensteuer belastet wird; daß auf Grund einer
Grundwertsteuer ($ 8) zu erhebende Stenersoll ist nach der Steuersumme zu be-
messen, mit welcher die Grund- und Gebäudesteuer im Kreise herangezogen werden
darf. Abs. 2. Ausnahmen von dieser Vorschrift, insbesondere die geringere Be-
lastung oder die Freilassung der untersten Gewerbesteuerklassen sind zulässig.
Abs. 3. Der Kreistag kann den festgestellten Maßstab einer Revision unterwerfen,
wenn seit der letzten Feststellung mindestens 5 Jahre verstrichen sind. In Aus-
nahmefällen ist die frühere Vornahme einer Revision zulässig.
$ 10. Handelt es sich um Veranstaltungen des Kreises, welche ausschließlich
oder in besonders hervorragendem oder geringem Maße einzelnen Kreisteilen zu-
statten kommen, so kann der Kreistag eine ausschließliche Belastung oder eine
nach Umfang und Maßstab näher zu bestimmende Mehr- oder Minderbelastung
dieser Kreisteile beschließen. Die Bestimmung in § 5 Abs. 2 findet entsprechende
Anwendung. Abs. 2. Soweit hinsichtlich der Vorausbelastung einzelner Kreisteile
bei Aufbringung der Kosten für Aulegung oder Unterhaltung von Wegen besondere
gesetzliche Vorschriften bestehen, behält es dabei sein Bewenden.
$ 11. Der vom Kreistag festgestellte Kreissteuerbedarf wird, nach Abzug
der gemäß $ 7 Abs. 6 besonders veranlagten Steuerbeträge, auf die Gemeinden
und Gutsbezirke verteilt. Dabei wird ihnen in den Fällen des $7 Abs. 4 und de
$ 8 das Ergebnis der Veranlagung der einzelnen Steuerpflichtigen mitgeteilt. Die
ahlung an die Kreiskommunalkasse hat zu den von dem Kreisausschusse zu be
stimmenden Terminen zu erfolgen. Abs. 2. Gegen die Verteilung der Kreissteuern
steht den Gemeinden und Gutsbezirken binnen einer Frist von 4 Wochen der Ein-
spruch zu, über welchen der Kreisausschuß beschließt. Abs. 3. Mit dem Ein-
spruche kann die Veranlagung der einzelnen Steuerbeträge, aus denen sich das
der Kreisbesteuerung zu Grunde gelegte Steuersoll zusammensetzt, nur in den
Fällen des $ 7 Abs. 4 und des $ 8 von den Gemeinden angegriffen werden. Ist
in den Fällen des $ 8 nach Vorschrift der Steuerordnung ein Grundstück nach
demjenigen Werte zu veranlagen, welcher der staatlichen Veranlagung dieses
Grundstücks zur Ergänzungssteuer zu Grunde zu legen ist, so kann die Höhe
dieses Wertes nicht angegriffen werden, wenn sie aus den Besteuerungsmerkmalen
der staatlichen Ergänzungssteuer übernommen ist. Abs. 4. Gegen den Beschluß
des Kreisausschusses findet innerhalb einer Frist von 2 Wochen die Klage bei dem
Bezirksausschusse statt. Gegen die Entscheidung des Bezirksausschusses ist nur das
Rechtsmittel der Revision zulässig, Abs. 5. Durch Einspruch und Klage wird
die Verptlichtung zur Zahlung der Kreissteuer nicht aufgeschoben.
$ 12. Die Gemeinden haben den auf sie entfallenden Teil des Kreissteuerbe-
darfs gleich den übrigen Gemeindeausgaben aufzubringen.
Nationalökonomische Gesetzgebung. 519
$ 13. In den Gutsbezirken wird der auf sie entfallende Teil des Kreissteuer-
bedarfs von dem Kreisausschusse gemäß den für die direkten Gemeindesteuern
geltenden Bestimmungen des Kommunalabgabengesetzes — mit Ausschluß des § 49
Abs. 2 und des $ 50 Abs. 1 Satz 2 — sowie des Gesetzes wegen Aufhebung
direkter Staatssteuern vom 14. Juli 1803 (Gesetzsamml. S. 119) durch Veranlagung
den Steuerpflichtigen unterverteilt. Die Veranlagung erfolgt nach den vom Kreis-
tage beschlossenen Maßstabe ($$ 9, 8). Abs. 2. Wo nach den bestehenden gesetz-
lichen Bestimmungen für die Veranlagung oder Erhebung von direkten Gemeinde-
steuern ein Gemeindebeschluß maßgebend ist, tritt an die Stelle eines solchen der
Beschluß des Kreisausschusses.
$ 14. Der Kreisausschuß beschließt über die Art der Steuererhebung in den
Gutsbezirken. Abs. 2. Gegen die Heranziehung zur Kreissteuer in den Gutsbe-
zirken steht den Steuerpflichtigen binnen einer Frist von 4 Wochen der Einspruch
zu, über welchen der Kreisausschuß beschließt. Hinsichtlich der weiteren Rechts-
mittel findet $ 11 Abs. 4 und 5 dieses Gesetzes Anwendung. Abs. 3. Die Verteilung
steuerpflichtigen Einkommens auf eine Mehrzahl steuerberechtigter Gutsbezirke
und Cuksinden regelt sich nach den $$ 71 bis 74 des Kommunalabgabengesetzes.
$ 15. Ist in einer Gemeinde oder einem Gutsbezirke das der direkten Kreis-
besteuerung zu Grunde gelegte Gesamtsteuersoll im Laufe eines Rechnungsjahrs
durch Abgänge nach Abzug der Zugänge um mehr als 10 Proz. verringert worden,
50 ist der Mehrbetrag des Ausfalls auf Antrag vom Kreise zu erstatten. Bei
geringerem Ausfalle kann der Kreisausschuß auf Antrag Erstattung gewähren.
Abs. 2. Das Diensteinkommen der unmittelbaren und mittelbaren Staatsbeamten
darf zu den auf das Einkommen gelegten Kommunalsteuern nur mit den aus den
Ss 4 und 5 Abs. 1 der Verordnung vom 23. September 1567 (Gesetzsamml. S. 1645)
sich ergebenden Beschränkungen herangezogen werden. Soweit sich der von dem
Diensteinkommen gemäß $ 4 a. a. O. berechnete Kommunalsteuerbetrag zufolge
der Bestimmungen der $$ 12 und 13 dieses Gesetzes über das nach dem § b Abs. 1
jener Verordnung zulässige Maß erhöhen würde, ist der Kreis auf Antrag der Ge-
meinde (des Gutsbezirks) zur Erstattung des überschießenden Betrags verpflichtet.
$ 16. Auf die Rechtsmittel gegen die Heranziehung (Veranlagung) zu Ge-
bühren, Beiträgen und indirekten Steuern finden $ 14 Abs. 2 und $ 11 Abs. 4, 5
dieses Gesetzes, auf die Nachforderung, Verjährung und Beitreibung von Kreisab-
gaben die $S 87, 85 und 90 des Kommunalabgabengesetzes entsprechende Anwendung.
Abs. 2. Die Gemeinden und Gutsbezirke sind zur Wahrnehmung örtlicher Ge-
schäfte der Veranlagung und Erhebung von Kreisabgaben nach Anweisung des
Kreisausschusses verpflichtet. Im übrigen finden auf diese Veranlagung die
SS 62 und 63 des Kommunalabgabengesetzes entsprechende Anwendung.
$ 17. In den Steuerordnungen der Kreise können Strafen gegen Zuwider-
handlungen bis zur Höhe von 30 M. angedroht werden. Abs.2. Die Strafen sind
durch den Kreisausschuß festzusetzen und nach eingetretener Rechtskraft ($ 459
der Strafprozeßordnung) im Verwaltungszwangsverfahren beizutreiben.
§ 18. Das Rechnungsjahr für den Kreishaushalt beginnt mit dem 1. April
und endigt mit dem 31. März.
S$ 19, 20. Genehmigung bestimmter Beschlüsse des Kreisausschusses durch den
Bezirksausschuß und obere Instanzen.
Abschnitt 2. Provinzialabgaben (Bezirksabgaben).
$ 21. Die Provinzen (Bezirksverbände) sind berechtigt, zur Deckung ihrer
Ausgaben nach den Bestimmungen dieses Gesetzes Gebühren, Beiträge und direkte
Steuern zu erheben. Abs. 2. Hinsichtlich der Chausscegelder und anderen Ver-
kehrsabgaben bewendet es bei den bestehenden Bestimmungen.
$ 22. Die Provinzen (Bezirksverbände) dürfen von der Befugnis, Steuern zu
erheben, nur insoweit Gebrauch machen, als die sonstigen Einnahmen, insbesondere
aus dem Provinzial-(Bezirksverbands-)Vermögen, aus (Gebühren, Beiträgen und aus den
ihnen vom Staate überwiesenen Mitteln zur Deckung ihrer Ausgaben nicht ausreichen.
$ 23. Gewerbliche Unternehmungen der Provinzen (Bezirksverbände) sind
grundsätzlich so zu verwalten, daß durch die Einnahmen mindestens die gesamten,
durch die Unternehmung der Provinz (dem Bezirksverband) erwachsenden Aus-
aben, einschließlich der Verzinsung und der Tilgung des Anlagekapitals, aufge-
acht werden. Abs. 2. Eine Ausnahme ist zulässig, sofern die Unternehmung
zugleich einem öffentlichen Interesse dient, welches andernfalls nicht befriedigt wie
520 Nationalökonomische Gesetzgebung.
á
§ 24. Der Provinziallandtiag (Kommunallandtag) kann die Erhebung von
Gebühren und Beiträgen beschließen, auch deren Festsetzung auf den Provinzial-
(Landes-)Ausschuß übertragen. Abs. 2. Auf die Gebühren und Beiträge finden
die SS 4 und 5 dieses Gesetzes entsprechende Anwendung.
§ 25. Zur Aufbringung der Provinzial (Bezirks-)Steuern sind die einzelnen
Land- und Stadtkreise verpilichtet. Abs. 2. Als Maßstab der Verteilung der
Provinzial- Bezirks-)Steuern auf diese Verbände dient das Soll der Einkommen-
steuer und der vom Staate veranlagten Realsteuern einschließlich der Betriebssteuer,
wie es in Landkreisen nach den Vorschriften dieses Gesetzes, mit Ausschluß des
§ 8, und in Stadtkreisen nach dem Kommunalabgabengesetze, nach Gemeinde-
beschlüssen und Vereinbarungen mit Steuerpflichtigen der Kreis- bezw. Gemeinde-
besteuerung zu Grunde zu legen ist. Abs. 3. Der Einkommensteuer sind die auf
Einkommen von nicht mehr als 900 M. entfallenden Steuerbeträge (§ 38 Abs. 1
des Kommunalabgabengesetzes) hinzuzuzählen; indessen kann der Provinzial-
(Kommunal-)Landtag beschließen, diese Stenerbeträge insgesamt oder teilweise frei-
zulassen oder mit einem geringeren Prozentsatz als die Einkommensteuer heran-
zuzichen. Abs. 4. Maßgebend für die Verteilung ist in den Landkreisen das der
Kreisbesteuerung des jeweilig laufenden Rechnungsjahrs gemäß $ 7 Abs. 5 zu
Grunde gelegte Steuersoll, in den Stadtkreisen des Stenersoll des jeweilig voran-
gegangenen Rechnungsjahrs nach dem Stande des 1. Januar und zwar unter Be-
rücksichtigung der bis zu diesem Zeitpunkt endgültig eingetretenen Berichtigungen
und Veränderungen sowie mit der Maßgabe, welche aus dem Schlußsatze des Ab-
satzes 5 a. a. O. folgt.
§ 26. Die Realsteuern sind mit dem gleichen Prozentsatze heranzuziehen,
mit welchem die Einkommensteuer belastet wird.
§ 27. Handelt es sich um Veranstaltungen des Provinzial- (Bezirks-) Verbandes,
welche ausschließlich oder in besonders hervorragendem oder geringem Maße
einzelnen Kreisen zustatten kommen, so kann der Provinzial-(Kommunal-)Landtag
eine ausschließliche Belastung oder eine nach Umfang und Maßstab näher zu be-
stimmende Mehr- oder Minderbelastung dieser Kreise beschließen. Die Bestim-
oong, im § 5 Abs« 2 findet entsprechende Anwendung.
28. Der vom Provinzial-(Kommunal-)Landtage festgestellte Steuerbedarf
wird an Provinzial-(Landes-)Ausschuß auf die Land- und Stadtkreise verteilt.
Die Zahlung an die Provinzial-(Bezirks-, Landes-\Hauptkasse hat zu den von dem
Provinzial-(Landes-)Ausschusse zu bestimmenden Terminen zu erfolgen. Abs. 2—).
Veröffentlichungen und Rechtsmittel.
$ 29. Die Land- und Stadtkreise haben den auf sie entfallenden Teil des
Provinzial-(Bezirks-)Steuerbedarfs gleich den übrigen Kreis- bezw. Gemeindeaus-
gaben aufzubringen.
$ 30. Aufbringung der Prowinzialsteuern in Hessen-Nassau.
$ 31. Rechtsmittel,
$ 32. Das Rechnungsjahr für den Haushalt des Provinzial-(Bezirks-) Verbandes
beginnt mit dem 1. April und endigt mit dem 81, März.
$ 38. Genehmigungen.
ŞS 24—37. Schlupp- und Uebergangsbestimmungen.
Gesetz, betr. den Erwerb des Kalisalzbergwerks der Gewerkschaft
Hercynia durch den Staat. Vom 19. Juni 1906, S. 197.
§ 1. Die Staatsregierung wird ermächtigt, die der Gewerkschaft Hercynia zu
Wernigerode gehörigen Rechte, beweglichen und unbeweglichen Sachen, welche zur
Gewinnung und Verwertung von Stein- und Kalisalzen und von Sole in Beziehung
stehen, für den Fiskus zu erwerben und zu diesem Zwecke einen Betrag bis zu
30 950 000 M. zu verausgaben.
§ 2. Der Finanzminister wird ermächtigt, zur Bereitstellung der nach $1
erforderlichen Geldmittel Staatsschuldverschreibungen auszugeben. Abs. 2. An
Stelle der Staatsschuldverschreibungen können vorübergehend Schatzan weisungen
ausgegeben werden. Der Fällirkeitstermin ist in den Schatzanweisungen anzu-
geben. Der Finanzminister wird ermächtigt, die Mittel zur Einlösung dieser Schatz-
anweisungen durch Ausgabe von neuen Schatzanweisungen und von Schuldver-
schreibungen in dem ertorderlichen Nennbetrag zu beschaffen. Die Schatzanwei-
sungen können wiederholt ausgegeben werden. Abs. 3. Schatzanweisungen oder
Nationalökonomische Gesetzgebung. 521
Schuldverschreibungen, die zur Einlösung von fällig werdenden Schatzan weisungen
bestimmt sind, hat die Hauptverwaltung der Staatsschulden auf Anordnung des
Finanzministers 14 Tage vor dem Fälligkeitstermine zur Verfügung zu halten.
Die Verzinsung der neuen Schuldpapiere darf nicht vor dem Zeitpunkte beginnen,
mit dem die er UnE der aea Schatzanweisungen aufhört. Abs. 4,
Wann, durch welche Stelle und in welchen Beträgen, zu welchem Zinsfuße, zu
welchen Bedingungen der Kündigung und zu welchen Kursen die Schatzan-
weisungen und die Schuldverschreibungen verausgabt werden sollen, bestimmt der
Finanzminister. Abs. 5. Zur Tilgung des Kaufpreises ist, unter Einrechnung der
Mittel, welche zur gesetzlichen ®/,-proz. Tilgung eines Schuldkapitals von
30950000 M. erforderlich sind ($ 1 des Gesetzes vom 8. März 1897 — Gesetzsamml.
S. 43), eine Betrag bereitzustellen, der sich ergibt, wenn ein zu 3!/, Proz. verzins-
liches Schuldkapital von 30950000 M. jährlich mit 412000 M. getilgt wird und die
durch die Tilgung ersparten Zinsen mit zur Tilgung verwendet werden. Abs. 6.
Im übrigen kommen wegen Verwaltung und Tilgung der Anleihe die Vorschriften
des Gesetzes, betreffend die Konsolidation preußischer Staatsanleihen, vom 19. De-
zember 1869 (Gesetzsamml. S. 1197), des Gesetzes, betreffend die Tilgung von
Staatsschulden, vom 8. März 1597 und des Gesetzes, betreffend die Bildung eines
Ausgleichsfonds für die Eisenbahnverwaltung, vom 3. Mai 1903 zur Anwendung.
$ 3. Mit der Ausführung dieses Gesetzes werden, unbeschadet der Vorschrift
des $ 2, der Finanzminister und der Minister für Handel und Gewerbe beauftragt.
$ 4. Dieses Gesetz tritt mit dem Tage seiner Verkündigung in Kraft.
Gesetz, betr. die Bereitstellung von Geldmitteln für die nach dem
Gesetze vom 12. August 1905 durchzuführenden Maßnahmen zur Rege-
lung der Hochwasser-, Deich- und Vorflutverhältnisse an der oberen
und mittleren Oder. Vom 10. Juli 1906, S. 373.
§ 1. Die Staatsregierung wird ermächtigt, zur Ausführung des Gesetzes, be-
treffend Maßnahmen zur Regelung der Hochwasser-, Deich- und Vorflutverhält-
nisse an der oberen und mittleren Oder, zunächst die Summe von 15000000
(fünfzehn Mill.) M. zu verwenden. Abs. 2. Hiervon darf für Vorarbeiten, für den
alsbald notwendigen Grunderwerb und für sonstige unaufschiebbare vorbereitende
Arbeiten ein Betrag bis zu 5000000 (fünf Mill.) M. schon vor Erledigung des in
den $$ 1, 6 und 7 jenes Gesetzes vorgesehenen Verfahrens vorschußweise veraus-
gabt werden.
$ 2. Der Finanzminister wird ermächtigt, zur Deckung der in $ 1 erwähnten
Kosten, soweit die Mittel hierzu nicht durch den Staatshaushaltsetat bereitgestellt
werden, im Wege der Anleihe eine entsprechende Anzahl von Staatsschuldver-
schreibungen auszugeben. Abs. 2. An Stelle der Schuldverschreibungen können
vorübergehend Schatzanweisungen ausgegeben werden. Der Fälligkeitstermin ist
in den Schatzanweisungen anzugeben. Der Finanzminister wird ermächtigt, die
Mittel zur Einlösung dieser Schatzanweisungen durch Ausgabe von neuen Schatz-
anweisungen und von Schuldverschreibungen in dem erforderlichen Nennbetrage
zu beschaffen. Abs. 3. Die Schatzanweisungen können wiederholt ausgegeben
werden. Schatzanweisungen oder Schuldverschreibungen, die zur Einlösung von
fällig werdenden Schatzanweisungen bestimmt sind, hat die Hauptverwaltung der
Staatsschulden auf Anordnung des Finanzministers 14 Tage vor dem Fälligkeits-
termin zur Verfügung zu halten. Die Verzinsung der neuen Schuldpapiere darf
nicht vor dem Zeitpunkte beginnen, mit dem die Verzinsung der einzulösenden
Schatzanweisungen aufhört. Abs. 4. Wann, durch welche Stelle und in welchen
Beträgen, zu welchem Zinsfuße, zu welchen Bedingungen der Kündigung und zu
welchen Kursen die Schatzanweisungen und die Schuldverschreibungen verausgabt
werden sollen, bestimmt der Finanzminister. Abs. 5. Im übrigen kommen wegen
Verwaltung und Tilgung der Anleihe sowie wegen Verjährung der Zinsen die Vor-
schriften des Gesetzes vom 19. Dezember 1800 (Gesetzsamml. S. 1197), des Ge-
setzes vom 8. März 1897 (Gesetzsamnil. S. 43) und des Gesetzes vom 3. Mai 1903
(Gesetzsamml. S. 155) zur Anwendung.
$ 3% Die Ausführung dieses Gesetzes erfolgt durch die zuständigen Minister.
(Fortsetzung folgt.)
Miszellen. 523
zur Entnationalisierung ist und kann mit Sicherheit annehmen, daß die-
jenigen Personen, welche aus äußeren Rücksichten den Mut nicht haben,
ihre wahre Muttersprache anzugeben, noch viel weniger die Kraft be-
sitzen werden, ihre Kinder im Gegensatz zu der herrschenden Nationa-
lität zu erziehen.
Mit weit rascheren Schritten aber noch, als diese Zahlen vermuten
lassen, ist das deutsche Element in der Landeshauptstadt von dem
Magyarentum verdrängt worden. Hier sind die Deutschen in den letzten
Dezennien nicht nur relativ, sondern auch der absoluten Zahl nach
zurückgegangen.
Unter den Einwohnern von Budapest befanden sich !):
sti
Ungarn Deutsche Slovaken es 2)
im Jahre absol. Proz. absol. Proz. absol. Proz. absol. Proz.
1881 201776 56,7 122 155 34,3 21871 6, 9880 2,9
1891 326533 67,1 115 573 23,7 27871 5,6 17490 3,6
1901 559965 79,6 98515 14,0 24091 3,4 20560 2,9
Während noch wenige Jahre nach der Vereinigung der beiden
Städte Ofen und Pest das deutsche Element ein starkes Drittel der
Bevölkerung ausmachte, ist es neuerdings auf nur 14 Proz. zurück-
gegangen.
Der Rückgang der Bedeutung des Deutschtums zeigt sich aber nicht
nur in diesen Zahlen, sondern auch deutlich, wenn man die Sprachen-
kenntnisse der Bevölkerung von Budapest betrachtet.
Von der Gesamtbevölkerung der Hauptstadt konnten sprechen:
im Jahre ungarisch deutsch sonstige Sprachen
1851 250 257 264 459 52 270
1891 403 941 313 040 66 901
1901 643 655 387 276 169 133
beherrschten nur eine Sprache und zwar:
im Jahre ungarisch deutsch sonstige Sprachen
1881 63 834 71279 8315
1891 146 144 58 658 11 139
1901 271 110 30 508 14 484
1881 war also die Zahl derjenigen Personen, welche überhaupt
deutsch sprechen konnten, noch weit größer als die Zahl der Personen,
welche die ungarische Sprache verstanden, und ebenso die Zahl der
Personen, welche lediglich deutsch sprachen, weit größer als die Zahl
derjenigen, die nur die ungarische Sprache beherrschten. Die deutsche
Sprache nahm also eine führende Stellung ein. Und zwanzig Jahre
später! Die Kenntnis der deutschen Sprache besitzen zwar 1901 der
absoluten Zahl nach mehr Personen als 1881, im Verhältnis zur Ge-
samtzahl aber und im Verhältnis zur Zahl derjenigen Personen, welche
die ungarische Sprache beherrschen, unvergleichlich weniger. Nur
1) Statistisches Jahrbuch der Haupt- und Residenzstadt Budapest.
2) Einschließlich der in Budapest lebenden Ausländer,
524 Miszellen.
deutsch sprachen überhaupt nur mehr 30563 Personen. Ungarisch ist
die absolut führende Sprache geworden, ihre Kenntnis unerläßlich.
Lassen schon diese Zahlen die Zukunft des Deutschtums in Buda-
pest in einem trüben Lichte erscheinen, so verschlimmern sich die Aus-
sichten noch, wenn man die Verhältnisse der Nationalitäten in den ein-
zelnen Altersklassen betrachtet. Ausschlaggebend für Erhaltung und
Entwickelung eines Volkstums im kleinen wie im großen ist der eigne
Nachwuchs. Betrachten wir aber die Verhältnisse, die bei den Kindern
der Deutschen herrschen, so sehen wir deutlich, daß unter diesen die
Magyarisierung noch weit größere Fortschritte gemacht hat als unter
der Gesamtheit.
Von je 100 Personen in dem in der Vorspalte bezeichneten
Alter waren
Altersklasse Ungarn Deutsche
im Jahre im Jahre
1881 | 1891 I 1901 1881 | 1891 1901
bis zu 5 Jahren 65,4 | 73,9 88,3 30,4 20,7 a
5—10 Jahre 65,2 75,3 89,3 31,1 20,3 7,8
10—15 „ 66,8 77,2 88,3 28,9 18,7 8,7
15—20 „5 64,1 74,0 84.8 29,1 19,8 10,4
20—25 „ 60,7 74,0 81,7 29,7 19,5 11,2
25-30 „ 57,8 71,2 79,8 31,5 18,6 11,9
30—35 „ 53,9 68,2 78,7 34,7 19,7 12,4
35—40 ,„ 52,2 65,5 76,4 35,5 22,3 15,1
40—45 ,„ 48,6 63,4 74,1 39,0 25,8 18,0
45—50 , 47,8 59,4 71,0 40,4 28,8 22,0
50—55 „ 42,7 56,4 66,4 44,7 31,5 25,9
55—60 ” 41,7 54,1 63,3 46,9 33,4 | 28,8
über 60 ,„ 39,3 50,6 52,6 51,3 37,1 39,8
unbekannt 70,2 45,6 45,4 29,8 43,5 9,2
Zusammen | 56,7 | 671 | 796 | 343 | 233 | 140
Mit dem Absterben der älteren Generationen geht das Deutschtum
rapid zurück; in den jüngsten Altersklassen herrscht das Magyarentum
unbeschränkt. Während 1901 das deutsche Element noch mit 14 Proz.
an der Gesamtheit der Bevölkerung partipiziert, hat es den Boden in
den jüngsten Altersklassen fast völlig verloren. Waren 1881 noch mehr
als 30 Proz. der Kinder im Alter unter 5 Jahren deutsche, so stellt
neuerdings das deutsche Element nur noch 7,7 Proz. zu der untersten
Altersklasse.
Deutlich tritt das Verschwinden des Deutschtums in dem Nachwuchs
auch in der Schulstatistik 1) zu Tage.
Unter den Volksschülern waren 1899/00 der Muttersprache nach:
Ungarn 43 972 = 90,0 Proz.
Deutsche 2210 = 86 5;
Slowaken 44808 5,
Sonstige 234 = Ób p
1) Statistik des Unterrichtswesens der Hauptstadt Budapest für die Jahre 1895/96
bis 1899/00.
Miszellen. 525
Das ungarische Element ist also unter den Volksschülern um über
10 Proz. stärker vertreten als im Kreise der Gesamtbevölkerung, das
deutsche Element — entsprechend seinem Altersaufbau — ca. 6 Proz.
schwächer.
Kann man auch annehmen, daß bei der Schulstatistik in dem
Bestreben, die Fortschritte der Magyarisierung recht deutlich hervor-
treten zu lassen, alle Schüler, welche überhaupt ungarisch sprechen, als
Magyaren gezählt worden sind, so bleibt doch immerhin die Tatsache
bestehen, daß die ungarische Sprache in den Kreisen der Schulkinder
eino unverhältnismäßig starke Verbreitung gefunden hat. Auch dieses
Faktum hat sich im Laufe weniger Dezennien herausgebildet.
Der Nationalität nach wurden Volksschüler bezeichnet als
Ungarn Deutsche
ih absolute Proz sder absolute Fror: der
Zeitraum Zahl Gesamtzahl der Zahl Gesamtzahl der
2 Volksschüler ie Volksschüler
1873—1875 18 207 ` 63,0 Proz. 10 231 35,4 Proz.
1875 —1880 65 444 CH 23 581 26,8. ©
1880—1885 89 994 78, 5 23 702 20,6 4i
1885—1890 114 685 Sr 21 301 15,4 y
1890—1895 152 553 89:3; 16 508 G a
1895 —1900 201 801 9i n 15 986 Tier“ i
In den letzten Jahren des Quinquenniums 1895 bis 1900 ist aller-
dings eine kleine Verschiebung in der Entwickelung bemerkbar. Es
wurden nämlich nachgewiesen
Ungarn Deutsche
: i Proz. der Proz. der
tes we Gesamtzahl der ne Gesamtzahl der
a Volksschüler Si Volksschüler
1895 36 145 92,2 Proz. 2697 6,9 Proz.
1896 38 192 9250: is j 2934 vA T
1897 41069 928 y 2684 61 +»
1898 42 423 9I, » 3456 74 m
1899 43 972 90,0 » 4215 8 a
Dieses unbedeutende Anwachsen der Zahl der deutschen Volks-
schulkinder in den letzten angefügten Jahren ändert indessen keineswegs
die gesamte Entwicklungstendenz, die dahin fübrt, die deutschen Schul-
kinder zu magyarisieren. Am deutlichsten tritt dies in Erscheinung,
wenn man den Zustand im Anfangsjahr der oben angeführten Epoche
vergleicht mit dem im Jahre 1899. 1873 — zur Zeit der Vereinigung
der beiden Städte — konnten nur 8324 Schulkinder (61 Proz.) als
Ungarn eingeschrieben werden, während noch 5904 (37 Proz.) Schulkinder
deutscher Zunge gezählt wurden. 1899 hat sich die Zahl der ungarischen
Schüler auf 43 972 (90 Proz.) vermehrt, wogegen die Anzahl der deutsch-
sprechenden auf 4215 (8,6 Proz.) gesunken ist.
. Selbstredend sind die Zahlenverhältnisse der Nationalitäten nicht
ın allen Stadtteilen gleich. Die ehemalig deutsche Ofener Seite zeigt
a heute noch unter den Schulkindern einen beträchtlichen Einschlag
eutscher Elemente, wohingegen die Pester Seite fast ausschließlich
ungarische Schulkinder aufweist. Während in Ofen 1899 nur 68,0 Proz.
we
526 Miszellen.
der Volksschüler als Ungarn eingeschrieben werden konnten, waren auf
der Pester Seite unter den Schülern 95 Proz. ungarischer Zunge. Dort
fanden sich noch 30 Proz. deutsche Schulkinder, hier nurmehr 3 Proz.
Wenn auf dem Gesamtgebiet der ganzen Stadt seit der Vereinigung
der beiden Städte der Anteil der ungarischen Schüler von 61 Proz. auf
90 Proz. gestiegen ist, so ist das allerdings zum Teil der sehr be-
deutenden Zunahme der eigentlichen ungarischen Bevölkerung in den
Pester Bezirken zuzuschreiben, gleichzeitig aber den großartigen Erfolgen
der ungarischen Schulen in der Magyarisierung der deutschen Schul-
kinder. In nichts zeigt sich dieser unmittelbare Erfolg besser als in
der Tatsache, daß in den Schulen von Stufe zu Stufe das ungarische
Element zunimmt, das deutsche verliert. Während in den untersten
Klassen der Volksschulen 1899 erst 87 Proz. der Schulkinder als Ungarn
eingeschrieben werden konnten, befanden sich unter den Schülern der
IV. Klasse bereits 93 Proz. Ungarn, d. h. Schüler, als deren Mutter-
sprache ungarisch angegeben wurde. Den Einfluß dieser Erfolge auf
die Gesamtheit des Deutschtums in Ungarns Hauptstadt haben wir
bereits oben gesehen. Wenige Dezennien haben genügt, um die deutsche
Sprache aus ihrer fast herrschenden Stellung völlig zu verdrängen, das
deutsche Element zu einem immer mehr verschwindenden Bruchteil der
Gesamtbevölkerung zu machen.
Miszellen. 527
XII.
Josef v. Körösy.
Von Dr. Julius Bunzel.
Am 25. Juni vorigen Jahres ist in Pest einer der bekanntesten
Statistiker Ungarns gestorben: Dr. Josef v. Körösy. Nach langem,
arbeitsreichem Leben, das er vor allem in den Dienst seiner Vaterstadt
gestellt hatte.
Am 20. April 1844 in Pest als Sohn jüdischer Eltern geboren,
war er nach Beendigung seiner Studien allerdings zunächst als Beamter
bei einer Assekuranzgesellschaft tätig gewesen und hatte sich — nach-
dem er auf Grund seiner schriftstellerischen Arbeiten in den statisti-
schen Landesrat berufen worden war — auf dem Gebiete der Volks-
wirtschaftslehre und Statistik, anfangs nur journalistisch, betätigt.
Als jedoch am Ende des Jahres 1869 die Stadt Pest die Errichtung
eines städtischen statistischen Bureaus beschlossen hatte, war er —
über Vorschlag des Nationalökonomen Professor Dr. Julius Kautz und
des Stadtrepräsentanten Szeher — am 2. Dezember 1869 einstimmig
zum Direktor dieser Bureaus gewählt worden und — kaum 26 Jahre
alt — in den Dienst der Stadt getreten, in dem er sich dann mehr als
ein Menschenalter — bis an sein Lebensende — betätigte.
Anfangs bestand freilich das neue Amt nur aus seinem Direktor,
der sofort — ehe er noch an die ÖOrganisierung des Bureaus gehen
konnte — das Material der Volkszählung vom Jahre 1870 allein (ledig-
lich mit Hilfe von Diurnisten) aufarbeiten mußte. Erst Ende des Jahres
1870 wurden 3 Adjunkten ernannt, mit denen aber die sich immer
mehr häufenden Arbeiten auch nicht bewältigt werden konnten, da es
bei der geringen Dotation dieser Stellen (1000, 800 und 700 fl.) — wie
Thirring in seiner Geschichte des Bureaus überzeugend darlegt — „nahe-
zu unmöglich war, für diese Stellen wissenschaftlich gebildete, qualifizierte
Kräfte zu gewinnen. Der geringe Personalstand, der das Avancement
fast gänzlich ausschloß, verursachte, daß die Mitglieder des Amtes, so-
bald sich eine Gelegenheit zur Besserung ihrer Lage bot, das Amt ver-
ließen. So wechselten die Beamten fortwährend. Die ausgeschriebenen
Konkurse blieben des öfteren erfolglos, weil, bei der geforderten Qua-
lifikation, sich niemand für so geringes Gehalt meldete. So standen
einzelne Stellen oft jahrelang unbesetzt, und die fehlende Arbeitskraft
mußte durch — fortwährend wechselnde — Diurnisten ersetzt werden.
528 Miszellen.
Diese Fluktuation des Personalstandes wirkte oft hindernd, wenn nicht
lähmend, auf die Tätigkeit des Bureaus und machte es unmöglich, einen
wissenschaftlich gebildeten Nachwuchs heranzuziehen“, Noch ärger
wurden die Dinge dann, als — nach der Vereinigung Pests mit Ofen
und Altofen — im Jahre 1873 statt einer Adjunktenstelle, eine (bei
dem geringen Personalstande zwecklose und daher oft unbesetzte) Prak-
tikantenstelle systemisiert wurde, so daß das Amt, das nunmehr das
ganze, für das Gebiet der drei Städte gesammelte Material bearbeiten
sollte, weniger Kräfte zur Verfügung hatte als das bis dahin nur für
Pest bestimmte Bureau gehabt hatte. Erst im Jahre 1874 — nach
vielen Vorstellungen Körösys — wurde die Anstellung — zweier Diur-
nisten bewilligt. Eine weitere Stellenvermehrung glaubte das Ministerium
des Innern (Koloman Tisza!) ablehnen zu müssen. Trotz mehrfacher zu-
stimmender Berichte der Kommune und trotzdem Körösy erklärt hatte,
er sehe sich gezwungen, sich mit dem Gedanken des Scheidens von dem
ihm lieb gewordenen Posten zu befreunden, da es ihm unter solchen
Verhältnissen unmöglich sei, das Bureau auf dem bisherigen Niveau zu
erhalten. Dem Ministerium, das früher (bis zum Jahre 1872) dem Amte
sogar eine staatliche Subvention von 2000 K jährlich gewährt batte,
war es eben plötzlich eingefallen, daß es, mit Rücksicht auf die be-
deutenden Personalkosten der städtischen Verwaltung, die Reorganisier-
ung nicht genehmigen könne. „Die Mängel, die in den Resultaten der
bisherigen Tätigkeit des Bureaus zu erkennen sind, könnten“ — meinte
das Ministerium — „am besten dadurch behoben werden, wenn sich
das statistische Amt, seiner eigentlichen Aufgabe entsprechend, auf jene
praktischen Arbeiten und die Beschaffung jenes Materials beschränken
würde, welche zur rationellen Einrichtung der Administration und
Weiterentwicklung des munizipalen Lebens notwendig erscheinen“. Das
war wenigstens deutlich und zeigte mit aller wünschenswerten Klarheit,
wie unbeliebt sich Körösy durch seine (namentlich in Ungarn ganz un-
gewohnte) freimütige Sprache höheren Ortes gemacht hatte. Daß er in
seinem Werke „Die Sterblichkeit in der Stadt Pest in den Jahren 1872
und 1873 und deren Ursachen“ — noch dazu in deutscher, also in einer
auch im Auslande verständlichen Sprache — darauf hingewiesen hatte,
daß „die große Sterblichkeit der in überfüllten finsteren und schmutzigen
Zimmern wohnenden Personen, der in feuchten Kellerlokalitäten zu-
sammengedrängten Tagelöhner und Arbeiter... die Höhe des Sterb-
lichkeitskoeffizienten in der Hauptstadt verursache“, daß daher nur eine
gründliche Verbesserung der Wohnungsverhältnisse und der sanitären
Zustände überhaupt hier Abhilfe schaffen könne, erschien geradezu un-
verzeihlich und machte die ablehnende Haltung des Ministeriums gegen
die Förderung eines unter solch „gefährlicher“ Leitung stehenden Amtes
begreiflich, wenn auch nicht gerade verzeihlich.
Die Folge dieser Haltung war dann natürlich der Austritt der besten
Kräfte und damit eine bedeutende Einschränkung der bisherigen wissen-
schaftlichen Arbeiten des Amtes, sowie die Autlassung einzelner Zweige
der Kommunalstatistik. Erst im Jahre 1893 — kurz bevor der
VIII. internationale hygienische und demographische Kongreß in Pest
Miszellen., 529
zusammentreten sollte — wurde mit Genehmigung des Ministeriums
des Innern (Karl Hieronymi) eine besser dotierte Vizedirektorstelle neu
systemisiert und damit wenigstens dem allerdrückendsten Bedürfnisse
abgehol fen.
Daß trotz dieser so beschränkten Verhältnisse so viel geleistet
werden konnte, ist gewiß vor allem, ja fast ausschließlich der hervor-
ragenden Arbeitskraft, sowie dem unermüdlichen Arbeitseifer Körösys
zuzuschreiben, der — außer den 33 Jahrgängen der wöchentlichen und
monatlichen periodischen Veröffentlichungen des Amtes — 47 Bände
gesonderter Publikationen über verschiedene Gebiete der städtischen
Statistik selbst herausgab: 14 Bände über die Volkszählungen der
Jahre 1857, 1870, 1881, 1886, 1891, 1896 und 1901, 11 Bände über
die Sterblichkeit in den Jahreu 1872 bis 1904, 6 Bände über die Bau-
tätigkeit in den Jahren 1870—1900, 7 Bände über das Unterrichts-
wesen in den Jahren 1871/2 bis 1899/00, 3 Bände über die Einkommen-
und Hauszinssteuern in den Jahren 1870—1874, einen Band des sta-
tistischen Jahrbuches (im Jahre 1873), 2 Bände über die Aktiengesell-
schaften in den Jahren 1874—1898, einen Band über das Armenwesen
in den Jahren 1900—1902, einen Band über „Infektionskrankheiten
und Witterung in den Jahren 1881—1891“ und einen Band über die
Natalitäts- und Mortalitätsverhältnisse ungarischer Städte in den Jahren
1878—1895 (letzteren unter Mitwirkung des vortrefflichen Vizedirektors
des Amtes Prof. Dr. Gustav T'hiring).
Und all diese Werke waren nicht bloß Ansammlungen statistischer
Daten, „schätzenswertes Material“. Aus jedem der Bücher sprach viel-
mehr die Persönlichkeit Körösys, sein scharfer Geist, sein warmes Em-
pfinden, sein offener Freimut. So führte seine Schilderung der Ver-
hältnisse immer zu ihrer Verbesserung. Die Errichtung des ersten
Epidemiespitales im Jahre 1886, sowie die Einführung des Meldezwanges,
der obligatorischen Separierung, wie der behördlichen Desinfektion bei
infektiösen Krankheiten (1879) sind die Frucht seiner Veröffentlichungen
über die sanitären Zustände, die sich seither derart besserten, daß
die Sterblichkeit von 41,7 °%/,, im Durchschnitte der Jahre 1874—1875
auf 19,3°/ im Jahre 1906 sank. Die große Enquete zur Hebung des
hauptstädtischen Handels (die zur Reform der Handelsgebühren und der
Errichtung von Entrepots führte) war gleichfalls über Körösys Anregung
zusammenzetreten. Auch leitete er die Industrieaufnahmen in den Jahren
1872, 1853 und 1885, regte die wiederholten Konskriptionen der schul-
pflichtigen Kinder an, erstattete Gutachten über die administrative Ein-
teilung der Stadt, über die Errichtung einer städtischen Brandschaden-
kasse (1888), über die Preisnotierung der Lebensmittel und Viehmarkt-
preise (1888), über die Regelung des Schulgeldes (1892), über die
Errichtung einer administrativen Bibliothek (1893), über die Besserung
der Wohnungsverhältnisse, über die Verschleuderung der städtischen
Grundstücke, über die Steuerreformen, kurz über nahezu alle Fragen
des kommunalen Lebens. Und so begreiflich es in Pest erscheinen
mußte, „daß eine derartige praktische Handhabung der Statistik dem
Bureau auch viele Unannehmlichkeiten zuziehen mußte“, so begreiflich
Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIII). 34
530 Miszellen.
ist es, daß die Arbeiten dieses Bureaus in der wissenschaftlichen Welt
die regste Beachtung und höchste Anerkennung fanden.
Schon auf der Wiener Weltausstellung vom Jahre 1873 erhielten
die Arbeiten des Bureaus die Medaille erster Klasse (Fortschrittsmedaille).
Und auch später wurden sie wiederholt mit ersten Auszeichnungen be-
dacht: so in Paris, Pest und an anderen Orten. Ebenso wurden die
Einrichtungen des Bureaus in den Fachkongressen als vorbildlich an-
erkannt und namentlich die Zensus- nnd Mortalitätsarbeiten Körösys
als mustergültig bezeichnet. Der VIII. internationale statistische Kongreß
iu Petersburg (1873) betraute das Bureau mit der Redaktion einer inter-
nationalen Städtestatistik, von der in den Jahren 1876 und 1877 zwei
Bände: „Mouvement de la population“ (enthaltend die Daten von 38
Städten) und „Statistique des finances“ (enthaltend die Daten von 26
Städten) erschienen, worauf vom Jahre 1877 bis zum Jahre 1886 all-
jährlich das „Bulletin annuel des finances des grandes villees“, das eine
vergleichende Finanzstatistik der Großstädte lieferte, von Körösy redi-
giert wurde, bis er, mit anderweitigen Arbeiten überhäuft, die Redaktion
dieses Bulletins niederlegte. Ueber Auftrag des im Jahre 1875 in Pest
abgehaltenen IX. internationalen statistischen Kongresses wurde von Körösy
überdies vom Jahre 1878 bis 1895 das „Bulletin hebdomadaire de
statistique internationale (Villes du sud — est de l’Europe)“, das die
auf die Volksbewegung bezüglichen Daten der größeren Städte Süd-
europas enthielt, herausgegeben. Einen weiteren, die Frage der Schaffung
einer richtigen Mortalitätsstatistik betreffenden Auftrag hatte das Bureau
schon 1874 durch die in Stockholm tagende Permanenz-Kommission des
internationalen statistischen Kongresses — deren Mitglied Körösy seit
dem Jahre 1872 war — erhalten. Ueberhaupt vertrat Körösy — der auch
schon dnrch seine Sprachenkenntnisse hiezu vortrefflich geeignet war
— das Bureau auf fast allen statistischen, hygienischen und demo-
graphischen Kongressen und spielte auf allen stets eine hervorragende
Rolle.
Denn seine Bedeutung war in Fachkreisen bald allgemein aner-
kannt. Namentlich auf dem weiten Gebiete der Demographie galt
und gilt er als eine der bedeutendsten Autoritäten. Die Grenzen
dieses Gebietes hatte er schon im Jahre 1882 in einer in Genf er-
schienenen Schrift „La place scientifique et les limites de la Demo-
graphie“ abgesteckt. Zehn Jahre später (im 2. Jahrgange des statisti-
schen) Archives veröffentlichte er dann einen Aufsatz über: „Die wissen-
schaftliche Stellung und Grenzen der Demologie“, in dem seine Ansichten
über den Unterschied zwischen der statistischen Methode und der Demo-
logie noch prägnanter zum Ausdrucke kamen. Im gleichen Jahre (1892)
gab Körösy — nachdem bereits im Jahre 1889 die „Demologischen
Studien“ in magyarischer Sprache erschienen waren — bei Puttkammer
& Mühlbrecht auch seine „Demologischen Beiträge“ heraus, in denen
Fragen der Mortalitäts- wie der Fruchtbarkeits- und Geburtenstatistik
behandelt wurden. Die Fruchtbarkeits- und Geburten-
statistik verdankt ihm außerdem eine Reihe überaus interessanter
Untersuchungen über den Einfluß des Alters der Eltern auf die Frucht-
Miszellen. 531
barkeit der Ehen. Schon dem 1891 in London abgehaltenen VII. inter-
nationalen hygienischen und demographischen Kongresse hatte er —
nachdem seine „Vorschläge zur Wiedereinführung der Pester Natalitäts-
statistik“ bereits in magyarischer Sprache erschienen waren — eine be-
rechtigtes Aufsehen erregende Arbeit „On the influence of the age of
parents on the vitality of their children“ vorgelegt und ein Jahr später
dieses Thema (in diesen Jahrbüchern III. F. 4. Band) auch in deutscher
Sprache behandelt. Im Jahre 1893 erschienen dann (in magyarischer
Sprache) die ersten Pester Natalitätstabellen; 1896 wurden solche Tafeln
in französischer Sprache dem VIII. interationalen demographischen
Kongresse vorgelegt. Damals waren die auf Grund solcher Tabellen
verfaßten Arbeiten Körösys über ‚Maß und Gesetz der ehelichen Frucht-
barkeit“ — die in einer ungarischen gelehrten Gesellschaft als „unsitt-
lich“ bezeichnet worden waren — schon in deutscher, französischer und
englischer Sprache erschienen: deutsch in der Wiener medizinischen
Wochenschrift 1894, französisch in der Revue d’&conomie politique 1895
und englisch in den Philosophical transactions of the Royal society of
London 1896. Später veröffentlichte Körösy in magyarischer Sprache
weitere „Daten zur Fruchtbarkeit der hauptstädtischen Ehen im Jahre
1898“, sodann — im Jahre 1900 — (im 12. Bande des Bulletin de l’Institut
international de Statistique) einen „Beitrag zur einheitlichen Aufarbeitung
der Geburtsstatistik*, 1903 (im 13. Bande des Bulletins) „Weitere
Beiträge zur Statistik der ehelichen Fruchtbarkeit“, sowie eine Arbeit
„Sur la fécondité des mariages à Budapest“ und endlich 1905 (in Berlin)
„Neue Beiträge zur Sexualproportion der Geburten“. Die in dem Be-
richte aus dem Jahre 1903 erschienenen Tabellen, die sich auf die Jahre
1897—1900 erstrecken, sind besonders interessant, da eine solche nach
dem Alter der Eltern fortschreitende Fruchtbarkeitsstatistik noch nirgends
versucht worden war und im ganzen 9757 Ehen mit 26952 Geburten
beobachtet werden konnten.
Auch auf dem Gebiete der Krankheitsstatistik entfaltete
Körösy eine äußerst fruchtbare Tätigkeit. Zehn Aufsätze befassen sich
allen mit der Impfstatistik. Drei von diesen sind in magyarischer,
die übrigen in deutscher Sprache abgefaßt. Am wichtigsten sind die dem
Wiener hygienischen und demographischen Kongresse im Jahre 1887
vorgelegten „Neuen Betrachtungen über. den Einfluß der Schutzpocken-
impfung auf Morbidität und Mortalität“, ferner die bei Puttkammer &
Mühlbrecht (Berlin), in den Jahren 1890 und 1891 erschienenen Schriften
„Kritik der Vaccinationsstatistik und neue Beiträge zur Frage des Impf-
schutzes“ sowie „Neue Beiträge zur Frage des Impfschutzes“ und endlich
die 1896 in der Pester medizinisch-chirurgischen Presse erschienenen
„Statistischen Beweise des Impfschutzes“. — In all diesen Arbeiten trat
Körösy — auf Grund der von ihm in zehn ungarischen Städten ge-
sammelten und in überaus interessanter Weise verarbeiteten Daten —
energisch für die obligatorische Impfung ein. Ja, er erhob sogar eine
gerichtliche Klage gegen einen Arzt, der eine unrichtige Statistik über
die Pockenerkrankungen der Angestellten der k. k. priv. österr. Staats-
eisenbahngesellschaft zusammengestellt hatte, um gegen die Impfung zu
34*
532 Miszellen.
Felde zu ziehen. — Die Ursachen der infektiösen Krankheiten
im allgemeinen behandelte eine weitere Reihe von Arbeiten. So
untersuchte eine im Jahre 1884 bei Enke in Stuttgart erschienene, sehr
beachtenswerte Schrift den „Einfluß von Wohlhabenheit und Wohnver-
hältnissen auf Sterblichkeit und Todesursachen mit besonderer Berück-
sichtigung der infektiösen Krankheiten“, ein im Jahre 1894 in der Zeit-
schritt für Hygiene und Infektionskrankheiten erschienener Aufsatz den
„Zusammenhang zwischen Armut und infektiösen Krankheiten“, eine in
den „Annales d’hygiene publique et de médecine légale“ im Jahre 15898
erschienene höchst originelle Arbeit „L'influence des conditions atmo-
sphöriques sur l’&closion des maladies infectieuses“ und ein Bericht für
den im Jahre 1899 in Moskau abgehaltenen internationalen medizinischen
Kongreß „L'influence de la chaleur et de l’humidit& atmosphérique
sur l’apparition des maladies infectieuses“. Drei Arbeiten (ein dem
Pester VIII. hygienischen und demographischen Kongresse im Jahre
1896 vorgelegter Bericht, ein 1898 in den Berliner Therapeutischen
Monatsheften erschienener Aufsatz „Zur Serumstatistik“ und ein im
Journal of State Medicine 1900, sowie in einer magyarischen Zeitschrift
erschienener Aufsatz) befassen sich speziell mit der Diphtherie, ein
dem X. medizinischen Kongresse in Berlin (1891) vorgelegter Bericht
untersucht den „Einfluß des Genusses von unfiltriertem Wasser auf das
Auftreten des Typhus in Budapest“ und dem englischen Tuberkulosen-
kongresse wurden 1901 „Some observations on the influence of social
standing and food on the occurence of phthisis“ mitgeteilt.
Geradezu grundlegend waren aber Körösys Arbeiten auf dem Gebiete
der Sterblichkeitsstatistik. Nachdem 1872 in der deutschen
Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege sein Aufsatz über
„Die Organisation der Mortalitätsstatistik* und ein Jahr später
(bei Gerold in Wien) seine — höchst beachtenswerte — Schrift „Plan
einer Mortalitätsstatistik für Großstädte‘ erschienen war, untersuchte er
in einer größeren Anzahl von Arbeiten die Methode der Sterblich-
keitsstatistik und deckte einen fundamentalen Irrtum auf, der sich in
den Ueberlebenstabellen verschiedener Länder fand, so daß die Asse-
kuranzgesellschaften erst aus den Werken Körösys die heute allgemein
gültige moderne Grundlage zur Berechnung ihrer Tabellen gewannen.
Die wichtigsten Schriften Körösys auf diesem Gebiete sind: ein dem
Berliner königl. statistischen Bureau 1874 überreichter Aufsatz „Welche
Unterlagen hat die Statistik zu beschaffen, um richtige Mortalitätstafeln
zu gewinnen?“ (dem im gleichen Jahre ein in magyarischer Sprache
abgefaßter Aufsatz über die „Berechnung der menschlichen Lebensdauer
und Sterblichkeit“ folgte), ferner die in der Zeitschrift des Königl. preußi-
schen statistischen Bureaus 1876 veröffentlichten „Bemerkungen zur
Berechnung des Durchschnittsalters® und der im gleichen Jahre in der
Wiener Neuen Freien Presse erschienene Aufsatz „Ueber die Bedeu-
tung der Sterblichkeits-Koefficienten namentlich in Großstädten‘ (welchen
Arbeiten ebenfalls im Jahre 1876 die in Berlin publizierten „Mitteilungen
über individuale Mortalitätsbeobachtungen“ vorausgegangen waren und
denen 1878 in magyarischer Sprache geschriebene „Bemerkungen zur
Miszellen. 533
Mortalitätsstatistik“ folgten) sowie ein 1893 in diesen Jahrbüchern er-
schienener sehr anregender Aufsatz „Ueber die Berechnung eines inter-
nationalen Sterblichkeitsmaßes“. Speziell die Todesursachen be-
handelte eine 1877 in den Annales de Demographie erschienene Arbeit
„De l'influence de habitation sur les causes des décès et sur la durée
de la vie“, der 1885 in der Wiener medizinischen Wochenschrift ab-
gedruckte — namentlich auch methodologisch höchst wichtige — Aufsatz
über „Armut und Todesursachen“, sowie die dem internationalen Aerzte-
kongresse in Moskau (1899) vorgelegten Berichte: „L’amälioration de
la mortalité de la ville de Budapest et l'influence des mesures pro-
phylactiques contre les &pidemies“ und „L’influence de la confession sur
les causes des décès“. In magyarischer Sprache erschien ferner (1888)
ein Aufsatz über „Neuerungen bezüglich der Beobachtung von Selbst-
morden und gewaltsamen Todesfällen“. Mit der „Internationalen Nomen-
klatur der Todesursachen“ endlich befaßte sich eine 1899 bei Puttkammer
& Mühlbrecht in Berlin publizierte Schrift in der es — sehr mit
Recht — für mißlich erklärt wurde, für die Zwecke der Mortalitäts-
statistik dasselbe Krankheitsschema anzuwenden, wie für die Morbiditäts-
statistik und in der der Vorschlag auftauchte, „die Krankheiten nach
dem (ohnehin angewendeten) Haupteinteilungsprinzipe der Organe zu
klassifizieren — was notwendigerweise auch die Aufstellung einer Gruppe
für allgemeine Erkrankungen involviert — und die an verschiedenen
Organen sich zeigenden Krankheiten außerhalb des Rahmens der Klassi-
tikation — nach Epidemien, Krebsen und Tuberkulosen zusammen-
gefaßt — anzuhängen“.
Ebenso wurde die Zensusliteratur von Körösy wesentlich be-
reicher. Namentlich seine auf Ermöglichung einer Weltzählung
gerichteten, mit großem Nachdrucke fortgesetzten Bestrebungen waren
von sichtbaren Erfolgen gekrönt. Schon 1881 hatte er in Paris (bei
Guilleaumin) sein „Projet dun recensement du monde“ veröffentlicht
und in einem in der Wiener statistischen Monatsschrift im gleichen
Jahre erschienenen Aufsatze die Stellung der internationalen statistischen
Kongresse zur Frage der Volkszählungen behandelt. Im darauffolgenden
Jahre 1882 kamen dann als erster Versuch bei Puttkammer in Berlin
seine „Tableaux internationals du recensement de 1880/81“ heraus. —
Anläßlich des internationalen statistischen Kongresses vom Jahre 1887
erschien sodann die „Proposition pour arriver à une comparabilite
internationale des ouvrages de recensement“, zehn Jahre später (1897)
in deutscher Sprache bei Puttkammer Mühlbrecht in Berlin und
in französischer Sprache bei Guilleaumin in Paris eine Schrift über „Die
säkulare Weltzählung vom Jahre 1900“ und anläßlich des Petersburger
internationalen statistischen Kongresses (1899) ein Bericht „Sur la
possibilité d'un recensement séculaire du monde en 1900“ sowie ein sehr
beachtenswerter „Rapport sur la Standard population“. Auf der Pester
Session des internationalen statistischen Institutes (1901) konnte Körösy
dann aber auch mit einiger Berechtigung der Hoffnung Ausdruck verleihen,
„que les résultats du dernier recensement sont déjà tellement rendus uni-
formes, qu’on pourrait procéder à l'établissement d’une statistique inter-
534 Miszellen.
nationale du monde civilisé“. Ebenso fand der 1888 in den Arbeiten
der demographischen Sektion des IV. Wiener demographischen Kongresses
veröffentlichte „Vorschlag einer einheitlichen Aufarbeitung kommunaler
Volkszählungen“ — dem 1881 ein in Pest erschienener „Plan du dépouille-
ment du recensement de la ville de Budapest“ vorangegangen war —
in den beteiligten Kreisen die größte Beachtung. Speziell mit den
Pester Verhältnissen endlich befassen sich fünf in den Jahren 1873
bis 1581 in magyarischer Sprache erschienene Aufsätze. Ein „Wegweiser
durch die jüngste Zensusliteratur“ wurde 1887 veröffentlicht.
Auch andere Zweige der Demographie wurden jedoch von Körösy
gepflegt. So behandelt ein, 1899 dem Petersburger internationalen
statistischen Kongresse vorgelegter „Rapport concernant la determination
des groupes d’äges“ eine wichtige Frage der Altersstatistik. Auf dem
Gebiete der Moralstatistik liegen ein 1893 in magyarischer Sprache
abgefaßter Aufsatz über Kriminalstatistik, die 1897 gleichfalls in
magyarischer Sprache erschienenen „Daten zur Charakterisierung der
Intelligenz beider Geschlechter“ und die letzte Privatarbeit Körösys
„The intellectual power of the two sexes“ (Cambridge 1905). Wichtige
Fragen der Berufsstatistik endlich erörtern die 1893 bei Hölder
in Wien erschienene Schrift „Die internationale Klassifizierung der
Berufsarten“, sowie eine dem VIII. Pester internationalen demographischen
Kongresse 1896 vorlegte Arbeit „Ueber die Klassifizierung der Arbeit-
nehmer nach dem eigenen Berufe oder jenem der Unternehmer“. In der
ersterwähnten Schrift tritt Körösy — gewiß mit Recht — dafür ein,
„daß das Hauptgewicht nicht auf die inhaltsarmen generellen, sondern
auf die Spezialbegriffe, das ist auf die einzelnen Berufsarten zu legen
sei. Wir wissen ganz gut, was ein Schneider, was ein Schuster sei
und interessieren uns für deren Lebensverhältnisse; was aber unter
Bekleidungsgewerbe zu verstehen sei, ist nicht mehr so klar und
interessiert uns auch eine Statistik die ebenso Schneider und Schuster
wie Handschuhmacher und Hutfabrikanten etc. umfaßt, weit weniger.“
So vielseitig und fruchtbar aber die Tätigkeit Körösys auf dem
Gebiete der Demographie war, so wenig füllte sie ihn aus. Schon durch
seine amtliche Stellung war er ja genötigt, sich eingehend auch mit
den Fragen der Verwaltungsstatistik zu beschäftigen. Und wie
gründlich er dies tat, zeigt die nicht unbedeutende Anzahl der solche
Fragen behandelnden -— freilich leider meist in magyarischer Sprache
erschienenen — Arbeiten Körösys. Der gewissenhafte Biograph müßte
2 magyarische Aufsätze, die das Gebiet der Kommunalstatistik im
allgemeinen behandeln, einen über das Armenwesen, 5 über das Schul-
wesen und 3 über das Aktienwesen aufzählen. In deutscher Sprache
erschienen: „Der Haushalt europäischer Großstädte“ (im Finanzarchiv
1584), „Fenerversicherung und Statistik“ (Pest 1868), „Die gewerblichen
Unfälle in Ungarn im Jahre 1901“ (in diesen Jahrbüchern 1905) und
„Die finanziellen Ergebnisse der Aktiengesellschaften“ (Berlin, Puttkammer
Mühlbrecht, 1900). In französischer Sprache: „Plan d’une statistique
internationale des finances des grandes villes“ (in den Berichten über
den Pester internationalen statistischen Kongreß 1876), „Quelles sont les
Miszellen. 535
recherches statistiques à introduire pour faire reconnaître l'influence de
l'école sur létat sanitaire?“ (in den Berichten über den Brüsseler hyg. dem.
Kongreß 1880) „La statistique des résultats financiers des sociétés ano-
nymes“ (in den Berichten des Pariser internationalen Wertpapierkongresses
1900) und „Statistique des sociétés anonymes“ (in den Berichten der Pester
Session des internationalen statistischen Institutes 1901). Die Arbeiten
über die Statistik der Aktiengesellschaften sind besonders wichtig. Die
hier bis dahin in Anwendung gebrachten statistischen Methoden schienen
Körösy „nämlich vor allem an jenem Kardinalfehler zu leiden, daß sie
statt der reinen Rente des Aktionärs bloß dessen Einnahmen in Betracht
ziehen, hierbei aber übersehen, daß von diesen Einnahmen die Verluste
abgezogen werden müßten; ferner daß selbst von den Einnahmen nicht
alle, sondern nur eine derselben, die Dividende, in Rechnung gezogen
wird, während die sonstigen — oft sehr bedeutenden — Einnahmen-
titel außer Acht bleiben.“ Unter solchen Umständen erscheine statt
des wirklichen Ergebnisses einerseits ein unmotiviert günstigeres,
andererseits ein unmotiviert ungünstigeres Resultat. Eine mit Ver-
meidung dieser (und anderer) Fehler abgefalte Statistik über die
finanziellen Ergebnisse der Pester Aktiengesellschaften in den Jahren
1874—1898 kam denn auch zu dem Resultate, daß in diesem Viertel-
jahrhundert in Pest die Sparkasseneinlagen 4,14 Proz., die Staatspapiere
(zeitweilig bis 10 Proz. mindestens aber) 5,10 Proz, die Pfandbriefe
5,12 Proz., die Kommunalpapiere 5,56 Proz. und die Aktien 5°/, Proz.
abwarfen, was — wenn man die Größe des Risikos bei Aktien in
Betracht zieht — kein gerade besonders günstiges Ergebnis für diese
Anlageart bedeutet.
Die Witterungsstatistik behandelt ein dem Pester inter-
nationalen statistischen Kongresse 1876 vorgelegter Bericht „De
Vapplication des observations meteorologiques sur la temperature en
vue de la statistique des bains;“ Fragen der wissenschaftlichen
Statistik im allgemeinen — außer 5 magyarischen Aufsätzen —
die „Address to His Royal Highness the Prince of Wales delivered in the
opening meeting of the VII. Congr. of Hygiene and Demography“ (1891) und
die Einrichtung kommunalstatistischer Bureaus, ein in
der Zeitschrift des Königlich preußischen statistischen Bureaus 1874
und ein in den Annales de Demographie 1879 erschienener Aufsatz.
Die 7 Aufsätze über die ungarische Wirtschaftspolitik sind, ebenso
wie die 7 Aufsätze über die ungarische Verwaltung und die 16 Aufsätze
über Pester Kommunalpolitik nur in magyarischer Sprache erschienen.
Auch die Arbeit über die volkswirtschaftlichen Studien David Humes
ist in dieser Sprache abgefaßt. Ebenso die zahlreichen Artikel, die
Körösy als volkswirtschaftlicher Redakteur des „Pesti Naplo“ ver-
öffentlichte,
Als Statistiker aber hat Körösy weit über die Grenzen seines Vater-
landes hinaus gewirkt. Mit v. Inama, v. Juraschek, Keleti, Mataja und
Rauchberg zählte er gewiß zu den hervorragendsten Statistikern Oester-
reichs und Ungarns; auch zu den anerkanntesten. Der Kaiser verlieh
ihm den erblichen Adelsstand, die Klausenburger Universität ernannte
536 Miszellen.
ihn zum Ehrendokter, eine lange Reihe statistischer, hygienischer, geo-
graphischer und sozialpolitischer Gesellschaften ernannte ihn zum korre-
spondierenden oder Ehrenmitgliede.
Doch war er mehr als nur ein angesehener Statistiker. Mit seiner
ernsten Gründlichkeit, seinem nimmermüden, geradezu „selbstmörde-
rischen“ Arbeitseifer, seiner selbstlosen, fast religiösen Hingabe an die
Sache war er der Typus des feinsinnigen, im deutschen Kulturkreise heran-
gebildeten Gelehrten. Er selbst hätte dies freilich vielleicht bestritten.
Denn er fühlte sich innerlich ganz als Magyare. So sehr, daß er sich
statt seines slavisch klingenden Namens: Haidruschka den magyarischen
Körösy beilegen ließ und recht empfindlich werden konnte, wenn man
die Verhältnisse jenseits der rot-weiß-grünen Grenzpfähle allzu kritisch
betrachtete. Aber gerade dieses sich in die Bestrebungen einer fremden
Nation Hineinleben ist ja — leider — eine echt deutsche Eigenart,
der auch sein Blick für die Forderungen des Tages, seine echte warme
Menschenliebe entsprach.
Und wenn doch etwas daran erinnerte, daß seine Wiege in einer
der südöstlichen Kulturstätten gestanden, so war es seine charmöse
Liebenswürdigkeit im Verkehr, sein impulsives Drauflosgehen in Dingen,
die er einmal für richtig erkannt hatte. Wer ihn freilich je in
seiner Villa am Stadtwäldchen beim Schreibtische sitzen gesehen, der
hätte ihm die Streitlust kaum zugetraut. Da schien er dem heiligen
Hieronymus zu gleichen, wie ihn Dürer einst gezeichnet: so emsig und
heimlich y so arbeitsfroh und mild. Jetzt ist dies alles vorbei. Das
frohe Streiten, wie das emsige Schaffen. Denn grüner Rasen wächst
nun auf seinem Grabe.
Graz im Winter 1907.
Miszellen. 537
XIII.
Ueber den Stellenwechsel der Dienstboten.
Von Dr. Oscar Stillich-Berlin.
Die Tatsache, daß Dienstboten ihre Stelle bei manchen Herrschaften
schnell verlassen, während sie bei anderen lange bleiben, ist be-
kannt. Im folgenden soll das historische und ursächliche
Moment dieser Erscheinung näher beleuchtet werden. Ich lege dabei
die Verhältnisse Nürnbergs zu Grunde, einmal, weil hier die histori-
schen Quellen (Germanisches Museum — Stadtbibliothek — Kreisarchiv)
reichlicher fließen und dann, weil ich — angeregt durch die Gärungen
unter den Dienstboten in dieser Stadt — vor kurzem durch eine ein-
gehende Feststellung auf enquetarischem Wege auch für die Gegenwart
Material zur Beurteilung der Verhältnisse gesammelt habe.
Iın alten Nürnberg waren langfristige Kontrakte die Regel. Das
Dienstverhältnis lief 1 Jahr. Es hing das mit dem stabilen Charakter
der ständisch gegliederten Gesellschaft zusammen. In einer Zeit der
Gebundenheit des Lebens und der Erwerbsverhältnisse war die Dauer
des Dienstvertrages für längere Zeit eine in Einklang mit dem gesell-
schaftlichen Leben des 15. bis 18. Jahrhunderts stehende Erscheinung.
So lassen z.B. die Akten der Oertelschen Heiratsstiftung darauf schließen,
daß es in Nürnberg von 1530 bis 1800 stets eine große Anzahl weib-
licher Dienstboten gab, die je 12 bis 36 Jahre in einer Stelle aus-
hielten. Nach den von Kamann!) angeführten Zeugnissen waren dar-
unter wahre Muster der Häuslichkeit und guten Sitte:
So bekundet 1531 die Frau eines Schellenmachers von
ihrer Magd, daß sie 21 Jahre „getreulich gedienet, sich erlich und red-
lich, wie einer frommen dirn und junkfrauen wol anstehet, in solchen
dienst gehalten, ir allerlei hausarbeit getan und auch zum handwerk
geholfen“. Es wird hier besonders hervorgehoben, daß sie nicht nur
im Hause, sondern auch gewerblich tätig war, was in der Vergangen-
heit die Regel gewesen zu sein scheint.
1546 heißt es in einem Urteil über Helena Schmiedin
von Gross Reut am Birg mit einer 18jährigen Dienstzeit: „Sie
hat bei der ganzen nachpauerschaft sehr ein gut lob“. Ihre Dienstfrau
1) Alt Nürnberger Gesindewesen in den Mitteilungen des Vereins für Geschichte
der Stadt Nürnberg, herausgegeben von Mummenhof, Nürnberg 1901, S. 120.
EEE
538 Miszellen.
meinte: „sie hab in die 17 jahr kein !/, wein austrunken, aus genumen,
wenn sie zum hochwürdigen sakrament gangen; auch ir nit umb ein
pfenig untreu gewest“.
1734 stellte der Professor am Egidier Gymnasium
Johann Konrad Lobherr seiner 13!/, Jahre im Dienste stehenden
Köchin Maria Oed aus Wendelstein folgendes Zeugnis aus: „Sie hat
sich diese lange Zeit über redlich und ehrlich aufgeführet, Gott alle
Zeit vor Augen gehabt, sorgsam, fleißig und arbeitsam sich be-
zeiget, ihrer Frauen in allem die schuldige Treue erwiesen und der-
selben Nutzen befördern helfen, ja, welches besonders zu rühmen, nach
verrichtetem Gottesdienst oder anderen Geschäften die geringste Zeit
niemals außer dem Hause verabsäumt, im übrigen sich begnügen lassen
und dem Frieden gelebt.“
Allein schon frühzeitig waren ungünstige soziale Bedingungen
ein Stachel zur Fluktuation. Freilich dürften so kurze Dienstzeiten,
wie sie mitunter heute vorkommen, in den vergangenen Jahrhunderten
nur ganz ausnahmsweise vorhanden gewesen sein. Ein Nürnberger
Haushalt des 16. Jahrhunderts, von dem wir mit großer Wahrschein-
lichkeit annehmen können, daß die Verhältnisse desselben den Dienen-
den nicht günstig waren, war der des Patriziers Paul Behaim.
Das von ihm geführte Ehehaltenbuch!) umfaßt Notizen über die
Dienstboten von 1552 bis 1572. Im dieser Zeit wurden, wenn wir nur
die weiblichen Dienstboten in Betracht ziehen, nicht weniger als 10
Köchinnen, 7 Untermaide und 4 Dienstmaide resp. Saugammen engagiert
und entlassen. Von diesen Dienstboten war die Köchin die wichtigste.
Sie war damals, in einem Zeitalter unspezialisierter Arbeit, sozusagen
noch das Mädchen für alles. Sie hatte nicht allein die Küchenarbeiten
zu verrichten, sondern, wie auch noch heute die Köchin in Nürnberg,
Hausarbeit aller Art. Von diesen Köchinnen hielten im Behaimschen
Hause nur 3 länger als 1 Jahr aus, weitere 3 blieben 1 Jahr und 4
kürzere Zeit. Diese kurzen Dienstzeiten müssen in einer Periode, wo
lange Dienstdauer die Regel war, wunder nehmen. Aber den Schlüssel
geben uns einmal die in dem Hause dieses reichen Großkaufmanns ge-
zahlten Löhne und zweitens die Urteile, die Behaim resp. sein Weib
über die in ihrem Hause beschäftigten Dienstboten in ihrem Ehehalten-
buch der Nachwelt überliefert hat. Wir wollen im folgenden versuchen,
durch die Interpretation des historischen Materials die der früheren
Zeit eigentümliche einseitige, nur den Standpunkt der Herrschaft ver-
tretende Betrachtungsweise einigermaßen durch eine Berücksichtigung
auch des anderen Teils auszugleichen.
Was zunächst die Löhne anbelangt, so weisen die der Köchin-
nen, also der Hauptkategorie der damaligen Dienstboten, enorme
Ditferenzen auf. Sie schwanken zwischen 9 und 5 Gulden ohne Lei-
kauf (Mietgeld). Diese beiden Extreme liegen zeitlich eng zusammen.
So wurde 1557 die Köchin Margerit für 8 Gulden gedingt. In Wirk-
1) Aus Paulus Behaims Ehehaltenbuch 1552 bis 1572, ITeft 7 der Mitteilungen
des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg. Nürnberg 1888,
Miszellen. 539
lichkeit erhielt sie bloß 2 fl. 4 @ 20 Pig., weil sie vor Ablauf von
3 Monaten den Dienst verlassen mußte. Ihre Nachfolgerin, die Gredla,
erhielt nur 5 fl. und diente für diesen geringen Lohn über 2 Jahre.
Die Untermaide erhielten das ganze Jahr hindurch 4 fl, nur
einer, der Sibilla, die aber nur 3 Monate blieb, um sich zu verheiraten,
war ein Jahreslohn von 5 fl. versprochen worden.
Am besten scheinen sich die Kindermaide gestanden zu haben,
die zugleich Saugammen waren. Es waren das im Gegensatz zu heute
verheiratete Frauen. Eine von ihnen, die Kunlein, erhielt den höchsten
Lohn in Höhe von 10 fl, die anderen drei, die von 1556 bis 1563
dienten, erhielten 6, 7 und 8 fl.
Jedoch kam es auch vor, daß die Mädchen gar nichts bekamen.
In dem Ehehaltenbuch sind zwei solcher Fälle verzeichnet. Der eine
betrifft die Untermaid Kungond. Eine Entwendung wurde als Vorwand
benutzt, um ihr keinen Lohn zu zahlen. In dem Ehehaltenbuch heißt
es: „Solche maid ist auf Laurenzi ungeverlich geurlaubt worden das
sy diebstals halb befunden ist worden, ist ir also kein lon bezahlt
worden.“ Der zweite Fall betrifft die Köchin Marta. Dieses Mädchen °
konnte es wahrscheinlich nicht mehr aushalten und entlief, denn wenn
es ihr gut gegangen wäre, wäre sie jedenfalls nicht geflohen. Anders
erklärt die Herrschaft den Fall. „Solche maid“, schreibt Behaim, „ist
ein fauler petz gewest und vor Laurenti, ein wenig tag dafor, ist sy aus
dem Haus on urlaub gangen, kein lon oder nichts begeret, wissen nit,
wo sy hin kommen ist.“
Daß der gezahlte Lohn nicht befriedigte, läßt sich annehmen, ob-
gleich uns direkt nur ein Fall dafür überliefert ist. Er betrifft die
Kindsmaid und Amme Kuenlein aus Forchheim. Mit ihr waren 6 fi.
verabredet. Aber nachdem sie das kleine Töchterchen ®/, Jahre ge-
säugt, schreibt Behaim, „hab ich ir, das jahr gerechnet, 10 fl. müssen
geben, macht dies ®/, jar 7 fl. 4 Ø 6 Pig.“ Sie, war also mit dem
vorhergehenden Lohnsatz nicht ausgekommen. Andererseits mußten
Geschenke zugelegt werden. Das Margaretlein, zuerst als Untermaid
und dann als Köchin 3°/, Jahre zu behalten, war nur möglich durch
bedeutende Geschenke. s
Am meisten Aufschluß über den häufigen Wechsel aber geben uns
die Urteile, die Behaim über seine Dienstboten fällt. Wie die Mäd-
chen über die Arbeitsverhältnisse in dem Hause dieser Herrschaft ge-
dacht haben, geht aus dem Ehehaltenbuch leider nicht hervor. Hier
fehlt jede Tradition, wie immer, wenn es sich um so untergeordnete
Glieder handelt, wie die Dienstboten. Daß aber diese Verhältnisse keine
guten waren, läßt sich mit einem großen Grade von Wahırscheinlichkeit
annehmen. So sind wir auf das Zeugnis nur einer Partei angewiesen.
Diese Urteile aber gehören zu den interessantesten Partien des ganzen
Ehehaltenbuchs. Charakteristisch ist, daß bis auf einen einzigen Fall
das Urteil über die ausscheidenden Dienstboten schlecht lautet. Nur
die Untermaid Endlein erhielt ein Lob, wenn man folgendes Urteil so
nennen darf: „hat sich wol gehalten, die stiegen gern gefegt, hat nit
lenger pleiben wollen“. Im übrigen werden die Köchinnen und Unter-
540 Miszellen.
maide als faul, langsam, unverträglich und unehrlich hingestellt. Wir
haben hier darauf zu achten, ob das ungünstige Urteil nicht etwa da-
durch abgeschwächt oder Lügen gestraft wird, daß das betreffende
Mädchen verhältnismäßig lange im Dienste dieser Herrschaft blieb. Dies
ist der Fall bei der Köchin Endle. Sie hatte anderthalb Jahre aus-
gehalten. Trotzdem schreibt die Herrschaft über sie, daß sie geurlaubt
wurde, „umb sy so faul und langsam gewest, die auch ir nit wolt lassen
einreden“.
Ueber die weiteren Mädchen, die alle, mit Ausnahme der Else, ein
Jahr dienten, lautet das Urteil folgendermaßen :
Appel (Appollonia): „War ein poeser, murreter, stolzer kopf, die
ir nit lies einreden.“
Berblein: „Ist geurlaubt worden von wegen, das sy sich mit
der köchin und untermaid geschlagen, geschent und geschmeht haben.‘
Kunlein: „Ein schwers, dregs, fauls mensch.“
Prigel: „Ist gar faul und treg gewest, hat anzaigt, sy wol nit
dienen, sondern zu ir mutter komen, also mein weib sy hat faren
lassen, itzt allerheiligen 1564.“
Auch die Unverträglichkeit der Mädchen untereinander gibt ein
Motiv des Wechsels. Else N. verließ den Dienst. In dem Ehehalten-
buch heißt es: „Solche hat nit pleiben wollen, umb das sy sich mit
den maiden uneinigkeit nit wol vertragen konnen.“
Von der Margaret N. aus Bürg heißt es: Auf 20. aprilis 1557
hat ir mein weib urlaub geben, das sy am heyligen osterabent mein
kindsmaid, die Geraus, übel geschlagen, sy oft ein hurn gescholten,
desgleichen in ander wegen auch ubel gehalten, zalt ir derwegen fur
alle sachen und das sy 5 wochen vor liechtmes ins haus komen ist,
2 fl. 4 Ø 20 Pfg. Ist gar ein heftiger, poeser palch gewest.“
Ueber Berblein verzeichnet die Herrschaft folgendes Urteil:
„Ist ein gar poeser palch gewest, hat gros schreyen gehabt, wan sy
ein wenig kochen oder zu arbeiten gehabt hat.“
Andere Gründe lagen bei Gredla und Agnes vor. Jedenfalls
scheint die Freiheit im Behaimschen Hause sehr beschnitten gewesen
zu sein oder überhaupt nicht bestanden zu haben. Die Köchin Gredla,
die jedenfalls erst spät in ihrer Küche fertig wurde, erhielt den Ab-
schied „von wegen, das sy in den wirtsheusern in die lang nacht mit
den mezkern gezecht“.
Eine ältere Köchin, die manches besser verstehen wollte, vielleicht
auch verstand, als die Hausfrau, erhielt deshalb und weil ihr Lohn
hoch war, den Abschied. Els N: „Ist der lon gros gewest, und die
maid alt, also das sy uns nit füglich gewest.“
Ueberhaupt war man im Behaimschen Hause mit der Entlassung
schnell bei der Hand. So wurde ein Knecht entlassen, weil er des
Nachts bei einer Magd im Bett geschlafen hatte. Von dem Jobst
Knoblauch heißt es, daß er geurlaubt wurde, „umb ich in bey der
maid, der Margret, in der nacht gefunden hab und lang bey ir im praus
gewesen, auch hat er gern gelogen.“
Freilich genügt dieses Material nicht; es besteht nur aus Einzel-
Miszellen. 541
fällen. Wir wissen nicht, wie lange im Gegensatz zu diesem Patrizierhause
ein Dienstbote im Durchschnitt in Handwerker- und anderen Familien blieb.
Im Laufe der Jahrhunderte wird in Nürnberg das langlebige Ver-
hältnis zu einem kurzlebigen und die Rechtsordnung trägt bereits
im 18. Jahrhundert dem Rechnung, indem sie den Ounartälswechs el
einführt. Die Nürnberger Gesindeordnung von 17411) setzt
die Mietszeit ausdrücklich auf ein Vierteljahr fest. Allein die Gewohn-
heit handelte auch hier dem Gesetz vielfach zuwider. Das Jahr hatte
vier Ziele: Lichtmeß (2. Februar), Walpurgis (1. Mai), Laurenti
(10. August) und Allerheiligen (1. November). Andere. Orte hatten
andere Ziele. Vielfach kam es vor, daß die Dienstboten außerhalb dieser
Ziele, ohne die durch die Gesindeordnung des Nürnberger Rats vor-
geschriebene vierwöchentliche Kündigung einzuhalten, den Dienst ver-
ließen. Das Charakteristische und für die einseitige Auffassungsweise
der älteren Zeit Bezeichnende ist auch hier, daß die Nürnberger Ge-
sindeordnung von 1741 den Kontraktbruch bei den Dienenden
viel strenger bestrafte als bei den Herrschaften. Der Dienstbote, der
den Dienst außerhalb des Zieles verließ, hatte viel härtere Strafen zu
gewärtigen, als die Herrschaft, die das Umgekehrte sich zu schulden
kommen ließ. „Wehe aber denjenigen Dienstboten“, sagt Kamann ?)
in seiner Abhandlung, die ohne genügenden Grund ihre Stelle nicht
autraten oder eigenmächtig aus derselben wegliefen! Die Verbannung
aus dem reichsstädtischen Gebiet auf 4 Jahre für fremdes Gesinde und
auf 2 Jahre für Nürnberger Bürgerskinder erscheint noch gering den
körperlichen Strafen gegenüber, welche die Polizeiverordnungen des
16. und 17. Jahrhunderts für derartige Vergehen bestimmten. "Fremde
Dienstboten sollten dann „alsobald in das Lochgefängnis, Nürnberger
Bürgerkinder in die Eisen verschafft, dort 8 Tage auf ihre Kosten fest-
gehalten zu mehrem scheuchen öffentlich durch zwei Stadtknechte zum
Tore hinausgeführt werden“. Man würde aber sehr irren, wenn man
glaubte, daß gegen die Herrschaft im Falle des Vertragsbruches ähnlich
vorgegangen worden. O nein! sie wurde nicht in eine der beiden Türme
(Männer- und Weibereisen) geworfen. Sie hatte lediglich den bis zum
Ziele fälligen Lohn zu bezahlen. Die grundlegende Nürnbergische Ge-
sindeordnung des Rats von 1741 bestimmte in $ 12, daß die Herrschaft,
die ihre Ehehalten aus Unbilligkeit und ohne genügende Ursache unter
dem Ziel verstößt, diesem nur den fälligen Vierteljahrslohn zu zahlen
habe, sowie Kost und Unterhaltung bis zum nächsten Ziel, wenn nicht
der Dienstbote einen anderen Dienst bekommt. Der Dienende wird
mit einer entehrenden Strafe belegt, die Herrschaft ist
nur verpflichtet, bis zum nächsten Ziel den ohnehin
minimalen Lohn zu zahlen. Sie wird also nicht strafrechtlich,
sondern nur zivilrechtlich in Anspruch genommen, fürwahr ein gutes
Beispiel für die Klassengesetzgebung der „guten, alten Zeit“.
1) Eines Hoch-Löblichen Raths des Heil. Röm. Reichs freyer Stadt Nürnberg
Ordnung, die Ehehalten und Dienstbothen betreffend 1741.
2) Anm.: 3 a. a. O. p. 72.
542 Miszellen.
Wie liegen nun die Verhältnisse des Stellen-
wechsels in der Gegenwart?
Die großen ökonomischen, sozialen und politischen Umwälzungen,
die das 19. Jahrhundert erschütterten, haben den Zeitcharakter voll-
ständig geändert. An Stelle der alten Gebundenheit ist ein System der
freiheitlichen Ausgestaltung des Lebens getreten. Die ganze Arbeiter-
schaft ist mobilisiert. Die Dienstboten bilden keine Ausnahme von
dieser Regel. Was war die Folge? Zunächst wurden die alten
Ziele über den Haufen geworfen. Aus den Angaben der an der En-
quete, die ich im Sommer 1906 in Nürnberg unternahm, beteiligten
Dienstmädchen ergibt sich, daß Zuzug und Abgang eigentlich
in jedem Monat des Jahres stattfinden, und daß sogar der Dienst-
antritt mitten im Monat keine Seltenheit ist. Ein Mädchen trat z. B.
am 10. September, eine andere am 6. November ein, eine Dritte am
23. Dezember. In dem letzteren Falle wissen wir nicht — sondern
ahnen es nur — daß die Herrschaft das vorhergehende Mädchen viel-
leicht deshalb kurz vor dem heiligen Abend entließ, um das Weihnachts-
geschenk zu sparen.
Zweitens sind die Dienstzeiten kürzer geworden. Es ist
heute einem Mädchen leichter, den Dienst zu verlassen als früher. Nach
der Enquete betrug in 159 Fällen die durchschnittliche Dauer der
Dienstzeit in einer Stelle
unter 1 Jahre bei 20 Proz. der Befragten
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Die Ursachen des in diesen Zahlen zum Ausdruck kommenden
Stellenwechsels sind verschieden. Soweit derselbe von den Dienst-
boten ausgeht, liegt er in der Regel in dem Bestreben begründet, un-
günstiger sozialer Verhältnisse durch den Wechsel Herr zu werden.
Das gelingt nur selten. In den meisten Fällen findet nur eine Ver-
schiebung der den Dienstboten ungünstigen Bedingungen der Dienststelle
statt. Auf der einen wird er schlecht, behandelt, bekommt aber reich-
lich zu essen, in der zweiten wird er gut behandelt, aber die Ernährung
ist ungenügend. Daß das soziale Moment beim Dienstwechsel das
Ausschlaggebende ist, ergibt sich auch daraus, daß in denjenigen
Häusern, die günstige Verhältnisse aufweisen, die Mädchen
lange bleiben. Einige Beispiele von Herrschaften, die an der En-
quete beteiligt sind, mögen diese Tatsachen noch näher erläutern.
Ein Antiquitätenhändler vom Trödelmarkt führt seinen Haus-
halt 27 Jahre; die ersten 7 Jahre hatte er keine Dienstboten. Dann
dienten bei ihm bis 1901 nur 3 Mädchen. Die jetzige ist seit dem
letztgenannten Jahre bei ihm, also schon 5 Jahre. Aus der Beant-
wortung des Fragebogens kann man ganz genau erkennen, warum bei
dieser Herrschaft die Mädchen so lange bleiben. Zwar ist der Lohn
gering. Er betrug 1886 nur 100 M. und stieg dann ganz langsam
und vorsichtig in den folgenden 20 Jahren auf 130 bis 140 M.
Dazu kommt ein Weihnachtsgeschenk im Werte von 60 M. Ostern
Miszellen. 543
erhält das Mädchen 20 M., außerdem manchmal Trinkgelder und
Kleider von der Frau. Der Lohn ist also nicht ausnahmsweise hoch.
Aber er wird nicht durch Abzüge geschmälert. „Invaliden- und
Krankenversicherung wird von mir vollständig bezahlt. Bruch nicht
nicht berechnet.“ Die Arbeitszeit beginnt im Sommer um 6, im Winter
um 1/,7; um 8 Uhr abends ist das Mädchen mit der Arbeit fertig und
nur „ganz selten einmal“ dauert es länger. Jeden Sonntag (auch an
Feiertagen) hat es von 2 bis 9 Uhr freien Ausgang. Es darf sich Brot
nach „Belieben“ nehmen. Die Wäsche wird von der Wäscherin außer
dem Hause gewaschen. Die Herrschaft gehört zu den wenigen, die in
Beantwortung der Frage 31 eintritt für „angemessene Entlohnung;
menschenwürdige Behandlung, möglichste Abkürzung der Arbeits- und
Verlängerung der Ruhezeit, gute Kost und freie Sonntag-Nachmittage.
Daß sie selbst keinen hohen Lohn zahlt, scheint danach in eignem ge-
ringen Einkommen begründet zu liegen. In den eben skizzierten Ver-
hältnıssen liegt ohne Zweifel der Schlüssel zu dem Geheimnis, warum
die Mädchen im Durchschnitt nahezu 7 Jahre im Dienste dieser Herr-
schaft blieben.
Ein Privatier in der Marienstraße hat in 38 Jahren nur 4 Dienst-
boten gehabt. Das jetzige Mädchen steht schon seit 18 Jahren in
seinem Dienste. Vor ihr war ihre Schwester bereits 6 Jahre in dem-
selben Hause. Ihr Lohn stieg von 120 M. in den Jahren 1868 bis
1872 auf gegenwärtig 200 M. Außerdem erhält das Mädchen 150 M.
zu Weihnachten, sowie sämtliche getragenen Kleider und Wäsche
und Schuhe für sich und ihre Geschwister. Da die Familie nur aus
zwei Personen besteht, ist das Arbeitsquantum ein relativ geringes.
Das Mädchen hat jeden Sonntag und Feiertag bis 9 Uhr abends frei.
Von wann an ist nicht angegeben. Sie ißt mit am Tische der Herr-
schaft. Daraus kann man auch auf eine gute Behandlung schließen,
Die soziale Gesinnung der Hausfrau kommt in folgender Bemerkung
zum Ausdruck: „Ein bestes Mittel (um der Dienstbotennot zu steuern)
dürfte sein, wenn den Dienstboten seitens der Herrschaften nach Mög-
lichkeit viel Anschluß an die Familie geboten wird und überhaupt gute
Behandlung und Ernährung.“
Ein anderer Privatier aus dem Brunnengäßchen hat in 32 Jahren
6 Dienstboten gehabt. Er schreibt: „Ich habe bis jetzt keine Klagen
gehabt, hatte immer fleißige, willige und ordentliche Mädchen. Drei
verheirateten sich, eine starb nach 8-jähriger Dienstzeit. Die Mädchen
gehören zur Familie.“
Eine 35 Jahre alte Köchin ist bei einem Rittmeister und
Freiherrn seit 7 Jahren im Dienst. Sie dient im ganzen 11 Jahre
und hat in dieser Zeit zwei Stellen gehabt. In der erwähnten Stellung
erhält sie einen Jahreslohn von 360 M. Weihnachten bekam sie
30 M., 6 Hemden, Kleiderstoffe, eine Jacke und Kleinigkeiten. Dazu
kommen noch Trinkgelder in Höhe von 25 bis 30 M. Abzüge vom
Lohn wurden ihr bisher „noch nie“ gemacht. Waschen, Stöbern, Holz
und Kohlen tragen, Stiefel und Kleider putzen werden von anderen
Personen verrichtet. Ihr Ausgang allerdings beläuft sich nur auf
544 Miszellen.
31/, Stunde alle 14 Tage. Hingegen ist die Ernährung „in jeder Be-
ziehung gut“. Sie bewohnt ein großes Zimmer, in dem unter anderem
„ein sehr gutes Bett“ steht. Von ihrer Herrschaft wird sie nach ihrer
eigenen Angabe „sehr gut“ behandelt.
Hingegen bemerkt ein Kaufmann aus der Ledergasse, daß er in
einem Vierteljahr 5 Mädchen gehabt habe. Die jetzige, die er nicht
ganz logisch als „Haushälterin für Küche und Hausarbeit“ bezeichnet,
ist seit 5°/, Jahren bei ihm. Wir haben es hier wahrscheinlich mit
einem sehr reichen Haushalt zu tun, der aber so große Anforderungen
an die Mädchen stellt, daß ihnen die meisten nicht gewachsen sind.
Es läßt sich das aus folgendem schließen. Das Mädchen bekommt einen
festen Lohn von 300 M., außerdem Weihnachten, Ostern und Pfingsten
zusammen 200 M.; außerdem von Besuchen und Familienangehörigen
mindestens 100 M. Andererseits aber muß das Mädchen um 3/,6 Uhr
aufstehen, „aber auch um 4 Uhr, wenn ich es verlange“, und ist erst
um 10 Uhr, zu Besuchszeiten und an Bügeltagen erst zwischen 11 und
1 Uhr nachts nach den Angaben der Herrschaft fertig. Ihr Ausgang
darf nur bis 7 Uhr abends dauern. „Ich bin“, schreibt die Arbeit-
geberin, „zufrieden, weil ich es sein muß, und weil es keine Menschen
gibt, die unfehlbar sind.“
Aus dem Vorhergehenden ergibt sich, daß der Stellenwechsel bei
den Dienenden bedingt wird durch das Gesetz der Kompen-
sation. Aber er hat den Nachteil, daß er einerseits schwächend auf
die Organisationen, die sich neuerdings in Deutschland gebildet haben,
einwirkt und andererseits den sozialen Verjüngungsprozeß der
Arbeitsbedingungen hemmt und verzögert.
=
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 545
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands
und des Auslandes,
1. Geschichte der Wissenschaft. Encyklopädisches. Lehrbücher. Spezielle
theoretische Untersuchungen.
Ripert, H, Le Marquis de Mirabeau. (L’Ami des Hommes.) Ses
théories politiques et économiques. (These de doctorat.) 460 SS. 8°. Paris
(A. Rousseau) 1901. Frs. 8.—
Brocard, L., Les doctrines économiques et sociales du Marquis
de Mirabeau dans l'Ami des Hommes. 394 SS. 8°, Paris (V. Giard &
E. Briere) 1902. Frs. 5.—.
Zwei einander vortrefllich ergänzende und in den wesentlichsten
Punkten der Auffassung miteinander übereinstimmende Untersuchungen
über den merkwürdigen, einst viel bewunderten und dann viel ange-
feindeten „Ami des Hommes“ als politischen, ökonomischen und sozialen
Theoretiker. Während Ripert es sich zur Aufgabe gesetzt hat, die
Gedankenwelt Victor Mirabeaus (den Vornamen nennt er sonderbarer-
weise keinmal) überhaupt und namentlich seine Wandlung vom Grand-
seigneur und Aristokraten zum Physiokraten und Demokraten darzu-
legen, beschränkt sich Brocards geistvollere Studie darauf, Mirabeaus
Hauptschrift, jenes Buch, von dem Edmond Rousse gesagt hat, daß
jedermann es nenne, fast niemand es kenne und das in jeder Generation
ein mutiger Bürger lesen müßte, um alle anderen von seiner Lektüre zu
befreien, zu analysieren und die „matériaux entassés p@le-m&le“ des-
selben dem Publikum in geordneter Form vorzulegen.
Ripert handelt daher nach einer biographischen Einleitung, die
mit maßvollem Urteil den Marquis als Mensch und Schriftsteller charak-
terisiert, ohne doch wesentlich über Lome&nies großes Werk über die
Mirabeaus hinauszukommen, in je sieben Kapiteln zuerst über den Vor-
physiokraten, dann über den Physiokraten Mirabeau. Das Ergebnis
seiner Untersuchungen ist, daß Mirabeau durch seine Verbindung mit
Quesnay und der physiokratischen Schule mehr verloren als gewonnen
hat: gewonnen zwar an Einheitlichkeit und Zusammenhang des Denkens,
verloren aber den Kontakt mit der Wirklichkeit sowie die Lebhaftig-
keit und Unmittelbarkeit der Darstellungsweise, die seinen ersten
Schriften, vorab dem „Ami des Hommes“, ihren phänomenalen Erfolg
gesichert hatten. (Gerade diese vorphysiokratische Zeit, in der Mirabeau
noch „er selbst“ war, ist es, die Brocard interessiert. Indem er, gestützt
auch auf ungedrucktes Material, kurz das Leben des Marquis, ausführ-
licher den „Ami des Hommes“ nach seinen allgemeinen Charakterzügen,
seinem Milieu, seiner Methode und seiner äußeren Geschichte vorführt,
Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIII). 35
5465 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
wobei er in Uebereinstimmung mit Ripert (S. 64 ff., 121 ff.) das unter
der Jahreszahl 1756 erschiene Werk erst dem Jahre 1757 zuweist und
zugleich gegen den Vorwurf verteidigt, nur ein Plagiat von Cantillons
„Essai sur la nature du commerce“ vom Jahre 1755 zu sein (S. 3 u. 46 ff.),
lehrt er uns schon hier einen volkswirtschaftlichen Denker kennen, der
zwar in der Geschichte der französischen Nationalökonomie nicht den
ersten Platz einnimmt, aber als einer der ersten Kritiker des Merkanti-
lismus vor den Physiokraten und als der einzige Wirtschaftstheoretiker
des Feudalsystems vor Le Play eine höhere Wertung beanspruchen darf,
als ihm im allgemeinen zu teil wird. Die ausführliche Analyse vou
Mirabeaus ökonomischem und sozialem Ideal nach den Seiten der Be-
völkerungslehre, des Ackerbaus, der Industrie und des Handels, der
Kolonisation einerseits, der Grundlagen der sozialen Organisation, der
Sitten und des Staates andererseits läßt das noch deutlicher erkennen.
Brocard stellt fest, daß Mirabeau vor allem Moralist ist, der, mit ebenso
viel Scharfsinn wie die modernen Historiker, ein Tocqueville oder Taine,
die Menschen seiner Zeit nach allen Erscheinungen und sozialen und
wirtschaftlichen Konsequenzen ihrer sozialen Tätigkeit hin studiert hat:
stets beherrscht von der einen Idee, daß die Sitten die letzte Ursache
des Gedeiliens wie des Niedergangs eines Landes seien und daß daher
jede eingreifende und dauerhafte Reform hier einzusetzen habe. Inso-
fern bietet Mirabeaus Werk zugleich eine wichtige und als solche noch
längst nicht genügend ausgenutzte Quelle auch für die Erforschuug der
französischen Geschichte des 18. Jahrhunderts. Ein besonderes Verdienst
beider Autoren möchte ich darin sehen, daß sie sich bemühen, auch die
Fäden aufzuzeigen, die ihren Helden mit den großen Geistern seiner
und der späteren Zeit verbinden: u. a. mit Montesquieu (Ripert S. 65 t.
Brocard S. 34 fi.), dessen „science sociale“ gegenüber er „lart social”
vertritt; mit Rousseau (Ripert S. 418 ff., Brocard S. 38), dessen Legende
vom „bon sauvage“ gegenüber er unter „Rückkehr zur Natur“ deren
Beherrschung versteht. Mit seinen kolonialen Theorien steht Mirabeau 1
unter dem Einfluß seines jüngeren Bruders, des sog. Bailli Mirabeau,
dessen unveröfientlichte Briefe und Deukschriften Brocard zu verwerten
in der Lage war (S. 195 ff). Als „l'embryon d'une sociologie“ nähert
der „Ami des Hommes“ seinen Verfasser Auguste Comte und den Posi-
tivisten (Brocard S. 36). Bedeutend endlich ist vor allem der Einfluß,
den Mirabeau einerseits auf Le Play, andererseits auf gewisse Vertreter
der modernen historischen Schule ausgeübt hat, unter denen Brocard
(S. 41) an erster Stelle Schmoller nennt.
Halle a. S., September 1906. Karl Heldmann.
Gerecke, Bruno, Theodor Schmalz und seine Stellung in
der Geschichte der Nationalökonomie. Ein Beitrag zur Geschichte der
Physiokratie in Deutschland. 76 SS. Bern (Universitätsdruckerei) 1906.
Die vorliegende Schrift stellt fest, daß Schmalz wohl Physiokrat
1) Ebenso sein Solın, der große Tribun der Revolutionszeit; ef. A. Hasenelerer,
Mirabenus Stellung zur Kolonialpolitik Frankreichs: Beil. z. Allg. Ztg. (München),
No. 192 vom 21. Aug. 1906 (Sep.-Ausg., München 1906, S. 4 ff.).
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 547
war, aber nicht im Sinne des Stifters des Systems, Fr. Quesnay,
sondern im Sinne der „Schule“ in Frankreich, gemäß der Charakterisierung
und Untersuchung von A. Oncken. Die Arbeit besteht aus vier
Kapiteln, nämlich: I. Schmalz und die Physiokratie; II. Schmalz’s Kritik
des Smithschen Systems; III. Schmalz und die Aufhebung der Erb-
untertänigkeit; IV. Die rechtsphilosophischen Grundsätze von Schmalz.
Im Kapitel „Schmalz und die Physiokraten‘“, scheint mir, daß Gerecke
sich widersprochen hat, indem er S. 24 von Schmalz sagt: „In genauer
Anlehnung an Quesnay lehrt Schmalz, daß der reine Ertrag, das „pro-
duit net“ nicht in der Bauernwirtschaft, der Kleinkultur, entstehen
kann, sondern ausschließlich in der kapitalistisch betriebenen Großkultur.
„Also“ hat Schmalz „genau“ den Unterschied gemacht zwischen dem „Groß-
betrieb“ und dem „Rleinbetrieb“, wie es Quesnay auch gemacht hat. Aber
auf S. 31 sagt derselbe Verfasser: Schmalz unterscheidet nicht „klar“
und „präzis“, d. h. im Sinne von Quesnay, zwischen der „grande culture“
und der „petite culture“!
Schmalz vergleicht Quesnay mit Kopernikus, ein damals oft ge-
brauchter Vergleich der zumal auf Adam Smith angewendet wurde. Es
sei nur erinnert an Kraus und Thaer u.a. Von Smith meint Schmalz,
‚er sei augenblicklich Mode“.
Schmalz befürwortete in einer besonderen Schrift die Aufhebung
der Erbuntertänigkeit. Er macht, ebenso wie L. Krug u. a., keinen
Unterschied zwischen „Leibeigenschaft“ und „Erbuntertänigkeit“, befür-
wortet diese Reform auch aus ökonomischen Motiven, weil die Arbeit
des Unfreien teuerer sei als die des freien Mannes, eine Ansicht, die
wir wiederholt in der deutschen Literatur zu jener Zeit finden, so bei
Thaer, Kraus, Jakob, Hoffmann u. m. a. Wahrscheinlich
haben diese Schriftsteller diese Ansicht von Smith übernommen.
Bern. F. Lifschitz.
Pototzky, Hans, Ludwig Heinrich von Jakob als National-
ökonom. Ein Beitrag zur Geschichte der Nationalökonomie Deutschlands
im 19. Jahrhundert. 101 SS. Straßburg i. E., 1905.
Jakob hat seiner zeit ein großes Ansehen genossen. Er war auf
drei Gebieten tätig: als Philosoph, Nationalökonom und Statistiker, bezw.
Herausgeber einer statistischen Zeitschrift, welche er gemeinsam mit
Leopold Krug redigierte. An mehreren deutschen Universitäten sind
nach Jakobs Schriften Vorlesungen abgehalten worden, was als ein
Zeichen des großen Einflusses gelten kann, den er auf seine Zeit-
genossen ausgeübt hat.
Dieser Einfluß ist eine Tatsache, die jedem, der sich mit Quellen-
forschung der deutschen Literaturgeschichte der Nationalökonomie der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts befaßt, sehr gut bekannt ist. Den
„Nationalökonomen“ Jakob unternimmt die vorliegende Schrift zu unter-
suchen. Dieselbe enthält folgende Abschnitte: Jakob als Kritiker der
Physiokraten, seine Stellung zu Smith, zu Malthus, zu Ricardo, seine
Methode, seine Finanzwissenschaft, seine Stellung zur Erbuntertänigkeit,
Sehlußbetrachtungen, wie auch eine kurze biographische Skizze. Pototzky
35*
548 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
stellt fest, daß Jakob als Kritiker der Physiokratie von der letzteren
nur eine unzureichende Kenntnis gehabt habe und daher „sei es durch-
aus falsch, wenn Roscher behauptet, Jakob, hätte die Physiokratie“
widerlegt. Ferner weist P. nach, daß Jakob Anhänger von Smith
gewesen wäre und zwar Smith im Sinne eines Relativisten.
Was die Methode Jakobs anbetrifft, so ersehen wir, daß er sowohl
das induktive wie auch das deduktive Verfahren befürwortet, er ist
also, was Methodologie anbelangt, Vermittlungsthesretiker, ganz im Sinne
von Smith (vgl. darüber meine Schrift: Ad. Smiths Methode, Bern 1906).
Literarhistorisch ist es interessant zu wissen, daß wir bei Jakob Ideen
über den Freihandel finden, die wir bei List wiederfinden. Wie ich
quellenmäßig weiß, so hat List Jakobs Schriften sehr gut gekannt.
Ferner was Thünen betrifft, so hat Jakob bereits die „Rente der Lage“
entwickelt. (Vgl. meine Abh. in Conrads Jahrb. über die Grundrente
von Thünen, 1905).
Die Darstellung ist im allgemeinen objektiv und liefert einen
guten Beitrag über die Aufklärung bezüglich der Beziehungen zwischen
den Ideen Kants und Smiths.
Bern. F. Lifschitz. |
Bebel, A., Charles Fourier. Sein Leben und seine Theorien. Mit einem Porträt
Fouriers und einer Abbildung des Phalanstères. 3. Aufl. Stuttgart, J. H. W. Dietz
Nachf., 1907. 8. XVI—271 SS. M. 2.—.
Berolzheimer, Fritz, System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie. 5. (Schluß-)
Bd. Strafrechtsphilosophie und Strafrechtsreform. München, C. H. Beck, 1907. gr. 8.
IX—230 SS. M. 7,50.
Gutmann, S. Hirsch, J. G. Fichtes Sozialpädagogik. Bern, Scheitlin, Spring
& C°, 1907. gr. 8. III—100 SS. M. 1,50. (Berner Studien zur Philosophie und ihrer
Geschichte, Bd. 51.)
Institut, Das internationale, für Sozial-Bibliographie. Ein Bericht über seine
bisherige Entwicklung. Herausgeg. vom Vorstande. Dresden, O. V. Böhmert, 18907.
Lex.-8. 44 SS. M. 1.—.
Kautsky, Karl, Die soziale Revolution. 2. durchgesehene u. verm. Aufl. Berlin,
Buchh. Vorwärts, 1907. 8. 112 SS. M. 1,50.
Marx, Karl, Lohnarbeit und Kapital. (Aus: Neue rheinische Zeitung vom Jahre
1849.) Neu herausgeg. von K. Kautsky. Mit einer Einleitung von Friedrich Engels.
Berlin, Buchh. Vorwärts, 1907. 8. 40 SS. M. 0,25.
Schraut, Max von, Die persönliche Freiheit in der modernen Volkswirtschaft.
Mit einem Geleitwort von Paul Laband. Tübingen, J. C. B. Mohr, 1907. 8. M. 2,50.
Toennies, Das Wesen der Soziologie. Dresden, v. Zahn & Jaensch, 1907. 8.
M. 1.—.
Bakounine, Michel, Oeuvres. Tome II. Les ours de Berne et lours de Saint-
Pétersbourg (1870). Lettres à un Français sur la erise actuelle (Septembre 1870).
L'empire knouto-germanique et la révolution sociale (1870—1871). Avec une note bio-
graphique, des avant-propos et des notes, par James Guillaume. Paris, P.-V. Stock,
1907. 8. LXIII—455 pag. fr. 3,50. (Bibliothèque sociologique. N° 38.)
Doll&ans, Édouard, Individualisme et socialisme. Robert Owen (1771—1858).
Avant-propos de M. Émile Faguet. Paris, Felix Alcan, 1907. 8. VIII—374 pag.
fr. 3,50.
Faguet, Emile, Le socialisme en 1907. Paris, Lecöne, Oudin, 1907. 12.
fr. 3,50.
Kurnatowski, Georges, Esquisse d’&volution sulidariste. Paris, Marcel Rivière,
1907. 4. 95 pag. fr. 2,50.
Tarde, Alfred de, L'idée du juste prix. Essai de psychologie économique.
Paris, Felix Alcan, 1907. 8. fr. 7.—.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 549
Ruskin, John, “Unto This Last“. Four essays on the first principles of politi-
cal economy. London, Routledge, 1907. 12. 1/.—. (New Universal Library.)
Conti, Emilio, Questioni igienichee sociali. (Risparmio—Cooperuzione rurale —
Socialismo e mortalità infantile.) Milano, L. F. Cogliati, 1906. 16. 190 pp. 1. 2.—.
Ravà, Adolfo (prof.), Il socialismo di Fichte e le sue basi filosofico-giuridiche.
Palermo, R. Sandron, 1907. 8. 38 pp. 1. 1,50.
2. Geschichte und Darstellung der wirtschaftlichen Kultur.
Speck, E., Handelsgeschichte des Altertums. Dritter Band, 1.
Hälfte: Die Karthager. Die Etrusker. Die Römer bis zur Einigung
Italiens 265 v. Chr. Leipzig (Friedrich Brandstetter) 1905. Dritter
Band, 2. Hälfte A: Die Römer von 265 bis 30 v. Chr. Dritter Band,
2. Hälfte B: Die Römer von 30 v. Chr. bis 476 n. Chr. Leipzig 1906.
Im Grunde genommen gibt es vier Arten, Geschichte zu schreiben:
zum ersten mit gesicherten Forschungsergebnissen und mit selbstän-
diger Auffassung oder mit gesicherten Forschungsergebnissen ohne selb-
ständige Auffassung, zum anderen aber mit wenig gesicherten Forsch-
ungsergebnissen und mit selbständiger Auffassung, oder endlich mit
wenig gesicherten Forschungsergebnissen und ohne selbständige Auf-
fassung. Während die an letzter Stellung genannte, leider recht häufige
Weise der Geschichtsschreibung wohl allseitig und einmütig verurteilt
wird, ist die Beurteilung der ersten drei Arten im wesentlichen von
der Bedeutung und Stellung abhängig, die jeweils dem Problem und dem
Problematischen innerhalb der Forschung selber zuerkannt werden. Von
dem Grad der vorhandenen eigenen Auffassung ist vornehmlich die Wirkung
in weiteren Kreisen, von der Zuverlässigkeit des verarbeiteten Materials
die unter den Fachgenossen abhängig, nur daß diese noch gesteigert
und vertieft wird je nach dem Zuschuß von kritischem Scharisinne, den
der Autor selber hinzufügt.
Speck gehört zu der zweiten Kategorie von Geschichtsschreibern,
zu der Zahl derjenigen, die mit gesicherten Forschungsergebnissen ar-
beiten, aber vorsichtig und behutsam eine selbständige und originale
Auffassung zurückdrängen. Auch von einer Kritik oder gar von einer
Hyperkritik ist in den drei starken Bänden, die hier angezeigt werden,
keine eigentliche Rede, weil sich die kompilatorische Arbeitsart in
der Aneinanderreihung von Lesefrüchten und Auszügen aus sekundären
Quellen allzu bemerkbar macht. Und trotzdem dürfte auch Specks
Handelsgeschichte des Altertums einer freundlichen Aufnahme in weiteren
Kreisen des gebildeten, wirtschaftsgeschichtlich interessierten Publikums
ziemlich gewiß sein. Der Grund liegt meines Erachtens in der All-
seitigkeit und umfassenden Kenntnis des Verfassers, die ihn keine einiger-
maßen wichtige Seite des Wirtschaftslebens, keine irgendwie verwert-
bare Aeußerung der allgemeinen Kulturentfaltung übersehen läßt, dann
aber auch in der wirklichen Gemeiuverständlichkeit der Betrachtung,
in der durchsichtigen und flüssigen Darstellung, die sich ein nahezu
einwandfreies und gutes Sprachgewand gewirkt hat.
Die Reichhaltigkeit und Vielseitigkeit der Darstellung ist nun freilich
durch die Natur des Quellenmaterials mindestens in gleicher Weise bedingt
worden wie durch die Natur des Verfassers und seiner schriftstellerischen
Eigenart. Die Gegenwart ist in der glücklichen Lage, die Blüte des
550 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Handels nach den ihr zu Gebote stehenden Angaben und Ziffern der
Statistik, aus ihren Ermittelungen über Produktion, Umsatz und Ver-
brauch der Rohstoffe, Ein- und Ausfuhr, über die Höhe der Ein-
kommensverhältnisse, der Zölle und Steuern zu werten. Weil aber
aus der griechisch-römischen Zeit derartige Angaben nicht oder nur
höchst vereinzelt vorliegen, so wird eine einigermaßen zutreffende Ab-
schätzung der wahren Bedeutung des Handels in der antiken Volks-
wirtschaft kaum völlig gelingen, ja es wird namentlich schwierig sein,
festzustellen, zu welchen Zeiten und bei welchen Völkern die Handels-
tätigkeit eine unentbehrliche Grundlage des auf Bedürfnis und Bedürfnis-
befriedigung aufgebauten Wirtschattslebens gebildet hat, eine conditio
sine qua non. Wer solchen Fragen und Erwägungen nicht aus dem
Wege gehen will, wird natürlich genötigt sein, aus einer Betrachtung
der menschlichen Kulturbetätigung in ihrem weitesten Umkreis die An-
haltspunkte für seine Schlußfolgerungen zu entnehmen, er wird, wie das
Speck reichlich getan hat, Fabrikation und Gewerbebetrieb, Geldgeschäfte,
Zins- und Zollverhältnisse, Wegebau und Verkehrsmittel, Topographie,
Klima und physische Landesnatur, Bevölkerung, Bank- und Münzwesen,
aber auch alle sozialen und politischen Wandlungen, die Staatsverfass-
ungen, das gesamte geistige und sittliche Leben in seine Darstellung
einbeziehen müssen. Nur sollte diese weniger häufig, als das bei Speck
geschieht, ihren Hauptzwerk vergessen, der doch alle jene tausenderlei
Exzerpte und Einzelheiten erst zur organischen Einheit verbindet, damit
sich der Leser nicht Schritt für Schritt vergegenwärtigen muß, daß er ja
eigentlich eine Handelsgeschichte vor sich hat, und sich selber oft erst
mühsam die Beziehungen alles dessen, was er erfährt, zu dem Handel
herstellen muß.
So sehr ich persönlich endlich öfter ein kühneres Urteil oder eine
schärfere kritische Stellungnahme gewünscht hätte, die einer Ein-
tührung in die wissenschaftliche Diskussion unmittelbar zu gute ge-
kommen wären, und so gewiß es dabei auch der Darstellung zum Vor-
teil gereicht hätte, wenn die gewaltigen Probleme, die allentbalben die
antike Handelsgeschichte umranken, plastischer und greifbarer heraus-
gearbeitet worden wären, so verkenne ich doch keineswegs, daß die
Nichterfüllung dieser Desideria gerade den Charakter eines Hand- und
Nachschlagebuches nicht in Frage gestellt hat, und also einer wesentlichen
Forderung des Tages gerecht geworden ist. Denn das Bedürfnis nach
Handbüchern und Sammelwerken ist nun einmal heutzutage weitver-
breitet, je eindringlicher die allgemeine Bildung bei der unübersehbaren
Häufung des Wissensstoffes und bei der schweren Zugänglichkeit des
Quellenmaterials nach etwas Fertigem und Abgeschlossenem verlangt.
Man mag dieses Verlangen, seine Intensität oder auch seine Veranlassung
beklagen: Der Autor, der ihm entgegenkommt, verdient immerhin eine
gewisse Anerkennung, wofern er nur nicht allzu eifrig darauf aus war,
über der Hervorkehrung anscheinend unbestreitbarer Tatsachen den
Problemcharakter des wissenschattlichen Denkens zu verhüllen. Es soll
unserem Verfasser zu Ruhm und Dank gesagt sein, daß er nicht nach
einer derartigen billigen Popularität gegeizt und damit seinem fleißigen
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 551
und umfassenden Werk die unersetzliche Anregungsmacht zu weiterer
Forscherarbeit völlig geraubt hat. Möchte denn, das ist mein ehr-
licher Wunsch, die Entfaltung der ihr zu einem gewissen Grade innewoh-
nenden wissenschaftlichen Anregungsmacht bei Specks Handelsgeschichte
nicht hinter der Förderung zurückbleiben, die sie zweifellos einem all-
gemeingebildeten und besonders kaufmännischen Leserkreis bringen wird!
Halle a./S. Theo Sommerlad.
Luschin von Ebengreuth, A. Allgemeine Münzkunde und
Geldgeschichte des Mittelalters und der Neueren Zeit. (v. Below und
Meinecke, Handbuch der Mittelalterlichen und Neueren Geschichte.)
München und Berlin (R. Oldenbourg) 1904.
Bis zur Stunde sind die deutsche Finanzgeschichte und die deutsche
Münzgeschichte noch recht eigentlich zwei Stiefkinder der historischen
Forschung. Während aber allseits genügende finanzgeschichtliche Werke
nur wenig vorhanden sind, ist die Literatur über das mittelalterliche
Münzwesen geradezu ins Ungeheuerliche gewachsen. Freilich, sie besteht
vornehmlich aus Aufsätzen und Abhandlungen, die zwecks Verwertung
durch die Forscher mühsam aus den oft schwer zugänglichen Fachzeit-
schriften aus aller Herren Länder zusammengesucht werden müssen
und deren Ergebnisse noch immer dem Streit der Meinungen unter-
worfen sind. Den Bedürfnissen und Wünschen der Forschung wie der
Forscher erscheint deshalb das Werk Luschins von Ebengreuth, die reife
Frucht einer vierzigjährigen literarischen Beschäftigung mit *Münzen,
als eine höchst erfreuliche Gabe.
Von den beiden Betrachtungsweisen der Numismatik ist in dem
286 Seiten starken Bande sowohl die deskriptiv-formale, wie die volks-
wirtschatftlich-politische zu ihrem Recht gelangt. Der erste Teil bringt
in 16 Paragraphen die „Allgemeine Münzkunde“, der zweite Teil in 14
Paragraphen die „Geldgeschichte“. Dort wird von der äußeren Beschaffen-
heit der Münze und ihrer Herstellungsowie von der Münze als Gegenstand
des Sammelns gehandelt, hier den Beziehungen der Münze zur Geldlehre
und zum Recht nachgegangen. Diese sachlich-methodische Zweiteilung
ist meiner Meinung nach weit mehr als ein Hilfsmittel der Uebersicht-
lichkeit und des besseren Verständnisses, weit mehr als eine gewöhn-
liche Klassifikation oder Periodisierung. Wer bedenkt, daß schon Karl
Knies (Die politische Oekonomie vom geschichtlichen Standpunkt, 1883,
S. 2) bemerkte, Fragen der Technik als solche, alle Erörterungen über
die Kunst des äußeren Verfahrens bei der Herstellung von Gütern ge-
hörten nicht der politischen Oekonomie an, der wird in der Zweiteilung
Luschins von Ebengreuth eine gewisse Lösung des Problems begrüßen
können. Wenn auch jene technischen Fragen als solche nicht zur poli-
tischen Oekonomie gehören, so bilden sie doch für die Fragestellung
dieser Wissenschaft eine wichtige und unentbehrliche Voraussetzung.
Wenn sie daher — wie in dem vorliegende Buche — nicht völlig unbeachtet
geblieben, aber doch deutlich und erkenntlich zum Gegenstand einer
Sonderbehandlung gemacht worden sind, so kann das der Klärung der
Auffassung bei jedem, der fortan auf Grund dieses Buches den Problemen
552 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
der Geldgeschichte näher tritt, nur zu dauerndem Vorteil gereichen.
Den Verfasser selber hat die Klarheit über den Begriff der Münze und über
das Wesen der Numismatik und den daraus erkennbaren Zweck seines
Handbuches zum wohlbegründeten Ausschluß aller jener münzähnlichen
Gebilde veranlaßt, die, wie Medaillen, Plaketten, Jetons, Rechen-, Zahi-
oder Raitpfennige, Burgfried-, Bereitungsmünzen, Wallfahrts- und Bet-
pfennige, sowie Marken und Zeichen (Steuer-. Kontroll-, gewerbliche und
Adreßmarken) in das Gebiet der Sammeltätigkeit fallen und den Münz-
sammlungen vielfach angegliedert werden. Trotzdem derartige Stücke
den Münzen in Form und Erscheinung mehr oder minder gleichen, so
dürfen sie nach dem Verfasser nicht als solche gelten, weil sie entweder
nicht staatlichen Ursprungs sind oder nicht als Zahlungsmittel dienen
sollen (S. 18). Auf der anderen Seite aber ist der Umfang der Geld-
geschichte größer als der der Münzgeschichte, weil der Kreis der als Geld
dienenden Gegenstände ungleich größer ist als jener der Münzen (S. 34).
Je mehr sich die Beurteilung in das vorliegende Werk und in seine
Einzelheiten vertieft, um so mehr wird sie bei seinem Verfasser jene
seltene Vereinigung der beiden Eigenschaften vorfinden, die nach seiner
eigenen Auffassung eine gedeihliche Beschäftigung mit der Münzkunde
und Geldgeschichte erst ermöglichen: die Fach- und Sachkenntnis in der
Numismatik und die geschichtliche und nationalökonomische Schulung.
Sie haben ihn befähigt, trotz des auch von ihm mit Bedauern empfundenen
Mangels einer eigentlichen mittelalterlichen Metrologie (vgl. S. 157)
eines der wichtigsten Kapitel der deutschen Archäologie und der ma-
teriellen Kulturentwickelung überhaupt mit einigermaßen zuverlässigen
Forschungsergebnissen abzuschließen. Numismatiker, Nationalökonomen
und Historiker werden ihm dafür Dank wissen. Möchten sie wie er
ein volles Verständnis für die beiden Fragen bekunden, deren Gleich-
berechtigung und Gleichbedeutung Grotes „Geldlehre“ im Jahre 1565
eindringlich betonte: „Cuius sit imago et superscriptio?* und „Quo
valeat nummus, quem praebeat usum ?*
Halle a./S Theo Sommerlad.
Huber, F. C., 50 Jahre deutschen Wirtschaftslebens. Der gesetz-
geberische Ausbau des Deutschen Reiches und seine Wirtschaftspolitik.
Stuttgart 1906.
Schon seit Jahrzehnten beschäftigt alle denkenden Köpfe in
Deutschland die Frage, wohin geht die Fahrt der deutschen Volkswirt-
schaft, wohin zielt die Entwicklung.
Professor Huber ist einer der ältesten Vorkämpfer auf diesem Ge-
biete. Seit Jahren ist er bemüht, die Entwickelungsfäden zu entwirren
und die Richtlinien für die zukünftige Gestaltung unserer Wirtschafts-
politik aufzuweisen. ;
Die beiden vorliegenden Broschüren von Professor Huber behandeln
beide diese Frage und wären daher m. E. besser zu einem Werke ver-
arbeitet, zumal die Hauptgedankengänge in beiden wiederkehren. Er
steht auf dem gemäßigt freihändlerischen Standpunkt.
Die Richtlinien für unsere zukünftige Politik müssen
nach ihm folgende sein:
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 553
Unsere moderne Entwicklung sowohl wie unsere Zukunft beruht
auf unserer wirtschaftlichen, finanziellen und Heeresmacht. Diese gründen
sich auf die moderne technisch kapitalistische Entwicklung.
Je mehr Deutschland in der Technik und der Kapitalentwicklung
fortschreitet und je weniger es darin hinter seinen Konkurrenten, Eng-
land und Amerika zurückbleibt, um so mehr ist die Zukunft Deutsch-
lands gesichert.
Es ist daher die Selbsterhaltungspflicht Deutschlands,
die Technik und Kapitalsentwicklung auf alle Weise zu
fördern. Hand in Hand damit muß dann als Ergänzung und ständige
Korrektur die innere Schutzpolitik gehen. Sie darf aber nicht
unsere weitere Fortentwickelung in technisch kapitalistischer Beziehung
stören oder aufhalten, sondern sie soll nur die ev. üblen Nebenfolgen
dieser Entwickelung für einzelne Bevölkerungsteile lindern, bezw. be-
seitigen.
Die beste Politik nach innen und außen ist die, alle Hindernisse
für den Fortschritt aller Bevölkerungsklassen zu beseitigen und die
Leistungsfähigkeit aller Bevölkerungsklassen, namentlich auch der unteren,
dadurch möglichst zu heben, daß man allen Volksangehörigen eine
möglichst gute Ausbildung und Erziehung gibt, so daß sie in
die Lage versetzt werden, alle ihre Kräfte und Fähigkeiten zu ihrem
eigenen wie zum Gesamtwohle zu betätigen und zu verwenden. Darum
“möglichste Hebung der zum Teil völlig veralteten Volks-
schulbildung, Hebung des Fortbildungs- und Fachschulwesens, Ein-
richtung von Volksbibliotheken, Volks-Hochschulkurse, Förderung des
Genossenschaftswesens, kurz aller derjenigen Mittel, welche geeignet
sind, die Gaben und Fähigkeiten der Bevölkerung auszubilden. —
Man wird diesen Huberschen Ausführungen nur wünschen können,
daß sie recht bald in die Praxis umgesetzt werden.
Berlin. J. Wernicke.
Alemann, M., Am Rio Negro. Drei Reisen nach dem argentiniscnen Rio Negro-
Territorium. Berlin, Dietrich Reimer, 1907. gr. 8. XV—157 SS. mit Abbildungen und
Karten. M. 3.—.
Kaindl, Raimund Friedrich (Prof.), Geschichte der Deutschen in den Kar-
pathenländern. 1. Bd. Geschichte der Deutschen in Galizien bis 1772. Mit 1 Karte.
Gotha, Perthes, 1907. gr. 8. XXI—369 SS. M. 8.—. (Deutsche Landesgeschichten.
Herausgeg. von Armin Tille. 8. Werk.)
Kobatsch, Rudolf, Internationale Wirtschaftspolitik. Ein Versuch ihrer wissen-
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gr 8. XXV—473 SS, M. 12.—.
Pr&vöt, René, Das Deutsch-Französische Kulturproblem im Elsaß. Berlin,
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Larose et Tenin, 1907. 8. fr. 10.—.
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mique’ — Industries diverses — Économie sociale. Paris, Librairie H. Le Soudier, 1907.
4. 470 pag. fr. 10.—.
554 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslande.
Salmon, Albert et Edmond Charleville, Le Maroc. Son état économique
et commercial. Paris, Berger-Levrault, 1907. 12. fr. 3,50.
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384 pp. 1. 5.—.
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Tedeschi, I, nella vita moderna, osservati da un Italiano. Milano, fratelli Treves,
1907. 16. VIII—367 pp. 1. 3,50.
3. Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik. Auswanderung
und Kolonisation.
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Anklam, R. Poetteke Nachf., 1907. 8. 32 SS. M. 0,50.
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die Beförderung deutscher Ansiedelungen in den Provinzen Westpreußen und Posen, für
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Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 555
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Pashitnow, K. A., Die Lage der arbeitenden Klasse in Rußland. Eine historische
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1907. kl. 8. VIIT—112 SS. M. 0,50. (Sammlung Göschen. 315.)
Schneider, Alfred, Frachtsatz und Transportmenge unter Zugrundelegung der
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 557
Verhältnisse des Mannheimer Weizenhandels nach der Schweiz. Karlsruhe, G. Braunsche
Hofbuchdruckerei, 1907. gr. 8. 52 SS. M. 0,90. (Volkswirtschaftliche Abhandlungen
der Badischen Hochschulen. Bd. IX, Heft 3.)
Seidel, A. (Dir.), Der gegenwärtige Handel der deutschen Schutzgebiete und die
Mittel zu seiner Ausdehnung. 2. (Titel-) Aufl. Gießen, E. Roth, 1907. 8. 63 SS.
M. 0,60.
Sonndorfer, Rudolf (Prof.), Lehrbuch der internationalen Handelskunde für
Handelsakademien und höhere Handelslehranstalten. 2., vollständig neu bearb. Aufl.
Wien, A. Hülder, 1907. gr. 8. VII—IV—277 SS. mit 8 Formularen. M. 5.—.
Troske, L. (Prof.), Allgemeine Eisenbahnkunde für Studium und Praxis. 1. Teil.
Anlage und Bau der Eisenbabnen. Mit 3 Tafeln und 112 Textabbildungen. 2. Teil.
Ausrüstung und Betrieb der Eisenbahnen. Mit 5 Tafeln und 366 Textabbildungen.
Leipzig, O. Spamer, 1907. Lex.-8. VIIT—112 SS.; VIII und S. 113—422. M. 3,50;
M. 8,50.
Wirth, Albrecht, Der Weltverkehr. Frankfurt a./M., Literarische Anstalt
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Berlin, F. Dümmlers Verlag, 1907. gr. 8. M. 10.—.
Cordemoy, de, Ports maritimes. Tome I. Paris, H. Dunod et E. Pinat, 1907.
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von der Handelskammer für den Kreis Mannheim. (Mannheim, Hofbuchdruckerei
Max Hahn & C°, 1907.) gr. 8. 24 SS.
Maatz, Richard (Regierungs-R.), Die kaufmännische Bilanz und das steuerbare
en 4. Aufl. Berlin, Carl Heymanns Verlag, 1907. gr. 8. VIII—346 SS.
M. 6.—.
Metzen, Josef (Oberlehrer), Die Finanzverwaltung der Stadt Limburg a. d. Lahn
1606—1803. Limburg (H. A. Herz) 1907. 8. 46 SS. M. 1.—.
Meusch, Hans, Die Finanzwirtschaft der Stadt Weißenfels a. S. im 19. Jahr-
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1907. gr. 8. VII-272 SS. M. 5.—.
Süssmann, Arthur, Die Judenschuldentilgungen unter König Wenzel. Berlin,
L. Lamm, 1907. 8. XV—203 SS. M. 4.—. (Schriften, herausgeg. von der Gesell-
schaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums.)
.. Yvonne, Fel., Werden wir in Elsaß-Lothringen eine Wertzuwachssteuer ein-
führen? Metz, P, Müller (1907). 8. 23 SS. M. 0,40.
.. Zolltarif, Der bulgarische allgemeine, und Vertrags-Zolltarif, nebst Bestimmungen
über die Tara und Tariferläuterungen. Berlin, E. S. Mittler & Sohn, 1907. Lex-8.
63 SS. M. 0,80. (Aus: Deutsches landels-Archiv.)
Moucheront, P., Les douanes en Algérie. Alger, Jourdan, 1907. 8. fr. 12.—.
558 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
8. Geld-, Bank-, Kredit- und Versicherungswesen.
Bellom, Maurice. Les Lois d’Assurance Ouvrière à l’Etranger.
Ill. Assurance contre linvalidite. 2 Vols. Paris (Arthur Rousseau)
1905 et 1906.
Das großangelegte Sammelwerk der sozialen Versicherungsgesetze
aller Länder von Professor Bellom, welches in dieser Zeitschrift bereits
(im 24. Band 1902, S. 869) gewürdigt worden ist, geht seinem Abschluß
entgegen. Die dritte Serie des Bellomschen Werkes enthält die Dar-
stellung der Invalidenversicheruug, während bekanntlich die zweite
Serie die Unfallversicherung, die erste Serie die Krankenversicherung
zur Darstellung bringt. Der erste Band der dritten Serie beschäftigt
sich, abgesehen von einer sehr lesenswerten Einleitung über die
Invalidenversicherung im allgemeinen mit der deutschen Reichsgese:z-
gebung. Bellom hat jedoch davon Abstand genommen, den Wort-
laut der Gesetze einfach in Uebersetzung wiederzugeben, wie er es
durchweg in seinen früheren Bänden getan hat, er hat vielmehr
eine systematische Darstellung der deutschen Invalidenversicherung ver-
sucht, die ihm auch vorzüglich gelungen ist. Der Verfasser bespricht
den juristischen Inhalt der Gesetze ebenso wie er die technischen und
wirtschaftlichen Gesichtspunkte erschöpfend zur Darstellung bringt. Der
zweite Band behandelt das Invalidenversicherungswesen in den übrigen
Ländern, insbesondere die Invalidenfürsorge für die Bergarbeiter in Oester-
reich, sowie das Reformprogramm der Regierung dieses Landes, die ein-
schlägige Gesetzgebung Belgiens, Italiens und der Schweiz. Was letztere
betrifft, so hat Bellom es leider unterlassen, außer der Einrichtung einer all-
gemeinen Volksversicherung im Kanton Neuenburg der übrigen Gesetze
bezw. Gesetzesvorschläge und Vereinbarungen von Kantonsregierungen
mit Privatversicherungsnstalten Erwähnung zu tun. Bekanntlich liegen
Projekte im Kanton Genf und im Kanton Waadt vor, während
die Ortsgemeinde von St. Gallen bereits seit mehreren Jahren eine
Bürgerliche Lebens- und Altersversicherung eingerichtet hat, der eıne
große grundsätzliche Bedeutung beizumessen ist. In dem zweiten Band
werden auch Dänemark, Spanien, Großbritannien, Norwegen, Niederlande,
Rußland und Schweden erwähnt und die in diesen Ländern vorhandenen
Gesetzesvorschläge zur Einführung einer Invalidenversicherung in über-
sichtlicher Weise dargestellt. — Ein letzter zehnter allgemeiner Er-
gänzungsband soll das gesamte Werk Belloms krönen, das ebenso wie
die Sammlung Zachers dem Forscher auf dem Gebiet der Sozialver-
sicherung unentbehrlich ist.
Berlin. Prof. Dr. Alfred Manes.
Marcuse, Paul. Betrachtungen über das Notenbankwesen in
den Vereinigten Staaten von Amerika. Berlin. 166 SS. Carl Her-
manns Verlag (1907).
Die vorliegende Schrift umfaßt 3 Kapitel. In dem ersten wird
ein geschichtlicher Ueberblick gegeben, der sich auf die beiden einst
errichteten Zentralnotenbanken der Vereinigten Staaten, das Bankwesen
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.. 559
in den Einzelstaaten bis 1864 und die Nationalbankgesetzgebung er-
streckt. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit dem Notenbanksystem,
beziehungsweise der Notendeckung, dem Bankkapital und Vielbanksystem.
In dem dritten Kapitel endlich ist die Entwickelung der Nationalbanken
als Depositenbanken zum Gegenstand der Erörterung gemacht und im
Anschluß an die Verhältnisse der Vereinigten Staaten die Depositen-
bankreform in Deutschland zur Frage gestellt.
In Anbetracht des interessanten Inhaltes der Schrift seien ihre
Hauptpunkte hier in Kürze vorgeführt. Nach längeren parlamentarischen
Debatten wurde im Jahre 1791 die First Bank of the United States
mit dem Rechte der Notenausgabe auf 20 Jahre errichtet. Die bis 1809
gezahlten Dividenden betrugen zwar im Jahresdurchschnitt 8?/, Proz.,
aber die Bank vermochte sich nicht zu halten und liquidierte bereits
im Jahre 1811. 1816 wurde die zweite Nationalbank ins Leben ge-
rufen, die dem Handel und der Industrie wertvolle Dienste leistete,
aber schon im Jahre 1837 aufhörte, Bundesbank zu sein. Nun hatten
die einzelnen Staaten völlig freie Hand und Notenbanken schießen wie
Pilze aus der Erde. Es bestanden
1837 788 Banken mit 149 Mill. Doll. Notenzirkulation und 127 Mill. Doll. Depositen
1540 Qoi i a IOR 3$ in
1855 1307 »„ » 15 un» »
1660 1562 iy „ 202
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» 75 n ” n
212
” . n” ”„ 9
» ” n” »” 257
Der Anteil der Noten an den gesamten Umlaufsmitteln des Landes
bezifferte sich meist zwischen 45 und 50 Proz., zeitweise sogar bis auf
75 Proz. Besondere Erwähnung beansprucht das Bankwesen des
Staates New York, das namentlich durch das Gesetz vom Jahre 1838
vorbildlich für die spätere allgemeine Regelung durch die Bundes-
regierung geworden ist. Das Nationalbankgesetz wurde am 3. April
1864 erlassen. Demgemäß war eine jede Aktiengesellschaft von minde-
stens 5 Personen, die den statutarischen Nachweis ihres Betriebes gab,
zur Ausgabe von Banknoten berechtigt. Die Gesellschaften hatten Bonds
der Vereinigten Staaten im Betrage von mindestens !/, des Aktien-
kapitals dem Schatzamt auszuländigen und erhielten als Gegenwert
Banknoten im Betrage von 90 Proz. der Anleihescheine geliefert. Den
Banken war die Annahme von Depositen gegen Bardeckung von je
15—20 Proz, An- und Verkauf von Wechseln und Edelmetallen, sowie
das Darlehnsgeschäft gegen Gewähr persönlicher Sicherheit gestattet,
die Handhabung des Effektenkommissionsgeschättes dagegen verboten.
Zu ihrer Ueberwachung ist das Bundeskontrollamt geschaffen worden,
dem Vierteljahrsberichte einzulietern waren und das über den Status
der Banken, ihre Tätigkeit, sowie die bei ihnen hervorgetretenen
Mängel dem Kongreß alljährlich Mitteilungen macht. Das Gesetz vom
Jahr 1864 ist von grundlegender Bedeutung geworden, hat aber im
Laufe der Jahre mannigfache Abänderungen erfahren. 1865 wurde der
Notenumlauf einzelstaatlicher Banken mit einer Steuer von 10 Proz.
belegt und eine gerechtere Verteilung der auf 300 Mill. Doll. limitierten
Notenmenge festgesetzt. 1869 wurden statt der bisherigen 4, jährlich
5 Berichte gefordert, 1870 ist das Notenkontingent zu Gunsten der
560 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Süd- und Weststaaten von 300 auf 354 Mill. Doll. erhöht und 1875
endgültig jede Begrenzung der Notenbeträge aufgehoben worden. Das
Gesetz vom 14. März 1900 endlich ermöglichte den Banken, die bisher
benutzten Bonds in neue 2-proz Anleihescheine umzutauschen und hier-
für 100 Proz. in Noten ausgegeben; die allein noch übrig gebliebene
Besteuerung des Notenumlaufes von 1 Proz. wurde auf !, Proz. herab-
gesetzt. So haben sich die Nationalbanken bis zur Gegenwart entwickelt
und einen dauernden Aufschwung genommen. Es bezifferten sich
das die
die Zahl der Banken Kapital Notenmenge die Depositenbeträge
im Jahre 1864 auf 508 auf 86,7 auf 45,2 auf 122,1 Mill. Doll.
”» n 1870 ”„ 1615 n 435,3 ” 291,7 » 501,4 n n
» o» 1880 „ 2090 „ 457,5 » 317,3 no 8735 s» »
n» o» 1890 „ 3540 „ 650,4 » 122,9 » 1564,8 „ u
» x 1900 „ 3871 s 630,2 » 283,9 m 25082 » »
» o» 1905 „ 5668 „ 799,9 » 469,0 » 37836 n» »
Die Nationalbanken spielen somit im Gegensatz zu den deutschen
Zettelbanken als Depositenbanken eine ganz hervorragende Rolle; sie
haben sich auch wesentliche Verdienste um die Verbreitung des Scheck-
wesens erworben. Ferner hat das Notenbankwesen der Vereinigten
Staaten den unleugbaren Vorzug, daß die Interessen der Noten-
gläubiger in ganz außerordentlichem Maße geschützt sind und daß die
durch den Bedarf der Banken erhöhte Nachfrage nach Bonds zur
Kurssteigerung der letzteren und zur Senkung des Zinsfußes wesentlich
beiträgt. Diesen Vorzügen aber stehen Mißstände gegenüber. Die
Notenemission ist für die beteiligten Banken duchschnittlich nicht
rentabel, teilweise sogar mit Verlusten verknüpft. Die Technik der
Vermehrung und Verminderung der Noten ist umständlich, und die
Banken vermögen weder der jeweiligen Konjunktur sich rechtzeitig an-
zupassen, noch dieselbe in genügendem Maße auszunutzen. Auch der
Umstand, daß sie genötigt sind, einen beträchtlichen Teil ihres Kapitals
in Bonds anzulegen, d. h., daß sie hierdurch sehr einflußreiche Gläubiger
des Staates werden, führt eine in mannigfacher Beziehung antechtbare
Verquickung der Staats- und Privatinteressen herbei. Reformen scheinen
daher unbedingt erforderlich.
In geschickter Weise erörtert Marcuse die vorerwähnten Punkte.
Er ist ein gutgeschulter Nationalökonom, der die Eigenart des ameri-
kanischen Notenbankwesens richtig erkannt hat und über reiche Literatur-
kenntnisse verfügt. Seine Schritt ist jedoch nicht frei von Wider-
sprüchen. So hält er einerseits die Reform des Depositenbankwesens
in Deutschland für erwünscht (S. 139), andererseits bezeichnet er das
zur Zeit herrschende System als ein dem heutigen Zustande angemessenes
(S. 166). Auch seine sonstigen Ansichten über die Reorganisation des
deutschen Depositenbankwesens sind anfechtbar. Er ist ein Gegner der
Reichsdepositenbank, die wohl geeignet sein dürfte, durch Konzentration
der Barbeträge zur Verbilligung des Geldes und zur Reduktion der
Diskontosätze beizutragen. Dadurch wäre eine Kalamität gemindert,
die sich namentlich in der jüngsten Zeit häufig geltend gemacht, Handel
und Industrie im Aufschwung wesentlich gehemmt hat und deren
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 561
wiederholtes Auftreten im Interesse der gesamten Volkswirtschaft zu
vermeiden ist. Marcuse ist auch ein Gegner eines Depositenbankgesetzes,
übersieht aber u. a., daß jede Gesetzgebung, die nur das Depot und
nicht auch das Depositum der rechtlichen Ordnung unterwirft, unlogisch
ist und der Einseitigkeit verfällt. So dürften manche seiner Auffassungen
auf eine allseitige Zustimmung nicht zu rechnen haben.
Die wissenschaftliche Bedeutung des deutschen Bankwesens ist in
der jüngsten Zeit in immer höherem Maße erkannt und durch eine Reihe
guter Publikationen erhärtet worden. Die Kenntnis der Auslandsver-
hältnisse dagegen ist teilweise eine noch recht mangelhafte und die vor-
handene Lücke schädigt gleichzeitig Theorie und Praxis. Der unzweifel-
hafte Vorzug der wertvollen Schritt Marcuses besteht auch darin, die
einschlägigen Verhältnisse der Vereinigten Staaten in klarer und über-
sichtlicher Weise weiteren Interessentenkreisen zugeführt zu haben,
Berlin. Otto Warschauer.
Kirschberg, Manfred, Der Postscheck. Eine wirtschaft-
liche und juristische Studie. Mit Berücksichtigung der österreichischen,
deutschen und schweizerischen Verhältnisse. Leipzig, ©. L. Hirschfeld,
1906.
Der Scheckverkehr hat anerkanntermaßen eine hohe volkswirtschaft-
liche Bedeutung. Er hemmt die unproduktive Ansammlung der Produktiv-
kapitalien, schafft ein leicht übertragbares Zahlungsmittel, beschränkt
durch Verrechnung die tatsächlich zu erfolgenden Barzahlungen auf ein
Mindestmaß und ermöglicht hierdurch ungeheuere durch Edelmetalle
nicht zu bewältigende Umsätze. Trotz der bestechenden Vorzüge, die
sich mit ihm verknüpfen, ist er jedoch leider bisher in den verschiedenen
Kulturländern nicht gleichmäßig zum Durchbruch gelangt, und auch die
in den Einzelstaaten zirkulierenden Schecks differieren in der Art ihrer
Erscheinung. So hat namentlich der Postscheck, obwohl er das be-
rufenste Zahlungsmittel für den Kleinverkehr ist, eine internationale
Verbreitung bisher nicht gefunden.
Kirschberg hat es sich zur Aufgabe gemacht, bezüglich der letzteren
Scheckart das gänzlich zerstreute Material zu sammeln, zu sichten und im
Hinblick auf die Verhältnisse Oesterreichs, der Schweiz und Deutsch-
lands kritisch zu würdigen. Die Schrift umfaßt 2 Teile. In dem ersten
wird die allgemeine wirtschaftliche Bedeutung, sowie die geschichtliche
Entwickelung des Scheckwesens, mit besonderer Berücksichtigung der
genannten Länder, geschildert; auch sind die Bestrebungen zur Ein-
führung des Scheckverkehrs bei der deutschen Reichspost und der
schweizerischen Post kurz erörtert. Der zweite Teil beschäftigt sich
mit dem rechtlichen Begriff, den materiellen Voraussetzungen, den wesent-
lichen Erfordernissen und den Arten des Postschecks, sowie mit allen
sonstigen hiermit in Frage stehenden Rechtsverhältnissen. In einem
Anhang sind die in Betracht zu ziehenden Gesetzestexte und Entwürfe
für Oesterreich, Deutschland und die Schweiz aufgeführt.
In Deutschland sind die Verhältnisse zur Zeit noch recht uner-
quickliche. Der Scheck- und Giroverkehr der Reichsbank erstreckt
Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVII), 36
562 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes,
sich in erster Linie auf die Banken und die Großindustrie, während der
Kleinverkehr der segensreichen Organisation fast, vollständig entbehrt.
Hier ist eine bedenkliche Lücke vorhanden, die von vielen Interessenten
schmerzlich empfunden wird. Bereits vor vielen Jahren hat der Heraus-
geber dieser Zeitschrift (vergl. J. f. N. u. St., 3. Folge, Bd. X,
S. 269—275, 1895) auf die Vorzüge namentlich der Postsparkassen und
des Postschecks überzeugend hingewiesen. In Erkenntnis des unvoll-
kommenen Zustandes legte auch die deutsche Reichsregierung am 1. De-
zember 1899 dem Reichstag den Entwurf einer Postscheckordnung vor,
aber derselbe wurde heftig angefochten und kam schließlich aus fis-
kalischen Gründen nicht zur Durchführung. Das Bedürfnis nach einer
interlokalen Zahlungsausgleichung des Kleinverkehrs besteht jedoch nach
wie vor, und es ist daher nur zu wünschen, daß die Reichsregierung
den Plan einer Einführung des Postschecks bald wieder aufnimmt.
Kirschberg hat die bisher in der Literatur vorhandene Lücke gut
ausgefüllt, wenn auch seine Darstellung teilweise etwas trocken ist
und einzelne der in Betracht zu ziehenden Fragen vergeistigter hätten
wiedergegeben werden können. Das ausführliche Literaturverzeichnis,
welches der Schrift beigefügt ist, umfaßt gleichmälig die volkswirtschaft-
liche und juristische Literatur und ist gut und zuverlässig.
Berlin. Otto Warschauer.
v. Petrazycki, L., ord. Professor an der Universität St. Peters-
burg. Aktienwesen und Spekulation, Eine ökonomische und
rechtspsychologische Untersuchung. Aus dem Russischen ins Deutsche
übertragen unter Redaktion und mit einem Vorwort des Verfassers.
226 SS. Berlin (H. W. Müller) 1906. Ladenpreis kartoniert M. 4,50.
Die vorliegende Schrift ist aus den rechtspolitischen Arbeiten des
Verfassers als Mitglied der russischen „Allerhöchst eingesetzten Kommission
für Revision der bestehenden Gesetzgebung über Börsen und Aktien-
gesellschaften“ hervorgegangen; sie erschien zuerst in einer Reihe von
Artikeln in der Russischen Oekonomischen Rundschau und wurde im
Jahre 1898 in Buchform veröffentlicht. Sie ist demgemäß vor der
Krisis des Jahres 1901 herausgegeben, und die für die Bedeutung des
Aktienwesens so überaus belang- und lehrreichen Ereignisse dieser
letzteren, sowie die sie bedingenden Ursachen und die Wirkungen,
welche sie erzielt hat, konnten selbstverständlich von dem Verfasser
nicht in Betracht gezogen werden. Aber das Buch soll nicht für den
Augenblick geschrieben sein, sondern Wahrheiten enthalten, die eine
allgemeine und dauernde Geltung beanspruchen, und es ist daher zu
untersuchen, ob diesen Erwartungen auch tatsächlich entsprochen ist.
Die Studie hat in erster Linie einen handelsrechtsphilosophischen Charakter,
und da es nicht die Aufgabe dieser Zeitschrift ist, derartige Unter-
suchungen zum Gegenstande ausführlicher Erörterungen zu machen, so
seien hier nur diejenigen Teile der Schrift berührt, die mit den Inter-
essen der Volkswirtschaft sich verbinden.
Das Aktienwesen hat sowohl in Deutschland wie auch bei vielen
sonstigen hervorragenden Kulturstaaten in den letzten 25 Jahren einen
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 563
gewaltigen Aufschwung genommen. Die Aktiengesellschaften sind der
hervorragendste und finanziell bedeutungsvollste Typ der modernen
Kapitalassociationen, sie lenken und beherrschen einen der wichtigsten
Teile des Gütererzeugungsprozesses, sie sind Produktionsmittel im
weitesten Sinne des Wortes, die unverfälscht den jeweiligen Werdegang
und die Entwicklungsphasen der Industrie abspiegeln, und ihre Anteil-
scheine sowie Schuldverschreibungen dienen umfangreichen Schichten
der Bevölkerung zur dauernden Kapitalsanlage. Die sie bedingende
Gesetzgebung ist ein untrügerisches Zeichen allgemeiner politischer
Reife oder Unreife und als Gesamterscheinung sind sie als gewaltige
Träger und Förderer des nationalen Geldverkehrs zu bezeichnen.
Petrazycki wird der Eigenart dieser wirtschaftlichen Phänomene teil-
weise gerecht. Mannigfachen Vorwürfen, die unbegründet gegen sie
erhoben werden, steht er vorurteilsfrei gegenüber und widerlegt sie.
Er erkennt auch das wahre Wesen der Spekulation und hebt mit Recht
hervor, daß dieselbe häufig recht mühsam sei und eine erschöpfende
Arbeit von Geist und Nerven ohne Rast und Ruhe erfordere. Bezüg-
lich der Generalversammlungen meint er treffend, daß eine wahrhaft
initiativreiche und gediegene Betriebsleitung der Aktiengesellschaften
und die direkte Teilnahme der Generalversammlungen an dieser Tätig-
keit als grundsätzlich unvereinbar hingestellt werden müsse (S. 192).
Aber diesen gewiß richtigen Auffassungen steht eine Reihe von Be-
hauptungen gegenüber, die höchst anfechtbarer Natur sind und die den
Wert der Schrift wesentlich mindern.
Petrazycki meint, daß eine gewisse Analogie zwischen der Stellung
des Aktionärs und der eines Lotteriespielers beobachtet werden könne
(S. 42). Dies ist sehr fraglich. Die Voraussetzung trifft nur dann ein,
wenn der Aktionär Industriepapiere, über deren wirtschaftliche Be-
deutung er gar nicht informiert ist, zum Gegenstand der Kapitalsanlage
oder Spekulation macht. Derartige Fälle treten jedoch in der Praxis
höchst vereinzelt auf. Der Aktionär ist durchschnittlich durchaus kein
Roulettespieler, und wenn er dies je einmal ist, so werden ihn unaus-
bleibliche bittere Erfahrungen, sowie der finanzielle Selbsterhaltungs-
trieb an der dauernden Entwickelung jener perversen Neigung zweifels-
ohne hindern. Der ernste Aktionär wägt erst, dann wagt er; er baut
das System seiner Kapitalsanlage auf Erfahrung und Calcul auf, und
der Einzelfall leichtsinniger Vermögensverwaltung oder Kreditausnutzung
darf nicht, wie dies Petrazycki tut, zum Typ von Massenerscheinungen
gemacht werden. Seine Behauptung ferner, daß allerhand Kunstkniffe
in Prospekten, auf der Börse, in der Presse etc. angewandt werden,
um eine Ueberschätzung des Wertes der Aktien durch Mitteilung
falscher Daten herbeizuführen (S. 53), ist gleichfalls, namentlich soweit
die Verhältnisse für Deutschland, die er mit besonderer Vorliebe be-
handelt, in Betracht zu ziehen sind, als eine vollständig verfehlte zu
bezeichnen. Die großen Effektenbanken, die auch bereits im Jahre 1898
eine hervorragende Rolle gespielt haben, sind die entscheidenden Träger
des Emissionsgeschäftes. Einerseits werden sie von den Grundsätzen
36*
564 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes,
der Moral geleitet, andererseits bestehen seit Erlaß des Reichsgesetzes
vom Jahre 1884 strenge Vorschriften bezüglich der Prospektangaben,
und endlich haben die genannten Banken in ihrem ureigensten Interesse
sich bei der Begebung von Aktien durch Mitteilung des tatsächlichen
Sachverhalts an die nackte Wahrheit zu halten, um den für sie so
wichtigen Emissionskredit für die Zukunft nicht zu gefährden.
Vollständig mißglückt ist auch der Versuch, ein Emissionsgesetz
ähnlich dem Ricardoschen Rentengesetz begründen zu wollen. Petrazycki
behauptet (S. 129), „mit dem Zunehmen der Intensität der optimistischen
Tendenz auf dem Gebiete der Aktiennachfrage werden die Bedingungen
geschaffen für die Heranziehung immer weniger „fruchtbarer“ Unter-
nehmungen. Dies entspricht durchaus nicht den Tatsachen. Bei
steigender Tendenz, günstigen Konjunkturen und sich mehrendem
Optimismus der Kapitalisten werden nicht die weniger „fruchtbaren“
Unternehmungen aufgesucht, sondern höchstens die Agiosätze bei der
Ausgabe der Aktien seitens der Emissionshäuser gesteigert. Aber auch
dies ist nicht immer zutreffend. In der jüngsten Zeit wurden z. B. die
Aktien der Lingelschen Schuhfabrik bei einer voraussichtlichen Dividende
von 17—19 Proz. zu 210 Proz. an der Berliner Börse eingeführt, und
der Emissionskurs der Arthur Koppel-Aktien bezifferte sich im Oktober
1906, bei einer Vorjahrsdividende von 11 Proz., auf 168 Proz. Auch
die Berufung auf Eisenbahnaktien ist durchaus unbegründet. Petrazycki
sagt: „Wenn beispielsweise in einem Lande ein starker Optimismus bei
der Schätzung von Eisenbahnaktien sich geltend macht (wie dies in
Wirklichkeit viele Länder durchgemacht haben), so werden zunächst
für den Eisenbahnbau mittels Gründung von Aktiengesellschatten die-
jenigen Strecken gewählt, die tatsächlich ansehnliche Dividenden zu
geben versprechen, dann allmälich kommen immer weniger fruchtbare
Linien an die Reihe, z. B. auch solche, die nach Abzug des optimistischen
Mehrwertes nur noch 1 Proz. oder O Proz. Dividende versprechen, oder
es werden selbst solche Eisenbahnlinien gegründet, die bei normaler
Schätzung nicht nur keine Aussicht auf Ertrag gewähren, sondern gar
die Wahrscheinlichkeit des Verlustes eines Viertels und mehr des
Kapitals in sich schließen.“ Petrazycki wird hierbei der Internationalität
des Geldmarktes nicht gerecht. Wenn das Inland für Eisenbahnunter-
nehmungen nicht mehr rentabel erscheint, wird das Ausland aufgesucht,
und nicht zu unterschätzende Prozentsätze des Nationalvermögens sind
in Deutschland, wo die obige Voraussetzung eintrifft, zur Zeit in aus-
ländischen Eisenbahnwerten, z. B. in Canadian Pacific, Baltimore-Ohio,
Pensylvania, Prince Henrybahn Aktien ete. angelegt. Eine große
Anzahl anderer Behauptungen Petrazyckis könnte gleichfalls mit Recht
angegriffen werden, doch möge das Gesagte genügen, um die Irrigkeit
vieler seiner Auffassungen zu beweisen. Eine der wichtigsten Aufgaben
der modernen Rechtswissenschatft ist es, die Vorgänge des Erwerbslebens
verständnisvoll zu verfolgen, dieselben ganz zu erfassen, die Erscheinungen
der Praxis nicht in das Prokrustesbett verkünstelter Theorien zu bringen
und somit das richtige Verhältnis zwischen Wirtschaft und Recht zu
finden. Dieser Aufgabe ist Petrazycki nicht gerecht geworden. Er
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 565
spekuliert in und mit Begriffen, und der Saldo der Erkenntnis, die er
verbreitet, ist namentlich zu Gunsten der Volkswirtschaftspolitik gering.
Berlin. Otto Warschauer.
Funke, Ernst (exped. Sekretär), Das Verhältnis der Ansprüche aus den Arbeiter-
versicherungsgesetzen zu einander und zu anderen Ansprüchen. Die Ersatzansprüche der
Krankenkassen, Versicherungsanstalten, Armenverbände u. s. w. Die Rückgriffsansprüche
der WVeısicherungsträger gegen Dritte. Die Haftpflicht der Betriebsunternehmer und
Betriebsbeamten. Vorschläge zur Vereinfachung. Berlin, F. Vahlen, 1907. 8. 71SS.
M. 1,50.
Lopuszanski, Eugen (Minist.-Sekretär), Das Bankwesen Oesterreichs.
Wien, A. Hölder, 1907. gr. 8. 32 SS. M. 0,90.
M onatsblätter für Arbeiterversicherung. Herausgeg. von Mitgliedern des
Reichs-Versicherungsamts. Verantwortlich: Adolf Behrend. 1. Jahrg. 1907. 12 Nrn.
(N" 1. 16 SS. mit 1 Taf.) Berlin, Behrend & C°. gr. 8. M. 12.—.
Mully v. Oppenried, Robert (Prof.), Der IIypothekarkredit-Verkehr. Zur
Theorie und Praxis der Realitäten-Schätzung, -Besteuerung und -Belehnung. Wien,
Administration des österreich. Handels-Museums, 1907. gr. 8. 188 SS. M. 2,50. (Aus:
Jahrbuch der Export-Akademie des österreich. Handels-Museums,)
Nagl, Alfred, Das Tiroler Geldwesen unter Erzherzog Sigmund und die Ent-
stehung des Silberguldens. Wien (H. Kirsch) 1906. gr. 8. VI—122 SS. mit Ab-
bildungen. M. 5.—. (Aus: Wiener numismatische Zeitschrift.)
Nagl, Alfred, Die Neuordnung der Wiener Mark im Jahre 1767. Wien
(H. Kirsch) 1906. gr. 8. 40 SS. M. 2.—. (Aus: Wiener numismatische Zeitschrift.)
Preisarbeiten über die Frage: „Durch welche Mittel läßt sich die Belebung
des Sparsinnes bei der ländlichen Bevölkerung und die Förderung des Sparbetriebes
unserer Spar- und Durlehnskassen am zweckmäßigsten und wirksamsten ausgestalten ?“
Darmstadt, Reichsverband der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften, 1906.
8. 1V—178 SS. M. 0,75. (Deutsche landwirtschaftliche Genossenschaftsbibliothek.
Bd. 10.)
Schwab, M., Vierter internationaler Kongreß für Versicherungsmedizin zu Berlin
vom 11.—15. November 1906. Leipzig, B. Konegen, 1907. 8. 2488. M.1.—. (Aus:
Beichs-Medizinal-Anzeiger.)
Weise, Johannes, Zinstabelle für jeden Kapitalbetrag, Zinssatz und Zeitraum.
Leipzig, G. A. Gloeckner, 1907. 8. M. 4.—.
Vortrag.
Sayous, André, Les banques de depöt, les banques de credit et les sociétés
financières. Cours libre, professé A la Faculté de droit de Paris. 2° édition. Paris,
Larose et Tenin, 1907. 12. fr. 5. (Manuel thĉorique et pratique d'économie politique
et financière.)
Prendergast, William A., Credit and its uses. London, Sidney Appleton,
1907. 8. XII-361 pp. 6/.—.
Traina, Gaspare, Operazioni di banca. Napoli, tip. A. Trani, 1906. 16.
136 pp. 1. 2,50.
9. Soziale Frage.
Vossberg, Walter, Die deutsche Bau-Genossenschaftsbewegung.
Berlin (Alfred Unger) 1906. 241 SS.
Die Wohnungsfrage in den Großstädten wird, je mehr die Mieten
steigen und die Wohnungsverhältnisse der unteren Klassen sich dadurch
verschlechtern und ungesünder werden, ein immer wichtigerer Teil der
sozialen Frage. Dadurch rückt auch das Baugenossenschaftts-
wesen, das eine Zeitlang mehr in den Hintergrund der öffentlichen
Diskussion getreten war, wieder mehr in den Vordergrund.
Vossberg gibt zunächst eine ausführliche geschichtliche Darstellung
der Entwickelung des Baugenossenschaftswesens.
566 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Im Jahre 1873 gab es bereits 52 Baugenossenschaften, die zum Teil
Mietshäuser, zum Teil Erwerbshäuser bauten. Am 1. Januar 1906 bestanden
nach dem Jahr und Adreßbuch der Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaf-
ten im Deutschen Reich für das Jahr 1906 641 Baugenossenschaften mit
122430 Mitgliedern, davon 630 Baugenossenschaften mit 122173 Mit-
gliedern mit beschränkter Haftpflicht. Die Haftsumme betrug 37,9
Millionen Mark. Vossberg tritt nun warm dafür ein, daß den Bau-
genossenschaften, da sie öffentliche Interessen verfolgten, auch öffentliche
Unterstützung zuteil werde. Solche ist ihnen seitens des Reiches, der
Einzelstaaten und der Landesversicherungsanstalten auch bereits geworden.
Trotz dieser Ansätze im einzelnen fehlt es aber nach Vossberg
diesen Versuchen doch durchaus noch an jener Einheitlichkeit und Voll-
ständigkeit, die im Interesse der guten Sache erforderlich wäre.
Die Hauptfrage ist bei den Baugenossenschaften die Beschaffung
der notwendigen Gelder, die Vossberg sehr ausführlich darstellt.
Vossberg geht dann noch im einzelnen ein auf die Grundstücks-
beschaffung, die Bautätigkeit, die Uebermittelung der Häuser und Woh-
nungen an die Genossenschafter, ferner auf die bisher erzielten Erfolge.
Unter allem Vorbehalt berechnet Vossberg, daß die deutschen Bau-
genossenschaften im ganzen vielleicht 9500 Häuser mit 30000 Wohnungen
im Wert von 150 Millionen Mark hergestellt haben. Er urteilt darüber,
daß das erzielte Gesamtresultat in Vergleich zum vorhandenen Notstand
ein traurig geringfügiges ist wenn man bedenkt, daß infolge des jähr-
lichen Bevölkerungszuwachses im Deutschen Reiche jährlich etwa 125 000
kleine Wohnungen im Werte von 450—480 Millionen Mark notwendig
werden, während der gesamte Bestand an kleinen Wohnungen auf rund
acht Millionen geschätzt werden kann.
Demnach beträgt die Zahl der von den Baugenossenschaften fertig-
gestellten Wohnungen ungefähr !/, Proz. sämtlicher kleinen Wohnungen.
Das Haupthinderungsmoment für eine stärkere Entwickelung der
Baugenossenschatten ist eben bisher die Knappheit der ihnen zu
Gebote stehenden Mittel.
Daß aber die Baugenossenschaften öffentliche und private Unter-
stützung verdienen, kann keinem Zweifel unterliegen, denn die Beseiti-
gung der schlechten großstädtischen Wohnungsverhältnisse, die einen
der größten Krebsschäden an unserem Volkskörper bilden, ist eine
dringende Notwendigkeit, der wir uns nicht mehr verschließen dürfen.
Das Buch von Vossberg, das in sehr klarer und übersichtlicher
Weise den gegenwärtigen Stand der Baugenossenschaftsfrage darstellt,
verdient, in weitesten Kreisen verbreitet zu werden.
Berlin. Dr. I. Wernicke.
Alkoholismus, Der. Seine Wirkungen und seine Bekämpfung. Herausgeg.
vom Zentralverband zur Bekämpfung des Alkoholismus in Berlin. 3. Teil. Leipzig,
B. G. Teubner, 1906. 8. 109 SS. M. 1,25. (Aus Natur und Geisteswelt. Bdcehn. 145.)
Block, Felix (Dr. med.), Die Kasernierung der Prostitution in Hannover. Han-
nover, M. & H. Schaper, 1907. 8. 15 SS. M. 0,50.
Imle, Fanny, Kritisches und Positives zur Frage der Arbeitslosenfürsorge. Jena,
Gustav Fischer, 1907. gr. 8. 71 SS. M. 1,20.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 567
Miessner, Elisabet, Die erotische Strömung in der Frauenbewegung. Vortrag.
Berlin, Hermann Walther, 1907. gr. 8. 31 SS. M. 0,60.
Ostwald, Hans, Das Berliner Dirnentum. 8. Gelegenheitsdirnen. 2. Tausend.
Leipzig, W. Fiedler (1907). 8. 87 SS. M. 1,50.
Problem, Das sexuelle. Key, Ellen, Liebe und Ethik. — Stöcker, Helene,
Mutterschutz. — Hellpach, Willy, Prostitution und Prostituierte. — Bloch, Iwan, Die
Perversen. Berlin, Pan-Verlag, 1907. gr. 8. 41—28—42—42 SS. M. 3.—. (Ge-
samtausg. aus: Moderne Zeitfragen.)
Sohnrey, Heinrich, Aus der sozialen Tätigkeit der preußischen Kreisverwal-
tungen. Auf Grund von 472 Verwaltungsberichten bearbeitet auf der Geschäftsstelle des
deutschen Vereins für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege und in dessen Auftrage
herausgegeben. Mit einem Geleitwort von (Geh. Regierungs-R.) Friedrich v. Schwerin.
Berlin, Deutsche Landbuchhandlung, 1907. gr. 8. 8—321 SS. M. 5.—.
Troeltsch, Walter, Das Problem der Arbeitslosigkeit. Kaisergeburtstagsrede.
Marburg, N. G. Elwerts Verlag, 1907. 8. M. 0,75.
Verzeichnis der Wohltätigkeits- und Wohlfahrtsanstalten in Breslau. Aufge-
stellt von der Armendirektion zu Breslau. Breslau, E. Morgenstern, 1907. gr. 8.
45 SS. M. 0,60.
Wohltätigkeits-Anstalten und -Vereine im Königreich Württemberg. Bearb.
von der Zentralleitung des Wohltätigkeitsvereins. Stuttgart (W. Kohlhammer) 1906.
gr. 8. 100 SS. M. 0,50. 2
Collin, Paul, Aperçus sur le vagabondage: effets — causes — remèdes. Paris,
Marcel Rivière, 1907. 8. 86 pag. fr. 1,50.
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Cahn, Adolf, Der Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft. Berlin, W. Rothschild,
19807. gr. 8. XVI—272 SS. M. 5,60.
Entwurf eines allgemeinen bürgerlichen Strafgesetzbuches für das Königreich
Norwegen. Motive. Ausgearb. von der durch königliche Entschließung vom 14. XI.
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Darstellung des Systems zur Besserung jugendlicher Verbrecher in Strafrecht, Strafprozeß
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Krech, J. (Mitgl. des Bundesamts für Heimatwesen), Das Reichsgesetz über den
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Riemann, Ernst (Rechtsanwalt), Das Wasserrecht der Provinz Schlesien. 2. verm.
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568 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Schwarz, Ernst, Die kaufmännische und sozialpolitische Gesetzgebung in ihrer
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Trutzer, K. (Ministerial-R.), Das Invalidenversicherungsgesetz vom 13. Juli 1889,
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Wilmowski, B. v. (Regierungs-R.), Das Preußische Einkommensteuergesetz vom
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Zimmermann, Emil, (Geh. Finanz-R.), Das badische Einkommensteuergesetz
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Karlsruhe, J. Lang, 1907. kl. 8. XXVII—348 SS. M. 5,50. (Langs Sammlung
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Cimbali, Enrico, La nuova fase del diritto civile nei rapporti 'economici e
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1907. 8. XXXI—374 pp. con 1 tavola. 1. 7.—.
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Vivante, Cesare, Trattato di diritto commerciale. 3° edizione, riveduta e
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426 SS. M. 4.—.
Austerlitz, Fritz, Das neue Wahlrecht. Eine Erläuterung des allgemeinen
und gleichen Wahlrechts, der Wablpflicht und des Wahlschutzgesetzes. Nebst dem
Wortlaut aller einschlägigen Gesetze. Wien, Wiener Volksbuchhandlung, 1907. kl. 8.
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Möller, W. H., Verfassungs- und Verwaltungsrecht des Deutschen Reiches. Zum
unterrichtlichen Gebrauch und zur Selbstbelehrung bearbeitet. Dresden, W. Baensch,
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Müller, Georg, Königsberger Bürger-Buch. Sammlung von Polizei-Vorordnungen,
Ortsstatuten und Regulativen für die Stadt Königsberg i. Pr. Auf Grund amtlichen
Materials bearbeitet. I. Teil. Königsberg, Hartung, 1907. kl. 8. 306 SS. M. 2.—
Verfassung und Verwaltungsorganisation der Städte. Im Auftrag des Vereins
für Sozialpolitik herausgegeben. 6. Bd. Oesterreich. Mit Beiträgen von J. Redlieh,
L. Spiegel, L. Vogler, C. Horätek, O. Gluth, B. Kafka, C. Vogel. Leipzig, Duncker &
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Wettstein, Walter, Die Gemeindegesetzgebung das Kantons Zürich. Kommentar
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Ilbert, Sir Courtenay, The Government of India. Second edition. Oxford,
The Clarendon Press, 1907. 8. XXXII—408 pp. 10/.6.
Pacinotti, Giovanni (prof.), L'impiego nelle pubbliche amministrazioni secondo
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 569
il diritto positivo italiano: trattato generale teorico-pratico. Torino, Unione tipografico-
editrice, 1907. 8. VIH—491 pp. 1. 8.—.
4 Pagliano, E. M., La costituzione del Montenegro. Roma 1907. 8. VIII—118 pp.
12. Statistik.
Deutsches Reich.
Croner, Dr. Johannes, Der Grundbesitzwechsel in Berlin und
seinen Vororten (1895—1904). Eine statistische Studie. Nach dem bei
den Aeltesten der Kaufmannschaft von Berlin gesammelten Material
bearbeitet. Berlin 1906.
Diese Arbeit berücksichtigt weder die Größenverhältnisse der um-
gesetzten Grundstücke noch die Wertgestaltung des Grund und Bodens
und der Gebäude, obwohl diese Dinge in Verbindung mit der Statistik
des Grundbesitzwechsels schon seit einer Reihe von Jahren im Berliner
Statistischen Jahrbuch und der Charlottenburger Statistik behandelt
werden. Sie stützt sich ausschließlich auf das Material der Frage-
bogen, die von den Aeltesten der Kaufmannschaft an die Gemeinde-
behörden von Berlin und 41 Vororten versandt worden sind. In diesen
Fragebogen ist lediglich die Zahl, die Gesamtfläche, die Kaufpreis-
summe und die Umsatzsteuersumme der in den einzelnen Jahren um-
gesetzten bebauten und unbebauten Grundstücke erfragt. Da die Ver-
hältnisse der einzelnen Grundstücke ganz unbekannt bleiben, ist jede
Gliederung derselben nach Größe und Kaufpreis ausgeschlossen. Nicht
einmal der Rechtsgrund des Eigentumübergangs ist erfragt worden, es
sind daher die versteigerten, die vererbten, die zwischen Verwandten
übertragenen und die zu Straßenzwecken abgetretenen Grundstücke und
Grundstücksparzellen mit den verkauften ungeschieden mitgeteilt. Da-
gegen hat man beim Unwichtigen größte Genauigkeit walten lassen:
für jeden Monat der Jahre 1895 bis 1904 mußten die Angaben gemacht
werden. 29 Gemeinden haben sich bereit finden lassen, diesen mangel-
haften Fragebogen auszufüllen.
Wenn man auf Grund dieser Fragebogen die Zahl der Umsätze von
bebauten und unbebauten Grundstücken in den einzelnen Jahren und
Orten zusammengestellt hat, so hat man das Material eigentlich voll-
kommen ausgenutzt. Croner vergleicht aber auch die Entwickelung der
Kaufpreis- und der Flächengesamtheiten in dem 10-jährigen Zeitraum ;
ja er scheint die Veränderungen der Kaufpreisgesamtheiten (erfragt sind
Kaufpreise, es werden aber wohl alle Erstehungspreise angegeben sein)
für besonders beweiskräftig für die Veränderungen des Grundstücks-
markts zu halten (S. 13). Im zweiten Teil seiner Arbeit, wo die einzelnen
Orte behandelt werden, werden die sämtlichen Gesamtheiten auch noch
nach den Kalendermonaten der einzelnen Jahre unterschieden. Freilich
sind die in den Fragebogen mitgeteilten Kalendermonate keineswegs
etwa die Monate des Eigentumsübergangs, auch sind in den meisten
Orten schon die Gesamtheiten des Jahres wegen ihrer Kleinheit Zu-
fällen ausgesetzt, aber Croner glaubt (S. 6 u. 7), solche Zufälle am
besten bemerken zu können, wenn er die Jahresvergleiche immer Monat
für Monat durchgehe. Die Steigerung der Umsätze in den einzelnen
570 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Orten hängt zum Teil mit ihrer weiteren baulichen Erschließung zu-
sammen. Croner macht hierüber verschiedene Angaben. Zum Schluß
werden auch die Umsatzsteuergesamtheiten mitgeteilt. Es war die Ab-
sicht der Korporation, gerade die „Verhältnisse der städtischen Umsatz-
steuern“ darzustellen; das war mit diesem Material natürlich unmöglich.
Zum Ersatz werden einige finanzpolitische Anschauungen geäußert.
Dr. Karl Seutemanın.
Beiträge zur Statistik des Großherzogtums Baden. Herausgeg. vom Statistischen
Landesamt. Neue Folge. 7. Heft. Die Volkszählung vom 1. XII. 1890. II. Teil.
Karlsruhe, C. F. Müller (1907). 4. XIX—123 SS. M. 3,50.
Cahn, Ernst (Sekretär), Wohnungszustände der minderbemittelten Bevölkerungs-
schichten in Wiesbaden. Eine sozialstatistische Untersuchung. Wiesbaden, J. F. Berg-
mann, 1906. Lex.-8. 73 SS. M. 1,30.
Laspeyres, R., und (Sanitäts-R.) Lindemann, Statistische Untersuchungen über
die Gesundheitsverhältnisse der Bergleute, mit besonderer Berücksichtigung der in Stein-
kohlenbergwerken beschäftigten Arbeiter. Vortrag. 2 Hefte. Bonn, M. Hager, 1907.
gr. 8. S. 52—83. M. 2.—. (Aus: Centralblatt für allgemeine Gesundheits-Pflege.)
Statistik, Preußische. (Amtliches Quellenwerk.) Herausgeg. in zwanglosen
Heften vom Königlich Preußischen Statistischen Landesamt in Berlin. 172. Die end-
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Staate sowie in den Fürstentünmern Waldeck und Pyrmont. Teil III. Der Obstbaum-
bestand der Gehöfte. Berlin, Königliches Statistisches Landesamt, 1907. Imp.-4.
XXII—153 SS. M. 4,60. — 199. Die Sterblichkeit nach Todesursachen und Alters-
klassen der Gestorbenen im preußischen Staate während des Jahres 1905. Ebend.
XXVI—210 SS. M. 6,20.
Öesterreich-Ungarn.
Hecke, Wilhelm (Magistr.-Oberkomm.), Die Sterblichkeit an Tuberkulose und
Krebs in Wien im Jahre 1904 nach Berufen. Wien (Gerlach & Wiedling) 1907. Lex.-8.
XVI—87 SS. M. 1,20. (Mitteilungen der statistischen Abteilung des Wiener
Magistrates.)
Italien.)
Buonvino, Orazio, Il giornalismo contemporaneo. Milano (Remo
Sandron) 1906. 611 SS,
Der Verfasser hat es sich zur Aufgabe gemacht, in seinem mit
mehreren Diagrammen ausgestatteten Buche das Phänomen des Jour-
nalismus nach den verschiedensten Richtungen hin zu untersuchen. In
einer Einleitung erörtert er den wissenschaftlichen Wert statistischer
Daten über die periodische Presse und spricht er auch von der Wich-
tigkeit der letzteren für das soziale und wirtschaftliche Leben. Darauf
folgt ein Abriß der Geschichte des Journalismus.
Im ersten Teil wird dann das Phänomen selbst einer eingehenden
Erörterung unterzogen, das Verhältnis des Journalismus zur Kultur, zu
den Kommunikationsmitteln und den einschlägigen Industrien besprochen.
Im zweiten Teil geht Buonvino zunächst auf die Beziehungen
zwischen Büchern und Zeitschriften ein; er bestreitet, daß die letzteren
in einem Unterstützungsverhältnisse zu den Büchern stehen, und be-
hauptet, daß sie vielmehr ein „autonomes“ Institut darstellen, das m
seiner Entwickelung den Wegen des Kapitalismus folge, den Staat und
das öffentliche Leben kontrolliere. Im siebenten Kapitel wird der Zu-
stand des Journalismus in den verschiedensten Ländern geschildert.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.. 571
Hierauf folgt eine Darlegung über die Bedeutung der „Auflage“ für
die Zeitschriften und eine interessante Ausführung über den Journa-
listen als Subjekt des Journalismus und über die von den Zeitungen
zu behandelnden Gegenstände, insbesondere über ihre Stellung zur
Reklame.
Der dritte Teil bringt massenhaftes statistisches Materiale, der
vierte endlich wirft einen Blick auf die Zukunft des Journalismus.
Das Buch ist ausgestattet mit einer umfassenden Bibliographie und
bringt mehrere instruktive Diagramme.
Der Autor hat sich redlich Mühe gegeben, seinen Gegenstand
allseitig zu erfassen; sein Werk wird daher auch für sehr weite Kreise
Interessantes bieten, vermittelt es doch einen scharfen Einblick in eine
der charakteristischsten Erscheinungen des modernen Lebens. Ob der
Verfasser sich in einigen Punkten nicht etwas kürzer hätte halten
können, mag dahingestellt bleiben. v. Schullern.
Hollantd.
Bijdragen tot de Statistiek van Nederland. Uitgegeven door de Centrale
Commissie voor -de Statistiek. LXXIX. Overzicht betreffende de loonen en den
arbeidsduur bij rijkswerken in 1905. ’s-Gravenhage 1907. 4. XXIV—94 blz.
fl. 0,75.
13. Verschiedenes.
Assmann, J. (Pfarrer), Der polnische Schulkinderstreik und der Ultramontanis-
mus. Leipzig (C. Braun) 1907. 8. 17 SS. M. 0,25. (Flugschriften des Evangelischen
Bundes. 247.)
Brunhuber, Robert, Das moderne Zeitungswesen. (System der Zeitungslehre.)
Leipzig, G. J. Göschen’sche Verlagshandlung, 1907. 8. 109 SS. M. 0,80. (Sammlung
Gösehen. 320.)
Herbst, Leo (Pastor), Die Fortbildungsschule des Herzogtums Braunschweig.
Ein Beitrag zu ihrer Förderung. Braunschweig, H. Wollermann, 1907. gr. 8. 47SS.
M. 0,80.
Höller, K., Die sexuelle Frage und die Schule. Leipzig,}E. Nägele, 1907. 8.
M. 1.—.
Lehmann, Rudolf (Prof.), Die gegenwärtige Entwickelung unserer höheren
Schulen. Rede. Posen, Merzbach, 1907. gr. 8. 16 SS. M. 0,60.
Leobner, Heinrich (Prof.), Die Grundzüge des Unterrichts- und Erziehungs-
wesens in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Eine pädagogisch-didaktische
Studie. Wien und Leipzig, Franz Deuticke, 1907. Lex.-8. VII—200 SS. M. 5.—.
Marx, Hugo (Assist. d. Unterrichtsanst. f. Staatsarzneikunde), Einführung in die
gerichtliche Medizin für praktische Kriminalisten. Vier Vorträge. Mit 14 Textfiguren.
Berlin, August Hirschwald, 1907. gr. 8. 129 SS. M. 2,40,
Meier, Ernst von, Französische Einflüsse auf die Staats- und Rechtsentwicklung
Preußens im XIX. Jahrhundert. 1. Bd. Prolegomena. Leipzig, Duncker & Humblot,
1907. gr. 8. VIII—242 SS. M. 5,40.
Rohden, G. v. (Gefängnis-Geistlicher), Erbliche Belastung und ethische Verant-
wortung. 3 Vorträge. Tübingen, J. C. B. Mohr, 1907. 8. 68 SS. M. 1,50.
Sabatier, Paul, Zur Trennung der Kirchen vom Staat. Mit Genehmigung des
Verfassers übersetzt. Berlin, C. A. Schwetschke & Sohn, 1907. gr. 8. 72 SS. M. 1,50.
(Erweiterter Sonderabdruck aus: Deutschland.)
Sommer, Robert (Prof.), Familienforschung und Vererbungslehre. Mit 16 Ab-
bildingani und 2 Tabellen. Leipzig, Johann Ambrosius Barth, 1907. gr. 8. VI—232 SS.
. 10.—.
Westermarck, Eduard (Prof.), Ursprung und Entwickelung der Moralbegriffe.
ae von Leopold Katscher. 1. Bd. Leipzig, W. Klinkhardt, 1907. Lex.-8. VII—
32 88. M. 11.—.
572 Die periodische Presse des Auslandes.
Harper, J. Wilson, Education and social life. London, J. Pitman, 1907. 8.
XVI—315 pp. 4/.6.
Lockyer, Sir Norman, Education and national progress. Essays and Addresses
1870—1905. With an introduction by R. B. Haldane. London, Macmillan & C°, 1908.
8. X—269 pp. 5/.—.
De Blasi, L., Igiene scolastica: conferenza tenuta alle maestre. Palermo 1907.
16. 185 pp. 1. 2,50.
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duction, par Maurice Bellom. — Mouvement agricole, par Maurice de Molinari. — Lettre
des États-Unis, par George Nestler-Tricoche. — Lettre de province, par Courcelle-Seneuil.
— ete.
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Revision de la loi sur les pensions civiles, par Malzac. — Les progrès de l'ile de For-
mose sous la domination japonaise, par Paul Meuriot. — ete.
Réforme Sociale, La. XXVI” année, N° 28, 16 février 1907: La supériorité de
PAsie antique et moderne dans la doctrine et dans les applications de la liberté de
conscience, par Luigi Luzzatti. — Les retraites ouvriöres et le socialisme chrétien: der-
nières réflexions d’un contribuable, par René de Kerallain. — Un peuple peut-il avoir une
vie morale saine si l'État en élimine les religions, par Eugène Rostand. (Dernier ar-
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Les lectures populaires, par le Baron de Montenach. — etc. — N° 29, 1% mars 1907:
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peur de Penfant (ayec 11 graphiques et cartogrammes), par Bayard. — Les sociétés ano-
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syndicaliste: les sous-agents des postes, par Pierre Girard. — Les grèves en Italie, par
Georges François. — Le mercantilisme liberal à la fin du XVII” siècle: les idées écono
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par C. Bouglé. — Le commerce extérieur de PÉgypte (suite), par Pierre Arminjon èt
Bernard Michel. — Chronique ouvrière, par Charles Rist. — ete.
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présente en Russie, par Maxime Kovalewsky. — Le féminisme au point de yue socio-
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psico-demologici, di G. Marpillero. — I movimenti migratori nella popolazione italiana,
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preußisch-hessischen Eisenbahngemeinschaft im Jahre 1905, von (vortr. R.) Rüdlin.
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reich, von (Prof.) Carl Grünberg (Wien). — Arbeiterbewegung und Arbeiterpolitik in
Australasien von 1890 bis 1905, von Käthe Lux (Berlin). [Schluß.] — Die Landarbeiter-
frage. I. Schriften über die Landarbeiterfrage in Ungurn, besprochen von Julius Bunzel
Die periodische Presse Deutschlands. 575
(Graz). — Kontrareplik, von Robert Michels (Marburg) (betr. Diehl, Ueber Sozialismus,
Kommunismus und Anarchismus). — ete. `
Blätter, Volkswirtschaftliche. Jahrg. VE, 1907, N’4: Das Problem der Zahlungs-
bilanz im Lichte der Handelswissenschaft, von (Prof.) Joh. Friedr. Schär (Berlin). —
Obst- und Gemüsebau, von Carl Kanig (Berlin). — ete. — N’ 5: Das Problem der
Zahlungsbilanz im Lichte der Handelswissenschaft, von (Prof.) Joh. Friedr. Schär.
[Schluß.] — Eine Gliederung der Handelswissenschaften als Hochschuldisziplinen, von
(Prof.) Jos. Hellauer (Wien). — Kursänderung? Von A. de Corti. — ete.
Export. Jahrg. XXIX, 1907, N’ 8, 9: Die wirtschaftliche Lage in den Ver-
einigten Staaten. — Der Kolonial-Kongreß zu Marseille, von J.-B. Piolet. — Finanz-
und Wirtschaftslage des Brasilstaates São Paulo, von Carl Bolle. — N’ 10: Deutscher
und englischer Zolltarif. — ete. — N’ 11: Deutsch-amerikanische Handelsbeziehungen.
— etc.
Jahrbücher, Landwirtschaftliche. Bd. XXXVI, 1907, Heft 1: Zur Frage der
Konkurrenzfühigkeit von Groß-, Mittel- und Kleinbetrieb in der Landwirtschaft, von
J. Hoch. — Die Roherträge der deutschen Landwirtschaft im letzten Menschenalter, von
Emil Wehriede.
Jahrbücher, Preußische. Bd. 127, Heft 3, März 1907: Strafrechtsreform und
Strafzwecke, von (Prof.) Robert v. Hippel. — Die Reformvorschläge der Unterrichts-
kommission der Deutschen Naturforschergesellschaft, von (Bealgymnasialdirektor) Max
Nath (Nordhausen). — etc.
Industrie-Zeitung, Deutsche. Jahrg. XXVI, N' 8: Ausfuhr deutscher In-
dustrie-Erzeugnisse im Jahre 1906. [Forts. u. Schluß.] — Die Entwickelung der
deutschen Schutzgebiete in Afrika und in der Südsee (1. April 1905 bis 31. März 1906).
— ete. — N’ 9: Alters- und Invalidenversorgung in Frankreich und England, von
O. Ballerstedt. — ete. — N’ 10: Zum Gesetzentwurf, betreffend die Abänderung des
Allgemeinen Berggesetzes vom 24. Juni 1865. — ete. — N" 11: Handel mit industri-
ellen Erzeugnissen zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika
1906. — ete.
Monats-Hefte, Sozialistische. Jahrg. XIII, 1907, Februar: Die sozialistischen
Minister, von Eugène Fournière., — Der politische Massenstreik in Rußland und seine
Lehren, von Roman Streltzow. — Die Schulfrage in England, von Philip Snowden. —
Der Philosoph des Egoismus, von Sigmund Kaff. — ete. — März: Kolonialpolitik und
Sozialdemokratie, von Richard Calwer. — Europiische Landwirtschaft unter Freihandel
und Zollschutz, von Max Schippel. — Die genossenschaftliche Entwickelung und das
sozialdemokratische Programm, von Friedrich Hahn. — Der Erzbergbau im Minette-
gebiet, von Johann Leimpeters. — etc.
Oekonomist, Der Deutsche. Jahrg. XXV, 1907, N’ 1261: Die Steuer- und
Wirtschaftsreformer. — ete. — N’ 1262: Angriffe auf die Reichsbank. — ete. —
N" 1263: Zu der projektierten Einführung von Kolonial-Aktien in den Börsenhandel.
— ete. — N" 1264: Zur Reform des Aufsichtsrats der Aktiengesellschaft. — ete.
Plutus. 4. Jahr, 1907, Heft 8: Filialwucher. — Rechtswissenschaft und Ge-
richtspraxis, von (Rechtsanwalt) Max Alsberg (Berlin). — ete. — Heft 9: Das Haus
Mendelssohn, von Siegbert Salter (Berlin). — ete. — Heft 10: Die Getreideernten der
Welt, von G. B. — Wissenschaft und Praxis, von Alfons Goldschmidt (Charlottenburg).
— ete. — Heft 11: Bilanzsünde, von (Bankprokur.) Samuel Wallenberg (Berlin). — ete.
Rechtsschutz, Gewerblicher, und Urheberrecht. Jahrg. 12, 1907, N" 2: Die
Abhängigkeit im Patentrecht, von (Rechtsanwalt) Isay. — Ueber die Nichtigkeit im
Patentrecht, von (Justiz-R.) Edwin Katz und (Patentanwalt) Julius Ephraim. — ete.
Revue, Deutsche. Jahrg. 32, 1907, März: Werden und müssen wir zum Frei-
handel in Europa zurückkehren? Von (Mitglied des Reichsrats) Max von Kübeck. —
Ueber die Gefahren beim Bergbau einst und jetzt, von (Bergschuldir.) Stegemann
(Aachen). — Abessinien, von Graf Eduard Wiekenburg. — etc.
Revue, Politisch-Anthropologische. Jahrg. V, N’ 12, März 1907: Bemerkungen
zur Rassetheorie, von Ludwig Woltmann t. — Krieg und Kultur in der Lebensgeschichte
der Rasse, von Eberhard Kraus. — Die rassenhaften Wurzeln der europäischen Kultur,
von Ludwig Wilser. — Richtigstellung zu Herrn Dr. W, Borgius’ Artikel „Zur Frage
der Mutterschaftsversicherung“, von Fr. von den Velden. — ete.
Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reichs. Herausgeg. vom Kaiser-
lichen Statistischen Amt. Jahrg. 16, 1907, Heft 1: Anordnungen für die Reichsstatistik
576 Die periodische Presse Deutschlands.
bis zum Schluß des Jahres 1906. — Erntestatistik für das Jahr 1906. — Streiks und
Aussperrungen im 4. Vierteljahr 1906. — Nachtrag zur Statistik der Reichstagswahlen
von 1903. Die Ersatzwahlen. — Die Selbstmorde 1902 bis 1905. — Konkurse im 4. Vier-
teljahr 1906. Vorläufige Mitteilung. — Seeverkehr in den deutschen Hafenplätzen 1905.
— Scereisen deutscher Schiffe 1905. — Die Neubauten auf deutschen Privatwerften und
auf ausländischen Werften für deutsche Rechnung 1898 bis 1906. — Die überseeische Aus-
wanderung 1906. — Weinmost-Ernte 1906. — Schlachtvieh- und Fleischbeschau im
4. Vierteljahr 1906. — Eheschließungen, Geburten und Sterbefälle 1905. — Die Volks-
zählung am 1. Dezember 1905. (Endgiltige Ergebnisse. 2. Mitteilung.) — Bei deutschen
Börsen zugelassene Wertpapiere 1906. — Branntweinbrennerei und -besteuerung
1905/1906. — ete.
Wirtschafts-Zeitung, Deutsche. Jahrg. III, 1907, N" 4: Die erste Konferenz
der Mitteleuropäischen Wirtschaftsvereine, von (Prof.) Julius Wolf (Breslau). — Ueber-
blick über die technischen Fortschritte im Wirtschaftsjahre 1906, von (Ingenieur) J. Koll-
mann (Ems). — Die deutsche Sozialpolitik im Jahre 1906, von Waldemar Zimmermann
(Berlin). — Die Schiffbauindustrie im Wesergebiet, von A. Bloem (Hamburg). — Die
deutschen Auslands-Banken, von Joseph Mendel (Berlin). — ete. — N! 5: Gegen ein
Scheckgesetz! Von (Kommerzien-R.) Max Richter (Berlin). — Zur Lage der englischen
Volkswirtschaft, von Otto Most (Posen). — Das (Genossenschaftswesen im Jahre 1906,
von Crüger (Charlottenburg). — ete. — N’ 6: Zur Reform der Volksversicherung, von
(Landgerichts-R.) Otto Hagen (Berlin). — Die Textilindustrie im Jahre 1906, von Apelt
{M. Gladbach). — Die Lederindustrie im Jahre 1906, von Apelt. — Deutschland und
Kanada, von Max Nitzsche (Berlin). — ete.
Zeit, Die Neue. Jahrg. 25, 1907, N" 21: Die Arbeiterpolitik der letzten Jahre
in Rußland, von Paul Dauge (Moskau). [Forts.] — Thüringens Heimarbeiterelend, von
Paul Sauerbrey (Großbreitenbach), — ete. — N" 22: Rassehygiene und Sozialismus, von
W. Schallmayer. — ete. — N" 23: Die Arbeiterpolitik der letzten Jahre in Rußland,
von Paul Dauge (Moskau). [Schluß.] — ete. — N’ 24: Das Maurergewerbe in der
Statistik, von August Winnig. — ete.
Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Kolonialwirtschaft. Jahrg. IX,
1907, Heft 2, Februar: Parlamentarische Studienfahrt nach Deutsch-Ost-Afrika. (1. Forts.)
— Weitere Entwiekelung der Post- und Telegrapheneinrichtungen und des Post- und
Telegraphenverkehrs der deutschen Kolonien, von (Ober-Postinspektor) H. Herzog (Berlin).
— Koloniale Landesvermessung, von (Kgl. Landmesser) H. Assmuth. — Die Religions-
freiheit in Marokko und das Völkerrecht, von Heinrich Pohl. — Eine Denkschrift des
Geh. R. A. v. Hansemann über die deutsche Kolonialpolitik, von Heinrich v. Poschinger.
— ete.
Zeitschrift für Sozialwissenschaft. Jahrg. X, 1907, Heft 2: Die religiöse Sank-
tionierung des Eigentums auf tieferen Kulturstufen, von (Prof.) Eduard Westermarck. —
Die Stadtgemeinschaft in ihren kulturellen Beziehungen, von (Prof.) J. Jastrow. [Schluß.]
— Die augenbliekliche Finanzlage Rußlands, von Rudolf Martin (Berlin). — E. Vander-
veldes socialistische Essays, von (Prof.) G. T. Masaryk. — Sollen wir den Steinkohlen-
bergbau verstaatlichen? Von (Geh. Ober-Finanz-R.) Strutz. — ete. — Heft 3: Die
Stellung der Frau in der Urgeschiehte der Zivilisation, von (Prof.) Eduard Westermarck.
— Der Gegensatz der Japaner und der Nordamerikaner im Stillen Ozean, von (Wirkl.
Geh. R.) M. v. Brandt. — Die schwedische Eisenerzfrage, von Pontus Fahlbeck. —
Der Entwurf der schweizerischen Kranken- und Unfallversicherung, von (M. d. R.)
Otto Mugdan. — etc.
Zeitschrift des Königlich Preußischen Statistischen Landesamts. Jahrg. 47, 1907
Abt. 1: Die Binnenwanderungen im preußischen Staate, mit 3 Tafeln graphischer Dar-
stellungen, von Max Broesike (Mitgl. des Königl. Preuß. Statist. Landesamts), — ete.
Frommannsche Buchdruckerei (Hermann Pohle) in Jena.
Costantino Bresciani, Ueber die Methoden der Einkommenverteilungsstatistik. 577
X.
Ueber die Methoden der Einkommen-
verteilungsstatistik.
Dr. Costantino Bresciani,
Privatdozent der Statistik in Pavia.
In den zahlreichen statistischen Arbeiten über Einkommen-
verteilung, die hauptsächlich in Deutschland (aber auch in anderen
Ländern, namentlich in England) in den letzten Jahrzehnten er-
schienen sind, wird, zum Zwecke der Vergleichung der Einkommen-
verteilung an verschiedenen Zeitpunkten, eine Methode angewandt,
die darin besteht, die prozentuale Zunahme (oder Abnahme) der
Zensitenzahl in den einzelnen Einkommenstufen festzustellen und zu
vergleichen. Findet man, daß die Zahl der Zensiten in der Zwischen-
zeit in jeder Stufe zugenommen hat, und zwar rascher als die
Bevölkerung des in Betracht gezogenen Staates oder Gebietes,
so zieht man den Schluß, daß eine allgemeine Einkommen-
hebung stattgefunden hat (vorausgesetzt natürlich, daß die Zensiten-
zunahme nicht durch rein formelle Ursachen, wie Verschärfung des
Einschätzungsverfahrens, Verminderung des Geldwertes u. s. w.
zu erklären sei). Findet man dann, daß die Zensitenzahl in allen
Stufen gleichmäßig zugenommen hat, so schließt man daraus,
daß die Einkommenvermehrung relativ in ähnlichem Maße
allen Zensiten zu gute gekommen ist, daß also die Art der Ein-
kommenverteilung sich nicht verändert hat. Wenn dagegen die
einzelnen Stufen eine verschiedene relative Zunahme auf-
weisen, so berechtigt diese Feststellung. nach Ansicht der Schrift-
steller, zu dem Schluß, daß die Einkommenverhältnisse sich bei ge-
wissen Gruppen rascher gebessert haben, als bei anderen, daß also die
relative Klassenlage der gesellschaftlichen Schichten
sich verschoben hat. In dieser Grundauffassung stimmen
die meisten Schriftsteller überein, darüber aber, wie z. B, eine
raschere Zunahme der Zensitenzahl in den oberen Stufen im Ver-
gleich zu den unteren auszudeuten sei, teilen sich die Ansichten.
Die Mehrzahl neigt doch zu der Auffassung, daß eine raschere Zu-
nahme der Zensitenzalıl in den oberen Klassen im Vergleich zu den
unteren, oder in den oberen und unteren im Vergleich zu den
mittleren auf eine zunehmende Einkommendifferenzierung,
auf eine ungleichmäßiger werdende Einkommenverteilung, deute.
Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVII), 37
578 ` Costantino Bresciani,
Dieses ist die Ansicht von Engel, F. J. Neumann, Bücher,
Heil u. a. In neuester Zeit schreibt Ad. Wagner !), die Ergeb-
nisse seiner Untersuchungen über die Tendenzen der Einkommen-
verteilung in Preußen zusammenfassend: „(Es ist) beachtenswert,
daß... . in jedem Zeitraum die Zensitenzahl stärker als die Be-
völkerung zugenommen hat . . . . das ist ein Zeichen günstiger wirt-
schaftlicher Gesamtentwicklung .... Es zeigt sich... .. aber als
ziemlich allgemeine Regel .... daß die Zunahme der Zensitenzahl
mit der Steigerung des Einkommens, das jede Gruppe umfaßt,
wächst, also von unten nach oben zu: je größer das Einkommen
der Zensiten einer Gruppe, je „reicher“, sie, danach bemessen, sind,
desto mehr vermehrt sich relativ ihre Anzahl .... Das Ergebnis
im ganzen ist daher: bei unzweifelhaft allgemein gestiegenem Wohl-
stande (höherem Einkommen) im Volke, jedenfalls in immer
größer gewordenen steuerpflichtigen Teil desselben (mit über
900 M. Einkommen des Zensiten) — eine Zunahme, die selbst schon
ein günstiges Sympton ist — hat zwar jede Gruppe... . auf die
Dauer ihre Zensitenzahl stark vermehrt, durchweg erheblich stärker
als der allgemeinen Volkszunahme entspricht. Aber diese Ver-
mehrung ist am schwächsten beim unteren und mittleren Mittel-
stande, etwas stärker beim obersten Mittelstande, am stärksten
jedoch und zwar zunehmend mit steigendem Einkommen von Gruppe
zu Gruppe beim obersten Mittel- und vollends beim ganzen Oberstande“.
„Daraus folgt der Schluß, daß die moderne wirtschaftliche Ent-
wicklung .... allerdings dem gesamten Volke in Einkommen-
erhöhung und jeder ökonomisch sozialen Klasse in Steigerung ihrer
Mitgliederzahl zu gute gekommen ist, aber doch in stark ungleichem
Male, am meisten den reicheren, dann der unteren Klasse, am
wenigsten den mittleren: daß demnach auch die soziale Klassen-
differenz, soweit sie auf Größe des Einkommens beruht, sich ver-
größert hat... .“
Für andere Schriftsteller dagegen ist eine raschere Zu-
nahme der oberen Zensiten vielmehr das Zeichen einer
günstigen Entwickelung, indem sie nur die Bedeutung hat,
daß die kleinsten und kleinen Einkommen sich rascher heben,
als die oberen und infolgedessen eine verhältnismäßige große An-
zahl von Zensiten von den unteren in die oberen Klassen aufsteigt.
„Wie anders“, bemerkt Soetbeer, „sollte sich bei den gegebenen
Bevölkerungs- und Wirtschaftszuständen ein erwünschtes Fortschreiten
des allgemeinen Wohlstandes und Erwerbs bemerkbar machen, als
eben dadurch, daß Jahr für Jahr aus den Klassen mit geringeren
Einkommen eine wachsende Zahl von Familien in höhere Klassen
einrücken und daß diese somit im Verhältnis zum Gesamteinkommen
eine steigende Quote aufweisen“? An anderer Stelle schreibt
1) Zeitschrift des preuß. stat. Bureaus, 1904, S. 85—86.
Ueber die Methoden der Einkommenverteilungsstatistik. 579
denn nicht, näher betrachtet, eben hierin gerade ein Beweis für die
zunehmende Verbreitung des Wohlstandes?... . Das bedeutet, daß
die kleinen Einkommen rascher wachsen und dadurch in höhere
Klassen einrücken, daß .... fortdauernd eine beträchtliche Fort-
schiebung aus den unteren in die höheren Klassen stattfindet !).*
Julius Wolf hat bekanntlich die geläufige Methode der Berech-
nung des Zensitenzuwachses in den einzelnen Stufen einer scharfen
Kritik unterzogen und als „unhistorisch“ und irreführend überhaupt
verworfen. Wenn man die Entwickelung der Einkommen der
einzelnen Gruppen verfolgen will, so muß man bedenken, schreibt
Wolf, daß „jeder Nachweis einer Entwickelung das frühere gegen
das heutige Verhältnis ins Auge fassen muß und daß das frühere
Verhältnis der einer Klasse zugewachsenen Zensiten ja ihre Zuge-
hörigkeit zu einer anderen war“. Es ist deshalb falsch, die Zahl
der sich in denselben Stufen befindenden Zensiten zu ver-
gleichen; man muß vielmehr berechnen, wie viele Zensiten aus
einer Stufe in die oberen aufgestiegen sind und je rascher der
Aufstieg aus einer Klasse, desto rascher ist die Einkommen-
hebung der Zensiten dieser Klasse. Wolf gibt folgendes Beispiel
seiner Methode: „Der Kanton Zürich zählte Inhaber, bez. Steuer-
pflichtige eines Vermögens von:
Franken 1848 1888
100— 2.000 25 991 21108
2 000—20 000 13 959 24 406
20 000—25 000 2409 6584
25 000 und mehr 81 484
Was wird nach der gegenwärtig üblichen, von uns unhistorisch
und falsch genannten Methode aus diesen Ziffern herausgelesen ?
Daß die Zahl der Zensiten sich erhöht hat, in der zweiten Klasse
um 75 Proz., in der dritten um 174 Proz., in der vierten um
500 Proz. Die Entwickelung erscheint also eine im höchsten Grade
ungünstige. Die großen Vermögen sind der Zahl nach im Laufe
der 40 Jahre außerordentlich gestiegen u. s. w. Nun ziehe man
aber gegenüber dieser Rechnung die folgende Darstellung in Be-
tracht. In Klasse II ist die Zahl der Zensiten scheinbar zuge-
wachsen um 10447. Diese Zahl ist aus der I. Klasse in die II.
aufgestiegen. Klasse I hat also an die II. 40 Proz. ihres Bestandes
abgegeben. In Wahrheit nur 40 Proz.? Nein mehr! Denn gleich-
zeitig sind aus Klasse II in Klasse III 4175 Zensiten aufgestiegen
und diese haben nun gleichfalls von unten her an die Klasse II
abgegeben werden müssen. Der Zuwachs daher ist also insgesamt
1047 + 4175 = 56 Proz. der Angehörigen jener Klasse, aus
welcher der Aufstieg erfolgte. Macht man die Rechnung in gleicher
Weise für die beiden anderen Klassen, so ergibt sich, daß aus:
Klasse I in Klasse II übergingen 14622 Pers. = 56 Proz.
» ir ” III $ DE EEE n
oA, 5 IV ş a SSR
1) Volkseinkommen im preußischen Staate. Conrads Jahrbücher, 1892.
37*
580 Costantino Bresciani,
Das Bild ist also ein dem vorigen vollständig entgegengesetztes,
Aus den kleinen Vermögen hat der Aufstieg im weitaus größten
Maße stattgefunden; geringer war der Anwachs der mittleren Ver-
mögen, und noch mehr steht jener bei den großen Vermögen
zurück" ....)
II. Ich halte die Wolfsche Grundauffassung für die einzig richtige
und ich will im folgenden eine Fortführung seiner Kritik der üb-
lichen Methode versuchen. Die Statistiker haben merkwürdigerweise
diese Methode als etwas Selbstverständliches angenommen, ohne eine
wissenschaftliche Begründung derselben zu geben.
Wolf selber hat aber meines Erachtens seine Methode teils nicht
ganz richtig angewandt, teils nicht zu Ende ausgedacht.
Zunächst bemerke ich, daß, um die Zahl der Zensiten zu er-
mitteln, die von der ersten Klasse in die zweite aufgestiegen ist,
nicht nur der Zuwachs der dritten Klasse, sondern auch derjenige
der vierten dem Zuwachs der zweiten Klasse zuzuzählen ist, wie
aus folgender Aufstellung erhellt:
Zahl der Zensiten mit Einkommen über:
Franken 1848 1888
100 42 440 52 582
2 000 16 449 31474
20 000 2 490 7 068
25 000 81 484
Aus der ersten Klasse in die zweite stiegen also 314īņ74—
16449 Zensiten, d. h. 15025, d. h. 10447 -+ 4175 -+ 403 auf: von
der zweiten in die dritte: 7068—2490 — 4578 u. s. w. Um also
die Zahl der aufgestiegenen Zensiten zu ermitteln, muß man be-
rechnen, wie viele Zensiten in den in Betracht gezogenen Zeitpunkten
ein Einkommen über eine gewisse Größe besaßen und die Differenz
zwischen dem Zensitenbestand in den einzelnen Stufen bilden. Das
tritt noch klarer aus folgendem fingierten Beispiel hervor:
In Preußen betrug 1905 die Zahl der Zensiten nach dem Ein-
kommen geordnet:
in den Einkominengruppen
M. I II
900— 3000 3 889 171
3 000— 6000 326 921 683 146
6 000— 93500 86 340 110 398
9 500— 30 500 70 943 72 483
30 500— 100 000 14 374 20 031
über 100 000 2859 4 296
Ich nehme an, daß jede Klasse 10 Proz. ihres Bestandes an
die obere abgebe; es ergibt sich dann die Reihe von Spalte II.
Wenn man umgekehrt aus der Vergleichung der beiden Reihen
untereinander ermitteln wollte, wie viele Zensiten aus einer Klasse
in die andere aufgestiegen sind, würde es sich, nach Wolfs Rechnung,
ergeben, daß die erste Stufe an die zweite 330283 (d. h. 35622
+ 24058) Zensiten abgegeben hat, während die tatsächliche Zahl
1) J. Wolf, Sozialismus und kapitalistische Wirtschaftsordnung, S. 235.
Ueber die Methoden der Einkommenverteilungsstatistik. 581
388917, d. h. !/,, des Bestandes der ersten Stufe, betrug; daß von
der zweiten Klasse in die dritte 25598 (d. h. 24058 + 1540)
Zensiten aufgestiegen sind, während die wirkliche Zahl sich auf 32 692
Zensiten bezifferte, u. s. w. Nach meiner Rechnung ergibt sich
aber die richtige Zahl der aufgestiegenen Zensiten sofort:
Es betrug die Zahl der Zensiten mit einem Einkommen über:
M. in der ersten Reihe in der zweiten Reihe Differenz
3000 501 437 890 354 358 917
6000 174 516 207 208 32 692
u. S. W. u. s. w.
Gegen Wolf hat man dann auch von anderer Seite das Bedenken
erhoben, daß er die „große Bedeutung der Klassenabgrenzung zumal
für seine Rechnungsweise nicht genügend gewürdigt habe“. „Das
Aufsteigen von 10 Proz. der Steuerpflichtigen aus einer Steuerklasse
von O bis 500 M. oder von 500—800 M. Einkommen“, bemerkt
Robert Meyer!) weiter „und aus einer Steuerklasse von 3300 bis
9500 M. sind doch ganz inkommensurable Vorgänge .... Bei
Klassen mit so weiten Grenzen bedeutet ein gleiches prozentuales
Aufsteigen der Zensiten eine viel stärkere Bewegung als bei Klassen
mit geringerer Spannung.“
Die Meyersche Kritik, die ich für ganz zutreffend halte, ver-
suche ich mit folgenden Betrachtungen zu vervollständigen. Aus
einer kurzen Erwägung wird sich ergeben, daß damit das Aufsteigen
einer Anzahl Zensiten aus einer Klasse und das Aufsteigen einer
Anzahl Zensiten aus einer anderen Klasse kommensurable Vorgänge
sind, das heißt, damit ein gleiches prozentuales Aufsteigen aus
allen Stufen als Zeichen einer relativ gleichen Einkommenhebung
aller Zensiten, ein stärkeres prozentuales Aufsteigen aus einzelnen
Stufen dagegen als Zeichen einer relativ stärkeren Besserung der
Einkommenverhältnisse der Zensiten dieser Stufen u. s. w. aufgefaßt
werden kann, es nötig ist, daß die Grenzeinkommen der
einzelnen Stufen in gleichen relativen Abständen auf-
einanderfolgen (d.h. eine geometrische Reihe bilden, so daß alle
Klassen die gleiche relative Spannung aufweisen). Nehmen
wir z. B. an, daß sich in den Stufen von 400 bis 600 M., 600 bis 900 M.,
900 bis 1350 M. eine Anzahl von je C,, Ca, C, Zensiten befinde
und daß diese eine Reihe bilden, die, nach der Höhe des Ein-
kommens geordnet, mit dem niedrigsten Einkommen beginnt und
mit dem höchsten endet. Bei einer Einkommenhebung von z. B.
50 Proz. werden alle C, in die zweite Klasse, alle C, in die
dritte Klasse, und alle C, in die oberste Klasse aufsteigen, d. h.
jede Klasse wird an die nächstobere 100 Proz. ihres Bestandes ab-
geben. Wenn die Zensiten dagegen in den Klassen von 400 bis 600 M.,
600 bis 1500 M. und über 1500 M. abgestuft sind, dann wird bei
einer Einkommensteigerung von 50 Proz. die erste Stufe wieder
100 Proz. ihres Bestandes an die nächstobere abgeben und ihre
Zensiten werden sich nunmehr auf die Strecke von 600 bis 900 M.
1) R. Meyer, Art. Einkommenverteilung im Handwörterbuch der Staatswissenschaften.
582 Costantino Breseiani,
verteilen; die Zensiten C, dagegen werden die Strecke von 900 bis
2250 M. besetzen, so daß die II. Klasse nicht 100 Proz. ihres Be-
standes, wie die erstere, an die nächstobere abgibt, sondern viel
weniger, weil die Einkommenhebung derjenigen Zensiten, die ein
Einkommen zwischen 600 und 1000 M. besaßen, innerhalb der Grenzen
derselben Klasse sich vollzieht. Sollte die II. Klasse auch 100 Proz.
ihrer Zensiten abgeben, so würde dies einer Einkommensteigerung
ihrer Zensiten nicht von 50 Proz., sondern von 150 Proz. gleich-
kommen u. s. w. — Diese Bemerkungen vorausgesetzt, wollen wir
an der Hand von fingierten Beispielen untersuchen, welche Ver-
schiebungen in der Zensitenzahl der einzelnen Stufen von einem
gleichen prozentualen Aufsteigen der Zensiten aus einer Klasse in
die nächstobere hervorgerufen werden.
In den folgenden Beispielen habe ich die Einkommengrenzen
so abgestuft, daß alle Klassen, wie der Leser leicht konstatieren
kann, die gleiche relative Spannung aufweisen. Ich nehme an, daß
1/ọ der Zensiten einer jeden Klasse in die nächstobere aufsteigt:
das bedeutet also eine relativ gleiche Einkommen-
steigerung für alle Zensiten, und die Art der Einkommen-
oder Vermögensverteilung bleibt natürlicherweise unverändert.
I. Einkommenverteilungin Holland:
im Jahre 1904 Zunahme der Zensiten
Gulden Zensiten Proz.
625— 1250 276 680 !)
1 250— 2500 77 420!) 7 346 25,7
2 500— 5 000 21 606 27 188 258
5 000 — 10 000 5 961 7525 26,2
10 000— 20 000 1737 2 150 213
über 20 000 646 820 26,9
II. Einkommenverteilung in Hessen:
im Jahre 1901/02 Zunahme der Zensiten
M. Zensiten Proz.
1125— 2250 53 575 ')
2 250— 4500 18 395 ') 21913 19.1
4 500— 9.000 6707 7876 17,4
9 000— 18 000 2174 2627 20,9
18 000— 36 000 755 > 897 18,8
über 36 000 418 493 17.9
III. Einkommenverteilung in Preußen:
im Jahre 1875 Zunahme der Zensiten
M. Zensiten Proz,
900— 1800 1 059 822
1 Soo— 3 600 250 742 331650 32
3 600— 7 200 73659 91 367 24,0
7 200—14 400 21 803 27 042 Par
14 400—28 800 6674 8 193 a
über 28 000 3 406 4133 192
1) Diese Zahl ist interpoliert worden.
Rn
=
Ueber die Methoden der Einkommenverteilungsstatistik. 5
IV. Vermögensverteilung in Preußen:
im Jahre 1905 Zunahme der Zensiten
M. Zensiten Proz.
I 125— 6 000 1792 279 !)
6000— 32000 914 273 I 002 073 95
32 000— 170670 394 900 440 837 13,1
170 670— 910 200 61451 94 796 542
910 200—4 854 000 7979 13 326 67,0
über 4 854 000 618 1416 129,2
V. Vermögensverteilung in Basel:
im Jahre 1887 Zunahme der Zensiten
Franken Zensiten Proz.
5 000— 20000 1406
20 000— 80.000 1244 1260 1.2
80 000— 320 000 730 781 7,0
320 000— 1 280 000 274 320 16,7
über 1 280 000 ?) 75 102 36,0
VI. Einkommenverteilung in Hamburg:
im Jahre 1901 Zunahme der Zensiten
M. Zensiten Proz.
1000— 3165 114 080
3 165— 10000 18 715 28 232 50,8
10 000— 31650 5 008 6379 27,0
31 650— 100 000 1449 1839 26,9
1 00 000— 3 16 500 302 433 43.3
über 316 500 54 °) 84 555
Eine gleiche Einkommenhebung für alle Zensiten
hat also sehr verschiedene Wirkungen in Bezug auf
die prozentualeZunahme der Zensitenzahlin den ein-
zelnen Stufen hervorgerufen. Es hat sich namentlich bei
den ersten zwei Beispielen und besonders bei den holländischen
Zensiten einungefähr gleicher prozentualer Zuwachs für
alle Stufen ergeben, im III. Beispiel dagegen nimmt die
relative Zunahme mit dem Wachsen des Einkommens
ab; im Gegenteil im IV. und V. Beispiel wächst die relative
Zunahme der Zensitenzahl mit der Größe des Ein-
kommens, und diese Bewegung vollzieht sich mit ununterbrochener
Regelmäßigkeit und sehr rasch. (Der Zuwachs betrug im IV. Bei-
spiel für die erste Stufe 9,5 Proz. und stieg bis auf 129,2 Proz. bei
1) Diese Zahl ist extrapoliert worden; ihr muß sonst keine Bedeutung beigemessen
werden, Die drei letzten Einkommengrenzen sind in Wirklichkeit: 170.000, 900 000, 5 Mill. M.
2) Die beiden letzten Vermögensgrenzen sind in Wirklichkeit 325000 und 1300000.
3) Diese Zahlen sind mittels Interpolation gewonnen worden. Auf die Art, wie
das geschehen ist, gehe ich nicht ein, weil das für die Zwecke der folgenden Ausfüh-
rungen ganz gleichgültig ist. Die beobachteten Zahlen sind: von 1000 bis 3000 M.
112427; von 3000 bis 10000 M. 20368; von 10000 bis 30.000 M. 4568; von 30000
bis 100 000 M. 1589; von 100000 bis 300000 M. 302; über 300000 M. 54. Siehe:
Für Holland: Jaareijfers voor het Koninkrijk der Nederlanden — Rijk in Europa, 1904;
für Hessen: Statistische Mitteilungen des Großherzogtums Hessen, 1903; für Preußen,
Preußische Einkommen- und Ergänzungsteuerstatistik für 1905 und den vorerwähnten
Aufsatz Ad. Wagners; für Basel: Bücher, Basels Staatseinnahmen und Steuerverteilung,
1888; für Hamburg, Statistik des hamburgischen Staates, Heft XXII, 1904.
584 Costantino Bresciani,
der letzten Stufe.) Das IV. Beispiel zeigt eine kompliziertere Be-
wegung. Zunächst nimmt die relative Zunahme der
Zensitenzahl mit dem Wachsen des Einkommens ab,
und zwar bis zur Stufe 31 650—100000 M.; von dieser Stufe an
aber ist der Verlauf der Zunahmeraten gerade der
entgegengesetzte.
Der Statistiker, dem diese Aufstellungen über die Verteilung
der Zensiten an zwei verschiedenen Zeitpunkten zur Prüfung über-
geben würden und welcher aus den Differenzen der Wachstumsraten
der einzelnen Gruppen Schlüsse in Bezug auf die Entwickelung der
Einkommenverteilung ziehen wollte, würde also das Richtige treffen,
wenn er aus der im I. und II. Beispiel konstatierten ungefähr gleichen
relativen Zunahme aller Zensiten ableitete, daß die relative Klassen-
lage der Zensiten ungefähr dieselbe gewesen ist, daß die neuere
wirtschaftliche Entwickelung allen in ähnlichem Maße zu gute ge-
kommen ist u. s. w. Aber wenn dieser Statistiker in ähnlicher Weise
für Beispiel IV, V und VI den Schluß zöge, daß eine Differenzierung
der Klassenlage der Zensiten stattgefunden hätte, nämlich im ersten
und zweiten Falle eine mit der Größe des Einkommens zunehmende
Besserung der Einkommenverhältnisse der Zensiten, und im dritten
Falle eine relativ beträchtlichere Einkommensteigerung bei den kleinen
und großen Zensiten als bei den mittleren, so daß die Brücke, die
die Armen mit den Reichen verbindet, schmäler geworden wäre, u. s w.
würde er sich arge Fehlschlüsse zu schulden kommen lassen. Ebenso
wäre es falsch, aus den Zuwachsraten des III. Beispiels, die eine von
unten nach oben abnehmende Tendenz zeigen, eine relativ günstigere
Entwickelung der Einkommenverhältnisse der unteren Klassen in
Vergleich zu den oberen abzuleiten.
Ich will aber eine, übrigens sehr leichte Erklärung dieser Er-
gebnisse versuchen und ich glaube, daß ich dabei am besten ver-
fahre, indem ich solche Vorgänge durch einige graphische Darstellungen
veranschauliche.
Pareto istzunächst auf den Gedanken gekommen, die Verteilung
der Zensiten nach der Größe des Einkommens durch ein loga-
rithmisches Diagramm darzustellen. Man trägt auf eine
y-Achse die Logarithmen der Zahlen der Zensiten, die ein Einkommen
über x beziehen, und auf eine x-Achse die Logarithmen der ent-
sprechenden Grenzeinkommen ein.
Wenn man dann eine Kurve sucht, die sich am einfachsten an
die dadurch bestimmten Punkte anschließt, findet man nach Pareto,
daß im allgemeinen eine einfache Gerade (manchmal eine Parabel
zweiten Grades) die Bewegung der Punkte mit befriedigender An-
näherung wiedergibt.
Die Gleichung dieser Geraden ist dann: log. N = log. A—e log. x;
wo N die Zahl der Zensiten bedeutet, die ein Einkommen über x
beziehen. Die Neigung der Geraden gegen die x-Achse ist negativ,
d. h. die Gerade fällt bei wachsendem x gegen die x-Achse, weil
die Zensitenzahl mit dem Wachsen des Grenzeinkommens abnimmt.
Ueber die Methoden der Einkonmenverteilungsstatistik. 585
Der Wert von « ist direkt proportional der Größe des Winkels, den
die Gerade mit der x-Achse bildet, welche Größe die Neigung der
Geraden auf die x-Achse angibt. Pareto nimmt deshalb den Wert
von «æ als ein gutes Kriterium einer gleichmäßigeren oder ungleich-
mäliigeren Einkommenverteilung.
Dieses zum besseren Verständnis des Nachstehenden vorausge-
setzt. kehren wir zu unseren Beispielen zurück.
Folgende Untersuchung geht von dieser Definition aus, mit der
der Leser, wie ich annehme, ohne weiteres einverstanden sein wird:
Wenn alle Einkommen der Zensiten in demselben Verhältnis zu-
nehmen, so bleibt die Art der Einkommenverteilung unverändert.
Wenn das Einkommen der Zensiten in desto rascherem Verhältnis
zunimmt, je höher es ist, so wird die Einkommenverteilung ungleich-
mäßiger. Wenn dagegen das Einkommen der Zensiten in desto lang-
samerem Verhältnis zunimmt, je höher es ist, so wird die Einkommen-
verteilung gleichmäßiger. In den folgenden Beispielen bleibt die
Gesamtzahl der Zensiten, die auf mehrere Einkommenstufen ver-
teilt sind, konstant, und es wird untersucht, wie, infolge der Ver-
änderungen der Einkommen derselben, die Zahlen der auf die
einzelnen Stufen fallenden Zensiten sich verschieben. Dabei muß
man nicht außer acht lassen. daß in der amtlichen Statistik nicht
alle Einkommenbesitzer überhaupt, sondern nur diejenigen aufge-
führt werden. die sich zwischen zwei bestimmten Einkommengrenzen
befinden (z. B. von 900 bis über 100 000 M.).
Die Reihe 1 von S. 582 verwandele ich zunächst in folgende
Reihe (ich nehme diesmal nur beobachtete Zahlen):
Einkommenklassen Zahl der Zensiten
über 600 Gulden 310 069
» 150 „ 70 958
n 2 500 » 29 950
n” 5 000 n” 8 344
„ 10000 7 2 383
„» 20000 s 646
Wenn man die Logarithmen der Zensitenzahlen in der oben
angedeuteten Weise auf die Achse O Y, die Logarithmen der Grenz-
einkommen auf die Achse O X einträgt, ergibt sich folgendes Dia-
gramm, woraus man sieht, daß die Bewegung der Punkte durch die
Gerade a b ganz gut wiedergegeben werden kann!).
1) Die Annäherung ist zum Beispiel von 2500 Einkommen aufwärts sehr gut.
Wenn man die beobachteten Zahlen nach der Methode der kleinsten Quadrate interpoliert
(für die Erklärung und Anwendung der Methode, siehe Pareto, „Tables pour faciliter
application de la methode des moindres carrés“. Communication présentée A la Société
suisse de statistique, Lausanne 1898), so ergibt sich folgendes:
Logarithmen Zahlen
beobachtete berechnete beobachtete berechnete Diff.
447639 447711 über 2500 M. 29 950 29 999 + 39
392137 3 92372 „ 5000 „ 8344 8 389 +45
377712 3 37034 „ 10000 „ 2383 2 346 =
2 81323 2 81695 a: 20:000; „, 640 656 — 10
Diese Uebereinstimmung ändert übrigens nichts an der Tatsache, daß die Paretosche
586 Costantino Bresciani,
Bei der Hypothese einer relativ gleichen Hebung aller Ein-
kommen wird offenbar die Gerade ab einfach nach rechts geschoben
und nimmt z. B. die Stellung
von a’b‘, die der Geraden
ab parallel ist. Ich erinnere
an die bekannte Eigentün-
lichkeit der logarithmischen
Diagramme, die darin be-
steht, daß gleiche Seg-
mente, gleichwie in
welchem Teil der Skala
siesich befinden, eine
gleiche prozentuale
Zunahme bedeuten.
Wie man sieht, ist infolge
dieser Einkommenhebung
die Zensitenzahl in allen
Klassen!) gewachsen, und es
At’ istnämlichMN=OP=RS
"A, ws u.s. W., d. h. dierelative
Zunahme ist für alle
Stufen die gleiche’.
Dagegen in der Hypothese,
daß das Einkommen der Zensiten sich desto rascher steigerte, je höher
diese sich auf der Einkommenskala befinden (so daß die Gerade ab
sich z. B. nach a‘ b‘ verschiebt, hätte man: MN'<OP’'<RS' u.s. w.
d. h. die relative Zunahme der Zensitenzahl ist desto
größer, je höher die Klasse. Das umgekehrte Ergebnis hätte
man in der Annahme einer rascheren Steigerung der unteren Ein-
kommen.
Umgekehrt, wenn man setzt : M N = O P = R S u. s. w. so folgt dar-
aus: E F=GH=IL u.s. w.; wenn man setzt: MN'<OP'’<RY
u. s. w., so folgt daraus: E F'<GH'<IL'; d.h. wenn die Zen-
sitenzahl die gleiche relative Zunahme in allen Stufen
rs
0 3
+t
x
&
Formel nur eine empirische ist und uns gar keinen Aufschluß über die Ursacheu
der Gestaltung der Einkommenverteilung zu geben vermag (vergl. v. Bortkiewiez,
Die Grenznutzentheorie als Grundlage einer ultraliberalen Wirtschaftspolitik, Schmollers
Jahrbuch 1898, und Edgeworth, On the representation of statistics by mathematical
formulae, Journal of the R. Statist. Society, 1898).
1) Die einzelnen Ordinaten stellen die einzelnen Klassen dar.
2) Daß die Zensiten in nach oben und nach unten abgegrenzten Gruppen, oder in
solchen, die nach oben offen sind, geordnet werden, ist für die Wirkung eines Aufrückens
der Zensiten auf die relative Zunahme der Zensitenzahl in den einzelnen Gruppen gleich-
gültig; denn es ist klar, daß, wenn die nach der letzteren Art gebildeten Gruppen
eine gleiche relative Zunahme oder eine mit der Größe des Einkommens größer oder
kleiner werdende Zunahme aufweisen, dasselbe für die nach der ersteren Art gebildeten
Gruppen zutreffen wird, wie übrigens die vorigen arithmetischen Beispiele zeigen.
Ueber die Methoden der Einkommenverteilungsstatistik. 5837
aufweist, so ist derSchluß richtig, daß allen Zensiten
eine gleiche Einkommenhebung zu gute gekommen
ist; wenn dagegen die relative Zunahme der Zensiten
größer in den oberen Stufen ist, alsin den unteren,
so deutet das in der Tat auf eine ungleichmäßige
Entwickelung
der Einkom-
men, auf eine
größere Ditffe-
renzierung der-
selben hin.
Aus diesem
ersten Beispiel
scheint also die
Berechtigungdes
üblichen Rech-
nungsverfahrens
und die Halt-
losigkeit der
Wolfschen Kritik
hervorzugehen.
Ich greife
jedoch zu einem
anderen Beispiel,
nämlich zu der
Reihe IV von
Seite 583, welche
die Vermögens- 5
verteilung in
Preußen (1905) darstellt. Graphisch dargestellt, ergibt diese Reihe
obenstehendes Diagramm.
Wie man sieht, genügt in diesem Falle die einfache Interpolation
nicht, denn wenn nian die Bewegung der Punkte als geradelinig voraus-
setzen wollte, würde man allzu große Abweichungen erhalten. Ich
zeichne daher die Kurve ab, die sich mit viel größerer Annäherung
an die gegebenen Punkte anschließt 1).
1) Die Interpolation mit der Methode der kleinsten Quadrate ergibt:
Beobachtete Berechnete Logarithmen
Logarithmen I Differenzen II Differenzen
6 13963 6 36162 + 0,22199 6 15716 + 0,01753
5 66740 551858 — 0,14882 5 62081 — 0,04659
4 84539 467555 — 0,16984 4 88001 + 0,03462
3 93434 3 83255 — 0,10179 3 93475 + 0,90041
2 79098 2 98948 + 0,19850 2 78502 — 0,00596
Die Spalte I enthält die berechneten Logarithmen, die sich aus einer linearen
Interpolation ergeben; wie man sieht, sind die Differenzen zwischen ihnen und den
beobachteten recht bedeutend; sie vermindern sich, wenn man eine Kurve zweiten
o
(0 e]
n
Costantino Bresciani,
Wenn nun das Einkommen aller Zensiten sich in demselben
Verhältnis hebt, verschiebt sich die Linie ab z. B. nach a'b'.
Man betrachte nun, wie sich infolgedessen die Zahlen der Zensiten ver-
ändern, welche sich in den Stufen innerhalb der Einkommengrenzen
x und z befinden. Aus dem Diagramm ist ersichtlich, daß MN <
OP<RS u. s. w.; d.h. je höher das Einkommen, desto
größer ist die relative Zunahme der Zensitenzahl in
den einzelnen Stufen.
Auch eine Berechnung von a für die beiden Kurvenstücke cd
und c’d‘ würde einen verschiedenen Wert von at) (für cd’ einen
kleineren Wert als für cd) ergeben, was auf eine Veränderung der
Art der Einkommenverteilung deuten würde. Es geht aber sofort
aus dem Diagramm hervor, daß es (unter der hier gemachten Voraus-
setzung) methodologisch falsch wäre, die Kurvenstücke
ed und ¢'d' zu vergleichen und daß ed im Gegenteilmit
ed" zu vergleichen ist, weil eben nur diese letzteren
die Bogenstücke sind, welche die Verteilung derselben
Zensiten an den beiden in Betracht gezogenen Zeit-
punkten darstellen. Fine Berechnung von «œ würde in der
Tat, wenn man sie für ed und c” d“ ausführte, dasselbe numerische
Ergebnis liefern und somit bestätigen, daß unserer Hypothese ge-
mäß die Art der Verteilung unverändert geblieben ist. Auch das
Paretosche Kriterium ist also nur mit besonderer Vorsicht anzu-
wenden. Eine mit der Größe des Einkommens wachsende relative
Zunahme der Zensitenzahl ist also in diesem Fall und unter den
hier gemachten Voraussetzungen biszu einem gewissen Punkte
lediglich die Folge einer für alle Zensiten gleichen Einkommenhebung;
erst darüber hinaus würde sie auf eine tatsächliche Zunahme
der Einkommendifferenzierung hindeuten.
Die graphische Darstellung des VI. Beispiels ergibt nachstehendes
Diagramm.
Ich ziehe durch die Punkte, die die tatsächliche Verteilung der
Zensiten darstellen, die Kurve ab. Bei einer in ähnlicher Weise
wie in den früheren Beispielen fingierten gleichen Einkommen-
hebung für alle Zensiten verschiebt sich die Linie ab z. B. nach a’b.
Wenn man die beiden Kurvenstücke c d und c‘d‘ vergleicht, ist es aus
dem Diagramm ersichtlich, daß MN<OP u. s. w. und daß dann
TU<VZ u.s.w, d. h. bei gleicher Einkommenhebung
Grades interpoliert, wie Spalte II zeigt. Es folgt eine Gegenüberstellung der beobachteten
und der berechneten Zensitenzahlen:
Beobachtete Zahlen Berechnete Zahlen
über 6000 M. 1379 221 1436 200
„ 32000 „ 464 948 417 650
» 170670., 70.048 75 860
» 4854000 „, 618 609
1) In diesem Fall gibt der Wert von a die Neigung auf die x-Achse der Ge-
raden an, die das Kurvenstück interpoliert.
|
|
Ueber die Methoden der Einkommenverteilungsstatistik. 589
füralleZensitenwirddierelative Zunahme der Zensiten-
zahl in den einzelnen aufeinanderfolgenden Stufen
zunächst desto klei-
ner, dann desto grö-
ßer,jehöher dasEin-
kommen.
Es erhellt also auch
aus diesem Beispiel, daß ,°
es verfehlt ist, die
Bogenstücke cd und
ed‘ zu vergleichen;
man muß cd mit c"d“
vergleichen. Bei unse- ,
rem ersten Beispiel ist
dieser methodologische Feh-
ler verdeckt geblieben, weil
der Wert von « (d.h. die Nei-
gung der Geraden ab auf T i
die x-Achse) natürlicher- ? x
weise derselbe für alle v .
Stücke der Geraden a b ist, pe ne
während für die einzelnen
Stücke einer konvexen oder 073 i 5
konkaven Kurve der Wert
von « verschieden ist?!).
Aus dem Vorstehenden geht also klar hervor, daß es an der
verschiedenen Form der (logarithmischen) Einkommenkurve liegt,
wenn eine gleiche Einkommenhebung verschiedene, ja gar entgegen-
gesetzte Wirkungen in Bezug auf die relative Zunahme der Zensiten-
zahl in den einzelnen Stufen hat. Diese Wirkungen sind verschieden,
je nachdem die logarithmische Einkommenlinie die Form einer Ge-
raden, einer gegen die Achsen konkaven Kurve [Wolfs Kritik bezieht
sich nur auf diesen Fall?)], oder einer konvexen Kurve aufweist,
d. h. je nachdem mit dem Wachsen des Einkommens
die Zensitenzahl in den aufeinanderfolgenden Stufen
in demselben Verhältnis für die ganze Reihe), oder
in rascherem Verhältnis, oder in langsamerem Ver-
hältnis abnimmt.
Man betrachte die Reihen von Seite 582. Wenn die Abnahme-
1) Den Leser, dem das Vorstehende nicht ganz klar wäre, muß ich auf das Kapitel
„La courbe des revenus“ in Paretos Cours d’&conomie politique, Bd. 2, Lausanne 1897,
verweisen. Ueber die Bedeutung und Berechnung von a siehe: Pareto, „Sul modo
di figurare i fenomeni economici“ (in „Giornale degli economisti“ 1897). Ferner:
Benini „Di alcune curve descritte da fenomeni economici“ etc., ebenda 1897, und „I
diagrammi a scala logaritmica“ (in den Festgaben für Adolf Wagner, 1905).
2) Seine Reihe (S. 579) würde in der Tat, auf einem logarithmischen Diagramm
veranschaulicht, eine gegen die Achsen konkave Kurve ergeben.
3) Bei einem logarithmischen Diagramm bedeutet eine gleiche Neigung eine
gleiche (positive oder negative) Zuwachsrate.
590 Costantino Breseiani,
rate der Zensitenzahl genau dieselbe für die ganze Reihe ist, so
besteht die Gleichung:
= = - SS: W:
N° NET Ni u w. (1)
wo Nì, N?, NË... . die Zahl der Zensiten bedeuten, die ein Ein-
kommen zwischen a und b, bezw. b und e, c und d... . beziehen,
und wo außerdem a<b<e....unda,b,c,d.... eine geo-
metrische Reihe bilden. Aus (1) folgt z. B.:
N_NM+mN—mN
N NtmN—ıkX;
wo m ein echter Bruch ist. Aus der I. Reihe hat man demgemäß:
276 680 7740 3 21 606 5961
er —. 3,0 — = 3,58 —_ = 3,62 - = 3.43
17 420 i 21 606 a8 5961 36 173 dii
Daraus folgt:
77420 7720 4 KENI 680 — o TT 420 9i
21606 21 606 Æ 74 77420 — Bl 606 271
und:
97346 _ 27188
17420 21606
Die kleinen Unterschiede in den Quotienten erklären sich eben
damit, daß bei dieser Reihe die Abnahmerate der Zensitenzahl nicht
genau, sondern nur annähernd dieselbe für die ganze Reihe ist.
Im Falle aber, wo die Abnahmerate mit dem Wachsen des Ein-
kommens zunimmt, hat man:
x N - Ni
ESN ON
Die Reihe IV hehe ein Beispiel dafür. Aus derselben er-
gibt sich:
u. S. W.
1792279 cn. 914273 394 900 o: GLL ai
bad m . er 3 3 EN =f 49. en 0
gaa a gonga
und z. B.
304900 _ 394.900 + 11 914273 — 115 304900 _ 446837 _ 47]
61451” 61451 + 15394000 — 7, 61451 94796
woraus:
H6837 _ 94796
394900 ” 61451
Im Falle endlich, wo die Abnahmerate der Zensitenzahl mit
dem Wachsen des PAINDIRER) abnimmt, hat man:
b A
D N
>. >- u. 8. W.
Ueber die Methoden der Einkommenverteilungsstatistik. 591
Es ergibt sich aus der Reihe III:
1059 822 250742 73650- aaa PIROS osc
gore a O Or areg OS po A
und z. B.:
250742 _ 2507424 s's 1059822 — 115 200742 _ 331650 _ 3 45
73659 C 73659475 2072 7, 73659 91367 2
woraus:
331650 _ 91367
250 742° 73659
Die vorigen arithmetischen Beispiele zeigen auch, daß die von
Wolf aufgestellte!) und nach ihm von vielen anderen Statistikern
wiederholte Behauptung, daß die „oberste“ Klasse notwendigerweise
eine größere Zuwachsrate aufweisen müsse, als die anderen Klassen,
weil sie nur von unten empfange, aber nach oben nichts abgebe, nicht
stichhaltig ist. Wolf läßt dabei außer acht, daß, wenn auch dieser
Umstand dazu beitragen muß, die relative Zunahme der oberen Klasse
zu vergrößern, andererseits die oberste Klasse, eben weil sie nach
oben nicht abgegrenzt ist, relativ stärker mit Zensiten besetzt ist, als
(lie anderen nach unten und nach oben abgegrenzten Klassen, sodaß
ihr absoluter Zuwachs von Zensiten aufeinen relativ
größeren Bestand bezogen wird, was natürlicherweise den
relativen Zuwachs wieder verkleinern muß.
Aus der I. Reihe ergibt sich wieder:
737 596 Sr 21 606 N
- — 2,68; m: IB = 2,55; TAAL zm = 2,60;
646 17357 +- 646 D961 + 17537 + 646
17420 >
snr — — oa aaa == a28 u s. w., und daraus z. B.:
21 606 + 5961 + 1737 + 646 à
1737 . ; 1737 7 170561 — qo 1737 _2159 p
-— ist ungefähr gleich — l , = 203
a Ze 64641737 = 820 7
Ich wiederhole, daß die kleinen Unter schiede in den Quotienten
sich damit erklären, daß die Abnahmerate nicht genau die gleiche
für die ganze Reihe ist.
Aus der IV. Reihe ergibt sich dagapen:
1979 61451 304 900
a, ILS ri 5
618 T979 + 618 OTILIEI 8
und daraus:
= 5,65 u.s. W.
7979 _ 7979 + 115 61451 — 15 T979 _ 13326
ig ő 4 á ZA
618 7 618 F 47979 Fer
1) „Die oberste Klasse“ schreibt Wolf „ist nach oben vollständig offen, sie gibt
von den ihr einmal Zugewachsenen keinen wieder ab. Dadurch unterscheidet sie sich
aber substantiell von den anderen Klassen, und darf die Steigerung von vornherein,
auch in bisheriger Weise gemessen, hier größer als in anderen und eigentlichen d. h.
zweiseitig begrenzten Klassen sein...... Die anderen, wenn sie empfangen, verlieren
gleichzeitig, geben nämlich nach oben ab..... “ Sozialismus S. 237.
592 Costantino Bresciani,
Aus der III. Reihe ergibt sich endlich:
6674 1.92: 21863 5 15: 73659 — 930
3466 2 66T4 +3466 021863466744 3466 7
u. s. w., und daraus:
6674 6674 + ry 21863 — 15 6674 _ 8193
3466 T 3466 + ry 6674 "4133
Wenn also die Zensitenzahl mit dem Wachsen des Einkommens
in demselben Verhältnis für die ganze Reihe abnimmt, muß bei
einer für alle Zensiten gleichen Einkommenhebung die relative Zu-
nahme der Zensitenzahl in der obersten Stufe derjenigen der anderen
Stufen gleichkommen. Wenn sie dagegen in der Reihe IV größer
ist als die der anderen Stufen, so hängt das nicht mit ihrer
Eigenschaft als „oberste Klasse“, sondern mit der Tatsache
zusammen, daß in diesem Beispiel die Zensitenzahl mit dem
Wachsen desEinkommensinimmerrascherem Verhält-
nis abnimmt. Wenn dagegen die Abnahmerate der Zensitenzahl
mit dem Wachsen des Einkommens abnimmt, ist die relative Zu-
nahme der obersten Klasse am kleinsten.
III. Den vorigen Beispielen lag die Hypothese einer konstanten
Bevölkerung zu Grunde. In Wirklichkeit aber ist nicht der ganze
Zuwachs an Zensiten, der einer Stufe zugute kommt, auf Einkommen-
hebung, auf Vermehrung des Wohlstandes u. s. w. zurückzuführen.
Von rein formellen Ursachen, wie einer schärferen Einschätzung, ab-
gesehen, hängt die Zunahme der Zensitenzahl auch vor allem mit
der Zunahme der Bevölkerung, dann aber auch mit der Zu-
nahme der Erwerbstätigkeit, mit der Verschiebung des Verhältnisses
der beiden Geschlechter (und speziell der erwerbstätigen Mitglieder
derselben) zueinander und mit Veränderungen in der Alterszusammen-
setzung der Bevölkerung zusammen.
Die Bevölkerung eines Staates ist nicht konstant, sondern nimmt
infolge des Geburtenüberschusses (von Ein- und Auswanderungen ab-
gesehen) in allen Einkommenstufen zu; jedes Mitglied einer neuen
Generation bleibt während einer längeren oder kürzeren Reihe von
‚Jahren bei seiner Familie, und nachdem es eine der von der wirtschaft-
lichen Entwickelung fortwährend geschaffenen neuen Stellen besetzt hat.
erscheint es selbständig auf den Zensitenlisten. Auf diese Weise
erfährt also jede Stufe einen Zensitenzuwachs, der
mit allgemeiner Einkommenhebung nichts zu tun hat,
sondern lediglich von der Bevölkerungszunahme be-
dingt ist. Deshalb deutet eine Zunahme der Zensitenzahl in allen
Stufen, nach der berechtigten Ansicht der Statistiker, erst dann aut
eine allgemeine Besserung der Einkommenverhältnisse hin, wenn in-
zwischen die Bevölkerung in langsamerem Tempo zu-
genommen hat.
Im Diagramm von S. 537 würde man, in der extremen Voraus-
setzung, daß die Einkommen stabil geblieben wären, und daß die
Zunahme der Zensitenzahl lediglich mit der (sei es durch natür-
= 1,98.
Ueber die Methoden der Einkommenverteilungsstatistik. 593
lichen Geburtenüberschuß oder durch Einwanderung hervorge-
rufenen) Bevölkerungszunahme zusammenhinge, die beiden Kurven-
stücke ed und e‘d’ richtig miteinander vergleichen. Nur in diesem
Falle also würde die übliche Rechnungsmethole ohne weiteres anwend-
bar sein; eine für alle Stufen gleiche prozentuale Zunahme würde dann
bedeuten, daß sich neue Einkommen in allen Stufen gleichmäßig
gebildet haben; eine kleinere Zunahme in den mittleren Stufen, als
in den untersten und obersten würde bedeuten, daß neue Ein-
kommen sich verhältnismäßig weniger in den mittleren Stufen ge-
bildet haben, als in den anderen, was wohl auch als eine zunehmende
Differenzierung der Einkommen aufzufassen wäre, u. s. w.
Daß bei der Berechnung der Zahlen der Zensiten, die von einer
Klasse in die obere aufgestiegen sind, auf die Tatsache der Be-
völkerungszunahme Rücksicht genommen werden muß, ist von Wolf
nicht beachtet worden. Die Art des von ihm begangenen Fehlers ist
am besten aus folgendem hypothetischen Beispiel ersichtlich. Ich nehme
wiederum die Reihe IV von Seite 583 und unterstelle, daß gleich-
zeitig mit einer allgemeinen Einkommenhebung, infolge deren 10 Proz.
des Zensitenbestandes jeder Klasse in die nächstobere aufsteigen, im
Zusammenhang mit der Bevölkerungszunahme die Zahl der Zensiten
in jeder Stufe um 5 Proz. zunehme. Wir haben dann folgende
Verteilung: (2. Spalte.)
e Scheinbar aufge- Wirklich aufge-
Verteilung A F ` k Pafo:
Stufen ; B stiegene Zensiten stiegene Zensiten
im Jahre 1905 x
Proz. Proz.
6 000— 32000 914 273 1047 787 13,8 10
32 000— 170600 394 900 466 582 12,5 10
170 600— 910 200 61451 97 868 10,8 10
910 200—4 854 000 7979 13,725... 10,7 10
über 4 854 000 618 1447 10,4 10
Wenn man nun das relative Aufsteigen der Zensiten von einer
Klasse in die obere berechnete, ohne zu berücksichtigen, daß ein
Teil des Zuwachses nicht auf eine allgemeine Ein-
kommenhebung, sondern lediglich auf die Bevölke-
rungszunahme zurückzuführen ist, würde man zu den rela-
tiven Zahlen der Spalte 3 gelangen. Die Nichtbeachtung dieses
Umstandes hat also in vorliegendem Beispiele zur Folge: 1) daß
das Aufrücken der Zensiten von unten nach oben, also die allgemeine
Besserung der Einkommenverhältnisse, beträchtlichererscheint,
als sie in Wirklichkeit ist; 2) daß das Aufrücken der Zen-
siten relativ um so kleiner erscheint, je höher die Stufe, daß also
die unteren Einkommen stärker angewachsen zu sein
scheinen, als die oberen; während in der Tat die Einkommen-
hebung die gleiche für alle Zensiten gewesen ist.
Betrachten wir nochmals das Diagramm von Seite 587. Bei
einer konstanten Bevölkerung wird man, wie gesagt,
die Kurvenstücke c d und c” d” vergleichen müssen,
wenn dagegen die Bevölkerung gleichzeitig mit der Besserung der
Einkommenverhältnisse zunimmt, und wenn z. B. die Segmente c h
Dritte Folge Bd. XXXDI (LXXXVIII). 38
594 Costantino Bresciani,
und d h’ die relative Zunahme der Zensitenzahl darstellen, welche
auf die Bevölkerungszunahme zurückzuführen ist, ist nur der Ver-
gleich zwischen e d und c” d“ der methodologisch richtige.
Das Vorhergesagte gilt für den Fall, wo die (logarithmische)
Einkommenkurve, wie in diesem Beispiel, gegen die x-Achse konkav ist.
Wenn dagegen die (logarithmische) Zensitenlinie eine Gerade ist (also
im Falle wo: N=Ax-e), würde man bei Nichtbeachtung des ange-
deuteten Umstandes nur den ersten Fehler begehen. Wenn endlich
die (logarithmische) Einkommenkurve gegen die Koordinatenachsen
konvex ist, würde sich, außer einer scheinbar rascheren Einkommen-
hebung für alle Zensiten überhaupt, ein scheinbar langsameres
Aufsteigen der Zensiten in den unteren Stufen, alsin
den oberen, also eine ungleichmäßigere Einkommenverteilung
herausstellen.
Das Beispiel zeigt also, daß man, um bei der Berechnung der
relativen Zahlen der Zensiten, die von einer Klasse in die obere
aufgestiegen sind, Fehlschlüsse zu vermeiden, auch der in der
Zwischenzeit erfolgten Bevölkerungszunahme Rechnung tragen mul.
Praktisch kann man natürlich nicht unterscheiden, wieviel von der
Zunahme der Zensiten auf diesen Umstand, und wieviel auf eine
tatsächliche Einkommenhebung zurückzuführen ist; um diese Auf-
gabe praktisch approximativ zu lösen, kann man von der Annahme
ausgehen, daß, wenn keine Einkommenhebung stattgefunden hätte,
in jeder Stufe die Zensitenzahl im gleichen Schritt mit der Be-
völkerung zugenommen hätte; man müßte also, bevor man nach
Wolfs Methode die Prozentzahl der aufgestiegenen Zensiten be-
rechnet, von jeder Stufe der zweiten Reihe die entsprechende An-
zahl von Zensiten subtrahieren (oder sie zu jeder Stufe der ersten
Reihe addieren).
IV. Gegen Wolfs Methode hat Robert Meyer im erwähnten
Aufsatze folgenden Einwand erhoben:
„Niemandem ist doch beigefallen, mit den üblichen Vergleichen
die Bewegung der einzelnen Zensiten in den Klassen messen zu
wollen, in welchem Falle Wolfs Belehrung allerdings am Platze
wäre, "sondern man hat den Stand der Verteilung an zwei ver-
schiedenen Zeitpunkten verglichen und tut das trotz Wolf heute noch.“
Wenn man auch die Behauptung Meyers, daß die übliche Rechnungs-
methode nur ein Bild des Standes der V erteilung an zwei verschiedenen
Zeitpunkten zu geben bezwecke, gelten läßt (was doch nicht ganz
zutreffend zu sein scheint, denn die meisten Schriftsteller untersuchen
vielmehr, wie sich die einzelnen Einkommengruppen entwickeln), so
bleibt immerhin unsere Kritik bestehen. Den Stand der Verteilung
könnte man ohne weiteres vergleichen, wenn man für beide in Betracht
gezogenen Zeitpunkte eine Aufstellung sämtlicher Einkommen,
vom untersten bis zum höchsten, hätte. Da uns aber die amtliche
Statistik nicht eine Darstellung der ganzen Einkommenkurve,
sondern nur begrenzte kleinere oder größere Stücke
derselben bietet (das heißt, nur die Einkommen der Zensiten)
Ueber die Methoden der Einkommenverteilungsstatistik. 595
müssen wir, ehe wir überhaupt zu einer Vergleichung des Standes
der Verteilung vorgehen können, festzustellen suchen,
welche Kurvenstücke miteinander vergleichbar sind.
Gesetzt, wir haben eine Anzahl Zensiten, die an beiden Zeitpunkten
innerhalb der Einkommen von 900 bis 30000 M. abgestuft sind; es
ist klar, daß wenn eine allgemeine Hebung des Wohlstandes in der
Zwischenzeit stattgefunden hat, die beiden Bogenstücke nicht
mehr vergleichbar sind, weil die relative Lage der
Zensiten sich im ganzen gehoben hat, wenn auch nicht
gleichmäßig für alle. Man wird z. B. den „Stand der Verteilung“ für
die Zensiten, die sich in der ersten Reihe innerhalb der Einkommen-
grenzen 900 und 30000 M. befinden, mit dem „Stand der Verteilung“
für die Zensiten, die sich in der zweiten Reihe auf die Strecke sagen
wir von 1000 M. bis 33000 M. verteilen, vergleichen müssen. Es
muß in der Tat an beiden Zeitpunkten der Stand der Verteilung
unter denselben sozialen Gruppen verglichen werden; es
hat keinen Sinn z. B. für den ersten Zeitpunkt die Einkommenver-
teilung unter gelernten Arbeitern, Mittelstand, Reichen, sehr Reichen
zu ermitteln, und die aus dieser ersten Reihe sich ergebenden
Relativzahlen mit denjenigen, die sich auf dieselben Einkommenstufen
beziehen, zu vergleichen, wenn inzwischen eine Verschiebung der
Einkommen stattgefunden hat, so daß die zweite Reihe nunmehr die
Einkommen der ungelernten Arbeiter, der gelernten, des Mittelstandes
und der Reichen umfaßt. Eine Vergleichung von auf diese Weise
ermittelten Relativzahlen ist von einem allgemeinen Standpunkt aus
zwecklos und irreführend. (Die übliche Verhältnisberechnung wäre,
wie oben gezeigt wurde, nur in dem besonderen Falle wo N = Ax-a«,
brauchbar.)
Die Aufgabe geht also dahin, die unteren und oberen Grenzen
der Reihen so zu bestimmen, daß der „Stand der Verteilung“ an den
in Betracht gezogenen Zeitpunkten vergleichbar sei. Man kann z. B.
so verfahren: Preußen zählte z. B. im Jahre 1895 9640092 Zensiten;
im Jahre 1905 13904685 (veranlagte Bevölkerung). Wenn die Be-
völkerung inzwischen stabil geblieben wäre, müßte man untersuchen,
wie sich die Verteilung für die gleiche Anzahl von Zensiten
an beiden Zeitpunkten gestaltete. Dem unteren Grenzeinkommen
von 900 M. würde im zweiten Zeitpunkt (wie sich durch Interpolation
ergibt) ein Grenzeinkommen von ungefähr 1200 M. entsprechen.
Die Zensitenzunahme ist aber nicht lediglich auf eine Einkommen-
hebung zurückzuführen, weil auch die Bevölkerung gleichzeitig um
17 Proz. zugenommen hat; der Zahl 9640092 entspricht also im
zweiten Zeitpunkt eine Anzahl von 11278907 Zensiten (d. h. 9640092
vermehrt um 17 Proz.); durch Interpolation ergibt sich, daß in
der zweiten Reihe einem Einkommen von 900 M. ein solches von
ungefähr 1050 M. entspricht.
Um dann den Stand der Verteilung zu vergleichen, könnte man
folgendes Verfahren anwenden, das demjenigen ähnlich ist, das man
z. B. in der Lolinstatistik mit Erfolg angewandt hat, um die Dispersion
38*
596 \ Costantino Bresciani,
der Löhne in verschiedenen Berufen oder Zeitpunkten zu vergleichen.
Man berechne die Prozentzahlen der Zensiten der ersten zu ver-
gleichenden Reihe, die innerhalb bestimmter Einkommengrenzen
sich befinden, und man untersuche dann, innerhalb welcher Ein-
kommengrenzen dieselben Prozentzahlen von Zensiten
fallen. Nehmen wir z. B. an, die Zensiten der ersten Reihe seien
auf die Strecke von 400 bis über 30 000 M. verteilt, und zwar 60 Proz.
zwischen 400 und 1000 M., 30 Proz. zwischen 1000 und 4000 M.,
9 Proz. zwischen 4000 und 30000 M., 1 Proz. über 30000 M., und
man habe gefunden, daß man die Verteilung dieser Zensiten mit
der Verteilung derjenigen, die in der zweiten Reihe z. B. ein Ein-
kommen von über OO M. besitzen, vergleichen muß. Man berechne dann,
innerhalb welcher Einkommengrenzen 60 Proz. bezw. 30 Proz., 9 Proz.,
1 Proz. Zensiten dieser Strecke fallen. Die Vergleichung dieser
Einkommengrenzen in der ersten und zweiten Reihe und die Fest-
stellung ihrer relativen Verschiebungen, bietet ein Kriterium
dafür, ob der Stand der Verteilung unverändert geblieben ist, oder
ob eine zunehmende Differenzierung der Einkommen u. s. w. statt-
gefunden hat.
In ähnlicher Weise ermittelt man bei Vergleichung von Lohn-
reihen die Quartilen (d.h. jene Werte der Lohnskala, unter welchen
25 Proz. bez. 50 Proz. (Median) und 75 Proz. der Arbeiter sich be-
finden), je nachdem die Dezilen, oder auch die Prozentilen +). Diese
Methode kann man freilich nicht ohne weiteres auf die Einkommen-
statistik übertragen (wie z. B. Mandello glaubt) ?), weilderen Gebrauch
sich nur bei Reihen nützlich erweist, wo die Mehrzahl der Fälle sich
symmetrisch oder fast symmetrisch um einen Normalwert gruppiert,
was bei der Verteilung der Einkommen, wo die größte Anzahl der-
selben sich in der untersten Stufe anhäuft, nicht der Fall ist.
Würzburger, der richtig anerkannt hat, daß die übliche Ver-
hältnisberechnung zu falschen Resultaten führen kann, schlägt eine
andere Methode vor, um nachzuweisen, ob der Gegensatz zwischen
Arm und Reich die Tendenz hat, sich auszugleichen oder nicht. Er
teilt das Gesamteinkommen in vier gleiche Teile und berechnet, wie
viele Personen, in Verhältniszahlen, jedes der vier Viertel besitzen.
Je mehr die Verhältnisziffern der vier Teile einander nähern, desto
gleichmäßiger wird die Einkommenverteilung. Es ist klar, daß auch
diese Methode nur dann den von W ürzburger gesteckten Zweck
zu erreichen vermag, wenn zunächst, wie in dem oben ange-
geberen Beispiel für Preußen, die Zahlen der Zensiten. auf
die in den in Betracht gezogenen Zeitpunkten die
obige Berechnung anwendbarist, festgestellt, und die
anderen also aus der Rechnung ausgeschaltet werden.
Würzburger nimmt dagegen sowohl für 1880 als 1390, 1900 u. s. w
1) Im Band „Wages“ des „Census of United States“ ist zum ersten Male in der
offiziellen Statistik cin ausgedehnter Gebrauch dieser Methode gemacht worden.
2) Siche „Zweck und Methode der historischen Lohnstatistik.“ (Bull. de 1’ Inst. int,
de Statistique, 1903.)
Ueber die Methoden der Einkommenverteilungsstatistik. 597
alle Zensiten, die ein Einkommen von über 500 M. bezogen und
kann deshalb zu keinen sicheren Resultaten gelangen; den Fehler
hat er selber übrigens geahnt, indem er richtig bemerkte: „Allein
es ist unverkennbar, daß auch hier leicht eine Täuschung vorliegen
und nur die vermehrte Zahl kleiner Einkommens-
bezieher den Anschein einer Vermehrung des Anteils der ärmeren
Klassen erzeugen kann“ !).
Man könnte auch bei der Verhältnisberechnung folgendermaßen
verfahren. Nehmen wir z. B. an, eine Anzahl Zensiten seien so verteilt,
daß 60 Proz. auf die Stufe zwischen 400 und 1000 M., 30 Proz. auf die
Stufe zwischen 1000 und 4000 M., 9 Proz. auf diejenige zwischen
4000 und 30000 M., 1 Proz. auf diejenige über 30000 M. entfallen
und man habe gefunden, daß das entsprechende niedrigste
Grenzeinkommen der zweiten zu vergleichenden Reihe z. B. 500 M.
ist (d. h. ?/ioo höher). Es ist klar, daß, wenn in der zweiten Reihe
der Stand der Verteilung derselbe wäre, die gleichen Relativ-
zahlen auf die Stufen 500 — 1250, 1250 — 5000, 5000 bis
37500, über 37500 (d.h. jedes Grenzeinkommen ist um 25 Proz.
erhöht worden) entfallen sollten; wenn die Relativzahlen für
diese Stufen sich dagegen verschoben haben, z. B. zu Gunsten der
oberen Stufen, so deutet das auf eine zunehmende Einkommen-
differenzierung hin u. s. w.
Es ist hier die Stelle, einige beachtenswerte methodologische
Bemerkungen von W ürzburger, denen derselbe Gedanke zu Grunde
liegt (d. h. der, daß man auch der Verschiebung der Zensiten
Rechnung tragen muß), zu erwähnen. „Will man untersuchen“, schreibt
Würzburger, „wie sich das Verhältnis der verschiedenen Wohlstands-
klassen zueinander geändert hat, so kann ein Beitrag zur Lösung
dieser Aufgabe gefunden werden, wenn man statt des absoluten Be-
trags des Einkommens des einzelnen Eingeschätzten seinen Prozentual-
anteil am Gesamteinkommen (oder, was die Berechnung vereinfacht
und zu dem nämlichen Ergebnis führt, sein Verhältnis zum jeweiligen
Durchschnittseinkommen auf den Kopf der Bevölkerung) zum Maß-
stab macht.“
„Man wird sagen können, daß z. B. den Besitzern eines Ein-
kommens, welches im Jahre 1878 als ein mittleres zu bezeichnen
war, heutzutage diejenigen Personen, deren Einkommen im nämlichen
Verhältnis zum Gesamteinkommen des Eingeschätzten der zum Durch-
schnittseinkommen eines Einwohners steht, wie das jener früheren
Einkommensbesitzer, insofern entsprechen werden, als sie im Or-
ganismus der Gesellschaft an derselben Stelle stehen, wie damals
jene“. Auf diese Weise findet Würzburger, daß einem als mittleres
bezeichneten Einkommen von 800 bis 3300 M. am Ausgang der sieb-
ziger Jahre des vorigen Jahrhunderts jetzt ein Einkommen von un-
gefähr 1250 bis 5300 M. entspricht ; ebenso entsprechen den früher
als solche der „wohlhabenden“ Klasse bezeichneten Einkommen von
1) Zeitschrift des sächs. statist. Bureaus, 1904. Im Original nicht gesperrt.
598 Costantino Bresciani,
3300 bis 9600 M. jetzt etwa die von 5300 bis 16000 M. Die Besitzer
von Einkommen über 9600 M. (früher) und 16000 M. (jetzt) würden
der reichen Klasse zuzurechnen sein.
Danach ergibt sich folgendes :
Zahl Auf 1000 Einwohner
Angehörige der eingeschätzten kommen eingeschätzte
der physischen Personen physische Personen
1878 1902 1878 1902
mittleren Klasse 224 110 330 371 78,1 76,6
wohlhabenden Klasse 23 886 29 390 8,3 6,8
reichen Klasse 4817 7793 1,7 1,8
` „Kann auch den feineren Zahlenunterschieden zwischen den beiden
hier verglichenen Jahresergebnissen kein Gewicht beigelegt werden,
so scheint doch aus der Berechnung im ganzen hervorzugehen, daß
das zahlenmäßige Verhältnis der verschiedenen, innerhalb der Be-
völkerung vorhandenen Wohlstandsklassen zueinander trotz der fast
allgemeinen Einkommenerhöhung keine erheblichen Veränderungen
erfahren hat.“
Indem ich der methodologischen Grundauffassung Würzburgers
beipflichte, glaube ich doch, daß dieser Schluß nicht richtig ist. Wenn
1902 auf die Stufen 1250—5300, 5300 —16000 und über 16000 M.
dieselben Prozentzahlen entfielen, wie 1878 auf die entsprechenden
Stufen 800—3300, 3300—9600 und über 9600 M., bedeutet das nicht,
daß die Einkommenverhältnisse der oberen Zensiten
sich rascher gebessert haben, als diejenigen der un-
teren, so daß eine zunehmende Differenzierung der Klassenlage zu
gunsten der oberen Zensiten stattgefunden hat? Die relative Zu-
nahme der Grenzeinkommen war in der Tat folgende:
von 800 auf 1 250, d. h. 56,2 Proz.
» 3300 „ 5300, » » 60,6 »
„ 9600 „16000, „ „ 66,6 +»
V. Es ist also, wie ich glaube, bei solchen statistischen Unter-
suchungen von der größten Wichtigkeit, um Fehlschlüsse zu ver-
meiden, daß die verglichenen Zensitenreihen von gleichen Real-
einkommen abgegrenzt seien. Das gilt auch für die Fälle, wo
man nicht die Verteilung der Einkommen an verschiedenen Zeit-
punkten, sondern in verschiedenen Staaten oder verschiedenen Pro-
vinzen desselben Staates an demselben Zeitpunkt vergleicht. Wenn
man z. B. die Einkommenverteilung in England und Italien ver-
gleichen wollte, müßten sowohl die unterste als die oberste Grenze
in der englischen Zensitenreihe viel höher gegriffen werden, als in
der italienischen, und das aus naheliegenden Gründen. Ich verkenne
wohl nicht, daß die Feststellung von entsprechenden Realeinkommen
für verschiedene Länder oder weit voneinander abstehende Zeit-
punkte, eingehende Studien der Preisstatistik, des „standard of life‘,
der verschiedenen sozialen Klassen u. s. w. fordern und somit auf
große Schwierigkeiten stoßen würde. Wenn man diese Schwierig-
keiten für unüberwindlich hält, muß man darauf verzichten, die Frage,
Ueber die Methoden der Einkommenverteilungsstatistik. 599
ob die Einkommenverteilung in den einzelnen Ländern gleichmäßiger
oder ungleichmäßiger ist, statistisch zu lösen.
In Bezug auf die Anwendung einer der Fehlertheorie ent-
nommenen.Maßzahl, der quadratischen durchschnittlichen Abweichung
(„standard deviation“ der Engländer) vom Durchschnittseinkommen,
als Kriterium einer gleichmäßigeren oder ungleichmäßigeren Ein-
kommenverteilung (wie sie v. Bortkiewiez in seiner kritischen
Besprechung des Paretoschen Werkes gelegentlich empfiehlt !), ist
meines Erachtens hervorzuheben, daß auch dieses Kriterium, wie
das Paretosche Kriterium, wenn nicht richtig angewandt, leicht zu
Fehlschlüssen führen würde. Im Diagramm auf Seite 537 würde
es sich z. B. für das Kurvenstück cd' eine größere
„standard deviation“ (in Prozenten des Durchschnittsein-
kommens ausgedrückt) ergeben, als für ed, und man würde
daraus schließen, daß die Verteilung ungleichmäßiger ge-
worden ist, was bei der aufgestellten Hypothese einer für alle
Zensiten relativ gleichen Einkommenhebung offenbar unrichtig ist.
Es ist klar, daß man unter dieser Voraussetzung, wie in Bezug auf
den Wert von a, so auch in Bezug auf die „standard deviation“ die
Bogenstücke ed und c” d“ vergleichen muß, und daß aus
der so ausgeführten Berechnung sich eine gleiche „standard deviation“
ergeben würde ?).
Welches Kriterium man auch anwenden will, ist es also immer
unumgänglich, vorher die vergleichbaren Gesamtheiten der
Zensiten festzustellen.
VI. Ich glaube, daß die vorhergehenden Auseinandersetzungen
gezeigt haben, daß die Resultate, zu denen man bisher auf Grund
der üblichen Rechnungsmethoden gelangt ist, wenn auch nicht unbe-
dingt unrichtig, doch wenigstens zweifelhaft und unsicher sind und
mit Hilfe einer einwandsfreien Methode revidiert werden müssen.
Meine Beweisführung beruht auf der Hypothese einer allgemeinen
Einkommenhebung; diese entspricht aber der Wirklichkeit. Die
statistischen und wirtschaftsgeschichtlichen Forschungen, die bisher
in den einzelnen Ländern angestellt wurden, haben in der Tat be-
1) Schmollers Jahrbuch, 1898. Die Methode der ‚standard deviation“ würde zu
keiner Beanstandung Anlaß geben, wenn wir Aufstellungen sämtlicher Einkommen,
vom niedrigsten bis zum höchsten, vergleichen könnten. Prof. v. Bortkiewiez denkt
eben an diesen Fall und nicht an eine Berechnung der „standard deviation“ für be-
grenzte Strecken.
2) Denn auch die „standard deviation“ wie der Wert von a ist
nicht dieselbe für alle Strecken der Kurve — außer im Falle, wo die gra-
phische Darstellung der Verteilung eine (logarithmische) Gerade ergibt (also im Falle
wo N = Ax”"%) — sondern ändert sich offenbar mit dem Zu- oder Abnehmen
der Neigung der Einkommenlinie auf die x-Achse,
Wenn die Einkommenlinie der x- Achse perpendicular wäre, das heißt, wenn
alle Zensiten ein Einkommen in gleicher Höhe besäßen, würde völlige Gleichheit der
Einkommen bestehen, und die Dispersion wäre gleich null. Jekleinerdie Neigung
der Einkommenlinie auf die x-Achse, desto mehr entfernt man
sich von diesem Zustande der Gleichheit, desto größer wird also
die Dispersion und deren Maßzahl, die „standard deviation“.
600 Costantino Bresciani, Ueber die Methoden der Einkommenverteilungsstatistik.
wiesen, daß im Laufe des XIX. Jahrh. und besonders in den letzten
Jahrzehnten desselben, eine mehr oder weniger beträchtliche Ver-
besserung der Leben(Einkommen)verhältnisse aller Schichten der
Bevölkerung stattgefunden hat.
Die übliche Verhältnisberechnung erweist sich also im allgemeinen
als irreführend und die großen Mengen von Verhältniszahlen, die
man in den amtlichen Veröflentlichungen vorfindet, sind deshalb wenig
brauchbar. Es wäre daher vielleicht wünschenswert, daß die deutschen
statistischen Bureaus (die sich um bedeutende Veröffentlichungen,
welche die :besten überhaupt in der einkommensteuerstatistischen
Literatur aller Staaten sind und schon helles Licht auf interessante
Probleme der Güterverteilung geworfen haben, in dankenswerter
Weise verdient gemacht haben), die in der Berechnung von
Tausenden und Tausenden von Verhältniszahlen verwendete Mühe
und Zeit anderen statistischen Untersuchungen widmeten; z. B. es
könnte angegeben werden, wie viele Zensiten, die in einem be-
stimmten Jahr mit einem gewissen Einkommen veranlagt waren,
jahraus jahrein in höhere Stufen aufsteigen, oder in untere herab-
fallen u. s. w.; es könnte also eine Statistik der Bewegung
der Zensiten aufgestellt werden, die, wie jedermann einsielt,
von großem wissenschaftlichen Wert sein würde. Für die Staaten,
wo neben einer Einkommen- auch eine Vermögensteuer besteht,
wären auch Aufstellungen nach Beispiel derjenigen, die Bücher
für Basel anfertigen ließ, wo die Zensiten zu gleicher Zeit
nach der Höhe des Einkommens und derjenigen des
Vermögens unterschieden sind, erwünscht. Dadurch, und
durch zweckmäßige Bearbeitung des Materials, wäre eine festere
statistische Grundlage für die Lösung mehrerer Probleme der Ein-
kommenverteilung und die Prüfung der Schlüsse, zu denen die
Theoretiker gelangt sind, geschaffen.
Georg Wermert, Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 601
XI.
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre
‘Schäden und die Mittel zur Schaffung der
Kurszettelwahrheit.
Von
Georg Wermert.
1. Positiv rechtlicher Status der Kursfeststellung.
An der Börse werden täglich ungeheure Mengen von Werten
umgesetzt. Der Kurszettel bildet ihren Wertmaßstab. Er gilt aber
nicht nur für die an der Börse den Besitzer wechselnden Papiere,
sondern auch für die gesamten Fonds, welche sich in den Händen
des Publikums befinden. Da nun die an der Börse zugelassenen
und notierten Effekten einen wesentlichen Teil des deutschen National-
vermögens darstellen, so ist die unbedingte Richtigkeit der Kurs-
feststellungen von außerordentlicher Wichtigkeit; denn bei mangel-
haften, nicht fehlerfreien oder gar gefälschten Kursen vermag das
Publikum stets um einen Teil seines Besitzes gebracht zu werden.
Die absolute Genauigkeit der Kursfeststellung liegt daher im öffent-
lichen Interesse, sie ist ein dringendes Erfordernis unseres gesamten
wirtschaftlichen Lebens, sie muß verlangt werden zum Schutze des
Volkes, zur peinlichsten Wahrung der Grenzlinien zwischen Mein
und Dein.
Man hat sich der schwerwiegenden Bedeutung dieser Frage bei
der Börsenreform in den 1800er Jahren nicht verschlossen. Das
Börsengesetz vom 22. Juni 1506 enthält in seinem zweiten Teile
entsprechende Vorschriften, welche durch verwaltungsrechtliche Maß-
nahmen eine weıtere Umkleidung erfahren haben. Ob die bestehenden
Einrichtungen einen genügenden Schutz des öffentlichen Interesses
bieten und somit als ausreichend befunden werden können, soll im
nachstehenden in kurzen Zügen untersucht werden.
Nach § 29 BG. erfolgt die Feststellung des Börsenpreises bei
Waren und Wertpapieren für Kassa- und Zeitgeschäfte durch den
Börsenvorstand, soweit die Börsenordnung nicht die Mitwirkung
von Vertretern anderer Berufszweige (Landwirte, Müller) vorschreibt.
602 Georg Wermert,
Als Börsenpreis ist derjenige Preis festzusetzen, welcher der wirk-
lichen Geschäftslage des Verkehrs an der Börse entspricht.
In diesen beiden Sätzen sind die wichtigsten börsengesetzlichen
Bestimmungen über die Preisnotierung enthalten: Der Börsen-
vorstand hat die Preise festzustellen, er ist für die Richtigkeit des
Kurszettels verantwortlich, der ein Bild der wirklichen Geschäftslage
an der Börse enthalten soll. Der Kurszettel darf daher keine Preise
angeben, die dem tatsächlichen Geschäftsverkehr nicht entsprechen:
keine Preise, die durch künstliche Beeinflussung des Börsenhandels
hervor gerufen worden sind; ferner keine fiktiven, keine nominellen,
vor allem keine fingierten' Preise; denn sie sind nicht durch die
wirkliche Geschäftslage des Verkehrs an der Börse bedingt. Das
Gesetz verlangt vom "Kurszettel absolute Wahrhaftigkeit, für welche
der Börsenvorstand verantwortlich gemacht wird.
Damit nicht eine Einwirkung von irgend einer beteiligten Seite
stattfindet, darf bei der Feststellung der Kurse und Preise außer
dem Staatskommissar, dem Börsenvorstande, den Börsensekretären,
den Kursmaklern und den Vertretern der beteiligten Berufskreise
niemand zugegen sein. Nach $ 35 BG. hat der Bundesrat die Be-
fugnis:
1) Eine von den allgemeinen Vorschriften abweichende amtliche
Feststellung des Börsenpreises von Waren oder Wertpapieren für
einzelne Börsen zuzulassen;
2) eine amtliche Feststellung des Börsenpreises bestimmter Waren
allgemein oder für einzelne Börsen vorzuschreiben;
3) Bestimmungen über Mengeneinheiten bei Warenpreisen und
die maßgebenden Gebräuche bei der Kursnotierung zu erlassen.
Macht der Bundesrat von der Befugnis unter 2 und 3 keinen
Gebrauch, so kann die Landesregierung entsprechende Anordnungen
treffen, nur sind sie dem Reichskanzler zur Kenntnisnahme mitzu-
teilen. Die Befugnis unter No. 1 erwies sich deshalb als erforder-
lich, weil sich an manchen Börsen, so z. B. an den hanseatischen,
völlig abweichende Verhältnisse in betreff der Kurs- und Preis-
notierung entwickelt hatten, die nach der ganzen historischen Ge-
staltung und Organisation dieser Börsen nicht ohne weiteres aufge-
hoben werden konnten.
Zur Unterstützung des Börsenvorstandes bei der Kursfeststellung
wurde durch das B Örsengesetz eine neue Einrichtung, die der Kurs-
makler, eingeführt. Das ältere Institut der vereidigten Handels-
makler, welches die Regierung bereits früher aufheben wollte, aber
auf den W iderspruch der Aeltesten der Kaufmannschaft zu Berlin bis
auf weiteres bestehen ließ, wurde hierdurch beseitigt. Es hatte sich
an den verschiedensten Börsen als überflüssig erwiesen und war
an denen, die besondere Liquidationskassen einführten, tatsächlich
verschwunden. Die Börsenenquetkommission erachtete daher dessen
Stellung für unhaltbar. Es wurde von ihr vorgeschlagen, die Kurs-
feststellung einem eigenen Bureau zu übertragen, das aus Beamten
der Acltesten der Kaufmannschaft zu bilden und von den Börsen-
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden etc. 603
kommissaren zu beaufsichtigen sei. Das Bureau sollte die Aufgabe
erhalten, sämtliche Angaben über die Kursbewegungen zu sammeln
und die Kurse festzustellen. Dieser Vorschlag wurde nicht durch-
geführt. Die Schwierigkeit lag bei ihm in der Kontrolle der ein-
laufenden Angaben. Die Beamten, welche außerhalb der Handels-
tätigkeit stehen mußten, wären auf die ihnen mündlich oder schrift-
lich gemachten Aeußerungen der Banken, Bankiers, Händler, freien
Makler und sonstigen Hilfspersonen des Handels angewiesen ge-
wesen, und die wenigen Börsenkommissare hätten unmöglich eine
Uebersicht über den Verkehr von mehr als zweitausend Papieren,
Wechseln, Geldsorten ete. haben können. Das Börsengesetz hat
daher zu dem Institut der Kursmakler gegriffen, denen die Aufgabe
übertragen wurde, den Börsenvorstand bei der Feststellung der
Börsenpreise zu unterstützen. Sie sind nach $ 30 BG. Hilfs-
personen, die zur Mitwirkung bei der amtlichen Festsetzung
des Börsenpreises von Waren und Wertpapieren ernannt werden.
Sie sollen mitten im Geschäftsverkehre stehen; denn sie müssen,
solange sie die Tätigkeit als Kursmakler ausüben, die Vermittelung
von Börsengeschäften in den betreffenden Waren oder Wertpapieren
betreiben. Ihre Bestellung und Entlassung erhalten sie von der
Landesregierung, und sie leisten vor Antritt ihrer Stellung den Eid,
daß sie die ihnen obliegenden Pflichten getreu erfüllen werden. Ihre
Stellung sowie ihre Tätigkeit ist in den S$ 32 bis 34 BG. und in
Artikel 14 des Einführungsgesetzes zum Handelsgesetzbuche näher
bestimmt worden. Hiernach dürfen die Kursmakler in den Geschäfts-
zweigen, für welche sie bei der amtlichen Feststellung des Börsen-
preises mitwirken, nur insoweit für eigene Rechnung oder im
eigenen Namen Handelsgeschäfte abschließen, oder eine Bürg-
schaft für die von ihnen vermittelten Geschäfte übernehmen, als dies
zur Ausführung der ihnen erteilten Aufträge nötig ist. Die Landes-
regierung bestimmt. in welcher Weise die Beobachtung dieser Vor-
schrift zu überwachen ist. Die Gültigkeit der abgeschlossenen Ge-
schäfte wird hierdurch nicht berührt. Um den Kursmaklern eine
möglichst weitgehende Unabhängigkeit zu sichern, dürfen sie kein
sonstiges Handelsgewerbe betreiben, auch nicht an einem solchen
als Kommanditist oder stiller Gesellschafter beteiligt sein; ebenso-
wenig dürfen sie zu einem Kaufmanne in dem Verhältnisse eines Pro-
kuristen, Handlungsbevollmächtigten oder Handlungsgehülfen stehen.
Zur Ueberwachung der Kursmakler dient ihr Tagebuch, das vor
dem Gebrauche dem Börsenvorstande zur Beglaubigung der Zahl der
Blätter oder Seiten vorzulegen ist. Beim Tode oder der Entlassung
des Kursmaklers ist das Tagebuch bei dem Börsenvorstande nieder-
zulegen. Ferner sind die Kursmakler zur Vornahme von Verkäufen
und Käufen befugt, die durch einen dazu Öffentlich ermächtigten
Handelsmakler zu bewirken sind.
Damit ist die reichsgesetzliche Stellung der Kursmakler dar-
getan. Sie werden gemäß § 30. Abs. 2 BG. durch eine Makler-
kammer vertreten, die bei der Bestellung neuer Kursmakler und
604 Georg Wermert,
bei der Verteilung der Geschäfte unter die einzelnen Makler gut-
achtlich zu hören ist. Die näheren Bestimmungen über die Be-
stellung und Entlassung der Kursmakler und die Organisation ihrer
Vertretung sowie über ihr Verhältnis zu dem Staatskommissar und
den Börsenorganen werden von der Landesregierung erlassen.
Wie das Institut der Kursmakler bei der Kursnotierung mit-
wirken soll, bestimmt $ 31 BG. Hiernach kann bei Geschäften in
Waren und Wertpapieren ein Anspruch auf Berücksichtigung bei
der amtlichen Feststellung des Börsenpreises nur dann erhoben
werden, wenn sie durch Vermittelung eines Kursmaklers abge-
schlossen sind. Der Börsenvorstand ist jedoch berechtigt, auch
andere Geschäfte als diese zu berücksichtigen.
Die Befugnisse des Börsenvorstandes werden in Berlin in Bezug
auf die Kursnotierung durch die von der Handelskammer daselbst
unterm 31. März 1903 erlassene, ministeriell genehmigte Börsen-
ordnung näher bestimmt. Nach 8 6, Zitfer 5 cit. besorgt er die amtliche
Notierung der Börsenkurse und deren Veröffentlichung. Nach X10
erfolgt die amtliche Feststellung der Kurse und Preise namens des
Börsenvorstandes durch ein oder mehrere Mitglieder der betreffenden
Abteilung. Die Namen dieser Mitglieder und ihrer Stellvertreter
sind von den Abteilungen des Börsenvorstandes am Anfange des
Monats durch einen bis zum Schlusse verbleibenden Aushang in den
Börsensälen bekannt zu machen. Für den Fall plötzlich erfolgender
Verhinderung können auch andere Mitglieder des Börsenvorstandes
eintreten.
Bei der Preisfeststellung für landwirtschaftliche Produkte sind
mindestens zwei der als Vertreter der Landwirtschaft, der landwirt-
schaftlichen Nebengewerbe oder anderen Berufszweige gewählten
Mitglieder des Börsenvorstandes zur Mitwirkung zu berufen.
Die Leitung der Preisfeststellung ist jedoch immer einem der
aus der Mitte der Börsenbesucher gewählten Mitgliede des Börsen-
vorstandes zu übertragen. Die von der Handelskammer delegierten
Mitglieder des Börsenvorstandes sind daher von diesem Amte aus-
geschlossen. :
Bei Meinungsverschiedenheiten unter den mitwirkenden Mit-
gliedern des Börsenvorstandes entscheidet die Mehrheit. Bei Stimmen-
gleichheit gibt die Stimme des die Preisfeststellung leitenden Vorstands-
mitgliedes den Ausschlag.
Für die Feststellung der Börsenpreise sind in der Börsen-
ordnung folgende, die reichsgesetzlichen Bestimmungen erweiternde
Anordnungen getroffen. Die amtliche Feststellung der Börsenpreise
erfolgt:
1) für Münzen, Banknoten, Wertpapiere an einem jeden Börsentage;
2) für Wechsel auf ausländische Plätze mindestens dreimal
wöchentlich:
3) für Getreide, Spiritus, Oel, Oelsaaten, Petroleum, Mehl, Kar-
toffelstärke an einem jeden Börsentage. Außerdem werden am
letzten Börsentage jeden Monats die Durchschnittspreise der an dem
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 605
gedachten Tage über Lieferung auf laufenden Monat an der Pro-
duktenbörse geschlossenen Geschäfte festgestellt.
Findet an einem für die Feststellung der Kurse und Preise be-
stimmten Tage keine Börsenversammlung statt, so erfolgt die Fest-
stellung am vorhergehenden Tage.
Nach $ 34 der Börsenordnung ist in Wiederholung der gesetz-
lichen Vorschrift als Börsenpreis derjenige Preis festzusetzen, welcher
der wirklichen Marktlage des Verkehrs an der Börse entspricht.
Die amtliche Feststellung der Kurse und der Preise geschieht
unmittelbar nach 2 Uhr, an den Sonnabenden unmittelbar nach
1! Uhr in den dazu bestimmten Räumen. Dort haben die Kurs-
makler, die in den betreffenden Wertpapieren oder Waren Geschäfte
vermitteln, an denjenigen Tagen, an denen für ihren Geschäftszweig
Kurse oder Preise festzustellen sind, pünktlich um 2 Uhr, an den
Sonnabenden pünktlich um 1%/, Uhr zu erscheinen und anwesend zu
bleiben, bis sie von den amtierenden Mitgliedern des Börsenvor-
standes entlassen werden.
Diese sind berechtigt, von den Kursmaklern wahrheitsgetreue
und nach dem Ermessen der ersteren ausdrücklich auf ihren Amts-
eid zu nehmende Auskunft zu forden, zu welchen Kursen und Preisen
in Effektiv- und Kassa-, sowie in Zeitgeschäften Waren, Wertpapiere,
Geldsorten und Wechsel gefordert oder angeboten und zu welchen
Kursen und Preisen und über welche Mengen Geschäfte abgeschlossen
sind.
Die Kursmakler sind auch verpflichtet, dem die Preise fest-
stellenden Mitgliede des Börsenvorstandes nach Maßgabe der Makler-
ordnung Einsicht in ihre Bücher zu gestatten und ihm auf Erfordern
gutachtlich Auskunft über die festzustellenden Kurse und Preise zu
geben.
Die Entscheidung über die Höhe des amtlich fest-
zustellenden Kurses oder Preises steht den Mitglie-
dern des Börsenvorstandes allein zu, und es bleibt
ihnen überlassen, auf welchem Wege sie sich die zu
ihrer Entscheidung erforderliche Information, abge-
sehen von den Angaben der Kursmakler, sonst noch
verschaffen wollen.
Gemäß $ 37 der Börsenordnung sind die Protokolle über die Fest-
stellung der Kurse und Preise von den Börsensekretären zu führen.
Im Hinblicke auf die entsprechenden reichsgesetzlichen Vor-
schriften haben die Mitglieder des Börsenvorstandes diejenigen, welche
sich unbefugterweise bei der Feststellung und Protokollierung der
Kurse und Preise einfinden. sofort entfernen zu lassen und die zur
Erhaltung der Ruhe und Ordnung erforderlichen Anordnungen zu
treffen.
Nach $ 38 der Börsenordnung werden gleich nach der Fest-
stellung die Börsenkurse und Preise im amtlichen Kursblatte für
Wertpapiere, Geldsorten und Wechsel, sowie im amtlichen Preis-
kurant für Waren gedruckt, mit dem Stempel der betreffenden Ab-
606 Georg Wermert,
teilung des Börsenvorstandes und mit der Ueberschrift „Börse zu
Berlin“ versehen und bereits an demselben Nachmittage ausgegeben.
Ob und in welcher Weise noch außerdem amtliche Bekannt-
machungen über festgestellte Kurse und Preise von einer Abteilung
des Börsenvorstandes zu erlassen sind, bestimmt diese selbst nach
den Bedürfnissen des Verkehrs.
In den $S 35 und 36 der Börsenordnung sind noch einzelne
Sondervorschriften für die Notierung von Getreide gegeben, das bei
der Börsenreform bekanntlich eine große Rolle spielte. Es wird darin
bestimmt, daß bei den Notierungen der verschiedenen Getreide-
gattungen, die nach Lage des Geschäftsverkehrs an der Börse haupt-
sächlich in Betracht kommenden Sorten mit Unterscheidung nach
Ursprung (inländisch oder ausländisch), nach Qualitätsgewicht, nach
Beschaffenheit in Farbe, Geruch und Trockenheit, nach alter und
neuer Ernte zu bezeichnen sind, soweit diese Unterscheidungsmerk-
male festgestellt werden können. Für jede Getreidesorte sind die
wirklich gezahlten Preise zu notieren, soweit dies festzustellen ist.
Insoweit sich diese Notierungen auf Abschlüsse über besonders geringe
Mengen beziehen oder sonst besondere Verhältnisse vorliegen, so ist
dies bei der Notierung kenntlich zu machen.
In Ergänzung der Börsenordnung bestimmt die Geschäfts-
ordnung des Börsenvorstandes (Abteilung Produktenbörse) vom
19. Oktober 1903 in § 9 folgendes:
„Der Vorstand besorgt die amtliche Feststellung der Börsenpreise
und deren Veröffentlichung. Die amtliche Notierung erfolgt namens
des Vorstandes der Produktenbörse durch ein bis höchstens drei
Mitglieder. Die Namen dieser Mitglieder und ihrer Stellvertreter
sind vom Börsenvorstande (Abteilung Produktenbörse) durch einen
vom Anfange des Monats bis zum Schlusse desselben an Ort und
Stelle verbleibenden Aushang an der Börse bekannt zu machen.
Bei der Preisfeststellung für landwirtschaftliche Produkte sind
mindestens zwei der als Vertreter der Landwirtschaft, der landwirt-
schaftlichen Nebengewerbe oder anderen Berufszweigen ernannten
Mitglieder des Börsenvorstandes zur Mitwirkung zu berufen. Die
Leitung der Preisfeststellung jedoch ist immer einem der kaufmänni-
schen Mitglieder des Börsenvorstandes zu übertragen. Bei Meinungs-
verschiedenheiten unter den mitwirkenden Mitgliedern des Börsen-
vorstandes entscheidet die Mehrheit. Bei Stimmengleichheit gibt die
Stimme des die Preisfeststellung leitenden Vorstandsmitgliedes den
Ausschlag.“
Die Geschäftsordnung des Börsenvorstandes (Abteilung
Fondsbörse) bestimmt lediglich in § 7 Ziffer II: Der Börsenvorstand
besorgt durch eine allmonatlich zu wählende Kommission die amtliche
Notierung der Fondsbörsenkurse und deren Veröffentlichung.
Dagegen enthalten die „Bedingungen für die Geschäfte an
der Berliner Fondsbörse* vom 1. April 1905 eine Anzahl von Be-
stimmungen über die Feststellung des Börsenpreises. Da sie jedoch
vorwiegend technischer Natur sind, indem sie die Umrechnung ver-
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 607
schiedener Währungen, die Berechnung der Stückezinsen, die Ab-
trennung der Dividendenscheine betreffen, so mag hier nur daraus
angeführt werden, daß nach $ 27 eit. die Preise nach Prozenten fest-
zustellen sind. Ausnahmen sind zulässig für Versicherungsgesell-
schaften, Genußscheine, Kuxe, Lospapiere etc.
Die große Bedeutung, welche die Börse dem amtlichen Kurs-
zettel beilegt, erhellt aus § 26 cit. Durch ihn kann bei Streitigkeiten
der Beweis für die Kursnotierung geführt werden.
2. Positiv-rechtlicher Status der Kursmakler.
Im Vorstehenden sind sämtliche reichsgesetzliche Bestimmungen,
landesrechtliche und behördliche Anordnungen wiedergegeben, welche
sich auf die Tätigkeit des Berliner Börsenvorstandes bei der Kurs-
notierung beziehen. Für die Kursmakler als Hilfspersonen der No-
tierung hat das Börsengesetz gleichfalls den Landesregierungen das
Recht, nähere Anordnungen zu treffen, übertragen. In Preußen
wurde durch Erlaß des Ministers für Handel und Gewerbe vom
14. November 1896 Bestimmungen über die Bestellung und Entlassung
von Kursmaklern getroffen.
Nach ihnen werden die Kursmakler für die Börse in Berlin
durch den Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg und der Stadt
Berlin und für die übrigen Börsen durch den Regierungspräsidenten,
in dessen Verwaltungsbezirk die Börse gelegen ist, bestellt. Die
Vereidigung geschieht im Auftrage der genannten Behörden. Die
Handelsorgane, denen die unmittelbare Aufsicht der Börse übertragen
ist, sind gleich der Vertretung der Kursmakler, wo eine solche be-
steht, vor der Bestellung zu hören. Die Entlassung des Kursmaklers
geschieht gleichfalls durch den Oberpräsidenten, bezw. Regierungs-
präsidenten. Sie hat zu erfolgen, wenn er sich einer groben Ver-
letzung der ihm obliegenden Pflichten schuldig macht, oder sich durch
sein Verhalten in und außer dem Amte der Achtung des Ansehens
und des Vertrauens, die sein Beruf erfordert, unwürdig zeigt oder zur
Erfüllung seiner Amtspflicht dauernd unfähig wird. Auch vor der
Entlassung sind die zuständigen Handelsorgane zu hören. Für die
Stellvertreter der Kursmakler, falls solche bestellt werden, gelten
die gleichen Anordnungen, wie sie auch für die Dauer ihrer Stell-
vertretung die Rechte und Pflichten von Kursmaklern haben. Sie
können für eine bestimmte Zeit bestellt werden.
Wenn hiernach dem Kursmakler die Eigenschaft eines Beamten
gegeben ist, so bleibt er andererseits gleich den übrigen Börsenbe-
suchern den Vorschriften des Börsengesetzes und der Börsenordnung,
insbesondere dem ehrengerichtlichen Verfahren, der Zulassung und
der Ausschließung vom Börsenbesuche und der Handhabung der Ord-
nung in den Börsenräumen unterworfen.
Die Rechte und Pflichten der Kursmakler wurden erstmalig in
der Maklerordnung vom 4. Dezember 1896 festgesetzt.
Nach dieser haben sie in allen Börsenversammlungen während
608 Georg Wermert,
ihrer ganzen Dauer anwesend zu sein. Der Börsenvorstand hat die
Befugnis, ihnen für eine Woche Urlaub zu erteilen. Eine längere
Urlaubserteilung kann nur seitens der Aeltesten der Kaufmannschaft
nach Anhörung der Maklerkammer stattfinden.
In Ergänzung der reichsgesetzlichen Vorschriften über die Fest-
stellung der Kurse und Preise haben die Kursmakler den Mitgliedern
des Börsenvorstandes, die mit der Feststellung der im amtlichen
Kurszettel zu notierenden Kurse und Preise beauftragt sind, alle
hierzu von ihnen zu erfordernden Erklärungen nach bestem Wissen
der Wahrheit gemäß abzugeben. Ergeben sich Zweifel oder
Differenzen über die Feststellung der Kurse oder Preise, so ist das
die Feststellung leitende Mitglied des Börsenvorstandes befugt, eine
ausdrückliche protokollarische Erklärung der Kursmakler über ihre
Angaben auf ihren Amtseid zu fordern und nach seinem Ermessen
auch später die Richtigkeit derselben durch Einsicht der Tagebücher
der Kursmakler oder in anderer Weise zu prüfen. Insoweit hierbei
die Vorlegung der Tagebücher gefordert wird, ist der Kursmakler
befugt, die Namen der Kontrahenten zu verdecken.
Soweit die Kursmakler nach $ 32 BG. ein beschränktes Selbst-
eintrittsrecht besitzen, müssen die einschlägigen Geschäfte sowie die
übernommenen Bürgschaften in den Tagebüchern täglich vor Voll-
ziehung der Unterschrift übersichtlich zusammengestellt werden.
An der Berliner Börse sind die Kursmakler zu einer Makler-
kammer zusammengefaßt, durch die sie vertreten werden. Sie be-
steht aus 11 Mitgliedern und 5 Stellvertretern, die aus ihrer Mitte
von den Kursmaklern gewählt werden. Zwei Mitglieder und ein
Stellvertreter müssen der Produktenbörse angehören. Die Makler-
kammer wählt sich selbst ihren Vorstand, der aus einem Vorsitzenden,
einem stellvertretenden Vorsitzenden, einem Schriftführer, einem
stellvertretenden Schriftführer und einem Schatzmeister besteht. Vier
Mitglieder des Vorstandes müssen der Fondsbörse, ein Mitglied der
Produktenbörse angehören.
Die Aufgaben der Maklerkammer bestehen in folgendem:
1) auf Erfordern des Oberpräsidenten Gutachten über die Be-
stellung und Entlassung von Kursmaklern und über eine etwaige
Stellvertretung behinderter Kursmakler abzugeben ;
2) die Verteilung der Geschäfte unter die einzelnen Kursmakler
(Gruppenbildung) vorzunehmen und dem Börsenvorstande wie dem
Staatskommissar mitzuteilen, welche binnen einer Woche Einspruch
bei den Aeltesten der Kaufmannschaft, denen die Entscheidung obliegt,
einzulegen befugt sind;
3) die Aufsicht über die Erfüllung der den Kursmaklern ob-
liegenden Pflichten auszuüben und bei Pflichtverletzungen die ge-
eigneten Disziplinarstrafen zu verhängen;
4) Streitigkeiten unter Kursmaklern auf Antrag zu schlichten;
5) Streitigkeiten aus dem Auftragsverhältnis zwischen einem
Kursmakler und dem Auftraggeber auf Antrag des letzteren zu
schlichten ;
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden etc. 609
6) aufErfordern der staatlichen Behörden Gutachten, insbesondere
über Gesetze und Verwaltungsfragen, welche die Interessen der
Kursmakler berühren, zu erstatten.
Der Vorstand hat die Maklerkammer nach außen hin zu ver-
treten, die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben der Makler-
kammer zu besorgen und ihr über die Verwaltung jährlich Rechnung
zu legen, die Sitzungen der Maklerkammer vorzubereiten, zu berufen
und zu leiten und deren Beschlüsse zur Ausführung zu bringen und
die für die Verwaltung erforderlichen Beamten anzustellen und zu
beaufsichtigen.
Die Mitglieder des Vorstandes und der Maklerkammer verwalten
ihr Amt als Ehrenamt, nur werden bare Ausgaben aus den Ein-
nahmen erstattet. Auf Antrag des Staatskommissars, der Aeltesten
der Kaufmannschaft, von fünf Mitgliedern der Maklerkammer oder
zwanzig Kursmaklern unter Angabe des zu behandelnden Gegen-
standes hat eine Berufung der Maklerkammer zu erfolgen. Der
Staatskommissar ist berechtigt, an den Sitzungen mit beratender
Stimme teilzunehmen. Alljährlich hat der Vorstand dem Staats-
kommissar und den Aeltesten der Kaufmannschaft über seine Tätig-
keit und die der Kammer Bericht zu erstatten. Dieser Bericht ist
sämtlichen Kursmaklern an der Börse in je einem Druckexemplar
mitzuteilen. Der Voranschlag für die Einnahmen und Ausgaben der
Maklerkammer ist von ihr zu genehmigen. Die Kosten werden ge-
deckt durch Beiträge der Kursmakler und die etwaigen Gebühren
bei Schlichtung von Streitigkeiten.
Die Maklerkammer hat die Geschäftsverteilung jährlich
in der ersten Hälfte des Monats Dezember für das nächste Kalender-
jahr vorzunehmen. Sie kann im Laufe des Jahres abgeändert werden,
wenn die Zahl der Kursmakler sich verändert. Der Staatskommissar
und der Börsenvorstand haben jederzeit die Befugnis, eine Aenderung
der Geschäftsverteilung zu beantragen. Die hierüber gefaßten Be-
schlüsse unterliegen gleichfalls dem Einspruche bei den Aeltesten der
Kaufmannschaft.
In Bezug auf die Aufsicht und Disziplin unterliegen die Kurs-
makler gleich den übrigen Börsenbesuchern der Börsenleitung des
Börsenvorstandes und dem Ehrengerichte. Die Aufsicht über sie
führt jedoch die Maklerkammer und der Staatskommissar. Die
Aeltesten der Kaufmannschaft können zur Regelung des Geschäfts-
verkehrs der Kursmakler an der Börse Anordnungen treffen. Der
Staatskommissar und die Maklerkammer haben jederzeit die Befug-
nis, in die Hand- und Tagebücher der Kursmakler Einsicht zu
nehmen, um die Beobachtung der Vorschriften über den Selbstein-
tritt und die Uebernahme von Bürgschaften zu überwachen. Die
Kammer ist berechtigt, für die amtliche Tätigkeit der Kursmakler
Grundsätze und Regeln festzustellen, soweit nicht die Bestimmungen
des Börsengesetzes, der Börsenordnung und der von der Landes-
regierung erlassenen Ausführungsverordnungen entgegenstehen.
Die Maklerkammer hat die Befugnis zur Disziplinarbestrafung,
Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIII). 39
610 Georg Wermert,
falls ein Kursmakler die ihm obliegenden Pflichten oder die von der
Maklerkammer aufgestellten Grundsätze und Regeln verletzt. Ins-
besondere kommen die Disziplinarstrafen in Anwendung, wenn ein
Kursmakler ohne genügende Entschuldigung oder ohne Urlaub die
Börsenversammlung oder die Festsetzung der Kurse und Preise ver-
säumt oder aus Fahrlässigkeit bei dieser Feststellung unrichtige
Angaben macht. Die Disziplinarstrafen bestehen in Warnung, Ver-
weis, Geldstrafe bis zu 500 M. und zeitweiser Versagung des Zutritts
zu den Börsenversammlungen bis zur Dauer von drei Monaten.
Die Geldstrafen dienen zur Unterstützung von Kursmaklern oder
deren Hinterbliebenen.
Beschwerden über die Amtstätigkeit der Kursmakler können an
den Staatskommissar, den Börsenvorstand oder die Maklerkammer
gerichtet werden. Letztere beschließt über die Eröffnung des Ver-
fahrens. In Sachen, welche das Ehrengericht betreffen, ist sie nicht
zuständig. Zu den Disziplinarverhandlungen ist der Syndikus der
Aeltesten der Kaufmannschaft oder in dessen Behinderung ein
anderer Rechtskundiger als Beirat der Kammer zuzuziehen. Zur
Fällung eines Urteils ist die Anwesenheit von mindestens sieben
Kammermitgliedern erforderlich. Das Verfahren ist nicht öffentlich.
Der Staatskommissar hat hierbei als Vertreter der Anklage die
gleichen Befugnisse, wie im ehrengerichtlichen Verfahren. Gegen
die Entscheidung steht dem Staatskommissar sowie dem Beschul-
digten binnen 14 Tagen Beschwerde mit aufschiebender Wirkung an
die Aeltesten der Kaufmannschaft zu.
3. Bestrebungen der Kursmakler zur Befestigung ihrer Stellung.
Im Vorstehenden sind die wesentlichsten Bestimmungen über
die Kursmakler als Hilfspersonen bei der Notierung enthalten. Aus
ihnen erhellt die große Bedeutung, welche man der Einrich-
tung der Kursmakler verliehen hat. Sie besitzen gegenüber den
sonstigen Börsenbesuchern, wie auch gegenüber der unmittelbaren
Börsenaufsicht eine gewisse Selbständigkeit durch ihre gesetzliche
Vertretung der Maklerkammer und ihre direkte Unterstellung unter
den Staatskommissar, wenn sie auch, wie alle Börsenbesucher, dem
3örsenvorstande und dem Ehrengerichte unterstehen. Allerdings ist
ihr Charakter ein zwiespältiger: einesteils sind sie Beamte, die
dem Börsenvorstande bei der Kursfeststellung eine weitgehende
Hilfe zu leisten haben, während sie anderenteils Kaufleute gleich
den übrigen Börsenbesuchern bleiben, die durch Vermittelung mög-
lichst vieler und möglichst umfangreicher Geschäfte ihren Unterhalt
und Erwerb gewinnen. Diese Zwitterhaftigkeit ihres Wesens ver-
mochte jedoch ein befriedigendes Ergebnis nicht zu zeitigen. Es
haben daher fortgesetzt Kämpfe zwischen den Kursmaklern und ihrer
amtlichen Vertretung einerseits und dem Börsenvorstande anderer-
seits stattgefunden.
Die Bestrebungen der ersteren zielten darauf ab, ihre Bedeutung
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 611
bei der Kursnotierung zu erhöhen, wie auch ihnen tunlichst ein
Vermittlermonopol zu verschaffen und die freien Makler mehr und
mehr aus dem Börsenverkehre auszuschalten. Von anderer Seite
wurde die Maklerordnung angegriffen. Namentlich war es die
Uebertragung der Geschäftsverteilung (Gruppenbildung) auf die
Maklerkammer, welche nachhaltigen und heftigen Widerspruch erregte.
Indem diese Befugnis dem Börsenvorstande genommen und der
Maklerkammer übergeben wurde, erhielt die Stellung der Kursmakler
an der Börse eine gewisse Unabhängigkeit und nicht zu verkennende
Befestigung gegenüber der Börsenleitung und den dort bisher
herrschenden finanziellen Kräften ; sie bildeten gleichsam die schwachen
Ansätze einer kleinen Börse innerhalb der Börse; sie waren nicht
mehr in dem früheren Grade dem Einflusse ihrer Auftraggeber
unterstellt und besser befähigt, ohne allzu weitgehende Rücksicht-
nahme auf deren Ansinnen ihres Amtes zu walten. Andererseits
lag in der Zwitterstellung der Kursmakler nichts Befriedigendes,
nichts Abgeschlossenes, weshalb es ganz naturgemäß erscheint, wenn
ihre Vertretung das Amt weiter nach der Seite der Unabhängigkeit
von der Börsenleitung und der unmittelbaren Börsenaufsicht auszubauen
versuchte. Dem konnte am wirksamsten vorgebeugt werden, wenn
man der Maklerkammer die Geschäftsverteilung wieder entwandte.
Hier setzte daher der Hauptkampf ein.
Allerdings kann nicht geleugnet werden. daß $ 9b der ersten
Maklerordnung, der die Verteilung der Geschäfte unter die einzelnen
Kursmakler der Maklerkammer überträgt, nicht mit Absatz 2 des
$ 30 BG. in Einklang zu bringen ist, nach der die Maklerkammer bei
der Verteilung der Geschäfte unter die einzelnen Kursmakler gut-
achtlich zu hören ist. Hiernach hat eine ungenannte Behörde die
Geschäftsverteilung zu bewirken, und die Maklerkammer ist nur zu
einer begutachtenden Tätigkeit berufen. Allerdings ist die Behörde
im Gesetze nicht näher bezeichnet, welche die Geschäftsverteilung
vorzunehmen hat. Da aber diese Aufgabe wohl nur einer sachver-
ständigen Behörde übertragen werden kann und die unmittelbaren
Aufsichtsbehörden der Börse die erforderliche Sachverständigkeit
besitzen, so darf im Zweifel angenommen werden, daß dem Börsen-
vorstande, weil er aus dem Börsenleben hervorgewachsen ist und
ihm die weitestgehende Sachverständigkeit zuerkannt werden muß,
diese Aufgabe zukommt. Sollte dagegen die Maklerkammer die un-
genannte Behörde sein, so müßte sie sich selbst zu einer gutacht-
lichen Meinungsäußerung auffordern und anhören, eine Aufgabe, die
widersinnig ist und deshalb vom Gesetzgeber nicht gewollt sein
kann. Da nun ferner das Reichsgesetz die allgemeine Norm bildet,
und Reichsrecht nicht durch ein Landesgesetz. noch viel weniger
durch eine landesbehördliche Anordnung beseitigt werden kann, im
Gegenteile gemäß Artikel 2 der Reichsverfassung die Reichsgesetze
den Landesgesetzen vorgehen, letztere demnach beseitigen. so kann
allerdings geschlossen werden, daß $ 9b der Maklerordnung nicht
zu Recht besteht und die Geschäftsverteilung der Maklerkammer zu
39*
612 Georg Wermert,
Unrecht übertragen worden ist. Zwar hat $ 30 Abs. 2 BG. der
Landesregierung den Erlaß näherer Bestimmungen über die Be-
stellung und Entlassung der Kursmakler und die Organisation ihrer
Vertretung, sowie über ihr Verhältnis zu den Staatskommissaren
und den Börsenorganen übertragen, aber diese Bestimmungen
können nur so weit auf rechtliche Gültigkeit Anspruch erheben, als
sie sich mit dem Börsengesetze in Uebereinstimmung befinden und
die einschlägigen Angelegenheiten nicht durch dieses geregelt sind.
Solches ist durch $ 30 Abs. 2 BG. allerdings geschehen. Hier
liegt der Stein des Anstoßes, der nicht leicht aus dem Wege ge-
räumt werden kann. Zwar ist eingewandt worden, daß unter der
Regelung des Maklerwesens gemäß § 30 Abs. 2 BG. auch die Ver-
fügung über die Verteilung der Geschäfte eingeschlossen ist. Durch
die fragliche Bestimmung über die Anhörung der Maklerkammer
bei der Verteilung der Geschäfte ist die Befugnis der Landes-
regierung, entsprechende Anordnungen zu treffen, nicht ausge-
schlossen. Die Landesregierungen können, wenn sie wollen, der
Maklerkammer nur die Befugnis der gutachtlichen Meinungs-
äußerung zuweisen, sie bildet gleichsam das Mindestmaß der Rechte
der Maklerkammer, wie das Börsengesetz sie festsetzt. Da aber
keine andere Behörde genannt ist, der die Geschäftsverteilung über-
tragen werden muß, so kann die Landesregierung diese auch der
Maklerkammer überweisen. — Dem ist jedoch nicht beizutreten.
Von einem Mindestmaße der Rechte der Maklerkammer ist in
$ 30 Abs. 2 BG. nicht die Rede, wie sich bei ruhiger Betrachtung
des Wortlautes ergibt. Fraglich kann es nur sein, welcher Behörde
die Geschäftsverteilung zukommt. Da beide Aufgaben der Makler-
kammer, Gutachten bei der Bestellung der Kursmakler und bei
der Verteilung der Geschäfte zu erstatten, zusammen genannt
werden und die Bestellung ausdrücklich gemäß $ 30 Abs. 1 BG.
den Landesregierungen übertragen ist, so kann es fraglich er-
scheinen, ob die Geschäftsverteilung nicht auch zu den Obliegen-
heiten der Landesregierung gehört. Es liegt hier eine der vielen
Unstimmigkeiten des Börsengesetzes vor, die durch dessen viel ge-
tadelte mangelhafte Fassung hervorgerufen werden. Wenn die
Regierung die Geschäftsverteilung vorzunehmen hat, so kann sie
allerdings, da sie in dieser Angelegenheit nicht sachverständig ist, ihre
Entscheidungen in erster Hinsicht nach dem Gutachten der Makler-
kammer treffen. Sie würde daher im Grunde nur zu dem Ja sagen,
was ihr von genannter Stelle unterbreitet wird. Da durch diesen Ge-
schäftsgang aber unnütze Zeit verloren geht, der Börsenverkehr in-
dessen rasche Entschließungen und Entscheidungen verlangt, so kann
es die Regierung als zweckmäßig erachten, auf ihr Recht zu Gunsten
der Maklerkammer zu verzichten und dieser die Geschäftsverteilung
vollständig zu übertragen. Solches erscheint um so mehr ange-
bracht, als die Maklerkammer gleichsam ein Organ der Regierung
bildet und der Staatskommissar mit ihr in engster Fühlung steht.
Dazu bleibt dem Börsenvorstande gemäß § 6 Ziffer 6 der Börsen-
ordnung vom 23. Dezember 1896 die Ueberwachung der von der
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden etc. 613
Maklerkammer vorzunehmenden Verteilung der Geschäfte unter die
Kursmakler nach Maßgabe der in der Maklerordnung erlassenen
Bestimmungen vorbehalten.
Somit war alles in schönster Ordnung; nur schade, daß dieser
Verzicht der Regierung auf ein ihr nach obiger Voraussetzung zu-
stehendes Recht zu Gunsten der Maklerkammer gegen den Wortlaut
von $ 30 Abs. 2 BG. verstößt, auch die Landesregierung nicht die
Befugnis hat, auf ein ihr durch Reichsgesetz übertragenes Recht
entgegen dem Wortlaute des Gesetzes zu Gunsten einer unteren
Organisation, die gesetzlich in der gleichen Sache mit einer anderen
Aufgabe betraut ist, zu verzichten. Dazu ist die obige Voraus-
setzung, die Regierung habe die Geschäftsverteilung zu bewirken, höchst
anfechtbar und findet im Gesetze keine ausreichende Stütze. Die
Bestellung und Geschäftsverteilung werden im $ 30 BG. streng aus-
einandergehalten; nur erstere ist ausdrücklich der Landesregierung
übertragen. Wenn es seitens der letzteren hätte gleichfalls stattfinden
sollen, würde der Gesetzgeber dem Ausdruck verliehen haben.
Bisher hatte der Börsenvorstand die Geschäftsverteilung vorge-
nommen, sie gehörte zu den laufenden Geschäften des Vorstandes.
Für die Börse in Berlin war seit längeren Jahren die Verteilung
deshalb eingeführt worden, weil der große Geschäftsverkehr und die
Vielheit der gehandelten Papiere sie dringend erforderlich machte.
Eine ausreichende Kenntnis jeden Papiers war von sämtlichen
Maklern nicht mehr zu verlangen. Nicht die Kursfeststellungen,
sondern die Vermittlerfunktionen der Makler hatten die Verteilung
notwendig gemacht, weil ein Makler sich nur mit einer besonderen
Gruppe von Papieren befaßte. Daher war die Verteilung der Ge-
schäfte nicht nur bei den vereidigten Handelsmaklern, die bei der
Kursnotierung als Gehilfen dienten, sondern auch bei allen sonstigen
Maklern allgemein durchgeführt. Bisher hatten die Auftraggeber,
die großen Banken und Bankiers, einen maßgebenden Einfluß auf
die Geschäftsverteilung, damit die für das jeweilige Papier be-
fähigsten Personen ausgewählt würden. Dieser Einfluß wurde durch
den Börsenvorstand, der durch das Vertrauen der Börse berufen
war, ausgeübt. Deshalb verlangten die Aeltesten der Kaufmann-
schaft, daß ihm nunmehr nicht die Geschäftsverteilung genommen
und ihm nicht bloß ein Beschwerderecht gewahrt bleiben sollte.
Bisher seien nach ihrer Meinung durch diese Tätigkeit des Börsen-
vorstandes nie Unzuträglichkeiten entstanden. Dazu besitze an
anderen Börsen, so z. B. in Frankfurt a. M., die Handelskammer
die Entscheidung über die Geschäftsverteilung.
Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß das Börsengesetz das
Börsenwesen einheitlich für das ganze Reich regelt und irgend welche
historischen Rechte oder Bräuche nach seinem Inkrafttreten entgegen
dem Willen des Bundesrates ($ 35 BG.) nicht mehr bestehen. Es
ist daher äußerst zweifelhaft, daß alle Rechte, die nicht ausdrücklich
im Börsengesetze einer anderen Behörde übertragen sind, dem
Börsenvorstande zustehen sollen.
Der preußische Handelsminister zerschnitt indessen den Knoten
614 Georg Wermert,
und entschied im Erlasse vom 11. Juni 1397 zu Gunsten der Makler-
kammer, wobei er sich allerdings über den fraglichen und zu
Zweifeln Anlaß gebenden Wortlaut des Gesetzes hinwegsetzte. Die
Stempelvereinigung, eine Verbindung der angesehensten Banken
und Bankiers von Berlin, hat indessen den Kampf weiter fortge-
führt und bei Androhung der Entziehung ihrer umfangreichen Auf-
träge es durchgesetzt, daß die Maklerkammer dem Börsenvorstande
die in Aussicht zu nehmende Geschäftsverteilung vorlegen muß,
wobei dieser innerhalb 8 Tagen Einspruch erheben kann. Erst
wenn in dieser Zeit keine Antwort erfolgt, ist die Maklerkammer
befugt, die Geschäftsverteillung zu veröffentlichen. Die Makler-
kammer erklärte sich mit diesem Verfahren unterm 23. Juli 1898
einverstanden.
Das war die erste Phase des Kampfes der Kursmakler um die
Erlangung größerer Selbständigkeit und Geschäftsbetätigung, die für
sie mit einem Siege endete. Ihr ferneres Streben ging naturgemäß
dahin, die freien Makler von der Börse zu verdrängen, durch die
ihnen ein großer Teil der Aufträge genommen wurde. Ferner
wünschten sie, daß ihnen die Kursfeststellung gänzlich übertragen
und dem Börsenvorstande abgenommen werde. Durch letzteres sollte
der bestehende Zustand einfach legalisiert werden; denn de facto
stellen die Kursmakler die Kurse fest, während die Börsenkommissare
für sie die Verantwortung tragen. Seitens der Aeltesten der Kauf-
mannschaft suchte man nicht nur diesen Anforderungen entgegenzu-
wirken, sondern auch die Geschäftsverteilung der Maklerkammer
wieder zu entziehen und dem Börsenvorstande zu übertragen. —
Da kam ein neues Moment in die bisherige Börsenfrage. Lebhafte
Agitationen innerhalb der Industrie- und Handeltreibenden Berlins,
vom Handelsministerium begünstigt, bewirkten die Schaffung der
Handelskammer zu Berlin, worauf die Uebertragung der unmittel-
baren Aufsicht der Börse an sie erfolgte. Dadurch wurden die
Aeltesten der Kaufmannschaft aus ihrem alten Erbe geworfen.
Die bisher keineswegs einfache Situation erfuhr nunmehr eine Ver-
wickelung in so starkem Maße, daß sie nur unter der Voraussetzung
einer allseitigen Willensbetätigung bona fide auf die Dauer fortzu-
führen ist. Bei ernsten Friktionen läßt sich die Börsenorganisation
in ihrer jetzigen Gestalt wohl kaum aufrecht erhalten.
Der Börsenunternehmer — das sind die Aeltesten der Kauf-
mannschaft —, dem das Börsengebäude und alle sonstigen Ein-
richtungen gehören, hat an der Börse überhaupt nichts mehr zu
sagen. Er kann sich nur mit den Verwaltungsangelegenheiten, der
Einziehung der Beiträge und der Bestreitung der Kosten befassen.
Nach der nunmehr geltenden Börsenordnung vom 31. März 1903
ist die unmittelbare Aufsicht über die Börse und alle auf den
Börsenverkehr bezüglichen Einrichtungen der Handelskammer über-
tragen. Damit begnügt sich aber die Börsenordnung nicht; denn es
wird der Handelskammer gemäß $ 2 auch ein weit reichender Einfluß
innerhalb des Börsenvorstandes gesichert. Von 36 Vorstandsmit-
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden etc. 615
gliedern sind 9 von der Handelskammer aus ihrer Mitte zu wählen.
Diese werden der Börse demnach von außen oktroyiert, und nur 27
hat die Gesamtheit der Börsenbesucher zu erküren. Von diesen
müssen 15 der Fondsbörse und 12 der Produktenbörse angehören.
Die Aeltesten der Kaufmannschaft haben nichts hinzuzuwählen, nur
wurde bestimmt, damit sie nicht gänzlich aus dem Börsenvorstande
verdrängt werden können, daß von den zu wählenden 15 Mitgliedern
der Fondsbörse 4 und von den zu wählenden 12 Mitgliedern der
Produktenbörse 2 Mitglieder der Aeltesten der Kaufmannschaft sein
müssen. Es stehen demnach im Börsenvorstande 6 Aelteste 9 Handels-
kammermitgliedern gegenüber. Die weiteren 21 Mitglieder des
Börsenvorstandes werden von den Börsenbesuchern frei gewählt,
sie können Aelteste der Kaufmannschaft sein, brauchen es aber
nicht, während sie Mitglieder der Handelskammer nicht sein sollen.
Bei einer derartigen auf Stelzen ruhenden Anordnung dürfen, wie
bemerkt, Reibungen ernsterer Natur nicht ausbrechen, wenn nicht
der gekünstelte Bau gleich einem Kartenhause zusammenfallen soll.
Das Merkzeichen der Dauerbarkeit trägt er keineswegs in sich. —
Hierbei vollzog sich ein weiterer Schritt auf dem Wege
der Selbständigmachung der Kursmakler. Die Ziffer 6 in $ 6 der
alten Börsenordnung wurde gestrichen, so daß der Börsenvorstand
nicht mehr die Aufgabe hat, die von der Maklerkammer vor-
zunehmende Verteilung der Geschäfte unter die Kursmakler nach
Maßgabe der in der Maklerordnung erlassenen Bestimmungen zu
überwachen.
Auf Grund der neuen Börsenordnung mußte die Maklerordnung
vom 4. Dezember 1896 einer Revision unterworfen werden. Eine
neue Maklerordnung wurde von der Maklerkammer vorgeschlagen,
in der die Unabhängigkeit der Kursmakler einen weiteren kräftigen
Schritt vorwärts machte. Seitens des Börsenvorstandes und der
Aeltesten erhob man gegen den Entwurf heftigen Widerspruch. Die
hauptsächlichsten Streitpunkte bestanden in folgendem:
Die Berufung der Maklerkammer soll nur auf Antrag des Staats-
kommissars, der Handelskammer, von 5 Mitgliedern der Makler-
kammer und 20 Kursmaklern erfolgen, dagegen nicht mehr auf An-
trag der Aeltesten der Kaufmannschaft. Da aber die letzteren in
Verwaltungsangelegenheiten die letzte Instanz der Börse bleiben,
wird von ihnen das Recht in Anspruch genommen, über einen Ver-
waltungsstreitfall einen Beschluß der Maklerkammer herbeizuführen.
Die Beschwerden über die Amtstätigkeit der Kursmakler sollen
nicht mehr wie seither an den Börsenvorstand, sondern an den
Staatskommissar oder an die Maklerkammer gerichtet werden. Dann
erlangt aber der Börsenvorstand keine Kenntnis mehr von den Be-
schwerden in Disziplinarsachen, über die von der Maklerkammer zu
beschließen ist. Die meisten Beschwerden haben jedoch die Fest-
stellung der Kurse zum Gegenstande, über welche die Börsen-
kommission zu befinden hat. Letztere hält daher eine Kenntnis der
Beschwerden für unumgänglich notwendig. Falls hierbei auf die
616 Georg Wermert,
Amtstätigkeit der Kursmakler zurückzugreifen ist, ist die Beschwerde
von dem Börsenvorstande an die Maklerkammer weiterzugeben.
Bisher bewilligten die Aeltesten der Kaufmannschaft die Urlaubs-
gesuche der Kursmakler, die beim Börsenvorstande anzubringen
waren. Das Streben der Kursmakler geht nun dahin, in dieser
Frage vom Börsenvorstande und der unmittelbaren Aufsichtsbehörde
gänzlich unabhängig zu werden. Deshalb sollen in Zukunft die Ur-
laubsgesuche an die Maklerkammer gerichtet und seitens der An-
stellungsbehörde genehmigt werden. — Nach Ansicht der Börsen-
kommission verlangt jedoch die ordnungsmäßige Abwickelung des
Verkehrs die Anwesenheit des Kursmaklers und nicht die seines
Stellvertreters. Es werden deshalb am geeignetsten die Urlaubs-
gesuche vom Börsenvorstande genehmigt, da auch den nachträglichen
Benachrichtigungen über den bewilligten Urlaub ihrer Ansicht zu-
folge kein erheblicher Wert beizumessen ist.
Durch die Bewilligung der Urlaubsgesuche seitens der An-
stellungsbehörde wird allerdings das Verhältnis der Kursmakler
zum Börsenverkehre etwas gelockert, ihre Unabhängigkeit hebt sich
gegenüber den vielfach an sie herantretenden Einflüssen. Es konnte
demnach kaum fraglich erscheinen, was im öffentlichen Interesse
nach dieser Richtung zu tun war.
Der wichtigste Streitpunkt lag in der Gestaltung der Kurs-
notierung. Die Maklerkammer forderte, daß die Feststellung der
Kurse gänzlich den Kursmaklern übertragen werden möge. Dieser
Zustand bestehe jetzt schon. eine tatsächliche Aenderung werde da-
mit also nicht durchgeführt. Der Börsenkommissar spiele nämlich
bei der Kursfeststellung nur eine überflüssige, stumme Figur, die
im Interesse der Richtigkeit der Kurse zu entbehren sei. — Tat-
sächlich bereiten die Kursmakler an der Schranke, d. h. im offenen
Markte die Kurse vor und geben ihre Feststellungen den Sekretären
im Notierungszimmer kund. Die amtierende Kommission des Börsen-
vorstandes kann unmöglich eine Uebersicht über die zahlreichen
Kurse besitzen, die zu notieren sind, weshalb sie nur dann einzu-
greifen vermag, wenn von irgend einer Seite Widerspruch erhoben
wird. Aber selbst bei einem solchen bildet das Maklerbuch die
sicherste Unterlage für die Gestaltung der Kurse. Nach Ansicht
der Maklerkammer treten Einsprüche nicht sehr zahlreich hervor.
In mehreren Fällen wird bereits bei der Vorbereitung der Kurse
an der Schranke Einspruch erhoben, und falls eine Einigung zwischen
Kursmakler und Antragsteller nicht zu stande kommt, kann ein
amtierendes Mitglied des Börsenvorstandes zur endgültigen Ent-
scheidung an die Schranke gerufen werden. In gleicher Weise
werden Einsprüche gegen den angeschriebenen ersten Kurs erledigt,
der, soweit sich nicht Einsprüche geltend machen, als der anerkannte
erste Kurs gilt.
Zur Erledigung solcher Streitfälle ließe sich allerdings auch
wohl eine Kommission aus Mitgliedern der Maklerkammer bilden,
die täglich zur Stelle sein muß.
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete, 617
Wenn sonach der Börsenvorstand bei der Kursnotierung ent-
behrlich erscheinen kann, so ist zu erwägen, ob nicht bei ihrer
Uebertragung auf die Kursmakler eine Einseitigkeit der Kursfest-
stellung platzgreifen wird. Ein großer Teil des Verkehrs an der
Börse vollzieht sich nicht durch die Kursmakler, sondern durch freie
Makler und Maklerbanken. Wenn der Kurs der wirklichen Ge-
schäftslage des Verkehrs an der Börse entsprechen soll, dürfen die
umfangreichen Kassa- und Ultimogeschäfte der freien Makler und
der Maklerbanken nicht unberücksichtigt bleiben, zumal diese oft
ein Vielfaches derjenigen der Kursmakler bilden. Die Geschäfte der
letzteren werden angesagt, um durch die ersteren ihre Korrektur
zu erhalten. Wird dieser große Verkehr ausgeschaltet, dann treten
die Fälle immer zahlreicher in die Erscheinung, daß durch Berück-
sichtigung einiger weniger durch Kursmakler abgeschlossenen Ge-
schäfte ein nicht zutreffendes Bild von den Kursen gegeben wird, der
Kurszettel demnach keine objektive Wahrheit enthält. — Ferner ist
behauptet worden, daß der Kursmakler als Händler bei der Kursfest-
stellung interessiert sei, der Börsenvorstand dagegen den Kursen
unparteiisch gegenüberstände. Solches ist aber nur cum grano salis
zu nehmen; denn die Mitglieder des Börsenvorstandes sind gleich-
falls Börsenkaufleute, welche die Börse besuchen, um Geschäfte zu
machen. Auf was für Papiere ihr augenblickliches Interesse sich
erstreckt, vermag niemand zu sagen. Dazu haben sie hierüber keinem
Auskunft zu geben. Der Kursmakler ist insofern unparteiischer, als
sich bei ihm Angebot und Nachfrage ziemlich ausgleichen und er fast
nur Vermittler von Geschäften ist. Soweit ihm ein beschränktes Ein-
trittsrecht gewährleistet ist und er hiervon Gebrauch macht, kann
er zwar auch als Händler in Betracht kommen. Wie stark diese seine
Interessen sind, ist aus seinem Buche zu erkennen, das auf Ver-
langen vorgelegt werden muß. Dennoch gibt das Tagebuch des
Kursmaklers keineswegs eine sichere Gewähr dafür, daß er den
Kursen objektiv gegenübersteht; denn er kann seine Kenntnis des
Geschäftsverkehrs, die er durch seine eingehenden Beziehungen zu
Großbanken und Bankiers erhält, dadurch ausnutzen, daß er durch
Substituten oder Freunde umfangreiche Geschäfte für eigene Rechnung
ausführen läßt, bei denen eine gebeugte Kursfeststellung für ihn
persönlich von Nutzen ist. Dieser Fall würde dem anderen gleich-
kommen, falls er zu Gunsten der Geber bedeutender Aufträge, die
seinen Verdienst erheblich erhöhen, eine nicht völlig zutreffende Fest-
stellung der Kurse bewirkt. Mit diesen Handlungen verstößt er
aber gegen seinen Eid, die ihm obliegenden Pflichten getreu zu er-
füllen, weshalb er seiner Stellung unwürdig ist.
Allerdings ergibt sich die Kursfeststellung aus dem heftigsten
Widerstreite der Interessen: der Verkäufer wünscht im regelrechten
Verkehre einen möglichst hohen, der Käufer einen möglichst niedrigen
Kurs. Da eine unparteiische Instanz nirgends vorhanden ist, weder
im Börsenvorstande noch innerhalb der Maklerklasse, weder bei den
Käufern noch bei den Verkäufern oder. bei den Hilfspersonen des
618 Georg Wermert,
Handels, so verlangt das öffentliche Interesse eine Kontrolle von
unparteiischer Seite.
Zwar behaupten die Aeltesten der Kaufmannschaft, daß die
Berliner Börse ihre frühere Größe wegen der absolut zuverlässigen
Kursfeststellung sowohl im Kassa- wie im Ultimoverkehre erlangt
habe. Durch die Uebertragung der Kursnotierung auf die Kurs-
makler werde eine Verbesserung nicht hervorgerufen, sondern die-
jenige, welche das Börsengesetz durchgeführt habe, werde sogar wieder
in Frage gestellt. Es sind dies jedoch wohlfeile Behauptungen, für
die kein Beweis erbracht, ja, nicht einmal versucht worden ist, Be-
hauptungen, die noch zum Teil mit sich selbst im Widerspruche
stehen.
Das Börsengesetz betrachtet die Kursmakler nur als Hülfs-
personen, welche zur Mitwirkung bei der amtlichen Feststellung des
Börsenpreises berufen sind (§ 30 Abs. 1 BG.). Dennoch ver-
stößt die gänzliche Uebertragung der Kursnotierung auf die Kurs-
makler nicht gegen das Gesetz; denn der Bundesrat hat gemäß
$ 35 BG. die Befugnis, entgegen den Vorschriften der §§ 29, 30
und 31 BG. eine abweichende amtliche Feststellung des
Börsenpreises von Waren oder Wertpapieren für einzelne Börsen
zuzulassen. Der Landesregierung steht indessen die gleiche Be-
fugnis nicht zu. Soll daher für Berlin eine Uebertragung der Kurs-
notierung auf die Kursmakler stattfinden, so hat die preußische Re-
gierung hierüber einen Beschluß des Bundesrates zu extrahieren.
Ein derartiger Antrag Preußens ist nicht unberechtigt; denn $ 3
BG. ist nicht nur für die hanseatischen Börsen geschaffen, um
ihre auf historischer Entwickelung beruhende, abweichende Kurs-
notierung auch weiterhin zu ermöglichen, sondern er besitzt eine
allgemeine Bedeutung. Es kann daher auch die Kursfeststellung
der Berliner Börse, die sich seither auf Grund der gesetzlichen
Vorschriften entwickelt hat, gemäß Ziffer 1 des $ 35 BG. einer
Aenderung unterzogen werden, falls eine solche sich als wünschens-
wert herausstellt, oder sich als notwendig erweist. Es fragt sich
nur, zu welchem Beschlusse die preußische Regierung auf Grund
der genauesten Erwägung der vorliegenden . Angelegenheit gelangt.
Nicht nur an hanseatischen Börsen, sondern auch in Frankfurt a. M.
besteht keine Mitwirkung des Börsenvorstandes bei der Kursfest-
stellung. In dieser Stadt hat allerdings keine Gruppenbildung platz-
gegritien, jeder Makler kann jedes Papier handeln, und die Kurse
werden von sämtlichen Kursmaklern festgestellt. Die Oeffentlichkeit
ist daselbst so groß, daß man eine besondere Ueberwachung der
Notierung nicht für erforderlich hält, trotzdem in jener Stadt be-
deutende Umsätze stattfinden und die daselbst festgestellten Kurse
für einen erheblichen Teil des Deutschen Reiches als maßgebend an-
gesehen werden.
Eine Etappe zur weiteren Selbständigmachung war der Vorstoß
der Kursmakler, sich dem Ehrengerichte zu entziehen. Nach $ 10
BG. hat das Ehrengericht seine Tätigkeit auf alle Börsenbe-
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden etc. 619
sucher zu erstrecken. Gemäß $ 2 Absatz 2 der Börsenordnung
gelten als Börsenbesucher, soweit sie zur Börse zugelassen sind:
gegenwärtige und frühere Inhaber von Handelsfirmen, ferner, soweit
deren Firmen bezw. Gesellschaften am Börsenverkehr beteiligt sind, die
Vorstandsmitglieder von Aktiengesellschaften, die persönlich haften-
den Gesellschafter von Kommanditgesellschaften und Kommandit-
gesellschaften auf Aktien, die Geschäftsführer und die Gesellschafter
einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung und die Vorsteher einge-
tragener Genossenschaften, dann die Prokuristen der vorbezeichneten
Firmen und Gesellschaften. Die Kursmakler dürfen nach $ 32 BG.,
soweit nicht die Landesregierung Ausnahmen zuläßt, kein sonstiges
Handelsgewerbe betreiben, auch nicht an einem solchen als Kom-
manditist oder stiller Gesellschafter beteiligt sein; ebensowenig
dürfen sie zu einem Kaufmanne in dem Verhältnisse eines Proku-
risten, Handlungsbevollmächtigen oder Handlungsgehilfen stehen.
Dagegen sind die Geschäfte der Handelsmakler als Handelsgewerbe
zu betrachten, sobald sie gewerbemäßig ausgeführt werden. Da nun
nach $ 1 HGB. derjenige Kaufmann im Sinne des Handelsgesetzbuches
ist. welcher ein Handelsgewerbe betreibt, und die Handelsmakler als
Kaufleute ihre Firma in das Handelsregister eintragen lassen müssen,
so sind auch die Kursmakler gleich den freien Handelsmaklern gemäß
$ 2 Abs. 2 der Börsenordnung Börsenbesucher im Sinne des Börsen-
gesetzes und als solche unterstehen sie nach $ 10 BG. dem Ehren-
gerichte. Sollten sie ihm daher entzogen werden, so werden sie da-
mit als eine eigene Körperschaft von dem Selbstverwaltungsorganis-
mus der Börse losgelöst. Ihre Eigenschaft als Börsenkaufleute muß
dabei zurücktreten auf Grund ihrer Beamtenqualifikation.
Nach gleicher Richtung zielt das Bestreben der Kursmakler,
dahin zu wirken, daß die Befugnis, Grundsätze und Regeln für ihre
Börsentätigkeit aufzustellen, von der unmittelbaren Aufsichtsbehörde
auf die Maklerkammer übertragen werden soll. Der Börsenvorstand
wünscht dieses Recht der Handelskammer zu erhalten; denn sonst
könnten die Anordnungen, die der Börsenvorstand oder die Handels-
kammer für notwendig erachteten, von der Maklerkammer durch-
kreuzt werden. Dazu verlangt der Börsenvorstand, daß auch die
Geschäftsordnung, welche sich die Maklerkammer zu geben befugt
ist, der Handelskammer zur Genehmigung unterbreitet werden soll
und daß ferner dieser die Aufsicht über die Maklerkammer über-
tragen werde, wie ihr auch das Recht zustehen müsse, Mitglieder zu
den Sitzungen der Maklerkammer zu entsenden. Den Jahresbericht
soll die letztere wie bisher dem Börsenvorstande, der Börsenauf-
sichtsbehörde und dazu auch der Börsenverwaltungsbehörde einsenden,
da dessen Kenntnisnahme für sie notwendig sei.
Der Vorstoß der Maklerkammer wurde nicht nur mit dieser Ab-
wehr, sondern auch mit kräftigen Gegenstößen des Börsenvorstandes,
wie der Börsenverwaltungsbehörde gegen die Kursmakler erwidert.
Bisher hatte der Börsenvorstand gemäß $ 21 Abs. 2 der Bekannt-
machung vom 4. Dezember 1896 das Recht, falls sich Zweifel und
620 Georg Wermert,
Differenzen bei der Feststellung der Kurse ergaben, die Vorlegung
der Tagebücher der Kursmakler zu verlangen und unter Verdeckung
der Namen der Kontrahenten Einsicht von ihnen zu nehmen. Durch
die Verdeckung der Namen findet sich der Börsenvorstand in der
Ausübung seiner Pflichten gehindert, auch wird sie von ihm als ein
Mißtrauen in die Unparteilichkeit der Vorstandsmitglieder aufgefaßt,
weshalb dieser Vorbehalt verschwinden müsse.
Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß die Kenntnis der Namen
nichts mit der Kursnotierung zu schaffen hat, da es sich bei dieser
Tätigkeit nur um die authentische Feststellung der wirklich bezahlten
Preise handelt. Durch Offenlegung der Namen werden aber die
Maklerbücher dem Börsenvorstande gänzlich preisgegeben, was nicht
statthaft ist, solange die Vorstandsmitglieder selbst Börsenkaufleute
sind und Gelegenheit nehmen, je nach ihrer Kenntnis der Marktlage
Aufträge zu Käufen und Verkäufen zu geben. —
Ferner wünscht der Vorstand eine Beschränkung der Tätigkeit
der Kursmakler auf Börsenbesucher, die im Besitze einer Börsen-
karte sind (§ 15 der Börsenordnung). Dieses Verlangen wird damit
begründet, daß nach der herrschenden Usance die Dreimänner-
kommission, durch welche Streitigkeiten an der Börse sofort zum
Austrage gebracht werden, nur gegen Börsenbesucher einschreiten
kann. Haben daher die Kursmakler Geschäfte vermittelt, bei denen
nur der eine Teil den Börsenusancen unterworfen ist, so kann bei
entstandenen Differenzen von diesem äußerst praktischen Hilfsmittel
kein Gebrauch gemacht werden. Er ist daher auf einen weit
schwierigeren und kostspieligeren Weg angewiesen. Die Tragweite
dieses unschuldig aussehenden Antrages wird weiter unten näher
beleuchtet werden.
Dann wünscht der Börsenvorstand, daß ihm regelmäßig von
erheblichen Verfehlungen eines Kursmaklers amtlich Mitteilung ge-
macht werde.
Ein anderer bedeutender Vorstoß des Börsenvorstandes richtet
sich gegen die Verteilung der Geschäfte unter die einzelnen Kursmakler
(Gruppenbildung) durch die Maklerkammer. Dieses Recht sei auf-
zuheben und dem Börsenvorstande wieder zu übertragen. Die Makler-
kammer suche die Verteilung unter dem Gesichtspunkte eines finan-
ziellen Ausgleiches zu bewirken, damit den Kursmaklern ein möglichst
gleichmäßiges Einkommen gesichert werde. Solches liege nicht im
Interesse der Verkehrsentwickelung, nach welcher die in Frage
kommenden Papiere stets denjenigen Kursmaklern zugeteilt werden
müßten, welche die für sie erforderlichen Erfahrungen und Geschäfts-
kenntnisse in größtem Maße besitzen.
Würde man diesem Ansinnen stattgeben, dann könnten allerdings
die Banken sich die ihnen gefügigsten Kursmakler bei ihren Emissionen
aussuchen, damit sie in ihnen willige Helfer betreffs der jeweiligen
Gestaltung der Kurse fänden! —
Die ganze Angelegenheit spitzte sich schließlich zu einem Kampfe
zwischen den großen Banken und Bankiers einerseits und der Kurs-
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 621
maklervertretung andererseits zu, wobei es sich um die Herrschaft
über die Kursgestaltung drehte, d.h. umden Kern- und Knoten-
punkt der gesamten Börse, und es wurden seitens der mäch-
tigen Hochfinanz nicht mißzuverstehende Drohungen ausgestoßen,
nämlich, wenn die Kursmakler in diesem Streite siegen würden, dann
dürfte wohl eine lebhafte Verstimmung gegen sie an der Börse
hervortreten. — >
Allerdings haben die Vertreter der Hochfinanz es in ihrer Macht,
den Kursmaklern viele oder wenige Aufträge zuzuführen. Bei einer
Steigerung der Gegensätze und einer nachhaltigen Verstimmung ist
sie tatsächlich in der Lage, die bei weitem überwiegende Mehrheit
der Aufträge, die von ihr überhaupt an die Börse gelangen, durch
die Maklerbanken und die freien Makler, d. h. durch die Kulisse
ausführen zu lassen und die Kursmakler noch mehr, als es seither
schon geschehen, aufs Trockene zu setzen. Ihnen könnte man sodann
nur so geringe Mengen von Aufträgen zuerteilen, damit lediglich
die Kurse in der beabsichtigten Weise beeinflußt werden. Die Ein-
nahmen der Kursmakler, die sonst infolge der hohen Kurtage statt-
lich fließen, werden mithin nur noch tropfenweise sickern. Ihre Ab-
hängigkeit von der hohen Finanz wird ihnen daher recht kräftig zu
Gemüte geführt. Aber nicht bloß dies, sie werden auch in amtlichen
Schriftstücken in ihrer geschäftlichen Tätigkeit verdächtigt. Der
Börsenvorstand deutet an, daß sich die Banken und Bankiers bei
ihren großen Aufträgen den Kursmaklern anvertrauen müssen und
nicht verhindern können, daß diese ihre auf solche Weise erlangten
Erfahrungen trotz des beschränkten Selbsteintrittsrechtes durch Sub-
stituten oder Gehilfen ausnutzen. Möglich ist es allerdings und
kann auch in dem einen oder anderen Falle wohl in Wirklichkeit
vorkommen, trotz der für den Kursmakler hervortretenden Gefahr,
beim Mißlingen der Spekulation seine ganze Existenz aufs Spiel zu
setzen. —
Der Börsenvorstand glaubt, das Wesen der Kursmakler der Re-
gierung recht kräftig zeichnen zu müssen. Die Kursmakler sind
nach ihm Börsenkaufleute, die Geld verdienen wollen. Zahlreiche
Bewerbungen finden um einen erledigten Posten statt. Die Kurtage
der Kursmakler ist hoch bemessen, sie steht in keinem Verhältnisse
zum Verdienste des Bankiers, der in der sinkenden Provision liegt.
Dazu ist der Geschäftsgewinn der Kursmakler ein fast risikoloser,
während die Banken und Bankiers viel leichter Verlusten ausgesetzt
sind und dazu noch mit höheren Unkosten zu rechnen haben. Wenn
nun die Kursmakler ihren Geschäftsverkehr selbst zu regeln berechtigt
wären, dem Börsenvorstande die Kursfeststellung entzogen und ihnen
übertragen werden sollte; wenn sie dem Ehrengerichte nicht mehr
unterworfen wären und die Börsenordnung, sowie das Börsengesetz
für sie nicht in Frage käme: so müßte sich der Börsenbesucher eine
Erbitterung bemächtigen, die darauf hinausgehe, Mittel und Wege
ausfindig zu machen, um die Dienste dieser früher als Hilfspersonen,
Jetzt aber als die Herren der Börse zu betrachtenden Kursmakler
622 Georg Wermert,
entbehrlich zu machen. Es wäre zu erwägen, ob nicht die ganze Ein-
richtung der Kursmakler zu beseitigen sei, oder ob man dieselben
der Eigenschaft als Kaufleute entkleiden müßte, um sie in Börsen-
beamte mit festem Gehalte umzuwandeln. —
Das Letzte ist wohl als eine nicht unwirksame Drohung aufzu-
fassen, um die Kursmakler von ihrem weiteren Streben nach Sellst-
ständigkeit abzuschrecken, weil sie durch Umwandlung ihrer Stellung
in Börsenbeamte allerdings des größten Teiles ihres bisherigen, nicht
geringen Einkommens entkleidet werden würden. —
In ähnlicher Weise betont auch die Börsenverwaltungsbehörde,
daß es den Gesamtinteressen der Börse zuwiderlaufe, wenn die Ab-
sicht der Maklerkammer darauf hinausginge, den Wettbewerb der
freien Makler und der Maklerbanken zu beseitigen und die Kurs-
makler zu Herren der Börse zu machen. Sie erstreben ein privat-
wirtschaftliches Monopol, daher entstehen die Reibungen zwischen
ihnen und den freien Maklern an der Börse. Es dürfen weder die
Kursmakler in den Hintergrund gedrängt, noch die freien Makler
ausgeschaltet werden. Die umfassende Vermittlertätigkeit der Börse
läßt ein Zusammenarbeiten beider zu. Nach den Aeltesten darf ihre
privatwirtschaftliche Vermittlertätigkeit nicht über diejenigen Befug-
nisse erhöht werden, die ihnen durch das Privileg der Mitwirkung
bei der Kursfeststellung gewährt wird.
Wie sehr die Erbitterung bereits während des Kampfes sich
geltend gemacht hatte, erhellt aus der Aeußerung der Aeltesten, dab
die bisherige Unparteilichkeit in der Kursfeststellung in eine Partei-
lichkeit umgewandelt werde, falls sie den Kursmaklern übertragen
werden sollte. Die Uebertragung der Geschäftsverteilung an die
Maklerkammer (Gruppenbildung) habe bereits eine tiefgreifende Miß-
stimmung unter den Börsenbesuchern und den Kursmaklern selbst (!)
hervorgerufen. Der Maklerkammer, die wagt, die Interessen der ihr
unterstellten Kursmakler zu vertreten, wird jegliches Sachverständnis
von vornherein abgesprochen. Wie darf sich auch dieses Institut
neben den bisher fast unbeschränkten Herrschern der Börse geltend
machen wollen! Von ihr wird behauptet, daß sie nicht mit Sach-
kenntnis und Unbefangenheit urteilen könne über Angelegenheiten,
die, soweit allgemeine Gesichtspunkte in Frage kommen, die Makler-
kammer wenig berühren, soweit es sich aber um persönliche Interessen
handele, die Objektivität der Beurteilung beeinträchtigen. Wann ist
nun aber die arme Maklerkammer sachverständig? Sie muß wohl
(da sie es niemals sein kann, denn es wird ihr solches von einer sich
gewiß für sachverständig haltenden Behörde abgesprochen), wie jener
Kretin im Salzburgischen, jeden Vorübergehenden um Verzeihung
bitten, daß Gott sie geschaffen habe? —
Wenn aber obiges für die Maklerkamm er zutreffend sein dürfte.
könnte sie unseres Erachtens dasselbe mit gleichem Rechte von der
Börsenverwaltungsbehörde behaupten. —
Durch den Erlaß vom 27. November 1897 war bereits, wie be-
merkt, die Geschäftsverteilung der Maklerkammer etwas modifiziert
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 623
worden. Die Regierung wich vor der Hochfinanz, die mit ihrem
vollen Zorne gedroht hatte, ein wenig zurück. Jetzt war die Zeit
gekommen, die ganze Berechtigung der Maklerkammer wieder zu
nehmen, weil sie dahin führte, die Auftragegber an der Börse, die
durch ihre Aufträge die Vorbedingung und die Grundlage der Ver-
mittlertätigkeit bilden, in den Hintergrund zu drängen zu Gunsten
der Kursmakler.
Die Spannung zwischen Kursmaklern und freien Maklern an der
Börse wurde tatsächlich immer straffer. Erstere weigerten sich ge-
radezu, Aufträge von diesen entgegenzunehmen. Auf eine Klage
an die Börsenaufsicht entschied diese gegen die Kursmakler. Die
Urteilsbegründung führte aus, daß die Börse den gesamten Verkehrs-
interessen zu dienen habe. Jeder Börsenbesucher besitze das gleiche
Recht auf Benutzung der Börseneinrichtungen. Diese dienen nicht
dazu, um einer Gruppe Vorteile auf Kosten einer anderen zu ver-
schaffen.
Dieses Urteil dürfte jedoch vor einer strengen Kritik nicht be-
stehen. Haben doch selbst die Börsenaufsichtsorgane, um den privaten
Charakter der Kursmakler besonders hervorzuheben, betont, daß sie
Kaufleute seien, die Geld verdienen wollten und Beamte nur inso-
weit, als sie Hilfspersonen bei der Kursnotierung darstellen. Als
Kaufleute haben sie unbestritten das Recht, Geschäfte abzuschließen
oder Geschäftsabschlüsse zu verweigern, soweit es ihnen nach je-
weiliger Sachlage tunlich erscheint. Nach dieser Richtung bilden
sie ebensowenig eine Börseneinrichtung wie die freien Makler oder
die ganze Kulisse. Da nun die Weigerung, Aufträge eines freien
Maklers entgegenzunehmen mit der amtlichen Eigenschaft des Kurs-
maklers als Hilfsperson bei der Kursnotierung nichts zu schaffen
hat, kann er von Rechts wegen nicht zu einem derartigen Geschäfts-
abschlusse gezwungen werden.
4. Die neue Maklerordnung in ihren wesentlichsten
Grundzügen.
In der neuen Maklerordnung, die nach dem geschilderten
Kampfe unterm 9. Juli 1906 erlassen worden ist, sind trotz oder in-
folge des leidenschaftlichen Streites nur wenige Veränderungen
gegen früher zu verzeichnen. Die Regierung hat eine durch-
greifende Umgestaltung des Verhältnisses der Kursmakler zum
Börsenvorstande und der unmittelbaren Aufsichtsbehörde nicht ge-
wagt. Einesteils bleiben die Kursmakler die Hilfspersonen bei der
Kursfeststellung, und diese wichtige Sache ist ferner dem Börsen-
vorstande überantwortet bezw. den von ihm beauftragten Börsen-
kommissaren; sie sind auch in Zukunft als Börsenbesucher dem
Ehrengerichte unterworfen, und ihr Charakter als Kaufleute er-
fährt keine Wandelung; andernteils wird ihre Eigenschaft als Beamte
befestigt, ihre Stellung gegenüber dem Selbstverwaltungskörper der
Börse etwas unabhängiger als seither gestaltet, und der Makler-
624 Georg Wermert,
kammer verbleibt die Geschäftsverteilung (Gruppenbildung) der
Kursmakler. Durchweg ist es die mittlere Linie, welche die neue
Maklerordnung zwischen den streitenden Parteien verfolgt.
Die Abhängigkeit der Kursmakler vom Börsenvorstande und
der unmittelbaren Börsenaufsichtsbehörde besteht gegenwärtig in
Nachstehendem: Die Kursmakler haben den Mitgliedern des Börsen-
vorstandes, welche mit der amtlichen Feststellung der Kurse und
Preise beauftragt sind, die hierzu geforderten Erklärungen nach
bestem Wissen der Wahrheit gemäß abzugeben. Bei Zweifeln und
Streitigkeiten ist das die Feststellung leitende Mitglied des Börsen-
vorstandes befugt, eine ausdrückliche protokollarische Erklärung der
Kursmakler unter Hinweis auf den geleisteten Eid zu erfordern und
nach seinem Ermessen die Richtigkeit durch Einsicht in die Tage-
bücher der Kursmakler oder in anderer Weise zu prüfen. Die
Kursmakler sind befugt dabei die Namen der Auftraggeber zu ver-
decken. Dem Ansinnen des Börsenvorstandes, auch von den Namen
der Auftraggeber Kenntnis zu nehmen, hat die Regierung, wohl-
bedacht, keine Folge gegeben !).
Ferner ist der Geschäftsverkehr auf die Börsenbesucher be-
schränkt worden, die im Besitze einer zum Abschlusse von Ge-
schäften berechtigenden Karte sich befinden. Sie sind zur Ver-
schwiegenheit verpflichtet, soweit nicht das Gegenteil durch die
Parteien zugestanden oder durch die Natur der Geschäfte ge-
boten ist.
Gemäß $ 28 der Maklerordnung unterstehen die Kurs-
makler, wie alle Börsenbesucher, der Börsenleitung und dem Ehren-
gerichte, während nach $ 13 cit. die Aufsicht über die Kurs-
makler der Maklerkammer übertragen wird, unbeschadet der Befug-
nisse, welche dem Staatskommissar, der Handelskammer und dem
Börsenvorstande zustehen.
Gutachten sind von der Maklerkammer auf Erfordern außer an
staatliche Behörden auch an die Aeltesten der Kaufmannschaft zu
erstatten.
Mit Vorstehendem ist die Abhängigkeit der Kursmakler von
dem Selbstverwaltungskörper der Börse und ihr unmittelbares Auf-
sichtsorgan gekennzeichnet. Ihr Amtscharakter ist dagegen in
mehrfacher Hinsicht verschärft worden.
Die Bestellung der Kursmakler erfolgt auch ferner durch den
Oberpräsidenten. Die Vereidigung vollzieht der Staatskommissar
in dessen Auftrage. Vor der Bestellung sind Handelskammer und
Maklerkammer zu hören. Erstere hat eine gutachtliche Meinungs-
äußerung vom Börsenvorstande einzuholen. Die Berichte sind an
den Staatskommissar zu richten, der sie dem Oberpräsidenten unter-
breitet. Hiernach ist die Maklerkammer dem unmittelbaren Auf-
sichtsorgane der Börse, der Handelskammer, in betreff der Bericht-
1) § 24 der Maklerordnung für die Kursmakler an der Berliner Börse vom
9. Juli 1906.
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 625
erstattung neben geordnet, während der Börsenvorstand als unter-
geordnetes Organ erscheint. Er hat keinen selbständigen Bericht
zu erstatten, sondern seine Meinungsäußerung bildet bloß Material
für das Gutachten der Handelskammer, die seiner Meinung beizu-
treten vermag, sie aber auch zu verwerfen im stande ist. Im
letzteren Falle gelangt die Aeußerung der Börsenkommission über-
haupt nicht bis zum Oberpräsidenten !).
Die Bestallung der Kursmakler wird durch den Oberpräsidenten
ausgefertigt. Die Entlassung geschieht gleichfalls durch den Ober-
präsidenten, der vorher die Handelskammer und die Maklerkammer
anzuhören hat. Ursachen der Entlassung sind: grobe Verletzung
der obliegenden Pflichten, ein Verhalten in und außer dem Amte, wo-
durch er sich der Achtung, des Ansehens und des Vertrauens unwürdig
zeigt, das sein Beruf erfordert, ferner Unfähigkeit, seinen Beruf zu
erfüllen. Dem Staatskommissar ist die Befugnis verliehen worden,
in dringenden Fällen dem Kursmakler vorläufig die Ausübung seines
Amtes zu untersagen.
Durch die Bestellung ist der Kursmakler ohne weiteres zum
Besuche der Börse zugelassen.
Die Kursmakler müssen in allen Börsenversammlungen während
ihrer ganzen Dauer zugegen sein. Bei Beurlaubung oder Krankheit
schlägt der Kursmakler seine Vertretung vor. Die Maklerkammer
kann ihn in besonderen Fällen von der Vertretung befreien. Die
Befugnisse des Stellvertreters endigen mit der Erklärung des Kurs-
maklers, die an die Maklerkammer zu richten ist. Die Beur-
laubungen sind bei der Maklerkammer zu beantragen und vom
OÖberpräsidenten zu bewilligen. Ihr Höchstmaß beträgt 2
Monate im Jahre.
Demnach sind in diesem Punkte Handelskammer und Börsen-
vorstand nicht durchgedrungen, und die Beamteneigenschaft der
Kursmakler ist hierin wesentlich verschärft worden.
Das Recht, Käufe und Verkäufe gleich den Handelsmaklern
gemäß dem Handelsgesetzbuche und dem Bürgerlichen Gesetzbuche
auszuführen, wird den Kursmaklern gewahrt, nur fallen hierunter
keine Versteigerungen. Um eine bequeme Kontrolle für den Staats-
kommissar und die Maklerkammer zu ermöglichen, haben die Kurs-
makler die für eigene Rechnung oder im eigenen Namen abge-
schlossenen Geschäfte sowie die übernommenen Bürgschaften
($ 32 Abs. 1 BG.) in ihren Tagebüchern täglich zur Vollziehung
der Unterschrift übersichtlich zusammenzustellen.
Die Maklerkammer, der nach wie vor die Geschäftsverteilung
gewahrt geblieben ist, hat die Gruppenbildung jährlich in der ersten
Hälfte des Dezember für das nächste Kalenderjahr vorzunehmen.
Sie kann nach Bedürfnis während des Laufes des Jahres abgeändert
werden. Die Geschäftsverteilung wie die nachträgliche Abänderung
ist dem Staatskommissar wie dem Börsenvorstande mitzuteilen.
LJ
1) § 2 cit.
Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVII). 40
626 Georg Wermert,
Beide Organe können jederzeit eine Abänderung beantragen, sowie
Einspruch gegen die Beschlüsse der Maklerkammer bei dieser ein-
legen, wobei die Handelskammer in letzter Instanz entscheidet.
Nach $ 28 der Maklerordnung ist die Aufsicht über die Kurs-
makler der Maklerkammer und dem Staatskommissar übertragen
worden. Beschwerden über die Amtstätigkeit der Kursmakler sind
an den Staatskommissar zu richten, welcher der Maklerkammer sowie
dem Börsenvorstande hiervon Kenntnis gibt. Verletzt ein Kurs-
makler seine Pflichten, so hat eine Disziplinarbestrafung durch die
Maklerkammer zu erfolgen mit Ausnahme der Fälle, in denen der
Oberpräsident wegen Entlassung oder das Ehrengericht zuständig
sind. Das Disziplinarverfahren tritt dann in Anwendung, wenn ein
Kursmakler die Grundsätze und Regeln verletzt, welche von der
Maklerkammer für die Ordnung der amtlichen und geschäftlichen
Tätigkeit der Kursmakler erlassen worden sind, wenn er ohne ge-
nügende Entschuldigung von der Börse wegbleibt, oder bei der Proto-
kollierung der Kurse aus Fahrlässigkeit unrichtige Angaben macht.
Die Strafen bestehen in Warnung, Verweis, Geldstrafen bis zu 1500 M.,
oder Untersagung der Amtsausübung und des Börsenbesuches bis
zur Dauer von 3 Monaten.
Die Maklerkammer beschließt über die Eröffnung des Verfahrens,
bei dem ein Rechtskundiger als Beirat zuzuziehen ist. Von dem
Syndikus der Handelskammer kann daher abgesehen werden. Im
nichtöffentlichen Verfahren muß das Urteil von mindestens 7 Kammer-
mitgliedern gefällt werden. Der Staatskommissar hat dabei die gleichen
Obliegenheiten wie beim Ehrengerichte. Beiden Teilen steht eine Be-
schwerde an den Oberpräsidenten zu. Die kaufmännische Aufsichts-
behörde ist daher als Beschwerdeinstanz gefallen. Die Stellung der
Maklerkammer hat sich dadurch wesentlich gehoben. — Das Urteil ist,
wenn es rechtskräftig geworden, dem Börsenvorstande mitzuteilen.
Des weiteren hat die Selbständigkeit der Maklerkammer eine
Stärkung dadurch erfahren, daß der kaufmännischen Aufsichtsbe-
hörde (Handelskammer) die Befugnis genommen ist, Grundsätze
und Regeln über die geschäftliche Tätigkeit der Kursmakler aufzu-
stellen. Solches ist der Maklerkammer übertragen worden, nur
unterliegen die Anordnungen der Genehmigung der Handeskammer
nach Anhörung des Börsenvorstandes.
In betreff der Aufsicht haben Staatskommissar und Makler-
kammer die Befugnis, Einsicht in die Hand- und Tagebücher der
Kursmakler zu nehmen.
5. Kritische Bemerkungen zur Maklerordnung.
Genügt nun dieser etwas heikel zusammengesetzte Apparat, um
die Genauigkeit der Kursfeststellung zu gewährleisten? Fast sollte
man es glauben. Haben sich doch selbst anerkannte Fachmänner,
die dem Börsenverkehre objektiv gegenüberstehen, nach dieser
Richtung ausgesprochen: „Die Zuverlässigkeit der von den Maklern
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden etc. 697
börsentäglich festgesetzten Kurse ist eine unanfechtbare, sie kommen
zustande unter der eifersüchtigen Kontrolle entgegenstehender
Interessen“ (Dr. v. Lumm, Mitglied des Reichsbankdirektoriums).
Allerdings bildet die eifersüchtige Kontrolle gegenseitiger
Interessen die beste Gewähr für die möglichste Richtigkeit der
notierten Kurse und Preise. Aus Kauf und Verkauf, aus Angebot
und Nachfrage setzen sich die widerstreitenden Interessen zusammen.
Findet aber in Wirklichkeit an der Börse ein solch wohltätiger
Widerstreit statt?
Um dieses zu erkennen, müssen wir uns den Vorgang der Kurs-
notierung etwas genauer ansehen.
Es werden notiert Einheitskurse für den Kassahandel, differen-
zierte Kurse für den Ultimohandel und für den Kassahandel im
freien Verkehre, der bekanntlich als Großkassaverkehr an die
Stelle des Ultimohandels in Bergwerks- und Fabrikpapieren ge-
treten ist, nachdem durch § 50 Abs. 2 BG. der Börsenternin-
handel in diesen Papieren in Wegfall kam. Es werden festgestellt
„erste Kurse“ unmittelbar nach Beginn der Börse um 12 Uhr, die
amtlichen Kurse um 2 Uhr, an den Sonnabenden um 1Y, Uhr und
die Schlußkurse etwa um 21/,—3 Uhr, an Sonnabenden gegen 2 Uhr.
Die Schlußkurse haben für den Tagesverkehr nur geringe Bedeutung.
Dagegen vermögen sie die ersten Kurse des folgenden Börsentages
erheblich zu beeinflussen, wenn nicht inzwischen anderweitige Nach-
richten von Bedeutung der Marktlage ein verändertes Bild auf-
drängen. Die ersten Kurse für den Ultimohandel oder für die im
freien Verkehre per Kassa gehandelten Papiere werden durch die Kurs-
makler auf Grund der bei ihnen eingegangenen Aufträge an die inner-
halb der Schranken befindlichen schwarzen Tafeln geschrieben. Falls
nicht unmittelbar ein Widerspruch gegen diese Anschreibungen er-
folgt, der eine amtliche Entscheidung erfordert, gilt, wie früher bereits
angedeutet, der vom Kursmakler festgestelte Kurs als anerkannter
erster Kurs. Es gelangen nun fortgesetzt im Kassaverkelhr, im
Ultimohandel sowie in freiem Verkehre der Großkassapapiere Auf-
träge an die Kursmakler, die sich innerhalb der Schranken befinden,
Aufträge, die je nach Angebot und Nachfrage ihre Erledigung finden,
oder, namentlich bei limitierten Aufträgen, als unerledigt bis auf
weiteres im Markte verbleiben. Für die amtlichen Tageskurse, (die
um 2 bezw. 1'/, Uhr in einem besonderen Zimmer unter Ausschluß
der Oeffentlichkeit festgestellt werden, kommen in Betracht die von
den Kursmaklern vermittelten Geschäfte und die ihnen oder den
Börsenkommissaren mitgeteilten Geschäfte. Die zahlreichen
Geschäfte, welche zwischen den freien Maklern oder direkt zwischen
Käufern und Verkäufern zum Abschlusse gelangen, die zusammen
den Kulissenverkehr bilden, werden bei der Kursfeststellung nicht
berücksichtigt, oder doch nur insoweit, als es bei einzelnen Geschäften
beantragt wird. Der Verkehr der Kulisse, der den Parkettverkehr
der Kursmakler um ein Vielfaches überragt, kommt bei der Kurs-
feststellung beinahe gar nicht in Frage. Wenn daher der Kurs-
40*
628 Georg Wermert,
notierung durch die Kursmakler entgegengeworfen wird, daß die
Kursfeststellung nicht das Ergebnis mechanischer Rechnungsope-
rationen dieser, sondern ein aus der Kenntnis der Gesamtlage der
Börse geschöpftes Urteil sein müsse, sò ist ein solches Urteil den
Börsenkommissaren, welche amtlich die Kurse festzustellen haben,
noch weniger zuzutrauen, als den vielen vereinigten Kursmaklern, die
bisher offiziell nur Hilfspersonen bei der Kursnotierung darstellten.
Der Börsenkommissar kennt nur die Geschäfte, die er selbst abge-
schlossen hat, bei denen er Partei ist, und diejenigen, die ihm mitgeteilt
werden. Von einer Beurteilung der Gesamtlage, aus der er seine
Kenntnis zu schöpfen vermag. kann bei den 2300 Kursen, die täglich
innerhalb einer kurzen Zeit notiert werden, keine Rede sein. Die
sicherste Unterlage bleibt fortgesetzt das Maklerbuch, in dem die
tatsächlichen Abschlüsse sowie die vorliegenden, noch unerledigten
Aufträge notiert sind. Wenn daher von den Börsenaufsichtsbe-
hörden behauptet wird, daß nur der Börsenvorstand befähigt sei, die
Gesamtlage zu überschauen, so ist daß eine Phrase, der ein tat-
sächlicher Inhalt nicht innewohnt, zumal nach Dr. Dove (Bank-
archiv) der Umfang der Geschäfte eine kollegiale Tätigkeit des Ge-
samtvorstandes bei der Feststellung der einzelnen Kurse nicht ein-
mal zuläßt, weshalb solches einigen Börsenkommissaren überlassen
ist. Diese, denen auch die Schlichtung der Streitigkeiten über die
Kurse obliegt, vermögen naturgemäß noch weniger zu überschauen,
als der Gesamtvorstand.
Nun die mitgeteilten Kurse! Nicht jeder mitgeteilte Kurs kann
auf Berücksichtigung bei der amtlichen Kursfeststellung Anspruch
erheben. Von bloßen Behauptungen bis zu erdichteten Geschäften, die
lediglich die Kursentwickelung beeinflussen sollen, muß selbstverständ-
lich abgesehen werden. Es dürften eigentlich nur solche mitgeteilte
(Geschäfte in Frage kommen, deren tatsächlicher Abschluß durch den
Schlußschein bestätigt wird. Wie aber, wenn jemand, um die Kurse
zu beeinflussen, den Schlußschein fälscht, die Steuer ruhig bezahlt,
da sie gegenüber der erwarteten Kursbeeinflussung vielleicht nicht ins
Gewicht fällt? In solchem Falle könnte nur durch Zitierung des Gegen-
kontrahenten der Beweis für die Echtheit des Geschäftsabschlusses
erbracht werden. Da aber bei den zahlreichen Kursfeststellungen
und den noch ungleich zahlreicheren Geschäftsabschlüssen, die mit-
geteilt werden, eine Befragung des Kontrahenten in jedem Falle
ausgeschlossen ist, so vermag sie nur dann stattzufinden, wenn infolge
abnormer Preisgestaltung oder sonstiger Momente ein begründeter
Verdacht der Fälschung vorliegt. Die betrügerische oder illegale
Beeinflussung des Kurses kann daher bei Papieren mit geringem
Umsatze längere Zeit hindurch betrieben werden, ehe eine Aufdeckung
möglich ist. Wie aber, wenn der Gegenkontrahent mit im Kom-
plotte steckt und beide auf Verabredung fortgesetzt durch fingierte
Geschäfte unter Zahlung der Steuer und Vorlegung des Schluß-
scheines den Kurs bestimmter Papiere, die kein großes Absatzfeld
haben — bei anderen ist es nicht zu ermöglichen —, zu fälschen
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden etc, 629
sich bemühen? Falls beim Kursmakler Aufträge nicht zur Aus-
führung gelangen, liegt die Kursgestaltung gänzlich in den Händen
solcher Fälscher, deren Gewerbe, falls sie sich nicht selbst verraten,
nicht aufgedeckt zu werden vermag.
Die mitgeteilten Geschäftsabschlüsse bilden ein etwas unsicheres
Moment in der Kursfeststellung, da bei ihnen die Möglichkeit der
Fingierung vorhanden sein kann und schließlich ein erdichtetes von
einem wirklichen Geschäfte nicht zu unterscheiden ist. Es bleibt
daher zu erwägen, ob beim Bestehen der jetzt üblichen Kursnotierung
nicht besser die mitgeteilten Geschäfte gänzlich von der, Berück-
sichtigung bei der Kursfeststellung auszuschließen sind. Dem Be-
denken, daß der Kreis der Geschäfte, die der Kursnotierung zu
Grunde liegen, ein zu beengter werden würde und der Kurszettel so-
mit kein wahres Spiegelbild der Geschäftslage ergebe, tritt. die Er-
wartung entgegen, daß Banken, Bankiers sowie die gesamte Kulisse,
falls man eine Berücksichtigung der eigenen Geschäftsabschlüsse
wünscht, sich sodann an den Kursmakler zu wenden gezwungen sind
und somit dessen Buch mehr als seither benutzen.
Gegenwärtig spielt sich der Vorgang der Kursbildung anders
ab, als er eigentlich sollte. Etwa eine halbe Stunde vor der amt-
lichen Feststellung der Kurse erscheinen Banken und Bankiers, so-
wie sonstige Käufer und Verkäufer an der Maklerschranke zum
„Kursmachen!* Von den beiden Kursmaklern, die eine „Gruppe“
bilden, d. h. die mit dem betreffenden Papiere zu handeln amtlich
angewiesen sind, wird ihnen der Kurs mitgeteilt, wie er sich auf
Grund der vorliegenden Abschlüsse und Aufträge stellt, oder er
wird gar, falls kein Andrang stattfindet und der Makler sich über
den Geschäftsstand vergewissern will, öffentlich ausgerufen. Die
Kursmakler nehmen dann Mitteilungen über ausgeführte Geschäfte
entgegen und verhandeln über die Kursgestaltung. Der Interessent
an höheren Kursen gibt einen Kaufauftrag, derjenige an niederen
Kursen einen Verkaufsauftrag. Aus diesem Für und Wider schälen
die Kursmakler den Preis als amtlichen Kurs aus, bei dem die
meisten vorliegenden Aufträge erledigt werden können. Die sicherste
Gewähr für die Erledigung ihrer Aufträge haben hierbei diejenigen
Verkäufer, die einen niedrigen Preis fordern und diejenigen Käufer,
die einen höheren Preis bieten, als der Durchsehnittskurs angibt.
Kann eine Einigung der streitenden Parteien über die Höhe des
Kurses vor der Schranke nicht stattfinden, so ist es Aufgabe der
Börsenkommissare zu entscheiden auf Grund der Kenntnisnahme (der
Maklerbücher und sonstiger vorgetragener Umstände. Bei Papieren
mit kleinerem Verkehr, wie es z. B. viele Industriepapiere, Stadt-
anleihen etc. sind. ist oft bloß ein einziger Interessent vor (den
Schranken, nämlich die Bank, durch die das Papier eingeführt
worden, oder die durch ein Vorstandsmitglied im Aufsichtsrate der
betreffenden Gesellschaft vertreten ist. Die Beteiligte hat naturge-
mäß an möglichst hohen Kursen, oder, wenn kein Auftrag zur Aus-
führung gelangt, an der Notierung eines Geldkurses Interesse, da-
630 Georg Wermert,
mit wenigstens das Papier als gefragt im Kurszettel erscheint. Sie
gibt daher gewöhnlich einen Kaufauftrag, ohne die Absicht zu
haben, das Papier zu erwerben. Nur kann sie, falls limitierte Auf-
träge vorliegen, die bisher nicht erledigt werden konnten, notge-
drungen in die Lage kommen, die Papiere zu übernehmen, wenn
sie die vorliegenden Verkaufsaufträge nicht kennt. Der Vertreter
der Bank sucht daher zuvor festzustellen, welche Aufträge sich im
Markte befinden und gibt dann einen den Verkaufslimiten möglichst
nahe kommenden Kaufauftrag, wobei dieser mit dem Zusatze „Geld“
zur Notierung gelangt. Erniedrigt nun der Verkäufer seinen Auf-
trag auf den Geldkurs des vorhergehenden Tages, so bietet die Bank
wieder einen etwas geringeren Kurs, und es entsteht die Erscheinung
der „Ausweichkurse“, welche der Börse nicht zur Ehre gereichen
und in der zweiten Hälfte des Jahres 1906 sogar zu amtlichen Er-
hebungen geführt haben. Der Kaufauftrag ist keineswegs ernst ge-
meint, er wird öfters nicht einmal als tatsächlicher Kaufauftrag im
Maklerbuche vermerkt. Vielfach spielt sich die Angelegenheit in
folgender salopper Art und Weise ab: Der Vertreter der Bank er-
scheint um 1Y, Uhr an der betreffenden Schranke, wo sich die beiden
Kursmakler befinden, «denen das Papier zuerteilt ist. Er fragt:
„Obligationen Orenstein und Koppel, liegt was vor?“ Der Kurs-
makler blättert in seinem Buche, bis er die Seite dieser Obligationen
findet: „Ja, 1000 M. zu 103,30° *. — „Sonst nichts?“ — „„Nein!“" —
„Notieren Sie 103,20“, Trotz des tatsächlich vorliegenden Ange-
botes, das unerledigt bleibt, erscheint im Kurszettel die Notiz
103,20 Geld, ohne daß die Bank im Buche des Kursmaklers als
Käufer zum Satze von 103,20 aufgeführt wird.
Nachdem auf diese Weise die Kurse „vorbereitet“ worden sind,
begeben sich die Kursmakler mit dem Glockenschlage 2 oder an
den Sonnabenden um 1!, Uhr in das Notierungszimmer, woselbst
die Kurse in größter Schnelligkeit bei Anwesenheit der Börsen-
kommissare den Sekretären diktiert werden, um dann sofort in die
Druckerei zu wandern. Größte Eile ist bei der Feststellung von rund
2300 Kursen geboten, damit der gedruckte Kurszettel unverzüglich
zur Ausgabe gelangt. Spätestens um 4 Uhr befindet er sich bereits
in den Händen der Banken und Bankiers, damit noch am gleichen
Tage den Kunden eine Anzeige über die Ausführung der Aufträge
zugehen kann.
Die Kursfeststellung, die eigentlich keine Feststellung, sondern
nur eine Diktierung ist, muß hinter geschlossenen Türen stattfinden.
und niemand außer den im Gesetze bezeichneten Personen hat Zu-
tritt zu ihr. Damit ist dem Wortlaute des Gesetzes genügt, aber
nicht seinem Geiste. Die Nichtöffentlichkeit der Kursnotierung ist an-
geordnet, damit anderweitige Beeinflussungen nicht wirksam werden
sollen. Diese finden jedoch im stärksten Maße seitens der Kulisse
an der Schranke statt, da die eigentliche Kursfeststellung aus dem
Notierungszimmer an die Schranke verlegt worden ist.
Nachdem die Veröffentlichung der Kurse im amtlichen Kurs-
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 631
zettel bewirkt worden, sind sie als die gesetzmäßigen festgestellt,
welche vom Börsenvorstande beglaubigt und von den Kursmaklern
im öffentlichen Verkehre ermittelt worden sind, so wie es die neue
Maklerordnung vorschreibt.
6. Wirkung der Ausweichkurse auf die Kursnotierung.
Ist nun durch die bestehenden Einrichtungen eine sichere Ge-
währ gegeben, daß der Kurszettel objektive Wahrheit enthält und
ein getreues Spiegelbild der geschäftlichen Lage der Börse abgibt?
Das kann keineswegs behauptet werden, zumal die letzte Anordnung,
die revidierte Maklerordnung, wesentliche Aenderungen in Bezug auf
die Notierung nicht aufzuweisen hat. Als ein Zeichen der Fälschung
des Kurszettels haben wir schon die Ausweichkurse erwähnt. Was
versteht man unter dieser Bezeichnung? Nehmen wir einige tat-
sächlich an der Börse zu Berlin vorgekommene und von öftentlichen
Blättern mitgeteilte Beispiele.
Jemand gab am 6. September 1906 einen kleinen Posten 3!),-proz.
Potsdamer Stadtanleihe, deren Kurs mit 96,75 Geld festgesetzt war,
in Verkaufskommission zum vorstehenden Kurse. Obgleich fortge-
setzt dieses Angebot im Markte war, wurde der Kurs gestrichen.
Als am 14. September die Kursnotiz 95,70 Geld erschien, ermäßigte
der Verkäufer sein Limit am 17. September auf 95,60. Die Kurs-
notiz lautete nunmehr 95,50 Geld. Hierauf wurde das Limit auf
95,30 ermäßigt. Es erschien am 18. September keine Kursnotiz,
dagegen am 19. September 95,20 Geld. Ein fortdauerndes Angebot
war im Markte, doch der Kurszettel enthielt stets eine Geldnotiz,
bei der ein Handel nicht stattfand. Er täuschte demnach ununter-
brochen, er spiegelte Nachfrage wieder, während überhaupt keine
Nachfrage herrschte und der Interessent lediglich bemüht war, ohne
den angebotenen Posten abzunehmen, den Kurs möglichst zu halten
und das Papier als begehrt hinzustellen.
Ein anderer Fall typischer Natur ereignete sich bei dem Ver-
kaufe von 4-proz. Obligationen der Neuen Gasaktiengesellschaft
(Nolte) in einem Posten von nur 500 M. Der Kurs war am 28. Sep-
tember 1906 99,20, am 29. September 99 und zwar bezahlt und Geld.
Verkäufer gab den geringen Betrag „bestmöglichst“, also ohne Limit,
auf. Der Kurs blieb bis zum 26. Oktober gestrichen. Am 27. Ok-
tober wurde 96,10 bezahlt notiert. Trotz des unlimitierten Auftrages
verkaufte der Kommissionär bei dem fast um 3 Proz. gefallenen
Kurse nicht, ohne sich mit seinem Kommittenten ins Einvernehmen
zu setzen. Es wurde nunmehr das Limit auf 97 festgesetzt. Die
Wirkung war ein allmähliches Steigen des Kurses von 96,40 Geld
auf 96,50 Geld, 96,60 Geld. 96,75 Geld, bis am 5. November 96,90
bezahlt erschien. Vom 6. bis 10. November wurde 96,90 Geld no-
tiert. Am 12. November 96,90 bezahlt und am 13. 96,90 Geld. Am
14. wurde das Limit, da der Auftrag von 500 M. nicht auszuführen
war, auf 96,80 festgesetzt, notiert wurden hierauf 96,70 Geld, des-
632 Georg Wermert,
gleichen am 15. und 16. November. Der Verkäufer ermäfigte das
Limit auf 96,70. Die Folge davon war die Kursnotiz 96,60 Geld.
Der Kurs wich demnach stets vor dem Limit zurück, und es wurde
immer 0,10 Proz. Geld weniger notiert, als angeboten wurde! —
Derartige Fälle, die wiederholt festgestellt wurden, mußten
naturgemäß ungeheuerliches Aufsehen erregen, zumal sie deutlich
bewiesen, daß trotz aller gesetzlichen und behördlichen Maßnahmen
die Kursnotierung fast ganz eine Willkürsache eingeweihter Kreise
war. Auch die Regierung war genötigt, sich mit ihnen zu befassen,
zumal sie soeben die neue Maklerordnung erlassen. die, obgleich sie
noch nicht einmal in Kraft getreten, keine Mittel enthielt, um diesen
das Publikum irreführenden Uebelstand bei der Kursnotierung zu
beseitigen. Zunächst wurde die Börsenaufsichtsbehörde zur Bericht-
erstattung aufgefordert. Der Börsenvorstand hält es im Interesse
der Besitzer der 2300 zum Börsenhandel zugelassenen Papiere er-
wünscht, daß über sie in ihrer großen Mehrzahl amtliche Bekundi-
gungen vorliegen. Dem Bedürfnisse würde nicht genügt werden,
falls nur dann, wenn wirkliche Umsätze erzielt worden sind,
Notierungen stattfinden. Die reinen Geld- und Briefnotierungen
werden oft als wichtiger angesehen, als die Notierungen von Ge-
schäftsabschlüssen (!), die häufig nur einen kleinen Umfang an-
nehmen. Der Kursbericht werde brauchbarer, wenn er über Ange-
bot und Nachfrage Kunde gibt, auch wenn beide nicht befriedigt
werden könnten. Der Börsenvorstand könne bei der großen Zahl
der zum Handel zugelassenen Papiere nur dann Kenntnis von Aus-
weichkursen haben, wenn die Interessenten ihm Anzeige erstatteten.
Werde ein unzulässiges Ausweichen der Kurse bekannt oder ge-
meldet, so finde eine sorgfältige Prüfung der Angelegenheit unter
Anhörung der Beteiligten statt. Erweise sich die Beschwerde dabei
als gerechtfertigt, so werde den nicht ernst gemeinten, sondern nur
auf Ausweichung gerichteten Anträgen kein Einfluß auf die Notierung
zugestanden. —
Sehr tröstlich fügen die Aeltesten der Kaufmannschaft noch hinzu,
daß man bei der Unentbehrlichkeit der Geld- und Briefnotierungen
es mit in den Kauf nehmen müsse, wenn aus der Sachlage sich er-
gebende unvermeidliche Unvollkommenheiten in der Kursfeststellung
hin und wieder vorkämen. An ihrer vollen Beseitigung oder wenig-
stens möglichen Vermeidung arbeite der Börsenvorstand seit langer
Zeit und werde auch in Zukunft weiter daran arbeiten.
Demgegenüber ist folgendes zu bemerken:
Wünschenswert ist allerdings eine Geld- oder Briefnotiz dem
Publikum über die zahlreichen Papiere, die es besitzt, auch wenn
ein wirklicher Handel nicht stattgefunden hat, nur müssen die amt-
lichen Bekundungen auf positiver Wahrheit beruhen. Dagegen ist
dem nicht beizustimmen, dali die reinen Geld- und Briefnotierungen
häufig ungleich wichtiger seien, als die Notierung von Geschäfts-
abschlüssen. Ein wirklicher Marktwert, auch bei kleineren Umsätzen.
ist immer besser, als die Angabe von Angebot oder Nachfrage, die
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 633
durch den Verkehr keine Befriedigung erlangen können. Sie ver-
mögen dem Verkehrsinteresse auf die Dauer in keiner Weise zu
genügen, es sei denn, daß stets beide nebeneinander zur Notierung
gelangen. Hierbei würden allerdings die Einheitskurse mit ihren
Vorzügen verloren gehen. Es fragt sich nur, ob diese Vorzüge
nicht durch das reale Bedürfnis des Publikums mehr als reichlich
aufgewogen werden. —
Wichtig ist das Zugeständnis des Börsenvorstandes, daß er
zumeist nur dann Kenntnis von unzutreffenden Kursnotierungen
haben könne. wenn bei ihm Beschwerde erhoben wird. Dadurch
wird ex officio geleugnet, daß, wie anderweitig behauptet worden,
nur der Börsenvorstand die gesamte Geschäftslage zu überschauen
befähigt sei. daß ferner die Kursfeststellung nicht das Ergebnis
mechanischer Rechenoperationen der Kursmakler, sondern ein aus
der Kenntnis und richtigen Beurteilung der Gesamtlage geschöpftes
Urteil sei. Und wenn aus diesen nichtigen Gründen die Not-
wendigkeit abgeleitet worden ist, dem Börsenvorstande die Kurs-
feststellung zu belassen, so beweist obiges Zugeständnis, daß eine
derartige Notwendigkeit keineswegs vorliegt, die Kenntnis der Be-
urteilung der Gesamtlage und dergleichen Ausflüchte zwar hübsche
Phrasen darstellen, aber die Kursnotierung in Wirklichkeit lediglich
das Ergebnis einer nüchternen Rechenoperation ist, weshalb die
Kursmakler und ihre Vertretung hierzu eher befähigt erscheinen,
als der betreffs Ausweichkurse nichts ahnende Börsenvorstand.
Erst wenn an die Börsenkommissare, die mit der Notierung be-
auftragt sind. Beschwerde gerichtet wird, findet eine sorgfältige
Prüfung der Sachlage unter Anhörung der Kursmakler und der Be-
teiligten statt. Eine derartige Prüfung besitzt aber nur geringen Wert.
Sie hat allein für Börsenbesucher Bedeutung. Diese sind zumeist bei
den Ausweichkursen nicht beteiligt und haben daher auch kein Interesse
an der Richtigstellung des Kurszettels. Der Leidtragende befindet
sicht zumeist außerhalb der Börse, er kann keine Beschwerde an
den Börsenvorstand richten und eine sofortige Prüfung der Ange-
legenheit veranlassen. Ihm. ist fast immer die Manipulation der
Banken unbekannt, er wundert sich, daß er bei fortgesetzter Nach-
frage des angebotenen Papiers keine Käufer findet, und gelangt
vielleicht eine Beschwerde an den Provinzbankier, so hat dieser sie
an die am Sitze der Börse befindliche Bank zu senden, mit der er
verkehrt. Darüber vergehen zwei Tage und erst am dritten Tage
ist der Kommissionär des Börsenplatzes in der Lage, eine Beschwerde
an den Börsenvorstand zu richten, wenn er den Fall für wichtig ge-
nug hält. Meistens wird die Sache auf den Zwischenstationen be-
reits einschlummern. Aber selbst, wenn sie nach 3 oder 4 Tagen
an der Börse erörtert werden sollte, dürfte es sodann schwer sein,
der interessierten Bank nachzuweisen, daß sie an jenem Tage tatsäch-
lich ihr Gebot nicht ernstlich gemeint habe. Für die Folgetage ist
sie an dasselbe nicht mehr gebunden. —
Das Aushilfsmittel, welches der Börsenvorstand angibt, ist daher
634 Georg Wermert,
unzulänglich für das große Publikum außerhalb der Börse, und
dieses ist es gerade, das durch die Ausweichkurse empfindlich ge-
schädigt wird und vor derartigen Fälschungen des Kurszettels ge-
schützt werden muß. Wenn dagegen die Aeltesten der Kaufmann-
schaft meinen, das Publikum müsse solche Unvollkommenheiten, die
hin und wieder vorkommen, mit in den Kauf nehmen, so scheint es
fast, ale wenn man aus der großen Börsenbewegung der 1890er
Jahre nichts gelernt hat. Die Börse sollte vielmehr aus sich selbst
heraus und nicht erst auf Anregungen von außen, alles in ihrer
Mitte mit Stumpf und Stiel ausrotten, was irgendwie auch nur den
Anschein einer Unreellität besitzt, anstatt solche offensichtlichen
Fälschungen des Kurszettels, wie sie die Ausweichkurse darstellen.
noch mit sanften Worten entschuldigen oder gar als unvermeidliche
Notwendigkeiten ausgeben zu wollen. Doch die Aeltesten geben die
wünschenswerte Hoffnung zu erkennen: der Börsenvorstand habe
bereits zur „vollen Beseitigung“ oder „möglichsten Vermeidung“
derartiger Unzuträglichkeiten „seit langer Zeit“ gearbeitet. Wenn
er tatsächlich in diesem Sinne entsprechend gearbeitet hat, so sollte
man doch annehmen, daß er bei seiner Sachkenntnis schon längst
ein wirksames Aushilfsmittel gefunden hätte. Da das aber nicht der
Fall ist. so ist auch für die in Zukunft verheißenen Bemühungen
leider nichts zu hoffen, weshalb von anderer Seite in entschiedener
Weise eingegriffen werden muß.
Dasselbe bestätigen auch die Ausführungen des Mitgliedes des
Börsenvorstandes Bankier Max Richter, Aeltester der Kaufmannschaft
zu Berlin, die von ihm zur Beschönigung der Ausweichkurse im
„Bankarchiv“ gemacht worden sind!). Da genanntem Autor die denk-
bar größte Sachverständigkeit nicht abzusprechen ist und er selbst
als Börsenkommissar die Notierung zeitweilig bewirkt, sind wir ge-
nötigt, uns mit seinen Darlegungen etwas eingehender zu befassen.
Richter bemerkt, daß, wenn ein Auftrag zu 97 Brief vorliegt
und der interessierte Bankier 96,90 Geld notieren läßt, er ge-
halten sei, zu diesem Kurse etwas zu nehmen. Bei größeren Be-
trägen vermöge der Geld Bietende mit gutem Rechte zu erklären,
so viel könne er bei 96,90 nicht gebrauchen, weshalb er sein An-
gebot ermäligen dürfe. —
Es liegt demnach im angenommenen Falle ein fester Verkaufs-
auftrag von 97 vor. Der Bankier will, wie unterstellt werden mag,
das Papier nicht abnehmen zu diesem Kurse, aber den Kurs mög-
lich hochhalten und dem Kurszettel das Antlitz der fortlaufenden
Nachfrage in dem fraglichen Papiere geben. Er erklärt sich dem
Kursmakler gegenüber als Abnehmer bei 96,90. Würde nun im
gleichen Augenblicke das Limit auf 96,90 ermäßigt, so wäre der Bankier
hineingefallen. Aber Richter gibt ihm vorsorglich das Mittel an die
Hand, wodurch er sich zu salvieren vermag. Er übernimmt ein
Stück zu 200, 300 oder 500 M., denn hierzu kann er gezwungen
1) Bankarchiv, No. 1 vom 1. Oktober 1906, VI. Jahrgang.
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 635
werden; das übrige Angebot weist er zurück, weil er es nicht ge-
brauchen kann. Damit erhellt zur Genüge, daß eine ernstliche Ab-
sicht zu kaufen gar nicht vorgelegen hat. Derartige Aeußerungen:
„Notieren Sie 96,90 Geld“, oder „Ich nehme ab zu 96,90 sollten
überhaupt nicht bei der Kursnotierung berücksichtigt werden, zumal
der Kursmakler offenbar die Absicht des Bankiers zu kaufen nicht
ernst nimmt. Er dokumentiert es auch in den meisten Fällen da-
durch, daß er den Auftrag des Bankiers als solehen überhaupt nicht
in sein Maklerbuch einträgt. Es sollen daher nur solche Aufträge,
deren Umfang genau bestimmt ist und die tatsächlich im Makler-
buche als ernstgemeinte Kauf- oder Verkaufgesuche zum Vorschein
kommen, bei der Kursnotierung berücksichtigt werden. Die er-
mittelten Kurse werden in ein Formular eingetragen und sofort an
der Schranke im freien Verkehre bekannt gegeben. Der Interessent
erführt dadurch, zu welchem Kurse seine Aufträge ausgeführt sind.
Mit der Eintragung in das Formular hat sich die eigentliche Kurs-
notierung vollzogen, der Kurs gilt als festgestellt. Die Börsen-
kommissare können sodann Aenderungen nicht mehr vornehmen ohne
Störung des Verkehrs, namentlich der Arbitrage. Auch müßten die
Geschäfte wieder rückgängig gemacht werden, die auf Grund dieser
Ermittelungen abgeschlossen sind. Die Unsicherheit des Verkehrs
würde sich bei nachherigen Aenderungen auf die Zwischenzeit von
der Niederschrift bis zur Protokollierung im Notierungszimmer er-
strecken. Die eigentliche Kursfeststellung unter Ausschluß der
Oetfentlichkeit ist daher nur eine Posse des vom Gesetze Gewollten.
Die „Kursmacherei“ an der Maklerschranke, wie sie heute besteht,
muß fallen oder doch wesentlich eingeschränkt werden, soll sich die
Wahrhaftigkeit des Kurszettels erhöhen und das außerhalb der Börse
stehende Publikum nicht geschädigt werden.
Es werden dann aber in überwiegender Zahl Briefnotizen zum
Vorschein kommen, und der Kurszettel verliert das verlockende An-
sehen, als wenn fortgesetzt Nachfrage über Nachfrage am Markte ist
und der Geldmarkt in seiner Plethora zu ersticken droht. Richter
gesteht selbst zu, daß der jetzige Kurszettel auf Wünschen aufgebaut
ist. Nach ihm sehen Makler und Bankiers die Briefnotiz ungern,
und die letzteren verlangen sogar von jenen, dafür zu sorgen, daß
die Notiz außerhalb des Limits bleibt, wenn nichts verkauft wird.
Es kommt hierbei aber nicht darauf an, was der Bankier gern oder
ungern sieht, und wenn der Kursmakler zu abhängig ist vom Bankier
und ihm willfahren zu müssen glaubt, so dürfte es angezeigt sein,
für eine größere Unabhängigkeit bei ihm Sorge zu tragen. Jetzt
soll der Makler zufrieden sein, wenn der Bankier 10 Pfennig unter
dem niedersten Limit bietet; dann kann er die Notiz 96,90 Geld
„machen“. Weshalb soll nun 96,90 Geld notiert werden, da der
wirklichen Marktlage 97 Brief ebensogut entspricht als 96,90 Geld,
selbst unter der Voraussetzung, daß dieses Angebot ernst gemeint ist?
Was wird nach Richter bei der Notierung von 97 Brief gewonnen ?
Der Verkäufer wird die Ware nicht los, die Notiz belehrt ihn, daß
636 Georg Wermert,
bei 97 Ware vergeblich angeboten ist, was er bereits weiß, und was
er auch beim Kurse von 96,90 Geld weiß. —
Zum mindesten kommt aber bei der Briefnotiz die wahre Markt-
lage zum Ausdrucke.
Es handelt sich hierbei ferner nicht allein um die beiden Inter-
essenten, sondern um das Publikum außerhalb der Börse, das die
Papiere besitzt, oder in die Möglichkeit kommen kann, sie sich zu
kaufen. Für dieses wird die Lage irreführend dargestellt, ihm wird
eine Nachfrage vorgespiegelt, die in Wirklichkeit nicht besteht, es
wird in einen falschen Glauben eingewiegt, aus dem es bei bewegteren
Zeiten sehr unsanft stürzen kann, wobei es sein Vertrauen mit
schweren Verlusten zu büßen hat. Das alles geschieht aus dem
Grunde, weil der Bankier eine Briefnotiz ungern sieht (!) und eine
Geldnotiz vom Kursmakler verlangt, welchem Ansinnen dieser dienst-
beflissen nachkommt.
Aber nicht nur dieses, sondern auch eine gröbliche Fälschung
des Kurszettels wird vom genannten Mitgliede der Börsenkommission
als gebräuchlich hingestellt und mit folgenden Worten verteidigt:
„Bietet der Interessent nicht 10 Pf. unter dem Limit, sondern viel-
leicht 25 Pf., so lehrt die Erfahrung, daß dann gewöhnlich eine
Zwischennotiz wie 96,90 Brief gewählt wird, weil der Makler auch
mit dieser seinem Auftraggeber gegenüber gedeckt ist. Der Interessent
ist auch damit zufrieden, weil er für etwa direkt gehandelte
Posten nicht 06,75 sondern 96,90 erhält. Das müßte nun ganz im
Sinne des Beschwerdeführers sein, aber es ist nicht ausgeschlossen,
daß auch hier eine andere Kategorie Unzufriedener den Vorwurf der
Verlogenheit des Kurszettels erhebt, weil der Makler durch die Notiz
96,90 Brief öffentlich bekannt gibt, daß zu 96,90 Ware angeboten
sei, während in Wirklichkeit nur bei 97 Ware zum Verkaufe stand.“
Wenn Vorstehendes auf Wahrheit beruht — und Richter muß es
wissen —, so ist es allerdings einleuchtend, daß der Kurszettel
Fälschungen auf Fälschungen enthält, daß die „Mache“ sich darin
recht breit macht und seine Kurse den wirklichen Marktverkehr nicht
widerspiegeln. Dann ist es im öffentlichen Interesse nicht nur
erwünscht, sondern geboten, daß in der bisherigen Kursfeststellung
ein gründlicher Wandel eintritt, durch den der Kulisse die Einwir-
kung auf die Kursgestaltung, anders als durch positive Aufträge,
entzogen wird. Im vorliegenden Falle wird ein Kurs notiert. der
im Verkehre überhaupt nicht vorgekommen ist, es wird ein Angebot
amtlich festgestellt, das gar nicht vorhanden ist, und dem Bankier
wird ermöglicht, bei direkt im Kommissionsverkehre gehandelten
Posten seinen Kunden einen um 0,15 erhöhten Kurs in Rechnung
zu stellen, als er selbst den Wert der Ware einschätzt. In diesem
Falle handelt der Kursmakler nicht nur entschieden pflichtwidrig
und streift in bedenklicher Weise seinen Eid, sondern er bringt sich
auch in die größte Gefahr; denn wenn plötzlich ein Kaufauftrag zu
diesem fingierten Kurse, der weder dem Angebote noch der Nach-
frage gerecht wird, hervortritt, so muß er liefern, was nur unter
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 637
Verlust geschehen kann. Er darf doch nicht vorgeben, daß das be-
treffende Angebot plötzlich wieder zurückgenommen ist: denn sein
Buch wird hierüber Auskunft geben. Wenn aber ein Mitglied des
Börsenvorstandes, das amtlich mit der Kursfeststellung beauftragt ist,
dieses Gebahren nicht nur duldet. sondern öffentlich verteidigt und
als ganz selbstverständlich betrachtet, so zeigt sich eben, daß an ge-
wissen Stellen die Erfahrungen aus der Antibörsenbewegung der
1890er Jahre bereits wieder vergessen sind, was wir im Interesse
einer gesunden und kräftigen Börse und einer gedeihlichen wirtschaft-
lichen Entwickelung unseres Vaterlandes nur mit Bedauern wahr-
zunehmen vermögen. —
Ferner wird nach unserem Autor gegenwärtig, wenn Angebot
und Nachfrage weit auseinanderliegen, der Kurs gestrichen. Wenn
notiert würde, schaffe man keinen Nutzen, den Besitzern der Papiere
werde damit nicht gedient. —
Es ist das möglich, aber der Oeffentlichkeit würde doch mit der
Bekanntgabe von Angebot und Nachfrage gedient sein. Die Veröffent-
lichung der beiderseitigen Aufträge würde auch dazu dienen, um die
widerstreitenden Interessen rascher zum Ausgleiche zu bringen. Bei
Streichung des Kurses kann ein Interessent, falls ein Gegenauftrag
nicht vorliegt, mit der neuen Notierung in gewissem Sinne fast nach
Belieben einsetzen, bis seiner Absicht durch Gegenoperationen ein
Ziel gesetzt wird. Mit den Streichungen des Kurses sollte daher
recht sparsam vorgegangen werden.
Es verdient noch das Mittel betrachtet zu werden, welches Richter
gegen die Ausweichkurse angibt. Allgemein bekannt ist es, daß
niemand dafür eine Gewähr besitzt, am folgenden Börsentage zu den
Kursen des heutigen Geschäfte abschließen zu können. Ein jeder Tag
hat seine eigene Plage und auch seine eigenen Kurse. Der amtliche
Kurszettel soll aber den Zweck verfolgen, ein getreues Spiegel-
bild des Verkehrs an dem jeweiligen Börsentage bis zum Zeitpunkte
der Notierung (2 Uhr bezw. 1!, Uhr) zu geben. Das Publikum
kann sich vermittelst Einsichtnahme des Kurszettels täglich über den
Marktwert seiner Papiere unterrichten und sich dabei vergewissern,
ob seine durch Kommissionäre an die Börse gelangten Aufträge
haben ausgeführt werden können.
Um nun das Ausweichen der Kurse zu verhindern, rät Richter,
von seinem Auftrage einen kleinen Posten loszutrennen und diesen
„bestens“ zum Verkaufe zu bringen. Dann wird der interessierte
Bankier genötigt, Farbe zu bekennen, und kann nicht 0,10 Proz. unter
dem limitierten Auftrage notieren lassen.
Das Mittel verfehlt seines Zweckes, weil es nicht überall anzu-
wenden ist. Aus den mitgeteilten Beispielen geht hervor, daß bereits
ein angebotener Posten von 500 M. ein langdauerndes Ausweichen
des Kurses zur Folge hatte. Bei der Aufgabe „bestens“ sinkt der
Kurs, wie es jeder täglich an seinem Leibe erfahren kann, plötzlich
um 2, 3, ja 4 Proz. Der angebotene Posten findet bei dem gesun-
kenen Kurse Aufnahme und nach wenigen Tagen steht wieder der
638 Georg Wermert,
frühere Preis als Geldkurs im amtlichen Kurszettel! Bei der Auf-
gabe „bestens“ ist das Publikum der interessierten Bank völlig über-
liefert; bei Papieren mit geringen Umsätzen fehlt jedes Abwehrmittel
gegen die augenscheinlichste Uebervorteilung. Bei Papieren mit er-
heblichen Umsätzen ist diese Gefahr stark abgeschwächt, weil die
von dritter, vierter, fünfter Seite kommenden, sich vielfach durch-
kreuzenden Aufträge obige Machination weit schwieriger gestalten.
Im übrigen rühren die Beschwerden über die Ausweichkurse keines-
wegs, wie Richter uns gern glauben machen möchte, von Dilettanten
her, sondern sie sind durchaus begründet und zeigen mit größter
Deutlichkeit, wie wenig die jetzige Kursfeststellung ihrer Aufgabe
gerecht wird, wie sie nicht dem öffentlichen Interesse dient, weshalb
es die Pflicht der sachverständigen, namentlich der wissenschaftlichen
Presse ist, nach dieser Richtung Aufklärung zu bringen und mit ihr
Wandel zu schaffen.
Die Handelskammer zu Berlin hat sich in ihrem Berichte an
den vorgesetzten Minister über die Ausweichkurse nicht mit diesem
windigen Abhülfemittel befaßt, welches gerade dem interessierten
Bankier zum Nutzen gereichen wird, sondern sie sucht die ganze
Angelegenheit als höchst belanglos hinzustellen. Nach ihr kommen
wohl ausnahmsweise Ausweichkurse vor. Sie sind aber nach den
Beobachtungen des Börsenvorstandes sehr selten. Deshalb würde
es nicht gerechtfertigt sein, ihretwegen die bisherige Kursfeststellung
abzuändern. Wenn dem Börsenvorstande ein nicht ernst gemeinter
Kaufauftrag bekannt werde, finde er keine Berücksichtigung bei der
Kursfeststellung.
Aus den wenigen Beschwerden, die an den Börsenvorstand in
dieser Angelegenheit gelangen, kann aber keineswegs auf ein aus
nahmsweises Vorkommen der Ausweichkurse geschlossen werden, da
das von ihnen betroffene Publikum, wie bereits bemerkt, gar nicht
im direkten Verkehre mit der Börse steht und keinen Einspruch bei
der Kursfeststellung erheben kann. Die Handelskammer täuscht sich
daher über die Bedeutung der Frage. Aber selbst, wenn Ausweich-
kurse nur in vereinzelten Fällen vorkommen sollten, so darf man
wohl von dem unmittelbaren Aufsichtsorgane der Börse erwarten,
daß es mit allen Mitteln auf die Abstellung solcher Kursfälschungen
dringt, anstatt diese als völlig belanglos zu beschönigen. Das Handels-
ministerium war daher auch mit Recht unbefriedigt von der Auskunft
der Handelskammer. Die Maklerkammer wurde aufgefordert, sich
darüber zu äußern, in wie vielen Fällen während des Zeitraumes zweier
Monate Geld- oder Briefkurse amtlich zur Notierung gelangt waren,
ohne daß die entsprechenden Kauf- oder Verkaufsaufträge in die
Maklerbücher eingetragen wurden). In sämtlichen Fällen haben die
Kursmakler die entsprechenden Aufträge nicht ernst genommen.
Trotzdem wurden nach ihnen die Kurse festgestellt. Damit sind
. ñ
1) Vom Staatskommissar der Börse wurden die Stichmonate April und Mai 1905
diesen Erhebungen zu Grunde gelegt.
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 639
aber die Ausweichkurse in ihrer Gesamtheit keineswegs erfaßt; denn
auch eine Eintragung in das Maklerbuch kann lediglich die Schaffung
einer Ausweichnotierung zum Zwecke haben. Wenn nämlich ein
Bankier an der Schranke an einem Tage bei einem Verkaufslimite
von 106.50 einen Kaufauftrag zu 106,40 gibt und am nächsten Tage
bei Ermäßigung des Limits auf 106,40 einen solchen von 106,30 erteilt,
so muß der Kursmakler wissen, daß ein solcher Auftrag nicht ernst
gemeint ist und der interessierte Bankier tatsächlich keine Stücke
aufnehmen will. Sollte jedoch in diesem Falle 106,40 Brief anstatt
106,30 Geld notiert werden, dann hat das Satyrspiel ein Ende, die
Beherrschung des Kurses durch den interessierten Bankier hört auf.
Bei fortgesetzter Briefnotiz wird sich allerdings ein vergrößerter Ver-
kaufsdrang des Publikums zeigen und der Bankier wird gezwungen,
falls er den Kurs halten will, Kaufaufträge, die ausführbar sind, zu
geben, wodurch ein Geschäftsabschluß zur Notierung gelangt. Falls
keine tatsächlichen Kurse abgeschlossen werden, sinkt das Papier
von seinem künstlich hochgehaltenen Stande auf seinen wahren Wert
hinab, auf dem sich Angebot und Nachfrage des Publikums die Wage
halten. Es ist das kein Schade, weil der Kurszettel dann die wirk-
liche Marktlage widerspiegelt. Aber das will man gerade nicht.
Der Bankier oder die Kulisse wünscht keine Briefkurse, der Börsen-
vorstand wünscht sie nicht, die Börsenaufsicht erst recht nicht, und
der Kursmakler ist froh, wenn ihm ein Wink vom Bankier zuteil
wird, damit er mit scheinbarem Rechte einen Geldkurs „machen“
kann. —
Die Handelskammer sieht in einer Briefnotiz eine Verschlimme-
rung des gegenwärtigen Zustandes. Verkäufer und andere Besitzer
des Papieres würden darin eine Schädigung ihrer Interessen erblicken.
Der stärkere Verkaufsandrang und der Kursdruck werden eine Ver-
schlechterung der künftigen Verkaufsmöglichkeit hervorrufen. — Aller-
dings, aber das Publikum, das sich das Papier als ein sicheres An-
lageobjekt erworben hat. wird auch bei etwas größeren Schwankungen
des Kurses, falls sein Wert nur sonst gut fundiert ist, nicht so leicht
zum Verkaufe drängen. Der Bankier jedoch, der das Papier an die
Börse gebracht hat, der gewöhnlich in seinem Portefeuille noch eine
große Menge davon besitzt, kann dann im direkten Verkehre seinen
Kommittenten nicht den künstlich hochgehaltenen Geldkurs der Börse
berechnen und somit das Papier nicht mehr zu einem Satze an den
Mann bringen, der seinem inneren Werte nicht entspricht, und von
dem es bei etwas erheblicheren Anspannungen oder gar Erschütte-
rungen des Geldmarktes ohne Frage sofort stark zurückweichen muß.
Die vielen Geldkurse des Kurszettels bei ungewöhnlich hohem
Diskont und stärkster Anspannung des Geldmarktes täuschen daher
eine lebhafte Nachfrage hervor, die keineswegs besteht, sie zeigen
die Börse in einer Geldfülle, die gänzlich erdichtet ist. Wenn die
Briefkurse daher zu einer größeren Wahrhaftigkeit des Kurszettels
beitragen, so ist solches vom Publikum außerhalb der Börse, das
für seine Ersparnisse eine gute, dauernde Anlage sucht, durchaus
640 Georg Wermert,
erwünscht. Das gilt aber nicht nur für dieses, sondern für jeder-
mann, der einen auf Treu und Glauben basierten soliden Verkehr
an der Börse erstrebt.
Welche Antwort die Maklerkammer auf die Aufforderung des
Handelsministers gegeben hat, ist nicht bekannt geworden. Sicher
werden an maßgebender Stelle Mittel und Wege erwogen werden.
um das Ausweichen der Kurse für die Zukunft nach Möglichkeit zu
verhindern. Die öffentliche Meinung muß hierauf mit größter Ent-
schiedenheit dringen.
Die Maklerordnung vom 9. Juli 1906, die mit dem 1. Januar
1907 in Kraft getreten ist, bietet hierzu keinerlei Hilfsmittel. Sie
dokumentiert nach dieser Hinsicht ihre gänzliche Ohnmacht.
7. Sonstige Mängel der Kursfeststellung.
Die Fälschungen durch die Ausweichkurse lassen die Frage auf-
werfen, ob sonst der Kurszettel die Marktlage richtig wiedergibt.
Der Chor der Presse sucht dieses zum Teil zu bejahen, zum Teil
zu verneinen, und nach einer genauen Durchsicht der widerstreiten-
den Stimmen ist unschwer zu erkennen, daß selbst unter den börsen-
kundigen Blättern die verneinenden Stimmen die Oberhand besitzen.
Schreiten wir daher zur Prüfung der Sache.
Die Marktlage ergibt sich aus dem Zusammenwirken der ent-
gegenarbeitenden Kräfte in Kauf und Verkauf, in Angebot und Nach-
frage. Der Kurszettel würde auf absolute Richtigkeit Anspruch
machen können:
1) wenn in ihm sämtliche an der Börse abgeschlossenen Geschäfte
berücksichtigt würden;
2) wenn bei den Papieren etc., in denen Abschlüsse nicht zu-
stande kommen, Angebot und Nachfrage wahrheitsgetreu zur Dar-
stellung gelangen.
Hierdurch würde der Kurszettel zum getreuen Spiegelbilde der
jeweiligen tatsächlichen Geschäftslage werden, und eine Fälschung
der Kurse müßte, abgesehen von vereinzelten dolosen oder fahr-
lässigen Handlungen pflichtwidriger Kursmakler, in das Gebiet der
Unmöglichkeit verwiesen werden. Wie bereits früher ausgeführt,
bildet nur ein geringer Teil der an der Börse sich vollziehenden
Geschäfte oder der an sie gelangenden Aufträge die Grundlage für
die Kursfeststellung. Der bei weitem größere Teil kommt nicht in
den Büchern der Kursmakler zum Vorschein, oder wird nicht bei
ihnen oder den Börsenkommissaren zur Anzeige gebracht. Die Kurs-
feststellung wird durch sie gar nicht berührt. Die Meinung ist daher
zu verwerfen, daß der gegenwärtig täglich erscheinende amtliche
Kurszettel ein wahres Spiegelbild der Geschäftslage der Börse bringt.
Das würde noch annähernd der Fall sein, wenn, wie es sonst
im wirtschaftlichen Leben unfraglich überall in die Erscheinung tritt,
bei den die Maklerbücher durchlaufenden Geschäften der Käufer ein
Interesse am möglichst niedrigen Einkaufe, der Verkäufer ein Interesse
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden etc. 641
am möglichst höchsten Verkaufe hätte. Das soll an der Börse nicht
der Fall sein, wie mehrfach behauptet worden ist. Die Eigenart der
Lage und die einseitige Zuspitzung des Börsenumsatzes in neuester
Zeit, wie er sich auf Grund des vielbefehdeten Börsengesetzes ent-
wickelt hat, soll den Geschäftsverkehr öfters in sein Gegenteil ver-
wandelt haben. Demnach hat der Käufer in diesem Brennpunkte
des Handels öfters ein Interesse am möglichst hohen Einkaufe, der
Verkäufer am möglichst niedrigen Verkaufe. Wie ist dieses möglich,
da doch sonst im menschlichen Leben niemand sein Geld ohne
wahrnehmbaren Nutzen auf die Hecken und Zäune hängt?
Alle diejenigen, welche für eigene Rechnung kaufen,
haben naturgemäß ein Interesse am niedrigen, und die für
eigene Rechnung verkaufen, am hohen Kurse auch an der
Börse. Auf sie kann also die Behauptung von der Umkehrung aller
geschäftlichen Verhältnisse nicht gemünzt sein. Der größte Teil der
Geschäfte besteht aber in Kommissionsaufträgen, die auf
Antrag der Kommittenten von den Banken und Bankiers an der Börse
ausgeführt werden sollen. Wie stellt sich nun das Interesse der
Banken am Kommissionsgeschäfte ?
Der Bankverkehr strebt in der neuesten Zeit einer ungeheuren
Konzentration entgegen, wie es sonst kaum auf einem andern Ge-
biete des wirtschaftlichen Geschehens hervortritt. Zwar hat die An-
zahl der deutschen Banken sich in den letzten 3 bis 4 Dezennien nicht
nennenswert verändert. Im Jahre 1872 waren 202, 1879 144 und
1904 220 Banken vorhanden. Auch mag zugegeben werden, daß
sich die Zahl der Bankiers seit den 1870er Jahren nicht wesentlich
verwandelt hat. Diese Stabilität beweist aber gegenüber der ver-
doppelten Bevölkerungsziffer und einer volkswirtschaftlichen Entwicke-
lung, die ein Vielfaches derjenigen der 1370er Zeit aufweist, eine unge-
heure Konzentration des Bankverkehrs, die in der neuesten Periode
auf Grund des Börsengesetzes geradezu lawinenartig um sich greift.
Bei den großen führenden Instituten überstürzen sich die Kapitals-
vermehrungen, das Grundkapital häuft sich zu schwindelnden Summen
zusammen, die Machtmittel der Banken wachsen dadurch
ins chimärische, durch Fusionen oder Kartellverträge der
Rieseninstitute wird ihr Herrschaftsbereich fortgesetzt gesicherter,
und durch Geldhergabe und Eindringen in die Aufsichtsräte der
bedeutendsten industriellen, bergbaulichen und großgewerblichen
Unternehmungen haben sie ihre Fäden in allen größeren Werken
und üben des Kaufmanns Herrschgewalt über unsere gesamte Volks-
wirtschaft aus, wie in keiner andern Periode unserer ökonomischen
Entfaltung. Durch den Zusammenschluß der Großbanken unter-
einander wird eine Macht von fast monopolistischer Wirkung hervor-
gerufen; eine Geldoligarchie in des Wortes verwegenster Bedeu-
tung feiert ihre Erstehung, die nicht nur der Industrie gebietet, den
Bergbau von sich abhängig macht und durch Ankauf großer Güter
in die Landwirtschaft eindringt, sondern auch die Städteverwaltungen
und schwächeren Regierungen unweigerlich unter ihre Machtsprüche
Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIII). 41
642 Georg Wermert,
beugt und sie bei Emissionen geradezu zwingt, einen höherprozen-
tigen Typus der zu begebenden Papiere an den Markt zu bringen,
ja, vor der selbst die preußische Regierung in Sachen der Kurs-
makler einen Schritt zurückgewichen ist (Stempelvereinigung). Daß
eine solche Macht sich nicht leicht die Kursnotierung entwinden
lassen wird, weil sie ihre Hände fortgesetzt bei diesem wichtigen
Amte im Spiele zu haben wünscht, ist ganz natürlich. Aber wie
soll hierdurch eine Umkehrung der Wirkung von Kauf und Verkauf,
von Angebot und Nachfrage an der Börse hervorgerufen werden’?
Jede Großbank ist im Besitze einer erheblichen Zahl von Pa-
pieren, die sie an der Börse eingeführt hat. Sie ist an ihnen nicht
wenig interessiert, da sie ihre Emissionen allmählich zu plazieren
gedenkt, wie auch .ihr Interesse an allen industriellen Anstalten und
Werken ein erhebliches ist, denen sie Betriebsmittel gewährt, oder
in deren Aufsichtsräten die Bank durch ein Vorstandsmitglied ver-
treten ist. Die an der Börse gehandelten Papiere aller dieser Unter-
nehmungen stehen im Schutze der Bank, die bei ihrem großen
Kundenkreise und ihren vielfältigen Beziehungen und Veranstaltungen
selbst eine Börse in sich darstellt, da sie aus sich selbst heraus
oder durch den direkten Verkehr mit den nächst befreundeten Banken
und Großbankiers die zahlreichen einlaufenden Aufträge zu erledigen
vermag, ohne der Börse hierbei zu bedürfen. Dennoch kann man
ihrer nicht gänzlich entraten. Die Bank steht rechtlich ihren Kunden
gegenüber im Verhältnisse des Kommissionärs zum Kommittenten.
Durch ihre zahlreichen Zweigniederlassungen und Wechselstuben, die
den kleineren Bankier allmählich verdrängen, empfängt sie eine statt-
liche Anzahl von Kommissionsaufträgen, denen sich die Aufträge
der Provinz zugesellen. Die Kommittenten senden selbstverständlich
sowohl Kauf- als auch Verkaufsaufträge. Die Bank hat als Kommissionär
ihnen gegenüber gemäß $ 400 HGB. das Selbsteintrittsrecht. Sie
kann das Gut, das sie einkaufen soll, selbst als Verkäufer liefern,
oder das Gut, das sie verkaufen soll, als Käufer übernehmen. Trotz
des Selbsteintrittsrechtes bedarf die Großbank aber der Börse; denn
dieses Recht ist daran gebunden, daß für die fraglichen Papiere ein
Börsen- oder Marktpreis amtlich festgestellt wird. Deshalb hat die
Bank dafür zu sorgen, daß tatsächlich einige Umsätze in dem Pa-
piere an der Börse stattfinden, oder wenn nicht, daß durch ihre
Nachfrage ein Geldkurs zur Notierung gelangt, der das Selbstein-
trittsrecht ermöglicht, wenn der Kunde keinen Einspruch erhebt. Dieser
Kurs wird dem letzteren in Rechnung gestellt. Infolge des Selbst-
eintrittsrechtes ist die Bank dem kaufenden Publikum gegenüber
Verkäufer, dem verkaufenden Käufer. Da aber bei der Bank es
sich vielfach um die Uebernahme von Emissionen handelt und sie
die Papiere ihres Portefeuilles an die Kundschaft zu möglichst
dauernder Anlage unterbringen will, so weckt sie deren Kauflust
und sucht die lagernden Werte an sie abzuschieben, wobei sie als
Kommissionär, der fortgesetzt das Selbsteintrittsrecht ausübt, ihren
Kunden gegenüber als Verkäufer auftritt. Sie hat in diesem Falle
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden etc. 643
das Interesse des Verkäufers an hohen Kursen, deshalb tritt sie an
der Börse als Käufer auf, falls einzelne Posten der abgesetzten
Papiere an diese zurückfließen. Oder hat die Bank bei einem
Papiere mit geringem Verkehre überhaupt nicht die Absicht es zu
kaufen, so gibt sie den bekannten Auftrag zu 0,10 oder 0,20 Proz.
unter dem limitierten Angebotskurse, damit ein Geldkurs notiert wird.
Dieser Käufer an der Börse hat daher ein lebhaftes Interesse an
recht hohen Kursen und im umgekehrten Falle, wenn die
Bank beabsichtigt, ein Papier zu erwerben, an niedrigen Kursen.
Sie verkauft dann an der Börse zu möglichst geringem Ertrage eine
Kleinigkeit, um auf Grund dieses Kurses von der Kundschaft oder
im freien Verkehre das Papier aufzukaufen. Demnach ist die
Wirkung von Kauf und Verkauf, von Angebot und Nachfrage ge-
radezu auf den Kopf gestellt.
Die mögliche Beherrschung der Kursnotierung durch die Oli-
garchie der Banken und sonstiger Geldmächte ist aber für die All-
gemeinheit von größtem Nachteile, sie überschüttet das Publikum
mit Papieren zu möglichst hohen Kursen, und sie zieht sie wieder
aus dem Verkehre zurück zu möglichst niedrigen Kursen, weshalb
das Volk und namentlich das weniger börsenkundige fast immer der
Leidtragende ist.
Durch die fortschreitende Konzentration der Banken wird die
Schädigung erhöht. Für die großen Emissionen bilden sich Konzerne,
der Wertpapierhandel wird unter den Mitgliedern aufgeteilt. Sie ver-
fügen auch über den Betrag, der zur Börse gelangen soll. Die meisten
Abschlüsse werden aber in direktem Verkehre untereinander be-
wirkt, und die Großbanken stören nicht die Wege der Schwester-
banken und vergreifen sich nicht leicht an deren Transaktionen.
Der Privatbankier wird naturgemäß beiseite gedrängt. Er
muß seine Aufträge an der Börse ausführen und hat demnach Kur-
tage zu entrichten. Dazu muß er seinen Kunden, will er selbst be-
stehen, die übliche Provision berechnen. Die selbsteintretende Groß-
bank ist gemäß $403 HGB. berechtigt, den Kunden die in Kommissions-
geschäften sonst regelmäßig vorkommenden Kosten in Rechnung zu
stellen. Die Kurtage fällt daher der Großbank zu. Sie kann deshalb
die Provision stark ermäßigen, weshalb sich die Kundschaft zu ihr hin-
überzieht. Dazu tritt die Kulisse den Absichten der Hochfinanz
meistens nicht entgegen. Wenn die Bank in der Kulisse, abweichend
vom amtlichen Kurse, kauft oder verkauft, so gelangen diese Geschäfte
vielfach nicht zur Kenntnis der kursfeststellenden Organe. Der
Kulissier, der niedriger gekauft hat, als der amtliche Kurs ist, kann
durch Verkäufe in der nächsten Börsenstunde verdienen; derjenige
welcher höher verkauft hat, kann sich niedriger eindecken. Warum
sollen sie also ihre Geschäfte zur Anmeldung und somit zur Be-
rücksichtigung bei der Kursfeststellung bringen ? Das bleibt besser
der interessierten Bank überlassen, die ihnen auch Aufträge zu-
fallen läßt. Da das Börsengesetz die Kontremine ausgeschaltet hat,
werden diese Bestrebungen gegenwärtig sehr erleichtert.
41*
644 Georg Wermert,
Wie lohnend für die hohe Finanz die Emissionen sind und wie
sehr bei ihnen auf Kosten des Publikums gesündigt wird, mag nur ein
Beispiel lehren. Die Kyffhäuserhütte, ein früher sehr ertragreiches
Werk, hatte im Jahre 1904 ein Aktienkapital von 400000 M. Die
Dividenden stellten sich folgendermaßen: 1902 45 Proz., 1903 60 Proz.,
1904 20 Proz., 1905 13 Proz., 1906 O Proz. Im Jahre 1904/05 wurde
auf Anraten der Hochfinanz, die sich des Werkes bemächtigte, das
Aktienkapital um 600000 M. auf eine Million erhöht, angeblich, um
besondere Fabrikationen aufzunehmen, in Wirklichkeit, um die Zu-
lassung der Aktien zum Börsenhandel zu erreichen. Zu diesem
Zwecke muß bekanntlich das Aktienkapital der Gesellschaft mindestens
eine Million Mark betragen!) Im Juni 1905 wurden die jungen
Aktien zu dem ungewöhnlich hohen Kurse von 312,50 an die Börse
gebracht, was sich wegen der aufsteigenden Konjunktur leicht er-
möglichen ließ, obgleich der Stand des Werkes bereits in cadente
domo war und die letzte Dividende nur noch 20 Proz. betragen
hatte. Um das vermehrte Aktienkapital zu beschäftigen, wurden
neue Fabrikationszweige aufgenommen. Der neu eingerichtete
Motorenbau mißglückte gänzlich, und Verluste auf Verluste stellten
sich ein. Als bekannt wurde, daß für 1906 keine Dividende zur
Ausschüttung gelangen konnte, sanken die Aktien auf 110,00 am
25. März 1907. Das Publikum hat daher einen Verlust von rund
200 Proz. erlitten und zwar nicht nur an den jungen, sondern auch
an den alten Aktien, demnach in Summa 2000000 M. Dazu ist das
Werk durch seine Verbindung mit „potenten Geldmächten“ von einem
soliden, ruhig arbeitenden Unternehmen, das reiche Gewinne ab-
warf, zu einem unsicheren, wenig gefestigten geworden, dessen sich
eine wilde Börsenspekulation bemächtigt hat. Die eingeweihten Kreise
vermochten sehr lange vor dem Bekanntwerden des Mißerfolges à la
baisse zu spekulieren, um den Verlust des Publikums als reichen
Gewinn für sich abzuschöpfen und ins Trockene zu bringen. Daß
dieses tatsächlich geschehen ist, beweisen die heftigen Kursschwan-
kungen der Kyffhäuserhütte vor Veröffentlichung des mißlichen
Standes für das Jahr 1906. Die Hochfinanz, die bereits bei der
Emission der neuen Aktien ein glänzendes Geschäft machte, hat
demnach eine reichliche Ernte gehalten. Die prekären Zustände, in
welche das Werk geraten, bieten den finanziellen Kräften wiederum
willkommenen Anlaß zu neuer Beute. Um weitere Betriebsmittel zu
schaffen, wird abermals eine Erhöhung des Grundkapitals vorgenon-
men, die 500000 M. beträgt. Trotz des auf 110,00 gesunkenen Kurses
verpflichtete sich die sanierende Großbank, die halbe Million neuester
Aktien zu 150 zu übernehmen und sie zu 155 an die alten Aktionäre
bezw. das Publikum zum Absatze zu bringen. Nach einem Emissions-
gewinne von 25000 M. kann daher das alte Spiel von neuem be-
ginnen. Die Kurse werden weit über 155 getrieben, sodaß für das
1) $ 1 der Bekanntmachung des Reichskanzlers, betreffend die Zulassung vol
Wertpapieren zum Börsenhandel vom 11. Dezember 1896.
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden etc. 645
kaufende Publikum anscheinend ein augenblicklicher Gewinn bevor-
steht!). Die Kulisse wirft sich auf das Papier, um den kleinen momen-
tanen Verdienst abzuschöpfen, und das Publikum, das nichts gelernt
und alles vergessen hat, bleibt später mit dem Papiere behangen.
Sollten weitere Schiksalsschläge die Kyffhäuserhütte betreffen und
noch dazu eine absteigende wirtschaftliche Periode, wie sie durch
nicht zu verkennende Anzeichen bereits recht deutlich verkündigt
wird, sich eine längere Zeit geltend machen, so kann das Publikum weiter
trauern, während die eingeweihten Kreise und Faiseure sich rechtzeitig
aus der Schußlinie begeben. Aber auch ohne derartige Aussichten
muß es dem Werke schwer werden, auf das fast vervierfachte Aktien-
kapital eine einigermaßen ausreichende Dividende zu gewähren. Die
früheren Fleischtöpfe Egyptens sind unwiderbringlich dahin.
Wir haben dieses Falles unter zahlreichen anderen nur erwähnt, weil
er ein typischer ist und beweist, daß nicht jedesmal durch das Ein-
greifen der Hochfinanz eine Förderung der industriellen und gewerb-
lichen Entwickelung unseres Vaterlandes herbeigeführt wird. Wenn
auch die vielen Emissionen nicht immer gleich günstige Ausbeute-
objekte abgeben, so bleibt es doch eine unbestrittene Wahrheit, daß
die hauptsächlichsten Gewinne der großen Banken aus Emissionen
herrühren: einem Vorzugsgeschäfte dieser, namentlich zu Zeiten der
Hochkonjunktur.
Wie stark die Emissionstätigkeit der Großfinanz ist, mag gleich-
falls an einem Beispiele, das mit dem vorigen nichts zu schaffen
hat, gezeigt werden. Nach ihrem Geschäftsberichte für 1906 hat die
Diskontogesellschaft in Berlin sich im Jahre 1906 an nicht weniger
als 94 Emissionen beteiligt, unter denen sich 67 industrielle Gesell-
schaften befanden. Andere Großbanken haben keine geringere
Tätigkeit auf dem Gebiete der Emissionen entfaltet und aus ihnen
reiche Gewinne erzielt. —
Das Schwergewicht bildet bei den geschilderten Uebelständen
die illegale Beeinflussung der Kursfeststellungen, bezw. die Fälsch-
ungen des Kurszettels.. Damit soll keineswegs gesagt sein, daß bei
der Notierung unredlich vorgegangen wird, den beteiligten Personen
auch nur eine moralische Mitschuld oder gar dolose Handlungen zur
Last gelegt werden müßten. Das sei ferne! Alles vollzieht sich
höchst ehrenwert; denn die in Frage kommenden Personen sind alle,
alle ehrenwert. Die Gesetze sowie die verwaltungsrechtlichen Vor-
schriften werden durchweg peinlich genau erfüllt, und keiner ver-
mag irgend jemanden eines Fehls zu zeihen. Dennoch ist das Ergeb-
nis eine großartige Fälschung der Kurse; denn der Kurszettel
spiegelt keineswegs die wirkliche Geschäftslage des Verkehrs an der
Börse wider ($ 29 B.G.), und das außerhalb der Börse stehende
Publikum kann erheblich geschädigt werden und wird tatsächlich
1) Am 18. April 1907 waren sie bereits wieder auf den Stand von 150,00 be-
zahlt und Geld gebracht bei einem Werke, das für 1906, ein Jahr der wirtschaft-
lichen Hochkonjunktur, keine Dividende zu verteilen vermochte und mit seiner
Motorenabteilung einen vollen Zusammenbruch erlitten hatte! —
646 Georg Wermert,
in stärkstem Grade benachteiligt. Die Oligarchie der Großfinanz er-
hebt immer stärker ihre Herrschgewalt, und die Börse selbst sinkt
dabei zur Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit hinab. —
8. Können die Kursmakler die Kurszettelwahrheit schaffen ?
Wie kann den geschilderten Uebelständen gesteuert werden?
Es gibt eine Anzahl Wege, die zu diesem Ziele führen. Von ihnen
mag derjenige, der mit Hilfe der Kursmakler Wandlung schaffen
will, im Nachstehenden zuvor betrachtet werden.
Vor kurzem hat ein offensichtlich den Maklerkreisen der Börse
angehörender, börsenkundiger Mann unter der Bezeichnung „Prak-
tiker“ einen Vorschlag der Oeffentlichkeit unterbreitet, der hier zu-
nächst erörtert werden mag!).
Die Fälschung der Kurse wird dadurch bewirkt, daß nur ein
geringer Teil der an der Börse getätigten Geschäfte bei der Kurs-
feststellung zur Berücksichtigung gelangt. Der größere Teil wird
nicht zur Kenntnis der feststellenden Organe gebracht. Es muß
daher ein Mittel gefunden werden, welches tunlichst sämtliche Ge-
schäfte zur Kenntnis der Kursmakler bringt. Eine Beseitigung
der Kulisse ist nicht angängig, weil sie zur Verminderung der
Stöße und Gegenstöße notwendig ist, auch sonst für den Börsen-
verkehr wichtige Dienste leistet. Dennoch müssen sämtliche Geschäfte
in den Maklerbüchern zum Vorschein kommen. Das kann geschehen
durch ihre unterschiedliche Besteuerung. Diejenigen Ab-
schlüsse, welche durch Kursmakler vermittelt werden, sind mit
einer wesentlich geringeren Börsensteuer zu belasten als diejenigen,
welche sich im freien Verkehre vollziehen. Diese Steuerermäßigung
erstreckt sich auch auf die beiden Kommissionsgeschäfte, welche
der Vermittlung des Kursmaklers vorhergehen. Dieser stempelt die
Schlußscheine jener Kommissionsgeschäfte ab mit dem Vermerke:
„amtlich vermitteltes Börsengeschäft*, wobei er auf seinen Schluß-
schein bloß einen Vermerk macht, aber den Kommissionären je den
1!/,-fachen Stempelbetrag und den !/,-fachen Betrag der an ihn zu
zahlenden Kurtage berechnet. Die im freien Verkehre vermittelten
Geschäfte können die gleiche Steuerermäßigung genießen, wenn sie
nachträglich angemeldet werden. Sie gelangen dann mit dem Ver-
merke zur Abstempelung: „Deklariertes Börsengeschäft“.
Gewiß werden durch die Steuerermäßigung zahlreiche Geschäfte
den Kursmaklern zugeführt, wie auch weiter zahlreiche Geschäfte
durch nachträgliche Anmeldung zur Kenntnis der Kursmakler ge-
langen und somit bei der Kursfeststellung berücksichtigt werden
können; aber wenn der „Praktiker“ sich der Hoffnung hingibt, daß
sodann die Banken ihre Aufträge nicht mehr in sich kompensieren,
d. h. das Selbsteintrittsrecht aufgeben und mit allen Kommissionen
1) Wie kann die Börse mehr der Allgemeinheit dienstbar gemacht werden?
Leipzig 1907.
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 647
an der Börse als Käufer oder Verkäufer auftreten, so müssen wir
diese Anschauung leider als einen Irrtum bezeichnen. Die bei der
Kompensation in sich den Kunden zu berechnende Kurtage nebst
Provision wiegt die Steuerdifferenz auf. Die Steuerermäßigung für
amtlich vermittelte und amtlich deklarierte Geschäfte an der Börse
kann nicht so erheblich ausfallen, daß Kurtage und Provision daneben
verschwinden. Denn wollte man eine solche stark unterschiedliche
Steuer einführen, so würde der ganze Wertpapierhandel, der sich
außerhalb des Rahmens der Börse vollzieht, zu Unrecht belastet
werden. Man würde den provinziellen Effektenverkehr mit Gewalt
an die Börse treiben, darunter auch die Papiere der kleineren und
soliden Werke, die einen sicheren Besitztitel für das Publikum ab-
geben und an der Börse nicht zugelassen sind, sei es, daß man ihre
Zulassung nicht nachgesucht hat, sei es, daß wegen des geringen
Umfanges eine Zulassung nicht möglich ist. Ob eine solche gewalt-
same Konzentration des Handels mit Werten an der Börse wünschens-
wert ist, will uns außerordentlich fraglich erscheinen. Wir brauchen
hierbei nur an unser obiges Beispiel der Kyffhäuserhütte zu er-
innern, um das Ausreichende gesagt zu haben. Die Werke würden
mit dem erhöhten Aktienkapitale nichts anzufangen wissen, der
Markt würde mit Papieren überflutet werden, und dem Provinz-
bankier der Handel mit diesen Objekten auch noch genommen!
An dieser Stelle hat der Vorschlag des „Praktikers“ daher be-
reits ein großes Loch, durch das er zum Scheitern gelangt. Doch
mögen seine geistvollen Darlegungen noch etwas näher betrachtet
werden.
Um die inländischen Börsen zu bevorzugen, sollen die Auslands-
geschäfte mit der höheren Steuer belastet werden. Weil aber der
Arbitrageverkehr eine vorzügliche kursausgleichende Wirkung besitzt,
sollen ihm die jetzigen Begünstigungen (Rückzahlungen) verbleiben.
Der Verkehr konzentriert sich nach der Einführung der diffe-
renziellen Besteuerung mehr und mehr bei den Kursmaklern, es
laufen bei ihnen bereits vor der Börseneröffnung zahlreiche Auf-
träge ein, weshalb auch stets erste Kurse zu Anschreibung gelangen
können. Das ärgerliche Leerbleiben der schwarzen Tafeln innerhalb
der Schranken nach Beginn der Börsenversammlung wird dann ver-
mieden werden. Dem ist beizustimmen.
Ferner ist die Möglichkeit gegeben, im Kurszettel nicht nur
die Kurse, sondern auch die Höhe der Umsätze an der Börse
anzugeben: eine höchst wünschenswerte Vervollständigung der amt-
lichen Notierungen, die wir recht eingehender Erwägung anheim
geben möchten. —
Der gegenwärtig bestehende Zustand, einen gestempelten Schluß-
schein eine lange Reihe Kulissiers A bis X durchlaufen zu lassen,
bleibt bestehen. Die zwischen Anfang und Schluß befindlichen
Mittelglieder begleichen bloß ihre Differenzen, ohne die Steuer zu
entrichten. Sie werden dabei als Makler aufgefaßt. Wenn aller-
dings eine andere Rechtsauffassung durchgreifen sollte, nach der für
648 Georg Wermert,
jedes innerhalb der „Kette“ abgeschlossene Geschäft ein neuer
Schlußschein auszustellen ist, würde ein großer Teil der Kulisse
unmöglich gemacht werden. Das ist vorerst nicht wünschenswert;
denn die Kulisse bietet außer den bereits bezeichneten manche
sonstige Vorteile. Beim Unterbringen der Aufträge in der Kulisse
bleibt der Auftraggeber leichter verborgen. Große Aufträge werden
durch die Kulisse rasch in viele kleine zerlegt, wodurch heftigere
Schwankungen möglichst vermieden werden. Auch ist die Kulisse
stets geneigt, Geschäfte abzuschließen, da in ihr die gewerbemäligen
Börsenhändler zusammengefaßt erscheinen. — Es sind das Wahrheiten,
die zwar bekannt sind, deren wiederholte Betonung jedoch nichts
schadet. Nun sollen aber nach dem „Praktiker“ die Kursdifferenzen
bei den Gliedern der „Kette“ die amtliche Kursfeststellung nicht
berühren, sie bilden eine innere Angelegenheit der Kulisse. Bei der
Kursfeststellung werden deshalb nur die Preise, die auf den Schluß-
scheinen zum Ausdrucke gelangen, berücksichtigt. Bei Einbeziehung
der Mittelglieder würde auch ein zu hoher Umsatz festgestellt werden.
Hier befindet sich wiederum ein stark wunder Punkt bei dem
„Praktiker“. Umsätze von Papieren bleiben Umsätze, ganz einerlei,
unter was für Personen sie sich vollziehen. Umsätze zwischen
Makler und Makler, oder zwischen Bankier und Bankier, oder zwischen
Bankier und Makler bezw. Kulissiers bleiben immer die gleichen
Umsätze. Sie alle gehören zum Gesamtverkehre der Börse, sie wirken
auf die Geschäftslage ein und summiert bilden sie den Gesamtumsatz
der Börse. In ihrer wirtschaftlichen Bedeutung kann ein Unterschied
nicht konstruiert werden. Dazu wirken sie tatsächlich auf die Kurs-
gestaltung ein, wie an folgendem Beispiele zu ersehen ist:
Gehandelte Menge
3'/,-proz. Reichsanleihe Kurs Wert
10 000 97,50 975 000
5 000 97,70 488 500
1.000 97.30 97 300
©4000 97,50 390 400
Summa 20 000 I1 951 200
a 10951200
Rum ee BR
Es ist nun für jedermann einleuchtend, wenn jeder Posten an
der Hand seines Schlußscheines noch mindestens einen zehnmaligen
Umsatz bei immer wechselnden Kursen erfährt, daß es dann ein
blinder Zufall sein würde, falls sich der gleiche Kurs ergeben sollte.
Die Wahrscheinlichkeit ist fast 1, daß sich immer ein abweichender
Kurs herausschält. Es wirken also nicht bloß diejenigen auf den
Kurs ein, welche zufällig am Schlusse der Börse mit dem Schluß-
scheine behaftet bleiben und nun nolens volens Lieferanten oder
Abnehmer von Effekten werden, sondern sämtliche Glieder der Kette,
wenn sie auch seither keinen Stempel zu entrichten haben. —
Unter der Voraussetzung einer differenzierten Börsensteuer würden
demnach keineswegs alle an der Börse getätigten Geschäfte bei der
Kursfeststellung berücksichtigt werden, sondern nur diejenigen, über
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 649
welche ein Schlußschein ausgestellt worden ist, vorausgesetzt, daß
das Interesse des Auftraggebers an der Geheimhaltung nicht so
stark ist, um dem höheren Steuerbetrage die Wage zu halten.
Einige Besserungen werden allerdings erzielt: Die Herrschaft
der Großbanken über die Kurse wird etwas erschwert werden. Durch
Berücksichtigung einer größeren Anzahl von Geschäftsabschlüssen
bezw. Aufträgen wird der Kurszettel einiges an Wahrheit gewinnen,
wodurch das Provinzgeschäft eine Förderung erfährt. Das ist aber
auch alles. Keineswegs offenbart der Kurszettel die richtige Ge-
schäftslage, weil noch immer ein großer Teil der Geschäfte sich der
Kenntnis der Kursmakler entzieht. Dazu wird die Selbstkompen-
sation der großen Banken nicht gehindert. Sie bleiben kleine Börsen
für sich und lassen nur so viele Papiere an die amtliche Börse ge-
langen, um den Kurs zu regulieren. Die Banken können nach wie
vor gemäß $ 403 HGB. den Kunden Kosten in Rechnung stellen,
die sie an der Börse gespart haben, weshalb sie auch im Wett-
bewerbe mit den kleinen Bankiers eine niedrige Provision zu be-
rechnen im stande sind. Allerdings muß der Kommissionär gemäß
$ 15 des Stempelgesetzes, falls er am gleichen Tage eine Einkaufs-
kommission und Verkaufskommission als Selbstkontrahent ausführt,
den 1!/;fachen Stempel für jede Kommission entrichten. Dafür fällt
ihm aber die Kurtage gänzlich in den Schoß. Dazu kann er auch
noch am Stempel sparen. Führt er den Selbsteintritt erst am näch-
sten Tage aus, so bedarf es bloß der Entrichtung des einfachen
Stempels. Dem kleinen Bankier wird daher nach wie vor der
Wettbewerb recht sauer gemacht.
Das Mittel des „Praktikers“ ist daher wohl geeignet, den Kurs-
maklern eine erheblich größere Anzahl von Geschäften zuzuführen,
weshalb ihr Einkommen aus der Kurtage sich wesentlich erhöht,
wie auch bald eine größere Zahl von Kursmaklern (gegenwärtig sind
in Berlin 81 an der Fondsbörse und 4 an der Produktensbörse tätig)
berufen werden müßte. Der Allgemeinheit würde jedoch diese Neue-
rung wenig zu gute kommen.
Zwar läßt sich wohl mit leichter Mühe ein chimärischer Plan,
durch Begünstigung der Kursmakler zu einem Gegengewichte gegen
die Oligarchie der Banken, zur Reformation des ganzen Wertpapier-
handels und schließlich der Aktiengesellschaften zu gelangen, unter
Beihilfe einer ausschweifenden Phantasie aufbauen, aber wir be-
zweifeln, ob sich in der nächsten Zukunft eine Regierung finden
wird, die solches zu unternehmen gewillt ist. Das soll uns aber
nicht abhalten, den Plan hierselbst in seinen Grundzügen zu skiz-
zieren.
Die durch die differenzielle Börsensteuer begünstigten Kurs-
makler schließen sich zusammen zu einem Maklervereine, der eine
Gesellschaft mit beschränkter Haftung bildet. Die Maklerkammer
als dessen Vorstand übt eine scharfe Aufsicht über die ihr unter-
stellten Kursmakler, die eine einzige Interessengemeinschaft bilden.
Das Kassenwesen übernimmt die Kammer oder der Vorstand, von
650 Georg Wermert,
ihm beziehen die Kursmakler die besonders gefärbten, geringer be-
werteten Marken, und zu seiner Kenntnis gelangt jedes nachträglich
deklarierte Börsengeschäft. Da die Maklerkammer der Regierung
direkt unterstellt ist, so kann sie sich jederzeit über den gesamten
Börsenverkehr, so weiter in der Steuerermäßigung zum Ausdrucke ge-
langt, genau unterrichten.
Der Kursmakler behält ein beschränktes Eintrittsrecht. Er stellt
die vermittelten Käufe und Verkäufe täglich zusammen, und der
Rest, der nicht aufgeht, ist für seine Person abgeschlossen. Nimmt
dieser Rest einen erheblichen Umfang an, so vermag leicht die Ge-
fahr des Zusammenbruchs über dem Haupte des einzelnen Kurs-
maklers schweben. Bei der Maklergesellschaft mit beschränkter Haf-
tung ist solches ausgeschlossen. Nach Lage des Vereinsvermögens
erhält jeder Kursmakler sein Kontingent, wie weit er das Selbst-
eintrittsrecht ausüben und die Gesellschaft belasten darf. Der täg-
liche Abschluß des Maklerbuches und dessen Kontrolle durch die
Maklerkammer verhindert jeden Mißbrauch und jede Ueberschreitung
des Kontingentes. Die Mittel der Maklergesellschaft werden ge-
bildet durch die Einschüsse der einzelnen Makler. Verstärkt werden
sie durch Anteilscheine, die als Inhaberpapiere gleich den sonstigen
Inhaberpapieren an der Börse zum Verkaufe gelangen. Statt einer
Gesellschaft mit beschränkter Haftung, kann die Maklergesellschaft
auch als eine Kommanditgesellschaft auf Aktien gedacht werden, bei
der die Kursmakler die persönlich haftenden Gesellschafter und die
Erwerber von Aktien die Kommanditisten abgeben. Da das Papier
eine sichere, gut verzinsliche Kapitalsanlage darstellen wird, so dürfte
es nicht schwer halten, der Maklergesellschaft ein bedeutendes Be-
triebskapital zuzuführen. Die Einnahmen der Kursmaklergesellschaft
setzen sich zusammen aus der Kurtage der ihnen zahlreich zu-
strömenden Geschäfte und dem Gewinne aus dem Selbsteintritts-
rechte. Da die jetzige Umsatzsteuer rund 20 Millionen Mark ein-
bringt, wird die Kurtage nach Durchführung dieses Planes wahr-
scheinlich auf den gleichen Betrag steigen. Die Kursmaklergesell-
schaft ist daher im stande, den Ausfall zu decken, den die Finanzen
des Reiches durch die Herabsetzung der Steuer auf die amtlichen
Börsengeschäfte erleiden. Das Reich verliert nicht nur nichts, son-
dern kann noch erheblich höhere Beträge aus dem Börsenverkehre
ziehen, wenn z. B. gesetzlich angeordnet wird, daß gewisse Ueber-
schüsse und der Agiogewinn bei der Ausgabe der Makleraktien an
die Reichsfinanzen abgeführt werden, wie solches in ähnlicher Weise
in betreff des ersten Punktes bei der Reichsbank der Fall ist.
Dem Kursmakler stehen bedeutende Vorteile zu Gebote bei den
eigenen Käufen und Verkäufen bezw. der Ausübung des Selbstein-
trittsrechts. Während für die übrigen Geschäfte Kurtage zu ent-
richten ist, kommt sie hier in Wegfall. Es können daher auch die
kleinen Spannungen der Kurse ausgenutzt werden, die sonst an der
Höhe der Kurtage scheitern. Außerdem ist er stets in der Hinter-
hand gegenüber den Auftraggebern. Da jedem Kursmakler sein
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden etc. 651
Kontingent vorgeschrieben ist, kann eine gefahrdrohende Belastung
der Gesellschaft mit eigenen Geschäften nicht stattfinden. —
Die Sicherheit, welche die fraglichen Aktien bieten, wird sie zu
einem beliebten Börsenpapiere machen, die Großbanken werden sich
dieses Papiers annehmen, um einen Sitz im Ausschusse der Kurs-
maklergesellschaft — der wie der Reichsbankausschuß gedacht werden
kann — und somit enge Fühlung mit der Maklerkammer und der
Regierung zu erhalten. Der Staat vermag durch die Kursmakler-
gesellschaft allmählich die Aktien eines Unternehmens zu erwerben,
ohne daß davon in der Oeffentlichkeit auch nur ein Wort verlautet.
Die Verstaatlichung eines Bergwerkes oder einer großen Anlage der
schweren Industrie würde sich daher allmählich ohne nennenswerte
Steigerungen der Kurse durchführen lassen, während sie jetzt bei
der Hibernia, indem die Hilfe einer Großbank in Anspruch genommen
werden mußte, trotz starker Kurstreibereien mißlungen ist. —
Aber die Aussichten für den Staat sind noch weit großartiger.
Der Kursmakler treibt mit allen an der Börse zugelassenen Papieren
Handel. Durch Selbsteintritt wird die Gesellschaft Besitzer von
Aktien und sontigen Effekten. Bei der Bedeutung der Gesellschaft,
die für den Börsenverkehr erheblicher ist, als die der Reichsbank
für den Geldverkehr, wird es ihr leicht, in die Aufsichtsräte der
Aktiengesellschaften einzudringen. Da die Kursmaklergesellschaft
einen amtlichen Charakter hat, erhält dadurch der Staat die Gelegen-
heit, in den Aufsichtsräten der Aktiengesellschaften ein gewichtiges
Wort mitzureden und den daselbst vertretenen Großbanken die
Stange zu halten. Die Generalversammlungen werden nicht mehr
durch die Hochfinanz allein beherrscht. Die Abhängigkeit jener von
dieser, da sie ihnen Geld vorschießt, erfährt ein heilsames Gegen-
gewicht.
Durch die Besetzung der Aufsichtsratsstellen vermittelst Per-
sonen, die der engsten Kontrolle des Staates unterstehen, gewinnt
er den wünschenswerten Einfluß auf Industriezweige, wie z. B. den
Steinkohlenbergbau, dessen er jetzt zu seinem Schmerze ermangelt.
Auf diesem Wege kann der Staat immer weiter in die Verwaltung
der Aktiengesellschaften eindringen, er kann deren Aktien in immer
stärkerem Maße erwerben, bis er schließlich das ganze industrielle,
bergbauliche und gewerbliche Getriebe in seiner Hand vereinigt.
Er hat unter völliger Beiseiteschiebung des Sozjalismus und der
Sozialdemokratie eine ungeheuere soziale Tat ausgeführt, und die
Erträge aus den wirtschaftlichen Unternehmungen fließen nicht ver-
hältnismäßig wenigen Privatpersonen zu, sondern koumen der Ge-
samtheit zu gute, indem sie in die Staatskasse abgeführt werden.
Mit den gewaltigen Mitteln können nicht nur bedeutende Steuerer-
mäßigungen bewirkt, sondern auch weitgehende sozialpolitische
und ausgleichende ökonomische Pläne durchgeführt werden. Nicht
nur kann die soziale Versicherungstätigkeit und Gesetzgebung in
einer bisher unmöglich erscheinenden Weise ausgebaut werden,
sondern es vermögen auch zahreiche kleine Besitzer auf staatlich
652 Georg Wermert,
erworbenen Ländereien angesiedelt zu werden, damit stets ein
kräftiger Grundstock der Bevölkerung im ganzen Reiche erhalten
bleibt, aus dem die übrigen Kreise sich fortgesetzt zu regenerieren
im stande sind, wie auch für die Schaffung einer stattlichen Flotte
nicht fortgesetzt ärmliche Mittel aus noch ärmlicheren Steuern, die
den Verkehr in unzulässiger Weise belasten, gesucht zu werden
brauchen. Es wird durch diese Maßnahmen von seiten des Staates
nichts weiter durchgeführt, als was gegenwärtig durch die immer
mehr überhandnehmende Vertrustung der Industrie seitens kapital-
kräftiger Mächte erreicht wird, die, anstatt dem freien Spiele der
Kräfte Bahn zu schaffen, vermittelst monopolartiger Ausgestaltung
der Unternehmerverbände, durch unnatürliche Preisgestaltung und
sonstige Maßnahmen die Gesamtheit zu Gunsten einzelner mit ge-
waltigen Extrasteuern belasten. —
Die wirtschaftliche Entwickelung tendiert allerdings dahin, wenn
dem privaten Zusammenschlusse der großen Unternehmungen in Zu-
kunft kein Einhalt geboten wird, das Erträgnis der Gesamtheit mehr
und mehr in wenige Kanäle zu leiten: eine völlig umgekehrte Staats-
ökonomie, die nicht weiter fortgeführt werden darf, da sie im Gegen-
teile wirken soll, das Erträgnis der Gresamtheit immer stärker der Ge-
samtheit in tunlichst gleichmäßiger Weise zu gute kommen lassen. —
9. Mittel zur Schaffung der Kurszettelwahrheit.
Verlassen wir diese weiten Perspektiven, deren Verwirklich-
ung, wenn überhaupt je möglich, wohl noch eine recht lange Zeit
auf sich warten lassen wird und betrachten wir vorerst die Wirkung
eines engeren Zusammenschlusses der Kursmakler auf den Börsen-
verkehr, wie er sich in der Gegenwart vollzieht.
Falls tatsächlich an der Börse nur Aufträge zu Realverkäufen
und -käufen ausgeführt würden, müßte ein starkes tägliches Schwanken
der Kurse die Folge sein, wie auch zahlreiche Aufträge unerledigt
bleiben. Daher ist eine umfassende Tätigkeit der Banken, Bankiers
und Privatmakler erforderlich, die je nach Bedarf eingreifen, oder
auch als gewerbsmäßige Börsenhändler täglich im Markte auf dem
Posten sind. Die Kulisse befriedigt deshalb das herantretende Be-
dürfnis, sie kauft und verkauft in großen Mengen und gleicht die
Kursschwankungen namentlich durch einen entwickelten Termin-
handel aus. Die großen Kurven der Kurse tönen sich dabei ab zu
kleinen täglichen Vibrationen. Die Kulisse ähnelt einem Schwamme,
der die Geschäfte an sich saugt und Angebot und Nachfrage sättigt.
Die Kursmaklergesellschaft, falls sie wirklich auferstehen sollte, ver-
mag nicht das gleiche zu leisten, da sie bei der notwendigen Kon-
tingentierung der einzelnen Kursmakler nicht die Dehnbarkeit der
Kulisse besitzt. Dafür ist aber die Gesellschaft nicht über ihre Kraft
belastet, weshalb sie sich bei stürmischen Ereignissen widerstandsfähiger
als jene beweist. Sie wird namentlich dahin einwirken, daß sich bei
ruhigeren Zeiten die Kurse noch gleichmäßiger bewegen als seither;
aber ein Eingreifen in gefährlicheren Tagen, um die Ueberlastung
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 653
der Kulisse auszugleichen, wie es seitens der Banken geschieht, ist
ihr nicht möglich. Sie kann sonach die Tätigkeit der Großfinanz
in unruhigen Situationen nicht ersetzen. Der Börse muß daher auch
in Zukunft die Kulisse wie die Hochfinanz erhalten bleiben. Mithin
kann die Vereinigung der Kursmakler nicht die gegenwärtige Börse
ersetzen, wenn sie auch manche gute Dienste zu leisten im stande
ist. Außer den angeführten mag nur noch auf die Arbitrage hin-
gewiesen werden, die durch die Kursmakler von Börse zu Börse
im direkten Verkehre ohne die üblichen Spesen ausgeführt werden
kann, wodurch die Glättung der Kursdifferenzen an den ver-
schiedenen Plätzen in weit stärkerem Maße als seither durchgeführt
wird. Hierbei kommen wir auf einen der ernstlichsten Beachtung
zu überweisenden Punkt, bei welchem eine Abhilfe nicht nur leicht
möglich, sondern auch dringend erwünscht ist.
$ 25 der Maklerordnung bestimmt nämlich, daß die Kursmakler
Geschäfte nur für diejenigen Börsenbesucher vermitteln dürfen,
welche im Besitze einer zum Abschlusse von Börsengeschäften be-
rechtigenden Börsenkarte sind. Damit wird ihre Tätigkeit lediglich
auf die Börsenbesucher beschränkt, sie dürfen aus der Provinz wie aus
anderen Börsenplätzen und Börsen keine Aufträge übernehmen.
Dadurch ist der ganze Eflektenhandel des Landes, soweit er an der
Börse zum Austrage kommt, auf die Banken und Bankiers ange-
wiesen, welche am Börsenplatze ihre Niederlassung haben und täg-
lich an der Börse erscheinen. Sie besitzen dadurch ein Monopol,
ähnlich den mittelalterlichen Bann-, Stapel- oder Umschlagsrechten,
die einem zu entwickelnden Handelsverkehr die größten Hindernisse
bereiteten und wie ein schwerer Albdruck auf dem Hinterlande
lasteten. Denn der gesamte Umsatz, der von außerhalb kommt,
muß durch diese Banken und Bankiers vermittelt werden; sie schieben
sich als nicht zu umgehende Zwischenglieder ein. Der Provinz-
bankier wird vom Börsenbankier abhängig, letzterer lernt die Auf-
nahmefähigkeit der Provinz genau kennen, er durchschaut die Be-
dürfnisse daselbst, kennt die Aufträge und weiß in seinem Interesse
die erforderlichen Maßnahmen zu treffen. —
Da nun dieser letzte Ueberrest des Mittelalters, dieses „Börsen-
stapelrecht“, den Verkehr hemmt und auch belastet, außerdem den
Provinzbankier dem Börsenbankier unterwirft und einer ungesunden
Konzentration des Effekten-, Wechsel- und Geldverkehrs den größten
Vorschub leistet, so ist es erforderlich, es schleunigst zu beseitigen,
zumal alle ähnlichen Rechte dem freien Verkehre, dem ungehemmten
Spiele der Kräfte haben weichen müssen.
An den Börsenplätzen wird man sich naturgemäß hiergegen
sträuben. Die bisherigen Einwände halten jedoch nicht stand. Der
Börsenbesucher, der den Kursmaklern Aufträge erteilt, kann vorher
nicht wissen, mit wem das Geschäft vermittelt werden wird. Wenn er
nun sieht, daß es mit einem außerhalb der Börse Stehenden abge-
schlossen ist, vermag er nicht die Börseneinrichtungen, namentlich
das Börsenschiedsgericht, bei Differenzen anzurufen. Er ist auf den
gewöhnlichen Weg der Klage verwiesen, weshalb für ihn ein Nach-
654 Georg Wermert,
teil gegenüber den zwischen Börsenbesuchern abgeschlossenen Ge-
schäften besteht. —
Dieser unschuldige Einwand zur Deckung des „Börsenstapel-
rechts“ wird einfach dadurch beseitigt, daß man den außerhalb der Börse
Stehenden, der unmittelbar durch die Vermittelung der Kursmakler
an der Börse seine Geschäfte auszuführen wünscht, in streitigen
Fällen usancenmäßig den Börseneinrichtungen unterstellt, wobei der
das Geschäft vermittelnde Makler ihn vertreten kann. Dadurch sind
genügende Kautelen für den direkten Verkehr geschaffen, und der
Dezentralisation des Effektenhandels wird erheblich Vorschub ge-
leistet. Die Folgen bestehen in dem stärkeren Zusammenlaufen der
Aufträge bei den Kursmaklern, der wenig leichteren Möglickeit der
Großbanken, eine Börse durch Selbsteintritt in sich zu bilden. Es
ergibt sich ferner eine geringere Einwirkung derselben auf die Kurs-
gestaltung, wie auch durch die stärkere Inanspruchnahme der Kurs-
makler eine größere Anzahl von Geschäften bei der Kursfeststellung
Berücksichtigung finden wird.
Die Beseitigung des „Börsenstapelrechtes“ wird daher zur Besse-
rung der Kurswahrheit beitragen und den kleinen Provinzbankier
fördern, wenn auch durch dieses Mittel keine genügende Abhilfe
für die oben geschilderten Uebelstände gefunden ist. Es gilt daher,
nach andern Ausschau zu halten.
Als ein solches Mittel handelsrechtlicher Natur ist die Abände-
rung von $ 403 HGB. anzusehen. Wenn der Kommissionär bei
Ausübung des Selbsteintrittsrechtes nicht mehr die bei Kommissions-
geschäften übliche Provision und die sonst regelmäßig vorkommenden
Kosten zu berechnen vermag, sondern er selbst als reiner Käufer
bezw. Verkäufer anzusehen ist, so wird hierdurch der Kleinbankier
am Börsenplatze gefördert und der überhandnehmenden Konzentration
des Bankgewerbes entgegengewirkt. Denn die den Kunden in Rech-
nung zu stellende Kurtage, die bei Ausübung des Selbsteintritts-
rechtes dem Kommissionär zufällt, vermag dann nicht mehr kom-
pensierend auf die wirklichen Kommissionsgeschäfte der Großbank
einzuwirken, weshalb der bisherigen Herabdrückung der Provision,
die dem kleinen Bankier die Geschäfte entzieht und ihn seiner Existenz
zu berauben droht, eine Grenze gesteckt ist.
Ist die Aufhebung von § 403 HGB. aber gerechtfertigt? Die
Berechnung der regelmäßigen Kosten und der gewöhnlichen Provision
war dem Kommissionär beim Selbsteintritte bereits im Allgemeinen
Deutschen Handelsgesetzbuche zugebilligt und ist von diesem in das
neue Handelsgesetzbuch übernommen worden. Der Grund lag in
folgendem: Der Kommissionär muß, wenn er dieses Recht ausüben
will, bereits vorher ähnliche Geschäfte ausgeführt haben, weshalb
ihm entsprechende Kosten erwachsen sind. Es ist daher billig, sie
dem Kommittenten in Rechnung zu stellen!). Nach der Entschei-
1) Staub, Dr. Hermann, Kommentar zum Handelsgesetzbuche, Berlin 1900, Bd.?
8. 1468.
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 655
dung des Reichsoberhandelsgerichtes!) ist es dabei gleichgültig, ob ihm
die Kosten tatsächlich erwachsen sind; sie gelten als ein gesetzlicher
Zuschlag zum Preise.
Der Begründung kann nicht beigetreten werden, da durch sie
das Recht des Kommissionärs einseitig gewahrt, das des Kommittenten
vernachlässigt wird. Die Aufträge des letzteren können Kauf- oder
Verkaufsaufträge sein. Nur bei Kaufaufträgen geht tatsächlich im
Falle des Selbsteintrittes ein Geschäft des Kommissionärs vor-
her. Bei den Verkaufsaufträgen können die Unkosten sich erst beim
nachträglichen Wiederverkaufe einstellen. In ganz gleicher Lage be-
findet sich der Kommittent. Sendet er einen Verkaufsauftrag, so
hat er früher beim Erwerbe der Papiere die betreffenden Unkosten
bestreiten müssen; sendet er einen Kaufauftrag, so wird er später
mit den gleichen Unkosten zu rechnen haben. Darum befindet sich
der Kommissionär als Selbstkäufer oder -Verkäufer in der gleichen
Lage wie der Kunde. Jenem nun das Recht zuzugestehen, diesem
Kosten in Rechnung zu stellen, die bei dem Geschäfte gar nicht
entstanden sind und entstehen können, ist nicht angängig. Beide
stehen als Käufer und Verkäufer einander gegenüber, und es wider-
spricht allen kaufmännischen Regeln, den einen Teil beim Abschlusse
eines Geschäftes mit einem Zuschlage zum Preise zu belasten zu
Gunsten des anderen Teiles.
Mit der Aufhebung oder Aenderung von $ 403 HGB. ist aber
nichts Ausreichendes geschehen. Der Großbank bleibt noch immer
die Möglichkeit, nur einen kleinen Teil der Papiere aus Emissionen
an die Börse zu bringen, um den Kurs entsprechend zu regulieren,
den anderen größeren Teil aber vom Lager ab im direkten Verkehre
mit der Kundschaft zu veräußern und im Lande zu plazieren, wenn
auch hierbei der Nebengewinn der bei der Kommission üblichen
Kostenberechnung wegfällt.
Der beklagte Uebelstand, daß die Geschäfte sich von der Börse
zurückziehen, dieser Brennpunkt des Verkehrs verarmt und blutleer
wird und jede größere Bank eine Börse in sich bildet, welche die
wirkliche Börse nur als Popanz der amtlichen Kursnotierung nötig
hat, beruht nicht nur auf mißgünstigen Aeußerungen der Kulisse,
sondern tritt immer lebhafter in die Erscheinung, während für unsere
wirtschaftliche Entwickelung eine starke Börse unbedingte Voraus-
setzung ist, wie auch nur eine mächtige Börse den Einwirkungen
der auswärtigen potenten Börsen genügend entgegenzuwirken und die
Unabhängigkeit des heimischen Geldmarktes zu wahren vermag.
Zu diesem Zwecke muß sich ein lebhafter Verkehr an der Börse
konzentrieren, an ihr müssen die gewaltigen Umsätze sich vollziehen,
che durch die Steinpaläste der Großbanken abgezogen werden
dürfen.
Vorstehende Voraussetzungen erscheinen erfüllt, wenn das Selbst-
eintrittsrecht (§ 400 HGB.) wesentlich erschwert oder beseitigt wird.
1) Band 6 S. 190,
656 Georg Wermert,
Das Selbsteintrittsrecht ist zwar an bestimmte Voraussetzungen
gebunden. Es darf nicht stattfinden, wenn es seitens des Kommit-
tenten verboten ist. Das Verbot kann ein ausdrückliches oder still-
schweigendes sein. Eine stillschweigende Willenserklärung ist zu
erforschen gemäß §§ 133 und 157 BGB., wie auch dann eine solche
vorliegt, wenn der Kommittent durch seinen Auftrag auf die Kurse
einzuwirken wünscht, aus welchem Grunde das Geschäft an der Börse
zur Abwickelung gelangen muß. Letzteres hat indessen der Kom-
missionär nicht zu vermuten, sondern es muß ihm ausdrücklich zu
erkennen gegeben werden.
Ein Verbot des Selbsteintrittsrechtes findet jedoch nur in selte-
nen Fällen statt, teils aus Unkenntnis des Kommittenten, teils in
der Annahme, daß die eigene Angelegenheit bei der Bank, mit der
man verkehrt, sich in den besten Händen befindet. Daher ist die
andere Vorschrift wichtiger, nach welcher der Selbsteintritt bei Wert-
papieren nur dann erfolgen kann, wenn bei ihnen ein Börsen- oder
Marktpreis amtlich festgestellt wird. Die Kursnotierung hat mangels
sonstiger Verabredungen am Platze des Kommissionärs stattzufinden!)).
Demnach ist ein Selbsteintritt in der Provinz und namentlich in allen
den Städten, in denen Börsen- oder Marktpreise nicht amtlich fest-
gestellt werden, nicht möglich. Sogar an den Börsenplätzen ist der
Selbsteintritt nur gestattet, soweit amtliche Kurse im Kurszettel er-
scheinen. Wird an dem fraglichen Tage der Kurs gestrichen, oder
wird nur eine Brief- oder Geldnotiz festgestellt, so darf der Kom-
missionär das Selbsteintrittsrecht nicht ausüben, selbst wenn das
Interesse des Kommittenten durch die Geldnotiz nicht beeinträchtigt
erscheint?). Da indessen $ 402 HGB. nur die Absätze 2—5 des $ 400
als zwingende, als durch Vertrag nicht zu beseitigende erklärt, so
kann durch ausdrückliche oder stillschweigende Uebereinstimmung
obige Bedingung umgangen werden. Unter dieser Voraussetzung darf
der Selbsteintritt auch dann erfolgen, wenn ein Geldkurs oder gar
ein Briefkurs notiert wird, ja selbst dann, wenn ein amtlicher Kurs
überhaupt nicht für den Tag besteht. Trotz dieser weitgehenden
Ausdehnung des Selbsteintrittsrechtes ist der Provinzbankier bei den
an ihn herantretenden Kommissionsaufträgen nicht ohne Weiteres
berechtigt, von diesem Rechte Gebrauch zu machen. Geschieht es
dennoch, verkauft er z. B. die Papiere von seinem Lager dem Kunden
zu dem vortägigen Kurse des nahen oder fernen Börsenplatzes, s0
ist er nicht Kommissionär, sondern Proprehändler und ist nicht be-
rechtigt, dem Auftraggeber Kurtage und Provision zu berechnen,
was indessen vielfach geschieht und das Publikum sich in größter
Harmlosigkeit gefallen läßt. —
Der PW egfall des Selbsteintrittsrechtes trifft somit im Wesent-
lichen nur die Kommissionäre am Börsenplatze, die Grob-
1) Breit, James, Das Selbsteintrittrecht des Kommissionärs nach dem neuen
deutschen Handelsgesetzbuche, Leipzig 1899, S. 70 ff.
2) Entscheidungen des Reichsgerichts, Bd. 34 S. 120.
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden etc. 657
banken und Bankiers, bei denen die Aufträge des Landes wegen
des „Börsenstapelrechts“ zusammenströmen.
Erscheint es nun berechtigt, diesen bevorzugten Kommissionären
das Vorrecht des Selbsteintrittes zu nehmen? Durch die Annahme
des Auftrages ist der Kommissionär verpflichtet, unter der Aufwen-
dung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmannes mit einem Dritten
ein Geschäft abzuschließen und die Vorteile des Geschäftes seinem
Kunden zufließen zu lassen. Er hat bei Erteilung des Auftrages
seinen Rat mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kommissionärs zu er-
teilen, er ist gemäß § 78 BG. mit hoher Strafe bedroht, wenn er
gewohnheitsmäßig in gewinnsüchtiger Absicht andere unter Aus-
beutung ihrer Unerfahrenheit oder ihres Leichtsinnes zu Börsen-
spekulationen verleitet, die nicht zu ihrem Gewerbebetriebe gehören;
er ist gemäß $ 79 BG. mit noch höherer Strafe bedroht, wenn er wider
besseres Wissen unrichtigen Rat oder unrichtige Auskunft erteilt, oder
absichtlich zum Nachteile des Kommittenten handelt.
Demnach hat der Kunde die ausreichende gesetzliche Gewähr, daß der
Kommissionär nicht zu seinem Ungunsten tätig sein darf. Der Selbst-
eintritt ändert aber die ganze Sachlage. Er zwingt dem Kommissionär
einen Doppelcharakter auf, der sich schwerlich mit dem Grundsatze
von Treu und Glauben vereinigen läßt. Durch den Selbsteintritt wird
das Geschäft verwandelt, der Kommissionsauftrag wird nicht ausge-
führt, sondern der Kommissionär schließt auf Grund dieses Auf-
trages mit dem Kunden ein neues Geschäft ab. Der selbsteintretende
Kommissionär ist dem Kunden gegenüber bei einem Verkaufsauf-
trage Käufer, bei einem Kaufauftrage Verkäufer: er handelt nicht
mehr als Kommissionär, da er nunmehr in dem fraglichen Geschäfte
seine eigenen Vorteile zu wahren hat. Es ist daher ein Unding,
ihm gesetzlich zumuten zu wollen, bei der Wahrung seiner eigenen
Interessen in dem gleichen Abschlusse auch diejenigen seines Kunden
zu wahren, wozu er noch immer trotz des Selbsteintrittes rechtlich
gezwungen ist. Vom Kommissionär wird demnach in diesem Falle
eine ethische Vollkommenheit verlangt, die im Geschäftsleben nirgends
zu Hause und nicht einmal möglich ist, weil ein gesunder Egoismus
im Handel und Wandel die Wahrnehmung der eigenen Interessen
stets in den Vordergrund zu rücken hat.
Zwar soll der Selbsteintritt die wirtschaftliche Wirkung haben,
wie es dasjenige Geschäft gehabt hätte, das der Kommissionär für
Rechnung des Kommittenten mit einem Dritten abzuschließen beauf-
tragt war. Diese Wirkung läßt sich aber mangels eines tatsächlichen
Abschlusses nicht feststellen. Es darf jedoch wohl unterstellt
werden, daß in der Mehrzahl der Fälle dem Kommittenten durch
den Abschluß des Geschäfts mit einem Dritten, d. h. an der Börse,
Vorteile erwachsen, die durch den Selbsteintritt verloren gehen;
denn der Kommissionär wird nur dann in das Geschäft eintreten,
wenn sich für ihn hieraus Vorteile ergeben. Die Vorteile des
Kommissionärs unter diesen Umständen sind zumeist Nachteile des
Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIII). 42
658 Georg Wermert,
Kommittenten, wenn letzterer sie auch nicht zu erkennen vermag,
da der Börsen- oder Marktpreis bei der Abrechnung innegehalten ist.
Aus den angeführten Gründen erscheint es daher erforderlich,
den Kommissionär seiner Zwitterstellung zu entkleiden, da sie für
ihn unhaltbar ist, indem sie von ihm Unmögliches verlangt. Ihm
ist sonach der unzweideutige Charakter des Kommissionärs oder
des Proprehändlers zu geben. Solches geschieht durch den Wegfall
des Selbsteintrittsrechtes, der um so leichter bewerkstelligt zu werden
vermag, weil von ihm eigentlich nur eine kleine Gattung von Banken
und Bankiers, nämlich nur solche, die an den Börsenplätzen ihren Sitz
haben, getroffen wird, für alle übrigen Kommissionäre, wie bereits
ausgeführt worden, überhaupt nicht recht in Frage kommt.
Die Folgen des Wegfalls würden sein, daß ein großer Teil der
täglich einlaufenden Geschäfte nicht mehr in sich von den Banken
kompensiert werden kann, die Weiterentwickelung der Großbanken
zu eigenen Börsen erschwert und der Börse durch einen starken
Zustrom von Geschäften frisches Blut in stattlicher Fülle zugeführt
wird. Und wenn auch noch ein erheblicher Teil von Aufträgen —
namentlich in der ersten Zeit — im Proprehandel vom Eftektenbe-
stande «der Banken erledigt wird, soweit nämlich der Kommittent
sein ausdrückliches Einverständnis erklärt, so kann doch eine ge-
waltige Kräftigung des Börsenverkehrs nicht ausbleiben ; die Börse
gewinnt an Stärke und Nachdruck gegenüber ausländischen Börsen
und braucht nicht mehr im gleichen Maße wie seither in deren kiel-
wasser zu plätschern. —
Nachdem auf diese Weise die Depossedierung der Börse durch
die Hochfinanz beseitigt worden ist, muß dafür gesorgt werden, da}
die an der Börse sich vollziehenden Geschäfte zur Kenntnis der
Kursmakler gelangen, damit sie bei der Kursfeststellung Berück-
sichtigung finden, die Kurse endlich der wirklichen Marktlage ent-
sprechen und die Wahrheit des Kurszettels nicht mehr ein bloßer
Gedanke ist. Dann sind auch die jeden Handelsverkehr auf den
Kopf stellenden Verhältnisse nicht mehr möglich, nach denen der
Käufer für seine Ware einen möglichst hohen Preis zu entrichten
und der Verkäufer einen möglichst niedrigen Preis zu erlangen
wünscht. Die Berücksichtigung der großen Masse der an der Börse
vollzogenen Geschäfte kann sich auf zweifachem Wege vollziehen:
1) durch den Deklarationszwang für die Schlußscheine der
innerhalb der Kulisse abgeschlossenen Geschäfte, oder
2) durch unterschiedliche Besteuerung der durch Kursmakler
vermittelten und der nachträglich deklarierten Börsengeschäfte.
Ersteres Mittel bringt sämtliche (reschäfte zur Berücksichtigung
bei der Kursfeststellung mit Ausnahme derjenigen, welche von den
Zwischengliedern der „Kette“ der um einen Schlußschein abge-
schlossenen (reschäfte betätigt werden. Von diesen kann nunmehr ab-
gesehen werden, weil der Börse durch den Wegfall des Selbsteintritts-
rechtes eine ungeheure Menge tatsächlicher Geschäftsaufträge zutießt.
Auf dem angegebenen Wege werden bei Berücksichtigung sänt-
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. ' 659
licher Schlußscheine die Kurse durchweg die Gewähr der Wahrheit
in sich bergen. Der Kurszettel spiegelt sodann in der Tat die
wirkliche Geschäftslage des Verkehrs an der Börse wieder ($ 29 BG.).
Dazu hat dieser Vorschlag den großen Vorzug, daß die Kulisse
nicht von der Börse verdrängt wird, sie ihre Tätigkeit ungehindert
entfalten kann. Sie steht in Zukunft nicht außerhalb dieses Ver-
kehrsinstitutes wie das sonstige spekulative Publikum, sie befindet
sich im Mittelpunkte des Nachrichtendienstes, und auf Grund rascher
Informationen ist sie in der Lage, je nach dem schwankendem Ver-
kehre einzugreifen, ihre Positionen zu lösen oder neue Engagements
zu schließen, ganz wie es heute der Fall ist. Aber an Stelle der
einzelnen Personen, welche gegenwärtig um 1!/, oder um 1 Uhr
zum Zwecke des „Kursmachens* an die Schranke kommen, bemühen
sich sämtliche Börsenbesucher, die um die genannte Zeit im Besitze
eines Schlußscheines sind, an die Schranke und deklarieren ihr Ge-
schäft. Das erscheint uns nicht nur möglich, sondern es wird sich
noch glatter abwickeln als das gegenwärtige „Kursmachen“, (das
sich manchmal erst unter Leitung und endgültiger Entscheidung der
amtierenden Vorstandsmitglieder der Börse zu vollziehen hat. Dazu
ist jeder illegalen Beeinflussung der Kurse die Spitze abgebrochen,
jede Willkür bei ihrer Feststellung scheidet aus; denn sie sind nicht
mehr ein „aus der Gesamtlage geschöpftes Urteil“, sondern, wie es
gar nicht anders sein darf, „ein Ergebnis mechanischer Rechen-
operationen der Makler“. Sie bilden das Durchschnittsmaß sämt-
licher an der Börse abgeschlossenen Geschäfte, weshalb der Kurs-
zettel ferner nicht mehr ein Urteil, eine Meinungsäußerung über die
Geschäftslage, sondern die wahre Geschäftslage selbst darstellt. In
Betreff der Geld- oder Briefkurse, die nur spärlich vorkommen werden,
genügen die bei den Kursmaklern bis zur fraglichen Zeit eingelaufenen
Aufträge.
Dann ist es ziemlich gleichgültig geworden, ob der Börsen-
vorstand durch seine Kommissarien die Kursfeststellung leitet, oder
ob solches durch die Maklerkammer geschieht. Die Leitung hat
nur darauf zu achten, daß keine fahrlässigen oder gar absichtlichen
Irrtümer bei der Kursfeststellung unterlaufen, wie sie auch bei
Pflichtwidrigkeiten einzelner Kursmakler streng und unerbittlich ein-
zuschreiten hat.
Um den Deklarationszwang durchzuführen, bedarf es einer Ab-
änderung von § 8 der „Bedingungen für Geschäfte an der Berliner
Fondsbörse* vom 1. April 1905. Da nämlich nach dem Reichs-
stempelgesetze ein Schlußnotenzwang nur für stempelpflichtige Ge-
schäfte besteht und $ 94 HGB. nicht in allen Geschäften die Zu-
stellung einer Schlußnote anordnet, so ist für die Berliner Börse
durch $ 8 cit. für jedes Geschäft allerdings eine Schlußnote oder
eine schriftliche Bestätigung vorgeschrieben. Nur muß bestimmt
werden, daß die Schlußnote unmittelbar nach Abschluß des Geschäfts
vom Vermittler auszufertigen und den Parteien zu übergeben ist.
Kommt das Geschäft ohne Vermittler zu stande, so hat der Ver-
42*
660 Georg Wermert,
käufer die Schlußnote dem Käufer unverzüglich zuzustellen. Die
vollzogene Deklaration wird durch Abstempelung des Kursmaklers
vermerkt, der das Papier amtlich zugewiesen erhalten hat. Eine Ent-
ziehung der Deklarationspflicht ist mit der Verweisung von der Börse
und entsprechenden Geldstrafen zu ahnden.
Das zweite Mittel, die differenzielle Behandlung der Geschäfte
in Betreff der Besteuerung, hat nicht diese vollkommene Wirkung
und kann daher weniger empfohlen werden. Abgesehen von dem
Minderertrage der Börsensteuer für die Reichsfinanzen, bleibt ein
großer Teil der innerhalb der Kulisse betätigten Geschäfte unbe-
kannt, weswegen dem Uebelstande nicht abgeholfen wird, an der
Schranke einige wenige Geschäfte zum Zwecke der Kursfeststellung
abzuschließen, während die größere Menge der in und mit der Kulisse
getätigten Geschäfte zu verschiedenen Preisen bei der Kursfest-
stellung keine Berücksichtigung erfährt. Die gelungene Beein-
flussung des Kurses wird den höheren Stempelbetrag bei weiten
aufwiegen. Dazu schließt die Durchführung und Handhabung der
ditferenziellen Besteuerung nicht unerhebliche Schwierigkeiten ein.
Ferner ist bei ihr auch die Zeitaufwendung größer als bei der all-
gemeinen Deklarationspilicht. Dazu scheint eine Zweiteilung der
Börsengeschäfte in amtliche und nichtamtliche nicht angebracht, zu-
mal der Steuernachlaß nur dazu dient, die Geschäftsvermittelung der
Kursmakler zu befördern und ihnen ein höheres Einkommen als
seither zu sichern.
Die Deklarationspflicht zeigt daher viele Vorzüge. Der Ein-
wand, den man aus der Beengung des freien Verkehrs durch ihn
herleiten könnte, ist nicht ernst zu nehmen, da der Börsenverkehr
sich überhaupt, selbst bei gänzlich unbevormundeten Börsen, unter
strengen, meistens selbstgeschaffenen Normativbestimmungen voll-
zieht. Dazu wird nichts Neues gegenüber dem jetzt bestehenden
Zustande eingeführt. Auch gegenwärtig muß das Kulissengeschäft,
falls durch es eine Einwirkung auf den Kurs gewünscht wird, an
der Schranke beim Kursmachen angemeldet werden. Der Deklara-
tionszwang erweitert lediglich diese Gepflogenheit auf alle Kulissen-
geschäfte d. h. Schlußzettel zu Gunsten der Kurswahrheit, die
das öffentliche Interesse gebieterisch fordert. —
Infolge der Verweisung sämtlicher Kommissionsgeschäfte an die
Börse werden zahlreiche Geschäftsvermittelungen von vornherein den
Kursmaklern zufallen, weshalb ihre bisherige Tätigkeit eine starke
Steigerung erfährt. Durch die in den Maklerbüchern zu Tage tretenden
Geschäfte und durch die amtlich zu deklarierenden Geschäfte der
Kulisse gelangt das Parkett zu einer außerordentlich eingehenden
Kenntnis «der Verkehrsverhältnisse, die, da der Kursmakler noch
dazu stets dem Angebote und der Nachfrage gegenüber in der
Hinterhand ist, von ihm in einer nicht wünschenswerten Weise durch
Spekulationen im eigenen Interesse ausgenutzt werden kann. Es
fragt sich daher, sind auch gegenüber den Kursmaklern gewisse
Kautelen erwünscht, damit innerhalb dieser Kreise, denen von Amts
Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 661
wegen alle Transaktionen offenbart werden, nicht ein wildes Jobber-
tum einreißt. Denn wenn die Kursmakler als kapitalschwache
Elemente sich infolge des gegenwärtig nicht zu umgehenden Selbst-
eintrittes mit Effekten überlasten, müssen diese Unternehmungen bei
bewegteren Zeiten heftigen Erschütterungen ausgesetzt werden. Die
Wellenbewegungen der Kurse verstärken sich daher durch zu viele
Engagements der Kursmakler. Und da in kritischen Zeiten ander-
weitige Positionen zu lösen sind, um die gefährdeten Papiere zu
decken, so muß sich die Baisse über zahlreiche Papiere ausdehnen.
Die geldschwache Spekulation der Kursmakler wird daher einer
Deroute der Kulisse nicht entgegenwirken, sondern sie verstärken.
Die Kursentwickelung wird deshalb gerade durch die Kursmakler be-
einträchtigt werden, und es ist die Möglichkeit nicht von der Hand
zu weisen, daß in vereinzelten Fällen eine zu Gunsten der Kursmakler
gebeugte Kursfeststellung stattfindet. —
Dazu ist der Kursmakler auch bei ruhigen Zeiten trotz des be-
schränkten Eintrittsrechtes im stande, durch Substituten, Stellvertreter
und Freunde die ihm amtlich zur Kenntnis gelangte innere Ge-
schäftslage der Börse «durch geeignete Spekulationen auszunutzen.
Wenn über diese Möglichkeit, da die Großbanken und sonstige
Faiseure sich ihm anvertrauen müssen, schon in der Gegenwart ge-
klagt wird, so wird sie in Zukunft beim Bestehen des Deklarations-
zwanges geradezu gefahrdrohend. Diesen Uebelständen muß daher
vorgebeugt werden. Das kann geschehen durch zwei Mittel:
1) den Kursmaklern das Selbsteintrittsrecht zu nehmen und
2) ihnen bei Androhung augenblicklicher Entlassung zu ver-
bieten, weder selbst noch durch dritte Personen Spekulationen an
der Börse vorzunehmen, noch andere zu solchen zu veranlassen.
Das Verbot des bisher bestehenden beschränkten Selbsteintritts-
rechtes bedarf nicht vieler Worte zu seiner Begründung: denn was
den Kommissionären recht ist, ist den Kursmaklern billig. Wenn
auch ein beschränktes Eintrittsrecht bei sich nicht völlig deckenden
Aufträgen erwünscht wäre, so dient es doch dazu, den Kursmakler
zum eigentlichen Börsenhändler zu machen, ihn zu waghalsigen Unter-
nehmungen zu verleiten und seine Stellung zu gefährden, zumal
das sogenannte beschränkte Eintrittsrecht eine Schranke nicht hat
und die einschlägige Zusammenstellung im Tagebuche keine Ge-
währ gegen Spekulationen abgibt. Zur Festigung des Börsenverkehrs
ist daher beim Kursmakler vom Selbsteintrittsrechte abzusehen.
Wenn dazu ein strenges Verbot für sie erlassen wird, weder selbst
noch durch dritte Personen Spekulationen an der Börse vorzunehmen,
noch andere zu solchen zu bewegen, so wird ihre Eigenschaft als
Beamte wesentlich gestärkt, wenn auch ihre Kaufmannseigenschaft
insofern erhalten wird, als sie aus der Kurtage ihr Einkommen be-
ziehen. Sie werden daher, — was bei ihnen als Beamte mit festem
Gehalte leicht der Fall sein dürfte — in ihrer Tätigkeit, Ge-
schäfte zu vermitteln, nicht erlahmen, da sie, je mehr sie sich nach
dieser Richtung bemühen, ihr Einkommen erhöhen. Der Kurstest-
662 Georg Wermert, Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete.
stellung stehen sie aber, da sie eigene Geschäfte nicht eingehen
dürfen und an dem Laufe der Spekulation wie an den Kursbe-
wegungen kein persönliches Interesse haben, gleich Beamten gänz-
lich objektiv gegenüber, was unbedingt verlangt werden muß. Ihre
Tätigkeit besteht nur noch in der Vermittelung von Aufträgen,
die nunmehr in großer Fülle an sie herantreten.
Der ungleich stärker gezeichnete Charakter der Kursmakler als
Beamte ermöglicht eine bessere Aufsicht der vorgesetzten Behörde,
welche auch darauf ein wachsames Auge zu werfen vermag, daß bei
der rechnerischen Feststellung der Kurse keine fahrlässigen oder
absichtlichen Unregelmäßigkeiten vorkommen. Zu diesem Zwecke
hat eine Kommission der Maklerkammer unter Vorsitz oder Assistenz
des Staatskommissars von Zeit zu Zeit stichprobenweise eine Revision
des amtlichen Kurszettels unter Vorlage und Prüfung der Makler-
bücher vorzunehmen. Etwaige Verfehlungen werden sich dabei
recht bald herausstellen, wobei die Schuld mit strenger Strafe zu
ahnden ist.
Auf diesem Wege wird man eine kräftige Börse erhalten, welche
die Geldmächte des Landes in achtungsvoller Weise gegenüber dem
Auslande darzustellen vermag, während im Inlande die Wahrheit
des Kurszettels, der die gesamte Geschäftslage der Börse unver-
fälscht widerspiegelt, in aller wünschenswerten Genauigkeit erzielt
wird, wie es das öffentliche Interesse gebieterisch verlangt.
Dagegen muß von sonstigen weitergehenden Plänen, z. B. durch
die Kursmakler in den Aufsichtsräten der Aktiengesellschaften ein
staatliches Gegengewicht gegen den überwuchernden Einfluß der
Hochtfinanz zu schaffen, abgesehen werden. Diesem Einflusse, dem
das Land nicht zum letzten eine immer wachsende Zahl von Neu-
gründungen verdankt, wobei der Effektenmarkt eine Ueberschwem-
mung mit allerlei mehr oder minder guten Papieren zum Nachteile
der nicht oder nur schwer unterzubringenden Reichs- und Staats-
anleihen erfährt, kann auf legalem Wege mit einem Schlage besser
gewahrt werden. Wie von uns an anderer Stelle eingehend ausgeführt
worden ist, hat sich das Institut der Aufsichtsräte bei den Aktien-
gesellschaften in keiner Weise bewährt!). Es ist nicht nur aus ge-
nanntem Grunde, sondern auch im vitalen Interesse der Gesellschaften
durch das Institut ständiger Revisoren zu ersetzen, die nicht als
amtliche Organe betrachtet werden, aber doch mehr oder minder
von der Regierung abhängig sein können. —
Sind die Aufsichtsräte als eine veraltete Einrichtung beseitigt
worden, so ist damit auch dem weiteren Vordringen der Hochtinanz
im industriellen, bergbaulichen und großgewerblichen Leben ein
Riegel vorgeschoben, wenigstens insoweit, als dieses Vordringen zu
einem Aufsaugen wird und einer gesunden volkswirtschaftlichen Ent-
faltung in unserem Vaterlande ernstliche Gefahren bereitet. —
1) Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Jahrgang 1906, S. 452—514.
Miszellen. 663
Miszellen.
XIV.
Die finanzstatistische Arbeit in deutschen Städten,
erläutert an dem Material über die Kostensteigerung der höheren Schulen
in Barmen.
Von Dr. Karl Seutemann.
Der Aufwand der deutschen Stadtgemeinden hat sich während der
letzten Jahrzehnte in fast allen Verwaltungszweigen außerordentlich ver-
mehrt und zwar vielerorts weit schneller als die ja ebenfalls bedeutende
Zunahme des städtischen Wohlstands, so daß eine Anspannung der
Steuerzuschläge bis zu 200 Proz. und mehr und bei den Betriebswerken
eine wohl oft zu weitgehende „Fiskalität“ nötig wurde. Handelt es
sich hier um fortdauernde Steigerungsursachen oder kann einem weiteren
Anschwellen der Ausgaben und des Mißverhältnisses von Einnahmen
und Ausgaben vorgebeugt werden? Diese Frage heischt Antwort, nicht
bloß für eine planmälige Finanzführung, sondern auch für die Beleh-
rung der Stadtverordneten und der Bürgerschaft; denn wo die finanziellen
Zusammenhänge nicht sicher überschaut werden können, werden leicht
einzelne Vorgänge in einseitig-übertriebener, oft gänzlich irriger Weise
für die Aufwandssteigerung verantwortlich gemacht, und es wird in-
folgedessen eine mancherlei Verdruß herbeiführende Sparsamkeitspolitik
an einer Vielheit kleiner, gar nicht ausschlaggebender Posten betätigt.
Eine befriedigende Aufklärung über die Zusammenhänge und Ur-
sachen, unter denen die Finanzposten ihre Gestalt gewonnen haben und
behaupten, vermag nur eine nach statistischen Grundsätzen ausgeführte
Durcharbeitung des in den Etats vorliegenden Materials zu geben. Zu
dieser Arbeit ist die Gemeindestatistik berufen, die ja der Ab-
sicht: Tatsachen gegen Meinungen, umfassende Beobachtung und Be-
rechnung gegen einseitige Veranschlagung zu stellen, ihre lebhafte Ent-
faltung in Deutschland verdankt. Die leitenden Gesichtspunkte für eine
solche Arbeit finden in den bereits vorliegenden gemeindestatistischen
Untersuchungen aus dem Finanzgebiet nähere Erläuterung. Allgemeine
Anregungen ohne zu viel Einschlag von bloß lokalem Interesse lassen
sich namentlich aus dem Barmer Material über die Kostensteigerung
der höheren Schulen gewinnen.
Um die eigentümliche Entwickelung der einzelnen Finanzposten
darstellen zu können, müssen zunächst in grundlegender Arbeit Jahres-
664 Miszellen.
reihen der betreffenden Ausgaben und Einnahmen aufgestellt werden.
Man kann zwei bis drei Jahrzehnte zurückgreifen oder bei einer durch-
greifenden Aenderung des Etattitels einsetzen. Nach Prüfung der Ein-
richtung und der zeitlichen Umgestaltungen des Etats müssen die Rech-
nungsergebnisse früherer Jahre ganz nach dem Schema der späteren
Etataufstellung umgearbeitet werden, nötigenfalls unter Benutzung der
Rechnungsbelege. Die tatsächlich zu dem behandelten Spezialtitel ge-
hörenden Posten, die z. B. unter „allgemeiner Verwaltung“, im „Bau-
etat“ und in der „Schuldenverwaltung“ gebucht sind, sind von dort
heranzuziehen; mit Ausgleichsposten (z. B. im Volksschuletat Zahlungen
an und Erstattungen aus der Alterszulagekasse), mit Uebertrazungen
aus Vorjahren, mit den Einnahmen aus städtischen Fonds und Kasseı
u. s. w. ist dem Ziele der Untersuchung entsprechend zu verfahren.
Diese Aufstellungen müssen insoweit für Unterteile des Titels gesondert
erfolgen, als hier besondere Finanzerscheinungen vorhanden sind oder
vermutet werden. So entstehen Reihen von Jahresgesamtheiten, die
unter sich gleichartig und daher zu statistischen Vergleichen
geeignet sind.
Auch bei dem weiteren Fortgang der Arbeit sind die Grundsätze
der statistischen Methodik sorgsam anzuwenden. Die Finanz-
statistik benutzt die Reihen der absoluten Finanzsummen nur als
Ausgangspunkt; durch Beziehung der Finanzsummen auf die Ein-
wohnerzahl beseitigt sie zunächst den etatsteigernden Eintlub der
Volksvermehrung. Aber auch der auf den Kopf des Einwohners be-
rechnete Aufwandsbetrag ist noch das Ergebnis zweier Ursachengruppen:
der Verteuerung des Aufwands einerseits und des Umfangs des
Aufwands andererseits. Diese beiden Ursachengruppen können sich
gegenseitig verstärken, sie können sich aber auch mehr oder weniger
ausgleichen. Daher bleiben in’ den absoluten und in den auf die Ein-
wohnerzahl bezogenen Finanzbeträgen wichtige Finanzvorgänge voll-
kommen oder doch in ihrer Bedeutung verdeckt; nur die die Ursachen
isolierende Statistik kann sie ans Licht ziehen, Um zunächst die Frage
der Kostspieligkeit des Aufwands zu erledigen, müssen die Finanz-
summen auf diejenigen Personenkreise, Vorgänge oder Einrichtungen be-
zogen werden, von deren Zahl der Umfang des Aufwands abhängt.
Jndem die Schulausgaben auf die Volksschüler, die Anstaltsausgaben
auf Pfleglinge und Ptlegtage, die Armenkrankenausgaben auf die Be-
handlungsfälle bezogen werden, scheidet der Einfluß vollständig aus,
den die Veränderungen dieser Gruppen innerhalb der Bevölkerung be-
wirken, und der Einfluß der Kostengestaltung tritt rein bervor. Die
Feststellung der kostenverursachenden Einheit erfolgt je nach dem
Untersuchungszweck, so kann man z. B. die Lehrergehaltssumme auf
die Schulklasse, die Schüler, die Lehrer beziehen; in allen Fällen müssen
aber diese Personengruppen und die Finanzsummen gleichmälig
begrenzt sein, d. h. man darf z. B. im Krankenhausetat den Sonder-
aufwand für Privatpatienten auch nur auf die Gesamtheit der Kranken
beziehen, unter denen er vorkommt. Die Jahresreihen dieser statistischen
Kostenausdrücke offenbaren in ihren Wandlungen oft ohne weiteres
Miszellen. 665
die Art und Bedeutung der kostenverändernden Einflüsse. Sonst
lassen diese Einflüsse sich aus dem analogen Verlauf anderer statistischer
Reihen ableiten. So kann z. B. die Steigerung des Verpflegungs- oder
Heizaufwands in einer Anstalt aus der analogen Steigerung der Fleisch-
oder Kohlenpreise erklärt werden.
Nun ist die zweite Ursachengruppe zu untersuchen: die
Vermehrung oder Verminderung der Aufwandslast (auf den Kopf des
Einwohners) durch mehr oder minder große Ausdehnung der den
Aufwand verursachenden Personenkreise u. s. w. Kann doch die
Volksschülerzahl im Verhältnis zur Bevölkerung ab- oder zunehmen
durch die Veränderung der Geburtsziffer, durch die Ergebnisse der
Wanderungen, durch Einverleibung, durch Errichtung von Mittelschulen,
durch Abgang an konfessionelle Privatschulen; kann doch der Kreis
der Armenunterstützten im Verhältnis zur Bevölkerung zurückgehen in-
folge der Sozialgesetzgebung, der Wirksamkeit kirchlicher Anstalten u.s. w.
In diesen Fällen verändert sich die Aufwandslast, wenn auch die Kost-
spieligkeit des Aufwands unverändert ist. Gerade diese Einflüsse werden
oft nicht genügend erkannt und gewürdigt, und es liegt deshalb dem
Statistiker ob, die vielfachen Beziehungen aufzudecken, die zwischen
den scheinbar oft so unpraktischen bevölkerungs-, armen-, schulstatisti-
schen Ergebnissen und der Finanzgestaltung bestehen. Der Blick wird
dadurch auf die gesamten Bevölkerungserscheinungen gerichtet, in denen
oft sowohl der Grund der finanziellen Lasten wie auch die Mittel zur Ab-
hülfe zu suchen sind.
Solche finanzstatistische Untersuchungen sind heute freilich in den
deutschen Städten noch nicht so häufig, wie man nach ihrem praktischen
Nutzen vermuten sollte. Bisher hat man nämlich die Finanzstatistik
vorzugsweise auf der Grundlage interlokaler Vergleichung be-
trieben. Das von Neefe herausgegebene Statistische Jahrbuch deutscher
Städte ist reich an solchen Materialien; auch in den Veröffentlichungen
der staatlichen Statistik findet man manches, so die Aufnahmen des
Kgl. Preuß. Statist. Landesamts über die Volksschulfinanzen; mehreres
haben auch die einzelnen Statistischen Aemter auf diesem Gebiete ge-
leistet. Arbeiten wie die von Landsberg über die Kosten des
höheren Schulwesens in der Stadt Elberfeld zeigen, daß auch aus der
Beobachtung örtlicher Verschiedenheiten wichtige praktische Gesichts-
punkte gewonnen werden können. Aber die interlokale Vergleichung
ist doch unzulänglich, weil in jeder Stadt wieder eigenartige Einflüsse
wirksam sind; überdies schließt sie regelmäßig eine Vertiefung in Einzel-
heiten wegen unzureichender Ortskenntnis aus und liefert nur allge-
meine Gesichtspunkte, die dem praktischen Zwecke oft nicht genügen.
Zu wie viel reicheren Ergebnissen man mit der zeitlich rück-
schauenden Finanzstatistik kommen könne, dafür hat das erste über-
zeugende Beispiel das Dresdner Statistische Amt mit seinem Bericht
über die außerordentliche Steigerung des Etats des Dresdner Siechen-
hauses gegeben. Der Bericht ist von dem damaligen Direktor dieses
Amts, Dr. O. Wiedfeldt, so zweckfördernd, streng methodisch und
dabei leicht faßlich bearbeitet, daß er als vorbildlich für derartige
666 Miszellen.
Arbeiten gelten muß. (Ratsdrucksachen 1903, No. 8.) Nach denselben
Grundsätzen wurde bald darauf in Dresden mit ebenso befriedigendem
Ergebnis untersucht, in welchem Umfange die große Steigerung des
Schuletats und der Schulanlagen durch die Einverleibungen bezw. durch
in Alt-Dresden wirksame Ursachen veranlaßt war. (Vorbemerkung zum
Haushaltplane der evangelisch-lutherischen Schulgemeinde 1904.) An-
regungen waren damit gegeben, aufgenommen sind sie namentlich bis-
her von dem neu gegründeten Barmer Statistischen Amte. Vorliegen
dort zur Zeit die finanzstatistischen Uebersichten über die allgemeine
Entwickelung der sämtlichen Etattitel und die Spezialbearbeitungen des
Volksschuletats, des Etats der höheren Schulen und des Armenetats!).
An dem Material über die Kostensteigerung der Barmer
höheren Schulen lassen sich die allgemeinen Bearbeitungsgrund-
sätze und die sich aus der finanzstatistischen Arbeit ergebenden prak-
tischen Anregungen näher erläutern.
Der Barmer Etat zeigt — nach einheitlicher Bearbeitung der
einzelnen Etatgruppen für 2 Jahrzehnte — wie sehr fast alle Teile
des städtischen Etats von der Aufwandssteigerung betroffen werden.
Es betrugen nämlich:
die Ausgaben
= = | der Zuschuß
; e auf 1 Einwohner
Etattitel und Rechnungsjahr absolut | | Betrag re in Proz.
M. M. 1885 | SM (der Au-
ge m . ge Pe} = 10 | * | gaben
Te) jıss5| 95 100 0,93 100 87530| 92,
Allgemeine Verwaltung \1903 | 419 888 2.80 301,0 381 842 | 91.0
une Lt jı855| 903 279 8,81 100 628 100 69,5
BeRulrarmalling I 2 457 256 16,40 186,2 | 1622 gg1 66,1
k é: 1885 | 387 300 3,17 100 275 302 71
Armenverwaltung 11903 457 566 3,05 80,9 315 237 683
ET 1885 9 680 0,87 100 | 20 980 30,1
Krankenanstalten 1903| 314617 2.10 241,4 129 451 ari
APEE f1885| 170732 1,66 100 151642 88,9
Bauverwaltúng kas 1010 173 6,74 406,1 | 665 339 65,9
PERS 1885 153 IQI 1,50 100 147 971 96,4
Polizeiverwaltung 1903| 424 916 2,84 188,9 421 227 99,1
RR ERV 1855 12750 0,12 100 12 750 100,0
Feuerlöschwesen MEE 62 303 | 0,42 350,0 | 53814 80,5
z y 1885 8 389 0,98 100 5 268 62,5
Forstverwaltung \1903| 17031 0,11 137,5 10 963 64,5
ibliothek f 1885 2450 0,02 100 2 450 100,0
Bibliotheksverwaltung 1903 18 339 018 Eos 17 797 971
Beiträge für wissenschaftl. [1885 9493 0,09 100 9493 100,1
u. gemeinnützige Zwecke |1903 61 367 0,41 455,6 60 467 98,5
et J1885 27 158| 0,86 100 27 158| 100,6
Oeffentliche Bel. 1903| 131347 0,88 338,5 131347 1o
Leistungen für Zweeke des |1885 107 592 1,05 100 107 287 | 99,8
Reichs u. s. w. 1903| 253 724 1,69 160,9 249 047 gr
i 1885 | 433 661 | 4,23 100 A .
Se anwes ,
chuldenwesen \1903 | 2 303 829 | 15,38 363,6 |
4 1) Veröffentlicht im Statistischen Jahrbuch der Stadt Barmen, Jahrg. 1904 u.
1905, bezw. in den Beiträgen zur Statistik der Stadt Barmen, Heft 1 u. 2.
Miszellen. 667
Abgesehen vom Armenaufwand ist also in Barmen die Aufwandslast
überall bedeutend in die Höhe gegangen, und die erforderlichen hohen
Zuschüsse haben sich nahezu in gleicher Weise vermehrt. Der Wohl-
stand ist in Barmen so wenig wie in zahlreichen anderen Städten dem-
entsprechend gewachsen. Die Aenderung der Steuergesetzgebung läßt
nur eine Feststellung dieser Dinge bis 1893 zurück zu: es betrug in
Barmen der Betrag der staatlich veranlagten Steuer auf den Kopf des
Einwohners
Grund- Gebäude- Gewerbe- Einkommen-
Jahr steuer steuer steuer steuer
M. M. M. M.
1893 0,05 2,32 1,87 7,27
1903 0,04 ‚20 1,84 9,07
1905 0,03 3,41 2,11 9,56
Infolgedessen betrugen die Barmer Zuschläge zu den Staatssteuern
in Proz.:
Jahr ren and Gewerbesteuer Grundsteuer
ebäudesteuer
1895 169 169 188
1903 230!) 200 200
1905 224?) 200 200
Neue Einkommensquellen zu erötřnen, sei es durch neue Steuern,
sei es durch ergiebigere Verwaltung oder auch Preiserhöhung bei den
Betriebswerken, ist eine jährlich wiederkehrende Sorge; denn wenn man
in Rheinland-Westfalen auch noch bedeutend höhere Steuerzuschläge
wie 200 Proz. gewohnt ist, so überschreitet man hier diese Grenze
ebenso ungern wie in begünstigteren Städten den Zuschlag von 100 Proz.
in der gewiß richtigen Empfindung, daß diese Zuschläge doch irgend eine
Grenze haben müssen.
Die Ausgaben in Barmen für das höhere Schulwesen (es
werden von der Stadt unterhalten ein humanistisches Gymnasium mit
Reformabteilung, ein Reformrealgymnasium , eine Öberrealschule, eine
Realschule und drei höhere Töchterschulen ; Mittelschulen unterhält die
Stadt nicht) betrugen (einschließlich 6 Proz. der jeweiligen Grund- und
Gebäudekosten der Schulgrundstücke) 1885 446216 M., 1904
916634 M., sind also in 2 Jahrzehnten auf mehr als das Doppelte an-
gewachsen. Im Vergleich mit der Steigerung anderer Etattitel ist die
Zunahme hier nicht einmal besonders hoch, denn auch die Bevölkerung
ist in demselben Zeitraum um die Hälfte, von 102000 auf 153000 ge-
wachsen. Beim Volksschuletat ist das Bild auch ungünstiger:
Der berechnete Aufwand ist hier in jenem Zeitraum von 730000 M.
auf 1765000 M., also um mehr als das 1!/,fache in die Höhe ge-
gangen. Dem Etat für die höheren Schulen sind aber auch zwei
Dinge zu gute gekommen, die beim Volksschuletat fehlen. Ein-
mal ist nämlich die Zahl der höheren Schüler nur von 2045 auf 2699,
also nur um etwa !/, gewachsen, weil etwa 300 Schüler von der Privat-
mädchenmittelschule und der Privatvorschule aufgenommen sind. Dann
aber hat sich auch eine stärkere Ausnutzung der Klassen erzielen
lassen. 1885 hatte man 78 Klassen, 1904 immerhin nur 94, also nur
1) 3°/,, vom gemeinen Wert.
668 Miszellen,
etwa !/, mehr. Hätte man entsprechend dem Wachstum der Bevölke-
rung auch !/,mal mehr Klassen wie 1884, mithin 117 statt 94 Klassen
gebraucht, so würde der Aufwand für die höheren Schulen nicht
916634 M., sondern ie M. = rund 1140000 M. betragen
haben. Der Etat würde also in 20 Jahren auf fast das Dreifache ge-
stiegen sein.
Eine Klasse der höheren Schulen hat jährlich gekostet im:
| | o niher Hbere
sal- Höhere Mädchenschulen | e
Gymn. |Realgymn. ae |Realschule g À i | Sehuler
SCHUIe Mittelb. | Oberb. Unterb. ‚zusam:
2 _M M: | Mi. | M | M. oZ M | M IM
= — L = = u I SP ee
1885 6.092 6707 6 330 7 800 5057 3 302 3840 |, 579
1904 12 138 12 086 10 524 11 602 8 148 5 148 7220 | 97%
|
Zunah | | | |
nn 99,3 wi | 80,2 T 66,2 an 48,7 ef; 61,1 JA 55,9 i 88,0 o 70 u
i |
Das ist also die wirkliche Kostensteigerung; alle Einflüsse, die sonst
den absoluten Aufwand bestimmen, wie Schüler- und Klassenzahl, sind
durch die Beziehung des Aufwands auf die Gesamtheit der Klassen
ausgeschaltet. Freilich darf man die Unterschiede der Klassenkosten
und Kostensteigerungen in den verschiedenen Schulen nicht ohne weiteres
als Ausdruck eines mehr oder minder billigen Schulbetriebs auffassen.
Auch die Klasse ist noch kein ganz einwandfreier Reduktionsmaßstab,
da ein Teil der Klassen (namentlich Vorschul- urd Müädchenklassen)
wegen geringer besoldeter Lehrkräfte von vorn herein billiger ist, und
da die Kostspieligkeit einer Klasse mit von Dingen abhängt, die in ge-
wisser Weise zufällig sind, wie der Größe des Schulsystems und den
baulichen Verhältnissen der Schule (alte, neue Schulgebäude, Raumüber-
fluß, Raumenge u. s. w.) In allen diesen Dingen hat sich im Laufe
der 2 Jahrzehnte vieles verändert. So sind beim Gymnasium und der
Oberrealschule die Vorklassen weggefallen (beim Realgymnasium und der
Realschule haben sie immer gefehlt), wodurch beim Gymnasium ein
Raumüberfluß von drei Klassen entstanden’ ist. Die Räume des neuen
Realgymnasiums und der neuen Realschule waren 1904 noch nicht voll-
ständig in Anspruch genommen, während sich z. B. die Oberrealschule
räumlich überaus behelfen mußte. Die Realschule befand sich 1885 in
Verbindung mit gewerblichen Fachklassen, war also ganz anders orga-
nisiert. Die Oberrealschule und die Mädchenschnlen haben noch ihre
alten, baulich mehr oder weniger veränderten Gebäude, während die
anderen Schulen Neubauten erhalten haben. So viel Umstände bedingen
also die Kostensätze bei den einzelnen Schulen! In wie viel Irrtümer
kann da die interlokale Vergleichung, die doch nicht alle Umstände s0
genau werten kann, verfallen! Bei der Gesamtheit der Schulen einer
Stadt gleichen sich diese Dinge ja wohl etwas aus, aber doch nicht
|
|
|
|
Miszellen. 669
vollkommen; die Schul- und Klassenorganisation ist stets im Fluß, und
wir können niemals ganz genau sagen, wie sich die Kostensteigerung
bei Ausschaltung jener Veränderungen gestaltet haben würde.
Immerhin kommen wir dem Richtigen näher, wenn wir die ein-
zelnen Teile des Etats untersuchen; steht doch z. B. der persön-
liche Schulaufwand und der Aufwand für Schulutensilien in einer viel
bestimmteren Abhängigkeit von der Klassenzahl als z. B. der Bauauf-
wand. Wenigstens gilt das für die Gesamtheit der Schulen; die ein-
zelnen Schulen weichen auch in der Gehaltssumme ab. So kostete
eine Mädchenklasse an Gehaltsaufwand 1904 nur 4261 M., eine Knaben-
klasse dagegen 7522 M., auch in den Knabenschulen entstehen Unter-
schiede durch das verschiedene Dienstalter u. s. w. Der persönliche
Aufwand ist im Etat ausschlaggebend: er machte 1885 71,1 Proz. (bei
Einschluß der Pensionen und Witwen- und Waisengelder 74,7 Proz.),
1904 64,7 Proz. (71,6 Proz.) des gesamten Schulaufwands aus. Er be-
trug (ohne Pensionen) 1885 für die Klasse 4072 M., 1904 6306 M.
d. i. eine Zunahme von 55 Proz. Die noch stärkere Steigerung des
gesamten Schuletats ist durch den zweitausschlaggebenden Posten, den
Bauaufwand (6 Proz. Zinsen vom Werte der Schulgrundstücke) ver-
ursacht, der unverhältnismäßig gewachsen ist und früher nur mit 16,9
Proz., 1904 aber mit 20,9 Proz. am Schuletat beteiligt war. è Mit der
Steigerung des Gehaltsaufwands hat die Steigerung des Pensions-
aufwands gleichen Schritt gehalten, während die 1895 von der Stadt
übernommene Witwen- und Waisenversorgung bis zum. Be-
harrungszustand noch stark steigende Beträge erfordert. Die Mehr-
erfordernisse im persönlichen Etat decken sich nicht ganz mit der
Besserung der Lehrergehälter, da die Mehrausgaben z. T.
auch durch die Verstärkung des Anteils der akademisch gebildeten und
fest angestellten Lehrer verursacht sind. Von den voll beschäftigten
Lehrkräften fielen nämlich Proz. auf
fest angestellte akademisch Taena l
; à seminaristisch
akademisch gebildete N z
5 der gebildete | Lehrerinnen
Höhere Schulen gebildete Hilfslehrer Lehrer |
Lehrer u. dgl. |
u 1885 | 1904 | 1885 | 1904 | 1885 | 1904 | 1885 | 1904
nd 0 m + i mern
Kuabenschulen 61,4 73,6 15,7 6,9 22,9 5 | = | —
Mädchenschulen 24,1 | 29,5 _ — 31,0 | ra | 449| 591
Die Dienstaltersverhältnisse müssen hingegen 1904 eher günstiger als
1885 gewesen sein, da seit 1898 10 neue Klassen hinzugekommen sind.
Die Gehaltsverbesserungen knüpfen insbesondere an folgende Jahre an:
1893 Einführung des staatlichen Normaletats; 1898 Gleichstellung der
Barmer Lehrer mit ihren Kollegen an den Staatsanstalten, deren Bezüge
bedeutend verbessert waren; 1899 anderweite Regelung der Besoldung
der Lehrer und Lehrerinnen an den höheren Mädchenschulen; 1901
und 1902 kleine Verbesserungen infolge Aenderung des staatlichen
Normaletats; 1904 Gleichstellung der seminaristisch gebildeten Lehrer
670 Miszellen.
an den Knabenschulen mit denen an den Mädchenschulen. Besonders
die Gehaltsregulative von 1898 und 1899, auch das von 1904 haben den
Gehaltsaufwand sehr emporgetrieben. Diese Gehaltsaufbesserungen haben
im ganzen mindestens 45 Proz. betragen, da wir nach der obigen Ueber-
sicht nicht mehr als 10 Proz. auf Verschiebungen im Lehrerkollegium
rechnen können. Bei den Volksschullehrern hat die Besserung der Be-
züge in demselben Zeitraum fast 40 Proz. betragen. Diese Mehrbesol-
dung bedeutet eine beträchtliche Besserung der Lebenshaltung, da die
Mieten nicht in dem Maße und die Lebensmittel gar nicht oder nur
wenig teurer geworden sind.
Wie schon erwähnt, ist der berechnete Mietzins der Schul-
gebäude ungleich stärker wie der Gehaltsaufwand gestiegen, nämlich
von 968 M. auf die Klasse bis auf 2039 M., also um mehr als 100
Proz. Da der Zeitpunkt, wo teure Neubauten erforderlich werden, von
zufälligen Umständen abhängig ist, so ist dieser Klassensatz und seine
Steigerung in den Schulen sehr verschieden. Er betrug in der Ober-
realschule 1904 nur 1433 M. — eine Steigerung war fast gar nicht
vorhanden — dagegen z. B. im Realgymnasium 3281 M. (Steigerung
über 200 Proz.). Uebrigens haben auch die nur baulich weiter ausge-
stalteten Mädchenschulen eine Steigerung des Mietwertes (auf die Klasse
bezogen) um durchschnittlich 82 Proz. erfahren, so daß die Verteuerung
der Baukosten einer Klasse um 100 Proz. wegen erhöhter Anforderungen,
teurerer Grundstückspreise, besserer architektonischer Ausgestaltung wohl
das Normale ist
Alle sonstigen Posten des Schuletats sind von keiner aus-
schlaggebenden Bedeutung mehr. Einige dieser Posten, wie der für
Reinigung, Heizung und Beleuchtung w achsen zugleich mit der baulichen
Verbesserung der Schulgebäude. Der kleine Posten: Unterrichts-
mittel, der 1904 nur 1,3 Proz. des gesamten Schuletats ausmachte,
der aber doch für einen erfolgreichen Unterrichtsbetrieb (Lehrer-,
Schulbibliothek, Anschauungsmittel, naturwissensch. u. physikal. Gegen-
stände u. s. w. u. s. w.) recht wichtig ist, ist am wenigstens gestiegen,
nämlich von 101 M. auf die Klasse (Knabenschule 113 M., Mädchen-
schule 71 M.) auf 125 M. (146 M. bezw. 88 M.), also um noch nicht
24 Proz., und das auch nur, weil 2 Schulen 1885 infolge besonderer
Umstände ganz niedrige Sätze hatten, nämlich das Gymnasium nur 67 M.
und eine Töchterschule nur 57 M. Allerdings schwanken die Auf-
wendungen hier von Jahr zu Jahr, aber 138 M. auf die Klasse im Jahre
1898 waren der Höchstsatz. Ist es wohl wirtschaftlich, die Schulkosten
um 70 Proz. anschwellen zu lassen, gerade die Lehrmittel aber äußerst
sparsam zu behandeln? Das Bewilligungsrecht haftet hier an so vielen
kleinen Dingen, die ohne Ueberschau über die ganze Etatsontwicklung
unrichtig bewertet werden.
Die Ursachen der Kostensteigerungen belehren gewöhnlich darüber,
daß die Kosten an den entscheidenden Stellen nicht zurückgedämmt
werden können, daß mit bloßen Sparsamkeit nicht viel auszurichten ist.
Mit um so größerer Sorgfalt wird daher geprüft werden müssen, ob die
Schullast nicht durch eine relative Verminderung des Umfangs der
Schuleinrichtungen, also durch eine Beschränknng der Klassen-
Miszellen. 671
oder auch der Schülerzahl erleichtert werden könnte. Die Besucherzahl
der städtischen höheren Schulen in Barmen hat sich, wie bereits vor-
hin bemerkt ist, im Verhältnis zur Bevölkerung in dem 20jährigen
Zeitraum verringert, wohingegen die Klassenfrequenz besser geworden ist,
so daß die Schullast längst nicht so gewachsen ist, wie es dem kost-
spieligeren Schulbetriebe entsprochen hätte. Der Schulaufwand auf den
Kopf des Einwohners betrug 1885 4 M. 38 Pf., 1904 5 M. 98 Pf.
Nach der Kostensteigerung allein hätte aber 1904 eine Schullast von
7 M. 45 Pf. vorhanden sein müssen. Mit anderen Worten: eine Last
von 1 M. 47 Pf. auf den Kopf des Einwohners ist durch den Rück-
gang der Schülerzahl und die Erhöhung der Klassenfrequenz erspart
worden. Hier also ist der Schulaufwand nachgiebig.
Zunächst kann eine Stadtverwaltung die Zahl der höheren
Schüler bis zu einem gewissen Grade regulieren. Einem uner-
wünschten Anwachsen der Schülerzahl kann durch die Errichtung oder
die Förderung von Mittelschulen und Privatinstituten vorgebeugt werden.
Manches läßt sich auch durch die Aufnahmebedingungen für auswärtige
Schüler erreichen. Barmen erhebt von auswärtigen Schülern 30 M.
mehr Schulgeld. Eine noch ungünstigere Behandlung der Auswärtigen
im Schulgeld oder etwa gänzliche Zurückweisung kann freilich be-
nachbarten Gemeinden gegenüber, die nicht selbst höhere
Schulen errichten können, nicht gerechtfertigt werden, denn die
Städte müssen doch bedenken, wie viel sie als Handels-, Verwaltungs-
und Vergnügungszentren u. s. w. der ländlichen Umgebung zu verdanken
haben. Aber bei vielen Auswärtigen treffen die obigen Voraussetzungen
nicht zu. So hatte z. B. Barmen 1904 auf seinen höheren Schulen 39
Schüler aus Elberfeld, 4 aus dem hinter Elberfeld liegenden Vohwinkel,
37 aus der Stadt Schwelm u. s. w. Andere Städte empfangen Schüler
aus reichen Vororten, denen ohne entsprechende Entgelte eine Mitbe-
nutzung städtischer Einrichtungen nicht eingeräumt zu werden braucht.
Andererseits sind natürlich die auswärtigen Schüler sehr willkommen, so-
lange die bestehenden Klassen noch nicht vollständig ausgenutzt sind.
Gewöhnlich ist allerdings die Zahl der höheren Schüler fest gegeben, und
das Augenmerk ist daher mehr auf die Klassenfrequenz zu richten.
Für eine gegebene Schülerzahl sollen nicht mehr Klassen wie nötig vor-
handen sein.
Nach preußischer Ministerialverordnung beträgt die Höchstzahl
der Schüler in den 3 unteren Klassen 50, in den 3 mittleren 45
und in den 3 oberen 35. Diese Zahl darf nicht die Normalfrequenz
sein. Nimmt man aber für jede Klasse 10 Schüler weniger als die
Höchstzahl, so kommt man pädagogischen Anforderungen entgegen und
schafft einen hinreichenden Spielraum nach oben für die unvermeid-
lichen Schwankungen der Schülerzahl. Noch weitergehende pädagogische
Wünsche verstoßen gegen eine gesunde Finanzpolitik. Wenigstens
können Städte mit sehr hohen Gemeindesteuern und vielen noch zurück-
gestellten Gemeindeaufgaben unmöglich über ein billiges Normalmaß
hinausgehen. Ja selbst begünstigtere Städte werden kaum mit Recht
die öffentlichen Mittel für eine übernormale Klassenzahl in Anspruch
nehmen, solange die Frequenzverhältnisse der Volksschulen noch nicht
672 Miszellen.
vernünftigen Anforderungen entsprechend geregelt sind. Das ist aber
nach den Uebersichten des Statistischen Jahrbuchs deutscher Städte
selbst in manchen reichen Städten, die sich wohl mit Stolz Stadt der
Schulen nennen, noch nicht der Fall.
Wenden wir die oben angegebenen „normalen“ Frequenz-
ziffern (40, 35 und 25) auf die Barmer Schulen an, so ergibt sich
für 1904 folgender Unterschied der „normalen“ und der tatsächlichen
Schülerzahl:
Sehülerzahl bei | Tatsächlich mehr
Zahl
1 21 Tatsächliche |, BEER
der |zormaler Klassen- Schülerzahl CH weniger (—)
Klassen! besetzung Schüler als normal
absolut! auf 1 Kl. (absolut auf 1 Kl. absolut auf 1 Kl.
= — on —
Gymnasium 18 600 33,3 420 23,3 — 180, — I0,
Realgymnasium 16 | 560 35,0 457 28,6 — 103 — 6,4
Oberrealschule 15 535 35,7 538 35,9 + 3 + 02
Realschule Io | 380 38,0 348 348 |— 32] — 32
Knabenschulen | 59 |2075 | 352 [1763| 3950 |— 312 — 52
Mittelb. h. Mädchensch. | 10 370 37,0 283.1 28%. S= 8
Oberb. ,„ A 15 560 37,3 398 26,5 |— 162| — 10,3
Unterb. „ i 10 370 | 37,0 255 355 — 15 — 15
Mädchenschulen | 35 1300 | 37,1 936 | 26,7 = 364| — 10,4
Es sind also — rein rechnerisch — in den Knabenschulen 312
Schüler, in den Mädchenschulen 364 zu wenig, oder — was dasselbe
2 en a 1763 3
ist — die Knabenschulen haben 9 Klassen (59 — z2) die Mädchen-
z ,
936
schulen 10 Klassen (5 — 371
Knabenschulen 1904 11623 M., der Mädchenschulen 6597 M. kostete,
so beträgt der Mehraufwand infolge unternormaler Klassenausnutzung
170577 M.; 18,6 Proz. des gesamten Schulaufwands; 1,12 M. auf den
Kopf des Einwohners. Ziel des Aufwands ist nicht die Klasse, sondern
der Schüler, sind nun die Klassen zu schwach besetzt, so ist die
Nutzwirkung des Aufwands zu gering, oder — was dasselbe ist —
der einzelne Schüler kostet der Stadt weit mehr als bei normaler
Klassenbesetzung. Es kostete unter Zugrundelegung des nachgewiesenen
Aufwands in jeder Schule:
) zu viel. Da nun eine Klasse der
ne a | bei normaler tatsächlich
der Schüler tasichak Klassenbesetzung\also mehr (+)
non. SL .__Me ___|weniger(—)M:
im Gymnasium 520 364 + 156
im Realgymnasium 423 345 + 78
in der Oberrealschule 293 295 — 2
in der Realschule 333 306 + 27
in den Knabenschulen | 389 330 + 59
in den Mädchenschulen | 247 178 + 69
Zu ähnlichen Ergebnissen wird man sicher in vielen anderen
Städten kommen; denn weder die Ueberfüllung der unteren Klassen
Miszellen. 673
noch einiger Schulen beweist das Gegenteil. Wie sehr das als etwas
Unvermeidliches aufgefaßt wird, geht daraus hervor, daß die Aus-
nutzung der Klassen früher in Barmen noch ungünstiger war als heute,
und daß in den letzten 7 Jahren jährlich 1 oder 2 neue Klassen ge-
schaffen sind. Berechnet man aber die finanziellen Folgen genau, so
wird man doch darüber nachdenken, ob nicht allmählich eine bessere
Ausnutzung der Klassen herbeigeführt, eine vorzeitige Vermehrung der
Klassen vermieden werden könne. Eine ganz normale Klassenausnutzung
scheitert allerdings an der Vıelheit der Schularten, den Rücksichten
auf die Stadtteile und der Notwendigkeit, neue Klassen schon einzu-
richten, sobald die Höchstzahl der Schüler überschritten ist. Vieles läßt
sich aber erreichen durch die Annäherung des Lehrgangs der ver-
schiedenen Schularten und wohl auch durch die einheitliche Regelung
der Schulaufnahmen und Umschulungen.
Die Reformbewegung auf dem Gebiete des höheren Schulwesens,
die doch zum Teil wenigstens nach einer Vereinfachung der Schul-
einrichtungen strebt, hat mancherorts das Gegenteil bewirkt, indem
nun neben die alte Schulart noch die entsprechende Reformschule ge-
treten ist. Statt eines Gymnasiums hat man nun zwei und ist genötigt,
auch in den höheren Klassen diese Teilung festzuhalten, selbst wenn
an sich eine Gymnasialsekunda und -prima, ja womöglich eine Gym-
nasialsexta genügte. Dabei stimmen die Lehrpläne und die Schulbücher
in den unteren Klassen der verwandten Schularten oft zu wenig über-
ein, so daß der Uebergang von einer Schulart zur anderen erschwert
ist. Je einfacher aber die höheren Schulen einer Stadt gegliedert sind,
je mehr Anstalten einen gemeinsamen Unterbau aufweisen, um so leichter
läßt sich eine gleichmäßige und normale Ausnutzung der Klassen er-
reichen, um so besser läßt sich also der finanzielle Standpunkt wahren.
Dann wird man auch leichter zu einer einheitlichen Regelung
der Schulaufnahmen mit Rücksicht auf die Frequenzverhältnisse
kommen können. Bei den Volksschulen hat man sie schon immer:
man überweist Schüler der Frequenzverhältnisse wegen an entferntere
Schulen, ja selbst die Klassenversetzung wird oft nicht bloß nach
den Leistungen, sondern auch nach der Besetzung der nächstoberen
und nächstunteren Klasse geordnet. Allerdings sind für die Wahl der
höheren Schule zum Teil das Berufsziel oder auch grundsätzliche An-
schauungen maßgebend. Zum Teil hängt die Wahl der Schulart aber
auch nur von der Nähe der betreffenden Schule oder von zufälligen
und schwankenden, oft wenig berechtigten Gründen ab, wie z. B.
Standesvorurteilen, Propaganda für eine bestimmte Schulart, Neuheit
des Schulgebäudes, Beliebtheit oder Unbeliebtheit der jeweiligen Leitung
der Schule. Am einfachsten tritt man ja solchen Bevorzugungen einer
bestimmten Schule entgegen, wenn bei ihr die Aufnahmen geschlossen
werden, sobald die Klassen gefüllt sind. Aber ein sehr befriedigendes
Verfahren ist das nicht, denn selbst wenn der Schulleiter auch durch
Belehrung — so weit das möglich ist — von vornherein eine Auswahl
herbeiführt, so entscheiden doch für die Aufnahme zufällige Umstände
wie der Zeitpunkt der Anmeldung. Infolgedessen fallen Schüler bei der
Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVII). 43
674 Miszellen.
Aufnalıme aus, die bei der betreffenden Schule wegen ihrer bisherigen
Ausbildung und Befähigung, wegen der Berufsabsichten, wegen der Lage
der Wohnung u. s. w. in erster Linie Aufnahme finden sollten, anderer-
seits werden Schüler aufgenommen, die für die Schulart ungeeignet sind
und unterwegs abschwenken. Diese Nachteile können vermieden werden,
wenn die Aufnahme in die höheren Schulen einheitlich erfolgt, wobei
der Ausgleich unter den Schulen unter möglichster Berücksichtigung
persönlicher Umstände und berechtigter Wünsche schließlich durch
Belehrung der Eltern und nachdem Ergebnisse der Zeugnisse und
Prüfungen hergestellt wird. Freilich schließt ein Ausgleich der Auf-
nahmen noch nicht eine gleichmäßige Besetzung der weiteren Klassen
in sich; bei Gleichheit der Lehrpläne in den unteren Klassen der ver-
schiedenen Schularten können aber auch bis zur Trennung des Bildungs-
ganges Umschulungen ohne Verletzung berechtigter Interessen nach den
für die Aufnahıne geltenden Grundsätzen vorgenommen werden. Ueber-
haupt ist eine gleichmäßige Besetzung der Klassen viel mehr gesichert,
wenn die entscheidende Wahl der Schulart erst in einem Zeitpunkt er-
folgt, wo Neigungen und Anlagen des Schülers besser beurteilt werden
können. Für die Finanzen ist das höhere Schulwesen eine Einheit,
und es ist unmöglich, die finanziellen Forderungen vollkommen zu er-
füllen, wenn man die Eigenstellung jeder Schule allzu rücksichtsvoll
wahrt. Die Mannigfaltigkeit padigogreihsr Bestätigung braucht
deshalb nicht beeinträchtigt zu werden.
Nach der Behandlung des Aufwands ist gewöhnlich auch die Ge-
staltung und Entwickelung der Einnahmen selbständig zu bearbeiten.
Doch bestehen in Barmen die Einnahmen der höheren Schulen außer
10000 M. Staatszuschuß zur Realschule (eine staatliche höhere Schule
gibt es in Barmen nicht) und außer ganz geringen Stiftungserträgnissen
nur aus Hebungen von den Schülern; es ist darüber nur wenig zu
sagen. Es bleibt dann nur die Frage des Zuschusses, der Inan-
spruchnahme von Steuermitteln für die höheren Schulen. Die Behand-
lung der Zuschüsse kann freilich — obwohl das häufig geschieht —
niemals die besondere Untersuchung der Entwickelung der Ausgaben
ersetzen. Es gilt das nicht bloß von den formellen, etatsmäßigen Zu-
schüssen, sondern auch von den nach finanzstatistischen Grundsätzen
berechneten. (Der etatsmälige Zuschuß betrug beim Barmer Gymnasium
nur 65 Proz. des berechneten, bei einer Töchterschule nur 43 Proz.). Sie
geben für sich allein ein ganz falsches Bild von der Zunahme der Auf-
wandslast, weil sie als bloße Differenzgrößen in gar keiner Beziehung
zu den den Aufwand verursachenden Kreisen stehen und da am meisten
steigen, wo sie gerade am niedrigsten standen. So ist der Zuschuß bei
den Barmer höheren Mädchenschulen zufällig um 228 Proz., bei den
Knabenschulen zufällig nur um 138 Proz. gestiegen. Wohl aber erregt
der Zuschuß (bezw. die Einnahme), im Verhältnis zu den Aus-
gaben berechnet, unser finanzstatistisches Interesse, besonders dann,
wenn die Einnahmen wie bei den Schulen hauptsächlich aus Benutzungs-
entgelten bestehen. Denn in diesen Fällen kommt die öffentliche
Miszellen. 675
Einrichtung tatsächlich nicht oder nicht in gleichem Maße der gesamten
Bürgerschaft zu gute, und es ist eine finanzpolitisch, sozial und kulturell
wichtige Frage, in welchem Maße Vorteile, die einzelnen zu teil werden,
von der Allgemeinheit getragen werden, und welche Bevölkerungsteile
es sind, denen diese Vorteile vornehmlich zufließen.
In Barmen sind die Ausgaben für die höheren Schulen — wie wir
uns erinnern — in dem 20jährigen Zeitraume um 470418 M. gestiegen,
die Einnahmen aber nur von 212021 M. auf 325932, also nur um
113911 M. 1885 wurden von 100 M. Ausgaben noch 47 M. 54 Pf.
durch eigene Einnahmen gedeckt; von je 100 M. Mehraufwand
konnten indes nur 24 M. 21 Pf. durch Mehreinnahmen gedeckt werden,
so daß 1904 von 100 M. Gesamtaufwande nur noch 35 M. 58 Pf. durch
Schuleinnahmen Deckung fanden. Das Schulgeld beträgt in der
Realschule 80 M., in den drei Vorklassen der Mädchenschule 72 bis
96 M, in den untern Klassen der höheren Schulen (außer Realschule)
96 bis 128 bezw. 132 M., in den mittleren und oberen Klassen 144 M.
Freistellen werden bis zu 8 Proz. der Schulgeldeinnahme gewährt. Die
Aufnahmegebühr beträgt 6 M. Auswärtige bezahlen 30 M. mehr Schul-
geld. Die Einnahmen hängen also von der Schülerzahl ab, wenngleich
natürlich wegen der Abstufung des Schulgelds die Zusammensetzung
der Schülergesamtheit mit entscheidet.
Ein höherer Schüler
brachte Einnahmen kostete
M. M.
1885 104 218
1904 121 340
1904 mehr 17 122
Mithin sind von den Mehrkosten nur 14 Proz. durch Steigerung der
Einnahmen wettgemacht, zu °/, sind sie aus allgemeinen Steuermitteln
bestritten. Die geringe Einnahmevermehrung ist erzielt durch eine mäßige
Erböhung der Schulgeldsätze in den drei unteren Klassen im Jahre
1893 und durch Beschränkung der Schulgeldbefreiungen auf 8 Proz. der
Schulgeldeinnahmen. Auch hat die Aufhebung der Volksschulklassen
mit geringerem Schulgeld und die Verbesserung der Klassenfrequenz
mitgewirkt. Bei dieser Sachlage muß die Kostendeckung von Schule
zu Schule sehr verschieden sein: wo die Kosten auf den Kopf des
Schülers stark gestiegen sind, muß der Ausgleich durch eigene Ein-
nahmen am stärksten heruntergegangen sein:
Knaben- öh
1,2% A Real- | Ober- Real- H ere
Gymnasium n schulen | Mädchen-
ai gymnasium |realschule | schule
s | zus. schulen
Aufwand( 1885 \ | 1885 228M. 248 M. 236 M. |333 M. | 253 M. 156 M.
auf < 1904 1904 520 M.) 423 M. 293 M. |333 M. | 389 M. 247 M.
1Se 'hüler|Steigung| 127,9 Proz.| 70,3 Proz. | 24,1 Proz. | O Proz. | 53,7 Proz. | 58,3 Proz.
Von 100 M. Aus- |
gaben wurden ge- | 1885 45 M| 42M. 38 M. 35M.! 4ıM. 67 M.
deckt durch eigene | 1904 26 M.| 29M. 43M. | 32M.| 32 M. 46 M.
Einnahmen
43*
676 Miszellen.
In den Mädchenschulen wird dasselbe Schulgeld wie in den Knaben-
schulen erhoben; daher ist die Kostendeckung hier wegen des ge-
ringeren Aufwands besser.
Im Volksschuletat sind die eigenen Einnahmen noch geringer.
Schulgeldeinnahmen gibt es regelmäßig nur noch in den Mittelschulen.
Die den Städten zufallenden gesetzlichen Staatszuschüsse können kaum
witgerechnet werden. Wenn also nicht besondere Staatszuschüsse ge-
währt werden oder ein Mehrempfang aus der Alterszulagekasse zu ver-
zeichnen ist, gibt es überhaupt nur Ausgaben. In Barmen werden noch
8,6 Proz. der Ausgaben durch eigene wirkliche Einnahmen gedeckt.
Auf irgendwelche Deckung des Mehraufwands, der in dem 2Öjährigen
Zeitraum auf den Kopf des Volksschülers 89 Proz., auf den Kopf des
Einwohners 62 Proz. betragen hat, ist ebenso vollkommen verzichtet
wie im Etat der höheren Schulen. Dennoch sind die Aufwendungen
der Allgemeinheit für die höheren Schüler viel bedeutender als für
die Volksschüler. Nach genauen Berechnungen kostete ein Volksschüler
der Stadt Barmen 1904 77 M., ein höherer Schüler hingegen 340 M.
(Knabenschüler 389 M., Schülerin 247 M.). Durch eigene Einnahmen
werden bei jenem 8,6 Proz., also 6 M. 62 Pf., bei diesem 35,6 Proz.
also 121 M. gedeckt. Mithin hat die Einwohnerschaft im ganzen für
einen Volksschüler noch 70 M., für einen höheren Schüler aber 219 M.
aufzubringen.
Welche Kreise sind es nun, denen diese beträchtlichen und stark
zunehmenden Entgeltsverzichte für die höheren Schulleistungen zu gute
kommen? In Barmen sind die sozialen Verhältnisse eines Teils der
höheren Schüler durch persönliche Befragung und Benutzung des Steuer-
katasters untersucht worden. Dieser Schülerteil ist nach rein zufälligen
Merkmalen ausgewählt worden (je 5 Schüler aus jeder Klasse nach der
alphabetischen Namensfolge), und es entspricht statistischen Grundsätzen,
daß die bei einem erheblichen Teile einer Gesamtheit wahrgenommenen
Erscheinungen auch bei der Gesamtheit im ganzen vorliegen. Aus den
Ergebnissen läßt sich folgendes herausziehen:
(Siehe Tabelle auf S. 677.)
Die Kinder von Gewerbsgehilfen und Arbeitern sind unter den
höheren Schülern mit nur sehr geringen Bruchteilen vertreten; etwa !/;
der höheren Schüler fällt auf die höheren Stände (akademisch Gebildete,
Fabrikanten und Großkaufleute), 2/, auf den Mittelstand. Auch die
einzelnen Schulen haben ihr bestimmtes soziales Gepräge. Das Gym-
nasium wird mehr von den höheren Ständen und den Beamten besucht.
Die Realschule (80 M. Schulgeld) bleibt vorzugsweise dem Mittelstande
und dem gehobenen Teile des unteren Standes überlassen. Die höheren
Schülerinnen sind sozial noch mehr ausgewählt, weil sich die Eltern
wohl wegen der Berufsabsichten, nicht aber so leicht um bloßer Bil-
dungszwecke willen Opfer auferlegen.
Die eingeschätzten Einkommen der Eltern der höheren Schüler
sind — wie leicht einzusehen ist — nur Minimaleinkünfte; auch hängt
die finanzielle Lage der Erziehungspflichtigen nicht immer allein von
ihrem eigenen Einkommen ab. Immerhin können wir doch 40 bis
Miszellen. i 677
Von je 100 Schülern waren | Real- | Ober- Neun- 3 höhere
solche, bei denen der Vater (ev. | Gym- a rg: klassige | Real- | Mädchen-
der verstorbene Vater) bezw. der | nasium Er tum | schule Schulen | schule | schulen
Erziehungspflichtige zus, zus.
angehörte folgender sozialen
Klasse:
Akademisch Gebildete 19,1 7153 3,6 9,3 1,9 9,7
Sonst. Beamte u. semin. gebildete
Lehrer 27,0 20,9 11,4 19,0 23,5 14,2
Fabrikanten, Großkaufleute ete. 30,8 25,4 23,6 26,3 11,0 39,9
Detailkaufleute, selbst. Hand-
werker etc. 13,1 28,0 35,3 26,5 27,83 19,2
Technisches, Bureau- und Hand-
lungspersonal 4,5 8,5 7,4 6,9 7,2 10,4
Werkmeister u. dergl. 1,2 0,4 4,1 2,1 5,6 iT
Gewerbsgehilfen und Arbeiter 1,4 3,9 4,3 3,3 7,2 0,6
Sonstige 2,9 5,7 10,8 6,6 16,3 4,3
mit folgendem Einkommen z. Ein |
kommensteuer eingeschätzt war :
bis 1 500 M. 6,2 13,7 23,6 15,3 34.5 11,8
über 1500— 3000 , 19,6 23,7 28,5 24,3 43,6 21,5
» 3000— 4500 „ 20,1 27,4 23,8 23,8 10,9 23,0
» 4500— 6.000 ” 9,8 10,4 5,2 8,2 9,1 8,6
„ 6000— 9500 „, 24,3 5,2 5,0 10,7 1,9 11,3
» 9500—12 500 , 3,1 3,1 = 2,0 i 4,0
über 12500 „, 16,9 16,5 13,9 | 15,6 => 19,8
50 Proz. der höheren Schüler zur Klasse der Minderbemittelten (Ein-
kommen bis 3000 M.) rechnen, wozu dann noch !/, der Schüler aus der
Gruppe der Mittelbemittelten (über 3000 bis 6000 M.) kommt. Das
übrigbleibende Viertel rekrutiert sich zum größten Teil aus sehr reichen
Familien. In der Gesamtbevölkerung kommt auf die Klasse der Minder-
bemittelten über °/,, der Zensiten, auf die Mittelbemittelten noch nicht
1/,, und auf die Wohlhbabenden noch weniger. Die höheren Schulen
kommen also den verschiedenen Schichten der Steuerzahler in ganz ver-
schiedener Weise zu gute. Der weitgehende Verzicht auf Schulentgelte
schließt also zweifellos Ungerechtigkeiten in sich; denn die bemittelten
Klassen können sich nicht darauf berufen, daß sie den weitaus größten
Teil der Gemeindesteuern aufbrächten. Die stärkere Heranziehung der
Bemittelten beruht auf dem Steuerprinzip tunlichster Opferausgleichung,
auf einer Betonung der sozialen Funktion des Reichtums; Sondervor-
teile können deswegen von den Wohlhabenden nicht in Anspruch ge-
nommen werden.
Die Erhöhung der Schuleinnahmen durch eine allgemeine Her-
aufsetzung der Schulgeldsätze und durch eine Beschneidung
der Schulgeldbefreiungen beseitigt diese Ungerechtigkeit nicht etwa,
sondern vermehrt sie noch; denn hierdurch wird die Zahl der minder-
bemittelten Schüler weiter herabgedrückt, und die Unterhaltung der
höheren Schulen aus allgemeinen Steuermitteln ist dann immer weniger
zu rechtfertigen. Im Gegenteil könnte — wenn man diesen Gesichts-
678 Miszellen.
punkt einseitig betonen wollte — eher durch eine weitere Herabsetzung
der Schulgeldsätze (in Bayern erhebt man nur etwa die Hälfte der
in Preußen üblichen Sätze) geholfen werden. Vollständig kann man
natürlich die Gebühren nicht abschaffen, wo gleichzeitig eine Leistung
niederer Art (Volksschule) und eine Leistung höherer Art (höhere Schule)
geboten wird, es sei denn, man wollte das öffentliche Schulwesen und
die Aufnahmebedingungen von Grund aus umgestalten. Aber selbst
eine starke Herabsetzung der Gebühren hat ihre Schattenseiten, indem
nicht bloß die bisherigen Einnahmebeträge ausfallen, sondern auch die
Ausgaben infolge größeren Schülerandrangs steigen. Nun ist sicherlich
die Erleichterung des Aufsteigens von Angehörigen der unteren Klasse
im sozialen und kulturellen Interesse auch eines großen Opfers wert.
Dieser Aufstieg wird aber, wenn auch nicht so sprunghaft, so doch
. sicherer erfolgen bei einer vorzüglichen Ausbildung der Volksschulen,
bei dem Bestehen von Fortbildungsklassen, Seminaren, Fortbildungs-
schulen, Fachschulen, Fortbildungskursen, Bibliotheken u. s. w.!), denn
der Besuch der höheren Schulen und eine höhere Laufbahn erfordern
doch auch neben dem Schulgeld erhebliche Kosten und regelmäßig
doch auch relativ günstige häusliche Verhältnisse. Was ist damit ge-
wonnen, wenn zahlreiche Schüler mitten in der Schullaufbahn wieder
abschwenken müssen? Dies Abschwenken ist nach der Barmer Statistik
aber am häufigsten bei den Minderbemittelten:
Schs er z
3 neunklassige Knaben- Schüler Schüler, geren Katër
schulen überhaupt Werkmeister | Einkommen
oder Arbeiter | bis 1500 M.
in 3 untersten Klassen 664 59 164
„ 3 mittleren s5 499 11 44
„ 3 oberen fi 271 8 12
Der populäre Ruf nach Gebührenfreiheit und -minderung ist
sehr kurzsichtig. Was man dem Volke auf der einen Seite gibt, nimmt
man ihm auf der anderen. Ein die finanziellen Umstände ganz ver-
vernachlässigendes Entgegenkommen auf dem Gebiete der höheren
Schulen bewirkt eine Versäumung anderer Gebiete, die den unteren
Volksschichten vielleicht noch mehr dienen, z. B. der Volkschulen. Die
Steuerschraube läßt sich eben nicht beliebig anziehen, sicher wenig-
stens nicht in der Gemeinde, die an die staatliche Steuergesetzgebung
gebunden ist, und die daher den Reichen nicht stärker belasten kann,
ohne auch dem Minderbemittelten wehe zu tun. Zu hohe Steuersätze
und zu einseitige Betonung einzelner städtischer Aufgaben können auch
leicht die Reichen und das Gewerbe aus der Stadt treiben und so den
städtischen Wohlstand untergraben. Zwischen ideellen und finanziellen
Forderungen muß auch hier ein Ausgleich gefunden werden. Durch ein
nicht zu sehr beschnittenes Maß von Schulgeldbefreiungen und von ander-
1) Man vergl. die Darlegungen Fr. Paulsens über die Volkshochschule in „Das
moderne Bildungswesen“ (Die Kultur der Gegenwart, Bd. I, 1906).
Miszellen. 679
weiten Unterstützungen können und müssen kulturelle und persönliche
Nachteile der Gebührenpolitik in geeigneten Fällen beseitigt werden;
denn allerdings darf ein Volk seinen „kostbarsten Schatz“, die Talente,
nicht verkümmern lassen.
Wenn sich nun also auch die Veränderung der allgemeinen Schul-
geldsätze nach unten aus finanzpolitischen Erwägungen, nach oben aus
kulturellen Rücksichten verbietet, so können doch durch eine stufenweise
Erhöhung der Schulgebühren für die Wohlhabenden sowohl die
finanzielle‘ Forderung besserer Kostendeckung wie die Forderungen
sozialer Gerechtigkeit befriedigend erfüllt werden. Nachdem auch
Adickes in seinen „Sozialen Aufgaben der deutschen Städte“ gegen die
ausgedehnte Gebührenfreiheit, den „völlig unmotivierten Kommunismus
der bemittelteren Klassen“, mit durchschlagenden Gründen zu Felde gezogen
ist und unter anderem die nach dem Einkommen abgestufte Gebühr
empfohlen hat, nachdem weiter im vorigen Jahre diese Gebührennor-
mierung durch eine authentische Deklaration zum Kommunalabgaben-
gesetz ausdrücklich für zulässig erklärt ist, wird sich die Praxis
damit mehr wie bisher befreunden. Zwar hat man bei der Gebühr, die
besonders ja auch auf dem Gebiete des Schulwesens ganz privatwirtschaft-
lichen Entgelten ähnelt, stets den Grundsatz: Leistung nach der Gegen-
leistung betont, und das schließt eine verschiedene Bewertung einer Leistung
aus, die für alle Empfänger gleichen Wert hat. Es spricht deshalb
manches gegen eine steuerartige Ausgestaltung der Gebühr mit zu
weitgehender Progression. Bisher wenigstens kennt man solche auf die
Leistungsfähigkeit abgestimmte Gebühren nur bei Veranstaltungen
ganz vorwiegend gemeinnützigen Charakters, so bei Deichver-
bänden im Falle vorübergehender Gefahr, bei gewissen öffentlichen
Versicherungskassen und namentlich bei gemeinnützigen Vereinen 1).
Zwar könnte man mit gutem Grunde auch den gemeinnützigen Charakter
der höheren Schulen betonen und die Reichen die Einnahmeausfälle, die
durch die weniger Bemittelten entstehen, mit übernehmen lassen. Das
ist aber praktisch unausführbar, da sonst gerade viele Schüler wolıl-
habender Eltern der öffentlichen Schule entzogen und in Privatinstitute
geschickt werden würden. So kann denn jene Gebührenabstufung nach
dem Einkommen nur darin bestehen, daß die Schulgebühr zu einer der
Finanzpraxis längst bekannten „Rahmengebühr“ gemacht wird, bei
der der Maximalsatz gleich den tatsächlichen Kosten eines höheren
Knaben- bezw. Mädchenschülers ist, der Minimalsatz ungefähr dem bis-
herigen Satze entspricht oder etwas niedriger ist. Neu wäre daran nur,
daß die Abstufung kraft Statuts nach dem Einkommen, nicht
nach obrigkeitlichem Ermessen erfolgt. Der Minimalsatz sollte hierbei
ziemlich weiten Kreisen zu gute kommen, damit durch die Schulgeld-
steigerung möglichst keine Schüler von der höheren Schule abgestoßen
werden und den besser gebildeten, z. T. mäßig besoldeten Kreisen eine
gute Ausbildung ihrer Kinder nicht erschwert wird. Also kann die
1) Vgl. über diese Dinge namentlich Fr. J. Neumann, Die Gestaltung des Preises
$ 8 ff. in Schönbergs Handbuch der Politischen Oekonomie.
680 Miszellen,
Steigerung des Schulgeldsatzes vielleicht bei 6000 M. einsetzen, so jedoch,
daß in den nächsten Einkommensklassen die Gebühr beim Vorliegen
persönlicher Verhältnisse um 1 oder 2 Stufen herabgesetzt werden kann
und überhaupt der erhöhte Satz nur bei einem oder zwei, nicht auch
bei den weiteren schulbesuchenden Kindern gefordert wird. Bei 9500 M.
Einkommen könnte die Maximalgebühr ausnahmslos erhoben werden.
In Barmen müßte die den Kosten entsprechende Maximalgebühr in
den höheren Knabenschulen etwa 360 M., in den Mädchenschulen etwa
200 bis 250 M. betragen. Aber schon bei diesen Sätzen wmd bei der
oben dargelegten milden Anwendung sind in Städten mit ähnlichen Ein-
kommensverhältnissen wie Barmen erhebliche Mehreinnahmen
zu erzielen. In Barmen würden sie betragen: in den Knabenschulen
65 000 M., in den Mädchenschulen 19 000 M., zusammen also 84 000 M.
Das wäre mehr als !/, der bisherigen Schulgeldeinnahmen. Auf 100 M.
Ausgaben fielen dann wieder wie früher 45 M. Einnahmen. Durch
Heraufsetzung der Maximalgebühr könnte der alte Deckungsbetrag auch
bei weiteren Aufwandsforderungen erhalten bleiben. Denn wenn man
es einmal für finanzpolitisch richtig und für gerecht hält, bestimmte,
nicht zu geringe Quoten der Schulkosten durch Hebungen von den
Schülern zu decken, so darf dieses System der Kostendeckung nicht bei
Veränderung dieser Kosten verlassen werden.
Die Einsicht in die charakteristischen Entwicklungszüge der städti-
schen Finanzen wird hiernach nicht aus der bloßen Zusammenstellung
und Musterung von Finanzreihen gewonnen, sondern nur mit Hilfe
einer methodisch vorgehenden Statistik, die überall die rechten Be-
ziehungen herstellt und eine sorgsame Wertung des Materials nach
richtigen Gesichtspunkten vorbereitet. Eine solche Untersuchung führt
von selbst auf schätzbare finanzpolitische Anregungen und ermöglicht eine
genauere Berechnnng der Wirkungen finanzieller Maßnahmen. Soll aber
der Statistiker — so wie es hier geschehen ist — die finanzpolitischen
Folgerungen selbst zu ziehen suchen? Darf er von der strengen Tat-
sachenschilderung abweichen? Er ist in der Tat dazu genötigt, denn
er kann unmöglich die Tatsachenschilderung richtig umgrenzen und
die finanziellen Möglichkeiten berechnen, wenn er sich nicht in die Stelle
dessen setzt, der die statistischen Ergebnisse zu praktischen Zwecken
verwertet. Gerade weil das so häufig nicht geschieht, sind viele stati-
stische Arbeiten praktisch so unfruchtbar: die Darlegung ist lückenvoll
und dem Praktiker wird zugemutet, statistische Materialien für seine
Zwecke brauchbar zu machen. Die objektive statistische Darlegung
leidet nicht, wenn sich die praktischen Erwägungen in dem Rahmen des
durch die statistische Arbeit Gebotenen halten und nur den Zweck
haben, die Bedeutung der finanzstatistischen Ergebnisse nach allen Seiten
klarzustellen. Ist dem Statistiker dies gelungen, so hat er an seinem
Teil mitgewirkt, daß die Verwaltungsführung immer weniger auf persön-
liches Meinen als auf ein Studium des Objekts der Verwaltung und des
Verwaltungsgetriebes selbst gegründet wird.
Miszellen. 681
XV.
Die Baumwollfrage.
Von Dr. Hans Koch (Cöln).
Inhalt. 1. Die Bedeutung der Baumwolle für die deutsche Volkswirtschaft und
die deutsche Baumwollenindustrie. 2. Die Kultur der Baumwolle. 3. Die bisherigen
Haupt- Baumwollproduktionsgebiete der Erde und die Baumwollproduktion. 4. Die
Baumwollfrage ist vor allem entstanden aus der Konzentration des Baumwollanbaues
auf wenige bestimmte Gebiete. Sie richtet sich gegen zwei Momente: 1) den absoluten
Mangel, 2) die schwankenden Erträge der Rohbaumwolle, hervorgerufen durch a) Speku-
lation, b) unzureichenden Anbau, e) Ernteschwankungen. 5. Mittel der Abhilfe. Bis-
herige Bestrebungen: 1) Vereinigung der Baumwollindustriellen, 2) Vereinigungen,
welche die Erweiterung des Baumwollanbaues zum Ziele haben. 6. Die planmäßige
Ausdehnung des Baumwollanbaues.
1.
Das Problem der Versorgung der Baumwollindustrie mit Rohbaum-
wolle gehört heute zu den wichtigsten Fragen der Volkswirtschaft, ins-
besondere in den Ländern, welche mit ihren Fertigerzeugnissen den
Weltmarkt versorgen.
Das ist erklärlich einmal aus dem hohen Range, welcher der Baum-
wolle unter den wirtschaftlichen Gütern zukommt.
Von den in einem Haushalt zur Lebenshaltung notwendigen Aus-
gaben pflegt man ein Fünftel bis ein Sechstel auf die Bekleidung zu
rechnen. Unter den Bekleidungsgegenständen aber nehmen die aus
Baumwolle hergestellten heute einen breiten Raum ein, so daß auf sie
allein eine bedeutende Quote der Bekleidungsausgaben fällt. Die Ver-
wendung der Baumwolle für andere als Bekleidungszwecke tritt hinter
diesen weit zurück.
Heute gehören die Baumwollwaren wegen ihrer relativen Wohlfeil-
heit zu denjenigen Artikeln, welche dem Massenverbrauch dienen und
bei allen Kulturvölkern als unentbehrlich gelten. Wo immer die Zivi-
lisation eindringt, sind sie es, deren Verbrauch rasch ansteigt, so daß
man bis zu einem gewissen Grade den Eigenverbrauch an Baumwoll-
waren als Gradmesser der Kultur ansehen kann.
Der Verbrauch an Baumwolle und an Baumwollwaren nimmt be-
ständig zu, sowohl in den einzelnen Ländern als auch in der ganzen
Welt. So betrug im deutschen Zollgebiet der Verbrauch an Rohbaum-
wolle auf den Kopf der Bevölkerung in der Mitte des 19. Jahrhunderts
nur ca. 0,50 kg und stieg auf 2,84 im Durchschnitt der Periode 1871/75,
erreichte im weiteren Ansteigen 1901: 5,7 kg, 1902: 5,8, 1903: 6,3,
1904: 6,4, 1905: 6,5 kg).
1) Statist. Jahrb. d. Deutsch, Reichs 1906, S. 236.
682 Miszellen.
Das Anwachsen des Verbrauchs ist also nicht nur bedingt gewesen
durch die Bevölkerungszunahme, erfolgte vielmehr in beträchtlich
schnellerem Tempo; während die Bevölkerung von 1875 bis 1905 von
40,8 auf 56,3 Millionen gestiegen ist, stieg die Zunahme des Verbrauchs
in derselben Zeit von 2,3 auf 5,8 kg. Die Bevölkerung also wuchs im
Verhältnis 2:3, der Baumwollverbrauch in einem solchen von 2:6.
Zur Beurteilung der Bedeutung des Rohbaumwollbedarfs für die
deutsche Baumwollindustrie ist ein Blick auf die Stellung dieser Industrie
nicht zu umgehen.
Von den Zweigen der Textilgewerbe hat die Baumwollverarbeit-
ung als letzter Bedeutung in Deutschland erlangt; aber die Erzeugnisse
des Gewerbes waren zunächst und lange Zeit durchaus Luxusartikel
An eine Massenverwendung der Baumwolle war erst seit der Entwick-
lung des modernen Verkehrs und der Großindustrie zu denken.
Zur modernen Großindustrie entwickelte sich die Baumwollenver-
arbeitung in Großbritannien; erst bedeutend später folgte Deutschland,
und zwar Sachsen und das — damals französische — Elsaß. Zwei
Umstände waren es vor allem, welche die deutsche Baumwollenindustrie
gegenüber der englischen benachteiligten und ihr heute noch die Konkurrenz
mit jener erschweren: 1) die Ungunst der klimatischen Verhältnisse,
das Fehlen der natürlichen Feuchtigkeit Lancashires; was dort die
Natur umsonst gewährt, muß hier erst künstlich und mit Kosten erzeugt
werden, 2) der Mangel lokaler Konzentration; während in Großbritannien
fast die ganze Industrie in einem Gebiete vereinigt ist, haben wir in
Deutschland u. a. 4 Bezirke: 1) Sachsen—Lausitz— Thüringen (Plauen,
Chemnitz, Zittau, Leipzig, Eilenburg, Mittweida, Zeitz), 2) Bayern (Hof,
Augsburg, Kempten), 3) Niederrhein (Barmen, Elberfeld, Duisburg,
Cöln, Gladbach), 4) Elsaß (Mülhausen, Colmar, Markirch, Breuschtal).
Auf diese Gebiete verteilt sich die Gesamtspindelzahl von 9,7 Millionen
(1905) wie folgt:
Sachsen Be ar Ft ET
Bayern. var ne re S 1,58
Niederrhein-Westfalen . . . . 2,73
Bisai ar en ee ANA
Summa 7,21
Der Rest von 2,5 Millionen verteilt sich auf Spinnereien, die in
anderen Teilen des Reichs zerstreut sind, u. a. in Württemberg, Hohen-
zollern, Baden, Schlesien, Rheinpfalz, Norddeutschland.
Die deutsche Baumwollindustrie entwickelt sich gleichzeitig nach
zwei Richtungen:
1) sie strebt nach Vermehrung der Zahl der Betriebe,
2), und dies vor allem, nach Vergrößerung der Betriebe.
Es bestanden in Deutschland: 1)
1887: 348 Spinnereien in 167 Orten mit 14500 mittlerer Spindelzahl
1905: 376 > H300 a sah 23500 i ”
(+ 28) (+ 29) (+ 9000)
1) Deutsche Rundschau für Geographie und Statistik 1905, S. 512 ff.: A. Oppel,
Zur Statistik der Baumwollspinnereien in Mitteleuropa.
a
Miszellen. 683
Welche Stellung die deutsche Baumwollindustrie in der Welt-
wirtschaft einnimmt, mögen folgende Daten veranschaulichen t):
Im Jahre 1900 betrug die Zahl der Spindeln in den hauptsäch-
lichsten Baumwollindustrieländern rund 102 Mill.; von diesen entfielen auf
Großbritannien 45-Mill.
den europäischen Kontinent 33 ,„
die Vereinigten Staaten 19 „
Indien St
An den 33 Mill. des europäischen Kontinents waren die einzelnen
Länder wie folgt beteiligt:
Deutsches Reich 81 Spanien 2,8
Rußland 7,5 Italien 2,0
Frankreich 5,5 Schweiz _ 1,5
Oesterreich 3,5 Belgien 1,0
Der Rest von 1 Mill. entfällt auf Schweden, die Niederlande, Portugal
und Griechenland zusammen.
Deutschland nimmt also unter den Ländern des Kontinents die
erste Stelle ein und hat allein den vierten Teil der Spindeln des Kon-
tinents in Betrieb.
Der Spindelzahl nach rangiert ferner die deutsche Baumwollindustrie
an dritter Stelle unter den Staaten der Erde; sie überragt um 1,3 Mill.
Spindeln die Spindelzahl von ganz Asien (6,8 Mill, davon Japan 1,5,
Indien 4,9).
Die Bedeutung der Baumwollindustrie für die Volkswirtschaft geht
auch aus der Ein- und Ausfuhrstatistik hervor. Deutschland führt ein
Rohbaumwolle und etwas Baumwollgarn, daneben auch ganz wenig
Baumwollwaren und führt aus Baumwollwaren; sie stehen dem Werte
nach an erster Stelle der Gesamtausfuhr. (6,5 Proz. der Ausfuhr 1905) ?).
Der Wert der ausgeführten Baumwollwaren ist in den letzten 8 Jahren
um 200 Mill. M. gestiegen, nämlich von 181 (1898) auf 380 (1905) 3).
Die Einfuhr von Baumwollwaren hatte in demselben Zeitraum den Wert
von 31 (1898) bis 45 (1905) Mill. M.
Von dem Gesamtwert der im Jahre 1903 ausgeführten Baumwoll-
waren kamen nach der Berechnung Helfferichs 60—65 Mill. M. auf den
Rohstoff, 220—225 Mill. M. auf die im Lande bewirkte Verarbeitung,
so daß eine Werterhöhung von ca. 160 Mill. M. stattgefunden hatte 4).
Der Wert der nach Deutschland eingeführten Rohbaumwolle nimmt
ebenfalls die erste Stelle ein ĉ) sowohl nach Mill. M. (398 im Jahre 1905)
als auch nach Prozenten des Einfuhrwertes (5,4 im Jahre 1905). Von
den 1905 eingeführten 348000 Tonnen Rohbaumwolle wurden 37 Tonnen
wieder ausgeführt, so daß 311000 Tonnen im Lande verarbeitet wurden.
1) E. v. Sehkopp, Die wirtschaftliche Bedeutung der Baumwolle auf dem Welt-
ee Sonderabdr. a. d. „Tropenflanzer“ 1904, S. 6. Leider fehlt die Quellen-
angabe.
2) Stat. Jahrb. 1906, S. 175.
3) Stat. Jahrb. 1906, $. 174.
4) Helfferich, Die Baumwollfrage, 1904, S. 642 f.
5) Stat. Jahrb. 1906, S. 172 f.
684 Miszellen.
2.
In dem Maße, in welchem die Verarbeitung der Baumwolle an Um-
fang zunahm, mußte auch die Frage der Beschaffung des Rohstoffs an
Bedeutung gewinnen und zwar um so mehr, als die Industrie in einem
außerordentlich schnellen Tempo zugenommen hat, nicht allein in
Deutschland, sondern in allen Ländern, welche überhaupt Baumwolle
verarbeiten. Ueberall ist die Nachfrage nach dem wichtigen Roh-
material überaus stark und häufig hat die Rohstofferzeugung mit ihr
nicht gleichen Schritt halten können.
Ein Umstand ist für die Rohstoffversorgung der Baumwollindustrie
ganz besonders charakteristisch: es ist die Tatsache, daß die weitaus
meisten Baumwollindustrieländer den Rohstoff nicht selbst erzeugen
können, sondern auf die Einfuhr aus weiter Ferne angewiesen sind.
Die Produktionsgebiete der Baumwolle fallen im allgemeinen nicht
zusammen mit denen der Fertigerzeugnisse. Nur die Vereinigten Staaten,
Mexiko, Indien und Japan sind in der Lage, in ihren Anbaugebieten oder in
unmittelbarer Nähe derselben eine Baumwollindustrie von nennenswertem
Umfange zu besitzen. Aber auch in diesen Ländern muß sie auf gewisse
Gebiete beschränkt bleiben.
Nur die Vereinigten Staaten und Britisch-Indien sind im stande,
ihre Industrie nur mit eigener Baumwolle zu versorgen 1). Die Industrie
dieser Länder aber repräsentiert nur den vierten Teil der 112 Mill.
Spindeln (1903) der Welt, nämlich 27 Mill, während 85 Mill., also drei
Viertel der Spindeln 2), welche sich auf die übrigen Industrieländer ver-
teilen, den Rohstoff nicht in der Nähe haben. Mit anderen Worten:
die Baumwollindustrie liegt zum überragenden Teile, zu drei Viertel,
außerhalb der „Baumwollzone“.
Von den Industrieländern außerhalb der Zone vermag heute nur
Rußland allein die Baumwolle in erheblichem Umfange, nämlich ein
Drittel seines Bedarfs, aus eigenem Kolonialgebiet zu beziehen. Alle
anderen Länder aber, unter ihnen auch Deutschland, sind fast ganz auf
die Einfuhr aus weiter Ferne und fremden Ländern angewiesen.
Für eine ganze Reihe von Ländern, und gerade für die wichtigsten,
wird also die volkswirtschaftliche Forderung, die Fabrikation und die
Robhstotfgewinnung möglichst nahe beieinander zu plazieren, niemals zu
erreichen sein. Entweder ist das Industrieland zum Baumwollanbau
oder das Anbaugebiet für die Industrie ungeeignet. Denn die Tropen,
auf welche in der Hauptsache der Anbau beschränkt ist, eignen sich im
allgemeinen nicht für die Fabrikarbeit. So kommen schließlich nur
wenige subtropische Gebiete in Betracht, welche die Bedingungen für
das Zusammenwirken von Anbau und Industrie zu erfüllen vermögen’).
1) Tatsächlich wird aber noch fremde Baumwolle eingeführt; es spricht da u. a.
die Frage der Qualität mit.
2) Nach v. Schkopp, a. a. O., S. 8.
3) Es handelt sich natürlich nur um maschinelle Tätigkeit; Verarbeitung der Baum-
wolle in irgend einer primitiven Form für den Eigenbedarf kommt fast überall vor,
wo Baumwolle wächst.
Miszellen. 685
Etwas wird das Bild sich in späterer Zukunft vielleicht verändern.
Denn man strebt dahin, die industrielle Tätigkeit, wo es nur irgend
möglich ist, in die Nähe der Kulturgebiete zu ziehen. Wo es aber auch
gelingen mag, wirklich leistungsfähige Industrieen in jenen Gebieten
ins Leben zu rufen: eine Bedeutung für den Weltmarkt werden sie in
absehbarer Zeit nicht gewinnen können.
Die Ursache für die ungünstige Lage der Baumwollindustrie hin-
sichtlich der Rohstoffversorgung ist zu suchen in den geographischen
Bedingungen des Baumwollanbaues.
Ein Blick auf eine kartographische Darstellung der sogenannten
Baumwollenzone zeigt einen zwar gewaltigen Gürtel rings um die Erde;
aber in ihm eignet sich nur der weitaus kleinere Teil der Landmasse
für eine Baumwollkultur. Diese Gebiete aber sind noch dadurch ein-
zuengen, daß sie nicht alle eine für die Industrie geeignete Sorte er-
zeugen und in noch höherem Maße dadurch, daß häufig in an sich wohl
geeigneten Gebieten die Baumwollkultur unterbleibt, entweder, weil das
Land für andere Zwecke (Nahrung) nötiger gebraucht wird, oder, weil
besondere klimatische, wirtschaftliche oder Verkehrsverhältnisse eine Kultur
unrentabel machen. So wird z. B. in der Nähe der Grenzen der Baum-
wollzone ein Anbau selten empfehlenswert sein, weil die klimatischen
Verhältnisse hier schon den Anbau riskant machen; ein Nachtfrost kann
die Ernte mit einem Schlage vernichten, da die Pflanzen sehr empfind-
lich sind. Nur da, wo die Kultur ohne Besorgnis vor klimatischen
Ueberraschungen vorgenommen werden kann und wo die wirtschaftlichen,
insbesondere die Verkehrsverhältnisse günstig oder entwickelungsfähig
sind, wird sie lohnend sein. Es bleiben ohnehin noch genug Störungen
des Wachstums und der Ernten übrig, mit denen auch in den günstigsten
Gebieten gerechnet werden muß.
Es würde hier zu weit führen, auf die Kultur der Baumwolle ein-
zugehen!. Nur einige Momente mögen hervorgehoben werden, welche
für die Lösung der Baumwollfrage beachtenswert sind.
1) Die Baumwollpflanze bedarf eines gewissen Maßes von Feuchtig-
keit; dieses fehlt häufig in den tropischen und subtropischen Ländern.
Durch künstliche Bewässerung, wie sıe in größtem Umfange in Aegypten
und Russisch-Zentralasien in Gebrauch ist, kann der Mangel zwar völlig
ausgeglichen werden; da aber die Bewässerungsanlagen sehr kostspielig
sind, so können sie nur da in Frage kommen, wo der wirtschaftliche
Zustand des Landes bereits eine gewisse Stufe erreicht hat. Wiederum
eine Einschränkung der Baumwollkultur!
2) Die Ernte gestaltet sich ganz besonders eigenartig; denn einmal
erstreckt sie sich auf demselben Felde über mehrere Monate, weil die
Samenkapseln ungleichmälig reifen; und dann ist sie in allen Gegenden
stark variierend. Daher haben wir für die Welternte das bemerkens-
werte Ergebnis, daß fast in allen Monaten in irgend einem Lande der
Erde Baumwolle gewonnen werden kann. (Mit alleiniger Ausnahme des
1) Sehr ausführlich behandelt bei A. Oppel, Die Baumwolle, und H. Semler,
Tropische Agrikultur (4 Bde. 88.) Bd. 3.
686 Miszellen.
Monats Dezember.) Es ist das ein Moment höchster Bedeutung, denn
bei voller Ausnutzung aller für den Baumwollanbau geeigneten Land-
strecken der Erde würde sich bis zu einem gewissen Grade eine Gleich-
mäßigkeit in den Welternten erzielen lassen.
3) Der Anbau der Baumwolle erfordert keine besonders große Sorg-
falt, so daß er mit Erfolg auch von Völkern niederer Kulturstufe vorge-
nommen werden kann. Die Ernte insbesondere, bestehend in dem Ab-
pflücken der reifen Kapseln, ist eine ganz leichte Arbeit, die keinerlei tech-
nische Fertigkeit erfordert. Nur etwas Sorgfalt in Bezug auf das Reinhalten
der geernteten Baumwolle ist erforderlich, da nachlässige Ernten, wie
sie in Ostindien üblich sind, den Wert der Ware beeinträchtigen.
Unmittelbar nach der Ernte wird die Baumwolle für den Handel
vorbereitet; auch hierüber müssen ein paar Worte gesagt werden.
Zunächst wird, möglichst in unmittelbarer Nähe des Feldes, der
Prozeß der Entkernung vorgenommen. Hierzu dienen heute allgemein
besondere Maschinen: denn sie bedeuten eine enorme Arbeitsersparnis,
während beim Entsamen mit der Hand eine Person für ®/, kg ca. 1 Stunde
braucht, leistet die Maschine in derselben Zeit 3500 kg).
Nach der Entkernung erfolgt sogleich das Pressen der Ballen und
zwar in zwei Stadien: einmal provisorisch auf dem Felde und dann end-
gültig in der Compress, der eigentlichen Baumwollpresse im Hafenorte,
von dem aus die Baumwolle über See verschickt werden soll. (Im In-
landversand begnügt man sich häufig mit der ersten Pressung.)
Gleichzeitig mit dem Pressen wird die Verpackung in Ballen vor-
genommen; ihr Gewicht ist verschieden nach den Ursprungsländern; am
gebräuchlichsten ist der nordamerikanische Ballen zu 500 engl. Pfd.?),
Auch die Prozesse des Entkernens, Pressens und Packens erfordern
keine besondere Geschicklichkeit, so daß sie von ganz ungelernten Ar-
beitern, wie Eingeborenen, versehen werden können, wofern nur sach-
verständige Leitung vorhanden ist.
Nunmehr ist die Baumwolle fertig für den Handel. Sie wird be-
urteilt und klassifiziert nach der Sorte, dann aber auch nach dem Maß
der Reife, nach der Reinheit (Sorgfalt beim Ernten!) und nach dem
Grade der guten Erhaltung während des Transports. Besondere Quali-
tätsmerkmale sind die Länge und Feinheit der Faser und die Farbe.
Kenner sind im stande, 37 Farbenschattierungen zu unterscheiden.
Nach der Qualität ist auch der Preis verschieden, der im übrigen
nach Angebot und Nachfrage geregelt und auf den Börsen von New-York
und Liverpool festgestellt wird. Ausgangspunkt für die Preisbe-
stimmung ist ein Pfund (engl.) der Sorte Upland Cotton Middling.
1) Eckert, Handelsgeographie, II, 441, Anm. 4. Diese Maschine ermöglicht erst
Baumwollernten von großem Umfange.
2) Der ägyptische Ballen = ea. 700 engl. Pfd. Der ägyptische und der ameri-
kanische Ballen schwanken im Gewicht; dagegen ist der indische Ballen regelmäßig 400
engl. Pfd. schwer; er wird daher Handelsballen genannt. (A. Oppel a. a. ©., 83 f.)
In statistischen Angaben wird wegen des Ueberwiegens amerikanischer Baumwolle
gewöhnlich mit amerikanischen Ballen gerechnet, oft aber überhaupt keine nähere An-
gabe gemacht, so daß stets Vorsicht geboten ist.
Miszellen. 687
Die Preise schwanken ganz kolossal, oft von einem Tage zum
anderr, da die Baumwolle ein hervorragendes Spekulationsobjekt ist.
3.
Ich gehe nunmehr zu der Frage über: wie hat bisher die Ver-
sorgung der Baumwollindustrie mit Rohbaumwolle stattgefunden ?
Drei Gebiete kamen so gut wie ausschließlich in Betracht: die
Vereinigten Staaten von Nord-Amerika, Ostindien und Aegypten. Das
weitaus wichtigste Produktionsgebiet stellen — wie später zu zeigen
sein wird — die Vereinigten Staaten dar.
Die geographischen und Kulturverhältnisse der genannten Länder
sind bekannt, so daß ich mich auf einige charakteristische Momente be-
schränken zu können glaube.
Die Vereinigten Staaten. Die zum Baumwollanbau geeigneten Ge-
biete sind die Südstaaten und zwar vorzugsweise im Südosten Nord-
amerikas, im Norden etwa bis an den 38. Grad, im Osten und Süden
ans Meer, im Westen etwa bis an den 100. Längengrad reichend. Das
Gebiet umfaßt die Staaten: Texas, Georgia, Mississippi, Alabama, Süd-
Carolina, Arkansas, Louisiana und Nord-Carolina, nach Produktions-
mengen geordnet.
Diese Gebiete erzeugen nicht nur die weitaus größte Menge an
Baumwolle, sondern auch die besten Sorten, u. a. die von der Industrie
am meisten geschätzte See-Island-Baumwolle, welche in Süd-Carolina,
Georgia und dem nördlichen Florida gezogen wird:) Für die Süd-
staaten ist klimatisch charakteristisch die lange Dauer der warmen
Jahreszeit, ferner häufige Perioden übergroßer Feuchtigkeit abwechselnd
mit solchen übergroßer Trockenheit.
Für Getreide, besonders Weizen, sind diese „Baumwollstaaten“ da-
her weit weniger geeignet als die Nordstaaten.
Von dem ganzen gewaltigen Gebiet ist aber nur ein kleiner Teil
mit Baumwolle bebaut. Die Größe der benutzten Fläche schwankt
außerordentlich: während z. B. 1893 6,4 Mill. ha (= ca. 16 Mill. acres)
in Gebrauch genommen waren, stieg die Ziffer 1900/1 auf 10 Mill. ha
(25 Mill. acres)2), 1903 auf rund 29 Mill. acres, 1904 32 Mill. acres.
Dann aber beschlossen die Pflanzer eine Einschränkung des Anbaues
um 25 Proz., d. h. von 32 auf 24 Mill. acres. Die tatsächliche An-
baufläche betrug aber dennoch etwas mehr, nämlich 27 Mill.
Von 1893 bis 1897 war die Baumwollernte ziemlich stabil, nur wenig
erhöht gegenüber der Periode 1889/92. Die Ernten selbst waren schwan-
kend: auf sehr gute, wie 1892, folgten mäßige 1893/97 3). Im ganzen
genommen stieg aber die Baumwollproduktion an: 1850: 524, 1870:
06, 1900: 2100, 1903: 2400, 1904: 2500 Mill. kg.
Aber die Zunahme der Produktionsanschwellung bewegte sich
in den letzten Jahren in recht bescheidenen Grenzen. Ich sehe von
1) Die Sea-Island-Baumwolle bedarf eines gewissen Salzgehaltes der Luft.
2) Das ist nach Oppel eine Fläche, welche der Gesamtfläche der Staaten Bayern,
Württemberg, Großherzogtum Hessen, Brandenburg, Posen, Pommern entspricht.
3) H.Dietzel, „Die enorme Ueberbilanz der Vereinigten Staaten“. Conrads Jb. 1905.
688 Miszellen.
anderen Umständen, welche die Ernte beeinflußt haben (Mißernten, Schäd-
linge, Spekulation), hier zunächst ab: so hängt in der Hauptsache die
zunehmende Ertragmenge mit der Vermehrung der Anbaufläche zusam-
men. Bis 1904 hat das Areal beständig zugenommen; wenn darum
auch eine Einschränkung beschlossen wurde, so ist doch nicht wahr-
scheinlich, daß man dabei bleiben wird, denn es steigt der Bedarf an
Baumwolle beständig vor allem durch die Weiterentwickelung der eigenen
Industrie, welche die Tendenz hat, sich von dem bisherigen Zentrum
nördlich New York in das Baumwollgebiet, vor allem Carolina, zu ziehen.
Erweiterungsfähig wäre das Gebiet noch sehr, wenn nur das Areal in
Frage käme, denn bis jetzt sind im änßersten Falle 7—8 Proz. des
überhaupt anbaufähigen Landes in Kultur genommen. Aber es sprechen
andere Umstände gewaltig mit, welche einer unbegrenzten Ausdehnung
entgegenwirken. Einmal ist die Baumwollernte selbst vielfach gefährdet;
in den letzten Jahren hat sie in weiten Landstrecken, so namentlich
in Texas, durch Schädlinge gelitten; man meint auch, daß durch die
lange intensive Baumwollkultur der Boden verschlechtert worden sei.
Sodann können die Pflanzer nicht alles Land für die Baumwolle ver-
wenden, sondern müssen wegen der teuren Preise für Nahrungsvegetabilien
selbst Nahrungspflanzen ziehen. Dann verwendet die eigene Industrie nicht
ausschließlich amerikanische Baumwolle, sondern zieht für manche Fabri-
kate fremde vor, so ägyptische und peruanische!). Vor allem aber ist
die Arbeiterfrage ein Hindernis. Wenn auch einerseits die Bevölkerung
der Südstaaten durch Einwanderung aus dem Norden zunimmt, so hat
doch andererseits die wachsende Industrialisierung des Landes eine Land-
flucht hervorgerufen, welche die Landarbeiterfrage zu einem immer mehr
an Wichtigkeit zunehmenden Problem macht. Allgemein klagen die
Pflanzer und behaupten, daß ihr Gewinn gering sei ?). Solche Klagen sind
ja im allgemeinen mit Vorsicht aufzunehmen; aber wenigstens die kleinen
Besitzer und Pächter, welche die Mehrzahl bilden, sind in der Tat in
übler Lage, da sie sich in mehr oder weniger vollständiger Abhängigkeit
‚vom Händler befinden, welcher die Baumwolle aufkauft. Trotzdem ist
nach Angaben der dortigen Pflanzer in den eigentlichen Baumwoll-
gegenden die Baumwollkultur die einzige, welche sich bezahlt macht.
Abgesehen von den besonders für Baumwolle qualifizierten Gegen-
den meint man aber?) daß mit zunehmender Bevölkerungsdichtigkeit
der Südstaaten für die Zukunft eine Zunahme der Getreidekultur t) auf
Kosten der Baumwollkultur zu erwarten sei. Es läßt sich natürlich
nicht mit Sicherheit voraussagen, ob dieser Fall eintreten wird: was
man aber doch wohl mit einiger Sicherheit sagen kann, ist, daß eine
Zunahme der Baumwollkultur nach Maßgabe des verfügbaren Areals
keinesfalls, wahrscheinlich aber überhaupt nicht in bedeutendem Um-
fange stattfinden wird. Das ist eine für die Frage der Rohstofiver-
1) Oppel, a. a. O., S 470.
2) Koloniale Zeitschrift, 1904, No. 16 u. 48, 8.304.
3) Ebenda.
4) Diese Gefahr scheint mir aber nur für die Randgebiete der Baumwollzone vor-
zuliegen, nicht im allgemeinen.
Miszellen. 689
sorgung der europäischen Industrien sehr bemerkenswerte Tatsache;
denn sie ist ein Teil der nachher näher zu erörternden „Baumwollfrage“.
Ostindien ist das zweite alte Baumwollproduktionsgebiet. Hier hat
der Baumwollanbau seine älteste Stätte. Die Täler des Indus und
Ganges und die Hochebenen im Innern, insbesondere die Präsident-
schaften Madras, Bombay und zum Teil auch Bengalen, sowie das Land
Gudscherat sind im stande, gewaltige Mengen von Baumwolle hervor-
zubringen. Ceylon ist auch sehr geeignet, hier ist aber der Baumwoll-
bau fast ganz von der Kaffee-, später der Teekultur zurückgedrängt.
Auch hier schwankt die Größe der bebauten Fläche: sie betrug im Maxi-
mum 1891/92 = 18 Mill. acres (7,1 Mill. ha) und erreichte ihren tiefsten
Stand 1899/1900 mit 12 Mill. acres (4,7 Mill. ha). Die ganze zur Ver-
fügung stehende — für Baumwolle geeignete — wird auf 40000 qkm
geschätzt. Seit 1900 stieg die bebaute Fläche wieder auf 13,5, 14,5
und 15,7 (1902/03) Mill. acres; die Ziffer von 1892 ist bis 1904 nicht mehr
erreicht worden. Hier also ein Rückgang der Anbaufläche! Neuerdings
aber scheint wieder eine Ausdehnung stattgefunden zu haben, denn für
1905/06 wurde von der ostindischen Regierung die Fläche auf 19,6 Mill.
acres beziffert, zugleich freilich ein Rückgang des Ertrages festgestellt!).
Die Ernten schwankten bei fast gleicher Fläche aber ganz außerordent-
lich: sie betrugen 1896/97 bei 15 Mill. acres = 1,9, 1897/98 bei 14,2
Mill. acres = 2,1, 1902/03 bei 15,7 Mill. acres = 2,7 Mill. Ballen.
(1905/06 bei 19,6 Mill. acres = 3,2 Mill. Ballen gegenüber 19,1 Mill.
acres und 3,6 Mill. Ballen im Jahre 1904/05, also ein Minderertrag bei
vermehrter Fläche; die Zahlen sind aber nur Schätzung.) Der Ertrag Ost-
indiens ist heute im Steigen begriffen; mehr und mehr Land wird unter
Kultur genommen, nachdem die Bevölkerung den Nutzen eingesehen hat 2).
Wenn das aber auch richtig ist, daß in Zukunft der Anbau aus-
gedehnt werden wird, so ist der Nutzen für den Weltbedarf doch nur
ein bedingter. Denn die ostindische Baumwolle rangiert sehr tief;
mangelhafte Kultur, Klima und Bodenbeschaffenheit sind die Ursachen.
Das Klima ist nicht, die Bodenbeschaffenheit wenig zu ändern und die
Versuche, den Eingeborenen zu sorgfältigerer Kultur zu erziehen, sind
— bis jetzt wenigstens — fehlgeschlagen. Auch lassen die Verkehrs-
verhältnisse noch viel zu wünschen übrig). Die Gesamtausfuhr ist seit
1890 zurückgegangen, weil die aufblühende eigene Industrie eine immer
größere Quote der Ernte selbst verbraucht. Die Arealvermehrung kommt
also ausschließlich der einheimischen Industrie‘) zu gute, so daß auch
Ostindien für die Frage der Vermehrung des Weltbedarfs ausfällt.
1) Frankfurter Zeitung, No. 19. vom 20. Januar 1906. — Man darf bei Ostindien
nicht übersehen, daß bei der großen Bevölkerungsdichtigkeit des Landes eine sehr be-
Bene Quote des Areals für Brotfrüchte reserviert bleiben muß, vor allem für den
isbau.
2) Zeitschrift „Asien“, No.2 v. Nov. 1905, 8. 31. Die bebaute Fläche wird hier
für 1905 auf 4,5 Mill. ha angegeben, was noch nicht 12 Mill. acres ausmachen würde.
Die offizielle Angabe scheint aber doch mehr Vertrauen zu verdienen.
3) Oppel, Die Baumwolle, Kap. 15.
j 4) Sie beschäftigte 1902 in Fabriken ca. 180000 Arbeiter, im ganzen (mit Haus-
industrie) ca. 4 Mill. Arbeiter. Eckert, Handelsgeogr. II, 179.
Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIII). 44
690 Miszellen.
Großbritannien hat in dem letzten Jahrzehnt durch Vermehrung der
Verkehrsmittel, Anlage von Bewässerungsanlagen, Talsperren, Sammel-
becken, Kanäle, energische Maßregeln zur Vermehrung der Baumwoll-
kultur ergriffen, bezieht selbst aber heute sehr viel weniger indische
Baumwolle als früher, während der japanische Bedarf zugenommen hat !).
Aegypten ist das dritte Hauptland der Baumwollerzeugung. Für
die Baumwollkultur eignet sich nur das Niltal bis etwa an den Wende-
kreis und das Nildelta; das Delta umfaßt ®/,,, das Tal !/,, der gesamten
Anbaufläche. Diese selbst umfaßte 1900/01 nur 1,6 Mill. acres = ca.
6400 qkm, bildet aber 25 Proz. des überhaupt anbaufähigen Landes
(in Nordamerika 7 Proz... Die Anbaufläche Aegyptens verhält sich zu
der Ostindiens und der Vereinigten Staaten = 11 (Aegypten): 160 (Ost-
indien):211 (Vereinigte Staaten), die Maxima der bisher erzeugten
Baumwollmengen aber 1:11:16.
Zur Beurteilung der Intensität des Baumwollanbaues muß man in
Erwägung ziehen, daß das gesamte Kulturareal Aegyptens ca. 28000 qkm
beträgt, also etwa der bayerischen Pfalz gleichkommt. Dennoch über-
trifft Aegypten alle Länder mit Ausnahme von Ostindien und den Ver-
einigten Staaten an Ausfuhrmenge der Baumwolle.
Die ägyptische Baumwolle erfreut sich großer Beliebtheit, die sie
ihren ausgezeichneten Eigenschaften verdankt.
Eigene Industrie besitzt Aegypten nicht (nur große Dampfbaum-
wollpressen, vor allem in Alexandria). Für die ganze Fläche ist künst-
liche Bewässerung notwendig, die in hervorragender Weise durchgeführt
ist; die Frage einer Ausdehnung der Baumwollkultur hängt allein
davon ab, ob es möglich sein wird, weitere Landstrecken durch ver-
mehrte künstliche Bewässerung in Kultur zu nehmen ?).
Die genannten 3 Länder erzeugten bisher und erzeugen heute noch
— wie später näher gezeigt werden wird — beinahe den ganzen Welt-
bedarf. An der Ausfuhr wirkten noch einige Länder mit, aber nur mit
geringfügigen Zahlen, vor allem Brasilien, Peru, Mexiko, das asiatische
Rußland, die asiatische Türkei, Persien, China und Japan.
Nur China allein produziert so erhebliche Mengen, daß es neuer-
dings Aegypten übertroffen hat. Aber die Baumwolle ist an Qualität
minderwertig und das meiste dient dem Eigenbedarf; nur wenige
Bezirke exportieren, und zwar hauptsächlich nach Japan. Der Baum-
wollanbau in China ist ganz eigenartig; es herrscht ausschließlich Klein-
betrieb in der allerprimitivsten Form. (Hackbau, die Kultur der Indo-
germanen vor der Wanderung.)
Die übrigen Baumwolle erzeugenden Länder sind bis jetzt noch
nicht für den Welthandel in Frage gekommen.
4
Es ist nunmehr zu fragen: Wie hoch beläuft sich die Gesamt-
baumwollproduktion der Welt und wie sind die einzelnen Kulturgebiete
1) S. die Tabelle auf S. 25 des Report to the Board of Trade by W. Dunstan 190%.
2) Ueber die Bewässerung Aegyptens s. Dr. Felix Lampe in der Zeitschr. der
Gesellsch. für Erdkunde zu Berlin, No. 4/5, 1902.
Miszellen. 691
an ihr beteiligt? Die Frage ist die Grundlage für das Problem der
Versorgung der Baumwollindustrie mit Rohmaterial, der Kern der so-
genannten Baumwollfrage.
Ganz genau ist der Umfang der Produktion leider nicht anzugeben,
da man für eine Reihe von Ländern auf Schätzung angewiesen ist;
immerhin ist die Situation genügend klar.
Die Gesamtbaumwollproduktion der Welt betrug im Jahre 1903
in Ballen (amer., zu 500 engl. Pf.) rund 15,6 Mill, wozu noch 1,6 Mill.
nach Schätzung kommen (China und Korea).
An diesen Zahlen sind die Hauptländer wie folgt beteiligt):
Mill. Ballen Proz. der Gesamt-
produktion (1902)
Vereinigte Staaten 10,6 63
Ostindien 27 15
Aegypten 1,2 8 É
14,5 86
Asiatisches Rußland 0,4
Brasilien 0,3
; o
Mexiko 0,1 4
Japan 0,1 i
Asiatische Türkei 0,08 4
Persien `- 0,03
Peru 0,01
Verschiedene Länder 0,01
15,53 100
Dazu nach Schätzung
China 1,2
Korea 0,2
17,13
Also es produzierten, wenn wir die ganz unkontrollierbaren
Schätzungen fortlassen:
die Union ıı Mill. Ballen
Ostindien Br 5 „
Acgypten I
Alle übrigen Länder nur I ,„ o
16 Mill. Ballen
Die Vereinigten Staaten produzieren also 3/, der gesamten Baum-
wollmenge, das an zweiter Stelle folgende Ostindien von dem übrigen
Viertel etwa die Hälfte, und an dem letzten Achtel beteiligten sich
alle übrigen Länder einschließlich Aegypten, welches allein die Hälfte
hervorbringt. Die vielen Länder mit zum Teil gewaltiger Ausdehnung,
welche sich in den kleinen Rest von !/,, teilen, haben also für den
Weltbedarf bis heute eine ganz geringe Rolle gespielt. Es besteht also
bei diesen Ländern ein gewaltiges Mißverhältnis zwischen ihrer Größe
und ihrer Baumwollerzeugung.
Die Vereinigten Staaten haben, obwohl sie nur einen geringen
Teil ihres Baumwollbodens ausgenutzt haben, dennoch nahezu eine
Monopolstellung innegehabt. Das zeigte sich besonders deutlich, als
1) Nach v. Schkopp a. a. O., S. 11.
44*
692 Miszellen.
1900 die Baumwollproduktion in den Vereinigten Staaten infolge schlechter
Ernten um 2,5 Mill. Ballen niedriger ausgefallen war, während die
Menge der anderen Länder ungefähr gleich geblieben war: eine schwere
Kalamität der europäischen Industrie war die Folge, denn der Bedarf
an Baumwolle war sogar noch gestiegen. Europa mußte am meisten ge-
troffen werden, da es mehr als die Hälfte der ganzen Baumwollmenge
verbraucht, nämlich 8,1 Mill. Ballen (1902).
Das Jahr 1900 war zwar ein besonders ungünstiges; aufgehört
hat aber die Kalamität seitdem keineswegs; denn der Konsum an
Baumwolle ist beständig angewachsen, die Produktion an Baumwolle
aber so gut wie gleichgeblieben ; seit 1899 ist sie immer hinter der Nach-
frage zurückgeblieben. Mit dem Jahre 1899/1900 ist ein Stillstand
in der Welterzeugung der Baumwolle eingetreten, der durch den Still-
stand des Anbaues in den Vereinigten Staaten verursacht wurde und
den die übrigen Baumwollländer nicht auszugleichen im stande waren:
ob sie es in Zukunft können werden, ist ein wesentlicher Teil der
Baumwollfrage. Der Vergleich zwischen Ertrag und Verbrauch seit
1899 ergibt folgendes):
1899 1900 1901 1902
Ernte 14,7 12,2 13,6 14,1
Verbrauch 14,0 13,7 13,4 14,3
Feblbetrag : — 15 — 0,2 Mill. Ballen
Der Stillstand in der Baumwollerzeugung äußerte sich um so wirk-
samer, als das Anwachsen der Produktion bis 1899 in einem sehr
schnellen Tempo erfolgt ist, nämlich von 3 auf 16 Mill. Ballen von der
Mitte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Der Fehlbetrag konnte da-
mals aus dem Weltvorrat gedeckt werden, der aus frühern Jahren,
in denen der Ertrag den Konsum überwogen hatte, vorhanden war.
Der Weltvorrat ist aber von 1899 bis 1902 allmählich von 3,2 auf
2,4 Mill. Ballen zurückgegangen und muß aufgezehrt werden, wenn die
Produktion andauernd hinter dem Verbrauch zurückbleibt.
Es herrscht also absoluter Baumwollmangel, der von den Baum-
wollspinnern hart empfunden wird?) Die Wirkung dieses Mangels
wird noch erheblich durch den Umstand verstärkt, daß in dem Haupt-
gebiete, den Vereinigten Staaten, der Eigenverbrauch durch rapide Ent-
wicklung der Baumwollindustrie bedeutend vermehrt ist. Die Union ver-
braucht (1903) fast 40 Proz. ihrer eigenen Ernte Die Zahl der
Spindeln stieg von 14,6 (1890) auf 18,3 (1899) und 22,2 (1903) Mill
Spindeln. Dabei zeigt sich ein beständig wachsender Anteil an der
Spindelzahl bei den Baumwollstaaten selbst: 1890 nur 1,6, 1899:4,
1903 schon 7 Mill. Spindeln. 1904/5 führten die Vereinigten Staaten
bereits für 55 Mill. Doll. Baumwollwaren aus.
Dieselbe Erscheinung zeigt sich in dem zweiten Hauptbaumwoll-
lande, in Ostindien. Auch hier hat die Industrie rasch zugenommen:
1) Nach v. Schkopp, a. a. O., S. 12.
2) Vgl. die Rede des Herrn Atkins, Schriftführer der Cotton Growing Association
auf dem Internat. Baumwollkongreß in Zürich, Mai 1904. Offizieller Bericht S. 15.
Miszellen. 693
1890: 2,9, 1900:4,7, 1903 mehr als 5 Mill. Spindeln. Im Jahre 1903
betrug der Eigenverbrauch 1,4 Mill. Ballen, d. h. ca. 50 Proz.
Die beständig drohende Gefahr einer Baumwollkrisis mußte um so
gefährlicher erscheinen, als die natürliche Monopolstellung der Union
noch verstärkt wurde durch die Bemühungen, den Markt zu beherrschen.
Eine andauernde Preissteigerung und beständige Preisschwankungen
waren die Folge.
Während in der Zeit des schnellen Anwachsens der Baumwollen-
erzeugung und des Ueberwiegens des Angebots an Baumwolle über die
Nachfrage der Preis beständig gesunken war, und zwar pro engl.
Pfund middling von 9 d. (1870/74) auf 4 d. (1895/99), trat natürlich
mit dem Stillstand der Produktion eine Preissteigerung ein: von 3,8 d.
(1899) auf 5,5 (1900/08) auf 7—8 d. (1904/05), also fast wieder auf die
Höhe von 1870/74. Erst der Zusammenbruch der Haussespekulation
hat die Preise wieder ein wenig fallen lassen, sie sind aber immer
noch sehr hoch geblieben }).
Fast noch schlimmer war das heftige Schwanken der Preise. So
waren die Differenzen zwischen den höchsten und niedrigsten Preisen
der Jahre 1903, 1904 und 1905 folgende: 1903:45—71, 1904:35—85,
1905:35—62 Pfennige pro Pfund (deutsch). Das Jahr 1904 weist
für diese dreijährige Periode zugleich den höchsten und niedrigsten
Preis und eine Differenz von 50 Pfg. auf. In demselben Jahre schwanken
die Preise innerhalb weniger Tage beträchtlich.
Sie betrugen in Bremen in Pfennigen ?):
15. Januar = 70 13. Februar = 72
1. Februar = 83°), I6. =,
3 eh DO > ee
4. j = 78], 1. März = 76°;
5. » a 75", 5. » = 78
8 m = 66
Deutschland ist heute noch zu 8/, von Amerika (U. S.) abhängig;
1901 betrug der Anteil der Vereinigten Staaten 77 Proz. (in England
sogar 84). Von 1891 bis 1900 stieg der Import amerikanischer Baum-
wolle nach Deutschland von ca. 500 auf ca. 800 Mill. Pfund.
Unsere Industrie mußte also — ebenso wie diejenige Englands —
unter jeder Preiserhöhung und Preisschwankung leiden, um so mehr,
als ein Ersatz der amerikanischen Baumwolle durch andere ausge-
schlossen war, weil diese Länder nicht genug produzierten. Welche
Wirkung die Preissteigerung des Rohmaterials hatte, zeigt das Jahr
1900: Im Jahre 1899 zahlte Deutschland für seinen Bedarf an Rohbaum-
wolle 228 Mill. M., 1900 für ein sogar geringeres Quantum 318 Mill. M.
Die Situation für die Baumwollindustrie ist also heute folgende:
1. Es wird nicht mehr soviel Banmwolle produziert als man braucht.
2, Das, was produziert wird, kommt zu fast 70 Proz. aus Amerika
(U. S.) Daraus ergibt sich eine wirtschaftliche Abhängigkeit von
1) Vgl. Helfferich a. a. O. S. 615.
2) Plutus v. 19. März 1904.
694 Miszellen.
diesem Produktionsgebiete, die auch in der Preisbestimmung ihren Aus-
druck findet.
3, Der Baumwollmangel wird dadurch noch fühlbarer gemacht, daß
die Länder, welche bisher die Hauptlieferanten der Baumwolle gewesen
sind und vorläufig noch sind, dazu übergegangen sind, selbst Baumwolle
zu verarbeiten.
Das hat zur Folge:
a, daß diese Länder nunmehr einen erheblichen Teil der bei ihnen
erzeugten Baumwolle selbst verbrauchen, ohne daß die Menge der her-
vorgebrachten Baumwolle vermehrt wurde, und
b, daß diese Länder zum Teil als Absatzmärkte für die europäische
Industrie verloren gehen. Die Vereinigten Staaten exportieren außerdem
immer mehr Baumwollwaren selbst und treten als Konkurrenten auf
dem Weltmarkt auf, wenn auch zunächst hauptsächlich nur für gröbere
Massenartikel.
Das ist eine Seite der Baumwollfrage.
Die andere ist ebenfalls eine Folge der Konzentration der Baun-
wollerzeugung auf einige wenige Gebiete, ja in der Hauptsache, wie
wir sehen, auf ein einziges Gebiet, die Unionsstaaten. Es sind die
Ernteschwankungen. Solange die Baumwollproduktion auf ein verhält-
nismälig enges Gebiet eingeschränkt bleibt, muß jede Störung der Ernte
durch Schädlinge und Milernten den Weltbedarf aufs äußerste alterieren.
Es kann ja gar kein Ausgleich stattfinden. Eine Mißernte größeren Um-
fangs in den Unionsstaaten bedeutet heute sogleich eine Störung der
ganzen Ernte Der Ausfall der Ernte infolge des amerikanischen
Bürgerkrieges bedeutete eine Baumwollhungersnot in England.
Ganz anders würde die Situation sein, wenn neben den Vereins-
staaten noch andere große Gebiete Baumwolle erzeugten und zwar in
solchen Mengen, daß die Vereinigten Staaten nicht mehr so ausschliel-
lich dominierten. Dann bedeutete eine Mißernte an einer Stelle noch
keineswegs eine Mißernte im ganzen, denn es könnte ein Ausgleich
stattfinden. Innerhalb des Baumwollgürtels der Welt liegen die Gebiete
so zerstreut und sind die klimatischen Unterschiede so erheblich, das
allgemeine Erntestörungen ausgeschlossen sind.
Welternten sind stets stabiler als territoriale, territoriale stabiler als
lokale t): „die Gesamternten der Weltwirtschaft variieren weniger als
die Ernten der einzelnen Volkswirtschaften“.
Seltsamerweise ist diese Seite der Baumwollfrage bisher in der
Literatur niemals, oder doch nicht mit genügender Schärfe betont worden;
man sah immer nur die andere Seite der Frage.
Und der Gedanke, den Baumwollanbau über die ganze Erde zu
verbreiten, die vielen gut geeigneten Gebiete auszunützen, ist keines-
wegs eine Utopie. Die Vereinigungen zur Förderung des Baumwollbaus,
von denen später die Rede sein wird, sind auf dem richtigen Wege.
Sie gehen zwar nicht einheitlich vor, aber alle haben dieselbe Idee,
1) Vgl. H. Dietzel, Weltwirtschaft und Volkswirtschaft. Es gilt hier genau das-
selbe, was Dietzel über die Getreidearten sagt. S. besonders S. 25, 26.
Miszellen. 695
welche auch von der Fabrikantenvereinigung geteilt wird; und wenn
die Bestrebungen, die noch ganz jung sind, ihrem Ziele merklich näher
gekommen sein werden, dann wird das Resultat das sein, daß in
zahlreichen Gegenden der Welt große Baumwollgebiete vorhanden sein
werden, welche auch nach der Menge der erzeugten Baumwolle wohl
im stande sein werden, Mißernten an einer Stelle an der andern auszu-
gleichen, speziell in ihrer Gesamtheit gegenüber den Unionsstaaten ein
wirksames Gegengewicht zu bilden.
Nur so kann es geschehen; nur die Gesamtheit aller übrigen Baum-
wolländer vermag — wenigstens in absehbarer Zeit — der Union
gegenüber eine Wirkung auszuüben. Konzentration des Baumwollan-
baues an einer andern Stelle der Welt mit genügendem Baumwollareal,
so in Englisch-Westafrika, ein Gedanke, der auch vertreten wird, würde
erst — wenn überhaupt — in Jahrzehnten möglich sein. Es würden
in diesem Falle wieder die Schäden einer lokalen Konzentration betreffs
der Ernten auftreten, wenn sich auch immerhin schon eine Verminde-
rung des Risikos zeigen würde. Aber in dieser Lösung der Baum-
wollfrage wäre ja noch nicht die Beseitigung des schon jetzt bestehen-
den absoluten Baumwollmangels enthalten; denn eine solche Massen-
kultur erfordert Menschenalter, schon wegen der Erziehung der Einge-
bornen. Wohl aber löst die allgemeine Ausbreitung des Baumwoll-
anbaues diese Frage; denn mit jedem Schritt vorwärts wird auch dem
absoluten Mangel abgeholfen; das kann aber nicht geschehen auf dem
Wege des Großbetriebes, der Großplantagen, sondern auf dem Wege der
Kleinkultur, der Eingebornenkultur.
Dieses Ziel wird heute von den Baumwollbau-Vereinigungen als
das richtige erkannt.
5
Die angedeutete Lösung der Frage des Ausgleichs der Ernte-
schwankungen bedeutet zugleich die Lösung der „Baumwollfrage“
überhaupt.
Auf zwei verschiedenen Wegen ist man an die Lösung herange-
gangen:
1) durch Maßregeln von seiten der zunächst gefährdeten Baumwoll-
industriellen,
2) durch planmäßiges Vorgehen in der Richtung einer Ausbreitung
des Baumwollbaues.
In der letztgenannten Bestrebung führen beide Wege zusammen.
1) Die Großindustriellen der Baumwollbranche von 9 Staaten Europas
vereinigten sich, zum ersten Male 1904 in Zürich, um vor allem Maß-
regeln gegen die amerikanische Spekulation zu treffen ; sie folgten damit
einer Anregung englischer Spinner und Industrieller, welche 1903 in
Manchester zusammengekommen waren!). Ihre Bestrebungen gipfelten
zunächst in den beiden Zielen: 1) Einwirkung auf den Konsum durch
1) Offiz. Bericht des Intern. Kongresses 1904. Ferner H. E. Thomann: Die Baum-
wollspekulation und ihre Bekämpfung. (Publikationen der Züricher Handelskammer.)
Zürich 1905.
696 Miszellen.
internationales Zusammenwirken, 2) engere Beziehungen zwischen Fabri-
kanten und Baumwollbauern. Beide Punkte sind mehr Fragen der In-
dustrie, können daher hier übergangen werden. Das dritte Ziel der
Spinnervereinigung aber, Ausbreitung der Baumwollkultur durch Erschlie-
Bung neuer Gebiete, soll auch auf dem zweiten Wege erreicht werden.
Letzterem wende ich mich nunmehr zu.
2) Wenn es sich allein um die Erzeugung der erforderlichen Baum-
wollmenge handelte (also ohne Rücksicht auf die unerwünschte
Monopolstellung Amerikas), so läge zunächst die Frage nahe:
Können denn nicht die alten Baumwollländer mehr produzieren’?
Vor allem für Nordamerika, das doch nur einen so geringen Bruchteil
seines verfügbaren Areals verwendet, läge die Frage am nächsten. Wir
sahen aber schon, welche Hindernisse einer wesentlichen Erweiterung
des Anbaues entgegenstehen; sie sind nun nicht so beschaffen, daß sie
sich ohne weiteres und bald beseitigen ließen.
Ich glaube, daß die Frage für die Union verneint werden muß. Es
wäre ja übrigens auch eine keineswegs wünschenswerte Lösung.
Auch Ostindien scheint für eine Produktionsausdehnung nicht in
Betracht zu kommen aus den bereits angeführten Gründen. Auch hier
wäre eine solche für den europäischen Bedarf nicht von Interesse, und
zwar hier aus Gründen der Qualität.
In Aegypten endlich ist man jetzt so ziemlich an die Grenze des
Möglichen gelangt. Man hofft ja freilich, später einmal die Bewässerungs-
anlagen so weit auszudehnen, daß eine bedeutende Vergrößerung der
Ernte eintreten wird, man hofft sogar, noch 200000 qkm Wüstenboden
durch geeignete Vorkehrungen in Anbau nehmen zu können. Aber
wenn das Ziel überhaupt je erreicht wird, so setzt es solche Riesen-
arbeiten voraus, daß noch für lange Zeit mit den gegenwärtigen Ernte-
mengen gerechnet werden mul.
Was die übrigen Gebiete anbetrifft, die bisher schon an der Baum-
wollproduktion beteiligt waren, so handelt es sich zum Teil um sehr
ausdehnungsfähige Gebiete, wie China, Mexiko, Peru, Brasilien, Persien,
Kleinasien. Bisher war ihre Produktion für den Weltbedarf verschwindend
gering, sie wurde zum Teil im eigenen Lande verbraucht. Ueberdies
sind in allen diesen die Verkehrs- und allgemeinen Kulturverhältnisse
noch so rückständig, daß eine Aenderung der Anbauverhältnisse der
Baumwolle nur sehr allmählich eintreten kann. Das Schlimme ist hier,
daß man ganz auf die Initiative der Völker selbst angewiesen ist; daher
dürfen die Erwartungen nicht allzu hoch gespannt werden.
Immerhin ist hier ein Weg der Abhilfe; namentlich China und
Brasilien sind im stande, noch bedeutende Baumwollmengen hervor-
zubringen.
Aber auch wenn wir annehmen wollen, daß diese Länder gewillt
sind, ihre Produktion so zu fördern, daß eine volle Ausnutzung der ge-
eigneten Flächen stattfände, so würde das doch noch keinesfalls genügen.
Dagegen stehen noch ungeheure Gebiete zur Verfügung, die, vor-
trefflich für die Baumwolikultur geeignet, noch so gut wie gar nicht aus-
genutzt sind. Hier bietet sich ein zweiter Weg; er ist aussichtsvoller;
Miszellen. 697
denn die Ausbreitung der Baumwollkultur über die noch ungenützten
Gebiete liegt in der Hand der europäischen Kulturstaaten. Der Erfolg
ist hier nicht ungewiß, wie bei den oben genannten Ländern, sondern er
kann planmäßig herbeigeführt werden. Es handelt sich hier um Kolonial-
gebiete und um eine direkte Förderung des Baumwollanbaues durch
wirtschaftliche Unternehmungen in Deutschland, England und Frank-
reich, denen in kleinem Maßstabe die Niederlande, Belgien, Italien und
Portugal zu folgen im Begriff sind. Die Initiative in diesen Staaten
ruht in den Händen Privater; der Staat fördert die Bestrebungen nur
durch pekuniäre Beihilfe und Privilegien. Anders ging man in Rußland
vor; hier war es allein die Regierung, welche in vorzüglicher Weise
unter freilich weit günstigeren Bedingungen dem Problem der Baum-
wollgewinnung nahe getreten ist.
6.
Es soll nunmehr auf die planmäßige Förderung des Baumwollbaues
im einzelnen eingegangen werden.
Rußland ist mit seinen Bestrebungen, die Baumwollfrage zu lösen,
vorbildlich geworden. Hier war es die Regierung, welche in muster-
hafter Weise die Gebiete Transkaukasiens, vor allem aber die seit den 70er
Jahren eroberten transkaspischen Länder für die Baumwollgewinnung
in Angriff genommen hat. In wenigen Jahren schon hatte man die
Kultur so gefördert, daß etwa ein Drittel des Bedarfs der russischen
Baumwollindustrie hier, also im eigenen Koloniallande, erzeugt werden
konnte. Dieses Resultat war nur dadurch möglich, daß
1) die russische Regierung ungeheure Geldmittel aufwandte, insbe-
sondere für mustergültige künstliche Bewässerung,
2) daß sie in den Sarten und Tuchmessen eine Bevölkerung von
Intelligenz und Betriebsamkeit vorfand,
3) und daß sie den Eisenbahnbau gewaltig förderte, wodurch es
erst möglich war, die erzeugte Baumwolle in den Handel zu bringen.
Man ging vor auf dem Wege der Eigenkultur. Jeder Einwohner,
welcher Baumwolle bauen wollte, erhielt einen Vorschuß von 100 Rubeln
und einen Sack amerikanischen Baumwollensamens; nach 2 Jahren hatte
er das Gelddarlehn zurückzuzahlen. Die Einwohner waren sehr bereit,
die neue Kultur zu pflegen, denn sie erhöhte den Wert ihres Landes
um das Dreifache. à
Erschwerend wirkt in Zentralasien der Umstand, daß überall künst-
liche Bewässerung notwendig ist, welche sehr bedeutende Kapitalanlagen
beansprucht. Daher konnten Kleinkulturen nur deshalb Baumwolle
pflanzen, weil die Regierung mit Staatsmitteln für die Bewässerungsan-
lagen sorgte. In den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts aber
fanden sich auch einige Großkapitalisten und Aktiengesellschaften, welche
Großkulturen anlegten !). Die Frage der Kapitalbeschaffung ist zum
Teil das größte Hindernis für eine wesentliche Ausbreitung des Baum-
1) Franz v. Schwarz, Turkestan. Freiburg i. Br., 1900, S. 357.
698 Miszellen.
wollanbaues !); aber die Schwierigkeit wird nicht unüberwindlich sein,
da bei der steigenden Prosperität der Kultur zweifellos ausländisches
Kapital wird herangezogen werden können.
1897 waren nur ca. 3 Proz. des Gesamtareals (d. h. des für Baun-
wolle geeigneten) mit Baumwolle bepflanzt 2); aber die Anbaufläche ver-
größert sich parallel der Erweiterung der künstlichen Bewässerung.
Denn die Baumwollkultur ist hier weit lohnender als die Getreidekultur,
die hier — des Klimas wegen — keine günstigen Aussichten hat 3).
Von Baumwollsorten wird zwar auch eine einheimische Art ge-
pflanzt; sie ist aber für gewisse Industrieerzeugnisse nicht geeignet.
Der eigentliche Aufschwung der Kultur begann erst mit der Einführung
amerikanischer Sorten, die vorzüglich gedeihen 4) (seit Anfang der 80er
Jahre). Fast die ganze Ernte wird nach Rußland ausgeführt, fast aus-
schließlich vermittelst der transkaspischen Bahn, deren Baumwolltrans-
portziffer sich von 1889 bis 1893 mehr als verdoppelt hat. (1889: 26,
1893: 59 Mill. kg) 5).
Die übertriebenen Erwartungen aber, welche man gewöhnlich von
der Ausdehnungsmöglichkeit der russischen Baumwollkulturen hat, müssen
doch eingeschränkt werden.
Die Schwierigkeit der Kapitalbeschaffung ist ein Hiudernis, dazu
kommt eine weitere Kalamität, der teure Preis der Baumwolle, verur-
sacht durch die unmäßig hohen Versicherungsprämien auf dem Wege
Kokan—Nischnij-Nowgorod und durch die außerordentliche Langsamkeit
des Kisenbahntransports 6, Durch weitere umfangreiche Bahnbauten,
die man geplant hat, wird sich wohl eine Besserung erzielen lassen;
aber die Verwirklichung der Pläne wird durch die momentanen Schwierig-
keiten im russischen Reiche wohl noch in weite Ferne hinausgeschoben
werden. Damit aber wird auch der Wunsch, daß einstmals ganz Trans-
1) Paul Rohrbach, In Turan und Armenien. Berlin 1898, S. 147.
2) E. Davidson, Die wirtschaftliche Bedeutung Turkestans. Conrads Jahrb., 1897,
S. 270 ff.
3) Ebenda S. 272. Ferner Krahmer, Rußland in Mittelasien. Leipzig 1898, S. 112
(a. u. d. T.: Rußland in Asien, II).
4) Insbesondere: Upland-Baumwolle,
Anwachsen der Baumwollkultur: Ertrag Wert
1884 ca. 500 ha in Millionen.
1885 ER 1200 ,, kg Rubel
1887 » 16000 „,
1888 » 74000 „(!)
1889 » 94 000 ” 20 7
1890 „ 103000 „ 26 10
1891 „ 140000 ,„ 33 13
1892 „ 152000 „ 36 12
1893 » 149000 „, 36 15
(Nach Krahmer a. a. O., S. 113. Ich gebe die Zahlen abgerundet wieder.)
In Samarkand soll die Anbaufläche 1903—4 um ca. 40 Proz. zugenommen haben.
Zeitschr. Asien, No. 2 v. Nov. 1905, 8. 31.
5) Krahmer a. a. O., S. 115.
6) Krahmer a. a. O., 8. 116. Dauer des Transports: Linie Kokan—Moskau 90 Tage (!);
dagegen Amerika—Moskau 30—40 Tage. Man pflegt in der Literatur diese Schatten-
seite gern zu übersehen. n
Miszellen. 699
kaspien für den Baumwollanbau ausschließlich wird in Benutzung ge-
nommen werden können, während die Getreideversorgung des Landes
von Sibirien her erfolgen soll, noch für lange Zeit der Erfüllung harren
müssen. Ob der Gedanke überhaupt realisierbar ist, ist mir übrigens
recht fraglich; bei einer umfangreichen Mißernte in Baumwolle könnten
die Baumwollbauern Russisch - Asiens doch in eine recht mißliche Lage
kommen; der Boden ließe sich dann nicht sogleich für andere Erzeug-
nisse nutzbar machen. Es geht in Gegenden mit zurückstehender All-
gemeinkultur und immerhin doch noch ungünstigen Verkehrsverhältnissen
nicht an, die landbauende Bevölkerung — und das ist fast die gesamte
— auf die Kultur einer einzigen Pflanze zu setzen. Die Bevölkerung
hat übrigens auch keine Veranlassung dazu, sich einer Kultur allein zu
widmen; denn auch andere Kulturen sind sehr lohnend, namentlich der
Weinbau, der immer mehr zunimmt.
Die hohen Kosten des Bahntransports hat die Regierung allerdings
durch Einführung direkter Tarife nach dem europäischen Rußland wesent-
lich herabgemindert; aber die Baumwolle ist immer noch teurer als die
amerikanische (die man natürlich durch Zölle fernhalten muß), und der
russischen Industrie kommt der Rohstoff vorläufig noch teurer zu stehen
als der westeuropäischen.
Ich möchte noch erwähnen, daß auch in Turkestan von russischen
Baumwollspinnereien Versuche gemacht sind, auf selbsterworbenen
Territorien Baumwolle anzupflanzen. Die Versuche sind aber milglückt
und man hat sie fallen gelassen, um nunmehr die Baumwolle von den
einheimischen Bauern zu kaufen 1).
Zu erwähnen ist noch, daß die Rentabilität des Baumwollbaues hier
mehr als anderswo dadurch gesteigert wird, daß eine umfangreiche
Nebenverwendung des Baumwollsamens stattfindet und zwar nicht nur zu
Oel — wie es auch sonst geschieht — sondern vor allem als Viehfutter,
dann auch als Düngemittel und als Brennmaterial.
Wenn auch schon früher hier und da Anbauversuche mit der
Baumwolle gemacht worden sind, so ging man doch nirgends in plan-
mäßiger Weise und in großem Mafßstabe vor. Das Verfahren der russi-
schen Regierung in Zentralasien ist in dieser Hinsicht vorbildlich ge-
wesen. Der Gedanke, den sie in den achtziger Jahren zur Ausführung
brachte, wurde Anfang des neuen Jahrhunderts auch in den westeuro-
päischen Ländern mit reger Baumwollindustrie aufgenommen: Erweite-
rung der Baumwollkulturgebiete.
Hier ist Deutschland vorangegangen; England, Frankreich, Italien,
Portugal, Holland, Belgien und Spanien folgten.
In Spanien ist es, wie in Rußland, die Regierung, welche die Ini-
tiative ergriffen hat, Sie beabsichtigt die Wiederaufnahme des Baum-
wollbaues im eigenen Lande und ermuntert durch Prämien, Steuerfrei-
heit u. dgl. die Einwohner, sich der neuen Kultur zuzuwenden. Aber,
ganz abgesehen von dem spanischen Volkscharakter, wird ein namhafter
Erfolg nicht zu erreichen sein, da das zur Verfügung stehende Gebiet
1) Krahmer a. a. O., S. 117.
700 Miszellen.
(im äußersten Süden und Südosten) zu klein ist und vor allem für andere
ebenso und besser lohnende Kulturen verwandt werden kann.
Für die übrigen Länder kommen nur die Kolonien in Betracht.
Italien wäre zwar ebenfalls in der Lage, in Sizilien Baumwolle zu pflanzen,
hat sich aber ebenfalls dem Kolonialgebiete zugewandt, da der früher
in Sizilien betriebene Baumwollbau andern Kulturen hat Platz machen
müssen. Die Bestrebungen, die sich auf die Erschließung neuer Anbau-
gebiete richteten, sind in den erwähnten Staaten von privater Seite aus-
gegangen; die Regierungen beteiligen sich nur insofern, als sie mehr
oder weniger fördernd zur Seite stehen.
Es haben sich Vereinigungen gebildet, welche zwar in nationalem
Sinne wirken, sich aber gegenseitig durch Austausch ihrer Erfahrungen
u. dgl. unterstützen und vor allem ein gemeinsames Endziel haben:
möglichste Ausdehnung des Baumwollbaues in allen zur Verfügung
stehenden und geeigneten Gebieten der Erde und damit möglichste Un-
abhängigkeit von der Monopolstellung der nordamerikanischen Südstaaten.
In diesen Zielen treffen sie zusammen mit einem Teile des Pro-
gramms der oben erwähnten Vereinigung der Baumwollindustriellen.
Alle diese Vereinigungen haben stets nachdrücklich zum Ausdruck
gebracht, daß, wenn auch die Wege der einzelnen Nationen verschiedene
seien, dennoch große gemeinsame Interessen zu einem Vorgehen in der-
selben Richtung nötigten, so daß man sagen kann, dab die Gesamt-
wirkung ihren Bestrebungen fast der einer europäischen internationalen
Koalition gleichkommt. „Es ist ein Irrtum“, sagte man sehr richtig,
„anzunehmen, daß jede Nation bloß die in ihren eigenen Kolonien ge-
wonnene Baumwolle kaufen werde. Der Baumwollmarkt ist ein univer-
seller und wird immer ein solcher bleiben. Jede Nation wird ihre Baum-
wolle da kaufen, wo sie am vorteilhaftesten erhältlich ist“!).
Die praktischen Baumwollkulturversuche in den Kolonien sind
im einzelnen in den periodischen Veröffentlichungen der Vereinigungen
sehr ausführlich dargestellt worden. Es kann daher von einer Be-
sprechung dieser hier um so eher abgesehen werden, als sie sich alle
noch im Anfangsstadium befinden und für die Frage der Versorgung
des Baumwollmarktes bisher noch keine praktische Bedeutung gewonnen
haben. Aber die Versuche sind doch schon so weit gediehen, daß sie
einen Schluß auf die Zukunftsaussichten zulassen. Es ist also die Frage
aufzuwerfen, ob in nicht allzuferner Zukunft die begonnenen Kultur-
bestrebungen einmal zu dem Ziele kommen werden, den Baumwollmarkt
erheblich zu versorgen und ein wirksames Gegengewicht gegen Amerika
zu bilden.
Für den Weltmarkt haben nur die Versuche Deutschlands, Englands
und Frankreichs Bedeutung. Nur diese drei Staaten haben große für
Baumwolle geeignete Landkomplexe. In ihnen nur ist man schon
zu Resultaten gekommen, die für die Zukunft viel erwarten lassen. Die
Versuche in Italien (Eryträa), Belgien (Kongostaat), den Niederlanden
1) Referat der Association Cotonni®re Coloniale v. 15. Mai 1904, verlesen von M
Berger auf dem ersten internat. Kongreß in Zürich 1904. S. offizieller Bericht S. 33 f.
Miszellen. 701
(in den asiatischen Kolonien) und Portugal (Angola) sind vorläufig noch
nicht weit gediehen, kommen daher in absehbarer Zeit gar nicht in
Betracht.
Aber schon, wenn Deutschland, England und Frankreich ihre Kolo-
nien in erreichbarem Maße zur Baumwollkultur ausnutzen, wird der
größte Schritt zur Lösung der Baumwollfrage geschehen sein. Das
kolonialwirtschaftliche Komitee zu Berlin, die Cotton Growing Association
in Manchester und die Association Cotonniere Coloniale zu Paris sind
die Urheber und Träger der Bestrebungen!).
Sie richten sich in erster Linie, wenn auch nicht ausschließlich, auf
Afrika. Hier vor allem sind Gebiete von genügender Größe vorhanden,
die auch sonst für die Erzeugung einer guten Baumwollsorte vorzüglich
geeignet sind. Aber erst wenn gewisse Vorbedingungen erfüllt sind,
werden sie für den Weltmarkt in Frage kommen. Es handelt sich bei
allen Baumwollkulturen, abgesehen von den geographischen Bedingungen,
immer um die Lösung von zwei großen Fragen: die Arbeiterfrage und
die Verkehrsfrage. Dazu tritt noch, im Zusammenhange mit beiden,
eine dritte, die Frage der Produktionskosten. Denn alle Bestrebungen
werden nur dann Erfolg haben, wenn die in den neu erschlossenen Ge-
bieten erzeugte Baumwolle nicht teurer ist als die des Weltmarktes und
wenn sie von einer für die Industrie nicht minder geeigneten Qualität
ist. Die Arbeiterfrage ist fast überall, auch in Afrika, eine Frage der
Erziehung der Eingeborenen zur Eigenkultur; für eine Europäer-Einwande-
rung in großem Stile eignen sich gerade die Kolonien, in denen die Baum-
wolle wächst, nicht. Von einer Plantagenwirtschaft unter Leitung von
Europäern, in großem Umfange aber hat man fast gänzlich abgesehen,
denn da, wo sie heute noch allein am Platze sein könnte, in Afrika, fehlt es
an Arbeitern; beider schwachen Bevölkerung — ca. 6 pro qkm — des Erdteils
herrscht fast überall Arbeitermangel, so daß man sich z. B. in Natal mit
indischen Kulis helfen muß. Mit der Eigenkultur aber hat man über-
all sehr gute Erfahrungen gemacht. Freilich, von der Möglichkeit, einst
ganz Europa von Afrika aus mit Baumwolle zu versorgen, — einem
Wort Lord Palmerstons zufolge — sind wir noch unendlich weit entfernt.
Erst dann werden die Eingeborenenkulturen erhebliche Mengen von
Baumwolle für den Markt produzieren können, wenn die Verkehrsver-
hältnisse andere geworden sind. Nirgends spielt gerade diese Frage
eine so bedeutende Rolle wie im schwarzen Erdteil. Deshalb sind die
drei Staaten bemüht, Eisenbahnen von der Küste nach dem Innern her-
zustellen; das aber, was bisher erreicht ist, genügt noch lange nicht für
eine wirksame wirtschaftliche Erschließung des Innern. Einmal sind die
gewaltigen Entfernungen ein großes Hindernis für die Verkehrsent-
wickelung des Kontinents; die Entfernung von Kapstadt zur Nilmündung
beträgt 7300 km, die Breite am Aequator 3800 km. Vom Wasser-
1) Aehnliche Vereinigungen bestehen in den anderen Staaten: Für Italien: Asso-
eiazione tra gli Industriali Cotonieri e Borsa Cotoni in Mailand; Niederlande: Ver-
eeniging ter ontwickkeling der Katoencultuur in de Nederl. Kolonieen in Hengelo;
Belgien (für den Kongostaat): Association Cotonnitre in Gent; Portugal: Associação
Industrial Portugueza in Lissabon.
702 Miszellen.
transport muß bei der Armut des Erdteils an schiffbaren Flüssen fast
ganz abgesehen worden ; nur der Nil, Niger und Sambesi kommen strecken-
weise für eine Dampferverbindung in Betracht. So ist man einstweilen
immer noch in der Hauptsache auf die landesüblichen Transportwege
angewiesen: Karawanenstraßen im Norden, Trägerpfade in der Mitte
und Karrenwege im Süden. Immerhin aber ist heute der Eisenbahn-
bau in Afrika schon so weit gefördert, daß man von einem beginnenden
Einfluß desselben auf die Entwickelung des Innern zu sprechen be-
rechtigt ist 1).
Die Erträge an Baumwolle in den neu in Kultur genommenen Ge-
bieten sind bis jetzt noch ganz minimal im Vergleich zur Welternte.
Aber sie sind in den wenigen Jahren beständig angewachsen und die
Qualität der in Afrika wachsenden Baumwolle ist gut. Die Erwartun-
gen, die man gerechterweise an die Bestrebungen knüpfen konnte, sind
durchaus in Erfüllung gegangen. Daher hegen sowohl die Kulturver-
einigungen als auch die Spinnervereinigung große Hoffnungen für die
Zukunft und das durchaus mit Recht. Verfehlt aber ist es, übertriebene
Erwartungen an das schnelle Anwachsen der Kolonialkulturen zu knüpfen;
denn noch sehr lange Zeit wird es dauern, bis die geernteten Mengen
ein bemerkenswertes Plus auf dem Weltmarkt ausmachen, und das Ziel,
Amerika entbehrlich zu machen, ist überhaupt noch gar nicht abzusehen.
Gleichwohl bin auch ich der Ansicht, daß die Baumwollfrage auf
dem beschrittenen Wege gelöst werden kann. Aber die Baumwollfrage
kann ihre Lösung nur von der Zukunft erwarten. Die Lösung der
Baumwollfrage ist stets zu optimistisch dargestellt worden. Die bloßen
Berechnungen über die Anbaumöglichkeiten und möglichen
Erträge führen gänzlich irre. Wenn die 30 Mill. acres in Englisch-
Westafrika einmal bebaut werden können, wie es jetzt in Amerika ge-
schielit, so werden sie vielleicht einmal die 10 Mill. Ballen ergeben, die
man errechnet hat?); aber wann dieses Ziel einmal der Verwirklichung
entgegengeführt werden kann, ist noch gar nicht abzusehen. Mit Be-
rechnungen in dieser Art ist daher nichts anzufangen. Selbst wenn
man die notwendigen Verkehrswege gebaut haben wird, wird das ganze
tropische Afrika bei der geringen Leistungsfähigkeit der Negerkultur
(Hackbau) nur ca. 600000 Ballen produzieren 3). Bei intensiver Kultur
freilich würde sich das 25-fache erzielen lassen, also 15 Mill. Ballen.
Mit dieser Aussicht kann aber noch gar nicht gerechnet werden; denn
es gehören große Zeitperioden dazu, um ein Volk zu einer höheren
Wirtschaftsftorm zu erziehen. Man wird also einstweilen noch recht
1) Folgender Vergleich zeigt, wie bedeutend die Transportkosten durch Eisenbahn-
bau herabgemindert werden: Auf der Bahn Swakopmund— Windhoek (382 km) würde
der Transport einer Gewichtstonne kosten: (nach dem Tarif der preußischen Staatsbahn
42 M.), nach dem dortigen Eisenbahntarif 114 M., mit Ochsenwagen 335—435 M., mit
ostafrikanischen Trägern ca. 870 M.
2) J. Arthur Hutton, The work of the British Cotton Growing Association. Man-
chester 1904.
3) Nach Prof. Warburg, Vortrag auf dem Kolonialkongreß in Berlin, 5. Okt. 1905.
Der Hackbau ist der Ackerbau der Germanen zur Zeit der prähistorischen Wanderung
gewesen.
Miszellen. 703
lange mit der bisherigen Superiorität Amerikas zu rechnen haben. Der
Teil der Baumwollfrage, welcher die Unschädlichmachung des ameri-
kanischen Uebergewichts erstrebt, ist also in absehbarer Zeit noch nicht
zu verwirklichen; Vermutungen über die Möglichkeit eines Erfolges in
dieser Richtung kann man heute noch gar nicht aussprechen. Wohl
aber ist der andere Teil der Baumwollfrage in der Gegenwart schon
lösbar, d. i. die Frage der Beseitigung des absoluten Baumwollmangels.
Ueber je mehr Gebiete der .Baumwollbau sich erstreckt, desto
schneller wird das Ziel erreicht sein. Zugleich wird auf diesem Wege
der wünschenswerte Ausgleich der Ernteschwankungen angebahnt, und
wenn man damit rechnen will, in Zukunft der Vormachtstellung Amerikas
wirksam zu begegnen, so ist das ebenfalls nur auf diesem Wege mög-
lich. Es gibt kein Gebiet der Erde, welches bei Berücksichtigung der
gegenwärtigen allgemeinen Kulturverhältnisse in der Lage ist, so viel
Baumwolle zu erzeugen, wie erforderlich wäre, um Amerika aus dem
Felde zu schlagen. Daher besteht die einzige Möglichkeit der Lösung
' der Baumwollfrage darin, daß man auf allen Gebieten des Baumwoll-
gürtels, welche zur Erzeugung einer guten Baumwolle geeignet sind,
die Baumwollkultur in ähnlicher Weise fördert, wie die Kolonialver-
einigungen in Afrika es getan haben. Für die Beseitigung des Baum-
wollmangels sind selbst kleine Erfolge schon von Wert, wie sie von
den Gebieten geringeren Umfanges zu erwarten sind, denn sie vermehren
immerhin den Weltvorrat. Eine erhebliche Vermehrung der Ge-
samtproduktion und zugleich eine allmähliche Verschiebung der Pro-
duktionsgebiete wird aber erst dann eintreten, wenn die Hauptbaumwoll-
gebiete der Kulturwelt: Argentinien, Brasilien, Kleinasien, Persien,
Mesopotamien und China und die hauptsächlich in Frage kommenden
Kolonialgebiete Hinterindien, der Sudan, Deutsch- und Englisch-Ostafrika
und Englisch-Westafrika, so ausgenützt werden, wie es bei den günstigen
klimatischen Verhältnissen dieser Länder möglich wäre.
Ich behalte mir vor, auf die Frage der Erweiterung der Baum-
wollkultur noch zurückzukommen.
704 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands
und des Auslandes.
1. Geschichte der, Wissenschaft. Encyklopädisches. Lehrbücher. Spezielle
theoretische Untersuchungen.
Kautsky, Karl, Thomas More und seine Utopie. 2., durchgesehene Aufl.
Stuttgart, J. H. W. Dietz Nachf., 1907. 8. VIII—322 SS. M. 2,50.
London, J., Munizipalsozialismus in England. Leipzig, Fel. Dietrich, 1907. 8.
28 SS. M. 0,50. (Sozialer Fortschritt. 97. 98.)
Schwechler, K. (Chefredakteur), ' Die österreichische Sozialdemokratie. Eine
Darstellung ihrer geschichtlichen Entwicklung, ihres Programms und ihrer Tätigkeit.
2., veränderte Aufl. Graz, Styria, 1907. 8. VIII—210 SS. M. 1,80.
Bougl&, C. (Prof. à l’Univ. de Toulouse), Le Solidarisme. Paris, V. Giard &
E. Brière, 1907. 8. 338 pag. fr. 3,50. (Collection des doctrines politiques publiée
sous la direction de A. Mater. IV.)
Fourni®re, Eugène, L’individu, lassociation et l'État. Paris Felix Alcan,
1907. 8. 260 pag. fr. 6.—. (Bibliotheque generale des sciences sociales. XXIX.)
Guillaume, James, L’internationale. Documents et souvenirs (1864—1878).
Tome II. Avec un portrait de Michel Bakounine. Paris, Ed. Cornély et C™, 1907.
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1:3,800,000. Farbendruck. Mit Text an den Seiten, Diessen, J. C. Huber (1907).
52,5%60 em. M. 0,20.
König, Friedrich (Hydrotekt), Die Wasserversorgung von Deutsch-Südwest-
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Bassermann-Jordan, Friedrich, Geschichte des Weinbaues unter besonderer
Berücksichtigung der bayerischen Rheinpfalz. Mit 140 Textillustrationen und 20 Tafeln.
3 Bde. Frankfurt a./M., H. Keller, 1907. 4. X—962 SS. M. 24.—.,
Einecke, G. (Bergassessor), Der Eisenerzbergbau und der Hüttenbetrieb an der Lahn,
Dill und in den benachbarten Revieren. Eine Darstellung ihrer wirtschaftlichen Ent-
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Mit einer Karte. M. 2,40. (Mitteilungen der Gesellschaft für wirtschaftliche Ausbildung.
Neue Folge, Heft 2.)
Goltz, Theodor Freiherr v, (weiland Prof.), Leitfaden der landwirtschaftlichen
Betriebslehre. 3., neu bearb. Aufl., herausgeg. von (Prof.) C. v. Seelhorst. Berlin,
P. Parey, 1907. 8. VI—202 SS. M. 2,50. (Thaer-Bibliothek. 93.)
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brück. (Billige Lieferungsausg. in etwa 40 Lieferungen.) 1. Lief. Hannover, M. Jänecke,
1907. 8. 64 SS. mit Abbildungen. M. 0,50.
Hausrath, Hans, Der deutsche Wald. Leipzig, B. G. Teubner, 1907. 8. M. 1.—.
Hink, August (Zuchtinspektor), Einträgliche Rindviehzucht, nebst einer Be-
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Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 707
Nach seinen Vorträgen bearbeite. Mit 6 Tierbildern und 9 Abbildungen im Text.
$ roi u. verb. Aufl. Freiburg i./B., P. Waetzel, 1906. gr. 8. VIII—198 SS.
. 3,80.
Junack (Oberförster), Die Dürre des Sommers 1904 im deutschen Walde. Neu-
damm, J. Neumann, 1907. 8. 32 SS. mit 2 Karten. M. 1.—.
Lorentz, R. (Gärtnerlehranstalts-Lehrer), Rätsel im Obstbau. Praktisch-wissen-
schaftliche Erklärung der natürlichen Ursachen früher Tragbarkeit, sowie der künstlichen
Mittel zur Erzielung derselben, des Nichtwachsens von Veredelungen ete., mit besonderer
Parickeithtigung des Erwerbs-Obstbaues. Halle, H. Gesenius, 1907. gr. 8. VI—146 SS.
. 1,50
Lüstner, Gustav (Versuchsstations-Vorsteher), Die wichtigsten Feinde der Obst-
er 3 Vorträge. Stuttgart, E. Ulmer, 1907. 8. IV—47 SS. mit 30 Abbildungen.
. 1.—.
Mitteilungen des Verbandes landwirtschaftlicher Maschinen-Prüfungsanstalten.
1. Jahrg. April 1907—März 1908. 4 Hefte. (Heft 1. 48 SS.) Berlin, P. Parey.
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Mitteilungen der k. bayrischen Moorkulturanstalt. Herausgeg. von Baumann.
1. Heft. Stuttgart, E. Ulmer, 1907. gr. 8. III—122 SS. mit 1 Tabelle und 1 gra-
phischen Tafel. M. 5.—.
Renner, V. (Landwirtschafts-Lehrer), Kurze Fütterungslehre mit Anleitung zur
Aufstellung von Futterrationen. Stuttgart, E. Ulmer, 1907. gr. 8. IV—68 SS. M. 1,50.
Steiner-Wischenbart, Josef, Eine Studienreise steirischer Landwirte in die
Schweiz. (1906.) Graz, P. Cieslar, 1907. gr. 8. 82 SS. mit 2 Abbildungen und
2 Tafeln. M. 1.—.
Strakosch, Siegfried, Das Problem der ungleichen Arbeitsleistung unserer
Kulturpflanzen. Berlin, P. Parey, 1907. gr. 8. IX—110 SS. M. 2,50.
Taschenbuch für landwirtschaftliche Genossenschaften. Herausgeg. von dem
Reichsverband der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften zu Darmstadt. (3. Aufl.)
Darmstadt, Reichsverband der. deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften, 1907.
kl. 8 XI—500—XIV SS. M. 3.—.
Wagner, C., Die Grundlagen der räumlichen Ordnung im Walde. Mit 44 Figuren
im Text und 1 farbigen Tafel. Tübingen, H. Laupp, 1907. Lex.-8. VIII—320 SS.
M. 7.—.
Beuret, L., et R. Brunet, Manuel pratique de l’agrieulteur. Paris, Mulo, 1907.
12. Avec 117 figures. fr. 5.—. (Encyclopédie Roret.)
Grandeau, L., L’agrieulture et les institutions agricoles du monde au commence-
ment du XX” siècle. 4 vol. Paris, Marcel Rivière, 1907. 8. Avec illustrations et
cartes. fr. 50.—.
Roequigny, C* de, Les syndicats agricoles et leur oeuvre. 2° édition augmentée
d’une préface exposant le mouvement syndical agricole de 1900 A 1906. Paris, Ar-
mand Colin, 1906. 8. XXXIX—412 pag. fr. 4.—. (Bibliothèque du musée social.)
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10/.—.
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März, Joh., Die Fayencefabrik zu Mosbach in Baden (aus „Volks-
wirtsch. u. wirtschaftsgesch. Abhandl.“, herausgeg v. W. Stieda, Neue
Folge, Heft 7). Jena (Gustav Fischer) 1906. 110 SS.
Diese wirtschaftsgeschichtliche Arbeit aus dem Gebiet der Stieda-
schen Spezialstudien schildert in einem recht lebendigen Zeitbilde die
Gründung und Verwaltung der Mosbacher Fayencefabrik unter merkan-
tilistischem und dann liberalem Regime. Als Anhang zu der histo-
45*
708 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
rischen Darstellung werden eine Beschreibung der Fabrik, ihrer Arbeit
und ihres Absatzes sowie Aktenstücke gebracht. Die Fabrik war eine
der kurzlebigen, von der Weisheit des grünen Tisches betriebenen
Staatsgründungen des Merkantilismus, ein totgeborenes Kind, das schnell
verschwand, als es von einer liberalen Regierung zur Existenz aus
eigener Kraft getrieben wurde.
Sorau N.-L. Fritz Schneider.
Behrens, S. (Redakteur), Krebsschaden des Ausstellungswesens. Berlin (G. Nauck)
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Kreibig, Bilanz und Steuer. Grundriß der kaufmännischen Buchführung unter be-
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Winterstein, Franz, Winke für junge Kaufleute, die im Auslande Stellung
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Hamburg, H. Paustian (1907). 8. 70 SS. M. 1,20.
Zeitschrift für allgemeine Warenkunde, unter Mitwirkung zahlreicher hervor-
ragender Fachschriftsteller und Männer der Praxis herausgeg. von C. Hacnig. 1. Jahrg.
April 1907—März 1908. 12 Nummern. (No. 1. 64 SS.) Leipzig, O. Wigand. gr. 8.
Halbjährlich M. 7,50.
Handelsberichten. Wekelijs uitgegeven door het Ministerie van Landbouw,
Nijverheid en Handel, met medewerking van het Ministerie van Buitenlandsche Zaken.
1° Jaarg. N° 1, 21 Maart 1907. ’s Gravenhage, F. J. Belinfante. Imp.-4. 8 blz.
fl. 0,20 met bijlagen: Economische Verslagen van Nederlandsche Diplomatieke en Con-
sulaire Ambtenaren.
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Bosc, L., Zollallianzen und Zollunionen in ihrer Bedeutung für die Handelspolitik
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Kumpmann, Karl, Die Wertzuwachssteuer, ihre prinzipielle und ihre praktische
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710 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Sammlung von Vorträgen und Schriften aus dem Gebiete der gesamten Staatswissenschaft,
Herausgeg. von (Prof.) Bernhard Harms. 1.)
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Paris, Arthur Rousseau, 1907. 8. 48 pag. fr. 2.—.
Saint-Maurice, Comte de, La fortune publique et privée au Japon. Paris,
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stration in British India. With a sketch of the land tenures. 24 edition, revised by
T. W. Holderness. Oxford, Clarendon Press, 1907. Cr. 8. 270 pp. 5/.—.
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Fischer, Alfons, Die Mutterschafteversicherung in den europäischen Ländern.
Leipzig, Fel. Dietrich, 1907. 8. 16 SS. M. 0,25. (Kultur und Fortschritt. Neue
Folge der Sammlung „Sozialer Fortschritt“. 101.)
Harms, Bernhard, Die Münz- und Geldpolitik der Stadt Basel im Mittelalter.
Mit 2 Diagrammen. Tübingen, H. Laupp, 1907. gr. 8. XII—254 SS. M. 6,50.
(Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. Ergänzungsheft XXIII.)
König, Wilhelm, Barzahlung und Banktrennung. Eine Streitfrage des öster-
reichisch-ungarischen Ausgleiches im Lichte der Theorie. Wien, Manz, 1907. 8.
16 SS. M. 0,35.
Loeper, H. von (Regierungs-R.), Die Versicherung der Arbeiter-Witwen und
-Waisen in Deutschland. Berlin, C. Heymann, 1907. Lex.-8. VII—176 SS. M.4—.
März, Johannes, und Harry Buschmann, Handbuch der sicheren und ge-
winnbringenden Kapitalanlage. 2., verm. Aufl. Leipzig, H. Buschmann, 1907. Lex.-s.
XIV—284 SS. M. 5.—.
Manasse, L., Lebensversicherungs-Gesellschaften und Aerzte. Berlin, J. Gold-
schmidt, 1907. Lex.-8. 4 SS. M. 0,60. (Aus: Deutsche medizinische Presse.)
Tischert, R., Wie lege ich mein Geld an? Essen, Fredebeul & Koenen (1907).
8 95 SS. M. 1.—.
Assicurazioni, Le, agricole in alcuni stati europei. (Ministero di agricoltura,
industria e commercio: ispettorato generale del credito e della previdenza.) Roma, tip.
Nazionale di G. Bertero e C., 1907. 8. LXIII—418 pp. 1. 5.—. (Annali del credito
e della previdenza, anno 1907, n° 69.) x
9. Soziale Frage.
Bericht über die VIII. Generalversammlung des rheinischen Vereins zur Förde-
rung des Arbeiterwohnungswesens und über die IV. Generalversammlung des Verbandes
rheinischer Baugenossenschaften am 17. und 18. November 1906 im Ständehause zu
Düsseldorf. Berlin, C. Heymann, 1907. 8. 132 SS. M. 1,60.
Damaschke, Adolf, Die Bodenreform. Grundsätzliches und Geschichtliches zur
Erkenntnis und Ueberwindung der sozialen Not. 4. durchgesehene Aufl. Berlin-Schöne-
berg, Hilfe, 1907. 8. XII—352 SS. M. 2,50.
Dühring, E., Soziale Rettung durch wirkliches Recht statt Raubpolitik und
Knechtsjuristerei. Leipzig, Th. Thomas, 1907. gr. 8. VIII —315 SS. M. 6.—.
Frauen-Führer. Auskunftsbuch über Vereine, Ausbildungsangelegenheiten und
Wohlfahrtseinrichtungen in Berlin. 6. Aufl. Berlin, Carl Habel, 1907. 8. VIU-
128 SS. M. 1,20. i-
Kubatz, Alfred, Akademiker und Alkoholismus. Berlin, C. Heymann, 1807.
8 46 SS. M. 0,60. (Burschenschaftliche Bücherei. Bd. III, 3.)
š Lemp, Eleonore, Frauenberufe. Halle, Buchhandlung des Waisenhauses, 1907.
. M. 1.—.
Pütter, Ernst (Verwaltungs-Dir.), Die Bekämpfung der Tuberkulose innerhalb
der Stadt. Ein Beitrag zur Wohnungsfrage. Erfahrungen aus den Berliner Auskunfts-
vr Fürsorgestellen für Lungenkranke. Berlin, R. Schoetz, 1907. gr. 8. 28 $8.
1. 0,60.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 711
Siegert, Rudolf, Die Wohnungsfürsorge im Großherzogtum Hessen. Nach
juristischen und nationalökonomischen Gesichtspunkten bearbeitet. Giessen, Alfred Töpel-
mann, 1907. gr. 8. VI—15) SS. M. 3.—.
Wolfring, Lydia von, Die Kindermißhandlungen, ihre Ursachen und die
Mittel zu ihrer Abhilfe. (Erster österreichischer Kinderschutzkongreß. Wien 1907.)
Wien, Manz, 1907. Lex.-8. 125 SS. mit 3 Tafeln. M. 3,40.
Zentralstelle, Die, für Volkswohlfahrt. (Antrag Douglas.) Eın Aufruf an alle
für das Wohl des Volkes tätiren Vereine im deutschen Reiche. Im Auftrage des vor-
bereitenden Ausschusses der Wohlfahrtsvereine herausgegeben. Berlin, Schriftenvertriebs-
anstalt G. m. b. H., 1907. gr. 8. 30 Ss. M. 0,30.
Goyau, Georges, Autour du catholieisme social. 3° serie. Paris, Perrin, 1907.
2. fr. 3,50.
l Muller-Simonis, Réforme de Passistance publique en Alsace-Lorraine. Straßburg,
Schlesier & Schweikhardt, 1907. gr. 8. VII—207 SS. M. 2,50.
Harthill, Isaae, Work among the London poor. London, E. Stock, 1907. Cr. 8.
00 pp. 1/.—.
x3 Heath, H. Llewellyn, The infant, the parent, and the state. A social study
and review. With an introduction by (Prof.) G. Lewis Woodhead. London, P. S. King,
1907. Cr. 8 XV-—191 pp. with illustrations. 3/.6.
Sherard, Robert H., The white slaves of England. 6* edition. London, Fifield,
1907. 12. 1/.6.
10. Gesetzgebung.
1) Liebmann, Dr. J., Justizrat, Rechtsanwalt und Notar in
Frankfurt a. M., Kommentar zum Gesetz betr. die Gesell-
schaften mit beschränkter Haftung. Fünfte, gänzlich neube-
arbeitete und vermehrte Auflage nebst einem Anhange: Die Einkommen-
besteuerung der Ges. m. b. H. in Preußen und die Reichsstempelabgabe
auf die Tantiemen. Berlin 1906, Verlag von Otto Liebmann. X,
260 SS., M. 4,80, geb. M. 5,60.
2) Riesser, Dr., Geh. Justizrat und ordentl. Honorarprofessor a.
d. Univ. Berlin Das Bankdepotgesetz (Gesetz betr. die Pflichten
der Kaufleute bei Aufbewahrung fremder Wertpapiere, v. 5. Juli 1896).
Für die Praxis erläutert. Zweite, völlig umgearbeitete Auflage. Berlin
1906, Verlag von Otto Liebmann. X, 128 S5., M. 3,—, geb. M. 3,60.
Die beiden hier in neuen Auflagen vorliegenden Kommentare zu
wichtigen wirtschaftlichen Gesetzen sind für Juristen der Praxis unent-
behrlich, aber auch für Nationalökonomen von großer Wichtigkeit.
Beide Bücher haben durch die hervorragende Sachkunde ihrer Verfasser
eine gewisse autoritative Bedeutung gewonnen. Liebmanns Kommentar
des Gesetzes über die G. m. b. H. hat — vornehmlich durch die Hin-
zufügung des Anhangs, wieder an Umfang beträchtlich gewonnen; aber
der Anhang (s. oben) ist für den praktischen Gebrauch des Buches recht
nützlich, und der Verfasser hat sich in dankenswerter Weise bemüht,
an anderen Stellen, wo es nur irgend angängig erschien, zu kürzen. So
hat z. B. die Einleitung eine prägnantere Gestalt erhalten. Nach wie
vor ist den Ausführungen dieser Einleitung, wie ich schon bei der Be-
sprechung der vorigen Auflage in diesen Jahrbüchern hervorhob, durch-
aus zuzustimmen. Was die Kommentierung des Gesetzestextes im einzelnen
betrifft, so ist überall in anerkennenswerter Genauigkeit bei streitigen
Fragen der Gegenmeinung Beachtumg geschenkt und überall der maß-
gebenden richterlichen Entscheidungen Erwähnung getan. Auch die
im Anhang mitgeteilten Gesetze sind eingehend kritisch kommentiert.
712 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Ein gut gearbeitetes Sachregister beschließt das Werk, das sich so wie
bisher auch weiter vorzüglich bewähren muß, weil es die Mitte hält
zwischen den ausführlichen, umfangreichen Bearbeitungen und den Text-
ausgaben und so für die meisten am brauchbarsten ist.
Für das Bankdepotgesetz dürfte Geheimrat Riesser als der wohl
zur Zeit beste Kenner gelten. Da die erste Auflage vor dem Inkraft-
treten des Bürgerlichen Gesetzbuches und des neuen Handelsgesetz-
buches erschienen ist, bedingte schon dieser Umstand eine neue Durch-
und Umarbeitung des Werkes. War dieses damals nach Vorträgen
niedergeschrieben und, wie der Verfasser im Vorwort sagt, „nur not-
dürftig in die äußere Form des Kommentars gebracht worden“, so ist
in dieser zweiten Auflage der Kommentar von vornherein als solcher
organisch angelegt und erfüllt um so besser die vom Verfasser seiner
Arbeit gestellte Aufgabe, „für Juristen sowohl wie für den Handels-
stand die in Rechtsprechung und Literatur seit Erlaß des Gesetzes auf-
getauchten Fragen zu erörtern und die schon in der ersten Auflage be-
sprochenen Fragen zu vertiefen und nachzuprüfen“. Der Kommentar
ist gerade auch hinsichtlich der Rechtsprechung in der Literatur über-
aus sorgfältig gearbeitet, und auch hier ist überall, wo es erforderlich
war, eine Auseinandersetzung mit abweichenden Ansichten erfolgt. In
den Anlagen sind Formulare und die einschlägigen Bestimmungen des
BGB. und HGB. abgedruckt. Quellenverzeichnis und Sachregister
fehlen nicht. A. Elster.
Damme, Dr. F., Geh. Reg.-Rat, Direktor im Kaiserlichen Patent-
am zu Berlin, Das deutsche Patentrecht. Ein Handbuch für
Praxis und Studium. Berlin (Otto Liebmann) 1906. XIV, 549 SS.
10 M., geb. 11 M.
Bei der Schnelligkeit des technischen Fortschritts ist das gewerb-
liche Urheberrecht mit Recht ein Gegenstand besonderen Interesses für
die praktische Jurisprudenz. Eine große Fülle von Werken, in syste-
matischer oder kommentierender Form, existiert bereits über das Patent-
recht. Der Verfasser, der diese Werke genau kennt, muß also be-
sondere Gründe gehabt haben, um mit einem neuen Buch über das Patent-
recht hervorzutreten. Die Gründe erscheinen bei näherem Zusehen
durchaus stichhaltig. Es handelte sich für ihn darum, neben den aus-
führlichen und kritisch-wissenschaftlich tiefgrabenden Monographien
(Kohler) und den eingehenden Kommentaren (Landgraf, Robolski u. s. w.)
ein in systematischer Form geschriebenes kürzeres Werk zu schaffen,
welches als Lehrbuch für das Studium und als Handbuch für die
ausführende Praxis seine Dienste tut. Dabei ist nicht etwa nur eine oben-
hin gehende Belehrung über die Hauptzüge, sondern eine gründliche Ein-
führung und sorgsame Behandlung des ausgedehnten Gegenstandes gegeben.
Die wissenschaftliche Kritik bildet zwar hier nicht den Hauptinhalt, ist
aber stets das Mittel der Behandlung auch hier geblieben; man ver-
gleiche z. B. das vortreffliche Kapitel über den Begriff der Neuheit.
Verfasser verfügt über eine durch reiche praktische Betätigung ge-
wonnene scharfe juristische Kritik; daß er trotzdem in diesem Hand-
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 713
und Lehrbuche fast durchweg die herrschende, die Mittelmeinung,
eine mit kritischer Ueberzeugung gewonnene praktische Vernunft-
meinung, zur Darstellung bringt, gibt diesem Werke seine besondere
Gestalt eben als Lehr- und Handbuch. Die auferlegte Beschränkung der
Literaturnachweise im einzelnen Fall wird manchem Benutzer freilich
nicht ganz willkommen sein; aber man mag zugeben, daß der Zweck
des Buches dies gerade erforderte Die ausführliche Heranziehung der
richterlichen und patentamtlichen Entscheidungen ist dagegen für den
praktischen Gebrauch besonders wichtig, und Verfasser hat hierin
meines Erachtens das Richtige getroffen. Es ist anzunehmen, daß dank
dieser Vorzüge für die Praxis sich das Werk in den interessierten
Kreisen Eingang verschaffen und namentlich von solchen, die ein hand-
liches Lehrbuch des Patentrechts in zuverlässiger und möglichst über-
sichtlicher Darstellung suchen, gern benutzt werden wird. Ein Anhang
bringt den Wortlaut der einschlägigen Gesetze und ein Sachregister.
A. Elster.
Bruck, Ernst (Gerichtsassessor), Die Jagd- und Vogelschutz-Gesetzgebung in
Elsaß-Lothringen. Straßburg, Karl J. Trübner, 1907. 8. 216 SS. M. 3,50.
Freese, Heinrich (Fabrikbesitzer, Berlin), Das neue Baupfandgesetz. (Jena,
Gustav Fischer, 1907.) gr. 8. 44 SS. (Abdruck aus: Jahrbuch der Bodenreform.
Bd. 3.)
Geller, Leo (Hof- u. Ger.-Adv.), Oesterreichische Gewerbeordnung, nebst ein-
schlägigen Vorschriften. Mit Erläuterungen aus den Materialien, der Verwaltungspraxis
und der Rechtsprechung. 7., auf Grund der Gewerbenovelle von 1907 neu bearb. Aufl.
Wien, M. Perles, 1907. kl. 8. VIII—312 SS. M. 4.—.
Hoppe, Hugo (Nervenarzt), Der Alkohol im gegenwärtigen und zukünftigen Straf-
recht. Halle a. d. S., Carl Marhold, 1907. gr.8. 78 SS. M. 2.—. (Juristisch-
psychiatrische Grenzfragen. Bd. V, Heft 4/5.)
Kalckstein, W. (Hauptmann a. D.), Die im Deutschen Reiche erlassenen Vor-
schriften über die Benutzung und über Beschaffenheit von Wohnungen. Auf Grund der
Sammlungen des Bremer sozialen Museums bearbeitet und herausgegeben. Bremen,
G. Winter, 1907. Lex.-8. 36 SS. M. 5.—.
Meili, Fr. (Prof.), Die Kodifikation des Automobilrechts. Eine Studie. Wien,
Manzsche Buchhandlung, 1907. gr. 8. 183 SS. M. 4,30.
Michaelis, Heinrich, Das deutsche Gewerbe- und Arbeiterversicherungsrecht.
Bremen, G. Winter, 1907. gr. 8. VIII—100 SS. M. 1,50.
Nöll, F., Das Kommunalabgabengesetz vom 14. Juli 1893, nebst Ausführungsan-
weisung vom 10. Mai 1894 und Mustersteuerordnungen. Erläutert. Nach dem Tode
des Verfassers bearb. von F. Freund. 6. völlig veränderte Aufl. Berlin, C. Heymann,
1907. gr. 8. XII—646 SS. M. 12.—.
Schmid, Paul (Rechtsanwalt), Der gesetzliche Schutz der Fabrik- und Geschäfts-
geheimnisse in Deutschland und im Ausland. Tübingen, J. C. B. Mohr, 1907. Lex.-8.
vIII—234 SS. M. 5.—.
Stein, Friedrich (Prof.), Zur Justizreform. 6 Vorträge. Tübingen, J. C. B. Mohr,
1907. gr. 8. III—109 SS. M. 2.—.
Stein, Friedrich, und Richard Schmidt, Aktenstücke zur Einführung in
das Prozeßrecht. Civilprozeß. Bearb. von Friedrich Stein. 6. Aufl. Tübingen,
J. C. B. Mohr, 1907. Lex.-8. VIII—176 SS. M. 2,20.
Stillmark, Friedrich (Rechtsanwalt), Aus dem Rechtsleben Chinas. Vortrag.
Reval, F. Kluge, 1907. 8 51 SS. M. 1.—.
Armbruster, L. (avocat), Le repos hebdomadaire. Commentaire de la loi du
13 juillet 1906. Préface de F. Dubief. Paris, Nancy, Berger-Levrault & C', 1907. 8.
XI—370 pag. fr. 3,50.
Child Labor Legislation. Schedules of existing statutes and the standard
714 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
child labor law embodying the best provisions of the most effective measures now in
force. Handbook 1907, compiled by Josephine C. Goldmark. Philadelphia, The
American Academy of Political and Soeial Seience (1907). 8. 64 pp. (Supplement to
The Annals of the American Academy of Political and Social Science. January, 1907.)
Smith, James Walter, A handy book on the law of banker and customer. New
edition, thoroughly revised. London, E. Wilson, 1907. Cr. 8. VII—197 pp. 2/.6.
Walley, J. F., The laws of debtor and creditor. Together with the laws of bank-
ruptey by W. A. Holdsworth. New and revised edition. London, Routledge, 1907. 12.
412 pp. 1/.—.
11. Staats- und Verwaltungsrecht.
Altmann, P. (Landrichter), Die Verfassung und Verwaltung im Deutschen Reiche
und Preußen. Handbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart. II. Bd. Preußen.
Berlin, C. Heymann, 1907. gr. 8. M. 8.—.
Brauchitsch, M. von, Die neuen Preußischen Verwaltungsgesetze. Nach dem
Tode des Verfassers umgearb., fortgeführt und herausgeg. von von Studt und von Braun-
behrens. 5. Bd. 8. Aufl. 4. Bearbeitung. Berlin, C. Heymann, 1907. gr.8. M. 10.—.
Dochow, Franz, Vereinheitlichung des Arbeiterschutzrechts durch Staatsverträge.
Ein Beitrag zum internationalen Verwaltungsrecht. Berlin, C. Heymann, 1907. gr. 8.
111 SS. M. 2,50.
Gumplowiez, Ludwig, Allgemeines Staatsrecht. 3. verm. u. verb. Aufl. Inns-
bruck, Wagner’sche Universitäts-Buchhandlung, 1907. gr. 8. XV—540 SS. M. 12.—.
Gumplowiez, Ludwig, Das österreichische Staatsrecht (Verfassungs- und Ver-
waltungsrecht). Ein Lehr- und Handbuch. 3., in Verbindung mit (Stadt-R.) Rudolf
Bischoff bearb., verm. u. verb. Aufl. Wien, Manz, 1907. gr. 8. XIV—714 SS.
M. 10,50.
Köhn, Theodor (Stadt-Bau-R. a. D.), Wie ist die Schaffung von Groß-Berlin
durchführbar? Vortrag. Berlin, C. Heymann, 1907. gr. 8. 32 SS. M. 0,60.
Krause, Friedland, Die englische Volksschul-Gesetzgebung, mit besonderer Be-
rücksichtigung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche dargestellt. Berlin, C. Hey-
mann, 1907. gr. 8. 99 SS. M. 2.—.
Netolitzky, August (Landes-Sanitäts-Referent), Oesterreichische Sanitätsgesetze.
Wien und Leipzig, Wilhelm Braumüller, 1907. Lex.-8. M. 18.—.
Schreiber, Karl (Öber-Reg.-R. a. D.), Beteiligung des Staates an den Volks-
schullasten in Preußen. Breslau, M. '& H. Marcus, 1907. gr. 8. 60 SS. M. 1,60.
(Abhandlungen aus dem Staats- und Verwaltungsrecht. Heft 13.)
Werner, Adolf, Die Verfassungsfrage in Mecklenburg. Berlin, W. Rothschild,
1907. 8. 24 SS. M.1.—.
Odgers, William Blake, Local government. 2° edition, by the author and
E. J. Naldrett. London, Macmillan, 1907. Cr. 8. 306 pp. 3/.6. (English Citizen.)
Thorbecke, J. R., Aanteekening op de Grondwet. Tweede uitgave. 2 dln.
’s-Gravenhage, Martinus Nijhoff, 1907. 8. XIV—355, VI—342 blz. fl. 8,50.
12. Statistik.
Allgemeines.
Virgilii, Filippo (prof.), Statistica, 4° edizione rifatta. Milano, U. Hoepli,
1907. 16. XIX—225 pp. (Manuali Hoepli.)
Webersik, Gottlieb, Geographisch-statistisches Welt-Lexikon. Ein Nachschlage-
buch über die Länder, Staaten, Kolonien, Gebirge, Flüsse, Seen, Inseln, Städte, Markt-
flecken, Badeorte, Post- und Telegraphenämter, Häfen, Eisenbahnstationen ete. der Erde.
(In 20 Lieferungen.) 1. Lief. Wien und Leipzig, A. Hartleben, 1907. Lex.-8. 48 SS.
M. 0,75.
Deutsches Reich.
Beiträge zur Arbeiterstatistik Nr. 6. Die Regelung des Arbeitsverhältnisses bei
Vergebung öffentlicher Arbeiten insbesondere in deutschen Städten. Bearb. im Kaiser-
lichen Statistischen Amt, Abteilung für Arbeiterstatistik. Berlin, C. Heymann, 1907.
gr. 8. VIII—400 SS. M. 4.—.
Drucksachen des Kaiserlichen Statistischen Amts, Abteilung für Arbeiterstatistik.
Erhebungen Nr, 4. Erhebung über die Arbeitszeit der in Plättanstalten und in nicht
als Fabriken und Werkstätten mit Motorbetrieb anzusehenden Waschanstalten beschäftigten
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.. 715
Personen. Veranstaltet im Oktober 1905. Berlin, C. Heymann, 1907. Imp.-4. V—
88—256 SS. M. 3.—. — Nr. 5: Erhebung über die Arbeitszeit der Gehilfen und Lehr-
linge im Fleischergewerbe. 2. Teil. Veranstaltet im Sommer 1905. Bearb. im Kaiser-
lichen Statistischen Amt, Abteilung für Arbeiterstatistik Abschnitt I—V, im Kaiserlichen
Gesundheitsamt Abschnitt VI. Berlin, Ebend., 1907. Imp.-4. VI—103 SS. M. 1.—.
Gnauck-Kühne, Elisabeth, die deutsche Frau um die Jahrhundertwende. Sta-
tistische Studie zur Frauenirage. Mit 6 farbigen Diagrammen, 2. Aufl. Berlin, O. Lieb-
mann, 1907. gr. 8. VII—163 SS. M. 3,50.
Handbuch, Statistisches, für das Deutsche Reich. Herausgeg. vom Kaiserlichen
Statistischen Amt. 1. Teil. Berlin, C. Heymann, 1907. Lex.-8. XII—750 SS. M. 7.—.
Statistik des Deutschen Reichs. Herausgeg. vom Kaiserlichen Statistischen Amt.
Neue Folge. 170. Bd. Die Krankenversicherung im Jahre 1904. Berlin, Puttkammer
& Mühlbrecht, 1907. Imp.-4. XII—52—192 SS. M. 5.—.
Woerner, Otto, Die Frage der Gleichmäßigkeit der Strafzumessung im Deutschen
Reich. Auf kriminalstatistischer Grundlage bearbeitet. München, E. Reinhardt, 1907.
Lex.-8. 107 SS. M. 4.—. (Statistische und nationalökonomische Abhandlungen, ins-
besondere Arbeiten aus dem statistischen Seminar der Universität München. Heft 3.)
Oesterreich- Ungarn.‘
Städtebuch, Oesterreichisches. Statistische Berichte von größeren österreichischen
Städten, herausgeg. durch die k. k. statistische Zentral-Kommission. XI. Bd. Redigiert
unter der Leitung des Präsidenten Franz Ritter von Juraschek von Rudolf Riemer.
Wien, k. k. Hof- und Staatsdruckerei, 1906. 4. XXXVI—1266 SS. M. 12.—.
Italien.
Movimento della popolazione secondo gli atti dello stato civile nell’ anno 1904:
nascite, morti e matrimoni. (Ministero di agricoltura, industria e commercio: direzione
generale della statistica.) Roma, tip. Nazionale di G. Bertero e C., 1906. 8. LXXX—67 pp.
1. 1,50.
Schweiz.
Mühlemann, C. (Vorsteher), Bericht über die Anordnung und Durchführung
sowie über das vorläufige Ergebnis der eidgenössischen Betriebszählung vom 9. August
1905. Bern (A. Francke) 1906. gr. 8. 24 SS. M. 0,80.
Statistik, Schweizerische. Vom statistischen Bureau des eidg. Departements des
Innern. 151. Lieferung. Die Ergebnisse der eidgenössischen Volkszählung vom 1. De-
zember 1900. 3. Bd. Die Unterscheidung der Bevölkerung nach dem Berufe. Bern,
Buchdruckerei Gustav Grunau, 1907. 4. 48-460 SS. mit 4 Karten. fr. 10.—.
13. Verschiedenes.
Bendel, Heinrich, Zum Ausbau des gewerblichen Fortbildungsschulwesens in
der Schweiz. Ein Beitrag. Zürich-Selnau, Gebr. Leemann & C°, 1907. gr. 8. 74 SS.
M. 1.
” Berberich, Alois (Gesundheitsingenieur), Bau- und Wohnungshygiene. 2. verm
Aufl. Mit 38 Abbildungen. Stuttgart, E. H. Moritz, 1907. kl. 8. 222 SS. M. 2.—
(Illustrierte Bibliothek der Rechts- und Staatskunde, in Einzeldarstellungen. Bd. 27.)
Berger, Heinrich (Kreisarzt), Sozialhygienischer Rückblick und Ausblick 1906/07
Unsere Volksvertretung. Leipzig, B. Konegen, 1907. 8. 26 SS. M. 0,50.
Bresler, Johannes (Oberarzt), Greisenalter und Criminalität. Halle a. S., Carl
Marhold, 1907. gr. 8. 58 SS. M. 1,80. (Juristisch-psychiatrische Grenzfragen. Bd. V,
Heft 2/3.)
Dolle, Ernst (Bremen), Wohin treiben wir? Unparteiisches Gegenwarts- und
Zukunftsbild. Bremen, Eigener Verlag, 1907. gr. 8. 126 SS. M. 1,50.
Ganz, Hugo, Die Preußische Polenpolitik. Unterredungen und Eindrücke. Frank-
furt am Main, Rütten & Loening, 1907. gr. 8. 96 SS. M. 1,50.
Gleichen-Russwurm, Alexander von, Bildungsfragen der Gegenwart. Vor-
trag, gehalten im Zweigverein Berlin des Schwäbischen Schillervereins. Berlin, Karl
Curtius, 1907. 8. 55 SS. M. 1.—.
Gottstein, Adolf, Die soziale Hygiene. Leipzig, F. C. W. Vogel, 1907. gr. 8.
72 88. M. 1,50.
Reuter, Gabriele, Das Problem der Ehe. (Veröffentlichung der Lessing-Gesell-
716 Die periodische Presse des Auslandes.
schaft für Kunst und Wissenschaft, E. V., Berlin.) Berlin, E. Kantorowiez (1907). 8.
67 SS. M. 1,50.
Reventlow, Graf E., Weltfrieden oder Weltkrieg! Wohin geht Deutschlands
Weg? Politisch-militärische Betrachtungen vor der Haager Friedenskonferenz. Berlin,
Karl Curtius, 1907. 8. 148 SS. M. 1.—.
Revue für Internationalismus, herausgeg. vom Bureau der Stiftung für Inter-
nationalismus im Haag. Deutsche Ausgabe. Jahrg. 1, No. 1, April 1907. Leipzig—
Amsterdam, Maas & van Suchtelen. Lex.-8. 98 SS. M. 2,50.
Rodić, Ignaz (k. und k. Hauptmann im Generalstabskorps), Die Aussichten eines
amerikanisch-japanischen Krieges. Leipzig, Friedrich Engelmann, 1907. gr. 8. 2658.
M. 0,80.
Stern, Bernhard, Geschichte der öffentlichen Sittlichkeit in Rußland. 2 Bde.
I. Kultur, Aberglaube, Kirche, Klerus, Sekten, Laster, Vergnügungen, Leiden. Mit 29
teils farbigen Illustrationen. Berlin, H. Barsdorf, 1907. gr. 8. V—502 SS. M.7.—.
Wochenschrift, Internationale, für Wissenschaft, Kunst und Technik. Herausgeg.
von P. Hinneberg, redigiert von W. Paszkowski. 1. Jahrg. 1907/1908. 52 Nummern.
München, Bayerische Druckerei u. Verlagsanstalt. 4. Je M. 0,25.
Allemand, L&on, Les souffrances des juifs en Russie et le devoir des États
civilisés. (Thèse refusce par la Faculté de Droit de Paris.) Paris, Édouard Cornély
et C", 1907. 8. XXIX—228 pag. fr. 3.—.
Année, La première, de la révolution russe. Résumé des événements jour par
jour du 22 octobre 1905 au 30 octobre 1906. Paris, Librairie Stock, 1906. 8. 109 pag.
fr. 0,60. (N° 11 des Publications périodiques de la Société des amis du peuple russe.)
Constantin, A. (Capitaine), Le rôle sociologique de la guerre et le sentiment
national. Suivi de la guerre, moyen de sélection collective, par S. R. Steinmetz. Traduit
de l’allemand par le Cap. Constantin, avec l'autorisation de l'auteur. Paris, Félix Alcan,
1907. 8. 291 pag. fr. 6.—. (Bibliothèque scientifique internationale. CVIII.)
Crouzet, Paul, Pour et contre le Baccalauréat. Paris, Colin, 1907. 8. fr. 1,50.
Tardieu, André, La Conférence d’Algesiras. Histoire diplomatique de la crise
marocaine 15 Janvier—7 Avril 1906. Paris, Félix Alcan, 1907. 8. III—554 pag.
fr. 10.—. (Bibliothèque d’histoire contemporaine.)
Die periodische Presse des Auslandes.
A. Frankreich.
Annales des Sciences Politiques. XXII’ année, 1907, I, janvier: Le commerce
britannique en temps de guerre, par H.-R. Savary. — Le cadastre et les livres fonciers,
par J. de la Chaise. — Les vieissitudes du peuple allemand (1848—1870), par Paul
Matter. — Chronique des questions industrielles (1906), par D. Bellet. — ete. — II, mars: ,
Questions ouvriöres et industrielles en France depuis 1870, par Émile Levasseur. —
Le parti du centre en Allemagne et les élections de janvier-février 1907, par G. Isam-
bert. — Les débuts de l’expansion coloniale de la France moderne, par Paul Lavagne.
— Chronique des questions ouvrières (1906), par O. Festy. — ete.
Bulletin de Statistique et de Législation comparée. XXXI’ année, 1907, février:
Le sucrage des vins avant la fermentation. — Les opérations de la Banque de France
en 1906. — ete. x
Journal des Feonomistes. 66° Année, 1907, mars: Thöorie de l’&volution, par
G. de Molinari. — Le rachat des chemins de fer, par Georges de Nouvion. — L’impöt
sur le revenu et liberté individuelle, par Albert Revillon. — Correspondance: contrat
économique et contrat politique, par P. Aubry, Joseph Nipour; réponses par Rouxel.
— etc.
Réforme Sociale, La. XXVI" année, N° 30, 16 mars 1907: Le Play et le christia-
nisme, par P. Imbart de la Tour. — Une enquête sur la Belgique, par Louis Rivière.
— L'école de la paix sociale: sa vie, ses oeuvres, par F. Auburtin. — ete. — N° 31,
1” avril 1907: Les institutions locales de l’Angleterre, I, autrefois, par F. Auburtin. —
Études de vie rurale: un bon placement, par Victorin Vidal. — La Société pour las-
sistance paternelle aux enfants employés dans les industries des fleurs et des plumes,
Die periodische Presse des Auslandes. TII
par André Vovard. — Le problème des habitations ouvrières à Venise, par F. Lepelletier.
— ete.
Revue générale d'administration. XXX° année, 1907, février: Sur la condition
juridique du fonctionnaire, par G. Demartial. — Le domaine des hospices de Paris
depuis la Révolution (suite), par Amédée Bonde. — ete.
Revue d’Economie Politique. 21° Année, 1907, N° 3, Mars: La progression des
grèves en France et sa valeur symptomatique, par Charles Rist. — Les castes et la vie
économique (suite), par C. Bouglé. — Une nouvelle application de la coopération de
production en agriculture, par Joseph Hitier. — ete.
Revue internationale de Sociologie. XV° Année, 1907, N° 2, Février: La méthode-
d’enseignement en économie politique, par Emile Worms. — Le bonheur comme phéno
mène social, par Gabriel Prévost. — Séance de la Société de Sociologie de Paris du
7 janvier 1907 : Les types professionnels: le magistrat. Communication de Léon Philippe.
Observations de P. Bertulus, Ch. Limousin, L. Tanon, René Worms, Oscar d’Araujo,
Paul Vibert, Ch. Valentino, H. Monin. — ete.
B. England.
Century, The Nineteenth, and after. No. 362, April 1907: Egypt to-day, by Sir
Auckland Colvin. — A colonial study of London civilisation, by Mrs. Grossmann. —
Women and politics: a rejoinder, (1) by Caroline E. Stephen, (2) by Mrs. Chapman.
— etc.
Journal of the Institute of Actuaries. Vol. XLI, 1907, Part II, April: Further
notes on some legal aspects of life assurance practice, by Arthur Rhys Barrand. — An
investigation into the mortality among Scandinavian Emigrants to the Congo, by Paul
Bergholm. — ete.
Journal, The Economic. No. 65, March, 1907: The congress of The Royal Eco-
nomic Society, by F. Y. Edgeworth. — The social possibilities of economic chivalry, by
(Prof.) Alfred Marshall. — Land value taxation and the use of land, by Charles Tre-
velyan. — The proposed relief of buildings from local rates, by Edwin Cannan. —
India’s present monetary condition, by * * *. — Cotton supplies, by (Prof.) S. J. Chap-
man & J. Mc Farlane. — Labour exchanges and the unemployed, by W. H. Beveridge.
— ete.
Review, The Contemporary. No. 496, April, 1907: Liberal colonial policy, by
E. T. Cook. — The investments of the masses, by Jesse Quail. — ete.
Review, The National. No. 290, April, 1907: Some reflections on the coming
conference, by Viscount Milner. — Time and the contract, a foreword to the colonial
conference, by J. L. Garvin. — Extracts from a diary in Morocco, by Mrs. Gerard
Lowther. — The germanisation of the Poles, by M. Beer. — Japan in Manchuria, by
Dalni Vostock. — ete.
C. Oesterreich.
Handels-Museum, Das. Herausgeg. vom k. k. österr. Handels-Museum. Bd. 22,
1907, Nr. 11: Die künstlichen Düngematerialien, II, von (Prof.) S. Feitler. — ete. —
Nr. 12: Englands Außenhandel. — ete. — Nr. 13: Verpackung und Zollbehandlung
im Uebersee-Export. — Das internationale Exportgeschäft. — ete. — Nr. 14. 15: Die
Enquete über das kommerzielle Unterrichtswesen, I. II, von Schmid. — Unruhen und
Geschäftsverhältnisse in Rumänien. — ete.
Mitteilungen des k. k. Finanzministeriums. Redigiert im Präsidialbureau des
k. k. Finanzministeriums. Jahrg. XII, 1906, Heft 3, ausg. im Dezember 1906: Ergeb-
nisse der Verzehrungssteuer in der österreichisch-ungarischen Monarchie sowie in Bosnien
und der Herzegowina im Jahre 1903. — Darstellung der Besteuerungsgrundlage der
Aktiengesellschaften, Kommanditgesellschaften auf Aktien und Gewerkschaften. — Statistik
über die Erwerbssteuer von den der öffentlichen Rechnungslegung unterworfenen Unter-
nehmungen für die Jahre 1903 und 1904. — Statistik über die auf die direkten Steuern
in den Jahren 1903 und 1904 für diese Jahre umgelegten Zuschläge. — ete.
Monatsschrift, Statistische. Herausgeg. von der k. k. Statistischen Zentral-
Kommission. Neue Folge, Jahrg. XII, 1907, Februar-Heft: Die Methoden der medi-
zinischen Statistik, von Ferdinand Winkler (Wien). — Oesterreichs Sparkassen im Jahre
1905, von H. Ehrenberger. — Aufnahmen in den Staatsverband der im Reichsrate ver-
tretenen Königreiche und Länder und Entlassungen aus demselben in den Jahren 1901
—1905, von Adalbert Rom. — Der Verkehr auf den österreichischen Binnenwasser-
718 Die periodische Presse des Auslandes. `
straßen und dessen Bedeutung für den Inlandsverkehr und den Außenhandel, von Ru-
dolf Kriekl. — ete.
Rundschau, Soziale. Herausgeg. vom k. k. Arbeitsstatistischen Amte im Handels-
ministerium. Jahrg. VIH, 1907, Februarheft: Kollektive Arbeitsverträge in Oesterreich
im Jahre 1906. — Arbeitsverhältnisse bei den österreichischen Haupt- und Lokalbahnen
im Jahre 1905. — Die Arbeitslosenversicherung in Straßburg i. E. — Gesetzentwürfe,
betreffend die Kranken- und Unfallversicherung in der Schweiz. — Sozialpolitische Ge-
setze und Verordnungen aus der XVII. Reichsratssession. — ete.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung. Organ der Ge-
sellschaft österreichischer Volkswirte. Bd. XVI, 1907, Heft 1: Zur neuesten Literatur
über Kapital und Kapitalzins (Forts. u. Schluß), von Eugen v. Böhm-Bawerk. — Ueber
österreichisches Bankwesen, von Karl Morawitz. -— Eine Darstellung der Belastung durch
eine Einkommensteuer, von Richard Lieben. — Die Statistik der österreichisch-ungarischen
und polnischen Auswanderung nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika, von
Leopold Caro. — Das Naphtagesetz, von Siegmund Grünberg.
F. Italien.
Giornale degli Economisti. Serie seconda, Anno XVIII, Gennaio 1907: Sull’ inter-
pretazione e comparazione di seriazioni di redditi o di patrimoni, di Costantino Bres-
ciani. — D’ inesistenza di plus-valore nel lavoro e la fonte del profitto, di (Prof.) Emilio
Cossa. — La tensione monetaria in Europa, negli Stati Uniti d’America e l’organizzazione
delle banche, di U. Spillmann. — Il fenomeno migratorio e intervento dello stato, di
G. Montemartini. — etc.
Rivista Italiana di Sociologia. Anno XI, 1907, fasc. I, Gennaio-Febbraio: La
concezione naturalistica dell’ universo e la sociologia, di L. Gumplowiez. — Tendenze
socialistiche nella Persia del medio evo, di I. Pizzi. — Lotta di classe e pensiero
moderno, di M. A. Vaccaro. — La forza di attrazione delle grandi città, di G. Mor-
tara. — Intorno alla popolazione del Piemonte nel secolo XVII, di G. Prato. — ete.
/
G. Holland.
Economist, De, opgericht door J. L. de Bruyn Kops. LVI® jaarg., 1907, Maart:
Rotterdam’s Gemeenteschuld, door C. van Dorp. — De Geldmarkt op het einde van
1906, door G. M. Boissevain. — „Pro en Contra“, Vrijhandel, door A. Heringa. — ete.
H. Schweiz.
Blätter, Schweizerische, für Wirtschafts- und Sozialpolitik. Jahrg. XV, 1907,
Heft 1: Patentschutz für Heilmittel in der Schweiz, von Paul Ruben (Bern). — Ueber-
sicht über die Feuerversicherung der Gebäude, sowie des Mobiliars in der Schweiz und
im Auslande, von (Groß-R.) Kurt Demme (Bern). — etc.
Monatschrift für christliche Sozialreform. Jahrg. 29, 1907, März: Einfache
oder komplizierte Wirtschaftsordnung? Eine Studie über Mittelstandspolitik, von F. Norikus
(Kaiserslautern). — Die III. deutsche Kunstgewerbeausstellung Dresden 1906 und ihre
soziale Bedeutung, von H. Rodewald (München). [Forts.] — Zur Wirtschaftsgeschichte
des Kongostaates, von Max Büchler (ehem. Justizbeamten im Kasai-Distrikt). — ete.
J. Belgien.
Revue Économique internationale. 4° Année, 1907, Vol. I, N. 3, Mars: La régle-
mentation de la distribution du revenu par la politique économique, par Eugene
Philippovich von Philippsberg. — De quoi se compose le commerce extérieur de la
Belgique? Par Armand Julin. — Les ouvriers étrangers dans l’agrieulture française,
par Maurice Lair. — L/’orientation nouvelle des régies communales, par Ernest Brees. —
Note sur le caoutchouc, par Émile Levasseur. — Le budget de l’Empire allemand et
les dernitres réformes financières, par Jules Wathelet. — Les voies de la colonisation
allemande, par A. Aupetit. — etc.
g M. Amerika.
Annals, The, of the American Academy of Political and Social Science. Vol.
XXIX, No. 1, January, 1907: Child labor: The awakening of the South against child
labor, by A. J. MeKelway. — The extent of child labor in the anthracite coal industry,
by Owen R. Lovejoy. — The enforcement of child labor legislation in Ilinois, by Ed-
gar T. Davies. — Child labor and the nation, by Albert J. Beveridge. — Reports from
state and local child labor committees and consumers’ leagues. — ete.
Die periodische Presse Deutschlands. 719
Journal, The Quarterly, of Economics. Published for Harvard University,
Boston. Vol. XXI, 1907, No. 2, February : The taxation of corporations in Massachusetts,
by Charles J. Bullock. — Capital and interest once more: II, a relapse to the producti-
vity theory, by E. Böhm-Bawerk. — Constant and variable railroad expenditures and
the distance tariff, by M. O. Lorenz. — The socialist economies of Karl Marx and his
followers, II, by Thorstein Veblen. — Labor organization and labor polities, 1827—37,
by John R. Commons. — etc.
Political Science Quarterly. Edited by the faculty of political science of
Columbia University. Vol. XXII, 1907, Number I, March: British colonial policy,
1754—1765, by George L. Beer. — The alien contract labor law, by Samuel P. Orth. —
The variability of wages, by Henry L. Moore. — Inflation and prices, by Ernest Ho-
ward. — The concentration of German banking, by H. A. Schumacher. — The Philip-
pines and the Filipinos: a reply, by H. Parker Willis; a rejoinder, by James A. Le
Roy. — ete.
7 Review, The Yale. A quarterly journal for the scientific discussion of economic,
political, and social questions. Vol. XV, n° 3, November, 1906: The feeding of school
children, by C. S. Loch. — An American state-owned railroad by Ulrich B. Phillips. —
The depreciation of gold, by J. Pease Norton. — ete. — n° 4, February, 1907:
A German solution of the slaughter-house problem, by Robert C. Brooks. — Industrial
arbitration in New York State, by George Gorham Groat. — ete.
Die periodische Presse Deutschlands.
Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft.
Jahrg. 40, 1907, Nr. 3: Die Gewinnbeteiligung der Arbeiter in Deutschland, von W.
Heissner (Berlin). [Schluß.] — Der Außenhandel Japans, von (Prof.) Karl Theodor
von Eheberg. — Die Verkehrsverhältnisse der deutschen Binnenschiffahrt, von Hermann
Röder (Berlin-Schöneberg). — ete.
Blätter, Volkswirtschaftliche. Jahrg. VI, 1907, Nr. 6: Der Unternehmer und
seine Stellung in der heutigen Wirtschaftsordnung, von (Prof.) Brentano. — Einige Ge-
danken über volks- und privatwirtschaftliche Praxis und Wissenschaft, von J. Wernicke
(Berlin). — Das Rentabilitätsproblem in der Bevölkerungsfrage, von (M. d. R.) Heinz
Potthoff (Düsseldorf). — ete. — Nr. 7: Das Wahlverfahren der preußischen Handels-
kammer, von M. Kandt (Bromberg). — Handelskammern und Zweckverbände, von (M. d. R.)
Heinz Potthoff. — Die amtlichen Organe (Mitteilungen) der Handelskammern, von
Gottfr. Leuckfeld (Halensee, Berlin). — Die Handelskammern und ein Jahrbuch der
deutschen - Volkswirtschaft, von Rud. Dietrich (Höchst a. M.). — Die Abänderung des
Pensionsstatutes für die Beamten der Wiener Handels- und Gewerbekammer, von G.
Schwalenberg (Dessau). — etc.
Export. Jahrg. XXIX, Nr. 12: Die afrikanischen Eisenbahnen. — Die Lage
in Guatemala, eine Warnung für das deutsche Kapital. — ete. — Nr. 13: Wirtschafts-
bericht aus Rumänien. — Die afrikanischen Eisenbahnen. (Forts.) — ete. — Nr. 14:
Brasiliens auswärtiger Handel, von Carl Bolle. — Die afrikanischen Eisenbahnen. (Forts.)
— ete. — Nr. 15: Die afrikanischen Eisenbahnen. (Forts.) — ete. — Nr. 16: Die
Flüssigmachung der Bankmittel und die Geldnot. — Die afrikanischen Eisenbahnen.
(Forts.) — ete.
Jahrbücher, Preußische. Bd. 128, Heft 1, April 1907: Die Volksschule im
System des Staatsrechts, von Johannes Kretzschmar (Leipzig). — Amerikanisches und
deutsches Verfassungsleben, von Wolfgang Max Schultz (Chicago). — Die Eisenbahn-
Betriebsmittelgemeinschaft, von R. v. Kienitz (Posen). — ete.
Industrie-Zeitung, Deutsche. Jahrg. XXVI, 1907, Nr. 12. 13: Zur Berufs-
und Betriebszählung im Jahre 1907, von Arnold Steinmann-Bucher. — ete. — Nr. 14:
Die Denkschrift über die Versicherung der Privatbeamten. — ete. — Nr. 15: Die Groß-
banken im Jahre 1906, von Steinmann-Bucher. — Die britische Kolonialkonferenz, von
Georg Koch. — ete.
Mitteilungen des Handelsvertragsvereins. (Jahrg. 6.) 1907, N" 5: Wirtschafts-
politische Aussichten im neuen Reichstage, von Rud. Breitscheid. — Einzelvertrüge oder
Unionsverträge? Von P. Wangemann. — Ueble Erfahrungen bei der Rechtsverfolgung
im Auslande, von Borgius. — ete. — N" 6: Die Zollbelastung in England und Deutsch-
720 Die periodische Presse Deutschlands.
land, von (M. d. R.) Georg Gothein, — ete. — N" 7: Der Stand des Kampfes um die
Schiffahrtsabgaben, von Rud. Breitscheid. — Das Seebeuterecht, von Rud. Breitscheid.
— etc.
Monats-Hefte, Sozialistische. Jahrg. XIII, 1907, April: Agrarkrisis, Industrie
und Industriearbeiter, von Max Schippel. — Das zweite russische Parlament, von Roman
Streltzow. — Die gegenwärtige Lage des amerikanischen Sozialismus, von Morris Hill-
quit. — Frauenfrage und Kultur, von Ernst Schur. — ete,
Oekonomist, Der Deutsche. Jahrg. XXV, 1907, No. 1265: Vom volkswirt-
schaftlichen Wert des Exporthandels, von Philipp Stauff. — ete. — No. 1266: Depo-
sitenbankwesen in Amerika und Deutschland. — ete. — No. 1267: Für ein Scheck-
gesetz! Von F. Maeder (Iserlohn). — ete. — No. 1268: Das Schicksal der Börsengesetz-
reform. — etc.
Plutus. Jahr 4, 1907, Heft 12: Kalikämpfe, von G. B. — ete. — Heft 13:
Unsere Großbanken, von G. B. — ete. — Heft 14: Kalifriede, von (Bankier) Emil
Wechsler (Berlin). — Trust oder Kartell? I: Der Anlaß zum Streit, von G. B. — ete.
— Heft 15: Trust oder Kartell? II: Etwas über Nützlichkeit und Schwierigkeit der
Definitionen, von G. B. — Rechtswissenschaft und Gerichtspraxis, von (Rechtsanwalt)
Max Alsberg (Berlin). — ete. — Heft 16: Die Spezialisierung auf Handelshochschulen,
von F. R. Krossing (Berlin). — ete.
Rechtsschutz, Gewerblicher, und Urheberrecht. Jahrg. 12, 1907, Nr. 3, März:
Zeichen- und Musterschutz, von Jos. Schlossmacher (Frankfurt a. M.). — Preisschleuderei,
von (Rechtsanwalt) Ludwig Fuld (Mainz). — ete.
Revue, Deutsche. Jahrg. 32, 1907, April: Abessinien, von Graf Eduard Wicken-
burg. [Schluß.] — ete.
Revue, Politisch-Anthropologische. Jahrg. VI, N" 1, April 1907: Ludwig Wolt-
mann. Die Persönlichkeit und ihr Werk, von Raoul Richter. — Ludwig Woltmann,
ein Bahnbrecher der Sozialanthropologie, von G. de Lapouge. — Ludwig Woltmanns
Beziehungen zur Sozialdemokratie, von Ed. Berustein. — cte.
Wirtschafts-Zeitung, Deutsche. Jahrg. III, 1907, Nr. 7: Die Haftung des
Staates für die Beamten, von (Prof.) Stier-Somlo. — Der Entwurf einer neuen Eisen-
bahn-Verkehrsordnung und die Wünsche der Verkehrsinteressenten, von (Geh. Reg.-R.)
K. Stieler (Berlin). — Reform des Wechselprotestes, von Wilh. Bernstein (Berlin). —
ete. — Nr. 8: Für ein Scheckgesetz! Von F. Thorwart (Frankfurt a. M.). — Die Mittel
zur Bekämpfung der Geldnot, von Ludwig Bendix (Berlin). — Praktische Probleme der
internationalen Handelsstatistik, von Victor Heller (Wien). — Die Entwicklung der
englischen Baumwoll-Industrie, von (Handelskammersyndikus) Apelt (M. Gladbach). —
Ein Beitrag zur Frage der Streikklausel, von Walter Abelsdorff (Berlin). — ete.
Zeit, Die Neue. Jahrg. 25, 1907, N" 25: Die Produktionsverhältnisse der Petrol-
industrie in Oesterreich, von Pius Julmann (Berlin). — ete. — N’ 26: Die Dumawahlen
und die Taktik der russischen Sozialdemokratie, von A. Linitsch (Petersburg). — ete
— N" 27: Positive Leistungen der Sozialdemokratie, ein Beitrag zur Geschichte der
Gesetzgebung, von Hermann Molkenbuhr. — ete. — N’ 28: Hausindustrie und Heim-
arbeit in Baden, von A. Weissmann (Karlsruhe). — ete.
Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Kolonialwirtschaft. Herausgeg.
von der Deutschen Koloniulgesellschaft. Jahrg. IX, 1907, Heft 3. März: Die südwest-
afrikanische Entschädigungsfrage, von (Generalmajor z. D.) von Francois. — Die Fort-
schritte der deutschen Kolonialrechtsliteratur im Jahre 1905, von Friedr. Giese. —
Koloniale Probleme, von (Prof.) C. Ballod (Berlin). — Die wirtschaftliche Entwicklung
Australiens, von Erich Prager.
Zeitschrift für Sozialwissenschaft. Jahrg. X, 1907, Heft 4: Die Verstaatlichungs-
frage beim Kalibergbau, von (Geh. Ober-Finanz-R.) Georg Strutz. — Der weltwirtschaft-
liche Ausgleich zwischen Landwirtschaft und Industrie, von 8. Schilder (Wien). —
Heiratsbeschränkungen, I, von Max Marcuse (Berlin). — Der Sklavenhandel im mittel-
alterlichen Italien, von Karl Schneider (München). — ete.
Frommannsche Buchdruckerei (Hermann Pohle) in Jena.
Otto Schwarzschild, Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 721
XII.
Die Grossstadt als Standort der Gewerbe’).
Mit besonderer Berücksichtigung von Berlin.
Von
Otto Schwarzschild.
Inhalt: I. Einleitung. II. Das Standortproblem. III. Das Wesen der Stadt.
IV. Die moderne Großstadt. V. Die den Standort bestimmenden Momente in der
modernen Großstadt, besonders in Berlin. VI. Das gewerbliche Leben Berlins unter dem
Gesichtspunkte des Standortproblems. VII. Schluß.
I. Die Großstadt ist ohne Zweifel eines der wichtigsten und
interessantesten Phänomene unseres Zeitalters; kein zweites, das für
dessen wirtschaftliche und soziale Eigenart charakteristischer wäre.
Denn fast alle seine Züge schließt es in sich. Und unsere ganze
Kultur scheint in zunehmendem Maße großstädtisch zu werden.
Die heutige Entwickelung ist noch keinem Nachdenklichen als
etwas durchweg Erfreuliches erschienen. Was ist nicht alles über
die damit verbundenen sozialen, sittlichen, politischen und hygienischen
Nachteile geklagt worden! Man denke nur an die Wohnungsnot;
keineswegs ausschließlich in großen Städten auftretend, erreicht sie
hier doch schon durch die quantitative Ausdehnung eine besondere
Dringlichkeit.
Höchst bedenklich für den ganzen nationalwirtschaftlichen
Organismus ist die Entvölkerung des platten Landes auf Rechnung
der Großstädte. So verkennt auch, wer, wie Bücher, der ganzen Ent-
wickelung sympathisch gegenübersteht, die großen Schattenseiten
nicht ?). Bei rein theoretischer Betrachtung fällen selbst die, deren
Lehre unter zusammengeballten Menschenmassen erwuchs und dort
ihren Nährboden hat, ein absprechendes Urteil: Friedrich Engels
beklagt aufs bitterste die Zerreißung der Gesellschaft, die den Land-
bewohner verdumme, den Städter unter sein Einzelhandwerk ge-
knechtet habe. Der Zukunftsstaat soll wieder Stadt- und Landleben
zu harmonischer Einheit verschmelzen — ein Gedanke, der in vielen
Utopien wiederkehrt). Wie aber verläuft die Entwickelung der
Wirklichkeit? Am Beginn des 19. Jahrhunderts gab es im Gebiete
des heutigen Deutschen Reiches zwei Großstädte, mit zusammen
372000 Einwohnern t), am Ende des Jahrhunderts waren es 33, auf
1) Berliner Dissertation von 1906.
2) Vergl. „Die wirtschaftlichen Aufgaben der modernen Stadtgemeinde“, Leipzig 1898.
3) „Herrn Eugen Dührings Umwälzung u. s. w.“, S. 277 ff. vergl. Vandelvelde,
„Die Rückkehr nach dem Lande“ im Archiv f. Sozialwissenschaften, 1903. So noch in
der jüngsten: Anatole France „Sur la pierre blanche“, Paris 1905.
4) Paul Meuriot, „Des agglomerations urbaines dans l’Europe contemporaine“, Paris
1907, S. 169.
Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIII). 46
722 Otto Schwarzschild,
die 9120280 Einwohner, das sind 16,2 Proz. der Bevölkerung, ent-
fielen. In den übrigen Gebieten europäischer Kultur ist es nicht
anders. Wird sich die Amassierung immer größerer Bruchteile der
Bevölkerung weiter und weiter fortsetzen? Es ist undankbar zu
prophezeien; allein, wo sich die Tendenzen der Entwickelung
herausschälen und erkennen lassen, immerhin möglich, ein Urteil
über deren Tragweite abzugeben.
Eine gewisse Dezentralisation vollzog sich in der Bildung der
Villenvororte; doch ist dies nur ein innenstädtischer Vorgang, nur
eine Auflockerung des engen Gefüges an den Grenzen; die Macht
der Stadt wird dadurch nicht beschränkt, sondern ausgedehnt. Auch
findet die Entwickelung bald ihre Grenzen und kommt nur einem
Teil der Bevölkerung zu gute.
Nun ist in neuester Zeit in wachsendem Maße der Auszug ge-
werblicher Betriebe, oft ganzer Industrien aus der Großstadu fest-
gestellt worden. Man hat an diese Erscheinung vielfach die weitest
gehenden Hoffnungen geknüpft: Sollte nicht mit dem Erlöschen der
Anziehungskraft großer Agglomerationen auf die Industrie ein er-
heblicher Faktor ihres hypertrophischen Anwachsens ausgeschaltet
sein? —
Waentig macht auf ein Zurückbleiben zwar nicht des Bevölke-
rungszuwachses, wohl aber der Zunahme der industriellen Eta-
blissements, deren Arbeiter und der Produktwertsumme in den
100 größten Städten der Vereinigten Staaten gegenüber der des ganzen
Landes von 1890 bis 1900 aufmerksam — eine Tatsache, welche
das amerikanische Zählwerk selbst hauptsächlich auf die Verlegung
industrieller Betriebe zurückführt ). Die preußische Statistik weist
auf das prozentuell stärkere Wachstum der Landgemeinden gegen-
über den Städten in demselben Zeitraum hin und glaubt daraus ent-
nehmen zu können, daß zwar auch heute noch die ganz überwiegend
auf der industriellen Bevölkerung beruhende starke Zunahme der
Städte anhalte, sich aber „sehr viel schneller“ eine Rückwanderung
der städtischen Industrie nach dem platten Lande vollziehe?). Der
belgische Sozialist Emile Vandevelde behandelt ausführlich die „Rück-
kehr nach dem Lande“ in seiner Heimat 3).
Der amerikanische Statistiker A. F. Weber sagt: „The centrali-
zation of manufacturing system has reached its limits“ 4), und ähnlich
spricht Hobson in seinem Buche „The evolution of capitalism“ *)
von der „decentralisation of manufacturing system“. Weit übers
Ziel hinaus schießen vielfach die Hoffnungen der Freunde der
1) In „Die Großstadt“, Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung in Dresden 1903.
2) Zeitschrift des Kgl. Preuß. Statist. Bureaus, Jahrg. 1901, S. XXIX. Ueber
dieses oberflächliche Urteil s. u. 8. 782.
3) „Die Rückkehr nach dem Lande“, im Archiv f. Sozialwissenschaft 1903, auch
„Essais zur la question agraire en Belgique“, Paris 1902,
4) Adua Ferrin Weber „The growth of the cities in the XIX. century“, New York
1899, S. 202 ff.
5) London 1899, S. 345 ff.
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 723
„Landindustrie“, wie sie z. B. in einem Artikel von Thiess in der
Zeitschrift gleichen Namens zu Tage traten. Am besten orientieren
wohl Sombarts Ausführungen im „Modernen Kapitalismus“ !). Ihr
Vorzug ist, es die Frage des Augenblicks in den Zusammenhang des
umfassenden Problems gestellt zu haben, wie denn überhaupt die
Großstadt zum Standort der Gewerbe tauge.
Es lohnt wohl der Mühe, darauf einmal näher einzugehen, den
Versuch zu machen, schlechthin festzustellen, welche Kräfte die
Industrie an die große Stadt fesseln, welche sie von dort vertreiben
können. Das Auge wird so auf den werdenden Prozeß der „Ent-
industrialisierung“ richtig eingestellt, indem es ihn als eine Einzel-
phase der allgemeinen Entwickelung ergreift; — dann aber kann
auch die Funktion, welche die Großstadt innerhalb des volkswirt-
schaftlichen Organismus als Erzeugerin gewerblicher Produkte spielt,
näher bestimmt werden, und eine der wichtigsten Tatsachen, der
räumlichen Anordnung der Industrie wird verständlich.
Es ist nur auf die modernen Großstädte abgesehen, da sowohl
das Städtewesen wie die ganze wirtschaftliche Struktur anderer
Zeiten zu verschieden sind.
II. Da bedarf es zunächst einer Untersuchung, welche Momente
für die Ansiedelung eines Gewerbes überhaupt in Betracht kommen.
Das bedeutet ganz allgemein die Erörterung des Standortproblems
für die stoffveredelnde Tätigkeit. Sombart hat nun, nachdem er die
allgemeine Frage aufgeworfen, es dennoch unterlassen, sie genauer
zu bestimmen, und kommt daher für den Einzelfall zu einem,
mindestens sehr einseitigen, Ergebnis. Er sagt freilich ausdrücklich,
es handle sich bei ihm nur um eine Skizze; dann hätte er aber
auch Schäffle nicht vorwerfen dürfen, seine „feinsinnigen Ausfüh-
rungen“ seien nicht genug durchdacht. Denn trotz manchem, was
sich dagegen sagen ließe, bieten diese die umfassendste Behandlung,
die dem Problem zuteil geworden ist ?).
Schäffle behandelt es in engem Anschluß an die berühmten
Ausführungen Thünens in dessen „Isoliertem Staat“, an die man
überhaupt zu denken pflegt, wenn vom Standorte die Rede ist. Es
dürfte daher am Platze sein, einmal klarzustellen, um was für ein
Standortproblem es sich dort handelt und welches andere noch da-
neben besteht.
Die Frage, die Thünen beantworten will, ist von der unseren
wesentlich verschieden. Sein Hauptzweck ist es, die Abfolge der
Betriebssysteme und ihre Relativität darzulegen. Infolge der Eigen-
tümlichkeit der Landwirtschaft ist es nun möglich, die zeitliche oder
besser sachliche Entwickelung dieses Produktionszweiges auf die Fläche
zu werfen, auf dem Kreisrund des isolierten Staates die Intensifika-
tionsphase in einer räumlichen Sphäre zu treffen. Denn die landwirt-
schaftliche Produktion haftet am Boden; sie stellt Produkte von
1) Bd. 2.
2) „Das gesellschaftliche System des menschlichen Wirtschaft“, Bd. 3, S. 274 ff.
46*
724 Otto Schwarzschild,
geringem spezifischen Wert her, weshalb die Transportkosten der
fertigen Erzeugnisse von ausschlaggebender Bedeutung sind. Sie
zehren in wachsender Entfernung vom Markt immer bedeutendere
Teile der gesamten Kosten auf, so daß bei einem festen Absatzpreise
die eigentliche Herstellung immer billiger werden muß. Nun ist
aber die Intensität des Betriebes im Agrarwesen an die Höhe eben
der eigentlichen Herstellungskosten der Produkteneinheit gebunden:
muß man diese proportional zur Entfernung vom Absatzorte immer
mehr herunterdrücken, so heißt das mit anderen Worten: Die Be-
triebsintensität nimmt in demselben Verhältnisse ab.
Im Gewerbewesen liegen diese Dinge alle anders. Die Pro-
duktion ist beweglich, da sie den Boden nur als Standort, nicht als
Behälter von Stoffen und Vermittler von Stoffumformungen benutzt.
Man könnte sie, wenn die Transportkosten eine wesentliche Ver-
teuerung hervorrufen würden, am Absatzmarkt selbst vor sich gehen
lassen. Der entfernter liegende Betrieb der die Produkteinheit
billiger herstellen müßte, würde aber vermutlich gar nicht der exten-
sivere, sondern der intensivere sein, da ja nicht das Gesetz der
steigenden, sondern das der sinkenden Kosten herrscht. Schließlich
aber sind die Transportkosten des fertigen Produktes bei dem
hohen spezifischen Werte desselben überhaupt so gut wie belanglos !).
Man sieht, die Thünensche Gleichung müßte nicht nur erheb-
lich umgestaltet werden, ihre mathematische Methode führt hier ad
absurdum. Induktive Lehren müssen den Gang der Intensifikation
des Gewerbewesens darlegen. Mit einer ideellen räumlichen Anord-
nung fällt er nicht zusammen.
Uns kommt es aber gar nicht auf eine solche, sondern auf die
Lage in der Wirklichkeit an. Wenn wir die Großstadt als Standort
der Gewerbe untersuchen, soll eine Feststellung der Wirtschafts-
geographie erklärt werden. Ein analoges Problem würde die Klein-
stadt, der Zwerggütlerdistrikt u. s. w. als Standort der Gewerbe
bilden und im Agrarwesen das Vorkommen dieser und jener Kultur
in einem bestimmten Gebiet, wie etwa das des Kaffeebaues in den
tropischen Republiken Amerikas. Diese Tatsachen, wie sie jedes
geographische und kaufmännische Handbuch, wie sie aber ‘auch
Roscher in zusammenhangsloser Massenhaftigkeit vorsetzt?), müssen
analysiert und zu kausalem Verständnis gebracht werden. Landen
wir so nicht in geographischen Einzelforschungen ? Wir wären an
eine fremde Küste verschlagen. Die Geographie hat hier nur als
Hilfswissenschaft zu dienen. Aber selbst im Gebiete der Urpro-
duktion, wo der physikalische Faktor die erste Rolle spielt, lassen
sich derlei Fragen nicht mit ihren Mitteln allein lösen: rein tech-
nisch ist es keineswegs notwendig, daß in Venezuela und Columbien
der Kaffeebau dominiert, daß der Boden Altenglands mit Wiesengras
statt mit Weizen bedeckt ist. Bei aller Produktionstätigkeit handelt
1) Was die Transportkosten der Rohmaterialen und Halbfabrikate angeht s. S. 735 ff.
2) Ansichten der Volkswirtschaft aus dem geschichtlichen Standpunkt II, 1.
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 725
es sich um eine Lenkung der Naturkräfte seitens des Menschen.
Neben den natürlichen tritt der gesellschaftliche Faktor; er wird
um so bedeutungsvoller, je unabhängiger sich die Produktion vom
Boden macht. Da nun auch der Zweck der Produktion überall der-
selbe ist, so lassen sich von vornherein die Faktoren in abstracto
feststellen, welche jene konkreten Einzeltatsachen bedingen.
Der wirtschaftliche Standort ist dort, wo die Lage dem Zweck
am besten entspricht und zugleich die Mittel am günstigsten dar-
bietet. Wie Schäffle es ausdrückt, ist er im Gewerbe, wie in der
Urproduktion „von der örtlichen Gestaltung der Nachfrage und der
Kosten bedingt“. Bei der Nachfrage ist die örtliche Bedarfsbildung,
die unmittelbare, wie die durch den Handel gegebene mittelbare zu
untersuchen. Bei den Kosten unterscheidet Schäffle Fälle vor-
wiegenden Kapital und vorwiegenden Arbeitsbedarf. Das ist nicht
klar genug. Zu jeder Produktionstätigkeit sind drei Faktoren not-
wendig: „die natürlich gegebene räumlich unveränderte Grundlage,
das Land; die produzierten beweglichen oder doch nach mensch-
lichem Willen räumlich fixierten Sachgüter, das Kapital; daß diese
toten Faktoren belebende Element, die Arbeit“ 1).
Wir haben also zu fragen: Wie sind in einem bestimmten Ge-
biete diese drei Faktoren vertreten; wie bedarf ihrer das einzelne
Gewerbe und die einzelne Betriebsform ?
III. Nach dieser Formulierung der Standortfrage ist das Wesen
des in Betracht kommenden Gebietes näher ins Auge zu fassen.
Die moderne Großstadt ist nun nicht eine nur einmal, sondern
in zahlreichen Einzelfällen vorkommende Erscheinung. Und diese
Einzelfälle sind von grundsätzlich so gleichartigem Charakter, daß
ein bestimmter Typus ohne weiteres feststeht. Es ist daher mög-
lich, die den Standort bedingenden Momente an diesem Typus zu
untersuchen und damit die Frage für den einzelnen Fall wenigstens
insoweit zu lösen, als die typischen Züge durch örtliche Zufällig-
keiten nicht kompliziert und korrigiert werden.
Um aber das Wesen der modernen Großstadt zu verstehen,
bedarf es zunächst der Klarheit darüber, was eine Stadt über-
haupt sei.
Die Statistik hat sich über die Schwierigkeit, den Begriff zu
definieren, hinweggesetzt, indem sie nur noch von mehr oder minder
großen Agglomerationen spricht; von ihrem Standpunkt handelt
es sich nur um quantitative Verschiedenheiten derselben Erscheinung.
Kann sich die politische Oekonomie in derselben Weise zufrieden
geben ? ?)
Ohne Zweifel liegt auch für sie in der Größe der Siedlung das
nächste Kriterion; Orte, auf die, wie auf industrielle Dörfer und
1) Philippovich, Grundriß, I, S. 111.
2) Adolph Wagner gesteht Grundlegung, I, 2, S. 478 die Unzulänglichkeit des
statistischen und verwaltungsrechtlichen Begriffes zu und betont demgegenüber „die
wirtschaftliche und kulturelle lokale Gemeinschaft“. Worin aber besteht diese, wie weit
erstreckt sie sich ?
726 Otto Schwarzschild,
kleine Badeorte im übrigen der Begriff Stadt anzuwenden wäre!),
nennen wir doch nicht so, weil ihre Bevölkerung zu gering ist. Aber,
Agglomeration ist eben noch nicht alles. Noch an etwas anderes
wird gedacht, wenn wir von Städten sprechen. Ohne Zweifel „Stadt“,
das ist das Gegenteil von Land. Die Stadt stellt ihren Unterhalt
nicht selbst her, sondern bezieht ihn von draußen. In diesem für
den Statistiker irrelevanten Bezug von Erzeugnissen der Urproduk-
tion liegt ein Moment, das allen Siedlungen, auf die es zutrifft, eine
Eigentümlichkeit verleiht, die sie vor allen anderen grundsätzlich
kenntlich macht, und in der wir daher das zweite Kriterion des Be-
griffes Stadt zu sehen haben.
Als drittes gesellt sich der soziale Zusammenhang der Ein-
wohnerschaft hinzu, welcher die Stadt z. B. von einem Heerlager
unterscheidet?). Für uns ist vor allem das zweite von Bedeutung.
Es drückt bereits etwas Qualitatives und, wenn auch zunächst ganz
allgemein und bloß negativ die volkswirtschaftliche Funktion der
Stadt aus: „It is the surplus of the country only... . that con-
stitutes the subsistance of the town“). Man könnte diesen alten
Satz, der hier in der von Sombart hervorgehobenen Smithschen
Formulierung gegeben ist, im Zeitalter des Dampfes, wo die ganze
Erde zum Unterhaltsgebiete jeder Stadt geworden ist, für eine
Trivialität halten; er hat sicher nicht mehr die methodologische
Fruchtbarkeit, wie früher, als Petty und Hume nach ihm die Masi-
malgröße einer Siedlung zu bestimmen suchten‘). Aber er weist
auf die Funktion der Stadt innerhalb des gesamten volkswirtschaft-
lichen Organismus hin, indem sich ganz ungezwungen die Frage an
ihn schließt: Auf welche Weise, kraft welcher Rechte wird das Ueber-
schußprodukt bezogen ?
Hier liegt mehr als eine Möglichkeit vor. Und Roschers An-
sicht, der Unterschied zwischen Stadt und Land laufe im wesent-
lichen auf den zwischen Gewerbe und Ackerbau hinaus, ist dem-
gegenüber viel zu eng). So einfach lagen die Verhältnisse schließ-
lich nur in der frühmittelalterlichen Stadt, wie sie uns Bücher ge-
schildert hat. Ihr Wesen macht es aus, der Standort der Gewerbe
zu sein, soweit sich diese von der Urproduktion getrennt und ver-
selbständigt hatten; ja, sie ist es in einem so entschiedenen Sinne,
daß sich die beiden Begriffe für dieses Zeitalter nahezu decken. Aber
es ist irrig, die Stadt ausschließlich auf gewerblichem Unternehmer-
gewinn und Arbeitslohn beruhen zu lassen. Sie kann vielmehr auf
jeder Einkommenart beruhen: auf Grundrente, Kapitalzins, Handels-
profit, Tribut u. s. w.
1) Wie aus dem weiteren folgt.
2) Diese läßt sich demnach definieren als eine relativ große, sozial in sich zu-
sammenhängende Agglomeration, die ihren Unterhalt aus fremder landwirtschaftlicher
Produktionstätigkeit bezieht. Den Hinweis auf das Moment des sozialen Zusammen-
hanges verdanke ich dem Buche von Paul Sander: Feudalstaat und bürgerliche Ver-
fassung, Berlin 1906.
3) Adam Smith, „Wealth of nations“, III, 1.
4) A. F. Weber, S. 458 ff.
5) System, III, S. 28.
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 727
Und zwar muß sie diese Einkommen stets als Entgeld für irgend
welche wirtschaftliche, politische, religiöse Tätigkeit für ein weiteres
Gebiet beziehen; sei es als Werkstatt für die Bannmeile, als Fabrik
oder Geldmarkt für einen Erdteil, als fürstliche Residenz, als völki-
sches Heiligtum; in sich selbst vermag sie nie ökonomische Be-
friedigung zu finden. — Nun verlangt aber ein großer Teil der
menschlichen Bedürfnisse nach Sachgütern und persönlichen Diensten
deren Herstellung und Leistung am Orte des Bedarfes selbst.
Die Tätigkeiten, welche diesen Zweck verfolgen, sind an das
Drinnen gebunden, und nur dies kann für sie als Standort in Be-
tracht kommen. Sie finden ihre Beschäftigung nur im lokalen Be-
darf, haben nur lokale Bedeutung; wir können sie daher lokal-
wirtschaftliche Tätigkeiten nennen. Für sie, daher auch
für die loekalwirtschaftlichen Gewerbe, besteht kein Stand-
ortproblem, sie können nur dort existieren, wo ihre Produkte, ihre
Dienste am Platze verlangt werden, denn sie sind ökonomisch ganz
und gar auf die Klassen angewiesen, die das Ueberschußprodukt des
Landes an die Stadt ziehen. In dem Rechtsgrund dieses Bezuges
liegt die volkswirtschaftliche Funktion der Stadt. Mag der lokal-
wirtschaftliche Teil der Bevölkerung auch der numerisch überwiegende
sein, es ändert nichts daran, daß er ganz und gar von dem volks-
wirtschaftlichen abhängig ist; sein Einkommen ist nur eine Quote
des von draußen hereinfließenden gesamten Stadteinkommens, die
ihm von jener Klasse abgetreten wird!). Indem so das Wesen des
in Betracht kommenden Gebietes näher erkannt wird, vereinfacht
sich von selbst das Problem, für welche Gewerbe es einen Standort
bietet. Der Umkreis, innerhalb dessen das letztere allein von In-
teresse ist, beschränkt sich auf die volkswirtschaftlichen Gewerbe.
Wäre es doch eine Trivialität, noch besonders nachweisen zu wollen,
daß eine große Agglomeration viele Schuster und Schneider nötig
hat; — wenn sich aber die Bewohnerin entfernter Erdteile in Paris
ihre Kleider machen läßt, lohnt es der Mühe, zu fragen, weshalb die
Schneiderei als ein volks-, besser weltwirtschaftliches Gewerbe dort
ihren Standort hat.
Wenden wir uns nun der konkreten historischen Entwickelung
zu, so fragt es sich, ob die mittelalterliche Stadt Standort der Ge-
werbe geblieben ist. Für die Bannmeile konnte sie es jedenfalls
nicht mehr sein. Denn die kleinen Wirtschaftsorganismen werden
gesprengt: das stadtwirtschaftliche System ward durch die Wirtschaft
eines konsolidierten Staates ersetzt; damit tritt, wie Bücher sagt,
„an Stelle der lokalen Arbeitsteilung der autonom wirtschaftenden
Stadtgebiete eine nationale Arbeitsteilung, welche allen Produktions-
zweigen denjenigen Standort anzuweisen strebt, wo die Bedingungen
1) Man vergegenwärtige sich das an einem konkreten Beispiel. Ein Konsumtions-
zentrum, wie etwa Wiesbaden, beruht auf den Renten, die von draußen bezogen werden
und auf den Gewinnen der Fremdenindustrie; verschwände der diese Einkommen be-
ziehende Teil der Bevölkerung, könnte der verbleibende nicht weiter existieren. —
Städtische Grundrente z. B. würde sich nicht bilden.
728 Otto Schwarzschild,
für ihr Gedeihen am günstigsten sind“ 1). Jetzt kommt es also darauf
an, wo innerhalb des ganzen Staatsgebietes der vorteilhafteste Platz
für dieses oder jenes Gewerbe ist. Daher wird erst mit der Ent-
stehung einer eigentlichen Staats- und Volkswirtschaft die Standort-
frage zu einem wirklichen Problem, das dann für ihre organische
Zusammensetzung von höchster Bedeutung ist.
Es soll uns hier nicht in seinem ganzen Umfange beschäftigen.
Nur inwiefern die große Agglomeration als solche Bedingungen
schaffe, welche der Niederlassung volkswirtschaftlicher Gewerbe-
betriebe günstig oder ungünstig sind, ist zu untersuchen. Dabei
wird auch die umgekehrte Frage, wie die auf irgend einem anderen
Grunde beruhende Konzentration der Industrie ihrerseits eine Groß-
stadt hervorzurufen im stande sei, ausgeschaltet. Diese Herauslösung
des Problems geschieht keineswegs aus einem rein theoretischen
Interesse. Die großen Mittelpunkte des Landes, die Handelsmetro-
polen und großen Verkehrszentren verdanken gewiß ihre Bedeutung
zum guten Teil ihrem gewerblichen Leben, aber das Vorhandensein
eines Zentralpunktes und einer Bevölkerung von gewisser Größe ist
dennoch zeitlich und auch sachlich das Primäre. Die rein durch
die örtliche Konzentration der Industrie entstandenen Städte nehmen
dazu bei weiterem Wachstum die typischen Züge jener eigentlichen
Großstädte an, die Industrie hat daher auch hier bei ihrer Nieder-
lassung auf die eigentümlichen Bedingungen Rücksicht zu nehmen,
welche ohne weiteres durch eine zahlreiche amassierte Bevölkerung
gegeben sind. Wie die letztere an sich auf die Industrie wirkt, läßt
sich daher um so unbefangener ermitteln, je größer die Siedlung ist °).
Die modernen Großstädte sind nun ursprünglich Konsumtions-
zentren und Handelsstädte: Grund- und Kapitalrente, Handels- und
Bankprofite ermöglichen ihnen den Bezug des ländlichen Ueberschuß-
produktes. Die großen Nationalökonomen des 18. Jahrhunderts, auf
die Sombart in beredten Worten zurückweist®), haben uns ein Bild
der Großstadt in ihren Anfangsstadien gezeichnet. Es ist der „Wohn-
sitz der Verzehrer“, derjenigen, „die da wohnen können, wo es ihnen
beliebt“ $), zunächst der Regierung und der Grundrentner.
Dieser Stadttypus hat eine lebhafte Anziehungskraft auf die ver-
schiedenen Industrien ausgeübt, ohne seine grundsätzliche Eigenart
im wesentlichen zu ändern.
Für den Beginn des Eisenbahnzeitalters, in dem das am deut-
lichsten bemerkbar wird, liegt z. B. die Schätzung vor, daß sich von
1816 bis 1847 die Fabrikarbeiterschaft in Berlin um 170,41 Proz.
stärker vermehrt habe, als die gesamte Bevölkerung’). Der äußere
Charakter der Stadt änderte sich in einer Weise, daß die Meinung
1) Bücher, Art. Gewerbe im Handwörterbuch der Staatswissenschaften.
2) „ ... it is not so much manufacturing industry as commerce that builds up
great cities.“ A. F. Weber, S. 404.
3) Mod. Kap. II, S. 196ff.
4) James Stewart „Grundsäze“ Stuttgart 1769, S. 62 ff.
5) Kommunalblatt des Magistrats von 1860, zit. Hirschberg. „Die soziale Lage
der arbeitenden Klassen in Berlin, Berlin 1897, S. 6.
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 729
entstehen konnte, ihre Bedeutung und ihr Wachstum beruhe auf der
großen Industrie. Diese Ansicht wird beispielsweise für Berlin 1868
von Engel!) vertreten. Engel, der den Unterschied zwischen „vor-
herrschend für den örtlichen Bedarf beschäftigten Gewerbetreibenden“
und „vorherrschend für den Großhandel beschäftigten Gewerbs-
anstalten“ macht, berechnet die Zahl der ersteren auf
69 186
gegenüber 43 584
beschäftigten Personen in der zweiten Kategorie.
Die sich sogleich an diese Berechnung anschließende Behauptung,
„sonach“ sei Berlin im wesentlichen eine Industriestadt und „ihr
rapides Wachstum eine Folge dieser Eigenschaft“, können wir an der
Hand der Engelschen Zahlen selbst mit Sombart als „entschieden
falsch“ bezeichnen. — Wie ursprünglich die moderne Großstadt ein
selbständiges Gebilde ist, so ist sie dies auch trotz des lebhaften
Zuzugs der Industrien bis heute geblieben. Die Grundrentner spielen
nicht mehr die Rolle wie früher. Aber der wachsende Machtbereich
des Staates macht die Hauptstädte zu immer wichtigeren Organen
des gesamten nationalen Lebens; das moderne Verkehrswesen fand
in den Zentren des Landes seine natürlichen Ausgangspunkte; das
Bankwesen der Großstädte erlangte das Uebergewicht innerhalb der
ganzen Volkswirtschaft.
Heute, wie einst, ist die Großstadt nicht auf das Vorhandensein
großer Industrien angewiesen. Daß solche, sind sie einmal da, einen
bedeutenden Einfluß auf innere und äußere Gestalt der Siedlung
ausüben, soll gewiß nicht bestritten werden. Vorerst aber handelt
es sich darum, wie sie überhaupt hinkommen, weshalb, inwieweit
sie sich dort halten. Diese Frage wird durch die oben geäußerten
Ansichten über die „Entindustrialisierung“ der Großstadt besonders
interessant. Sombart führt aus, daß hauptsächlich aus folgenden
Gründen die große Stadt dem gewerblichen Unternehmer als Stand-
ort günstig erscheine:
1) wegen der Nähe der Handels- und Kreditunternehmungen;
2) wegen der Sicherheit, hochqualifizierte Arbeiter (oder über-
haupt Arbeiter in genügender Menge) am Platze zu finden;
3) wegen der Nähe wissenschaftlicher und technischer Hilfskräfte ;
4) wegen des Angebots besonders billiger Arbeitskräfte.
Aber infolge der „zunehmenden Intensität der kapitalistischen
Wirtschaftsweise‘“ seien diese günstigen Bedingungen nicht mehr
städtisches Monopol, andererseits mache sich mehr und mehr un-
günstig bemerkbar „die Verteuerung des Standortes in den größten
Städten . . . . infolge rapiden Steigens der städtischen Grundrente‘
„und die Verteuerung der qualifizierten Arbeitskraft‘ 2). Treffen
die angeführten Punkte auch im großen und ganzen das Richtige,
so greifen sie doch die wirksamen Momente zu sehr aus dem Zu-
sammenhange heraus, ihre begriffliche Anordnung ist zu zufällig und
Q
1) Gemeindekalender und städtisches Jahrbuch für 1868, S. 134 ff.
2) S. 218 ff.
730 Otto Schwarzschild,
für die Weiterführung des Gedankens unfruchtbar. Wir wollen uns
an das oben entworfene Schema der den Standort bestimmenden
Momente halten und zunächst auf die Gestaltung in der Großstadt
im allgemeinen eingehen, wobei aber auch schon berücksichtigt
werden soll, wie die typischen Züge in der größten deutschen Stadt,
in Berlin, zu Tage treten. Im Anschlusse daran soll dann das ge-
werbliche Leben “dieser Stadt unter dem Gesichtspunkte des Stand-
ortproblems betrachtet werden. Daß gerade Berlin gewählt wurde,
ist beinahe selbstverständlich; es ist die größte deutsche Stadt, der
ausgesprochenste Typus der Großstadt in Deutschland. Zweifellos
hätten Paris und London aus manchen Gründen noch besser für
eine derartige Untersuchung getaugt. Sie sind noch mehr Welt-
stadt, stellen einen ausgereiften Typus vor — das Ueberschnelle,
Parvenühafte fehlt; andererseits spielt in London der Seeverkehr
eine Rolle, die wesentlich neue und abweichende Gesichtspunkte in
die Betrachtung bringt. Paris ist in ausgesprochenerem Sinne Landes-
zentrum als Berlin, aber die Volkswirtschaft dieses Landes befindet
sich in einer gewissen Stagnation. Besonders interessant ist eine
Betrachtung der großen amerikanischen Städte von unserem Stand-
punkte aus. Sie ist vor Jahren von Laspeyres unternommen worden !);
für die heutige Zeit liegen das vorzügliche Buch von A. F. Weber
und wertvolle Bemerkungen von Waentig vor?) (der aber auch die
europäischen Städte mit betrachtet), die uns gestatten, einen ver-
gleichenden Blick auf die dortigen Verhältnisse zu werfen.
Berlin ist natürlich, wie jede gedeihende Siedelung mit genauer
Rücksicht auf die geographische Lage angelegt). Die außerordent-
lich wichtige Lage für den Wasserve erkehr kommt in erster Linie in
Betracht. "Aber hätten die märkischen Fürsten ihre Residenz in
Brandenburg belassen oder in Köpenick oder Rathenow gewählt, so
stände Berlin heute auf der Stufe dieser Städte; auch der idealste
Verkehrsmittelpunkt eines Landes würde nicht zur Millionen bergenden
Kapitale ohne den kräftigen Willen des Staates und des Volkes. Heute
münden die wichtigsten Eisenbahnlinien Norddeutschlands in Berlin,
ist es der Mittelpunkt eines großen Wasserstraßennetzes; das mag für
diese oder jene Industrie Grund genug sein, sich dort niederzulassen;
aber Kanäle und Eisenbahnen sind erst Folgen des Vorhandenseins
der Stadt. Die aber verdankt ihr Dasein und ihre Bedeutung allein
dem Staate, der sich zum ersten in Deutschland und Mitteleuropa
zu machen wußte. Es bedarf hierüber keiner weiteren Ausführungen.
IV. Berlins Industrie ist zum größten Teile von dem merkan-
tilistischen Staat des 18. Jahrhunderts unmittelbar hervorgerufen
worden.
Eine Eigentümlichkeit der früheren brandenburgisch-preußischen
1) E. Laspeyres, Die Gruppierung der Industrie innerhalb der nordamerikanischen
Union, Vierteljahrsschrift für Volkswirtschaft, 1870/71.
2) „Die Großstadt“.
3) Speziell behandelt bei Roscher, Ansichten, I, S. 356, Meuriot, S. 69. „ Vegl
auch Ratzel in „Die Großstadt“.
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 731
Politik kommt hier besonders in Betracht. War es im Mittelalter
selbstverständlich gewesen, daß ein auf eigenen Füßen stehendes
Gewerbe in die Stadt gehöre, so ist das von dem Augenblick, wo
sie jene eigentümliche politisch ökonomische Rolle ausgespielt hatte,
prinzipiell nicht mehr der Fall. Das platte Land mußte, seitdem
auch die Herstellung ordinärerer Produkte dem Großbetrieb anheim-
fiel, als Standort der Industrie mehr und mehr in Betracht kommen.
In England hat sich die alte scharfe Scheidung zwischen Stadt und
Land früh verwischt, in Brandenburg wurde sie durch das zwiefache
Steuersystem künstlich aufrecht erhalten. In der Stadt aber wurden
die Gewerbe, vollends in ihrer neuen ÖOrganisationsform, auf alle
Arten gefördert und vielfach erst durch das direkte Eingreifen des
Staates begründet. Wiedfeldt nennt zwei Wurzeln für die Ent-
wickelung des Großbetriebes in Berlin, „die Staatstätigkeit, welche
den Absatz schuf, den Verlag besorgte — durch Konzessionen,
Prämien, Zollpolitik und direkte Geldunterstützungen die neuen Be-
triebsformen einführte und förderte“ und „die Einwanderung, welche
das hierzu erforderliche, technisch geschulte, unternehmungslustige
und freidenkende Menschenmaterial lieferte“ 1). Aber auch diese ist
ja auf das Bemühen des Staates zurückzuführen, die wirtschaftlichen
Kräfte des Landes zu steigern.
Auch späterhin, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hat
es nicht an direkter Staatshilfe gefehlt.
Diese Konzentration der staatlichen Macht hat aber mittelbar
noch viel stärker auf das gewerbliche Leben gewirkt! Sie schuf mit
der Millionenstadt eine unerhörte Bedarfskonzentration, die stärkste
in Deutschland. Die großen, am Platz vereinigten Menschenmassen
machen eine starke Entwickelung der lokalwirtschaftlichen Gewerbe
notwendig. Nun sind aber die Grenzen der beiden, begrifflich streng
zu scheidenden Gewerbekategorien in der Wirklichkeit schwimmend.
Die Entstehung und allmähliche Entwickelung eines lokalwirtschaft-
lichen Gewerbes zum volkswirtschaftlichen ist sehr wohl möglich;
— um so eher, je umfangreicher und differenzierter das Gebiet der
ersteren ist, je leichter sich Verbindungen mit der Volks- und Welt-
wirtschaft anknüpfen lassen — also gerade in der großen Stadt.
Die Hauptstadt wird zum Mittelpunkt eines weit verzweigten
Schienennetzes, das ihr einen immer wachsenden Fremdenstrom zu-
führt, Gegenstände, nach denen die Nachfrage sonst zu verzettelt
ist, werden nur hier feilgeboten, an den direkten Verkauf an Aus-
wärtige schließt sich der Versand an. Und so wird es bald schwierig,
zu beurteilen, ob diese oder jere Unternehmung mehr lokal- oder
volkswirtschaftlicher Art ist. Zahlreiche heimische Großindustrien
sind volkswirtschaftliche Industrien auf lokalwirtschaftlicher Basis.
Die ersten, die sich in den Hauptstädten niederließen, haben Luxus-
artikel hergestellt, wie sie die höfische Gesellschaft des ancien régime
1) Statistische Studien zur Entwickelungsgeschichte der Berliner Industrie von
1720 bis 1890. Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen, Bd. 18, Heft 3, S. 62.
132 Otto Schwarzschild,
verlangte; hier entstanden die „Prachtfabriken“, die ersten Seiden-
webereien und Porzellanmanufakturen. Hier versorgt sich noch
heute der Provinziale mit den Neuheiten der Mode, ist der beste
Platz, den Ruf eines auf den Markt gebrachten Artikels zu ver-
breiten. So findet sich bei Industrien, deren Produkte in der Groß-
stadt konsumiert und von dort versandt werden, eine starke Tendenz,
sich am Platze anzusiedeln. Und an diejenigen, welche genußreife
Güter herstellen, schließen sich die der Halbfabrikate und Werk-
zeuge leicht an. Dazu tritt nun wieder der direkte Bedarf der
öffentlichen Körper, der sich, ohne daß damit, wie einst, eine be-
sondere wirtschaftspolitische Maßregel verknüpft sein sollte, in der
Millionenstadt, der Hauptstadt des Landes, naturgemäß konzentriert.
Was Wunder, daß hier für die Versorgung der Armee produziert
wird, daß die Waffenfabrikation, der Lokomotivbau aufblüht u. s. w.
Noch wichtiger, als die unmittelbare Nachfrage der Massen und
des Staates mag die des in der Metropole konzentrierten Großhandels
sein. Sie ist in der heutigen Volkswirtschaft, wo die Entscheidung
über den volkswirtschaftlichen Produktionsprozeß in den Händen
des kaufmännischen Unternehmers liegt, von durchschlagender Be-
deutung. Somit ist in der Großstadt, dem Zentrum der Bevölkerung,
des Handels und Verkehrs, die Absatzmöglichkeit überhaupt am
größten, und daher, wenn man nur die eine Seite der unser Problem
bestimmenden Faktoren in Erwägung zieht, geradezu der beste
Standort für die gewerbliche Produktion. Das tritt historisch darin
zu Tage, daß neu ins Leben tretende Industrien sich mit Vorliebe
hier niederlassen. Die Anziehungskraft der alten staatswirtschaft-
lichen Metropole erscheint ganz unbegrenzt. Betriebe siedeln sich
an, für die aus anderen Gründen die Stadt das denkbar ungünstigste
Pflaster ist, wie z. B. Zuckerfabriken.
Es werden sich nun die durch die Konzentration des Bedarfes
an genußreifen Gütern, durch die des Handels u. s. w. in der Haupt-
stadt domizilierten Gewerbe so lange dort halten, als die Vorteile
eines glatten Absatzes und einer schnellen Ausbreitung ihres Rufes
die Nachteile überwiegen, die ihnen durch die mit geringeren Pro-
duktionskosten arbeitende Konkurrenz in der Provinz bereitet wird.
Mag sein, daß manche über diesen Zeitpunkt hinaus verharren, weil
sich die Unternehmer mit geringeren Gewinnsten begnügen, denn
„der Standort bleibt bei den alten Geschäften der meisten Industrien
mehr oder weniger dauernd bestimmt durch die Konjunktur der Ent-
stehungsperiode“ 1). Am längsten können es die Gewerbe aushalten,
die am ehesten die erhöhten Produktionskosten auf die Käufer ab-
zuwälzen imstande sind — vor allem die Luxusgewerbe. Für sie ist
aber auch die Gestaltung der Produktionsfaktoren — die vom Stand-
punkte des Unternehmens Kostenfaktoren sind — in der Großstadt
besonders günstig. Auf diese gilt es nunmehr genauer einzugehen,
denn wie Schäffle sagt, „der wirtschaftliche Gesichtspunkt geringster
1) Schäffle, S. 288.
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 733
Kostspieligkeit wird mit fortschreitender Entwickelung maßgebend
für die Wahl des Standortes gewerblicher Betriebe“ !).
Dafür ist, wie Roscher, wenn auch ziemlich unklar, ausführt ?),
„ein sehr allgemeiner, tief in der Natur jeder volkswirtschaftlichen
Entwickelung liegender Grund“ vorhanden. Es ist nämlich bei zu-
nehmender Differenzierung und Integrierung des Wirtschaftslebens
bei der Herstellung reproduzibler Güter allemal der Betrieb maß-
gebend, der dasselbe Produkt mit den geringsten Kosten herstellt.
Also einfach eine Anwendung des mit zunehmendem Verkehr auf
die Dauer ausschlaggebenden Kostengesetzes auf unser Problem °)!
Wie gestalten sich nun die Produktionsfaktoren in der großen
Stadt? Man muß sich bei dieser Frage gewissermaßen auf den
Standpunkt des Unternehmers stellen, der in der Hauptstadt ein
Gewerbe betreiben will und ohne sich über das Was und Wie noch
entschlossen zu haben, die einzelnen Produktionsfaktoren prüft, um
zu beurteilen, in welcher Richtung und Kombination er sie am besten
verwenden kann.
Grund und Boden kommt in Betracht vermöge seiner Trag-
fähigkeit, als Standort menschlichen Lebens überhaupt +). Es handelt
sich um die Nutzung dieser ursprünglichsten, unerschöpflichen Eigen-
schaft. Infolge der Beschränktheit des städtischen Gebietes und des
Umfanges der Nachfrage tritt hier die Grundrentenbildung „am
reinsten und am wenigsten durch störende Einflüsse getrübt“ 5) zu
Tage. Die Nachfrage verlangt nun Böden zu folgenden Zwecken:
1. zu Wohnzwecken,
2. zu gewerblichen Zwecken,
a) zu Zwecken des Absatzes, in Läden u. s. w.
b) zu Zwecken der Anlage von gewerblichen Betrieben.
Am stärksten ist die Grundrentenbildung auf dem unter 2a an-
geführten Boden, denn er ist der räumlich beschränkteste, die Nach-
frage danach aber am leistungsfähigsten, weil hier vor allem die
günstige Lage als wertbildender Faktor in Betracht kommt®). Daß
auch auf dem Boden die Grundrentenbildung in der Großstadt äußerst
stark ist, ist eine bekannte und oft genug beklagte Tatsache; jedoch
erreicht hier die Rente nie eine solche Höhe, wie in den Geschäfts-
vierteln. Auf dem Boden 2b kann es zu einer selbständigen Grund-
rentenbildung nur ausnahmsweise kommen: etwa in unmittelbarer
Nachbarschaft von Häfen, Wasserstraßen, Eisenbahnen. Indem sich
1) S. 278.
2) Ansichten, II, S. 68.
3) Vergl. Wagners Grundlegung, I, S. 340.
4) Vergl. Mithoff, Art. Grundrente, auch Wagner, Art. Grundeigentum im Hdwb.
der Staatsw.
5) Mithoff.
6) Vergl. Paul Schwarz, „Die Entwickelung der städtischen Grundrente in Wien‘.
Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 94, bes. S. 47 ff., A. Voigt, „Die Boden-
besitzverhältnisse, das Bau- und Wohnungswesen in Berlin“, ebenda S. 203, 228.
734 Otto Schwarzschild,
nun mit dem Wachstum der Stadt der zu Geschäftszwecken ge-
brauchte Boden auf Kosten des Wohnbodens, dieser wieder auf
Kosten anderer billigerer Böden, wie etwa von Ackerland und auch
von unter 2b aufgeführtem Boden erweitert, vollziehen sich die
beiden wichtigsten morphologischen Veränderungen der modernen
Großstadt: die Citybildungs- und die Peripheriewanderung der In-
dustrie. Von ihnen interessiert uns hier nur die letztere. Es ist
aller Nachdruck darauf zu legen, daß es sich dabei um einen rein
innerstädtischen Vorgang handelt. Daß ein industrielles Etablisse-
ment auf einem Grundstück, das, zu Wohn- oder Geschäftszwecken
verwertet, einen hohen Profit abwerfen würde, sich nicht halten
kann, ist selbstverständlich. Bleibt einmal ausnahmsweise ein Betrieb
auf zu teurem Boden aus besonderen Gründen stehen, so verbietet
sich jede Erweiterung; will man eine solche vornehmen, so findet
bei dieser Gelegenheit schließlich doch der Abzug statt. Nun ist aber
der Bedarf der Industrie an Raum ungemein verschieden; je geringer
er ist, um so weniger treffen die „Geißelschläge der Grundrente*
(Sombart); die Bildung der Rente verläuft ja auch nicht schematisch
vom Mittelpunkte nach der Peripherie; selbst in aufblühenden Städten
sind Quartiere, in denen sie stockt oder zurückgeht, möglich‘). In
zahlreichen Fällen weichen inmitten der Stadt, wenn nicht die Laden-
so doch die Wohnungsmietpreise?); das ganze Haus ist aber nicht
zu Verkaufszwecken zu benutzen ; man vermietet an kleine Betriebe
(die deshalb durchaus nicht handwerksmäßige Kleinbetriebe zu sein
brauchen). Gerade in Berlin, der Stadt der großen Baublöcke, der
hohen Häuser und der Hinterhöfe findet sich das in fast allen Stadt-
teilen. So wird die Ritterstraße zur Gegend der Lampenfabriken,
und in alte Häuser der Gitschinerstraße, die der Lärm der Hochbahn
noch .unwohnlicher machte, siedeln zahlreiche kleine Betriebe ein.
Vielfach wird ein umfangreicher Teil eines größeren Gebäude-
komplexes eigens von einem Unternehmer für kleinere und mittel-
große Betriebe aller Art bereitgestellt und mit Dampf- und elektri-
scher Kraft, Aufzügen u. s. w. vermietet (sog. Handelsstätten). So
bleibt selbst inmitten der Stadt noch Raum genug für industrielle
Tätigkeit.
Wo nun die „Geißelschläge der Grundrente“ wirklich treffen,
genügt es, den Betrieb außerhalb des städtischen Wohn- und Ge-
schäftsbodens zu legen, um sich vor ihnen zu retten. Ein Unter-
nehmer, der auf die Großstadt angewiesen ist, hat durchaus keine
Veranlassung, bloß weil er zuviel Geld in seinem Grundstück stecken
hat, deren Bereich ganz und gar zu verlassen. Außerhalb des
Häusermeeres und an seinen Ufern ist ja Land genug. So wird die
Grundrente zum Agens der Hinausverlegung der großen Fabrik-
etablissements in die Peripherie, diekein Aufgeben des Stand-
ortes in der Großstadt, sondern eine Ausdehnung
1) Vergl. Schwarz 1. e, S. 71 ff.
2) Von A. Voigt für zahlreiche Berliner Quartiere nachgewiesen, 1l. e. S. 224 ff.
Die Großstadt als Standort der Gewerbe, 735
ihres Wirtschaftsgebietes bedeutet. Im Gegensatz zum
wirklichen Exodus, mit dem sie von Sombart u. A. durcheinander
geworfen wird, sprechen wir hier von einer Peripheriewande-
rung der Industrie. Für einen Exodus kann die Grundrente
höchstens den zufälligen Anlaß, die Nebenursache, abgeben.
Die Produktionsfaktoren sind hier so behandelt, wie sie sich
dem Leiter der Produktion als Kostenelemente direkt gegenüber-
stellen. Indirekt begegnet uns nun der Einfluß der Grundrente, in-
dem sie die Lebenshaltung der großstädtischen Arbeiter durch die
hohen Mieten verteuert und auf diese Weise lohnsteigernd wirkt.
Darauf soll bei der Betrachtung des Produktionsfaktors Arbeit ein-
gegangen werden.
Im Gegensatz zu Bedarf und Kosten von Grund und Boden,
können sich Bedarf und Kosten an Sachgütern so gestalten, daß
ein Aufenthalt in der Großstadt unmöglich wird. Es ist eine bekannte
Tatsache, daß die sogenannten schweren Industrien, d. h. diejenigen,
welche große Mengen voluminöser, aber spezifisch geringwertiger,
sogenannter sperriger Güter verarbeiten, deren Fundort aufsuchen,
weil diese Güter wirtschaftlicherweise einen längeren Transport nicht
vertragen können. Derartige Industrien gehören zweifellos nicht
in die Stadt, sagen wir besser, heute nicht mehr. Denn hier trifft
eben zu, daß der natürliche Vorzug des einen oder des anderen
Ortes erst dann bemerkbar wird, wenn die zunehmende Verknüpfung
des Wirtschaftslebens einen Wettbewerb hat aufkommen lassen.
Wiedfeld erzählt ), wie seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die drei
Zuckersiedereien der Splittgerberschen Erben in Berlin neben zwei
anderen derselben Familie gehörenden auswärtigen Siedereien faßt
den ganzen preußischen Staat mit Zucker versorgt hätten. Seit 1882
wird keine Zuckerfabrik mehr in Berlin gezählt. Die den Rohr-
zucker verdrängende Rübenzuckerproduktion schließt sich der Rüben-
kultur an. Aehnlich mußte die im Anfange des 19. Jahrhunderts
in Berlin blühende Branntweinbrennerei den Kartoffelspritbrennereien
auf dem platten Lande das Feld räumen ?).
Die Anzahl der in der Industrie der Steine und Erden be-
schäftigten Gewerbetätigen nahm in Berlin von 1882 bis 1895
um 22 Proz. zu, der Zuwachs ist aber auf Konto der Gewerbe zu
setzen, die Qualitätsware herstellen, wie Marmorsägerei, Porzellan,
Fayencefabrikation u. a. ?).
1) S. 137 ff.
2) Wiedfeld, S. 150 ff.
3) Von denen aber wegen der Verteuerung der Arbeitskräfte auch auf die Dauer
ein großer Teil die Stadt verläßt. Die bekannte Firma Ernst March Söhne droht,
Bericht der Aeltesten für 1900, S. 73, mit ihrer Verlegung hauptsächlich wegen der
hohen Löhne. Vergl. auch B. d. Aelt. für 1906, S. 152. Sogar die Ofenfabriken in
Velten klagen darüber, daß ihnen die an der Bahn Berlin-Tegel neu entstandenen
Fabriken die Arbeiter wegfangen, „obgleich die Lohnverhältnisse nur anscheinend günstiger
als in Velten waren“. B. d. Aelt. für 1900, S. 75. [,Berichte über Handel und Industrie
von Berlin, erstattet von den Aeltesten der Kaufmannschaft von Berlin“, seit 1902
„Berliner Jahrbuch für Handel und Industrie“ (B. d. Aelt.), (seit 1898 stets Teil II).]
736 Otto Schwarzschild,
Die wichtigste Umschichtung, welche die Industrie überhaupt
im 19. Jahrhundert erfahren hat, ist die auf die wachsende Bedeutung
von Kohle und Eisen zurückzuführende Konzentration in den Montan-
bezirken.
So wurden Ende der 60er Jahre Puddel-Stabeisen und Blech-
walzwerk der Firma Borsig von Berlin nach Oberschlesien verlegt.
Dieser Prozeß, der immer weitere Produktionsstadien der Eisen-
industrie an den Fundort der Rohmaterialien zu ziehen versucht,
ist heute noch nicht ganz abgeschlossen. Man zählte in Berlin:
1887 4 Schweißeisenwerke mit 89 Arbeitern
1888 3 A „4 y
1889 1 Schweißeisenwerk „ 22 E) )
Dies letzte hat 1899 zu existieren aufgehört. 1903 gab es noch
ein Flußeisenwerk mit einer durchschnittlichen täglichen Arbeiter-
zahl von 24 Köpfen. Eisengießereien gab es 1899—1902 24, 1903
noch 22, davon waren nur einige lediglich zur Herstellung von Guß-
waren zweiter Schmelzung angelegt, die übrigen an sonstige Fabrik-
betriebe angeschlossen ?) 3).
Schießlich findet sich heute bei faßt jeder Industrie eine ge-
wisse Tendenz, in die Montanbezirke abzurücken, welcher, wo sie
nicht zur Geltung kommt, nur durch andere Kräfte die Wage ge-
halten wird. Ist aber ein Gewerbe in der Großstadt aus anderen
Gründen der Provinzkonkurrenz gegenüber im Nachteil, so fällt
deren Ueberlegenheit infolge der Nähe von Kohlenlagern doppelt
schwer in die Wagschale, wie z. B. bei manchen Zweigen der Textil-
industrie ®).
Nun kann die Zentripetalkraft, die in den geschilderten Ver-
hältnissen begründet ist, zum Teil wettgemacht werden durch sehr
billige Transportmöglichkeiten auf den Wasserstraßen. In dieser
Beziehung ist Berlin in einer besonders glücklichen Lage. Man
kann sich aus den Klagen, die sofort ertönen, wenn einmal der
Wassertransport versagt, ein Bild davon machen, was dieser für
Berlins Industrie bedeutet5). Doch darf dies Moment sicher nicht
überschätzt werden. Es mag wenig Betriebe geben, die wirklich
unbedingt darauf angewiesen sind. Denn die Berliner Industrie stellt
hauptsächlich Qualitätsgüter her ê).
1) Wiedfeldt, S. 260.
2) Stat. Jahrbuch der Stadt Berlin für 1905, S. 139.
3) Ganz ähnlich berichtet Weber „of 65 iron foundries in New York only fifteen
now remain‘, S. 203.
4) Jahresberichte der Berliner Handelskammer (Hkb.) für 1904, S. 303. Vorteil-
hafte Nähe der Braunkohlenlager in der Lausitz!
5) Die Tafelglasfabriken verlangen Bahnfrachtvergünstigungen, um den natürlichen
Vorteil der englischen und belgischen Konkurrenz, die „fast durchweg in der Nähe der
Häfen“ produziert, zu beseitigen, (Hkb.) S. 176.
6) Herr Kommerzienrat Conrad Borsig machte mich freundlichst darauf aufmerk-
sam, daß infolge der besseren Ladegelegenheit sich der Preis der Rohmaterialien in
seinem neuen Werk in Tegel zwar etwas verbilligt habe, ein solcher Gesichtspunkt
jedoch für die Verlegung eines derartigen Betriebes, der hochwertige Ware herstelle,
nicht maßgebend sein könne. Das neue Werk der Akt.-Gesellsch. für Feld- und Klein-
bahnbedarf Orenstein & Koppel in Drewitz liegt nicht am Wasser.
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 737
Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß man sich im ge-
gebenen Falle die günstigen Verhältnisse nicht möglichst zu nutze
mache, wie die Errichtung großer Betriebe an den Wasserstraßen
beweist !).
Nicht die Verbilligung von Rohmaterialien und Halbfabrikaten,
sondern die Möglichkeit einer sofortigen und reichhaltigen Assortie-
rung kann für Industrien in Betracht kommen, die hochwertige,
einem schnellen Modewechsel unterliegende Artikel herstellen. Wollen
diese, um Zinsverluste zu vermeiden, die nötigen Läger nicht selbst
halten, so kommt die Konzentration des Großhandels in jenen
Artikeln (Baumwolle, Wolle, Seide, Leder u. s. w.) immerhin in Be-
tracht, wenn auch dies Moment im großen und ganzen von geringer
Bedeutung ist?).
„Volkswirtschaftlich betrachtet ist die Bevölkerung eines Volks-
wirtschaftsgebietes in ihren arbeitsfähigen, arbeitswilligen und tat-
sächlich arbeitenden Gliedern der Vertreter des Faktors „wirt-
schaftliche Arbeit“ in der Produktion der Güter). Bei der
Frage, inwiefern sich die Großstadt zum Standort der Gewerbe eigne,
gilt es also festzustellen, ob ihre Bevölkerungsverhältnisse eine be-
sondere Eigenart aufweisen, und inwiefern diese auf die Zahl der
Arbeitswilligen, die Güte ihrer Leistungen und die Höhe ihres Lohnes
von Einfluß ist. Tatsächlich finden sich Eigentümlichkeiten von aus-
schlaggebender Bedeutung.
Wenn auch erst eine weitausholende induktive Beschreibung,
eine umfassende „Eigenschaftsstatistik* (Wagner), bei der die Er-
gebnisse des nachfolgenden Ueberblicks über die einzelnen Industrien
zum Teil vorweggenommen werden müßten. ein vollständiges Bild
zu geben vermöchte, so ist es doch durch eine Untersuchung der
einfachen quantitativen Verhältnisse der Bevölkerung und ihres Be-
dürfnisstandes schon möglich, die Linien anzugeben, innerhalb deren
sich die Gestaltung des wichtigsten Produktionsfaktors bewegt. Durch
1) Auch nicht, daß die großstädtische Agglomeration den Standort der schweren
Industrieen überhaupt nicht beeinflusse. Sie ist vielmehr deren Hauptabsatzmarkt,
Es gelten dann für diese Verhältnisse die von v. Thünen für das Agrarwesen festge-
stellten Standortregeln. Wenn Neisser in seinen Untersuchungen über die wirtschaft-
lichen Verhältnisse des Handelskammerbezirks Potsdam (die wirtschaftliche Entwickelung,
Lage und Leistungsfähigkeit von Handel, Gewerbe und Industrie im Bezirke der
Handelskammer zu Potsdam, bearbeitet von G. J. Neisser, Berlin 1903) ausführt,
„daß die Millionenstadt vermöge ihrer starken Konsumtion ein außerordentlich wichtiges
und selten stockendes Absatzgebiet für den Handelskammerbezirk“ darstelle, so gilt das
keineswegs nur für die landwirtschaftliche Produktion. Die Zahl der Gewerbtätigen in
der Industrie der Steine und der Erden nahm im Handelskammerbezirk von 1882—95
um 85,5 Proz. zu gegen eine Zunahme der gewerbtätigen Personen überhaupt um
37,8 Proz. Von 1000 Gewerbtätigen sind 210,9 in dieser Industrie beschäftigt. (Nur
in der Maschinenindustrie mehr. Spandau !) Zu der starken Besetzung der Industrie tragen
besonders Ziegelfabrikationen und Öfenindustrie bei. Ihr Emporblühen ist auf zwei
Momente zurückzuführen: die geologische Beschaffenheit des Gebiets und die Nähe Berlins.
S. ebenda S. 28, 29 und 33*.
2) s. S. 758.
3) Wagner, Grundlegung, S. 466.
Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIII). 47
738 Otto Schwarzschild,
diese abstrahierende Herauslösung der grundlegenden Tatsachen ge-
winnen wir erst den richtigen wissenschaftlichen Einblick.
Betrachtet man die Bevölkerung eines Gebietes vom Stand-
punkte des Produktionsinteresses, „so hängt die Produktionsfähig-
keit und die wirkliche Produktionsleistung . . . . von der Größe und
der Zusammensetzung (Gliederung) der Bevölkerung ab“ }).
Ueber die Größe einer weltstädtischen Agglomeration sind
nicht viel Worte zu verlieren. Berlin zählte
1800 172132 Einwohner 1860 493 429 Einwohner
1810 162971 N 1870 774 489 å
1820 199510 Pr 1880 1123749 A
1830 247 500 R 1890 1578516 Pr
1840 322 626 P 1900 1888 574 si
1850 418733 ” 1905 2040 222 FR
Berlin mit dem vormaligen weiteren Polizeibezirk:
1875 1070798 Einwohner
1890 1847 301
1900 2528730 ,
Die gesamte Agglomeration nähert sich heute der dritten Million.
Betrachten wir nun in verschiedener Hinsicht die Gliederung
dieser gewaltigen Masse, so zeigen sich die charakteristischen Eigen-
tümlichkeiten der Großstadtbevölkerung besonders scharf ausgeprägt:
zunächst die den Landesdurchschnitt weit übersteigende stärkere
Vertretung des weiblichen Geschlechts.
„Here one observes a regular increase in the proportion of
women to men, as one ascends from the smaller to the larger cities.“
Dieser Satz, den A. F. Weber mit den Ergebnissen der deutschen
Volkszählung belegen kann?) trifft freilich nicht im einzeln so zu,
daß in jeder größeren Stadt auch der weibliche Bevölkerungsanteil
größer wäre. Jedenfalls ist er in Berlin von einer unvergleichlichen
Bedeutung durch die Quantitäten, um die es sich handelt.
Auf 100 männliche Personen kamen 1900 weibliche
im Reich 103,2
in Berlin 109,2 °)
» Charlottenburg 120,5
„ Berlin mit den*) 23 Vororten 109,4
(mehr als 120,5 in keiner Großstadt, mehr als 109,4 noch in Aachen, Breslau, Crefeld,
Königsberg).
Das weibliche Geschlecht war stärker vertreten
in Berlin um 82 766 Personen
„ Charlottenburg 17 625 x
„ Berlin mit den 23 Vororten 113 710 ar
1) Wagner, ebenda.
2) S. 286. Auf 1000 Männer kamen 1890
im Deutschen Reich 1040 Frauen
in den Kleinstädten 994 »
» » Mittelstädten 1004 en
» » Großstädten 1057
3) Die Zahlen gelten mit Einschluß der aktiven Militärbevölkerung.
4) Die gesamte Agglomeration ist noch größer,
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 1739
Noch schärfer tritt eine zweite wichtige Besonderheit der groß-
städtischen Bevölkerungsgliederung in Berlin hervor: der eigenartige
Altersaufbau. Statt des normalen pyramidalen Aufbaues, der sich
von der breiten Basis der Neugeborenen bis zu den höchsten Alters-
stufen allmählich verjüngt, zeigt sich hier ein „zwiebelförmiger“
Aufbau (v. Mayr). Die mittleren Lebensepochen sind überstark
besetzt.
Von 1000 der Gesamtbevölkerung entfallen 1900 auf die einzelnen
Altersstufen
im Reich in den 33 Großstädten in Berlin
unter 16 368 305 274
16 bis unter 30 245 301 301
30, cm 50 232 264 289
B0' +5 m 70 128 III 117
70 und mehr 27 29 19
1000 1000 1000
Nach Wiedfeldt sind die produktiven Altersklassen in Berlin
um 12,5 Proz. stärker vertreten, als in ganz Preußen, was eine um
25 Proz. günstigere wirtschaftliche Stellung bedinge t).
Was nun zum dritten die soziale Schichtung anlangt, so
ist die Zahl der auf Erwerb durch Lohnarbeit angewiesenen Per-
sonen gewiß außerordentlich groß. Aber dennoch ließe sich die in
der Reichsstatistik ausgesprochene Ansicht, „daß die Klasse der Ab-
hängigen..... um so mehr Erwerbstätige auf sich vereint, je größer
die Orte sind, welche die Kategorie umfaßt, während das Umge-
kehrte von den Selbständigen gilt“, mit den Zahlen der Statistik
selbst widerlegen. Auf 100 Erwerbstätige kamen 1895 in Landwirt-
schaft, Industrie, Handel und Verkehr:
; x in den in den P
im Reich MWittelstädten Großstädten Berlin
Selbständige 28,94 23,08 24,27 24,98
Angestellte 3,29 A 6,59 8,45 7,41
Arbeiter 67,77 21308 70,38 76,98 63,28 75,13 67,61 75,02
Aber die Unterschiede sind doch nur sehr geringfügig: Die
Zahlen der Mittel- und Großstädte sind durch die der ausgesprochenen
Industriestädte stark beeinflußt; vor allem sind die Berliner Vororte
nicht mit in Betracht gezogen.
Sicher ist mit der zunehmenden Größe der Agglomeration der
Einzelne um so mehr darauf angewiesen, selbst für seinen Unterhalt
zu sorgen.
Von 100 Personen sind 1905
Erwerbstätige Dienende Angehörige a
davon davon davon davon
weibl. weibl. weibl. weibl.
in den Kleinstädten 38,27 7,68 2,81 2,77 53,82 36,86 5,10 2,52
» „ Mittelstädten 39,54 7,85 3,64 3,59 51,43 35,59 5,39 2,87
v » Großstädten 41,38 9,75 4,12 4,06 49,61 34,89 4,89 2,80
in Berlin 43,33 11,32 3,78 3,65 48,85 35,02 4,04 2,28
im Reich 40,12 10,17 2,59 2,54 53,15 36,06 4,14 2,16
1) S. 106, vergl. die dortige Tabelle.
47*
740 Otto Schwarzschild,
Diese Zahlen veranschaulichen aufs deutlichste die mit der Größe
der Stadt zunehmende Atomisierung der Gesellschaft: Die Zahl der
ohne eigenen Erwerb dem Familienhaupte zur Last fallenden Ange-
hörigen nimmt entsprechend ab; — die der Erwerbstätigen steigt;
die relative Zahl der weiblichen Erwerbstätigen erreicht in der
Millionenstadt ihren Höhepunkt. — Die Zahl der Dienenden hat,
wenigstens im Stadtkern, im Verhältnis abgenommen. Von 100 Er-
werbstätigen überhaupt (einschließlich der Dienenden) sind Dienende
in Berlin 1882 10,9
1895 8,0
in Charlottenburg freilich 1895 16,9.
Durch einen Blick auf die Entstehung dieser eigenartigen Be-
völkerungszusammensetzung wird sie in ihren charakteristischen
Zügen und in ihrer Gesetzmäßigkeit als notwendiges eigenartiges
Produkt eines großen gesellschaftlichen Prozesses verständlicher.
„Als allgemeines Ergebnis — so sagt die Reichsstatistik — ist
. . . festzustellen, daß die gesamte großstädtische Bevölkerung nur
zum kleineren Teil in der Aufenthaltsstadt selbst geboren ist“).
Die Bevölkerung der deutschen Großstädte setzte sich 1900 aus
43,29 Einheimischen und
56,61 Zugezogenen
zusammen. Die Zahl der letzteren machte aus in
Berlin 59,09 Proz.
(Charlottenburg 81,10 „)
Dadurch wird manches klarer.
Was zunächst den Fı 'auenüberschuß angeht, so beruht dieser
in Berlin zum größeren Teile auf der Einwanderung, nämlich zu
56,9 Proz. [47128 von 82766]. Die Einwandernden gehören über-
wiegend dem weiblichen Geschlechte an. Von 100 Personen der
ortsanwesenden, außerhalb geborenen Bevölkerung sind 1900 in Berlin:
männlich 47,9 Proz. (534 468)
weiblich 52,1 „ (581596)
Dennoch ist der Ueberschuß damit nicht ganz erklärt. Die orts-
gebürtige Bevölkerung der Großstädte „hat die Tendenz, aus sich
selbst heraus einen den Landesdurchschnitt übersteigenden Frauen-
überschuß zu erzeugen“ (Bücher). Von 100 der ortsanwesenden,
ortsgebürtigen Bevölkerung sind 1900 in Berlin:
männlich 47,4 Proz. (368 573)
weiblich 526 „ (404 211)
Diese merkwürdige Tatsache ganz aufzuhellen, muß der Biologie
überlassen bleiben ?).
Um so vollständiger läßt sich der großstädtische Altersaufbau
1) Bd. 150, S. 159.
2) Vergl. Bücher, „Die Bevölkerung des Kantons Basel-Stadt am 1. Dez. 1888*,
Basel 1890. „Die Verteilung der beiden Geschlechter auf der Erde“, im Allg. Statist.
Archiv, II, 390, A. F. Weber, S. 289 ff.
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 741
auf die Zuwanderung zurückführen. Von 100 der ortsanwesenden
Bevölkerung sind 1900 in Berlin:
Einheimische Zugezogene
unter 16 81,0 19,0
16 bis unter 30 34,9 65,1
30 w w 50 20,0 80,0
50 „ a 70 17,9 82,1
70 und mehr 20,1 79,9
zusammen Jahre 40,9 59,1
Ueber die soziale Schichtung der Zuziehenden sind schwerlich
genaue Ziffern beizubringen. Auch orientiert ein Blick ins Leben
besser, als der Umweg über die Statistik.
Der Charakter des Zuzugs ist etwas Qualitatives, das durch
Zahlen nicht erklärbar ist; er wird erst deutlich, wenn man sich die
Motive veranschaulicht, die ihn treiben.
Weshalb ziehen diese Massen in die Stadt? — Oben ist ausge-
führt worden, daß die Großstadt ein von der Niederlassung von In-
dustrien im wesentlichen unabhängiges Gebilde sei, wenn auch in
zweiter Linie eine Rückwirkung durchaus nicht bestritten wurde.
Hier gilt es, sich das noch einmal zu vergegenwärtigen. Nicht etwa
die höheren Löhne der städtischen Fabriken bilden die Anziehungs-
kraft der Agglomeration; die Stadt als solche ist es, welche die
Menschen unwiderstehlich an sich reißt, sie, die Heimstätte zugleich
der stärksten individualistischen und kommunistischen Kräfte, ein
großes Zusammensein, ein großes Auseinander und Ineinander zahl-
loser Individuen. Gefühlsmomente, die in den Tiefen der intellek-
tualistischen und individualistischen Weltanschauung einer ganzen
Geschichtsperiode beruhen, verleihen ihr einen seltsamen Nimbus,
und den unwiderstehlichen Zauber der „ville tentaculaire“. Von
berufener Seite ist das des näheren auseinandergesetzt worden !).
Daß diese seelische Stimmung einen quantitativ so gewaltigen Aus-
schlag geben konnte, liegt an der starken natürlichen Vermehrung
der ländlichen Bevölkerung, an der begrenzten Aufnahmefähigkeit
der Landwirtschaft für die großen Greburtenüberschüsse, an der voll-
kommeneren Ausnützung der Menschenkraft durch die Industrie, an
dem durch die veränderte Technik hervorgerufenen Untergang zahl-
reicher ländlicher Nebengewerbe und schließlich an der durch die
modernen Kommunikationsmittel gegebenen Möglichkeit, große Men-
schenmassen zu transportieren. Das alles greift ineinander, wirkt
zurück, verbindet sich, hebt sich auf zu einem schier unübersehbaren
sozialen Geschehen. Der Lohn mag höher sein in der Stadt; stets
erwartet man dort besseren Verdienst. Aber ob das gerade in der
Fabrik sein muß, ist gleichgültig. Erst wenn sich einmal durch den
gleich darzulegenden Entwickelungsgang die vornehmsten Betriebe
1) Vergl. Meuriot, S. 281 ff.; Sombart, S. 223; A. F. Weber, S. 160 ff.; Simmel,
in „Die Großstadt“; Kuczynsky, „Der Zug nach der Stadt“, 1897; Vandevelde, „Ein
Sal zur Aufsaugung des Landes durch die Stadt“, Arch. f. erz. Gesetzgeb., Bd. 14,
3. 99.
742 Otto Schwarzschild,
des ganzen Landes in der Hauptstadt zusammengefunden haben,
kommt wohl von hier oder dort ein gelernter Arbeiter mit dem
klaren Bewußtsein her: Da vermag ich mein Können besser zu ver-
werten und stehe mich um so und soviel vorteilhafter. Die große
Masse kennt solche Ueberlegungen nicht; sie treibt der instinktive
Drang zu freieren Lebensverhältnissen dunkel vorwärts. Gerade
die Antipoden der individualistischen Gesellschaft werden am stärksten
mitgerissen, die Tüchtigen, denen Freiheit freie Selbstbestimmung,
und anderseits die, denen sie Zügellosigkeit bedeutet oder die Mög-
lichkeit, sich im Menschenschwarm vor Menschen zu verstecken. Diese
letzteren, entgleiste Existenzen aller Art, machen sicher einen ge-
wissen Teil der Zuwandernden aus. Wenn aber A. F. Weber sagt:
„Ihe large eity contains a large population that is unducated, un-
shilled and poverty — sticken. Incapable of organization it sells its
energy to the bidder at starvation wages . . . .1)“, so hat er wohl
die amerikanischen Städte mit ihren Juden-, Italiener- und Chinesen-
quartieren im Auge, in Westeuropa kennt man mit Ausnahme von
London derartige Amassierungen verkommensten Volkes in gleichem
Maße nicht. Was sich in unseren Großstädten an ähnlichen Elementen
herumtreibt, kommt jedenfalls für die gewerbliche Arbeit so gut wie
gar nicht in Betracht, nur hier und da etwa in der Hausindustrie,
als Aushilfe u. s. w.?).
Um so mehr aber die übrigen, das Gros, das nicht die Stadt auf-
sucht, um seine Vergangenheit zu verstecken, sondern um seine
Zukunft zu suchen. Zahlloses Volk, jung, arbeitsfähig, seinen Ver-
dienst suchend. Wo fände die Industrie einen besseren Arbeitsmarkt!
Man könnte glauben, die Ansprüche dieser bunten zusammenhang-
losen Schar seien nicht besonders hoch. Das mag auch auf viele,
welche eben erst in die Stadt gekommen sind, zutreffen. Aber die
Art der Lebenshaltung bleibt auf die Dauer hier am wenigsten in
das Belieben des Einzelnen gestellt. Es zeigt sich bald, daß selbst
ein Existenzminimum in der Großstadt höher zu stehen kommt als
draußen. Dann aber wird jeder halb bewußt, halb unbewußt in
klassenmäßige Zusammenhänge gezogen, die bald seine gesamten
Daseinsbedingungen in ausschlaggebender Weise bestimmen. Und
so wird man sich überzeugen, daß der Produktionsfaktor Arbeitskraft
in der Großstadt zwar reichlich, aber durchaus nicht billig zur Ver-
fügung steht.
Ein Blick auf den großstädtischen Bedürfnisstand bietet die
beste Maßgabe, die Grundlagen der Lohnverhältnisse, dann auch die
Qualität und Verwendungsmöglichkeit des Arbeitermaterials zu be-
urteilen:
Das vornehmste Lebensbedürfnis, das nach Nahrung, kann hier
heute verhältnismäßig billig befriedigt werden. In Berlin sind die
Lebensmittel wohlfeiler als in der Provinz, ganz entlegene Gegen-
0
. 8. 762.
=N
1) 8.
2) S.
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 743
den ausgenommen‘). Aehnlich verhält es sich mit dem Bedarf an
Kleidung, wenn man nur das unbedingt Notwendige in Betracht zieht ?).
Um so ungünstiger liegen die Wohnungsverhältnisse! Wird der
direkte Einfluß der Grundrente auf unser Problem wohl überschätzt,
so äußert er sich indirekt um so nachdrücklicher, indem er durch
die hohen Mietpreise den wesentlichsten Anteil an der Verteuerung
der großstädtischen Lebensführung hat.
Schon 1867 ist, wie Alfred Weber bemerkt), das Arbeiterbudget
doppelt so hoch mit Miete belastet, als es nach Engel für normal
gilt, mit 22—24 Proz. statt 12 Proz. Die Tabelle zeigt die Höhe
der Mieten in Berlin gegenüber anderen großen Städten. Selbst in
der armen Vorstadt Wedding stand der Mietpreis doch noch über
dem Durchschnitt des wohlhabenden Frankfurt a. M. Durch die
Wohnungsaufnahme Ende 1900 ist für 230306 Wohnungen mit einem
heizbaren Zimmer und Küche ein Durchschnittspreis von 289 M.
Tabelle I.
Durchschnittlicher Mietwert in Mark von Wohnungen mit... heizbaren Zimmern 1890;
nach Lindemann, Wohnungsstatistik in S. d. V. f. S., Bd. 94, S. 375.
Anzahl der heizbaren Zimmer
Stadt I 2
Berlin 299 379 Wohnungen ohne Gewerberäume
Breslau 143 244 Mietwohnungen ohne gewerbliche Benutzung
Dresden 374 305 bewohnte Wohnungen
Frankfurt a. M. 173 280 1895. Sämtliche Wohnungen
Hamburg 222 323 ausschließlich als Wohnung benutzte Gelasse
Leipzig 200 344 Mietwohnungen überhaupt
Lübeck 117 206 Mietwohnungen
München 150 279 abgerundete Mittelwerte
Berlin-Wedding 189 Hirschberg, Die soziale Lage der arbeitenden Klassen in
Berlin, Berlin 1897.
Tabelle I.
Jährlicher Durchschnittspreis eines heizbaren Zimmers in Mietwohnungen ohne gewerb-
liche Nebenbenutzung am 1. Dez. 1900 nach dem Statistischen Jahrbuch
deutscher Städte, X1. Jahrg., S. 89.
Berlin 235 M. Hamburg 181 M.
Charlottenburg 246 „ Breslau 164 »
Dresden 204 »„ Leipzig 163 „
Königsberg 185 „ Straßburg i. E. 113 „
1) Markt und Ladenpreise der wichtigsten Lebensmittel in Berlin und Spandau im
Durchschnitt der Jahre 1889/1900 nach Neissen a. a. O, S. 46/47. Tab. 17.
Preis für 1 kg bezw. Schock in S.
Fleisch im Kleinhandel
Ger.
Rind Speck Schweine-
v.d. vom (in- EB- Weizen- Roggen- schmalz
Keule Bauch Schweine Kalb Hammel länd.) butter Eier mehl mehl (inländ.)
Spandau 156 120 142 141 141 171 234 398 36 30 132
Berlin 138 III 133 130 124 149 231 349 35 30 137
Freilich sind die Lebensmittelpreise in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
überhaupt stark gesticgen (vergl. Wiedfeldt, S. 107).
2) Vergl. A. F. Weber S. 218.
3) Alfred Weber, „Die Entwickelungsgrundlagen der großstädtischen Frauenheim-
industrie“, Bd. 85 der Schriften des Vereins für Sozialpolitik, S. XXXVI.
744 Otto Schwarzschild,
(85 M. auf den Bewohner) an Jahresmiete berechnet worden !). Eine
solche Ausgabe würde, wenn der Engelsche Normalsatz angenommen
wird, die Möglichkeit einer jährlichen Gesamtausgabe von 2408,83 M.
erheischen! Den etwas billigeren Mieten in den Vororten stehen
die bedeutende Verteuerung der Lebensmittel und die Kommuni-
kationskosten gegenüber.
Die Berliner Mieten sind die höchsten im ganzen Reiche, obwohl
der Boden durch den Mietskasernenbau aufs äußerste ausgenutzt
wird. Sie ständen bei extensiverer Bauweise vielleicht noch höher,
immerhin eine sehr umstrittene Frage. Es ist also auf den für die
Wohnung zu machenden Aufwand zurückzuführen, wenn schon die
Befriedigung der reinen Existenzbedürfnisse bedeutende Mittel er-
heischt. Damit ist es aber nicht getan. Innerhalb der sozialen Ge-
meinschaft, die den Einzelnen umschließt, erweitern und verfeinern
sich diese Bedürfnisse so schnell und unmerklich wie nirgends sonst.
Bald umgibt eine Hülle von verwöhnten Wünschen und Ansprüchen
das grobe Verlangen nach dem unbedingt Notwendigen. Manch
reines Kulturbedürfnis stellt sich daneben ein. Die Reize sind
stärker, die Nerven reagieren leichter. Wozu lebt man in der großen
Stadt, wenn man nicht an ihren Genüssen teilnehmen soll! Welcher
Magnet war es, der die meisten hierher zog?
Die relative Höhe der Lebenshaltung schafft härtere Bedingungen.
mit denen der einzelne sich abzufinden hat. Wer nicht eine ge-
wisse Summe verdienen kann, gerät in Gefahr, mehr und mehr zu
verkommen und schließlich unterzugehen. Daher heißt es zunächst
etwas Tüchtiges zu leisten, dann einen möglichst hohen Anteil am
Ertrage für sich behaupten. Wie aber nirgends das Bedürfnis
brennender, so ist auch nirgends das Bestreben, dem Mangel abzu-
helfen, regsamer, energischer und disziplinierter; nirgends findet es
eine günstigere Gelegenheit, sie durchzusetzen.
Das letztere ist schon deshalb der Fall, weil der reine Platz-
konsum Qualitätsarbeiter gebraucht und hoch entlohnt. Und zwar
Qualitätsarbeiter der verschiedensten Art! Ein sehr wichtiger Um-
stand: In einem Industriebezirk von durchweg einheitlichem Charakter,
wo immer nur für die gleiche Beschäftigung Hände gesucht werden,
kann zwar eine hohe spezialistische Ausbildung ganzer Generationen
erreicht werden, aber nur auf Kosten der manuellen und auch der
geistigen Versatilität. Ein einziges Gewerbe stellt ganz bestimmte
Ansprüche an die Arbeitskraft; es gibt ein Leistungsmaximum, dem
ein Lohnmaximum entsprechen muß. Ganz anders hier, wo mehrere
entwickelte Gewerbe an demselben Platze bestehen. Werden an
einem Platze überhaupt einmal qualifizierte Arbeiter verlangt und
entsprechend entlohnt, so wirkt das fermentierend auf die ganze
Klasse. Durch besseres Können ist es möglich, die höheren Löhne
des einen Gewerbes gegen die niedrigen des anderen auszuspielen.
Jeder sucht in der Industrie und dem Betriebe Platz zu finden oder
1) Vergl. Hirschberg, „Bilder aus der Berliner Statistik“, Berlin 1904.
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 745
doch seine Kinder hineinzubringen, wo am besten gezahlt wird. Nicht
‚so, als wenn sich das von heute bis morgen regulierte, wie die
britische Doktrin derlei Dinge anzusehen liebte, aber doch im Laufe
von Jahren und Jahrzehnten. Durch diese Sachlage wird die geistige
Regsamıkeit des Arbeiters noch gesteigert. Er wird nicht so leicht
eine Möglichkeit, sein Einkommen zu erhöhen, vorübergehen lassen.
Das Streben nach einem bloßen Auskommen hat nirgends weniger
eine Heimstätte als hier. Das zieht denn auch aus dem ganzen
Lande die Fähigsten und Strebsamsten herbei, so daß man wohl von
einem Ausleseprozesse nach der Seite der qualifizierten Arbeit
sprechen kann, der in der Großstadt seinen Ausgangspunkt nimmt:
und sich dort in der schärfsten Form vollzieht. Die Entwickelung
seiner Fähigkeiten verschafft dem Arbeiter auch die Möglichkeit, eine
unabhängigere Position einzunehmen und sich seine Ueberlegenheit
über die Arbeiter anderer Volkswirtschaftsgebiete in wachsendem
Maße zu gute kommen zu lassen.
Dazu ist vor allem die straffe Organisation behilflich, welche
für den Unternehmer die Schwierigkeit, sich mit ihm abzufinden,
am meisten verstärkt. Berlin hat heute mehr koalierte Arbeiter, als
das Königreich Sachsen und die Provinz Westfalen zusammen.
12,5 Proz. aller gewerkschaftlich Organisierten des Reiches, 13,4 Proz.
aller in den sozialdemokratischen Gewerkschaften vereinigten kommen
auf die Reichshauptstadt. (Auf das Rheinland 17,5 Proz.). Der Holz-
arbeiterverband zählt 17,5 Proz. seiner Mitglieder in Berlin (ohne viele
Vororte), während die Zahl der in den Berufen tätigen, über die er
sich erstreckt, 6,9 Proz. der Gesamtzahl des Reiches ausmacht. Im
Metallarbeiterverband machte die Berliner Mitgliederzahl 22,4 Proz.
aus (6,3 Proz. der Berufsangehörigen in Berlin). Die Gesamtheit der
sozialdemokratischen Verbände nahm von 1896—1900 zu
im Reich um 288,3 Proz.
in Preußen 3.24. ur ı)
Berlin n» 371,6 ”
In dieses Bild der Entwickelung der großstädtischen Arbeiter-
schaft fügt sich das weite Gebiet der Frauenarbeit nicht ohne
weiteres ein. Es muß unter einem besonderen Gesichtspunkt be-
trachtet werden. Man hat danach gefragt, weshalb Frauenarbeit ge-
ringer entlohnt werde als Männerarbeit — eine Tatsache, die fast
überall zutrifft, auch da, wo es sich um gleiche Leistungen handelt.
Sie ist nicht anders zu erklären, als durch die Auffassung dieses
Erwerbes als Zulage, als Aushilfe seitens der überwiegenden Zahl
der Erwerbenden selbst. Das tritt in anderen Gebieten kaum so
1) Troeltsch u. Hirschfeld, Die deutschen sozialdemokratischen Gewerkschaften.
Untersuchungen und Material über ihre geographische Verbreitung 1896—1903, Berlin
1905, S. 119 ff. Der Verband der Vergolder zählte 46 Proz. der Organisierten in Berlin
(14,5 Proz. der Berufsangehörigen), der der Lederarbeiter 16,4 Proz. (4). Das Zentrum
der Organisation der Sattler ist hier, ähnlich das der Buchbinder. Charakteristischer-
weise sind Tabak- und Zigarettenarbeiter nur relativ gut organisiert, die Organisation
der Textilarbeiter ist vollends nicht glänzend.
746 Otto Schwarzschild,
deutlich zu Tage. wie gerade in der Großstadt. Die vornehmlichste
Ursache des großen Umfanges der städtischen Frauenarbeit liegt in
dem oben besprochenen Frauenüberschuß. Wie hier alles vor- und
rückwärts wirkt, so ist der starke Anteil des weiblichen Geschlechts
am Zuzug zum Teil durch die Möglichkeit der Beschäftigung in der
Stadt hervorgerufen, aber doch auch hier wieder nur in zweiter
Linie. Auch beruht ja der Frauenüberschuß zum guten Teil auf der
weiblichen Geburtsbevölkerung der Stadt selbst. Er ist eine ge-
gebene Tatsache. Mit ihr liegt die Notwendigkeit vor, eine größere
Anzahl von Menschen zu ernähren und mithin die Tendenz zu
eigener Erwerbstätigkeit bei einer wachsenden Anzahl von ihnen.
Verstärkt wird diese durch die außerordentlich hohe Lebenshaltung
von Familien, deren Haupterwerbsquelle die Tätigkeit eines männ-
lichen Mitgliedes bildet. Die Arbeiterschaft ist gerade hier so
rationell, so „kapitalistisch“, daß sie auch das in der menschlichen
Arbeitskraft beruhende Kapital nicht unbenützt liegen lassen mag.
Dazu tritt die größere Teilnahme der Frau an höherer intellektueller
Erholung, wie an roheren Vergnügen und vor allem ihre unab-
hängigere Stellung innerhalb der stärker individualistischen Umwelt.
Sie kann auf eigene Faust etwas unternehmen, ohne erst bei Vettern
und Basen Rats erholen zu müssen. Die weiblichen Familienange-
hörigen des Mittelstandes verschmähen dazu ein kleines selbst-
erworbenes Taschengeld hier am wenigsten. Und schließlich ist es
die ausgedehnte Prostitution der Großstadt, die Nebenverdienste be-
ansprucht, wenn auch im einzelnen die Verhältnisse meist umgekehrt
liegen: die gewerbsmäßige Dirne scheut die Arbeit durchaus, während
die gewerbliche Arbeiterin sich durch Prostitution gelegentlich Neben-
verdienste erwirbt!) So kommt die Notwendigkeit eines Supple-
mentärerwerbes für breite Schichten zu stande. Die hauswirtschaft-
liche Nachfrage, die eher ab- als zunimmt, vermag das Angebot nicht
mehr zu absorbieren. Aber es stellt sich einer solchen auch gar
nicht mehr zur Verfügung, wie die Dienstbotennot heute deutlich
beweist. Die Ansprüche liegen in einer ganz anderen Richtung.
Als charakteristischer Beleg mag die Mitteilung dienen, daß auf
Grund des bei der Landesversicherungsanstalt Berlin bearbeiteten
Beitragmaterials in den Jahren 1904 und 1905 nicht weniger als
5000 Dienstmädchen in den Beruf der gewerblichen Arbeiterin über-
gegangen sind). Die zahllosen Scharen junger Mädchen, die vom
Lande hereinkommen, würden zum Teil gar nicht von Hause weg-
kommen, wenn sie die Absicht äußerten, gleich in die Fabrik gehen
zu wollen; denn weite Kreise der ländlichen Bevölkerung sehen die
Fabrikarbeiterin ohne weiteres als Gefallene an. Der in die Massen
getragene individualistische Trieb macht aber bald der Dienstmagd
ihren Beruf unleidlich; er nimmt vielleicht gerade in der unge-
1) Vergl. Grandke, Berliner Kleiderkonfektion in Schriften des Vereins für Sozial-
politik, S. 273 ff.
2) Soziale Praxis, 16. Jahrg., No. 8.
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 747
bildeten Frau die niedrigsten Formen an. Die gewerbliche Arbeit
wird aufgesucht, weil man dabei sein Leben möglichst frei einrichten
zu können vermeint.
Alice Salomon führt die geringere Entlohnung darauf zurück,
daß es sich bei dem Erwerb der meist recht jugendlichen Arbeite-
rinnen nur um ein „Provisorium“ handle !); bei dem anderen großen
Teil der weiblichen Arbeiterschaft ist das Schlagwort Supplement
am zutreffendsten, denn er rekrutiert sich aus schon verheirateten
Frauen, denen es nur um eine Zulage zum Verdienst des Mannes
zu tun ist. Aufs deulichste zeigt sich dieser Supplementärcharakter
in den Tabellen der Enquete über die Heimarbeit, welche kürzlich
von der Berliner Handelskammer veranstaltet worden ist ?).
Das Vorherrschen der hausindustriellen Betriebsform ergab sich
demnach unmittelbar aus der Art, wie sich der Produktionsfaktor
Arbeit zur Verfügung stellte, und nicht wie Alfred Weber meint,
in erster Linie aus dem Entwickelungsstadium der Industrie, die
ihn hauptsächlich benutzte 8). Wir sehen vielmehr, wie diese In-
dustrie heute stellenweise noch künstlich in jenem Entwickelungs-
stadium festgehalten wird, bloß weil ihre Arbeiterschaft nicht kräftig
genug ist‘). Ja, es darf nicht außer acht gelassen werden, daß
allein die Heimarbeit den Wünschen, ja vielfach den wirklichen Be-
dürfnissen weiter Kreise der großstädtischen Bevölkerung entspricht.
Nur sie scheint das zu garantieren, wonach so viele verlangen: ein
größeres Maß individueller Freiheit. Wenn auch die unverheirateten
Frauen schließlich zum größten Teil für Werkstättenarbeit zu haben
wären, sicher, — besonders bei den Entfernungen der Großstadt —
nur ein kleiner Bruchteil der verheirateten. Manche würden sich
auch einfach deshalb nicht darauf einlassen, weil sie ohne einen Zu-
schußverdienst auskommen könnten. Grandke trifft daher den Nagel
auf den Kopf, wenn er „die bedauerliche“ Tatsache feststellt, „daß
eine Hausindustrie unter den derzeitigen Verhältnissen in Berlin
für breite Volksschichten unumgänglich nötig ist* 5). Mit ihrer Not-
wendigkeit aber ist auch ihr größter Mangel gegeben: der Lohn wird
gedrückt, auch die große Anzahl derjenigen, denen es nicht darauf
ankommt, für ein paar Groschen billiger zu arbeiten. Kann doch
der niedrige Verdienst verheirateter Frauen tatsächlich ein Zeichen
der guten wirtschaftlichen Lage der ganzen Familie sein®); um so
schlimmer für diejenigen, für die es sich um die einzigste Erwerbs-
quelle handelt!
Zugleich mit der vorherrschenden Betriebsform ergab sich die
1) Alice Salomon, „Die Ursachen der englischen Entlohnung von Männer- und
Frauenarbeit‘‘, Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen, Bd. 122.
2) Die Heimarbeit in Berlin. Bericht der Handelskammer, Berlin 1906.
3) Alfred Weber, „Die Entwickelungsgrundlagen der großstädtischen Frauenheim-
industrie, Bd. 85 der Schriften des Vereins für Sozialpolitik.
4) 8. 29, 45; s. u. 8. 755 ff.
5) Grandke, Berliner Kleiderkonfektion in S. d. V. f. S., Bd. 85, S. 388.
6) S. u. S. 756.
748 Otto Schwarzschild,
Industrie, für welche diese Arbeitskräfte hauptsächlich zu benutzen
waren, aus deren sozialem Charakter. Es muß eine Tätigkeit sein,
welche auch zu Hause ausgeübt werden kann, eine, die keinen
längeren Lehrgang voraussetzt. Die große Mehrzahl ist zu nichts
anderem zu gebrauchen, als wozu weibliche Hände stets geschickt
sind, zum Schneidern und Putzen. Da aber hat die Großstädterin
eine ganz natürliche Monopolstellung. Sie hat allemal eine flinkere
Hand und auch im großen und ganzen den besseren Geschmack.
Wenigstens besitzt die Qualitätsarbeiterin in letzterer Beziehung
eine Ueberlegenheit, die ihr von der Kollegin draußen nie strittig
gemacht werden kann. Denn sie beruht auf der Einzigartigkeit der
Umwelt. Ein Gang an den Schaufenstern der Rue de la Paix, der
Leipziger Straße vorbei, gibt Anregungen, die anderswo umsonst
gesucht würden. Das Supplementäre und Provisorische des Er-
werbes und die Zusammenhanglosigkeit der Einzelnen läßt es nicht
zur Behauptung eines adäquaten Urteils am Ertrage kommen; aber
dennoch fangen auch diese Schichten an, sich zu regen, und ihre
Organisation hat in der großen Stadt die besten Aussichten. Viel-
leicht wird sie eine grundsätzliche Aenderung der Bedingungen her-
beiführen, zu denen sich das Arbeitermaterial stellt, wobei freilich
ein Teil desselben ganz ausgeschaltet werden würde. Jedenfalls
vermöchte sie die Löhne erheblich zu steigern, und damit würde
das Bild dieser Industrien schließlich dem derjenigen immer ähn-
licher werden, deren Arbeiter nicht bloß Zuschüsse und Aushilfen
verdienen wollen.
Es entspricht diesem aber auch heute schon insoweit, als erstens
trotz der absoluten Niedrigkeit der Löhne diese dennoch in der
Großstadt vielleicht im gleichen Verhältnis der Provinz gegenüber
höher stehen, wie die der männlichen Arbeiter, und zweitens die
großstädtischen Arbeitskräfte alle im Tempo der Arbeit und die
meisten in Chick und Grazie eine unbedingte Ueberlegenheit über
die draußen befindlichen besitzen. Der Unternehmer wird sich
daher am besten stellen, wenn er diese Eigenschaften seines Arbeiter-
materials gegen die Provinzkonkurrenz ausspielt.
Wie wird er sich überhaupt der eigenartigen Gestaltung des
Produktionsfaktors Arbeitskraft in der Großstadt gegenüber verhalten ?
Es ist die Frage, auf die alles ankommt. Wird er nicht auf dem
platten Lande, in Mittel- und Kleinstädten billige Arbeiter genug be-
kommen können, die gleich Gutes leisten und den Fabrikherren nicht
mit lästigen Plackereien behelligen. Ohne Zweifel liegt in der Ver-
teuerung der großstädtischen Arbeitskraft und in der unabhängigen
Gesinnung der sie vertretenden Klasse eine gewaltige Zentrifugalkraft,
die ständig bestrebt ist, die Betriebe hinauszuziehen und zwar nicht
etwa in die Bannmeile, sondern in entfernte Gegenden, wo jeder
Kontakt mit dem ehemaligen Standort unmöglich ist. Diese Zentri-
fugalkraft ist weit stärker, als die durch die Transportkosten von
tohmaterialien und Halbfabrikaten hervorgerufene. Wird sie im-
stande sein, die Großstadt zu entindustrialisieren? A. F. Weber
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 749
sagt: On the whole the great city seems now to be at a disadvantage
in manufacturing... .1).
Er hält dafür, daß die Unternehmer vor der Macht der Gewerk-
schaften in kleine Orte fliehen müssen, bis auch dort die Köpfe
revolutioniert sind. Das Verbleiben führt er auf folgende Gründe
zurück:
1) mehr zufälligen Konservatismus,
2) das Angewiesensein auf Arbeitskräfte, die sich nur am Platze
finden,
3) auf lokalen Absatz ?).
Das ist ohne Zweifel richtig.
Es frägt sich nur, wenn wir von dem ersten Grunde absehen
und bei den auf den lokalen Absatz angewiesenen Gewerben die
rein lokalwirtschaftlichen ausscheiden, bis zu welchem Punkte der
Unternehmer großstädtische Arbeitskräfte nötig hat, bis zu welchem
er durch die lokale Bedarfskonzentration festgehalten wird. Wie
lange behalten die zentrifugalen Kräfte das Uebergewicht? So lange,
als der Unternehmer die Lohnsteigerungen irgendwie wieder wett-
machen kann! Wie aber ist ihm das möglich? Nach der Formu-
lierung von Philippovich erstens da, „wo der Betrieb auf einem
rechtlichen, natürlichen oder tatsächlichen Monopol beruht, oder doch
in einem Lande oder lokalen Gebiete, das anderen Gebieten gegen-
über besondere Vorzüge besitzt“ oder wo er Produkte herstellt,
„die infolge zunehmenden Reichtums oder wachsender Zahl der
Kunden in steigendem Maße nachgefragt werden“ oder schließlich
solche, „bei denen durch Organisation der Produktion (Uebergang
zum Großbetrieb) oder durch verbesserte Maschinen oder Arbeits-
prozesse die relativen (auf die Einheit entfallenden) Produktions-
kosten trotz Erhöhung der Löhne gemindert oder noch nicht ge-
steigert werden“). Das sind einmal Produkte der allerqualifizier-
testen, spezialistisch geschulten Arbeitskraft, Produkte „gebildeter
Arbeitskraft“, dann solche „gebildeter Kapitalkraft“ (Schäffle).
Da aber, wo kein Monopol besteht, wo der spezifische Wert der
Produkte nicht hoch genug ist, die Lohnsteigerungen unmöglich
sind, das ist meistens da, wo bei der Kostenberechnung ein über-
wiegender Posten auf ordinäre Arbeit zu rechnen ist, vermögen sich
die Betriebe in der Großstadt nicht zu halten. Sie müssen un-
weigerlich in Gegenden mit billigeren Produktionsbedingungen ab-
rücken. Ebenso wird die Herstellung der Mittelsorten von der
Provinz bedroht. Alle Massenwaren und Stapelartikel sind auf die
Dauer gefährdet. Ist es möglich, den Produktionsprozeß so weit zu
zerlegen und zu mechanisieren, daß man die einzelnen Verrichtungen
auch ungelernten Händen anvertrauen kann, so ist das auch für
bessere Qualitäten der Fall. So schließt sich an den aus den härteren
1) S. 205 ff.
2) Sombart durchaus ähnlich.
3) Grundriß, S. 310,
750 Otto Schwarzschild,
Lebensbedingungen der Großstadt erwachsenen Ausleseprozeß unter
der Arbeiterschaft ein solcher unter den Unternehmungen an; sie
müssen durch Herstellung von monopolartigen und hochwertigen
Artikeln sich über Wasser zu halten suchen, wodurch sie ihrerseits
jenen Prozeß noch mehr verschärfen.
Es frägt sich, wie radikal diese Entwickelung werden kann.
Denkbar ist es, daß kein einziger volkswirtschaftlicher Betrieb mehr
im Bereiche der Stadt bleibt, weil draußen alles ebenso gut, aber
billiger herzustellen ist. Ob und wann das hauptsächlich eintritt,
muß der Betrachtung konkreter Einzelheiten überlassen bleiben.
Es wird sich nur von Fall zu Fall entscheiden lassen, da die tech-
nischen Aenderungen innerhalb der einzelnen Gewerbe und das Fort-
schreiten der Kultur in entlegenere Teile des Volkswirtschaftsge-
bietes die Sachlage täglich ändern können.
VI. Es soll sich daher ein Ueberblick über das gewerbliche
Leben Berlins anschließen, daraufhin, welche Industrien und In-
dustriezweige für die Großstadt taugen und welche nicht. Besondere
Aufmerksamkeit soll dabei der Frage des Exodus zugewandt sein.
Es wird sich so zeigen, ob der Gang der konkreten Entwickelung
dem Bilde entspricht, das wir uns durch eine mehr allgemeine Be-
trachtung machen zu können geglaubt haben.
Zahl der Gewerbtätigen in Gehilfenbetrieben.
V.ohne V.c.6. Metallverarbeitung ausschließlich Eisendrahtzieherei.
1882 1895
Stadt Berlin 19 392 29 980 In Berlin 1882 8,0 Proz.
Brandenburg 14 398 20 141 1895 8,1, 25;
Schlesien 28 714 37 092 der in Preußen Gewerbtätigen.
Westfalen 39 042 59 632
Rheinland 56 945 87 293
Preußen 242 500 345 797
VI. Industrie der Maschinen, Instrumente.
Berlin 22439 41615 In Berlin 1882 12,9 Proz.
Brandenburg 14 558 32135 1895 13,6 v5
Rheinland 25755 56 624 der in Preußen Gewerbtätigen.
Preußen 173 596 306 218
Sämtliche preußische Provinzen außer Rheinland und alle Bundesstaaten mit Aus-
nahme von Sachsen und Bayern (rechts und links des Rheins) haben 1882 wie 1895
weniger Gewerbtätige als die Stadt Berlin.
Papierindustrie.
Berlin 10575 15 523 In Berlin 1882 23,1 Proz.
Brandenburg 2 384 4081 1895 22.5 i
Preußen 45 850 69 145
Berlin wird nur durch das Königreich Sachsen an Zahl der Gewerbtätigen über-
troffen.
Industrie der Holz- und Schnitzstoffe.
Berlin 21 424 30 603 In Berlin 1882 12,1 Proz.
Brandenburg 15 461 24 902 1895 IIT j
Schlesien 25 178 37 084 der in Preußen Gewerbtätigen.
Rheinland 25 896 40 809
Preußen 176491 262 237
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 751
Es handelt sich hier nicht um eine umfassende Darstellung des
gewerblichen Lebens der Weltstadt, sondern nur um die Prüfung
einer Reihe der wichtigsten Gewerbe nach den uns interessierenden
Tendenzen.
Welche Rolle Berlin heute im gewerblichen Leben Deutschlands
spielt, zeigt im allgemeinen die Tabelle. Daß die Industrie im
engeren Sinne noch in stetem Wachstum begriffen ist, lehren die
von der Gewerbeinspektion mitgeteilten Daten. Sie gelten nicht
nur für Berlin, sondern auch für Charlottenburg, Schöneberg und
Rixdorf, was jedoch nur ein Vorzug ist. Es betrug die Anzahl der
in Fabriken und diesen gleichgestellten Anlagen beschäftigten Ar-
beiter in den genannten Städten
1901 226 691 1904 272 768
1902 216 541 1905 285915
1903 246 845
Das Krisenjahr 1902 bringt eine starke Abnahme. Sonst ge-
rade in den letzten Jahren eine bedeutende Zunahme, die zwar
nicht ganz so stark ist, da 1903 und 1904 zahlreiche Betriebe in
der Kategorie Bekleidung und Reinigung neu ermittelt und einge-
gestellt wurden !) !
Lederindustrie.
Berlin 7 406 9 780 In Berlin 1882 13,2 Proz.
Brandenburg 4 100 5837 1895 73.3» -.,,
Rheinland 10 279 13 943 der in Preußen Gewerbtätigen.
Preußen 55 841 74 354
Von den Bundesstaaten beschäftigen nur Bayern und Sachsen mehr Gewerbtätige
als Berlin.
Bekleidungs- und Reinigungsgewerbe.
Berlin 40 773 72 314 In Berlin 1852 ‚12,5 Proz.
Brandenburg 26 318 35 645 1895 1750: yr
Schlesien 46 720 56 149 der in Preußen Gewerbtätigen.
Rheinland 42 189 61 672
Preußen 325 194 426 149
Polygraphische Gewerbe.
Berlin 8 858 16 358 In Berlin 1882 25,95 Proz.
Brandenburg 1754 3 580 1895 25,0 z
Preußen 34 128 65 338 der in Preußen Gewerbtätigen.
Textilindustrie.
Berlin 13 500 13 358 In Berlin 1882 4,3 Proz.
Preußen 311439 333 392 1895 FE
der in Preußen Gewerbtätigen,
Chemische Industrie.
Berlin 1 863 2797 In Berlin 1882 4,9 Proz.
Brandenburg 3 506 11437 1895 E %,
Preußen 37 801 65 117 der in Preußen Gewerbtätigen,
Industrie der Leuchtstoffe, Seifen, Fette, Oele.
Berlin 3 168 3 084 In Berlin 1882 12,5 Proz.
Brandenburg 1740 3 062 1895 EN,
Preußen 25 348 34 542 der in Preußen Gewerbtätigen.
1) Jahresberichte der kgl. preuß. Regierungs- und Gewerberäte und Bergbehörden,
1902—1906.
752 Otto Schwarzschild,
Wenden wir uns nunmehr der Betrachtung der Industrien im
einzelnen zu.
Die festeste lokalwirtschaftliche Basis besitzen zweifellos solche
Gewerbe, die den unmittelbaren Bedarf der Stadt an
genußreifen Gütern befriedigen. Zum größten Teile rein
lokalwirtschaftlich, können sie doch auch volkswirtschaftliche Bedeutung
erlangen. Nicht durch eigene Produktion, aber durch Angliederung
einer Komplementärindustrie vermögen das z. B. die Gasanstalten.
In London betreiben diese eine bedeutende chemische Industrie.
In Berlin findet sich ein Ansatz zu einer derartigen Entwickelung
in der Ammoniakfabrik der Imperial Continental-Gas-Association
in Nieder-Schöneweide.
Die Herstellung von Nahrungs- und Genußmitteln ist groß-
gewerblich am vollkommensten organisiert in der heute fast durch-
weg städtischen und großstädtischen Brauindustrie. Der lokale
Bedarf der Großstadt bildet die Basis, auf der sie sich am vor-
trefflichsten entwickelt. Schäffle weist darauf in seinen Untersuch-
ungen über den Standort der Gewerbe besonders hin; es ist das
einzige Mal, daß er so sehr ins konkrete Detail geht, Namen be-
rühmter Londoner und Wiener Brauereien zu nennen. Die große
Masse der städtischen Bevölkerung ist auf das am Platze gebraute
Bier angewiesen; je größer der Bedarf, um so besseres kann geleistet
werden, und der Ruf verbreitet sich schnell im Lande weiter.
Die Bedeutung des Exportes für die Berliner Brauindustrie.
Es betrug
die Einfuhr nach Berlin die Ausfuhr aus Berlin
in Proz. der Berliner Produktion in Proz. der Berliner Produktion
1888 9,23 8,30
1859 8,10 8,26
1890 8,85 9,12
1891 9,18 9,47
1892 9,40 11,47
1893 9,12 11,29
1894 11,71 13,11
1505 10,56 15,58
1896 10,38 13,21
1897 9,84 13,57
1898 10,01 13,75
1899 14,52 14,99
1900 15,00 15,30
1901 14,00 15,00
1902 13,00 16,50
nach den Berichten der Aeltesten der Kaufmannschaft für 1893, S. 76, für 1898, S. 87
für 1902 II, S. 22.
So wird der Export immer wichtiger. Welche Ausdehnung
trotz des zunehmenden Exportes die lokalwirtschaftliche Basis be-
sitzt, zeigt die Tabelle. Es scheint daher wohl ausgeschlossen, daß
der Export dem Platzkonsum gegenüber so die Vorhand gewinnen
könne, daß, wenn etwa wegen Erhöhung der Produktionskosten die
Tendenz zum Exodus auftreten sollte, die Rücksicht auf die lokal-
wirtschaftliche Basis nicht mehr mitsprechen würde. Daß dies, wie
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 753
bei der Tabakindustrie, durch steuerliche Maßregeln möglich sein
könnte, ist aber höchst unwahrscheinlich; sicher würde damit eine
bedeutende Qualitätsverschlechterung eintreten müssen. Denn die
Vorzüglichkeit des Produktes beruht auf der Tätigkeit eines trefflich
geschulten, wirtschaftlich und geistig hochstehenden Arbeitermaterials.
Die Zahl der in Brauereien gewerbtätigen Personen nahm von
1882 bis 1895 in Berlin von 1812 auf 4310 Personen zu, d. i. um
137,3 Proz. gegen 47,9 Proz. im Reichsdurchschnitt. Durch Ver-
legung der Malzfabrikation in die Nähe des Fundorts der sperrigen
Braugerste (Schultheißsche Malzfabrik in Fürstenwalde) oder an
Schiffahrtsstraßen lassen sich die Produktionskosten eventuell etwas,
jedoch nicht erheblich, verbilligen.
Die Tabakindustrie, bei der sich eine ähnliche Tendenz
zur Ansiedlung in der Großstadt vermuten ließe, ist heute in Berlin
ziemlich unbeträchtlich. Früher eine exportierende Großindustrie,
sah sie sich zur Einführung der Gewichtssteuern von 1879 veranlaßt,
die Produktionskosten herabzusetzen; seitdem ist die Frauenarbeit
im Vordringen begriffen, und ein Zug aufs platte Land allgemein
zu konstatieren'). Auch in der Reichshauptstadt wurden die Zigarren-
fabriken zum Teil aufgelöst und Heimarbeit eingeführt. Dies fand
sich aber noch billiger in den kleinen Landstädten der Mark, Trebbin,
Finsterwalde, Schwedt u. s. w., in die daher ein großer Teil der
Berliner Fabrikation verlegt wurde?). Ueber die Zustände in der
Stadt selbst hören wir: „Charakteristisch für die Branche ist es, daß
sich unter ihren Heimarbeitern zahlreiche Leute befinden, die wegen
Alters, körperlicher Gebrechen etc. in anderen Branchen keine Ver-
wendung finden können ë)“. Zigaretten werden meistens in Fabriken
hergestellt; nur zum Hülsenkleben benutzt man Heimarbeit ®).
Frauenarbeit herrscht vor, die Löhne sind gedrückt. Von volks-
wirtschaftlicher Bedeutung der ganzen Industrie kann kaum gesprochen
werden 5).
Ganz andere Verhältnisse finden sich im Druckereigewerbe,
bei dem auch die starke Bedarfskonzentration der Großstadt in erster
Linie mitspricht. Die Stellung der Hauptstadt im geistigen Leben
der gesamten Nation bedingt es, daß dies Gewerbe hier eine große
volkswirtschaftliche Bedeutung einnimmt. „Das in einer Zeitung an-
gelegte Kapital braucht den großstädtischen Markt, um sich zu ver-
zinsen“ ®). Die Berliner Zeitungen und Zeitschriften spielen freilich
nicht die Rolle in unserem Vaterland, wie die Londoner und Pariser
1) Jaffe, Hausindustrie u. Fabrikbetrieb in der deutschen Zigarrenfabrikation in
S. d. V. f. S., Bd. 56, bes. S. 259 ff. dort zahlenmäßig belegt.
2) Wiedfeld, S. 154 ff. und B. d. Aelt. f. 1895, S. 120.
3) Bericht der Handelskammer über die Heimarbeit.
4) Ebenda.
5) Troeltsch-Hirsehfeld, S. 147 ff., auch Thiess, „Die Lohnverhältnisse in Berlin
seit 1832“, Heidelberger Dissertation 1594, passim.
6) Petermann in „Die Großstadt“. Dort auch interessantes Detail.
Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVID, 48
754 Otto Schwarzschild,
in dem ihren, denn das deutsche Geistesleben ist dank der ganzen
geschichtlichen Entwickelung dezentralisiertt und wird es auch in
gewissem Maße bleiben. Die Herstellung der Zeitungen ist natur-
gemäß ganz an den Platz gefesselt.
Neben dem Bedarf des Volkes an holzpapierner Geistesnahrung
spielt der des Staates an Erzeugnissen der Druckerpresse eine große
Rolle (Reichsdruckerei).
Als Verlagsorte kommen die Hauptstädte ebenfalls in erster
Reihe, wenn auch nicht in gleichem Maße), in Betracht. Man läßt
dann aber vielfach draußen drucken. Beträgt doch der Lokalzu-
schlag in Berlin 25 Proz. Drei Berliner Firmen haben auswärts
Druckereien errichtet: Imberg & Lefson in Nowawes (10 Proz. Lokal-
zuschlag), Georg Reimer in Trebbin und Wagner in Zossen (kein
Lokalzuschlag), doch ist diesen Verlegungen, die schon eine Reihe
von Jahren zurückdatieren, keine weitere gefolgt. Die von Wied-
feldt erwähnte Tendenz: „Die Buchdruckerei, die Kunstbuchdruckerei,
die Lithographie, ja sogar auch die Schriftgießerei in großen Be-
trieben zu vereinigen“, kommt der Großstadt zu gute. Charakte-
ristisch für die Entwickelung eines lokalwirtschaftlichen Gewerbes
zum volkswirtschaftlichen ist es, daß heute die meisten Fahrkarten
der preußischen Staatsbahn von einer Berliner Firma gedruckt werden
sollen, eine andere den Druck für Theaterbillets auch für weit ent-
fernte Orte als Spezialität betreibt. In der schönen und sorgfältigen
Ausführung von Wertpapierdrucken haben London und Paris noch
immer die Vorhand.
Die ausgedehnte Berliner „Papierindustrie* ist ein gra-
phisches Gewerbe; sie beschäftigt sich ausschließlich mit der Weiter-
verarbeitung des fertigen Papiers (sogenannte Luxuspapierindustrie),
ist daher ebenso wie die eigentliche Druckerei auf hochwertige
männliche Arbeiter angewiesen; daneben benutzt sie ein großes
Heer von weiblichen Hilfskräften, die dem charakteristischen Bilde
der weiblichen Arbeiterschaft in der Großstadt vollauf entsprechen’).
Aus der lokalen Bedarfskonzentration entsprang auch die größte
Industrie, welche Berlin heute besitzt, zugleich diejenige, welche von
allen die spezifisch großstädtischeste ist, die Konfektion. Ein un-
gemein ausgedehnter und bis zu einem gewissen Grade uniformierter
Bedarf hatte sich gebildet; ein Heer geeigneter Arbeitskräfte war
entstanden. Wo sich diese beiden Elemente in der konzentriertesten
Form gegenübertraten, entsprang aus ihrer Verbindung die neue
Großindustrie.
Schon früh wurden künstliche Blumen, Federputz u. dergl. in
1) Vergl. Petermann 1. c.
2) Siehe den schönen Aufsatz von Elisabeth Gnauck Kühne: „Die Lage der Arbei-
terinnen in der Berliner Papierwarenindustrie“, im Jahrbuch für Gesetzgebung. Verwal-
tung und Volksw., 1896, S. 373ff., besonders die Mitteilung über den Altersaufbau,
S. 38 ff., Lohnverhältnisse, S. 41 ff., Lohnunterschiede, S. 74, das Verhältnis von Heim-
arbeit und Fabrikarbeit, S. 75 u. s. w.
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 755
der Großstadt auf Absatz hergestellt. Jetzt trat eine Revolutionie-
rung ein, welche die hauswirtschaftliche Eigenproduktion nahezu
vernichtete, die ehrbare Nahrung der Handwerksmeister mehr und
mehr in die Fesseln kapitalistischer Großunternehmungen schlug.
Die ungeheuere Nachfrage, welche die wirtschaftlich rationellere Or-
ganisation der letzteren besser zu befriedigen verstand, ging einmal
aus von der in Großstädten und Industriebezirken akkumulierten
Gesellschaft von Minderbemittelten, denen teils die demokratischen
Tendenzen des Jahrhunderts geboten, sich in der Form der Tracht
nicht mehr von anderen Klassen zu unterscheiden, die zum anderen
Teil besonderer Kleidung für ihre Werktätigkeit bedurften. Doch
ist es einseitig, in diesen Massen die ersten und hauptsächlichsten
Abnehmer der neuen Industrie zu sehen!). Auch den besser ge-
stellten Schichten wurde es willkommen, wenn ihnen ein Kleidungs-
stück nach dem andern in fertigem Zustande angeboten wurde, das
der Unternehmer nach Typen hatte arbeiten lassen können. Das
war zuerst der Damenmantel. Die Bekleidungsgroßindustrie hat mit
der Damenmäntelkonfektion begonnen, und heute noch ist diese ihr
blühendster Zweig. Und wenn, wie versichert wird, die Berliner
Industrie erst durch die Ausschaltung der französischen Konkurrenz
während des Krieges, einen Platz auf dem Weltmarkte eroberte, hat
sie wohl nicht nur für die Arbeitsbevölkerung produziert ?). Sie
dehnte vielmehr ihre Klientel nach allen Seiten aus. Die Kostbar-
keiten der Mode gerade in der Hauptstadt zu pflegen, wird dem
Unternehmer schon ohne weiteres nahegelegt, auch wenn man von
der Rücksicht auf ein günstiges Arbeitermaterial vorerst absieht.
Denn das zahlreiche und zahlungsfähige Publikum, dem er sich hier
unmittelbar gegenüber befindet, ist ihm nicht nur der Abnehmer
seiner Artikel, es schafft auch für ihn oder doch für den eigent-
lichen Produktionsleiter die einzigartige Umwelt, innerhalb deren
allein seine geistige Produktivität genügend frisch bleibt. Er hat
mit der Mode zu rechnen. Diese hat zwar Uniformierung vorge-
schrieben, aber in gewissen Grenzen verlangt sie ebenso eine indi-
viduelle Willkür. Sie will stets nachgemacht und stets neu ge-
schaffen werden. Wo ist das anders möglich, als in der Großstadt:
Welt und Halbwelt müssen in Theater und Salon, auf Promenade
und Rennplatz beobachtet, ihre Launen befriedigt, ihre Wünsche er-
raten werden. Nicht jede große Stadt, nur die Zentren des Welt-
verkehrs bieten dazu Gelegenheit.
Kein Hexenmeister hätte nun dem Unternehmer ein erwünsch-
teres Arbeitermaterial vorzaubern können, als es gerade hier die
Bevölkerungsverhältnisse geschaffen hatten. Die Frau des Arbeiters,
der es um ein Zuschußverdienst zum Lohne des Mannes zu tun ist,
1) Wie Alfred Weber, S. XL.
2) Vergl. Berlin und seine Arbeit. Amtlicher Bericht der Berliner Gewerbeaus-
stellung, 1896. S. d. V. f. S., Bd. 85, S. 425, 428, 510 ff. St. 243, 226, 246, 248.
48*
756 Otto Schwarzschild,
die Beamtentochter, die sich ein Taschengeld verdienen will!), was
haben sie anderes auszuspielen als ein wenig Fingerfertigkeit und
Chik! Und mit welchen erbärmlichen Löhnen sind sie schon zu-
frieden. Die Schwachheit, die Zusammenhangslosigkeit, kurz der
ganze soziale Typus dieser Schichten, forderte die hausindustrielle
Betriebsform ja (wie schon oben dargelegt wurde) geradezu heraus.
Die Unternehmer wußten sich diese ungesunden sozialen Ver-
hältnisse sehr zu nutze zu machen. Zwar waren auch auf diesem
(rebiete Maschinen erfunden worden, welche die Leistung verviel-
fältigen und mechanisierten, zwar hat auch hier ein selbst ohne
maschinellen Antrieb auf Produktionszerlegung beruhender Groß-
betrieb bedeutende technische Vorteile, allein man, hatte privat-
ökonomisch schwerwiegende Gründe, es vorerst bei der volkswirt-
schaftlich rückständigen, sozialpolitisch verwerflichen Betriebsform
bewenden zu lassen. So nämlich ist es möglich, Regiespesen zu
sparen, die Wirkung der Grundrente zu umgehen, die Löhne auf ein
Minimum zu drücken, kurzum die Produktionskosten enorm zu be-
schränken und die Anlage von fixem Kapital nahezu zu vermeiden.
Daraus ergaben sich noch zwei weitere private Vorteile, die zu den
erößten volkswirtschaftlichen Schäden zu rechnen sind: Man konnte
die Spannung zwischen dem im Gebiete der Mode so starken Auf
und Ab, zwischen haute saison und saison morte ganz und gar auf das
Arbeitermaterial zurückschnellen lassen und — man brauchte von
1) „Die Salonheimarbeit kommt lediglich für Stickerei noch in Betracht.“ Die
Heimarbeit in Berlin, Bericht der Handelskammer, Berlin 1906.
Derselbe Bericht gibt folgende Statistik über die wichtigeren Branchen der
Berliner Heimarbeit. Es kommen Heimarbeiter auf die i
Damen- und Kinderkonfektion 52 000
Herren- und Knabenkonfektion 22 000
Wäschefabrikation und Konfektion, Weißwaren-
konfektion, Kravattenkonfektion ete. 47 000
Hutfabrikation, Blumen-Federfabrikation, Mützen-
fabrikation 6 000
Schuhfabrikation 2 000
Papier- und Lederwaren-, „Galanteriewaren - In-
dustrie ete. 5 000
Zigarren- und Zigarettenindustrie 3 000
140 000
Es wird daran die Betrachtung geknüpft, die Zahlen zeigten die Schwierigkeit der
Ueberführung in den Fabrikbetrieb. „Der Umstand, daß in Berlin, d. h. einem Platze,
dessen gewerbliche Verhältnisse sich unter schärfster Einwirkung der modernen tech-
nischen und kommerziellen Errungenschaften entwickeln und dessen Erwerbsleben rück-
sichtslos alle veralteten Produktionsformen auszuscheiden pflegt, sich die Form der
Heimarbeit neben der Form der Fabrikarbeit in erheblichem Umfange behauptet, ja
sogar im Laufe der letzten Jahre weiteres Terrain erobert hat, legt den Gedanken nahe,
daß die Art der Heimarbeit, wie sie in unserer Stadt und an ähnlichen Zentralpunkten
des wirtschaftlichen Verkehrs sich ausgebreitet hat, in mancher Hinsicht eine andere
Beurteilung verdient, als die alteingesessene Hausindustrie in kleinen Ortschaften, in
denen der Zudrang der Bevölkerung weniger durch den Zwang des ökonomischen Be-
dürfnisses als durch die Macht alter Gewohnheit (?) bestimmt wird.“
Man kann sich diesen Worten nur anschließen, ohne deshalb aufzuhören, der
Kasernierung wenigstens eines Teils der Hausindustrie das Wort zu reden.
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 757
der Technik der Fabrikation so gut wie gar nichts zu verstehen !),
sondern konnte das dem eigentlichen Produktionsleiter dem Zwischen-
meister überlassen ?2). Schließlich war es auf diese Weise möglich,
eine chamäleonhafte Versatilität an den Tag zu legen und die ver-
schiedenartigsten Dinge im gleichen Betriebe herzustellen, was be-
sonders in der Damenkonfektion, wo schnelle Anpassung an den
Modewechsel selbst der Solidität vorgezogen wird, den Wünschen
entsprach.
Nicht in allen Großstädten der Welt hat man dies günstige Zu-
sammentreffen der stärksten Bedarfskonzentration und der er-
wünschtesten Produktionsmöglichkeit so ausgenutzt, wie in Berlin:
Das englische Bekleidungsgewerbe vor allem hat von vornherein
große Werkstättenbetriebe errichtet. Seine Erzeugnisse sollen zwar
vielfach solider gearbeitet, sogar billiger sein, als die deutschen
Fabrikate, diesen aber in der Variabilität durchaus nachstehen, so
daß man in London, wie schon früher in Paris, jetzt auch zum Ver-
lagssystem übergeht.
Berlins Stellung in der Konfektion ist heute einzigartig. Die
deutsche Damenmäntelkonfektion sitzt zu 90 Proz. in der Reichs-
hauptstadt. In der Herstellung von Herrenkleidern kommt reichlich
ein Viertel, in der Herstellung von Knabenkleidern kommen drei
Viertel der gesamten deutschen Produktion auf sie). In Neben-
branchen ist nahezu ein Monopol erreicht. In der besseren Damen-
und Kinderkonfektion wird diese Stellung auch nicht erschüttert
werden. Denn sie beruht hier durchaus auf der Einzigartigkeit des
Standortes, die Produktionsleiter und Arbeiter mit einer unver-
gleichlichen Ueberlegenheit ausstattet*,. Diese Ueberlegenheit
kommt aber um so weniger in Betracht, je geringer und je stabiler
die Qualität des Hergestellten ist, und je mehr durch Arbeits-
zerlegung die Anforderungen an die einzelne Arbeitskraft herunter-
geschraubt werden können.
Das erstere tritt am klarsten zu Tage. Der Unternehmer wird
sich schon ohne weiteres den Verhältnissen anpassen, und dort, wo
er Originelles und Gutes leisten kann, es auch von vornherein
darauf absehen. Er wird sich nicht selbst außerhalb des Monopols
setzen wollen, das durch den besonderen Charakter der örtlichen
Lage schon ohne weiteres gegeben ist. Es wird aber für ihn
schließlich in dieser Hinsicht geradezu ein Zwang bemerkbar, weil
Artikel, in die der Chick der Großstädterin nicht hineinzufließen
braucht, draußen auf die Dauer billiger hergestellt werden können.
Denn mögen die Löhne in der Berliner Hausindustrie noch so
grauenhaft niedrig sein, sie sind trotz alledem höher als in Breslau
und Erfurt, erst recht als in Stettin und Aschaffenburg. Grandke
1) Davon, wie oft dies zutrifft, kann ein Blick in die Praxis unschwer überzeugen.
2) Die Heimarbeitenquete der Handelskammer spricht von der „schöpferischen
Aufgabe“ der Zwischenmeister.
3) Bericht der Handelskammer.
4) Vergl. z. B. 8. d. V. f. S., Bd. 85, S. 425.
758 Otto Schwarzschild,
hält mit Recht die Behauptung, Berlin wollte mit den letzteren
beiden Plätzen konkurrieren, für ungerechtfertigt!. Das kann
höchstens einmal vorübergehend der Fall sein. Schließlich aber
setzt die Konkurrenz an einem gewissen Punkte aus, und es tritt
vollständige Arbeitsteilung ein.
Die geringwertigeren Sachen, und neben diesen Stapelartikel,
die vielleicht sogar solider, aber durchaus schablonenmäßig ge-
arbeitet sind, werden mehr und mehr in der Provinz hergestellt.
In der Herrenkonfektion wird in Frankfurt a. M. durabler gearbeitet,
aber nicht so elegant, wie in Berlin. Die Schürzenkonfektion in
Plauen stellt Stapelartikel, meist guter Qualität, her; Berlin macht
in stetem Wechsel alle Qualitäten, wobei der Rückhalt an den großen
Stofflägern, besonders bei schnellem Modewechsel, den Unternehmern
sehr zu statten kommt. „Die Tendenz geht offenbar dahin, daß in
Berlin die Herstellung der geringeren Waren allmählich zurücktritt,
sie geht in Gegenden mit billigerer Lebenshaltung. Nur die Kon-
fektionshäuser, deren Inhaber einen mehr industrieritterhaften
Charakter haben, versuchen es noch mit minderwertiger Konfektion“ ?).
In der Herstellung künstlicher Blumen macht Sachsen für ein-
fachere Sorten Konkurrenz). In Berlin lassen nur die feinsten
Sorten einen hinreichenden Nutzen übrig, wobei den tüchtigen
Arbeitern gerne höhere Löhne bewilligt werden +). Stapelartikel der
Phantasiefederbranche lassen Berliner Fabrikanten in Oranienburg,
Mittenwalde, Friedeberg in der Neumark herstellen 5). Im Stickerei-
gewerbe ist eine Konkurrenz mit Plauen auf die Dauer unmöglich ê).
Man geht nun vielfach zuerst nur in entferntere Vororte; aber das
großstädtische Wirtschaftsgebiet dehnt sich aus, und das Bleiben
wird unmöglich. So sind in Cöpenick wegen der Nähe der Spind-
lerschen Färberei „nur sehr wenig, fast gar keine“ Arbeiterinnen
für die Putzfederbranche zu haben. Gerade die Putzbranchen haben,
wie Neuhaus erzählt, darunter zu leiden, daß „in anderen haus-
industriellen Beschäftigungen teilweise ohne Vorbildung ein leichterer
Verdienst zu erwerben ist“ 7). Aeußerst charakteristisch ist es, was
er über Verlegungen in dieser Branche mitteilt. „Um sich die
nötigen Arbeiter zu suchen, machten die Fabrikanten die größten
Anstrengungen. Verheiratete Federarbeiterinnen, deren Männer zum
Aufgeben ihres Berufes und zum Federarbeiten bewogen waren,
wurden mit ihrer ganzen Familie auf Kosten der Unternehmer nach
kleinen Orten, die zur Federarbeit geeignet waren, hingeschickt.
Mann und Frau erhalten festes Monatsgehalt, ihnen werden sämt-
liche Kosten des Hin- und Herfahrens von und nach Berlin nebst
1)8S.d. V. f. S., Bd. 85, S. 337.
2) Grandke, in S. d. V. f. S., Bd. 85, S. 383.
3) Neuhaus, ebenda S. 31.
4) Hkb. für 1905, S. 281 ff.
5) Neuhaus, S. 45.
6) Helene Simon, ebenda S. 516.
7) Neuhaus, S. 47, 52.
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 759
Spesen ersetzt. Meist ergibt sich dabei, daß dieses Unternehmen
nur an Orten glückt, in denen keine oder nur geringe Industrie
vorhanden ist.“ Es gelang z. B. nicht in Trebbin, wo die Löhne
der Tabakfabriken zu starke Konkurrenz machten !).
Diese Verdrängung von geringwertiger Ware und Stapelartikeln
scheint in der Herren- und Knabenkonfektion am weitesten gehen
zu wollen. Daß die Arbeiterkonfektion Berlin ganz und gar ver-
lassen hat, ist kein Wunder ?). Aber auch bei besseren Sachen läßt
sich eine zentrifugale Tendenz erkennen, die ohne Zweifel in ganz
kurzer Zeit noch bedeutend an Kraft gewinnen wird: Die Unifor-
mierung des Bedarfes geht hier so weit, daß trotz aller privatöko-
nomischen Vorteile der Heimarbeit der arbeitsteilige Werkstattbetrieb
schließlich doch als das Gegebene erscheint. Ist die Arbeitszer-
legung dann genügend fortgeschritten, kann auch die Mechanisierung
einzelner Produktionsstadien Platz greifen. Das so oft verwünschte
Verlagssystem ist durch die innere, technisch-ökonomische Entwicke-
lung des Gewerbes überwunden und durch die geschlossene Fabrik
ersetzt worden. Dieser Umbildungsprozeß hat sich heute nur in
einem Gebiete des Bekleidungsgewerbes voll durchgesetzt: in der
Wäschefabrikation; er hat mit verheißungsvollen Anfängen in der
Herren- und Knabenkonfektion begonnen ê). In Stettin gibt es heute
schon richtige Konfektionsfabriken; eine führende Firma der Knaben-
konfektion fabriziert in Berlin und Brandenburg. In der Damen-
und Kinderkonfektion aber scheint die Heimarbeit noch große Vor-
teile für sich zu haben: hier ist jedes Stück noch so individuell,
daß man es lieber ganz und gar von einer Hand arbeiten läßt, wo-
mit der Zwang zur Einrichtung einer Werkstatt ausgeschaltet wird.
Einen großen technischen Vorteil bietet die letztere freilich immer,
indem sie das Ineinanderarbeiten von Näherin und Büglerin bei
jedem einzelnen Teil ermöglicht; daher man auch die allerfeinste
Arbeit von jeher in kleinen Werkstätten vorgenommen hat,
während das Gros fertig genäht wird und dann erst unter das
Bügeleisen kommt. Die in der Betriebstechnik selbst liegenden
Gründe zu ihrer Umwandlung kommen nun nicht allein in Betracht;
wie ihr Vorhandensein auf den sozialen Charakter des Arbeiter-
materials zurückzuführen ist, so ist auch ihre Ueberwindung durch
dessen Umänderung möglich. Nicht nur die Uniformierung des Be-
darfes drängt auf die Einführung des Fabriksystems, sondern auch
das erwachende Klassenbewußtsein der Arbeiter und die Sozialpolitik
des Staates.
Es darf daher der Frage nicht aus dem Wege gegangen werden,
wie die Aufhebung der Heimarbeit die räumliche Anordnung der
Industrie beeinflussen würde: Bei den feinsten Sachen wäre keine
1) Ueber einen ganz ähnlichen Vorgang in der Metallindustrie s. u. S. 775.
2) Grandke, S. 136.
3) Deshalb kann andererseits die Konfektionsmaßarbeit zunehmen, wie der Be-
richt der Handelskammer feststellt. Das Handwerk wird auch hier immer mehr auf-
gesogen.
760 Otto Schwarzschild,
Aenderung der Sachlage zu erwarten: der Werkstattbetrieb ist heute
schon da; die Arbeitszerlegung wird hier nie so weit gehen, daß die
einzelne Arbeiterin das Bewußtsein verlöre, an einem Ganzen zu
schaffen; die Anforderungen bleiben hoch, und die Großstädterin
behält ihre Monopolstellung. Anders bei der breiten Masse der
Produkte: die Arbeitszerlegung wird die Einzelhantierung zu einer
immer unselbständigeren und automatischeren machen. Die An-
forderungen sinken stark und können daher draußen sicher ebenso
gut befriedigt werden, wie in der Stadt.
Darin liegt zweifellos eine bedeutende Tendenz zum Exodus,
die durch die jetzt mit ganz anderer Macht einsetzende Organisation
der Arbeiterschaft noch bedeutend verstärkt würde. Indes — auch
so würde noch manches für ein Verbleiben am Platze sprechen:
Qualifizierte Kräfte zum Entwerfen und Leiten braucht man immer
noch, der Produktionsleiter selbst wird den Anregungen der Groß-
stadt schwer entraten, die stete Berührung mit dem kaufenden
Publikum bliebe erwünscht.
Schließlich muß noch einmal betont werden, daß die neue Be-
triebsform nur dann das Gewerbe in seiner Gesamtheit ergreifen
würde, wenn sie zwangsweise angeordnet werden würde. Denn für
einen großen Teil der städtischen Bevölkerung wird allem zum Trotz
der hausindustrielle Supplementärerwerb nach wie vor die einzig
mögliche Form gewerblicher Betätigung bleiben, und daher wird es
auch stets Unternehmungen geben, die sich das zu nutze machen,
solange es der Staat nicht radikal verbietet. Daß auch die fabrik-
mäßig organisierten Betriebe die Heimarbeit gerne zur Ergänzung
mit herbeiziehen, zeigt sich in der Wäscheindustrie.
Auf diese soll noch etwas näher eingegangen werden, weil in
ihr die Verhältnisse am übersichtlichsten liegen. und die für die Zu-
kunft ausschlaggebenden Tendenzen sich am klarsten erkennen lassen !).
Man muß hier die Wäschefabrikation und die Wäschekonfektion
unterscheiden. Die erstere stellt die Herrenwäsche her, daneben
auch Waschblusen für Damen; die Wäschekonfektion die übrige zum
Teil ungewaschen zum Verkauf gelangende Damenwäsche. Sie ist
Domäne der Heimarbeit, während die Wäschefabrikation sich, wie
der Name besagt, in Fabrikbetrieben vollzieht. Der Bedarf ist
nämlich stark uniformiert; auf individuelle Eigentümlichkeit des
einzelnen Stückes wird kein Wert gelegt, um so mehr auf Solidität
der Arbeit; das Meiste wird nach festen Typen und in verschiedenn
Größen nach Nummern hergestellt. Der Produktionsprozeß zerlegt
sich in drei Stadien: Zuschneiden, Nähen und Plätten. Das Zu-
schneiden wird von gelernten männlichen Arbeitern vollzogen, wie
sie nur in der Großstadt in genügender Qualität zu finden sind; das
gilt selbst für die Herstellung geringwertiger Ware, erst recht natür-
1) Ueber die Anfänge dieser Industrie unterrichtet H. Grandke, „Die Entstehung
der Berliner Wäscheindustrie im 19. Jahrhundert“ im Jahrbuch für Gesetzgebung, Verw.
und Volksw., 1896,
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 761
lich da, wo genaue Anpassung an die Mode, Entwerfen neuer Muster
u. s. w. verlangt wird. Das Waschen und Plätten kann nur im Groß-
betrieb vollzogen werden, wenn genügende Schnelligkeit, Sauberkeit
und Uniformität der Leistungen erreicht werden soll. Die in der
Mitte liegende Näharbeit aber verlangt weder besonderes Können
und persönliche Initiative, da sie nur das vom Zuschneider Ange-
ordnete ausführt, noch läßt sie sich automatisch einem Maschinen-
betrieb überantworten; sie wird ausschließlich von Frauen vollzogen
und kann auch zu Hause vorgenommen werden !). In der Massen-
fabrikation ist man dazu übergegangen, in der Provinz nähen zu
lassen. Die entlassenen Strafgefangenen in Brandenburg und Luckau
sollen eine besonders hohe Zahl Näherinnen stellen. Daß die ganze
Fabrikation hinausverlegt wird, ist auch schon mehrfach vorgekommen.
In Cottbus, Rathenow, Ziegenhals sind von Berliner Unternehmern
Wäschefabriken errichtet worden 2). Ein starker Arbeiterinnenmangel,
der vor einigen Jahren, als die Warenhäuser und die Elektrizitäts-
industrie große Mengen weiblicher Arbeitskräfte an sich zu ziehen
begannen, eintrat, soll die besondere Veranlassung dazu gebildet
haben). Aber auch hier ist es nur die Herstellung von geringeren
Waren und Massenartikeln, die unter Umständen in der Provinz
wirtschaftlicher von statten geht. Bei den ersten Häusern Berlins
wird der größte Teil des Produkts in der Fabrik selbst genäht, ein
Teil wird an verheiratete frühere Fabrikarbeiterinnen in der Stadt
ausgegeben und nur ein geringer Teil in die Provinz. Von einer
Verlegung des gesamten Betriebes wird nie die Rede sein können.
Ein Zeichen, auf welcher Höhe die Berliner Wäschefabrikation steht,
ist es, daß trotz der enormen Zölle noch immer feine, mit der Hand
gearbeitete Artikel nach den Vereinigten Staaten ausgeführt werden.
In der Wäschekonfektion ist Berlins Suprematie noch unbe-
dingter. Sie erstreckt sich, eben der Organisationsform wegen, auch
auf Mittelware und schlechte Artikel. Nur Dutzendsachen und Stapel-
ware werden in Schlesien, Westfalen und am Rhein, und nicht in
Berlin produziert. Hier will das Monopol der Versatilität ausgenutzt
sein. Für die feinsten Sachen hat sich eine Elite gebildet. Eigen-
tümlich ist ein auch in anderen Zweigen der Konfektion unter Um-
ständen hervortretender Unterschied zwischen Stadtkern und Vor-
orten. Die ferner Wohnenden können nicht den engen Kontakt mit
der Firma wahren, wie diejenigen, für die ein öfterer Hin- und Her-
weg bedeutungslos ist. Daher finden sich draußen wenig qualifizierte
Arbeitskräfte, und zwar schiebt sich dann stets ein Zwischenmeister
1) „Die Mädchen und namentlich die verheirateten Frauen, welche Heimarbeit leisten,
haben früher häufig in einer Wäschefabrik gearbeitet, sind somit über die Arbeitsbe-
dingungen informiert. Die Schulung, die sie mitbringen, befähigt sie zu guten Leistungen ;
daraus erklärt sich die Tatsache, daß die direkten Heimarbeiterinnen auch zur Her-
stellung bester Ware herangezogen werden, während geringere Ware der Vermittelung
der Zwischenmeister zufüllt.“
2) Bericht der Handelskammer über die Heimarbeit.
3) Der B.d.Aelt. f. 1504, S. 232 beklagt die Verdrängung der Wäscheindustrie für
die große Zahl von Wäschenäherinnen, deren Nebenverdienst ganze Familien erhalte.
762 Otto Schwarzschild,
ein 1). Nach auswärts soll nicht viel Arbeit ausgegeben werden, doch
kommen Potsdam und Brandenburg immerhin in Betracht ?).
Die früher blühende Wäschestickerei ist der Plauener Konkurrenz
erlegen ê), was sich behauptet, ist „pressante Kundenarbeit“, kostbare
Stickereien und kleine, mehr nebenher verrichtete Arbeiten an ge-
wöhnlichen Sachen).
Aehnliche Verhältnisse herrschen in den dem Bekleidungsgewerbe
naheliegenden, gleichfalls meist in Form des Verlages betriebenen
Industrien. In der Schirmbranche gibt es in der Provinz ge-
schlossene Fabrikbetriebe, aber die Löhne sind dort auch um 10 Proz.
niedriger als in Berlin).
Ein ziemlich trübes Bild entwirft Roehl) von der Heimarbeit
in der Ledergalanteriewarenindustrie. Eine Exportindustrie — aber
was sie exportiert ist Schund! Dominiert Offenbach in guten Waren,
so Berlin in schlechten. Für Stapelartikel herrscht das Sweating-
System mit jugendlichen männlichen und weiblichen Arbeitskräften.
Das in der Heimarbeit beschäftigte Arbeitermaterial, „eher ®/, als ?/,*
des gesamten wird treffend geschildert. Es „sind alle möglichen
Berufe vertreten, Steinträger, Barbiere, Drechsler, Maurer, Musiker,
Maschinenbauer, kurz alle Arten verunglückter oder entgleister
Existenzen, die in dieser Branche zu argen Lohndrückern werden,
auch alle Gattungen von Krüppeln, nur mit gesunden Händen, ja
sogar ein Blinder“). Qualifizierte Arbeit wird demgegenüber wenig
verlangt®). Doch werden heute auch feine Lederwaren in Berlin
verfertigt. Muß auch für jene untersten Schichten der Großstadt
immer da und dort eine Beschäftigung abfallen®), so erscheint es
doch — dazu bedarf es nur eines Blickes auf die Tabak-, auf die
Textilindustrie — sehr gefährlich und auf die Dauer nicht durch-
führbar, sich ausschließlich auf sie zu stützen, und eine Industrie,
die nur „Schund* produziert, in der Weltstadt halten zu wollen.
Denn die Provinz kann derlei allemal billiger herstellen.
Bei der Betrachtung der Berliner Hausindustrie ist zu beachten,
daß seit 1901 durch Ortsstatut die Krankenversicherung auch auf
Heimarbeiter ausgedehnt ist. Da die Vororte die gleiche Maßregel
leider noch nicht getroffen haben, tritt dort eine Verbilligung der
Arbeitskräfte ein, die unter Umständen ganz beträchtlich sein kann
und es bedingt, daß in wachsendem Maße Arbeit in die Vororte
gegeben wird. Das ist natürlich ein ganz zufälliger Ausnahmezustand.
Auch die Holzindustrie stellt heute in Berlin hauptsächlich
1) Diese Verschiedenheit wird durch das Krankenversicherungsortsstatut der Stadt
Berlin natürlich noch verschärft,
2) 8. d. V. f. S, Bd. 85, S. 395.
3) Ebenda S. 566, 516.
4) B. d. Aelt. f. 1894, S. 232.
5) S. a. V. f. S., Bd. 85, S. 447; vergl. auch S. 453ff.
6) S. d. V. f S., Bd. 85, S. 459 ff.
7) S. d. V. f£. S., Bd. 85, S. 470, 472.
8) Ebenda.
9) Vergl. die charakteristische Schilderung der Kürschnergesellen bei Rosenberg
8. d. V. f. S, Bd. 85, S. 126 ff.
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 763
konsumreife Produkte her. Bei der Gewerbezählung von 1895 hatte
die Gruppe der Tischlerei und Parkettfabrikation ein bedeutendes
Uebergewicht, das indes durchaus auf Rechnung der ersteren zu
Setzen ist. Die „Fabrikation von Spiegeln und Bilderrahmen“ stand
an zweiter Stelle.
Die gröberen Verrichtungen der Holzbearbeitung werden kaum
mehr in der Stadt vorgenommen. Sie sind unter die Industrie der
sperrigen Güter zu rechnen; heute kommt fast nur noch geschnittenes
Holz nach Berlin, welches der ersten rohen Zurichtung in den
großen Umschlageplätzen des ostdeutschen Wasserverkehrs unter-
zogen wurde, vor allem in Oderberg an der Liepe. Der Handels-
kammerbericht für 1905 nennt die Vergrößerung der Holz- und
Fourniermessereien bei dem großen städtischen Laubholzbedarf eine
wirtschaftliche Notwendigkeit, fügt aber hinzu, daß die Zahl der
Berliner Schneidemühlen sich „infolge des teueren Grundes und
Bodens“ eher vermindert als vermehrt habe!). Hier wird, wie so
oft, die Schuld für das Zurückgehen von hauptstädtischen Betrieben
der Grundrente gegeben. Entspräche das den Tatsachen, so wäre
dem durch Peripheriewanderung längst abgeholfen. Hier können
aber nicht die hohen Grundstückpreise verantwortlich gemacht
werden, sondern nur die Transportkosten und die Arbeitslöhne. —
Die Färberei von Holz und Fournieren ist an die süddeutsche
Konkurrenz übergegangen, „welche bei billigen Holzfrachten leistungs-
fähiger ist“ ?).
Die Indusrie der Holz- und Schnitzstoffe in Berlin nach den Gewerbezählungen
von 1882 und 1895.
Zahl der der gewerbtätigen
Hauptbetriebe Personen
1882 1895 1882 1895
a 1 Sägemühlen 32 i 378
a 2 Sonstige Holzzurichtung ' 93 78 Í 1096 757
b 1 Holzdraht, Holzstifte 2 5 21 88
b 2 Grobe Holzwaren 230 240 811 1143
b 3 Tischlerei u. Parkettfabrikat. 2907 3187 12680 19775
e Bötteherei 270 229 609 538
d Korbmacher und Flechter 487 418 839 812
e _Strohhutfabrikation N 180 39 } Sag 233
f Sonstige Flechterei v. Holz ete. 18 í 60
g 1 Drechslerei 623 2034
g 2 Spielwaren aus Holz ete. 10 4775 16
g 3 Sonstige Dreh- und Schnitz- 934 367 2320
waren
g 4 Korkschneiderei 30 26 83 78
h 1 Kammmacher l 348 39|\ fòt 146
h 2 Bürsten-, Pinselmacher f 4 224 j ? 645
h 3 Stöcke, Schirme 324 253 806 1464
i Spiegel-, Bilderrahmen 491 408 2193 2553
Sa. | 4093 6196 17825 33040
1) Hkb. f. 1905, S. 137.
2) Ebenda, S. 136.
764 Otto Schwarzschild,
Wenden wir uns nun der wichtigsten Gruppe, der Tischlerei, zu.
Die Reichshauptstadt war hier früher berüchtigt wegen des von ihr
produzierten „Berliner Schundes“ ; besonders bildet die Fabrikation
der sogenannten Berliner Möbel kein Ruhmesblatt in ihrer Gewerbe-
geschichte. Aehnlich wie in der Konfektion, folgte auf die Belage-
rung von Paris und die deutschen Siege eine Epoche der Hoch-
konjunktur und des Massenexportes, die dann, wie so mancher
Freudentaumel der Gründerzeit, mit dem Krach ein jähes Ende
nahm !).
Was geliefert wurde, war weder geschmackvoll, noch solide genug,
um sich auf dem Weltmarkt zu behaupten.
Heute haben sich die Verhältnisse gründlich geändert. Man
kann gewiß von einem Ausleseprozeß sprechen, der die mittleren und
schlechteren Qualitäten aus der Stadt verdrängt hat und die am Platze
verbliebenen zur schärfsten Anspannung ihrer Kräfte nötigt. Nach
dem Handelskammerbericht für 1902 ist das Geschäft in billigen und
geringen Qualitäten zwar flott; aber es ist, wie es weiter heißt, höchst
unlohnend und wird von „kümmerlichen Existenzen“, kleinen Gewerbe-
treibenden in den Vororten „zu Hungerpreisen“ betrieben ?). Das
sind Ausnahmeverhältnisse, die von der nicht zu verkennenden
Tendenz der ganzen Entwickelung über kurz oder lang hinweggefest
werden müssen. Heißt es doch in demselben Bericht, daß es mit
den Betrieben, die ausschließlich Mittelware herstellen, nicht glänzend
bestellt sei. Sie „... hatten einen scharfen Kampf mit der billiger
arbeitenden Provinz zu bestehen ... weite Gebiete sind verloren
gegangen.“
Diese Worte geben die allgemeine Signatur der Entwickelung:
Die Herstellung geringerer Qualitäten rückt unweigerlich hinaus.
Was will es nicht alles besagen, wenn für Arbeiten an besseren
Möbeln der Stundenlohn sich in Berlin auf 75, in Cottbus auf 40 Pf.
bemißt!?).
Eilenberg und Luckenwalde sind heute Hauptfabrikationsstätten
der Berliner Möbel. Die ihren Namen mit Unrecht tragende Luxus-
möbelindustrie, d. i. die Fabrikation von Rauch- und Spieltischehen
undanderen Holzgalanteriewaren, ist ganz und gar verdrängt worden.
Der Spreewald übt auf sie die größte Anziehungskraft aus, wor-
auf Paul Voigt schon 1897 aufmerksam macht‘). Die Galanterie-
möbelfabrikanten dieses enorm billigen Produktionsgebietes befinden
sich in vollkommener Abhängigkeit von Berlin. Neben dem Spree-
wald kommen Luckenwalde, Trebbin, Finsterwalde in Betracht, in
den letzten Jahren in wachsendem Maß die Ortschaft Schönlanke iu
Posen, wo 400 Arbeiter in 10 Fabriken beschäftigt sind. Es ist zum
Teil auf diese Entwickelung zurückzuführen, wenn die Zahl der
Drechsler in Berlin bedeutend abgenommen hat; daneben freilich
1) Vergl. Wiedfeld, 8. 333.
2) S. 127 ff., vergl. auch Hkb. f. 1904, S. 146.
3) Mitteilung des Gauvorstandes des Deutschen Holzarbeiterverbaudes.
4) Untersuchungen über die Lage des Handwerks. Berliner Dissertation 1897.
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 765
auf die Verfeinerung des modernen Geschmacks, der die früher so
beliebten tausenderlei Zierarten, Simse und Säulchen verbannte.
Der Holzarbeiterverband zählte in der Hauptstadt 1900 etwa 1200,
1905 etwa 800 Drechsler zu seinen Angehörigen !). Gardinenstangen
und Rosetten, früher ebenfalls Berliner Artikel, werden heute in
Bernau hergestellt.
Eine Gefährdung des Gewerbes auch in besseren Qualitäten
liest gerade hier in dem Vordringen der Produktionszerlegung, der
„Leilarbeit“. Der großstädtische Arbeiter sträubt sich von vorn-
herein gegen die zu weitgehende Mechanisierung und Schablonisierung
des Produktionsprozesses, der auf diese Weise uninteressant wird,
indes das Streben der qualifizierten Kräfte „dahingeht, sich unter
möglichster Vermeidung physischer Anstrengung ... geistig zu be-
tätigen“ ?).
Ungelernte, besonders Frauen, können jetzt an seine Stelle
treten — und damit ist die Ueberlegenheit der Provinz entschieden.
In Frankfurt a. d. O. wird in diesem Jahre die größte Möbelfabrik
Deutschlands eröffnet werden, die auf vollkommener Durchführung
der Teilarbeit beruht °).
Trotzdem braucht die Tischlerei in der Hauptstadt nicht trübe
in die Zukunft zu schauen. Unter dem eisernen Zwange der Not
hat die Berliner Möbelindustrie heute wieder eine Weltstellung ge-
wonnen, deren Grundlagen wesentlich zuverlässiger sind, als zur
Gründerzeit. Die Herstellung von fournierten Möbeln in immer
soliderer und künstlerisch wertvollerer Ausführung bildet heute die
stärkste Seite der gesamten Holzindustrie überhaupt. Der Kontakt
mit dem zahlungsfähigen Publikum, die stete Unterstützung und
Befruchtung durch die Kunst — gerade heute bei dem großen Auf-
schwung des Kunstgewerbes —, und nicht zuletzt die ausgezeichneten
Leistungen des großstädtischen Arbeiters machen die Großstadt
dauernd zu einem einzigartig günstigen Standort für die Herstellung
feiner Möbel. Darüber ist man sich auch durchaus klar und weiß,
wie die gewonnene Position zu behaupten ist. „Die Hebung der
qualitativen Leistungsfähigkeit durch ständig neue Muster und Zeich-
nungen, welche einen Fortschritt auf Vertiefung und Veredlung ...
erkennen lassen, ist bei den hiesigen hohen Löhnen eine gebieterische
Notwendigkeit, wenn die Berliner Möbeltischlerei dem außerordent-
lich rührigen Wettbewerb der Berliner Provinz überlegen bleiben
will“ 4). Die Herstellung von Massenartikeln kann sich der Provinz
gegenüber nur dadurch halten, daß ständig neue Muster auf den
Markt geworfen werden). „Die ganze Zukunft der Berliner Möbel-
industrie aber liegt — wie die Handelskammer sagt — auf der quali-
1) Vergl. Hkb. für 1905, S. 136.
2) Hkb. f. 1905, S. 120.
3) Vergl. Hkb. f. 1904, S. 145.
4) Hkb. f. 1904, II, S. 144, vergl. B. d. Aelt. f. 1898, S. 223.
5) Bericht des Holzarbeiterverbandes 1906, S. 82.
766 Otto Schwarzschild,
tativen Leistungsfähigkeit der Arbeiter“ !). Gute Arbeiter, nament-
lich solche, die nach Zeichnung arbeiten können, sind andauernd
gesucht ?), die aus der Provinz kommenden Arbeiter weisen aber
eine „so geringe Ausbildung auf, daß längere Zeit erforderlich ist,
bis sie den Ansprüchen der hiesigen Werkstätten genügen“). Man
sucht daher das Fortbildungsschulwesen weiter auszubilden. Auf
solche Weise sind zufriedenstellende Ergebnisse, ja Triumphe er-
reicht worden). Auch alle sonstigen Qualitätsbranchen der Holz-
industrie bleiben der Stadt erhalten. In charakteristischer Weise
zeigt sich das an den Erlebnissen einer Berliner Leistenfabrik, die
vor längerer Zeit von Berlin nach Eberswalde verzog, weil sie dort
billiger zu produzieren gedachte. Das Experiment glückte jedoch
nicht; der Betrieb wurde wieder nach der Hauptstadt zurückverlegt,
wo die Firma kurz darauf an den Folgen des doppelten Umzugs
zusammenbrach. Heute macht indes schon Guben in der Leisten-
fabrikation bedeutende Konkurrenz.
Durchaus parallel verläuft die Entwickelung in der Bautischlerei;
man sollte meinen, dieser Zweig der Holzindustrie sei nur im engsten
Anschluß an den Bedarf möglich. Dem ist aber zum großen Teile
nicht mehr so. Die Mietskaserne verlangt keine individuellen Fenster
und Türen. Die billige Massenfabrikation ist ausschlaggebend ge-
worden; Landsberg a. d. W., Hohenholm b. Bromberg, Czersk i.
Westpreußen, Köslin und Großenhain i. Sachsen haben sie an sich
gerissen. In Kottbus soll eine große Firma ausschließlich für den
Berliner Bedarf arbeiten — ein lokalwirtschaftlicher Betrieb außer-
halb der Stadt! Keineswegs aber ist die gesamte Berliner Bau-
tischlerei von einer derartigen Konkurrenz bedroht. Sie erstreckt
sich vielmehr durchweg auf geringwertige Waren und Massenartikel,
die in Berlin herzustellen oft gar nicht möglich wäre. So kommt
es, daß man die Versorgung von auswärts sogar als willkommen
bezeichnet), denn nur dadurch, daß der Mehrbedarf von draußen
gedeckt wird, gelingt es die Kundschaft zufriedenzustellen. Möglich,
daß sich durch weitere Ausgestaltung der Teilarbeit der Bereich der
Provinz noch weiter ausdehnen ließe. Daß man aber auch hier an
eine Grenze kommt, zeigen die trüben Erfahrungen auswärtiger
Firmen bei der Anbringung ihrer Bautischlerarbeiten in Berlin.
Die hergeschickten Arbeiter verlangten alsbald höhere Löhne, die
am Platze angeworbenen ließen sich nicht von draußen dirigieren;
fast immer hatte man in Verkennung der großstädtischen Verhält-
nisse zu niedrig kalkuliert. Obwohl es sich um die Anbringung von
Schabloneartikeln in Schablonehäusern handelt, ergeben sich doch
Unannehmlichkeiten die Menge; es finden sich kleine Unterschiede
1) Hkb. f. 1902, S. 127.
2) Vergl. Hkb. f. 1904, S. 146.
3) Ebenda.
4) Hkb. f. 1903, II, S. 206. Die Innenausstattung der großen Ozeandampfer wird
vielfach in Berlin hergestellt. Große Hoteleinrichtungen gehen nach dem Ausland.
5) Hkb. f. 1904, S. 136 ff. u. 151. B. d. Aelt. f. 1905, S. 463.
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 767
in den Ausmessungen, das Holz wird, um Zinsverluste zu ver-
meiden, zu frisch geliefert, biegt sich und birst. Manche Firmen
sollen so in große Schwierigkeiten geraten sein und diese Tätigkeit
aufgegeben haben ; es kommen aber immer wieder neue in die Bresche.
Daher kann es keinen wunder nehmen, wenn feinere Arbeiten
dauernd am Platze hergestellt werden.
Die Parkettfabrikation ist schon lange aus Berlin verschwunden,
ja selbst die Anbringung der Parkettfußböden droht in fremde Hände
zu geraten. Auswärtige Firmen senden ihre Leute zum Legen der
Fußböden her, was die Berliner Arbeiterschaft natürlich auf alle
Weise zu hindern sucht 1).
Paul Voigt hat diese ganze Entwickelung schon Mitte der 90er
Jahre folgendermaßen gekennzeichnet:
„In der Bautischlerei und in der Fabrikation der „weißen Möbel“
werden die mechanischen Betriebe in Form kombinierter Betriebe
noch sehr bedeutend zunehmen und die Handarbeit auf der ganzen
Linie zurückdrängen, und hier werden die auswärtigen Fabriken mit
ihren billigen Löhnen, billigen Mieten und billigem Holz den Ber-
linern den größten Teil dieser Produktionsgebiete entreißen. Da die
Handarbeit des Tischlers in den Hintergrund tritt, dürfte die Be-
schaffung der Arbeitskräfte für die auswärtigen Fabriken keinerlei
Schwierigkeiten machen; zur Bedienung wird man Weiber und
jugendliche Arbeiter heranziehen, wie es jetzt schon teilweise ge-
schieht‘ ?).
Die ganz ordinären Zweige der Industrie der Holz- und Schnitz-
stoffe sind natürlich längst aus Berlin verschwunden. Eine ausge-
dehnte Korbindustrie z. B., die ganz von Berliner Unternehmern
abhängig ist, sitzt heute südlich von Frankfurt a. O. in Fürsten-
berg, Neuzelle u. s. w., einem der billigsten Produktionsgebiete
des ganzen Reiches.
Ein Zweig der Holzindustrie, der besonders betrachtet zu werden
verdient, ist die von der Reichsstatistik in die Industrie der Maschinen
und Instrumente versetzte Pianofortefabrikation. Wenn irgendwo,
so kommt es hier auf die individuelle Leistung des Arbeiters an:
Das Material ist besonders kostbar; der Bereich der Maschine sehr
eng begrenzt. Daher befindet sich der Pianofortebau außer in den
Großstädten nur noch in Gegenden, in denen er seit langem heimisch
ist und auf einen genügenden Arbeiternachwuchs rechnen kann. Ein
solches Gebiet ist z. B. das Wupperthal. Trotzdem sah sich vor
kurzem die größte dortige Firma veranlaßt, eine Fabrik in Berlin
zu eröffnen, weil sich nur hier für die feinen und feinsten Arbeiten
geeignete Kräfte in genügender Zahl finden®). Die Berliner Klavier-
branche beschäftigt heute mit den Nebengewerben 8000 Personen 4).
1) Ber. des Deutschen Holzarbeiterverbandes, 1906, S. 22.
2) S. d. V. f. S., Bd. 65, S. 433/34.
3) Die Instrumente, nur Flügel, kommen in roher Form von Barmen.
4) Hkb. f. 1902, S. 327 ff. Es bestehen 11 große Fabriken von Flügeln und
Pianomechaniken mit etwa 2000 Arbeitern.
768 Otto Schwarzschild,
Die Gesamtproduktion wird auf 40000 Flügel und Piano angegeben,
darunter 3000 erstklassige Instrumente im Werte von 3/,—4 Mill. M.
Die Hälfte des Jahresproduktes gelang zum Export. Die Fabrikation
der geringwertigen Musikinstrumente, der Akkordions, Orchestrions,
Automaten u. s. w. ist infolge der billigen Löhne der sächsischen
Hausindustrie ganz zurückgegangen }).
Welche einzigartige Bedeutung Berlin in der Branche hat, geht
daraus hervor. daß von den im Pianoforte- und Orgelbau im Deutschen
Reich Gewerbtätigen 30,7 Proz., von den in Preußen Gewerbtätigen
53,99 Proz. in Berliner Betrieben beschäftigt sind (4695 von 9714
bezw. 15291 Gewerbtätigen: Zählung von 1895) ).
Von den Gewerben, die genußreife Produkte herstellen °), wenden
1) Hkb. f. 1902.
2) Eine vom Deutschen Holzarbeiterverband 1902 aufgenommene Statistik: „Die
Lage der Arbeiter in der Holzindustrie“, im Verlage von H. Leipart, Stuttgart 1904,
beleuchtet sehr gut das Verhältnis der Reichshauptstadt zu den billigen Produktions-
gebieten der Mark und der Lausitz, wie zu den in Qualitätswaren konkurrierenden übrigen
Großstädten Deutschlands. Ich lasse hier einige charakteristische Daten folgen. Die durch
die willkürliche Anzahl von erfaßten Personen hervorgerufene Unsicherheit nimmt natür-
lich mit der Höhe dieser Zahl ab.
Es betrug bei sämtlichen erfaßten Kategorien
die Zahl der die Arbeitszeit pro der Wochenver-
erfaßten Personen Woche in Stunden dienst in Mark
Berlin und Umgebung 12 355 52,5 26,56
Dresden 2085 57 22,89
Frankfurt a. M. 1515 56,4 25,74
Hamburg 2 160 56,0 27,31
Leipzig 2529 55,1 23,72
München 1489 56,3 22,30
Brandenburg 300 59,7 18,85
Cottbus 101 58,9 19,50
Finsterwalde 104 59,0 16,43
Frankfurt a. O. 223 59,3 17,97
Landsberg a. W. 70 60,1 19,21
Gau Berlin insgesamt 14 990 54,4 25,02
Bei den Tischlern betrug
der durchschnitt-
liche Wochenver-
dienst in Mark
die Zahl der die Arbeitszeit pro
erfaßten Personen Woche in Stunden
Berlin 9108 52,3 27,13
Dresden 1737 56,9 23,32
Frankfurt a. M. 1132 55,7 26,71
Hamburg 1628 54,5 28,30
Leipzig 1908 54,3 24,42
München 1056 55,6 23,01
Eilenburg 193 59,7 23,16
Frankfurt a. O. 185 59,1 18,15
Görlitz 632 59,7 17,33
Dort auch gute Mietpreisstatistiken.
3) Die starke Ausbildung der Gewerbe, welche durch die Herstellung konsum-
reifer Artikel eine besonders solide lokalwirtschaftliche Grundlage besitzen, zeigt sich
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 769
wir unsern Blick denjenigen der Halbfabrikate und Werk-
zeuge zu. Unter ihnen nehmen die metallverarbeitenden Gewerbe
und darunter die Eisenindustrie den ersten Platz ein.
Auch hier spricht der lokale Bedarf etwas mit. Man darf immer-
hin nicht übersehen, daß die Aufstellung von Maschinen, die Aus-
führung von Eisenkonstruktionen u. s. w., kurz die ganze Anbringung
am Platze und ebenso die Reparatur einer rationellen Organisierung
und Leitung seitens der Fabrik bedarf!). Doch kann dieser Ge-
sichtspunkt nicht ausschlaggebend sein.
Die Entwickelung und Blüte des Berliner Maschinenbaues
hängt eng zusammen mit der beherrschenden Stellung der Landes-
hauptstadt?). Mehr als in anderen Gewerbszweigen gingen hier die
entscheidenden Anregungen von der Staatstätigkeit aus. Den beiden
ersten Berliner größeren Maschinenfabriken, den heute noch blühenden
Firmen Freund und Hummel war die Kgl. Eisengießerei, die erste
und bis 1828 die einzige, eine unentbehrliche Hilfsanstalt è). Noch
bedeutender und fruchtbarer war die Tätigkeit des Kgl. Gewerbe-
instituts (seit 1828) unter Beuth.
Die kgl. Seehandlung betrieb selbst eine Maschinenfabrik, die
dann von dem alten Borsig übernommen wurde und so gewisser-
maßen heute noch fortlebt. Ein ungemeiner Aufschwung setzt mit
dem Bau der Eisenbahnen ein. Borsig u. A. bringen den Loko-
motivbau zu hoher Blüte. Der Aufschwung hält bis in die Gründer-
zeit an, dann folgt seit dem Krach eine Periode der Depression.
Heute hat der Berliner Maschinenbau die alte glänzende Position
wieder eingenommen und wird sie aller Voraussicht nach auch weiter-
hin behaupten. Die Tendenz der Eisenindustrie, die Montanbezirke
aufzusuchen, macht sich zwar seit langem nachdrücklich bemerkbar t),
erweist sich jedoch für die letzten Stadien des Produktionsprozesses,
wenigstens, wenn Qualitätsgüter hergestellt werden, nicht mehr als
durchschlagend 5). Die Fabrikanten klagen freilich über die billiger
arbeitende Konkurrenz in Schlesien und im Rheinland; so Hein, Leh-
mann & Co. (Träger, Wellblech und Signalbau) im B. d. Aelt. für
1903 über die günstigere Position der dortigen Werke, selbst für
auch in New York. Die „six leading industries“ nach dem Nettowerte ihres Produktes
sind dort
. Mens clothing factory product,
. Newspapers and periodicals,
. Womens clothing factory product,
. Tobacco, cigars and cigarettes,
. Malt liquors,
. Book and job printing and publishing.
A. F. Weber, S. 206.
1) Vergl. z. B. B. d. Aelt. f. 1897, S. 167; 1899, S. 107; Hkb. f. 1904, II,
S. 210.
2) Vergl. Wiedfeldt, S. 254 ff.
3) Berlin und seine Arbeit, X. 505 ff.
4) Vergl. Wiedfeldt, S. 255.
5) 8. oben S. 736.
Dritte Folge Bd, XXXIII (LXXXVIII). 44
sum ove
770 Otto Schwarzschild,
Arbeiten in Berlin und Umgebung !). Diese Firma hat sich die
Vorteile eines in größerer Nähe der Montanbezirke stehenden Be-
triebes insofern zu nutze gemacht, als sie eine Fabrik für Eisen-
konstruktion in Düsseldorf übernahm. Ebenso übernahm 1904 die
Berlin-Anhaltische Maschinenfabrik die Benrather Maschinenfabrik.
Eigene Hüttenwerke besitzt Borsig in Oberschlesien. Die „Panzer“
A.-G. f. Geldschrank-, Tresorbau und Eisenindustrie gliederte sich
1898 das Gußstahlwerk Wolgast an, das vorher im Besitz der Berliner
Firma Artur Koppel gewesen war?) Von Verlegungen Berliner
Betriebe in den letzten 10 Jahren ist mir nichts bekannt’).
Denn die ungünstigeren Produktionsbedingungen lassen sich
durch Herstellung von Qualitätsprodukten und durch große Versa-
tilität ausgleichen. Wiedfeldt erzählt, daß eine Berliner Firma in
25 Jahren 4mal ihren Betrieb wechselte, indem sie erst Nähmaschinen,
dann Waffen, dann Elektrizitätsapparate und schließlich Fahrräder
herstellte‘). Die Maschinenfabriken haben ihre Spezialität nach wie
vor besonders in Lokomotiven, doch stellt man auch mannigfache
andere Produkte her (z. B. Torpedos bei Schwartzkopff). Ein Bild
von der Bedeutung Berlins in der Eisenindustrie gibt eine Auf-
stellung der Nordöstlichen Stahl- und Eisenberufsgenossenschaft, die
im B. d. Aelt. f. 1896 angeführt ist’). Die übrigen 3 Sektionen
der Genossenschaft (Brandenburg, Pommern, beide Preußen) beschäf-
tigten zusammen
36 933 Arbeiter,
die Sektion Berlin allein
31 175 Arbeiter.
Die Summe der anrechnungsfähigen Löhne in der Hauptstadt be-
trug aber 5 Mill. M. mehr als in den anderen Sektionen zusammen,
nämlich 33750555 M. gegen 283766 746 M. Das zeigt schon, wie
man auf qualifizierte Arbeiter angewiesen ist). Dies tritt auch
deutlich hervor bei den Peripheriewanderungen großer Berliner Be-
triebe, zugleich ein Beweis, wie verschiedenartig solche Verlegungen
von dem wirklichen Exodus sind. Denn der Kontakt mit der Groß-
stadt darf nicht verloren gehen. So getraute sich die Firma Schwartz-
kopff nicht, in dem gar nicht einmal so sehr entfernten Staaken an
der Lehrter Bahn, wo sie ein umfangreiches Terrain besaß, eine
Fabrik zu errichten, weil dort, wie es im Geschäftsbericht von
1895/96 heißt’), auf eine feste Arbeiterschaft nicht zu rechnen war.
1) S. 180.
2) Salings Börsenjahrbuch, 2. Teil. Ueber auswärtige Komplementärindustrie der
Elektrizitätsindustrie, s. u. S. 90.
3) Die Peniger Maschinenfabrik und Eisengießerei A.-G. wurde 1890 nach Penig
verlegt.
4) S. 259.
5) S. 173.
6) Beispielsweise existiert in Oberbarnim eine alte, auf dem Vorkommen von
Ton- und Raseneisenerz beruhende Eisenindustrie; es handelt sich aber fast nur um
ne Die Spezialität von Eberswalde liegt in Hufnägeln. Vergl. Neisser,
rE S 2
7) Geschäftsber. d. Berl. Maschinenbau A.-G. vorm. L. Schwartzkopff f. 1895/96.
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 771
Man errichtete den neuen Betrieb in Wildau an der Görlitzer Bahn,
zwar in etwas größerer Entfernung von Berlin, aber mit Stadtbahn-
anschluß. Ebenso wie in der Borsigschen Fabrik in Tegel, wie bei
der von Orenstein & Koppel in Drewitz handelt es sich durchaus
um großstädtische Betriebe mit großstädtischen Löhnen; ja ein mehr
oder weniger bedeutender Teil der Arbeiter wohnt in Berlin selbst.
Sogar in dem nahen Reinickendorf, heute dem bevorzugten Quartier
der Maschinenfabriken, hatten Hein, Lehmann & Co. 1899 Schwierig-
keiten, ihren Arbeiterbestand der großen Entfernungen wegen fest-
zuhalten !) ?).
Die großen Eisenwerke sind schon wegen der Quantität des
Arbeiterbedarfs auf bevölkerte Distrikte angewiesen °).
Nächst dem Maschinenbau ist. besonders die Waffenfabri-
kation in Berlin erwähnenswert. Neben den staatlichen Werken
in Spandau steht hier die Weltfirma Ludwig Loewe & Co. Sie hat
heute die Waffenfabrikation an ihre Tochtergesellschaft, die Deutschen
Waffen- und Munitionsfabriken abgegeben, ebenso wie die elektro-
technische Produktion an die Allg. Elektrizitätsgesellschaft, und
sich selbst ganz auf die Fabrikation von Präzisionswerkzeugmaschinen
verlegt. Ueberhaupt ist ja die Anwesenheit eines oder mehrerer
solcher Riesenbetriebe, bei der herrschenden Tendenz nach Ver-
trustung, der Einrichtung weiterer mehr oder weniger angegliederter
Betriebe derselben oder einer anderen Branche am gleichen Platze
besonders günstig‘).
Dies tritt besonders in der Elektrizitätsindustrie zu
Tage. Berlin hat hier stets die erste Stellung eingenommen. — Es ist
charakteristisch, daß der Begründer des Hauses Siemens Artillerie-
leutnant war und die erste Telegraphenleitung im Auftrage des
großen Generalstabes legte. Auf der Firma Siemens & Halske be-
ruht die ganze Entwickelung; die Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft
ist ursprünglich ihre Tochtergesellschaft. Die Union Elektrizitäts-
gesellschaft, die 1904 ganz in die Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft
aufging, war eine Gründung von Loewe. Seit die Aktiengesellschaft
vorm. Schuckert & Co. in Nürnberg 1903 ihre gesamte Starkstrom-
abteilung nach Berlin verlegte und mit der von Siemens & Halske
zu den Siemens-Schuckertwerken vereinigte, wodurch sie und ihre
Tochtergesellschaften doch mehr oder weniger in Abhängigkeit von
1) B. d. Aelt. f. 1899, S. 113.
2) Der Charlottenburger Magistrat motiviert den Plan, ein im Nordwesten der
Stadt gelegenes Gebiet planmäßig zu einem Industriebezirk auszugestalten, damit, daß
der durch den wachsenden Bodenwert hervorgerufene Prozeß der Verlegung großer ge-
werblicher Unternehmungen aus dem Innern der Stadt in die Umgebung aller Voraus
sicht nach noch nicht abgeschlossen sei, seine Begrenzung aber in der Schwierigkeit
finde, in den weiter entfernten Vororten geeignete Arbeiter zu erhalten. — Hkb. f.
1904, I, S. 56 ff.
3) Vergl. Sombart, S. 218 Anm.
4) Vergl. hierzu u. a. Jeidels, Das Verhältnis der deutschen Großbanken zur In-
dustrie u. s. w., Staats- und sozialwissenschaftliche Forschnngen, XXIV, $. 2.
49*
TAEA Otto Schwarzschild,
Siemens & Halske und den mit ihnen verbündeten Berliner Banken
geriet, ist Berlin in der Industrie beinahe alleinherrschend.
Wenn aber auch der weit überwiegende Teil der Produktion
heute hier vorgenommen wird, so lagen dafür die politischen und
finanziellen Verhältnisse zwar äußerst günstig, der springende Punkt
ist aber wieder der, daß allein in der Großstadt auf eine genügende
Zahl hochwertiger Kräfte zu rechnen ist; ja von aller Qualität ab-
gesehen, nur bei einer derartig dichten Bevölkerung auf die ge-
Die Zahl der Arbeiter und Angestellten bei der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschafi.
Geschäfts- Gesamt- Maschinen- Apparate- Kabel- Auto- Nernstlampen- Turbinen-
jahr zahl fabrik werk mobilfabr. fabrik fabrik
1889/90 2 100
1890/91 2 898
1891/92 3385
1893/94 5 121
1895/96 6711
1896/97 9817
1597/98 ca. 12 000
1898/99 13 382 6o11 1987
1899/1900 17361 6513 2808
1900/01 14 644 3386 3232 2551
1901/02 14 897 4100 4433 2606
1902/03 2 5500 4767 2745
1903/04 27 487 7080 5585 4085
1904/05 30366!) 7252 6405 5634 663 837 1568
Nach Fasolt S. 44 und den Jahresberichten.
Zahl der Gewerbebetriebe und der beschäftigten Personen in der Elektrizitätsindustrie
nach der Gewerbezählung von 1895 (Gruppe VIi?).
VIi im ganzen:
Zahl der Be- der gewerbtätigen
triebe Personen
Stadt Berlin 176 8551
Brandenburg 64 3 930
Preußen 685 17 662
Deutsches Reich 1336 26 321
VIi 1.
Herstellung von Stromerzeugungsmaschinen, Elektromotoren, Umformern.
Zahl der Be- der gewerbtätigen
triebe Personen
Stadt Berlin 2 559
Brandenburg 2 392
Preußen 20 1465
Deutsches Reich 35 4162
VI i2.
Herstellung von Akkumulatoren und galvanischen Elementen.
Zahl der Be- der gewerbtätigen
triebe Personen
Stadt Berlin 9 151
Brandenburg — —
Preußen 20 918
Deutsches Reich 27 985
1) Darin sind nicht enthalten die Angestellten der außerdeutschen Fabriken, wohl
aber die der ausländischen Verkaufsorganisationen. In Deutschland besitzt die Allge-
meine Elektrizitätsgesellschaft außerhalb Berlins keine Fabrik.
2) Mit Benutzung von Fasolt S. 195 ff.
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 773
nügende Quantität. Das rapide Wachstum der Zahl der Angestellten
und Arbeiter der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft und das plötz-
liche Sinken zur Zeit der Krisis zeigen, wie ein derartiges Unter-
nehmen auf ein großes Reservoir angewiesen ist, aus dem man be-
liebige Massen schöpft, wenn man sie braucht, in das man sie aber
auch ohne Schwierigkeiten zurückgießen kann, wenn man sie nicht
mehr braucht). Man vergegenwärtige sich hier überhaupt einmal
die unüberwindlichen Schwierigkeiten, welche einem solchen Riesen-
werk in abgelegenen Landesteilen entstehen würden, welche Summen
VIi 3.
Herstellung von elektrischen Telegraphen, Fernsprechapparaten u. s. w.
Zahl der Be- der gewerbtätigen
triebe Personen
Stadt Berlin 46 1403
Brandenburg — —
Preußen 120 1843
Deutsches Reich 283 2754
VIi 4.
Herstellung von elektrischen Apparaten anderer als der vorgenannten Art.
Zahl der Be- der gewerbtätigen
triebe . Personen
Stadt Berlin 69 3 923
Brandenburg 29 3 395
Preußen 205 8 924
Deutsches Reich 390 10 803
VIi5.
Herstellung von elektrischen Anlagen (Installationsanlagen).
Zahl der Be- der gewerbtätigen
triebe Personen
Stadt Berlin 33 2100
Brandenburg = a
Preußen 178 3381
Deutsches Reich 389 5718
VIi 6,
Betriebe für Elektrizitätserzeugung.
Zahl der Be- der gewerbrätigen
triebe . Personen
Stadt Berlin 17 415
Brandenburg —
Preußen 82 1131
Deutsches Reich 212 1899
Die großen und größten Betriebe liegen sämtlich in großen Städten und deren
Bannkreis.
Von den 15 Betrieben, in denen mehr als 200 Personen beschäftigt sind, kommen
6 auf Berlin, 4 auf Brandenburg, je einer auf Westfalen (Hagener Akkumulatorenfabrik),
Rheinland (Köln?), Hessen-Nassau (Lahmeyer in Frankfurt), Bayern (Schuckert) und
Württemberg (Cannstatt-Stuttgart). Von der Gesamtzahl der Betriebe kommen auf Berlin
13,2 Proz., von der der Beschäftigten 32,6 Proz., ein Satz, der sich nach Fasolts
Schätzung auf etwa 44 Proz. erhöht, wenn das Charlottenburger Werk von Siemens &
Halske hinzugerechnet wird. In der Kategorie i 2 ist Berlin durch die Monopolstellung
der Hagener Akkumulatorenfabrik an die zweite Stelle gerückt. Nur bei der Kategorie
i 6 wird vermutlich mit der Zeit das „platte Land“ sich stärker bemerkbar machen
und die Großstadt demgegenüber zurücktreten ?).
1) S. Tabelle.
2) Vergl. Fasolt ebenda.
774 Otto Schwarzschild,
man etwa flüssig halten müßte, um die Lohnzahlung pünktlich zu
erledigen, ein Moment, das schon bei Fabriken, die sehr entfernt
in der Peripherie liegen, lästig werden kann. Wie sehr man auf
technische und kaufmännische Hilfskräfte angewiesen ist, zeigt eine
Berechnung von Kreller'!), nach der in der Weberei auf 34, in der
Eisenindustrie auf 24, in der elektrotechnischen Industrie aber schon
auf 4 Arbeiter ein Beamter kommt. Die Arbeiter selbst bilden heute
die höchste Schicht der ganzen Klasse. Die Nachfrage nach ge-
schulten Leuten ist so ungemein groß, daß z. B. selbst zur Zeit der
Krisis großer Mangel an Starkstrommonteuren herrschte 2).
Damals schreibt die Aktiengesellschaft Mix & Genest, Telephon-
und Telegraphenwerke: „Die Eigenart unserer Branche, welche auf
gut eingearbeitete Kräfte besonderen Wert legen muß, bringt es
mit sich, daß für gute Arbeit auch die gleichen Löhne gezahlt werden
müssen, wie zu den geschäftlich besten Zeiten“ 3).
So wird denn auch, wie in einer sehr instruktiven Studie von
Fasolt gesagt wird), der ökonomische Satz, daß technische In-
dustrien, welche auf ein hochqualifiziertes Arbeitermaterial angewiesen
sind, in anderer als Großstadtluft nicht gedeihen können, durch die
Gewerbestatistik bewiesen.
Heute ist Berlins relative Bedeutung noch gewachsen infolge jener
erwähnter Vertrustungstendenz. Durch Spezialisation und Ausnutzung
von Erfindungen entstehen neue Gewerbezweige von eigener Wachs-
tumstendenz, die sich entweder in die bestehenden Unternehmungen
eingliedern, oder als Komplementärindustrien an deren Seite treten.
Die interne Differenzierung zeigt sich bei den beiden Berliner Häusern
besonders stark, da sie es von Anfang an auf das gesamte Gebiet
der Elektrotechnik abgesehen hatten’). Von den Komplementärbe-
trieben siedeln sich manche an den Fundorten der wichtigsten Roh-
materialien an®), andere bleiben städtisch °). Die Nebenbetriebe er-
weisen sich infolge ihrer engen Anlehnung an die gesamte Riesen-
unternehmung besonders leistungsfähig, wie denn z. B. die Metallwerke
Oberspree in kostbaren Ladenfenstereinfassungen den Manstedter
Werken in Düren, die bis vor kurzem eine Art Monopol für diesen
Artikel besassen, bedeutende Konkurrenz machen 8) und ebenso das
1) Die Entwickelung der deutschen elektrotechnischen Industrie u. s. w. Staats-
und sozialwissenschaftliche Forschungen, XXII, 2, S. 40.
2) Loewe, Elektrotechnische Industrie in: Die Störungen im deutschen Wirtschafts-
leben während der Jahre 1900 ff. 8. d. V. f. S., Bd. 107, S. 90/91.
3) B.. d. Aelt. f. 1902, S. 57.
4) Fasolt, „Die sieben größten deutschen Elektrizitätsgesellchaften, ihre Entwicke-
lung und ihre Unternehmertätigkeit‘“, Dresden 1904.
5) S. Loewe, S. 79. Die Spezialisierung innerhalb d. A. E. G. zeigt die letzte
Bilanz (1904/05). Man unterschied: Die Glüh- und Nernstlampenfabrik, Maschinen-
fabrik, Kabelfabrik, Automobilfabrik, Signalfabrik, Schreibmaschinenfabrik.
6) Die Planiawerke in Ratibor, die elektro-chemischen Werke in Bitterfeld, beides
Tochtergesellschaften der A. E.-G.
7) Gebrüder Siemens & Co., A.-G. f. Fabrik. v. Beleuchtungskohlen, Tochtergesell-
schaft von S. & H., Metallwerke Oberspree (A. E.-G.) u. a.
8) Hkb. f. 1905, S. 197.
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 7
Walzen und Ziehen von Aluminiumblechen aufgegriffen haben, einen
Fabrikationszweig, der bisher ganz in den Händen einiger weniger
Firmen des rheinisch-westfälischen Industriebezirks lag.
Nicht besonders glänzend ist in den letzten Jahren die Lage
der Metallindustrie im engeren Sinne, unter der die weltbekannte
Berliner Lampenindustrie die erste Stelle einnimmt. Die großen
Metallarbeiterstreiks von 1898/99 und 1903 haben besonders den
Firmen mit kleineren Kapitalien viel zu schaffen gemacht und der
ganzen Industrie großen Abbruch getan. Ein derartiges Verhalten
der Arbeiterschaft, heißt es in dem B. d. Aelt. für 19041), führe
zum Erliegen der Berliner Industrie gegenüber der Provinz. Eine
altangesehene Lampenfirma liquidiert 1903, „ein schlagender Beweis,
wie unrentabel das Geschäft unter den jetzigen Bedingungen und
der übermächtigen Konkurrenz geworden ist“ ?). Führende Häuser
geben in den letzten Jahren keine oder nur geringe Dividenden ë).
Ernstlich gefährdet sind diese Zweige der Metallindustrie wohl
nur, wenn sie sich den Bedingungen der Großstadt auf die Dauer
nicht anpassen können. Charakteristischerweise will die Firma
Stobwasser (A.-G. vorm. C. H. Stobwasser & Cie.), die im letzten
Jahre ebenfalls keine Dividende verteilt hat, künftig besonders den
Absatz von Spezialitäten pflegen. Andere Häuser kommen ohne
nennenswerten Schaden über die Streiks hinweg.
Verlegungen sind in geringem Maße vorgekommen. Die
Reichelt Metallschraubenfabrik A.-G. verlegte ihren Betrieb von
März 1903 ab vollständig nach Finsterwalde, wo sie schon eine Fabrik
besaß; der Berliner Betrieb war in gemieteten Räumen untergebracht,
die Lohnsätze erheblich höher. Vermutlich wird die Firma etwas
höhere Löhne zahlen, als die Finsterwalder Textilindustrie und dieser so
die Arbeiter wegfangen. Die „Industria“, Blechwarenfabrik G. m. b. H.,
verlegte ihren Betrieb nach Luckenwalde; sie läßt Arbeiter von
Berlin herüberkommen, um ihr dortiges Personal anlernen zu lassen,
der Erfolg soll aber — wie mir, freilich von Arbeiterseite, erzählt
wurde — bis jetzt minimal sein.
Die eigentliche Papierfabrikation, „die erste Herstellung
von Papier aus Fasernstoffen“ t), hat ihren Standort am Wasser und
in der Nähe des Fundorts der Rohmaterialien. In Berlin findet sie
sich seit geraumer Zeit nicht mehr. Eine große Papierfabrik ist vor
Jahren nach Hohenofen bei Neustadt a./D. ausgewandert. Betrieben
wird noch die Pappefabrikation, für welche die Abfälle der Groß-
stadt ein schätzenswertes Rohmaterial abgeben. 1906 hat nun die
Elberfelder Papierfabrik A.-G. einen großen Betrieb in Zehlendorf
am Teltowkanal eröffnet; man motivierte dies mit der Rücksicht
auf die Nähe des Hauptabsatzmarktes Berlin; — allerdings spielen
1) 8. 235.
2) Ebenda, S. 211.
3) So Schäffer & Walcker, Spinn, Kammerich. In den meisten Geschüftsberichten
werden die schechten Ergebnisse direkt auf die Streiks zurückgeführt, ef. Saling.
4) Otto Luegers Lexikon der gesamten Technik, Bd. 6.
776 Otto Schwarzschild,
die Transportkosten des fertigen Produktes hier einmal eine gewisse
Rolle!). Die Arbeiterschaft rekrutiert sich zum größten Teil aus
Teltow und der umliegenden Gegend, also aus einer Bevölkerung,
die gerade im Begriffe ist, sich aus einer solchen ländlichen Charakters
in eine großstädtische umzuwandeln. Qualitätsarbeiter wurden zum
Teil aus Elberfeld mitgebracht. Bei der Erwägung, was alles die
Errichtung des neuen Betriebes veranlaßt haben mag, muß es immer-
hin mit Erwähnung finden, daß ein Teil des ausgedehnten Terrains
von dem Vorsitzenden des Aufsichtsrats erworben wurde. -Man ist
in Interessentenkreisen sehr gespannt, ob das Experiment der Elber-
felder Fabrik glücken wird, und sieht in diesem Falle der weiteren
Ansiedelung von Papierfabriken in und um Berlin entgegen ?).
In der Lederfabrikation (Loh- und Weißgerberei) herrscht
der fabrikmäßige Großbetrieb vor.
Berlin nimmt eine bedeutende Stellung ein, besonders in der
Weißgerberei. Die Entwickelung der Industrie beruht ursprünglich
auf dem hier stets bedeutenden Handel mit den aus Osteuropa
kommenden Häuten. In den meist ziemlich großen Betrieben in
Berlin und den Vororten werden gute großstädtische Löhne bezahlt.
Es handelt sich um qualifizierte Arbeit; längere Vorbildung (3 bis
4 Jahre) ist notwendig. Die Arbeiter sind gut organisiert, es sind
Tarifverträge geschlossen worden. Verlegungen nach auswärts sind
bis jetzt noch nicht vorgekommen, doch hat man bei Lohnstreitig-
keiten schon damit gedroht. Auch höre ich, daß das Arbeitermaterial
sich überwiegend aus Zugezogenen rekrutiert, da dem geborenen
Großstädter die Hantierung zu schmutzig ist. Daher ist es nicht
ausgeschlossen, daß sich die Tendenz zum Exodus eines Tages in
die Tat umsetzt, denn handelt es sich um qualifizierte Arbeit, so
doch kaum um so hochstehende, spezialistische, daß sie sich anders-
wo nicht auch finden ließe. Die Lohnunterschiede zwischen Berlin
und den übrigen Produktionsorten sind indes nocht nicht sehr
erheblich.
Das einzige Gewerbe, das in Berlin wirklich in starkem Maße
zurückgegangen, ja zum großen Teile verschwunden ist, ist die
Textilindustrie, früher die erste Industrie der Hauptstadt. Die
Tabelle zeigt deutlich den starken Rückgang. Daß auch keine
Peripheriewanderung vorliegt, beweist das äußerst geringe Wachs-
tum der Industrie in den Kreisen Teltow und Nieder-Barnim *).
Sicher wird die nächste Gewerbezählung eine weitere Abnahme fest-
stellen können, denn hier liegt eine Entwicklung vor, die seit Jahr-
zehnten unaufhaltsam im Gange ist und, wie schon Wiedfeldt *) be-
1) Der Transport von Elberfeld nach Berlin soll die fertige Ware um ca. 8 Proz.
verteuern,
2) Dividenden von 1899—1906: 7'/,, 10, 12'/,, 18, 20, 20,7 Proz. Das starke
Sinken im letzten Geschäftsjahr berechtigt indes noch zu keiner Prognose.
3) Die Zahl der Gewerbtätigen in der Textilindustrie in beiden Kreisen nahm von
1882 bis 1895 nur um 24,8 Proz. zu, gegen eine Zunahme der Gewerbtätigen über-
haupt von 152 Proz.
4) S. 158.
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 717
Die Berliner Textilindustrie nach den Gewerbezählungen
von 1882 und 1895.
Zahl der
Zahl: der Haupibeiriebe gewerbtätigen Personen
1852 1895 1882 1895
a) 2 Wollbereitung 2 8 34 156
b) 2 Seidenspinnerei 17 12 294 342
3 Wollspinnerei 296 37 1059 1013
4 Mungo Shoddy-Spinnerei 4 I 356 48
7 Baumwollspinnerei 64 18 245 247
9 Spinnerei anderer Stoffe — 12 — 123
c) 1 Seidenweberei 115 34 252 117
2 Wollweberei 1005 555 3456 2712
5 Baumwollweberei 31 4 1034 1041
6 Weberei anderer Stoffe 188 74 1318 349
e) Strickerei, Wirkerei 575 316 1232 1392
f) 1 Häkelei, Strikerei 525 854 1359 2 903
2 Spitzen- Weißzeugstickerei 1113 323 1 228 409
g) 2 Wollfärberei, Druckerei 61 47 1 203 899
4 Baumwollbleicherei u. -Fiirberei 6 7 149 92
7 Sonstige Färberei u. Bleicherei 55 52 978 809
h) Posamenten 516 294 2433 2 188
Sa. 4827 2797 17 174 15 266
merkt, „diese große Industrie, die über 100 Jahre der wichtigste
Zweig der Berliner Gewerbe war, ... bis auf spärliche Reste“ aus
Berlin hat verschwinden lassen. Zweifellos ein Exodus allergrößten
Stils! Es fragt sich, ob die Textilindustrie sich aus besonderen
lokalen Gründen in Berlin nicht lebensfähig erwies, oder ob sie
überhaupt nicht in eine Großstadt paßt.
Der Zweig, der früher in Berlin besonders in Flor stand, war
die Verarbeitung der Wolle. Die Baumwollspinnerei ist nie recht
heimisch geworden, auch die Weberei dieses Stoffes hat nur in der
Mitte des Jahrhunderts eine kurze Blüte erlebt; später gingen die
Webstühle zum großen Teil zur Wollverarbeitung über. Die Woll-
industrie aber stand mit anderen Zweigen der Textilindustrie ehemals
an der Spitze der Berliner Gewerbe!).
Weshalb ist dem heute nicht mehr so? — Die Gründe für den
Niedergang lassen sich unschwer aus den jährlichen Berichten der
Aeltesten der Kaufmannschaft herauslesen, die in den betreffenden
Abschnitten seit Jahren ein ununterbrochenes Klagelied darstellen.
Wir hören mehrfach, daß die Berliner Industrie auf Nouveautés,
auf Phantasiewaren angewiesen sei, „welche bei der Eigenart ihrer
Fabrikation und ihres Konsums schnell entstehen und schnell ver-
gehen und eine leichtere Beweglichkeit bedingen ?), In Schals und
Tüchern ist man genötigt, „auf die Anfertigung von Neuheiten sein
Augenmerk zu richten, da nur dann der Geschäftsbetrieb einiger-
maßen lohnend bleibt“ °).
Ebenso erwartet man in wollenen und halbwollenen Plüschen
1) Ebenda S. 167.
2) B. d. Aelt. f. 1898, S. 177.
3) B. d. Aelt. f. 1903, S. 280.
778 Otto Schwarzschild,
Günstiges von den sogenannten Berliner Spezialitäten, während es
in Stapelartikeln unmöglich sein soll, gegen die Konkurrenz der
Lausitz u. s. w. aufzukommen. So heißt es 1896!) hoffnungsvoll, es
sei durchaus „nicht ausgeschlossen, daß diese Spezialitäten eine
derartig herrschende Rolle in der Mode einnehmen können, daß die
Berliner Fabrikation, wie vor Jahren, den Markt der Stoffe für die
Damenkonfektion beherrscht und die früheren lukrativen Resultate
wieder erreicht“. 1904 ist nur für die Phantasiewaren die Lage
leidlich ?).
Weshalb ist nun die Fabrikation von Stapelartikeln in Berlin
nicht möglich? Nach Wiedfeldt ist ein Hauptmoment des Nieder-
ganges „der früher schon schwer empfundene Mangel in der Orga-
nisation der Berliner Textilindustrie, daß die einzelnen Arbeitsprozesse
(Weben, Appretieren) in gesonderten Betrieben erfolgen, und die
hieraus resultierende Schwerfälligkeit der Industrie und Ungleichı-
mäßigkeit der Waren“). Derselbe Umstand wird auch in den B. d.
Aelt. des öfteren verantwortlich gemacht und die Ueberlegenheit von
Cottbus, Spremberg u. s. w. auf die dort herrschenden gemischten
Betriebe zurückgeführt, die alle Produktionsprozesse in sich vereinigen
und die rohe Schafwolle bis zum völlig fertigen Stoff verarbeiten t).
Diese haben es nicht nötig, an den einzelnen Prozessen des Spinnens,
Webens, Appretierens, Färbens gesondert zu verdienen, während in
Berlin die ökonomische Verselbständigung der einzelnen Stadien des
Arbeitsprozesses die Produktion ungemein verteuert.
Bei der Schiebung der Ware von einem Betrieb zum andern
stellen sich die größten Schwierigkeiten ein. So verbinden sich 1893
die Berliner Appreteure zu einer Preiskonvention und setzen die
Appretierlöhne um 10—35 Proz. herauf’). Die Fabrikanten, die
ihrerseits die Preise nicht erhöhen dürfen, wenn sie überhaupt ihre
Ware abgenommen haben wollen, sehen sich genötigt, auswärts
appretieren zu lassen, ja einige „verlegten ihre Fabrikation nach
Spremberg, Cottbus, Grünberg u. s. w. und fingen selbst an zu
spinnen und zu appretieren“®). Im folgenden Jahre klagen die
Appreteure dann ihrerseits über die ihnen untreu gewordenen Kunden,
und in dieser Tonart geht es fort. Die Konvention geht am 1. Dez.
1896 zu Ende. Die Preise erreichen infolgedessen das niedrigste
Niveau. So geraten nicht nur die eigentlichen Textilbetriebe, sondern
auch die Supplementärindustrien in eine immer peinlichere Lage’).
Den Lohnfärbereien und -appreturen werden die letzten Kunden
entzogen und die Situation wird für sie doppelt gefährlich, als sie
1) B. d. Aclt. S., 217.
2) B. d. Aelt. S., 313.
3) S. 160.
4) Vergl. auch B. d. Aelt. f. 1894, S. 211.
5) B. d. Aelt. f. 1893, S. 183.
6) B. d. Aelt. f. 1894, S. 214.
7) B. d. Aelt. f. 1904, S. 313.
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 7179
auch sonst unter denselben schlechten Bedingungen arbeiten müssen
wie die Webereien selbst 1).
Worin bestehen diese nun? Wir kommen hiermit auf das
Moment, das uns auch erklärt, weshalb man sich denn über-
haupt nie von der alten Organisation getrennt hat, weshalb denn
nie ein tatkräftiger Unternehmer die Kombination durchgeführt hat.
Da muß zunächst festgestellt werden, daß eine solche vollständige
Kombination sich nur lohnt für die Verarbeitung von Streichwolle
und von Kunstwolle.e. Die Kammwolle wird wirtschaftlicherweise
in selbständigen Spinnereien versponnen. Denn das Kapital, das
eine Kammgarnspinnerei beansprucht, bringt erst bei einem Absatz
Protit, der über den Bedarf einer einzelnen Weberei weit hinaus-
geht. Die Appretur läßt sich dagegen an die Kammgarnweberei
angliedern.
Die für die Textilindustrie grundlegenden Arbeiten des Spinnens
und Webens stellen an die einzelne Arbeitskraft relativ recht geringe
Ansprüche, weshalb diese auch nur einen entsprechend niedrigen
Lohn erhalten kann. Es sind daher Arbeiter für diese elementaren
Prozesse in der Großstadt sehr schwer zu finden. So muß man
diese Tätigkeiten immer mehr und mehr auswärts vornehmen lassen.
Und daher wird eine Produktionsvereinigung von vornherein unmög-
lich. In Berlin sind zwar die Löhne in der Textilindustrie besser
als im Erzgebirge u. s. w.?), aber weder Fabrikant noch Arbeiter ist
mit ihnen zufrieden °).
Die Arbeiter strömen sofort wieder in andere Berufe ab, die
ihnen höhere Löhne in Aussicht stellen. So hören wir von der
Färberei: „Man ist gezwungen, höhere Löhne, als die Färberei ver-
tragen kann, zu zahlen, um zu verhindern, daß die Arbeiter sich
lohnendere Beschäftigung in anderen Betrieben suchen, wozu die
flottgehenden Metallgewerbe Veranlassung geben *)“. Vor einigen
Jahren gründete ein Cottbuser Tuchfabrikant, der aus einer dortigen
Firma ausgetreten war, eine Tuchfabrik in Berlin. Er nahm sich
die Arbeiter zum großen Teil aus der Heimat mit; es gelang aber
nicht, den Betrieb aufrecht zu erhalten — mit den gleichen Löhnen
fanden jene ihr Auskommen in Berlin nicht. Vermutlich sind auch
manche geblieben und in andere Berufe übergegangen.
Die Erkenntnis, daß hier der wirkliche Grund zu dem Elend
1) Aehnlich heißt es im Handelskammerbericht für 1904 über die Seidenfärberei.
„Man vertritt in den beteiligten Kreisen die Auffassung, daß die Zeit an Prosperität
der Berliner Seidenfärberei endgültig vorüber ist.“ S. 222 ff. Vergl. B. d. Aelt. f.
1905, S. 341.
2) B. d. Aelt. f. 1900, S. 148; f. 1594, S. 232.
3) Vergl. Thiess, a. a. O., S. 35 über „die entsetzlich niedrigen Löhne“ der Ber-
liner Textilindustrie. Die Wochenlöhne der Webergesellen betragen 1889/91 12—15 M.
Dazu erklärt 1891 eine Innung, jeder sei ?/; des Jahres beschäftigungslos. Tuch-
machergesellen verdienen 1591 bei 13—14-stündiger Arbeitszeit mit 2 Stunden Pause
8 M. in der Woche! Ebenda S. 36.
4) B. d. Aelt. f. 1905, S. 338.
780 Otto Schwarzschild,
der Berliner Textilindustrie liege, tritt in den B. d. Aelt. durchaus
zu Tage. So wird erwähnt, daß z. B. das Weichen der Garnpreise
gar nicht helfe; die Produktion geht unweigerlich in Distrikte „ver-
loren, die infolge billigerer Arbeitslöhue und geringerer Spesen
leistungsfähiger sind“ 1).
Dasselbe Bild also, wie in der Metall-, wie in der Holzindustrie!
Aber anders, als dort ist auch in der Produktion von Spezialitäten
und hochwertigen Artikeln mit sehr wenig Ausnahmen die Großstadt
der Provinz gegenüber im Nachteil. Denn gerade die Spezialitäten
der Textilindustrie suchen mit Vorliebe Distrikte auf, in denen sie
allein herrschen, und wo gewissermaßen der ganze Habitus der Be-
völkerung für sie zurechtgeschnitten ist (Crefeld, Barmen, Mülhausen,
Annaberg). Dazu war das, was man früher Berliner Spezialitäten
nannte, zum Teil gar nicht hochwertig, sondern „Berliner Schund*.
Jene 1896 ausgesprochene Hoffnung, daß sich die Fabrikation wieder
heben werde, hat sich nicht bewährt. 1903 heißt es, das sehnlich
erwartete Aufleben der Berliner Industrie habe einige Monate Arbeit
gebracht, das Geschäft sei aber nicht lohnend gewesen ?). 1904 ist
die Hoffnung schon wieder begraben ë). Was sich hält, ist allein
das, was sonst nicht nachgemacht werden kann und qualifizierter
und gutgelohnter Arbeitskräfte bedarf t). Dahin gehört die blühende
Teppichweberei, welche der künstlerischen Beihilfe des Muster-
zeichners benötigt, und an deren Webstühlen nur männliche Arbeiter
zu gebrauchen sind; dahin auch die Veredelung baumwollener Ge-
webe (Ausrüstung) für die u. a. der bedeutende Betrieb von Anton
und Alfred Lehmann in Nieder-Schöneweide besteht. Hier hat
jede Fabrik ihre Spezialität und ist ganz auf diese einge-
richtet). Sonst sind die textilindustriellen Betriebe Kleinbe-
triebe, die sich völlig in der Abhängigkeit der großen Konfektions-
und Möbelhäuser befinden. Man schickt ihnen etwa Muster zu
Posamenten für eine bestimmte Zimmereinrichtung und verlangt die
Fertigstellung auf bestimmte Zeit: derlei Sachen, die vielleicht nur
ein einziges Mal hergestellt werden, und dann oder dann vollendet
sein müssen, kann man nicht in Gera machen lassen. Es ist der
Uebergang zur Hausindustrie. So ist denn auch seitens der Statistik
von 1882 bis 1895 eine erhebliche Zunahme nur bei der Häkelei
und Stickerei festzustellen, die durchaus zur Konfektion zu rech-
nen sind.
Die eigentliche Textilindustrie ist für Berlin verloren: der
1) B. d. Aelt. f. 1894, S. 206: vergl. B. d. Aelt. f. 1903 S. 278.
2) B. d. Aelt., S. 278.
3) B. d. Aelt., S. 313. Hkb. S. 261.
4) Die Berliner Jutespinnerei und -weberei A.-G. betreibt noch ihre Fabrikation in
dem früher von der Textilindustrie bevorzugten Stralau, Sie kaufte aber 1598 einen
Betrieb in Bautzen hinzu, „um für den in Stralau herrschenden Arbeitermangel einen
Ausgleich zu schaffen“. Nachdem 8 Jahre lang keine Dividende ausgeschüttet worden
war, gab die Gesellschaft 1905 auf Vorzugsaktien — 1902 war eine Sanierung vorge-
nommen — ? Proz. (Saling).
5) Siehe B. d. Aelt. f. 1896, S. 225.
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. T81
Abzug ist allgemein; noch 1904 verlegten zahlreiche Schal- und
Tücherfabrikanten ihre Betriebe nach Sachsen und Bayern +1). Man
kann deutlich verfolgen, wie die Ausdehnung des Berliner Wirt-
schaftsgebietes sich für Betriebe bemerkbar macht, die bisher noch
keinen Konnex mit der Stadt hatten. So wurde 1899 die Fabrik
für Klein- und Feldbahnbedarf von Orenstein & Koppel nach Drewitz
in nächster Nähe des Weberortes Nowawes-Neuendorf verlegt, wo
seit 150 Jahren eine rege Textilindustrie herrscht. Die höheren
Löhne der Fabrik entziehen nun die Weber mehr und mehr ihrem
alten Beruf, viele kehren freilich zum Webstuhl zurück, weil sie
den körperlichen Anstrengungen der neuen Arbeit nicht gewachsen
sind, — begreiflich bei einer Bevölkerung, die seit Generationen
jenes Handwerk übte. Trotzdem dürfte Nowawes, wo heute jeden
Tag eine neue großstädtische Fabrik entstehen kann, auf die Dauer
nicht das alte Weberdorf bleiben. Neue Betriebe werden in der
vorhandenen Bevölkerung ein willkommenes Arbeitermaterial finden,
und die Textilindustrie wird günstigere Produktionsstätten aufsuchen
müssen.
VII. So hat sich denn auf der ganzen Linie die Ansicht be-
stätigt, daß mit dem Ausleseprozeß unter der Arbeiterschaft auch
ein solcher unter den Unternehmungen verknüpft ist, und mit
den schweren Industrien alle diejenigen aus der Stadt hinausgedrängt
werden, die sich auf ordinäre oder auf nur mittelmäßige Arbeits-
kraft stützen. Die kleinen abgelegenen Landstädtchen der Mark
und der Lausitz sehen wir geradezu überschwemmt von Betrieben,
die vor den hohen Löhnen Berlins fliehen müssen. Demgegenüber
besitzt die Großstadt ihrer vorzüglichen Arbeitskräfte wegen in
manchen Branchen geradezu ein Monopol, und daher liegt ihre
Entindustrialisierung vorerst ganz außer dem Bereiche der Mög-
lichkeit. Sie ist vielmehr der Standort der Elite der volkswirt-
schaftlichen Gewerbe.
Im richtigen Lichte erscheint dieser Ausleseprozeß aber erst,
wenn wir einen Blick auf die weitere Gruppierung der aus der
Großstadt vertriebenen Zweige in der gesamten Volks- und Welt-
wirtschaft werfen. Da zeigt sich, daß die primitiven, nur ungeübter
und darum schlecht entlohnter Arbeitskraft bedürfenden Werkver-
richtungen immer weiter abgedrängt werden von den Zentren der
nationalen Kultur in mehr entlegene Gebiete, mit meist auf unge-
sunder Agrarverfassung beruhender niedriger Lebenshaltung. Wenn
Berlin in billiger Ware mit Cottbus nicht konkurrieren kann, so ist
das in ganz billiger für Cottbus wieder Spremberg und Finsterwalde
gegenüber nicht möglich, — ein Cottbuser Tuchfabrikant sagte mir,
die Differenz zwischen diesen Orten sei stellenweise so groß, daß sie
allein wegen der Lohnunterschiede 20 Pfg. auf den Meter ausmache.
Kann Berlin in Stapelartikeln mit Annaberg nicht mitkommen, so
zieht Annaberg seinerseits in Schundwaren ganz weltentlegenen
1) B. d. Aelt., S. 313.
782 Otto Schwarzschild,
Nestern gegenüber den Kürzeren. Nun beachte man das Aufkommen
einer Textilindustrie in wirtschaftlich rückständigen Ländern, wie
neuerdings so besonders stark in Italien und Indien t).
Es handelt sich hier um einen volks- und weltwirtschaftlichen
Ausleseprozeß größten Stils. Volkswirtschaftlich entwickelte Gebiete
suchen Gewerbezweige, die auf der Nutzung geringwertiger Arbeits-
kraft beruhen, in minder entwickelte abzustoßen. Dieser Auslese-
prozeß aber nimmt in dem am rationellsten funktionierenden Organ
der Volkswirtschaft, in der Großstadt, der Weltstadt, dem Mittel-
punkte des Landes und seines Verkehrs seinen Ausgangspunkt.
Konnten wir es doch überall verfolgen, wie die Herstellung der
Qualitätswaren, der Spezialitäten, aller der Produkte, die nicht nur
anderswo nicht gemacht werden, sondern überhaupt nicht gemacht
werden können, es eigentlich allein ist, die dort einen unbedingt
gesicherten Standort hat und der Großstadt wiederum einen sicheren
Platz innerhalb der gewerblichen Produktionssphäre bietet. Diese
Qualitätswaren und Spezialitäten sind aber auch schließlich für eine
Gesamtvolkswirtschaft, wenn sie denn einmal auf Export angewiesen
ist, die einzigen gewerblichen Produkte. auf deren Absatzmöglichkeit
sie sich unbedingt verlassen kann, mit denen sie in vernünftiger
Weise an einer Weltarbeitsteilung teilzunehmen vermag. Die Groß-
stadt leitet diesen zunächst volks-, dann weltwirtschaftlichen Aus-
leseprozeß ein. Selbst in den Gebieten der Hausindustrie lassen sich
trotz der trüben Verhältnisse solche Entwickelungstendenzen be-
merken.
Es zeigt sich so, daß die Rolle der Großstadt im industriellen
Leben der Volkswirtschaft keineswegs ausgespielt, sondern nach wie
vor von der größten Bedeutung ist. In der Industrie finden sich
keine Tendenzen, welche der Anziehungskraft der Stadt auf die Be-
völkerung und ihrem weiteren Wachstum irgendwie erheblichen Ab-
bruch tun könnten; die Abwanderung der ordinäreren Betriebe wird
vollauf kompensiert. Daher auch Sombarts Wort, die Großstadt
entwickele sich mehr und mehr zum Konsumtionszentrum, wiederum
nur eine sehr einseitige Richtigkeit haben kann; nach wie vor beruht
sie zum großen Teil auf volkswirtschaftlichem Unternehmergewinn,
volkswirtschaftlichem Arbeitslohn.
Dagegen entwickelt die Industrie wohl eine Tendenz, die Schäden
der übermäßigen Amassierung am Platze selbst wettzumachen, in-
dem sie diese durch die Peripheriewandeung der großen Betriebe
auflockert. Neben den Villenvororten erstehen Fabrik- und Arbeiter-
wohnvororte. Auf diesen Dezentralisationsprozeß ist natürlich auch
das starke Wachstum der preußischen Landgemeinden zurückzu-
führen 2); die über 20000 Einwohner zählenden sind sämtlich Vor-
orte von Großstädten und ökonomisch als „industrielle Vollstädte*
(Sombart) anzusehen. „The significance of this tendency is that is
1) Stickerei auf Madeira, vergl. Helene Simon, S. d. V. f. S., Bd. 85, S. 575.
2) Siehe unten S. 722. s
Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 783
denotes not a cessation in the movement toward concentration but
a diminution in the intensity of concentration“ (A. F. Weber).
Jeder Gang in die Berliner Vororte, mit Ausnahme des Südwestens,
zeigt die zunehmende Industrialisierung der Bannmeile. Immer
weiter dehnt sich der wirtschaftliche Machtbereich der Stadt aus; er
nimmt von neuen Gebieten Besitz und verdrängt die Betriebe, die
sich den städtischen Lebensbedingungen nicht anpassen. Daß sich
stellenweise in den Vororten billigere Arbeitskräfte finden, als im
Stadtkern, widerlegt die Auffassung von der Gleichartigkeit des
städtischen Wirtschaftsgebietes und der nur internen Bedeutung der
Peripheriewanderungen nicht; denn einmal beruht das auf Zufällig-
keiten (Berliner Krankenversicherungs-Ortsstatut), dann muß man
verschiedene Vororte als billigere Quartiere des Gesamtgebietes auf-
fassen, wie andere wieder die teuersten sind; es handelt sich dabei
ausschließlich um Hausindustrie und Kleinbetriebe. Die große In-
dustrie im Umkreis der Stadt zahlt großstädtische Löhne. Sie wirkt
bei ihrer Niederlassung denn auch fermentierend auf vorhandene
rückständige Verhältnisse.
Es würde einer umfassenden Untersuchung bedürfen, den durch
die Peripheriewanderung hervorgerufenen Dezentralisationsprozeß
im einzelnen klarzulegen. Dabei gilt es, diese begrifflich von der
vollständigen Abwanderung scharf zu scheiden und seine räumliche
Maximalausdehnung, die, wie oben einmal angedeutet wurde, auch
von der Praxis übersehen werden kann, annähernd zu bestimmen.
Es wird aber auch eine der wichtigsten Aufgaben der kommunalen
Politik der Zukunft sein, die Entwickelung in die richtigen Wege
zu leiten !).
1) Siehe A. F. Weber, S. 446 ff., besonders den schönen Schluß des Buches.
784 Albert Hesse,
XIII.
Die Auskünfte der Arbeitgeber für Steuer-
zwecke und ihre Verwendung für die Fin-
kommen- und Lohnstatistik.
Von
Dr. Albert Hesse,
Direktor des städtischen statistischen Amts, Privatdozent an der Universität Halle a./S.
Unter den zahlreichen Problemen, die die soziale Frage uns
stellt, nimmt die Lohnfrage eine hervorragende Stelle ein: der
Arbeitslohn ist der Kern der Arbeiterfrage, ein großer Teil unseres
Volkes ist in seinem ganzen materiellen Leben von ihm abhängig,
er bildet den Gegenstand zahlreicher Streitigkeiten und Verein-
barungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. So steht die
Lohnfrage im Mittelpunkte der sozialpolitischen Betrachtungen und
Diskussionen.
Diese können nur gedeihen auf dem Boden sicher ermittelter
Tatsachen. Wir brauchen zuverlässiges Material um so mehr, als
gerade in diesen Fragen der Parteien Gunst und Haß die Verhält-
nisse leicht entstellen. Das Bedürfnis nach umfassenden, sicheren
zahlenmäßigen Darstellungen ist immer lebhafter geworden, und die
Statistik hat verschiedene Wege eingeschlagen, um diese Unterlagen
zu schaffen. Sie bietet eine Fülle lohnstatistischen Materials, das von
den Regierungen, den Stadtverwaltungen, von Korporationen, Wirt-
schaftsorganisationen und Privaten zusammengestellt ist. Aber die
Schwierigkeiten sind groß, sie wachsen mit der Ausdehnung der
Erhebungen; das Material ist verschiedenartig und von ungleichem
Wert, und einer strengen Kritik halten die Untersuchungen oft
nicht stand.
So bleibt denn die Aufgabe, nach neuen Wegen zu suchen, die
uns näher und leichter zum Ziele führen als die bisher betretenen,
und es erscheint von Wert, auf einen Weg hinzuweisen, den das
Einkommensteuergesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom
19. Juni 1906 eröffnet.
I.
1.
~. In $ 23, Abs. 3 und 4 und $ 74 des Einkommensteuergesetzes
ist bestimmt: Wer für die Zwecke seiner Haushaltung oder bei Aus-
Die Auskünfte der Arbeitgeber für Steuerzwecke. 785
übung seines Berufes oder Gewerbes andere Personen gegen Gehalt
oder Lohn beschäftigt, ist verpflichtet, über ihr Einkommen, sofern
es den Betrag von jährlich 3000 M. nicht übersteigt, der mit der
Aufnahme des Personenstandes betrauten Behörde auf deren Ver-
langen binnen einer Frist von mindestens zwei Wochen Auskunft
zu erteilen. Diese Pflicht liegt auch den gesetzlichen Vertretern
nichtphysischer Personen ob. Wer die in Gemäßheit des § 23 ge-
forderte Auskunft verweigert oder ohne genügenden Entschuldigungs-
grund in der gestellten Frist gar nicht oder unvollständig oder un-
richtig erteilt, wird mit einer Geldstrafe bis 300 M. bestraft.
In Artikel 42 Abs. III der Ausführungsanweisung vom
25. Juli 1906 wird diese Verpflichtung zur Auskunftserteilung näher
bestimmt, wird ausgeführt, daß sie sich sowohl auf die in bar, als
auch auf die in freier Wohnung, Verpflegung oder Naturalien be-
stehenden Vergütungen erstreckt, welche der Angestellte von dem
Arbeitgeber in dem dem Steuerjahre unmittelbar vorangegangenen
Kalenderjahre bezogen hat, sofern der Gesamtwert des Bezugs die
Summe von jährlich 3000 M. nicht übersteigt. Weitere Aus-
führungsbestimmungen sind in mehreren Verfügungen des Finanz-
ministers gegeben. Diese behandeln den Umfang der Auskunfts-
pflicht, den Begriff der dauernden Beschäftigung, die Ausübung des
Fragerechts durch die Gemeindevorstände, betonen, daß die Aus-
kunftspflicht sich nur auf die zur Zeit der Frage tatsächlich be-
schäftigten Personen erstreckt, daß also das Einkommen, welches
die Arbeiter oder Angestellten an einer früheren Arbeitsstelle be-
zogen haben, ausgeschlossen ist, und nehmen endlich Stellung zu
verschiedenen Beschwerden und Wünschen, die seitens der Arbeit-
geber vorgebracht sind.
In Ausführung der gesetzlichen Bestimmungen haben die Ge-
meindevorstände den Arbeitgebern Formulare zugesandt mit dem Er-
suchen, auf diesen den Namen, die Wohnung, die berufliche Stellung
und die Lohnverhältnisse ihrer sämtlichen Arbeiter anzugeben. Die
Ausfüllung dieses Formulars hat nun den Unternehmern große
Schwierigkeiten gemacht, um so mehr, je zahlreicher die Arbeiter-
schaft des Betriebes war. Einmal war die Zeit ungünstig, in
der diese Zusammenstellungen verlangt wurden: der Monat Oktober.
Es mußten jetzt für 3, Jahre die Lohnangaben besonders ermittelt
werden, und es konnten andere Zusammenstellungen, besonders die für
die Berufsgenossenschaften alljährlich im Januar für das abgelaufene
Jahr erstatteten Uebersichten nicht ohne weiteres benutzt werden.
Die Angabe der Wohnungen machte weitere Schwierigkeiten. Da
die Fabrikleitung diese nicht kennt, werden Rückfragen bei den
Arbeitern nötig, die durch den häufigen Wohnungswechsel der Ar-
beiter noch vermehrt werden. Dazu kommen weitere Umständlich-
keiten, wenn die Arbeiterschaft in mehreren Gemeinden wohnt,
also besondere Listen für jede dieser Gemeinden aufgestellt werden
müssen, und nun wegen des häufigen Wohnungswechsels ein um-
fangreicher Schriftwechsel mit den einzelnen Gemeinden nötig wird.
Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII). 50
186 Albert Hesse,
Weiterhin war die Frist von zwei Wochen besonders für große
Betriebe sehr kurz bemessen, um so mehr, als die geforderten Zu-
sammenstellungen gerade das erste Mal mehr Arbeit verursachten.
Diese Unzuträglichkeiten haben mehrere Vertretungen der Arbeit-
geber in Eingaben an den Finanzminister hervorgehoben und zugleich
die Ansicht vertreten, daß generelle Auskünfte über sämtliche Ar-
beiter und im besonderen eine Angabe der Wohnung nicht verlangt
werden könnten. Diese Meinung ist unterstützt worden durch den
Abgeordneten, auf dessen Antrag die Bestimmungen in das Gesetz
aufgenommen sind!). Er hat ausgeführt, daß ihm bei seinem An-
trage nur eine Auskunftserteilung auf Anfrage mit Namensnennung
der einzelnen Arbeiter vorgeschwebt habe, nicht eine generelle Aus-
kunft, wie sie jetzt von den Behörden verlangt werde. Er sei von
den Bestimmungen des sächsischen Einkommensteuergesetzes aus-
gegangen, habe aber diese absichtlich nur zum Teil herübergenommen,
die Detailbestimmungen absichtlich fortgelassen. Und diese be-
gründen in Absatz III des $ 36 ausdrücklich die Verpflichtung, die
Auskünfte, nach dem Wohnort der beschäftigten Personen geordnet,
zu erteilen.
Auf diese Eingaben gehen die Verfügungen des Finanzministers
ein. Sie führen aus, daß der Zweck des Gesetzes sei, das Veran-
lagungsverfahren zu verbessern und die Heranziehung des Arbeits-
einkommens zur Einkommensteuer gerechter und gleichmäßiger zu
gestalten. Dies sei auch aus dem Inhalt der Verhandlungen des
Landtages bei Beratung der Novelle zu entnehmen. Die Vorschriften
des § 23 könnten aber ihren Zweck nur erreichen, wenn die Arbeit-
geber Auskunft über das Einkommen aller bei ihnen beschäftigten
Angestellten und Arbeiter erteilten. Die Mitteilung des Einkommens
einzelner von der Steuerbehörde bestimmt bezeichneter Arbeitnehmer
würde den Zweck der neuen Vorschrift deshalb unerreicht lassen,
weil der Steuerbehörde in den meisten Fällen unbekannt sei, bei
welchem Unternehmer der Arbeiter in Lohn steht.
Dies ist richtig.
Nach $ 23 I, II des Einkommensteuergesetzes sind bei der
Personenstandsaufnahme nur Angaben über Namen, Beruf oder Er-
werbsart, Geburtsort, Geburtstag und Religionsbekenntnis zu fordern.
Die Steuerbehörde kann Angaben über den Beschäftigungsort nicht
verlangen, sie kann wohl in den Hauslisten diese Fragen stellen,
aber ihre Beantwortung nicht erzwingen, wird also in den meisten
Fällen diese Angaben auch nicht erhalten. Es kann also die Steuer-
behörde gar nicht, wie die Arbeitgeber dies fordern, die Namen der
einzelnen Arbeiter dem Betriebsleiter mit dem Ersuchen um An-
gabe der Löhne vorlegen, weil das Bestehen des Arbeitsverhältnisses
ihr in zahlreichen Fällen unbekannt ist. Der Zweck des Gesetzes
kann also nur durch generelle Auskünfte erreicht werden. Dieser
Interpretation steht der Wortlaut nicht entgegen. Und die ab-
weichende Absicht des Gesetzgebers kann eine Auslegung nicht ver-
1) Mitteilungen der Handelskammer zu Halle a./S., III. Jahrg., S. 2 ff.
Die Auskünfte der Arbeitgeber für Steuerzwecke. 787
bieten, die der Wortlaut des Gesetzes gestattet und dessen Zweck
erfordert.
Es ist auch in den Kreisen der Arbeitgeber die Ansicht der
Regierung immer mehr durchgedrungen. Es sind mehrfach Verein-
barungen mit den Behörden getroffen, in denen sich die Arbeitgeber
zur Erteilung solcher genereller Auskünfte bereit erklären, die Be-
hörden weitgehendes Entgegenkommen zusichern.
Es ist also jetzt in Preußen möglich, regelmäßig von den Ar-
beitgebern Auskünfte über die Gehälter und Löhne ihrer sämtlichen
Angestellten zu erlangen, wie dies in Sachsen, ebenso auch in Braun-
schweig und Anhalt, schon der Fall war.
Sollen diese für die Statistik verwendet werden, so ist von
Wichtigkeit einmal die Form, in der sie geliefert werden. Und
sollen aus Angaben über das Einkommen lohnstatistische Erkennt-
nisse gewonnen werden, so ist auf den Inhalt der Auskünfte be-
sonderes Gewicht zu legen.
2.
Eine Rundfrage bei sämtlichen Großstädten hat eine große Ver-
schiedenheit der verwendeten Erhebungsformulare ergeben:
verschiedene Formen von Listen, Individualblättern, Kombinationen
beider und Kartenblättern. Die Individualblätter sind den Listen
vorzuziehen. Sie sind einmal für die Steuerverwaltung praktisch,
da dann den einzelnen Bureaus das Material "gesondert zugewiesen
werden kann. Sie sind ferner für statistische Auszählungen ohne
weiteres zu verwenden, während aus den Listen erst Zählblätter
ausgeschrieben werden müssen. Die Listen sind teilweise so ange-
lest, daß sie zerschnitten oder durchgetrennt werden und so Indi-
vidualblätter gewonnen werden können. Diese Kombination von
Liste und Individualblatt ist zu empfehlen, sie hat die Vorzüge
beider, sie gestattet eine schnelle Zusammenfassung und bietet
fertiges Material zur Auszählung. Zudem bringt sie insofern weniger
Mühe für den Unternehmer mit sich, als dieser nicht auf den
einzelnen Individualblättern die Angaben über sein Unternehmen
zu machen hat, sondern nur am Kopf der Liste; diese Angaben
werden dann beim Auseinandernehmen der Listen auf die einzelnen
Blätter übertragen. Die Kartenblätter sind zur Aufnahme des
Materials für mehrere, gewöhnlich 10 Jahre bestimmt. Ihre Ver-
wendung wird durch den häufigen Wechsel des Beschäftigungsortes
seitens des Arbeiters erschwert, wenn nicht ganz in Frage gestellt.
In der Rubrik, welche die Angaben über das Unternehmen aufnimmt,
werden häufige Korrekturen nötig. Dann wird die Steuerbehörde die
Karte der Firma zusenden, die zuletzt die Auskünfte erteilt hat, von
dieser bei einem Stellungswechsel des Arbeiters zumeist die neue
Arbeitsstelle nicht erfahren, also gar nicht in der Lage sein, die
gleiche Karte weiterzugeben.
Die Individualblätter und die Listen, welche in Individualblätter
zerlegt werden können, sind mithin als am besten geeignetzu empfehlen.
50*
788 Albert Hesse,
3.
Hinsichtlich des Inhalts der Formulare ist zunächst grundsätz-
lich hervorzuheben, daß nur die wirklichen Verdienste, nicht die
Lohnsätze zu erfragen sind. Einmal ist nach dem Gesetz der Unter-
nehmer nur zur Angabe des tatsächlichen Arbeitseinkommens ver-
pflichtet. Vor allem aber haben die Angaben der Lohnsätze für die
Ermittelung des Jahreseinkommens ganz geringen Wert. Es sind
Umrechnungen nur möglich bei Angabe der Arbeitsdauer und der
Beschäftigungsdauer. Diese fehlen. Akkordlohnsätze sind generell
überhaupt nicht umzurechnen. Ueberstunden können ebensowenig
sicher eingesetzt werden wie Ausfälle bei Krankheit und Rückgang
der Konjunktur. Es muß also unter allen Umständen das wirkliche
Einkommen erfragt werden. Dies ist zumeist auch geschehen.
Dabei ist die Anordnung und Detaillierung verschieden. Getrennt
ist immer zwischen Geldeinnahmen und Naturalbezügen. Die ersteren
sind zum Teil unterschieden in die feststehenden Bezüge, die in
Tantièmen, Remunerationen, Gratifikationen bestehenden Einnahmen
und die Verdienste durch Ueberstundenarbeit und Akkordarbeit.
:Eine solche weitgehende Spezialisierung der Angaben ist für lohn-
statistische Zwecke wünschenswert. Zu bedenken ist jedoch, daß
der Arbeitgeber nur zur Angabe des gesamten Geldeinkommens ge-
setzlich verpflichtet ist. Auch für die Angabe der Naturalbezüge
sind zum Teil sehr detaillierte Fragestellungen vorgesehen worden,
was zweifellos wünschenswert ist, aber auf die gleichen rechtlichen
Schwierigkeiten stößt. Es ist jedoch anzunehmen, daß eine ge-
schickte Detaillierung der Fragestellung auch spezialisierte Antworten
erlangen läßt, zu deren Erteilung eine gesetzliche Verpflichtung nicht
vorliegt. Der Arbeitgeber, der nur zur Angabe des gesamten Ein-
kommens verpflichtet ist, muß ja dieses selbst erst aus den ver-
schiedenen Elementen zusammenrechnen, so daß eine Spezialisierung
ihm die Arbeit nicht erschwert.
Nach den gesetzlichen Bestimmungen hat der Arbeitgeber den
wirklichen Verdienst anzugeben, den der Angestellte in dem dem
Steuerjahr unmittelbar vorangegangenen Kalenderjahre bezogen hat.
Wegen des Umfanges der Vorbereitungen der Veranlagung ist es
jedoch erforderlich, schon vor Ablauf dieses Kalenderjahres die Aus-
künfte einzuziehen; gewöhnlich sind sie im Monat Oktober verlangt
worden. Es können daher die tatsächlichen Angaben nur für die
Zeit vom 1. Januar bis 30. September, bezw. wenn die Arbeitnehmer
nicht vom Anfang des Jahres an im Unternehmen beschäftigt sind,
für die Zeit vom Beginne der Beschäftigung bis 30. September er-
stattet werden. Für das letzte Vierteljahr hat die Steuerverwaltung
das Einkommen zu schätzen. Als Anhalte für ihre Schätzungen
haben einzelne Steuerbehörden sich seitens der Arbeitgeber schätzungs-
weise Angaben für das letzte Vierteljahr erstatten lassen. Diese
sind gewiß von Wert, können aber gesetzlich nicht gefordert werden.
‚Einzelne Städte haben diesen Weg nicht eingeschlagen, sondern
Die Auskünfte der Arbeitgeber für Steuerzwecke. 789
schätzungsweise Angaben für das ganze Jahr eingefordert. Dies
Verfahren entspricht nicht den gesetzlichen Bestimmungen. Die
Arbeitgeber sind nur zur Mitteilung der tatsächlich gezahlten Be-
träge verpflichtet. Es heißt auch den Wert und die Brauchbarkeit
des Materials geradezu vernichten, wenn die Tatsachen in Schätzungen
aufgelöst werden, die der Willkür die Türe öffnen und schwer kon-
trolliert werden können. Hinsichtlich der Naturalbezüge sind von
einzelnen Verwaltungen allein Angaben über die tatsächlichen Ver-
hältnisse, von der Mehrzahl noch Schätzungen des Wertes der Be-
züge gefordert worden. Eine Verpflichtung zur Erteilung schätzungs-
weiser Angaben besteht auch hier nicht. Liegt der Steuerbehörde
daran, für ihre Schätzung des Wertes dieser Bezüge sowie für die
erwähnten Schätzungen des Einkommens für das letzte Vierteljahr
Anhalte in Urteilen der Arbeitgeber zu erhalten, so ist sie auf Ver-
einbarungen mit den Arbeitgebervertretungen angewiesen und durch
ministerielle Verfügungen auch hingewiesen.
Die Formulare einzelner Städte enthalten zuletzt noch Fragen
über etwaige Ausfalltage durch Krankheit und Urlaub, deren Be-
antwortung für die Statistik der Einkommen nicht erforderlich, für
die Verwendung zu lohnstatistischen Zwecken aber wünschenswert
ist. Auch zur Erstattung dieser Angaben besteht keine gesetzliche
Verpflichtung.
II.
1.
Diese Angaben der Arbeitgeber sind vertraulicher Natur. Daraus
können Bedenken hergeleitet werden und sind solche erhoben worden
gegen ihre Verwendung für statistische Zwecke und gegen ihre Ver-
öffentlichung. Diesen ist nicht stattzugeben. Das Gesetz sichert
strengste Geheimhaltung der Verhältnisse der Steuerpflichtigen zu
— z. B. § 57 des preußischen, § 32 des sächsischen Gesetzes. —
Aber diese wird durch die statistische Verarbeitung nicht verletzt.
In den großen Zahlen gehen nicht nur die Namen, sondern auch die
Details unter, die Einzelheiten verschwinden vollkommen. Nur wenn die
Statistik weit in die Details geht, z. B. die Berufsgruppen sehr eng
faßt, die räumlichen Grenzen sehr eng zieht, dann kann es geschehen,
daß die Zahlen sehr klein werden und es möglich wird, aus ihnen
persönliche Verhältnisse zu erkennen. Eine solche Detaillierung
verbietet sich also. Es geben auch Rücksichten auf die Arbeitgeber
Veranlassung, in der Zusammenfassung so weit zu gehen, daß die
persönlichen Verhältnisse verschwinden. Wenn z. B. die Einteilung
der Gewerbegruppen sehr differenziert wird, dann wird es in Städten
nicht selten vorkommen, daß nur ein Betrieb in eine Gruppe fällt,
dann also die Verhältnisse dieses einen Unternehmers dargestellt
werden, was wiederum dem vertraulichen Charakter der Auskünfte,
vielleicht auch dem Interesse des Unternehmers widerspricht. Es
ist gewiß gerade in der Lohnstatistik eine Spezialisierung nicht zu
vermeiden, da die Verhältnisse der einzelnen Berufsgruppen sehr
790 Albert Hesse,|
ungleich sind und eine Zusammenfassung zu großen Kategorien leicht
die Details erdrückt, Gesamtzahlen ergibt, aus denen ein Urteil über
die wirklichen Verhältnisse nicht gewonnen werden kann. Es ist
aber dann mit diesem berechtigten Bestreben jene Rücksicht auf
den vertraulichen Charakter des Materials zu verbinden. Dieses ist
auch nicht schwer und die statistische Verarbeitung leidet darunter
nicht. Eine Spezialisierung, die die individuellen Verhältnisse noch
erkennen läßt, geht zu weit: die Statistik hat Massenerscheinungen
darzustellen, die Erscheinungen zu Massen zusammenzufassen. Und
ist der Umfang des Materials so gering, daß die individuellen Details
durch Zusammenfassung und Gruppierung gar nicht verwischt werden
können, dann lohnt sich eine statistische Bearbeitung des Materials
nicht, und wird sich kaum eine Stelle finden, die es auszählt und
veröffentlicht. Es ist also keine Gefahr, daß durch Indiskretionen
der Statistik die Interessen der Beteiligten geschädigt werden.
2.
Das Material ist für eine Statistik der Einkommen zunächst zu
verwenden. Es fragt sich aber, ob darüber hinaus nicht auch lohn-
statistische Kenntnisse gewonnen werden können. So ist die Brauch-
barkeit der Angaben nach diesen beiden Richtungen hin zu prüfen.
Erforderlich ist zunächst die Angabe des Geschlechts der Arbeit-
nehmer. Diese ist vorhanden. Weiterhin kommen die Angaben über
das Alter in Betracht. Diese können von einer umfassenden Lohn-
statistik nicht immer in detaillierter Weise gefordert werden. Die
Kombination einer größeren Zahl von Berufskategorien, Lohnstufen
und Altersklassen wird leicht unübersichtlich. Es ist eine eingehende
Unterscheidung der Altersjahre auch gewöhnlich nicht erforderlich,
da ja die Löhne nur in beschränktem Maße durch das Alter der
Arbeitnehmer bedingt sind. Es ist aber zum mindesten zu verlangen,
daß die jugendlichen Arbeiter erkennbar gemacht werden und ebenso
die alten, deren Arbeitsfähigkeit gemindert ist. Für diese Angaben
sehen die Formulare keine Rubriken vor. Dieser Nachteil wird da-
durch nicht ausgeglichen, daß der Arbeitnehmer als Lehrling be-
zeichnet wird, oder angegeben ist, daß er Altersrente bezieht. Diese
Angaben sind durchaus nicht allgemein gemacht, andererseits ist die
Altersgrenze, die den Bezug der Rente begründet, für die Zwecke
‘der Lohnstatistik zu hoch. Es sind auch seitens der Arbeitgeber
spezialisierte Auskünfte über das Alter ihrer Arbeitnehmer auf Grund
der gesetzlichen Bestimmungen nicht zu erlangen, ebensowenig An-
gaben, ob der Arbeiter eine bestimmte Altersgrenze noch nicht er-
reicht oder überschritten hat. Es würden diese Auskünfte ferner
das Maß der Arbeit für die Unternehmer wesentlich erhöhen. Es
sind diese Angaben aber auch nicht erforderlich, weil die Steuer-
behörde in der Lage ist, sie den Ergebnissen der Personenstands-
aufnahme zu entnehmen. Unter den Fragen, deren Beantwortung
gemäß § 23 I, II des Einkommensteuergesetzes gefordert werden
kann, befindet sich auch die Frage nach dem Geburtsjahr. Es
Die Auskünfte der Arbeitgeber für Steuerzwecke. 791
kann also aus diesem Material das Alter in die Formulare für die
Auskünfte eingetragen werden. Es wird dann, wenn die Statistik
zahlreiche Berufe umfassend darstellen will, die Angabe jener er-
wähnten beiden Altersgrenzen genügen. Und sofern die Alters- und
Lohnverhältnisse in detaillierter Gegenüberstellung behandelt werden
sollen, ist für diese die Grundlage durch Eintragung der Altersjahre
leicht zu gewinnen.
Von größerer Wichtigkeit sind die Auskünfte, ob es sich um
gelernte, angelernte oder ungelernte Arbeiter handelt. Diese Unter-
scheidung ist in der Praxis überaus schwierig durchzuführen. Es
entstehen in vielen Fällen Zweifel, und diese werden von ver-
schiedenen Personen in ungleicher Weise erledigt. Es sind auch
seitens der Arbeitgeber Angaben, ob der Arbeiter z. B. eine Lehr-
zeit durchgemacht hat und von welcher Dauer sie gewesen ist,
nicht zu verlangen. Es bleibt also nur übrig, aus den Auskünften
über die Beschäftigungsart, über die berufliche Stellung diese An-
gaben zu entnehmen. Dies wird um so leichter sein, je detaillierter
die Angaben über die berufliche Stellung sind. Und dies ist un-
schwer zu erreichen, wenn die Arbeitgeber auf möglichste Speziali-
sierung hingewiesen werden, da ja die genauere Angabe keine größere
Arbeit verursacht.
Allen diesen Anforderungen vermag also das Material zu ge-
nügen, und soweit es zunächst versagt, können Ergänzungen vorge-
nommen werden. Auf eine der wichtigsten Fragen aber bleibt es
die Antwort schuldig, und es ist unmöglich, aus den Ermittelungen
der Steuerbehörde hier eine Ergänzung zu schaffen. Dies ist die
Frage nach der Arbeitszeit. Hier können nur durch besondere An-
fragen die Angaben gewonnen werden. Ohne solche besonderen
Feststellungen ist das Material nur für Zwecke der Einkommens-
statistik zu verwenden und für die Lohnstatistik ungeeignet. Ob
die Frage nach der Arbeitszeit zugleich mit den durch das Gesetz
vorgesehenen gestellt, also in das Formular für die Auskünfte auf-
genommen wird, ist aus Gründen der Zweckmäßigkeit und unter
Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse zu entscheiden; be-
denklich ist immer, daß durch diese Angabe die Mühe für die Arbeit-
geber zweifellos wesentlich erhöht wird und also überlegt werden
muß, ob dann nicht die Sorgfalt und Genauigkeit der Gesamtangaben
gefährdet wird. Zu bedenken ist weiterhin, daß eine Pflicht zur
Erteilung der Antwort auf diese Frage nicht vorliegt, daß anderer-
seits die Steuerbehörde kein unmittelbares Interesse an diesen An-
gaben hat. Gelingt es nicht, aus den Formularen der Steuerver-
waltung auch über diese Fragen Auskünfte zu erlangen, so muß
eben die Verwertung dieses Materials sich auf eine statistische Dar-
stellung der Einkommensverhältnisse beschränken und versucht
werden, durch besondere ergänzende Feststellungen Anhalte zu ge-
winnen, um Schlüsse auf die Lohnverhältnisse zu ziehen. Ob hier
der Weg der Enquete eingeschlagen oder eine selbständige statistische
Erhebung der Arbeitszeit angestellt wird, ist dann wieder im be-
792 Albert Hesse,
sonderen zu entscheiden. Die Enquete ist viel leichter durchzu-
führen, liefert aber weder so exaktes noch so individuell eingehendes
Material, wie die statistische Feststellung. Die Verbindung einer
detaillierten Statistik der Arbeitszeit mit der Statistik der Eınkommen
stößt jedoch wiederum auf besondere Schwierigkeiten, so daß dieser
Vorteil der statistischen Feststellung kaum zur Geltung kommt.
Dann aber lohnen sich die großen Umständlichkeiten einer detaillierten
statistischen Feststellung nur zur Ergänzung anderen Materials nicht
mehr, und die Enquete bietet bei viel geringerem Aufwand genügen-
den Ersatz.
Endlich sind für lohnstatistische Verwertung der Auskünfte noch
Angaben erforderlich über die Lohnart und den Umfang der Ueber-
stundenarbeit. Wenngleich die gesetzlichen Bestimmungen auch diese
Frage nicht vorsehen, ist doch in der Mehrzahl der Erhebungsformu-
lare nach dem Ertrag der Extraarbeit gefragt worden. Die Beant-
wortung dieser Fragen ist auch leicht zu erlangen, da ja doch der
Arbeitgeber, der zur Angabe des gesamten Arbeitsverdienstes ver-
pflichtet ist, diesen aus den einzelnen Bestandteilen zusammenrechnen
muß, daher deren Angabe keine besonderen Schwierigkeiten macht.
Welche Lohnart in dem betreffenden Berufe vorherrscht, ist dann
wieder durch ergänzende Untersuchungen festzustellen. Und hier
ist wieder auf den Weg der Enquete zu verweisen, die ohne große
Schwierigkeiten genügende Angaben zu liefern vermag.
Es können also, soweit das Material nicht selbst schon für lohn-
statistische Verwertung die erforderlichen , Angaben enthält, durch
ergänzende Rundfragen die nötigen Angaben erlangt werden.
3.
Außer diesen allgemeinen Gesichtspunkten für eine Kritik des
Materials hinsichtlich seines Wertes für lohnstatistische Unter-
suchungen kommen noch besondere Momente in Betracht, die in der
Eigenart des Materials begründet sind.
Der Arbeitgeber ist verpflichtet zur Angabe des wirklichen Ver-
dienstes für das dem Steuerjahr vorhergehende Kalenderjahr. Da
nun die Veranlagung der Personen mit einem Einkommen unter
3000 M. schon im letzten Vierteljahr vorgenommen wird, werden
die Auskünfte im Oktober eingefordert, und infolgedessen sind die
Angaben der tatsächlichen Arbeitsverdienste nur für drei Viertel-
jahre zu erhalten. Für das letzte Vierteljahr muß eine Schätzung
eintreten. Und diese ist immerhin nicht leicht. Es sind die Ein-
kommensverhältnisse in den Monaten Oktober bis Dezember nicht
ohne weiteres denen der früheren Monate gleichzustellen. In ein-
zelnen Berufen gehen die Einnahmen zurück, besonders in den
Saisongewerben, in anderen sind sie höher, besonders im Dezember,
da die Weihnachtsgratifikationen, Prämien, Gewinnanteile und andere
Nebeneinnahmen gerade in diesem Monat das Einkommen zum Teil
sehr wesentlich erhöhen. Die Einforderung der Auskünfte im Monat
Januar würde diese Schwierigkeiten sofort beseitigen, außerdem die
Die Auskünfte der Arbeitgeber für Steuerzwecke. 793
Mühe für die Arbeitgeber vermindern, die dann auf die Zusammen-
stellungen für die Berufsgenossenschaften unmittelbar zurückgreifen
könnten. Es ist aber den Steuerbehörden nicht möglich, in der
Zeit von Januar bis März zugleich mit der Bearbeitung der Steuer-
deklarationen auch diese Auskünfte für die Veranlagung zu verwerten.
Zudem kommt es der Steuerverwaltung gar nicht auf eine absolut
genaue Feststellung des Einkommens an, sondern nur auf die Ein-
reihung des Einkommens in eine Einkommensgruppe. Und hierfür
bietet auch eine Schätzung genügende Unterlagen. Es ist also
nicht zu erwarten, daß die Auskünfte im Januar eingefordert werden
und daher Angaben für das ganze Jahr bieten können.
Diese Fälle, in denen für drei Vierteljahre der wirkliche Arbeits-
verdienst angegeben ist, sind aber noch die günstigsten. Der Arbeit-
geber ist nur zur Auskunft über die bei ihm zur Zeit dauernd beschäf-
tigten Arbeiter und zur Angabe des Einkommens, das sie in seinem
Betriebe bezogen haben, verpflichtet. So ist über vorübergehend be-
schäftigte Aushilfspersonen überhaupt nichts zu erfahren. Und wenn
ein Arbeiter oder Angestellter nicht seit 1. Januar im Unternehmen
beschäftigt ist, fehlen die Angaben für die Zeit vor dem Eintritt in
das Unternehmen: der jetzige Arbeitgeber gibt nur das Einkommen
an, das er gewährt hat, und der frühere Arbeitgeber ist zu Angaben
überhaupt nicht verpflichtet, da der Arbeiter zur Zeit der Anfrage
von ihm nicht mehr beschäftigt wird. Es wird also nur für einen
Teil der drei Vierteljahre der wirkliche Verdienst angegeben, und es
muß die Schätzung des Einkommens auf einen größeren Zeitraum
noch erstreckt werden. Dadurch wird der Wert des Materials em-
pfindlich beeinträchtigt, um so mehr, je zahlreicher die Fälle des
Wechsels sind, und die bisher angestellten Untersuchungen und die
Erfahrung lehren, daß der Arbeiter verhältnismäßig häufig seine
Stellung wechselt, und daß hier bedeutende Unterschiede zwischen
den einzelnen Gegenden und den einzelnen Berufsgruppen sich zeigen.
Gegenüber diesen Bedenken treten die anderen Einwendungen
gegen das Material zurück. Wir erfahren nur das Einkommen des
Mannes, nicht das der Angehörigen, welche mitverdienen; wir
erfahren auch nur das Arbeitseinkommen des Mannes, nicht etwaige
sonstige Einnahmen; wir erfahren endlich dies Einkommen nur, so-
fern es den Betrag von 3000 M. nicht übersteigt. Diese Fragen
sind von geringerer Bedeutung. Auf sie ist bei der Verwertung
des Materials Rücksicht zu nehmen. Geschieht dies, dann sind zu
weitgehende Interpretationen und unrichtige Schlußfolgerungen nicht
zu befürchten.
Gegenüber diesen Momenten ist jedoch endlich auf einen Um-
stand hinzuweisen, der den Wert des Materials sicherstellt und die
Unsicherheit der Schätzung ausgleicht. Die Angabe des Arbeitgebers
und die Schätzung der Steuerbehörde werden durch den Arbeiter
indirekt kontrolliert. Dieser erfährt durch die Steuerverwaltung, in
welche Gruppe er eingereiht ist, und wendet nun Rechtsmittel an,
wenn er diese Veranlagung für unrichtig hält. Es wird dann nur
794 Albert Hesse, Die Auskünfte der Arbeitgeber für Steuerzwecke.
erforderlich, die im Rechtsmittelverfahren vorgenommenen Korrek-
turen in den Erhebungspapieren nachzutragen. So wird durch die
beiden Parteien des Arbeitsverhältnisses unter Leitung einer un-
parteiischen Behörde dem Statistiker das Material geliefert. Diesem
haften gewiß Mängel an, aber sie sind durch ergänzende Unter-
suchungen leicht auszugleichen. Doch auch soweit dies nicht mög-
lich ist, bleibt das Material noch wertvoll genug, so daß es eine
Verarbeitung lohnt.
Wie hat diese nun vorzugehen ?
III.
Die Bearbeitung des Materials wird vor keine besonderen Pro-
bleme gestellt. Sie hat nur zu entscheiden, ob das ganze Material
oder allein ein Teil ausgezählt werden soll. Da ist zunächst eine
Ausscheidung der Einkommen, welche Naturalbezüge umfassen, zu
empfehlen, da hier die Schätzung des Wertes der Naturalien die
Höhe des Einkommens wesentlich bestimmt und so einen breiteren
Raum einnimmt als in den Fällen, die nur Barbezüge enthalten.
Weiterhin werden diejenigen Personen auszuschalten sein, die kurz
vor Erteilung der Auskünfte ihre Arbeitsstelle gewechselt haben,
so daß die tatsächlichen Verdienste nur für kurze Zeit angegeben
sind und die Schätzung wiederum einen großen Raum einnimmt.
Welche Zeit hier als genügend angesehen werden kann, ist Sache
praktischer Erwägung im konkreten Falle. Diese Personen, welche
ihren Arbeitsplatz gewechselt haben, für die daher nicht die tatsäch-
lichen Verdienste vom Beginn des Jahres vorliegen, ganz fortzu-
lassen, ist nicht ratsam. Sofern allein die Einkommen derjenigen
Personen ausgezählt werden, die seit 1. Januar an ihrer Arbeitsstelle
verblieben sind, wird unwillkürlich eine Auslese der besseren Arbeiter
getroffen, das Bild also zu günstig werden.
Für die Bildung der Berufsgruppen und Einkommensstufen ist
zunächst möglichst weitgehende Spezialisierung zu empfehlen, die
alle Einzelheiten hervortreten läßt. Die Zusammenfassung ist so
vorzunehmen, daß die Unterschiede sich gegenseitig nicht ausgleichen,
sondern erkennbar bleiben. Dabei sind die Rücksichten auf die oben
geforderte Diskretion des Statistikers nicht zu vergessen.
Besondere Schwierigkeiten stellen sich also einer Verarbeitung
des Materials nicht entgegen. Diese ist daher zu empfehlen. Gewiß
hat das Material Mängel, diese sind aber teils durch geschickte
Fragestellung zu vermeiden, teils durch weitere Untersuchungen zu
ergänzen. Es ist jedenfalls ein Material, welches dem Statistiker
fertig vorgelegt wird, dessen Vollständigkeit durch die Steuerbehörde
geprüft, dessen Richtigkeit durch den Arbeitnehmer kontrolliert ist,
also nach diesen Richtungen hin größere Garantien bietet, als andere
Angaben dieser Art. Es ist für Zwecke der Einkommenstatistik
ohne weiteres brauchbar, aber auch als Grundlage für lohnstatistische
Untersuchungen wohl zu verwenden.
Nationalökonomische Gesetzgebung. 795
Nationalökonomische Gesetzgebung.
V.
Die wirtschaftliche Gesetzgebung der deutschen Bundes-
staaten im Jahre 1906.
Von Dr. Albert Hesse, Halle a. S.
Preußen.
(Fortsetzung.)
Gesetz, betr. Vermehrung der Mitglieder des Hauses der Abgeord-
neten und Aenderungen der Landtagswahlbezirke und Wahlorte. Vom
28. Juni 1906, S. 313.
§ 1. Die Zahl der Mitglieder des Hauses der Abgeordneten (Art. 69 Satz 1
der Verfassungsurkunde) beträgt fortan vierhundertdreiuudvierzig.
§ 2. Die Aenderungen der Wahlbezirke, der Wahlorte und der Zahl der in
jedem Bezirke zu wählenden Abgeordneten, welche aus Anlaß dieser Vermehrung
der Mitglieder des Hauses der Abgeordneten (§ 1) eintreten, werden nach Inhalt
eines Verzeichnisses festgestellt.
3. In den Wahlbezirken, die in dem Verzeichnisse B aufgeführt sind, werden
die Wahlorte anderweitig bestimmt.
8 4. Die Garnison von Mainz wird in Ansehung der Wahlen zum Hause der
Abgeordneten von.dem dritten Wahlbezirke des ki eh ena Coblenz abge-
trennt und dem neunten Wahlbezirke des Regierungsbezirkes Wiesbaden zugewiesen,
§ 5. Dieses Gesetz findet zuerst bei der ersten, nach seinem Inkrafttreten
stattfindenden Neuwahl des Hauses der Abgeordneten Anwendung.
Gesetz, betr. Abänderung der Vorschriften über das Verfahren bei
den Wahlen zum Hause der Abgeordneten. Vom 28. Juni 1906, S. 318.
Artikel 1. Die Verordnung vom 30. Mai 1849 wird durch nachstehende Vor-
schriften abgeändert:
$ 1. Der Protokollführer und die Beisitzer für den Wahlvorstand bei der
Wahl der Abgeordneten ($ 30 Abs. 2 der Verordnung) werden durch den Wahl-
kommissarius aus der Mitte der Wahlmänner ernannt.
Wr . Haben bei der ersten Abstimmung nur zwei Personen oder, wenn von
einer Wählerabteilung bei der Urwahl zwei Wahlmänner zu wählen sind, nur vier
Personen, und zwar lach viel Stimmen erhalten, so entscheidet das Los darüber,
wer gewählt ist (§§ 21, 23 § 30 Abs. 3, 4 der Verordnung).
$ 3. In Gemeinden, deren Zivilbevölkerung nach de letzten Volkszählung
mindestens 50 000 beträgt, findet die Abstimmung bei der Wahl der Wahlmänner
in einer nach Anfangs- und Endtermin festzusetzenden Abstimmungsfrist (Frist-
wahl) an Stelle der Abstimmung in gemeinschaftlicher Versammlung der Urwähler
zu bestimmter Stunde (Terminswahl) statt. Abteilungen, die 500 oder mehr
Wähler zählen, können in Abstimmungsgruppen geteilt werden ($$ 19, 21 der Ver-
ordnung). Abs. 2. Auf den An des (emeindevorstandes kann der Minister
des Innern anordnen, daß bei der Wahl der Wahlmänner die Abstimmung auch
in Gemeinden mit 50 000 oder mehr Einwohnern in der Form der Terminswahl oder
in I oean mit geringerer Einwohnerzahl in der Form der Fristwahl vorzu-
nehmen ist.
796 Nationalökonomische Gesetzgebung.
$ 4. Der Minister des Innern kann anordnen, daß in Wahlbezirken, in welchen
die Zahl der Wahlmänner 500 oder mehr beträgt, die Wahl der Abgeordneten in
Gruppen der Wahlmänner vorzunehmen ist, und dabei die Orte innerhalb des
Wahlbezirks bestimmen, an denen örtlich getrennte Gruppen der Wahlmänner zu
versammeln sind. An Stelle dieser Bestimmungen kann unter der gleichen Voraus-
setzung von dem Minister auch angeordnet werden, daß in dem Wahlbezirke die
Abstimmung bei der Wahl der Abgeordneten in der Form der Fristwahl stattfindet
($$ 27, 30 der Verordnung). Ab. 2. Ueber die Gültigkeit der Wahlmännerwahlen,
welche der Wahlkommissarius für ungültig erachtet hat, und über die Ausschließung
der Wahlmänner, deren Wahl für ungültig erkannt wird ($ 27 Abs. 1 der Ver-
ordnung), entscheidet, wo Gruppen der Wahlmänner gebildet sind, die Gruppe, zu
welcher der Wahlmann gehört, dessen Wahl beanstandet ist, wo Fristw statt-
findet, der Wahlvorstand mit Stimmenmehrheit. Bei Stimmengleichheit ist der
Wahlmann zur Wahl der Abgeordneten zuzulassen.
Artikel II. Der Verordnung vom 30. Mai 1849 tritt folgende Vorschrift hinzu:
$ 3la. Die Urwähler sind verpflichtet, das Ehrenamt des Wahlvorstehers,
des Protokollführers oder eines Beisitzers im Wahlvorstande bei der Wahl der
Wahlmänner, die Wahlmänner sind verpflichtet, das Ehrenamt des Protokollführers
oder eines Beisitzers im Wahlvorstande bei der Wahl der Abgeordneten zu über-
nehmen. Abs. 2. Zur Ablehnung ist berechtigt, wer das 65. Lebensjahr über-
schritten hat oder durch Krankheit, Abwesenheit in dringenden Privatgeschäften,
durch Dienstgeschäfte eines öffentlichen Amtes oder durch sonstige besondere Ver-
hältnisse, welche nach billigem Ermessen eine genügende Entschuldigung be-
gründen, an der Wahrnehmung der Obliegenheiten der im Abs. 1 bezeichneten Ehren-
ämter verhindert ist. Abs. 3. Wer die Uebernahme dieser Obliegenheiten ohne
zulässigen Grund ablehnt oder sich ihrer Wahrnehmung ohne ausreichende Ent-
schuldigung entzieht, kann mit einer Ordnungsstrafe bis zu 300 M. belegt
werden. Abs. 3. Wird nachträglich eine genügende Entschuldigung geltend gemacht,
so kann die verhängte Strafe ganz oder teilweise zurückgenommen werden. Abs. 4.
Die Festsetzung und die Zurücknahme der Strafe steht in Landkreisen dem Land-
rat, in Stadtkreisen dem Bürgermeister zu. Gegen seine Verfügung ist binnen
zwei Wochen nach der Zustellung Beschwerde an den Regierungspräsidenten und
gegen dessen Bescheid binnen gleicher Frist Beschwerde an den Oberpräsidenten
zulässig, welcher endgültig entscheidet.
Artikel III. Die näheren Bestimmungen zur Ausführung der vorstehenden
Vorschriften sind durch das Reglement ($ 32 der Verordnung) zu treffen.
Artikel IV. Bis zum Erlasse des Wahlgesetzes (Artikel 72 der Verfassungs-
urkunde) treten'!die Vorschriften des Artikels 115 der Verfassungsurkunde, insoweit
sie den Vorschriften dieses Gesetzes entgegenstehen, außer Kraft. Dieses Gesetz
tritt mit dem 1. Oktober 1906 in Kraft.
Gesetz, betr. die Abänderung des Artikels 26 und die Aufhebung
des Artikels 112 der Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Vom
10. Juli 1906, S. 333.
$ 1. Der Artikel 26 der Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850 erhält
folgende Fassung: Das Schul- und Unterrichtswesen ist durch Gesetz zu regeln.
Bis zu anderweiter gesetzlicher Regelung verbleibt es hinsichtlich des Schul- und
Unterrichtswesens bei dem geltenden Rechte.
$ 2. Der Artikel 112 der Verfassungsurkunde wird aufgehoben.
Gesetz, betr. die Unterhaltung der öffentlichen Volksschulen. Vom
28. Juli 1906, S. 335.
Erster Abschnitt. Träger der Schullast. § 1. Die Errichtung
und Unterhaltung der öffentlichen Volksschulen liegt vorbehaltlich der besonderen
Vorschriften dieses Gesetzes, insbesondere der darin geordneten Beteiligung des
Staates an der Aufbringung der Kosten, den bürgerlichen Gemeinden und selb-
ständigen Gutsbezirken ob. Abs. 2. Gemeinden (Gutsbezirke) bilden entweder
einen eigenen Schulverband oder werden behufs Unterhaltung einer oder mehrerer
Volksschulen zu einem gemeinsamen Schulverbande esse Rulverbande) vereinigt.
Abs. 3. Eine Gemeinde (Gutsbezirk) kann mehreren Gesamtschulverbänden ange-
hören. Sie kann, auch wenn sieeinen eigenen Schulverband bildet, zugleich einem
Nationalökonomische Gesetzgebung. 797
oder mehreren Gesamtschulverbänden angehören. Abs. 4. Gutsbezirke als Träger
der Schullasten sowie Gesamtschulverbände haben die Rechte der Körperschaften
des öffentlichen Rechtes.
§ 2. Jede Stadt bildet in der Regel einen eigenen Schulverband. Stadt-
gemeinden mit mehr als fünfundzwanzig Schulstellen können mit anderen Gemeinden
oder Gutsbezirken nur unter Zustimmung aller Beteiligten (Gemeinden, Gutsbe-
zirke) zu einem Gesamtschulverbande vereinigt werden.
$ 3. Ueber die Bildung, Aenderung und Auflösung der Gesamtschulverbände
beschließt bei Zustimmung der Beteiligten (Gemeinden Gutsbezirke) nach Anhörung
des Kreisausschusses, sofern eine Stadt beteiligt ist, des Bezirksausschusses, die
Schulaufsichtsbehörde. Bei Widerspruch von Beteiligten (Gemeinden, ei sen)
kann auf Antrag der Schulaufsichtsbehörde die Zustimmung durch Beschlu
des Kreisausschusses, sofern eine Stadt beteiligt ist, des Bezirksausschusses, ergänzt
werden. Abs. 2, Gegen den Beschluß des Kreisausschusses oder des Bezirksaus-
schusses steht der Schulaufsichtsbehörde und den Beteilgten binnen zwei Wochen
die Beschwerde an den Provinzialrat zu.
$ 4. Ueber die Vermögensauseinandersetzung, welche infolge der Bildung,
Aenderung oder Auflösung der Schulvorstände notwendig wird, beschließt die Schul-
aufsichtsbehörde. Gegen deren Beschluß steht den Beteiligten gegeneinander innerhalb
zwei Wochen die Klage im Verwaltungsstreitverfahren beim Bezirksausschusse zu.
85. Die Schulaufsichtsbehörde kann nach Anhörung der beteiligten Schul-
verbände Schulkinder eines Schulverbandes gastweise der Schule eines anderen zu-
weisen, sofern dieser dadurch nicht zur Beschaffung weiterer Schulräume oder zur
Vermehrung der Lehrkräfte genötigt wird.
In Abs. 2—6 folgen nähere Bestimmungen.
$ 6. Der Schulverband kann für den Besuch der Schule durch nicht ein-
heimische Kinder ein Fremdenschulgeld verlangen. Abs 2. Als einheimisch gelten
Kinder, welche reichsangehörig sind und im Schulverband oder im Gastschulbe-
zirke ($ 5) entweder an dem Wohnorte dessen, welchem die Sorge für die Person
des Kindes obliegt oder oblag, wohnen oder von Privatpersonen unentgeltlich in
Pflege und Kost genommen sind. Das Fremdenschulgeld darf den im Durch-
schnitte der drei letzten Rechnungsjahre auf jedes Schulkind entfallenden Betrag
der dem Schulverbande erwachsenen Schulunterhaltungskosten nicht übersteigen.
In Abs. 2—4 folgen nähere Bestimmungen.
Zweiter Abschnitt. Verteilung der Volksschullasten. Schul-
haushalt. Baufonds. Staatsleistungen.
§ 7. In den Gemeinden werden die Schullasten als Gemeindelast aufgebracht.
Abs. 2. Die Verpflichtung der nach § 40 Abs. 1 No. 1 und Abs. 3 sowie $ 41
des Kommunalabgabengesetzes vom 14. Juli 1893 von der Gemeindeeinkommensteuer
befreiten Personen, zu den Volksschullasten beizutragen, wird durch Gesetz geregelt.
§ 8. In den Gutsbezirken werden die Schullasten vom Gutsbesitzer getragen.
Abs. 2 und 3. Besondere Regelung, sofern der Gutsbezirk nicht ausschließlich im
Eigentum des Gutsbesitzers sich bejindet, und entsprechende Fülle.
$ 9. Verteilung der Schulunterhaltungslasten in Gesamtschulverbünden.
$ 10. Die Vorschriften des $53 des Kommunalabgabengesetzes vom 14. Juli
1893 finden, insoweit Mehrausgaben für Zwecke des öftentlichen Volksschulwesens
in Betracht kommen, zu Gunsten der Gutsbezirke entsprechende Anwendung.
$$ 11 und 12. Schulhaushalts- Etat.
$ 18. Kleine bauliche Reparaturen.
{ $ 14. Jeder Schulverband mit 25 oder weniger Schulstellen ist verpflichtet,
Jährlich 60 M. für die einzige oder erste, 50 M. für die zweite, 40 M. für die dritte
und je 30 M. für jede weitere Stelle des Schulverbandes zur Bestreitung der Kosten
von Volksschulbauten, welche nicht zu den laufenden kleineren Reparaturen gehören,
anzusammeln und verzinslich zu belegen. Abs. 2. Sind die im Abs. 1 gedachten
Baukosten ganz oder teilweise von Dritten zu decken, so sind die Schulverbände
zu der Ansammlung überhaupt nicht oder in entsprechend geringerer Höhe anzu-
halten. Die Schulaufsichtsbehörde entscheidet endgültig darüber, ob und inwieweit
hiernach von der Anforderung der Ansammlung Abstand zu nehmen ist. Abs. 3.
Die Schulaufsichtsbehörde ist befugt, auf Antrag eines Schulverbandes eine Aus-
setzung oder Minderung der Ansammlung zuzulassen.
Folgen nähere Bestimmungen.
798 Nationalökonomische Gesetzgebung.
$ 15. Belegung der angesammelten Mittel.
$ 16. Erhebung der angesammelten Beträge.
$ 17. Der Staat erstattet den Schulverbänden mit nicht mehr als sieben Schul-
stellen ein Drittel desjenigen Teilbetrages der durch notwendige Bauten für Volks-
schulzwecke Ausschließlich des Grunderwerbes entstandenen Kosten, welcher im
Etatsjahre 500 M. für die Stelle überstiegen hat und weder Dritten zur Last fällt,
noch auch durch Brandschadensversicherung gedeckt wird. Bei Berechnung des staat-
lichen Baubeitrages dürfen etwaige Naksraldienste nur bis zum Höchstwerte von
funfzehn vom Hundert der Gesamtsumme in Ansatz gebracht werden. Der staatliche
Baubeitrag wird nicht gezahlt, soweit der Aufwand für Bauten dadurch entstanden
ist, daß der Schulverband seine Gebäude seit Inkrafttreten des Gesetzes nicht mit
der gebotenen Sorgfalt unterhalten hat. Abs. 2. Bei Streitigkeiten über die Ver-
flichtung zur Zahlung des staatlichen Baubeitrages oder über seine Bemessung
schließt auf Anrufen der Beteiligten, zu denen in Gesamtschulverbänden auc
die einzelnen Gemeinden (Gutsbezirke) gehören, der Kreisausschuß, sofern eine Stadt
beteiligt ist, der Bezirksausschuß. Gegen den Beschluß des Kreisausschusses oder
des Bezirksausschusses steht den Beteiligten binnen zwei Wochen die Beschwerde an
den Provinzialrat zu. Abs. 3. Die Schulverbände haben, sofern die Kosten der
baulichen Herstellungen im Einzelfalle 2000 M. übersteigen, vor Beginn des Baues
einen Bauplan mit Kostenanschlag der Schulaufsichtsbehörde zur Genehmigung
vorzulegen. Diese ist befugt, einen staatlichen Baubeamten mit der Beaufsichtigung
des Baues zu betrauen.
§ 18. Im Falle des nachgewiesenen Unvermögens der Schulverbände zur Auf-
bringung der Volksschullasten werden ihnen in den Grenzen der durch den Staats-
haushalts-Etat bereitgestellten Mittel Ergänzungszuschüsse gewährt. Bei der Be
willigung kann angeordnet werden, daß die Zuschüsse zur besonderen Erleichterung
bestimmter Kreise von Abgabeppflichtigen zu verwenden sind. Abs. 2. Ein An-
spruch gegen den Staat kann weder im Rechtswege noch im Verwaltungsstreit-
verfahren geltend gemacht werden.
$ 19. Zur Unterstützung von Schulverbänden mit fünfundzwanzig oder weniger
Schulstellen, welche zur Aufbringung der Volksschullasten unvermögend sind, wird
durch den Staatshaushalts-Etat der Betrag bereitgestellt, welcher am 31. März 148
für diesen Zweck den Regierungen überwiesen ist. Der Unterrichtsminister, der
Finanzminister und der Minister des Innern bestimmen die auf die Provinzen und
die Hohenzollernschen Lande entfallenden Anteile nach Maßgabe der bisher über-
wiesenen widerruflichen Staatsbeihilfen. Abs. 2. Innerhalb der Provinzen erfolgt
die weitere Verteilung auf die Landkreise unter Berücksichtiung der bisher auf sie
entfallenden Beträge durch den Oberpräsidenten nach Anhörung des Provinzialrats,
in den Hohenzollernschen Landen durch den Unterrichtsminister nach Anhörung
des Bezirksausschusses.
§ 20. Außerdem werden für Schulverbände mit fünfundzwanzig oder weniger
Schulstellen, welche zur Aufbringung der Volksschullasten unvermögend sind, zum
Zwecke der Ausgleichung unbilliker Verschiäungen in der Aufbringung der Volks-
schullasten, welche infolge dieses Gesetzes entstehen, sowie sonstiger unbilliger Un-
gleichheiten in der Höhe der Volksschullasten durch den Staatshaushalts-Etat all-
jährlich 5 000 000 M. bereitgestellt und auf die Provinzen (Hohenzollernschen Lande)
und Landkreise auf dem im $ 19 bezeichneten Wege verteilt.
$ 21. Dem Unterstützungsfonds der einzelnen Kreise wachsen die Ergänzungs-
zuschüsse zu, welche aus Zentralfonds Schulverbänden des Kreises mit fünfund-
zwanzig oder weniger Schulstellen zur Errichtung neuer Schulstellen laufend be-
willigt werden. Abs. 2. Im übrigen ändern sich, abgesehen vom Falle des F 22,
die den Kreisen überwiesenen Beträge nur 1) bei dem Uebertritt eines Schulver-
bandes mit fünfundzwanzig oder weniger Schulstellen in die Reihe derjenigen mit
mehr als fünfundzwanzig Schulstellen; 2) bei dem umgekehrten Vorgange; 3) in-
folge von Umgemeindungen und Veränderungen der Landkreise mit derselben
Wirkung. Abs. 3. Im ersten Falle geht vom Anfange des nächsten Etatsjahres
der dem Schulverbande bewilligte Ergänzungszuschuß auf den Zentralfonds zur
Unterstützung von Schulverbänden mit mehr als fünfundzwanzig Schulstellen über,
im zweiten wächst von demselben Zeitpunkt ab der der Gemeinde etwa aus dem
Zentralfonds bewilligte Ergänzungszuschuß dem Unterstützungsfonds des Kreises
zu. Im Falle der No. 3 finden diese Bestimmungen sinng Anwendung.
Nationalökonomische Gesetzgebung. 799
§ 22. Behufs Gewährung widerruflicher Ergänzungszuschüsse an unvermögende
Schulverbände mit fünfundzwanzig oder weniger Schulstellen wird für jeden Kreis
eine Summe in Höhe der Hälfte der von seinen Schulverbänden gemäß $ 14 an-
zusammelnden Beträge aus Staatsmitteln bereitgestellt.
$ 23. Für die Unterverteilung der Staatsmittel ($$ 19, 20, 21, 22) auf die
Schulverbände ist vom Kreisausschusse nach Anhörung des Kreisschulinspektors
für je fünf Jahre ein Verteilungsplan aufzustellen, der der Feststellung durch die
Schulaufsichtsbehörde bedarf. Die Feststellung tritt in Kraft, wenn nicht inner-
halb vier Wochen von dem Kreisausschusse dagegen Beschwerde bei dem Unter-
richtsminister erhoben ist. Dieser entscheidet endgültig. Abs. 2. Die den einzelnen
Schulverbänden bewilligten Ergänzungszuschüsse können durch den Kreisausschuß
während der Bewilligungszeit nur gekürzt werden wegen Aufhebung oder Verände-
rung des Schulverbandes, wegen Aufhebung einer Schulstelle, wegen gänzlichen
oder teilweisen Fortfalls der Verpflichtung zur Ansammlung eines Baufonds. ($ 14).
Abs. 2. Der Beschluß des Kreisausschusses bedarf der Genehmigung der Schul-
aufsichtsbehörde. Gegen ihn steht den Beteiligten binnen zwei Wochen die Be-
schwerde an den Provinzialrat zu. Abs. 3. In dem Verteilungsplan ist ein an-
emessener Betrag, mindestens fünf vom Hundert, zur Gewährung einmaliger
rgänzungszuschüsse vorzusehen. Dem Betrage wachsen die heimgefallenen Er-
gänzungszuschüsse zu. Die Bewilligung erfolgt durch den Kreisausschuß mit Ge-
nehmigung der Schulaufsichtsbehörde Gegen die Versagung der Genehmigung
steht dem Kreisausschuß innerhalb vier Wochen die Beschwerde an den Unter-
richtsminister zu. Wird die Beschwerde abgelehnt, so wird nach dem Beschlusse
der Schulaufsichtsbehörde verfahren.
Dritter Abschnitt. Schulvermögen. Leistungen Dritter.
$ 24. Die besonderen Schulgemeinden (Sozietäten) sowie diejenigen Schulen,
welche bisher als selbständige Rechtssubjekte Träger der Volksschullasten waren,
werden, unbeschadet des Fortbestehens dieser Schulen als Lehranstalten, aufgehoben.
Abs. 2. Das Vermögen einer aufgehobenen Schulgemeinde (Schule) geht als Ganzes
auf den Schulverband (§ 1, Abs. 2) über. Abs. 3. Hat der Bezirk der aufgehobenen
Schulgemeinde (Schule) sich über den Bereich mehrerer Schulverbände erstreckt,
so treten die mehreren Verbände als Rechtsnachfolger ein. Ueber die Auseinander-
setzung zwischen den beteiligten Schulverbänden beschließt die Schulaufsichts-
behörde. Die Vorschriften des $ 4 finden Anwendung.
§ 25. Ueber das auf den Schulverband übergegangene Vermögen ist ein
genaues Verzeichnis (Matrikel) aufzustellen. Das Vermögen bleibt den allgemeinen
oder stiftungsmäßig besonderen Zwecken derjenigen öffentlichen Volksschule er-
halten, für welche es bestimmt war.
Folgen Bestimmungen, betreffend Verfügungen über dieses Vermögen.
$ 28. Die selbständigen Schulstiftungen mit Einschluß der unter die Ver-
waltung Dritter, insbesondere kirchlicher Organe gestellten Stiftungen bleiben als
solche stehen: ihr Vermögen und die sonstigen zu Schulzwecken bestimmten
Vermögensstücke, welche im Eigentume von Dritten, insbesondere kirchlichen Be-
teiligten stehen, bleiben ihren Zwecken erhalten.
$ 29. Unberührt bleiben die Rechte Dritter, insbesondere der Kirchenge-
meinden und sonstigen kirchlichen Beteiligten avn den den Schulzwecken gewidmeten
oder gleichzeitig Schul- und kirchlichen Zwecken dienenden Vermögensstücken.
Abs. 5 Das gemeinschaftlich zu Schul- und anderen Zwecken dauernd gewidmete,
den bisher Unterhaltungspflichtigen oder der Schule selbst mitgehörige Vermögen
bleibt nach Maßgabe des bisherigen Verhältnisses ein gemeinschattliches Vermögen.
Als Teilnehmer Sarai treten an Stelle der bisher Unterhaltungspflichtigen oder der
Schule selbst die Schulverbände. Abs. 3.
§ 30. Wo mit dem Volksschulamt ein kirchliches Amt dauernd vereinigt
ist, tritt der Schulverband kraft des Gesetzes an die Stelle des bisherigen Trägers
der Schullast; die Vorschriften des $ 26 finden sinngemäß Anwendung. Abs. 2.
Die Vermögensstücke, welche schon seither zugleich für Schul- und für kirchliche
Zwecke bestimmt gewesen sind, bleiben diesen Zwecken erhalten. Abs. 3. Hin-
sichtlich der Leistungen der kirchlichen Beteiligten behält es bei den bestehenden
Vorschriften über den Bau und die Unterhaltung der Gebäude und Nebenanlagen
sein Bewenden. Abs. 4. Die von den Kirchengemeinden und sonstigen kirchlichen
Beteiligten für das vereinigte Amt nach Gesetz, Provinzial-, Bezirksrecht, Her-
800 Nationalökonomische Gesetzgebung.
kommen oder Ortsverfassung zu erfüllenden Verpflichtungen werden durch dieses
Gesetz nicht berührt. Abs. 5 bis ?.
$ 31. Soweit eine anderweite Ordnung der Verhältnisse der ganz oder teil-
weise Schulunterhaltungszwecken gewidmeten nichtstaatlichen Fonds, welche nicht
unter $ 28 fallen und nicht für eine besondere Schule bestimmt sind, durch dieses
Gesetz erforderlich wird, erfolgt sie mit Rücksicht auf die bisherige Zweckbestim-
mung mit Königlicher Genehmigung durch den Unterrichtsminister und den Finanz-
minister. Soweit an diesen Fonds kirchliche Rechte bestehen, ist vor Erwirkung
der Königlichen Genehmigung die kirchliche Oberbehörde zu hören. Abs. 2.
N 32. Die bisher auf allgemeiner Rechtsnorm (Gesetz, Provinzialrecht, Orts-
oder Schulverfassung, Gewohnheitsrecht oder Herkommen) beruhenden Verptlich-
tungen für die Zwecke der Volksschule kommen, soweit sie nicht durch dieses
Gesetz aufrecht erhalten werden, in Fortfall. Dies gilt auch von den laufenden
Verpflichtungen, welche die nach allgemeiner Rechtsnorm für Schulzwecke Ver-
pflichteten mit Rücksicht auf diese Verpflichtung über das durch die Norm ge-
gebene Maß hinaus freiwillig übernommen haben. Abs. 2. Dagegen bleiben die
auf besonderen Rechtstiteln beruhenden Verpflichtungen Dritter fur die Zwecke
der Volksschule bestehen. Abs. 3. Soweit die Verpflichtungen des Fiskus nicht
auf einem guts- oder grundherrlichen oder Domanialverhältnisse beruhen, gilt die
Vermutung, daß sie auf besonderen Titeln (Abs. 2) beruhen. Abs. 4 und 5.
Vierter Abschnitt. Konfessionelle Verhältnisse.
Fünfter Abschnitt. Verwaltung der Volksschulangelegen-
heiten und Lehreranstellung.
1. Stadtgemeinden.
$ 43. Den Gemeindeorganen bleibt nach den Bestimmungen der Gemeinde-
verfassungsgesetze und dieses Gesetzes die Feststellung des Schulhaushalts, die Be-
willigung der für die Schule erforderlichen Mittel, die Verwaltung des Schulver-
mögens, die vermögensrechtliche Vertretung nach außen und die Anstellung der
Beamten vorbehalten. Abs. 2. Im übrigen wird für die Verwaltung der der Ge-
meinde zustehenden Angelegenheiten der Volksschule eine Stadtschuldeputation ge-
bildet, welche Organ des Gemeindevorstandes und als solches verpflichtet ist, seinen
Anordnungen Folge zu leisten. Abs. 3. Die Schuldeputation übt zugleich die nach
dem Gesetze vom 11. März 1872 den Gemeinden und deren Organen vorbehaltene
Teilnahme an der Schulaufsicht aus. Sie handelt dabei als Organ der Schulauf-
sichtsbehörde und ist verpflichtet, insoweit ihren Anordnungen Folge zu leisten.
$ 45. Durch einen Gemeindebeschluß, welcher der Genehmigung der Schul-
aufsichtsbehörde bedarf, können als Organe der Schuldeputation für eine oder
mehrere Volksschulen Schulkommissionen eingesetzt werden, welche die besonderen
Interessen dieser Schulen wahrzunehmen, in Ausübung der Schulpflege die Ver-
bindung zwischen Schule und Eltern zu fördern haben und berechtigt sind, An-
träge an die Schuldeputation zu stellen, auch verpflichtet sind, deren Aufträge
auszuführen. Abs. 2 bis 5.
2. Landgemeinden und Gutsbezirke.
$ 46. Die Feststellung des Schulhaushalts, die Bewilligung der für die Schule
erforderlichen Mittel, die Rechnungsentlastung und die vermögensrechtliche Ver-
tretung nach außen erfolgt in Landgemeinden, welche einen eigenen Schulverband
bilden, durch deren veriassungsmäßige Organe nach Maßgabe der Landgemeinde-
ordnungen, in Gutsbezirken, die einen eigenen Schulverband bilden, durch den
Gutsvorsteher, im Falle des $ 8 Abs. 2 durch eine zu diesem Zwecke zu bildende
Gutsvertretung. Abs. 2 und 8.
$ 47. In Landgemeinden, welche einen eigenen Schulverband bilden, ist für
die Verwaltung der der Gemeinde zustehenden Angelegenheiten der Volksschulen aus-
schließlich der im $ 46 Abs. 1 bezeichneten ein Schulvorstand einzusetzen. Abs. 2 f.
3. Gesamtschulverbände.
$ 19. Die Verwaltung der im § 43 Abs. 1 und 2 und $ 47 Abs. 2 bezeich-
neten Angelegenheiten erfolgt in Gesamtschulverbänden durch den Schulvorstand
und den Verbandsvorsteher. Letzterer ist die ausführende Behörde.
` 850. Der Schulvorstand besteht aus Vertretern der zum Schulverbande ge-
hörigen Gemeinden und Gutsbezirke. Jede Gemeinde und jeder Gutsbezirk sind
wenigstens durch einen Abgeordneten zu vertreten. Die Gesamtzahl der Vertreter
muß mindestens 3 betragen. Abs. 2 Satz 1. Das Verhältnis, in welchem die zum
Nationalökonomische Gesetzgebung. 801
Schulverbande gehörigen Gemeinden und Gutsbezirke im Schulvorstande zu ver-
treten sind, and das den Vertretern beizulegende Stimmrecht bemißt sich nach
dem Gesamtbetrage der von den Gemeinden und Gutsbezirken für die Verbindlich-
keiten des Schulverbandes zu entrichtenden Abgaben.
§ 51 Abs. 1 Satz 1. Der Verbandsvorsteher sowie ein Stellvertreter für ihn
werden von der Schulaufsichtsbehörde aus der Zahl der Mitglieder des Schulvor-
standes ernannt.
4. Gemeinsame Bestimmungen (Lehrerberufung).
$ 58. Bis zum Erlaß eines allgemeinen Gesetzes über die Lehreranstellung
finden die folgenden Vorschriften (§§ 58 bis 62) Anwendung: Abs. 2. Die Rek-
toren, Hauptlehrer, Lehrer und Lehrerinnen an den öffentlichen Volksschulen
werden von der Schulaufsichtsbehörde unter der durch dieses Gesetz geordneten
Beteiligung der Schulverbände aus der Zahl der Befähigten angestellt.
F 59. Die Lehrer und Lehrerinnen an den öffentlichen Volksschulen werden
von der Gemeindebehörde aus der Zahl der Befähigten innerhalb einer von der
Schulaufsichtsbehörde zu bestimmenden Frist gewählt; jedoch erfolgt in Schulver-
bänden mit 25 oder weniger Schulstellen die Wahl aus 3 von der Schulaufsichts-
behörde als befähigt Bezeichneten. Abs. 2. Abs. 3. Die Gewählten bedürfen der
Bestätigung der Schulaufsichtsbehörde und werden von ihr unter Ausfertigung der
Ernennungsurkunde für den Schulverband angestellt. Die Bestätigung darf nur
aus erheblichen Gründen versagt werden. Abs. 4. Versagt die Schulaufsichts-
behörde die Bestätigung, so fordert sie unter Mitteilung hiervon zu einer ander-
weitigen Wahl binnen einer von ihr zu bestimmenden Frist auf. Abs. 5. Das
Wahlrecht erlischt für den betreffenden Fall, wenn die Fristen nicht innegehalten
werden, oder wenn die Schulaufsichtsbehörde zum zweiten Male die Bestätigun
des Gewählten versagt. Die Anstellung erfolgt in diesem Falle unmittelbar durc
die Schulaufsichtsbehörde für den Schulverband.
60. In Stellen, deren Inhabern Leitungsbefugnisse zustehen (Rektoren,
Hauptlehrern u. s. w.), sind solche Lehrer zu berufen, welche den besonderen, auf
Gesetz oder rechtsgültigen Verwaltungsanordnungen beruhenden Voraussetzungen
entsprechen. Hierbei hat eine angemessene Berücksichtigung auch der im Schul-
dienst außerhalb des Schulverbandes angestellten und bewährten Lehrpersonen,
insbesondere von Hauptlehrern und Präparandenlehrern zu erfolgen.
Die Besetzung dieser Stellen erfolgt durch die Schulaufsichtsbehörde nach An-
hörung der das Wahlrecht ausübenden Organe.
§ 61. In den einen eigenen Schulverband bildenden Gemeinden, in welchen
bisher die bürgerliche Gemeinde Trägerin der Schullast gewesen ist, und die Ge-
meindeorgane ein Recht auf weitergehende Mitwirkung bei der Berufung der Lehr-
kräfte besessen oder eine solche weitergehende Mitwirkung bei der Berufung aus-
geübt haben, bewendet es hierbei.
Folgen entsprechende Bestimmungen für die Gutsbezirke.
Sechster Abschnitt. Schluß- und Uebergangsvorschriften.
$ 63. Alle diesem Gesetze entgegenstehenden Bestimmungen treten außer
Kraft, mögen sie in allgemeinen Gesetzen, in Provinzialrechten, Bezirks-, Orts-
oder Schulverfassung, Herkommen, Gewohnheitsrecht oder in allgemeinen auf Grund
der Gesetze getroffenen Anordnungen beruhen. Auch werden alle bisherigen Rechte
zur Ernennung, Anstellung, Berufung, Wahl oder Präsentation von Lehrern und
Lehrerinnen an öffentlichen Volksschulen, soweit sie mit diesem Gesetz in Wider-
spruch stehen, aufgehoben, ohne Unterschied, ob sie auf Gesetz, Gewohnheitsrecht,
erkommen oder auf besonderen Rechtstiteln beruhen.
865 Abs. 1. Soweit in diesem Gesetz nichts anderes bestimmt ist, bleiben
die der Schulaufsichtsbehörde und den Schulverbänden nach dem bisherigen Rechte
zustehenden Befugnisse unberührt. Abs. 2.
Gesetz über die Befähigung zum höheren Verwaltungsdienst. Vom
10. August 1906. S. 378.
(Fortsetzung folgt).
Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII). 51
802 Miszellen.
Miszellen.
XVI.
Zur Versicherung der Privatbeamten.
Von Dr. Moritz Wagner, Berlin.
Von den Ergebnissen der letzten Berufszählungen sowohl in
Deutschland als auch in den Hauptkulturstaaten ist wohl das wichtigste
und auffälligste die Bewegung der großen Berufsgruppe der Privat-
beamten. Hatte sich die Zahl der selbständigen Personen von der Be-
rufszählung des Jahres 1882 bis zu derjenigen des Jahres 1895 nur
um 1,3 Proz, und die Zahl der Arbeiter um 62,6 Proz. vermehrt, so
stieg die Zahl der Privatbeamten in dem gleichen Zeitraum um rund
119 Proz. Man geht nicht fehl, wenn man annimmt, daß die nächste
Berufszählung zu dem Ergebnis kommen wird, daß die Zahl von einer
Million, welche die letzte Berufszählung aufwies, weit überschritten,
wenn nicht gar mehr als verdoppelt sein wird. An und für sich ist
diese starke Vermehrung vom Standpunkte des Volkswohls aus sehr zu
begrüßen. Indessen hat sie Begleiterscheinungen gezeitigt, die jedem
Volkswirt bedenklich erscheinen müssen. War es vor einigen Jahr-
zehnten einem erheblichen Teil der Privatbeamten noch möglich, nach
geraumer Zeit in eine selbständige Stellung einzurücken, so hat es die
wachsende Konzentrationsbewegung auf allen Gebieten der Industrie,
des Handels und des Verkehrs mit sich gebracht, daß den meisten
Privatbeamten der Weg in eine selbständige Stellung verschlossen ist.
Schon von vornherein muß daher die große Masse der Privatbeamten
damit rechnen, für ihr ganzes Leben in abhängiger unselbständiger
Stellung zu bleiben.
Hinzu kommt, daß der Stand der Privatbeamten vielleicht noch
mehr als der der Arbeiter unter unsicheren Einkommens- und Arbeits-
verhältnissen leidet. Die Berufszählung vom 14. Juni 1895 und die
Volkszählung vom 2. Dezember 1895 für Deutschland hat ergeben, daß
arbeitslose Angestellte vorhanden waren:
im Juni im Dezember
überhaupt 16 381 25 237
davon wegen Krankheit 4 288 6 196
andere 12 093 19 041
Man kann es daher begreiflich finden, wenn das Streben der Privat-
beamten darauf gerichtet ist, eine möglichst sichere Berufsstellung zu
Miszellen. 803
erringen. Leider steht diesem Streben eine unsichere und ungleich-
mäßige Behandlung der Privatbeamten durch das Gesetz im Wege.
Wiederholt ist daher angeregt worden, die Dienst- und Anstellungsver-
hältnisse, die Gehaltszahlung in Krankheitsfällen, die Konkurrenzklausel
sowie die Beschreitung des Rechtsweges möglichst einheitlich für die
Privatangestellten zu regeln. Zu diesen Forderungen kommt noch die
außerordentlich wichtige, die Privatbeamten einer staatlichen Versiche-
rung zu unterstellen, die gerade in den letzten Jahren und gegenwärtig
von den Organisationen der Privatbeamten eifrig propagiert wird. Es
soll nicht geleugnet werden, daß große industrielle Unternehmungen,
Bankinstitute, Genossenschaften etc. in recht ausgiebiger und aner-
kennenswerter Weise für ihre Privatangestellten und deren Hinter-
bliebene im Falle der Erwerbsunfähigkeit und des Alters gesorgt haben.
Die Segnungen der sozialpolitischen Gesetzgebung Deutschlands haben
auch nach dieser Richtung hin dafür gesorgt, das „soziale Gewissen“
der Unternehmer zu schärfen. Indessen ist man sich in den beteiligten
Kreisen darüber klar, daß, wenn eine derartige Versorgung die volle
Zufriedenheit der Privatangestellten erlangen soll, diese sich auf keiner-
lei Abhängigkeitsverhältnissen aufbauen darf. So erheben beispiels-
weise die Bankbeamten seit Jahren die Forderung nach Schaffung
einer allgemeinen neutralen Pensionskasse für alle Bankbeamten. Und
wenn man sich schließlich auch auf den Standpunkt stellt, es sei ganz
einerlei, ob die Versorgung auf Grund von Abhängigkeitsverhältnissen
erreicht werde oder nicht, so bleibt doch noch immer der wesentliche
Mißstand, daß die kleineren Unternehmungen, namentlich die kleineren
Geschäfte, die nur wenige Privatangestellte beschäftigen, gar nicht gewillt
und fähig sind, eine ausreichende Versorgung derselben zu schaffen.
Aus dieser Erkenntnis heraus hat Oesterreich sich zuerst von
allen Kulturstaaten entschlossen, den Weg einer staatlichen Pensions-
und Reliktenversorgung zu beschreiten.
Der österreichische Regierungsentwurf zur Versicherung
der Privatbeamten hat ein wechselvolles Schicksal durchgemacht.
Der im Jahre 1901 eingebrachte Entwurf begegnete sowohl auf seiten
der Arbeitgeber als auf seiten der Privatbeamten den allerschärfsten
Angriffen. Es setzte auf beiden Seiten eine äußerst rege Agitation ein,
die sich mit allen Mitteln bemühte, den Entwurf nicht zum Gesetz
werden zu lassen. Einen Hauptangriffspunkt bildete das Fehlen spe-
zialisierter Vorschriften über die Gehaltsklassen. Es waren nämlich
nur 3 Gehaltsklassen vorgesehen, die naturgemäß eine auch nur 3-fache
Abstufung der Renten mit sich brachten. Außerdem rückte der Ent-
wurf die Altersrente an die erste Stelle. Die Arbeitgeber machten
Front gegen das Beitragssystem, das ein kombiniertes Prämien- und
Umlageverfahren darstellte. Selbst die in dem Entwurf vorgesehene
Versicherung gegen Stellenlosigkeit fand nicht einmal prinzipiell auf
seiten der Privatbeamten Anerkennung. Der im sozialpolitischen Ausschuß
des Parlaments nach den verschiedensten Richtungen hin abgeänderte
Entwurf fand keine Billigung, weshalb ein zweiter Entwurf ausgearbeitet
wurde, der nach mancherlei im Herrenhaus angenommenen Abänderungen
51*
804 Miszellen.
schließlich die Billigung des Abgeordnetenhauses bis auf einige un-
wesentliche Bestimmungen fand. Allein es bedurfte noch einer ziem-
lich aufregenden 5-jährigen parlamentarischen Tätigkeit, um den ge-
meinsamen Entwurf der beiden gesetzgebenden Faktoren zum Gesetz
werden zu lassen.
Da Oesterreich mit diesem Gesetz in ein ganz neues Stadium der
sozialpolitischen Gesetzgebung eintritt, indem hier zum erstenmal mit
dem Prinzip gebrochen wird, daß nur „Arbeiter“ im eigentlichen Sinne
des Wortes einer öffentlichrechtlichen Versicherung unterstellt werden
sollen, so dürfte es sich empfehlen, an dieser Stelle die wesentlichsten
Grundzüge des Gesetzes näher zu erörtern.
Der Kreis der versicherungspflichtigen Personen er-
streckt sich auf alle vom vollendeten 18. Lebensjahre in privaten
Diensten Angestellte, für deren Entlohnung ein Monats- oder Jahres-
gehalt üblich ist und deren Bezüge (einschließlich der Naturalbezüge
u. s. w.) bei einem und demselben Dienstgeber mindestens 600 K. jähr-
lich erreichen, ferner auf solche in öffentlichen Diensten Angestellte,
sofern sie keine normalmäßigen Ansprüche auf Pensionen für sich und
ihre Hinterbliebenen besitzen. Als Angestellte gelten alle Bediensteten
mit Beamtencharakter sowie überhaupt alle jene bediensteten Personen,
welche ausschließlich oder vorwiegend geistige Dienstleistungen zu ver-
richten haben. Der Versicherungspflicht unterliegen nicht Personen,
welche erst nach Vollendung des 55. Lebensjahres eine die Versiche-
rungspflicht begründende Anstellung erhalten oder beim Inkrafttreten
des Gesetzes das 55. Lebensjahr überschritten haben oder sich bereits
im Genusse einer Invaliditäts- und Altersrente (Pension, Provision u.s. w.)
in der Mindesthöhe der vom Gesetze vorgesehenen niedrigsten Renten-
leistungen befinden oder dauernd außerhalb Oesterreichs beschäftigt
oder endlich bei einer öffentlichen Eisenbahn angestellt sind. Als An-
gestellte gelten nicht jene Bediensteten: a) welche unmittelbar bei der
Warenerzeugung und sonstigen vorwiegend physischen Arbeitsverrich-
tungen als gewerbliche (im weiteren Sinne), bergbauliche, land- und
forstwirschaftliche Arbeiter, bezw. Lehrlinge und Diener verwendet
werden; b) auf welche die Gesindeordnungen Anwendung finden oder
welche ausschließlich oder doch vorwiegend Gesindedienste verrichten.
Weiterhin soll das Gesetz keine Anwendung finden auf Personen der
vorher näher bezeichneten Art: 1) männlichen bezw. weiblichen Ge-
schlechts, die bei Inkrafttreten des Gesetzes oder später beim Antritt
einer die Versicherungspflicht begründenden Anstellung das 50. bezw.
40. Lebensjahr vollendet haben; 2) solche, die auf Grund einer früheren
Dienstleistung sich bereits im Genusse einer den Anforderungen des
Gesetzes entsprechenden Invaliditäts- und Altersrente befinden; 3) die
dauernd außerhalb des Geltungsgebietes des Gesetzes beschäftigt werden.
Für die Eisenbahnbediensteten sollen im Verordnungswege
durch das zuständige Ministerium Vorschriften erlassen werden. Für
die Angestellten im Bergbau werden mit Rücksicht auf die eigen-
tümliche Entwickelung des Unterstützungswesens in diesem Berufe be-
sondere Bestimmungen getroffen.
Als Ersatzinstitute sollen gelten private Versicherungsinstitute,
Miszellen. 805
Pensionsinstitute, Pensions- und Provisionskassen, registrierte Hilfs-
kassen u. dergl. unter folgenden Voraussetzungen: 1) Die dem Ver-
sicherten und ihren Hinterbliebenen zugesicherten Ansprüche müssen
im Durchschnitt den gesetzlichen Mindestleistungen gleichkommen; die
Beiträge der Versicherten dürfen jene des Dienstgebers und die Lei-
stungen der Angestellten nur dann und nur in jenem angemessenen Ver-
hältnis übersteigen, als die Leistungen höher sind als jene des Gesetzes;
2) für den Fall des Uebertrittes eines versicherungspflichtigen Mitgliedes
zu der Pensionsanstalt oder einem anderen Ersatzinstitute muß dieser
ein Betrag überwiesen werden, welcher der Prämienreserve gleich-
kommt, welche für diese Person im Falle ihrer Versicherung bei der
Pensionsanstalt anzusammeln gewesen wäre; 3) die Errichtung des In-
stitutes muß den versicherungstechnischen Grundsätzen entsprechen,
und es müssen noch weitere Garantien gegeben sein, die in dem Gesetz
aufgeführt sind. Damit hat das Gesetz der Tatsache Rechnung getragen,
daß, wie sich aus den statistischen Erhebungen ergab, für einen großen
Teil der Privatbeamten bereits Pensionskassen etc. bestanden, die deren
Beifall gefunden hatten und deren Beseitigung von den Privatbeamten
als ein großer Nachteil emptunden worden wäre. Die deutsche Arbeiter-
versicherungs - Gesetzgebung schließt eine derartige Versicherung bei
einem Ersatzinstitute vollständig aus. Indessen wird gerade bei der
Privatbeamtenversicherung auch der deutsche Gesetzgeber nicht umhin
können, die weitgehende Fürsorge der deutschen Arbeitgeber für ihre
Privatbeamten für die Zukunft illusorisch zu machen, worauf ich unten
noch näher zurückzukommen gedenke. Andererseits wird zu be-
rücksichtigen sein, was in der österreichischen Erhebung speziell her-
vorgehoben wird, „daß durch diese Versicherungen in der überwiegen-
den Mehrzahl der Fälle eine dauernde und ausreichende Versorgung
der Angestellten und ihrer Angehörigen nicht herbeigeführt wird. Für
die Witwen- und Waisenversorgung kommt nämlich nur die Kapital-
versicherung in Betracht, die Höhe des versicherten Kapitals ist aber
meist so gering, daß dasselbe bei Ermangelung sonstiger Einkünfte in
wenigen Jahren aufgebraucht wird, und somit höchstens über die mo-
mentane Notlage nach dem Ableben des Familienvaters bis zu der
etwaigen Aufschließung neuer Einnahmequellen hinweghilft, nicht aber
eine dauernde Versorgung sichert; allerdings wird die Aufschließung
neuer Einnahmequellen (Errichtung eines Geschäfts durch die Witwe,
Vollendung der Erziehung der Kinder bis zu deren Erwerbsfähigkeit
und ähnliches) in vielen Fällen erst durch die Auszahlung des ver-
sicherten Kapitals an die Hinterbliebenen ermöglicht oder zum minde-
sten sehr erleichtert. Aehnliches gilt von den zu Gunsten der Ange-
stellten versicherten Kapitalien auf den Erlebensfall 1)“.
Was die Leistungen angeht, so sieht das Gesetz vor: Invalidi-
tätsrenten, Altersrenten, Witwen- und Waisenrenten (Erziehungsbei-
träge).
Die Erlangung des Anspruchs auf eine Invaliditäts- und Witwen-
1) Vergl. Erhebungen über die Standesverhältnisse der Privatangestellten. (I. u.
II. Teil, Wien 1898.)
806 Miszellen.
rente oder auf Erziehungsbeiträge ist an die Zurücklegung einer
Wartezeit von 120 Beitragsmonaten geknüpft. Von dem Ablauf der
Wartezeit wird nur abgesehen, wenn die Erwerbsunfähigkeit oder Tod
des Versicherten infolge eines in Ausübung des Dienstes erlittenen, mit
dem Dienste in Zusammenhang stehenden Unfalles eintritt.
Das Gesetz sieht 6 Gehaltsklassen vor:
I. Gehaltsklasse mit Jahresbezügen von 600 bis 900 K
II. i n j „ mehr als 900 , 1200 „
III. ” ”» ” ”» ” n 1200 ” 1800 ”
IV. n ’ » ” n n 1800 ” 2400 ”
V. ” » ” n» n » 2400 »” 3000 n”
VI. n n» n » EAJ »”» 3000 K
Die Invaliditätsrente setzt sich zusammen aus einem Grund-
betrage und einem Steigerungsbetrage. Ersterer wird bestimmt von der
Gehaltsklasse, welcher der Versicherte im Zeitpunkte des Ablaufes der
Wartezeit bezw. des erlittenen Unfalles angehörte und beträgt je nach
der Gehaltsklasse 180, 270, 360, 540, 720 und 900 K pro Jahr. Auch
der Steigerungsbetrag entspricht nach Ablauf der Wartezeit der betref-
fenden Gehaltsklasse und beträgt 9, 13,50, 18, 27, 36 und 45 K. Da-
bei wird als erwerbsunfähig derjenige angesehen, der infolge eines
körperlichen oder geistigen Gebrechens seinen bisherigen Berufs-
pflichten nicht mehr nachzukommen vermag.
Bezüglich der Altersrente bestimmt das Gesetz, daß die In-
validitätsrente nach Ablauf von 480 Beitragsmonaten als Altersrente
auch ohne Nachweis der eingetretenen Erwerbsunfähigkeit bezogen
werden kann. Allerdings kann der Versicherte den Bezug der Alters-
rente nach seinem Belieben aufschieben und erhält einen höheren Be-
trag, der dem versicherungstechnisch ermittelten Zuwachs der Prämien-
reserve entspricht. Leuckfeld bemerkt hierzu sehr richtig: „Vor-
läufig wird zwar, solange der Eintritt in die Versicherung meist erst
in höheren Altern erfolgt, der Ablauf der 480 Beitragsmonate erst in
recht hohem Alter erreicht werden, aber es wird doch später, wenn die-
jenigen in den Genuß von Altersrenten kommen, die jetzt mit 18 Jahren
in die Versicherung eintreten und infolge der mit dem Gesetz bezweckten
größeren Stabilität in den privaten Dienstverhältnissen ohne besondere
Unterbrechungen ihre 40 Dienstjahre zurücklegen, der eigene Fall ein-
treten, daß die dann 58—60-jährigen Angestellten sich ohne Nachweis
einer Erwerbsunfähigkeit pensionieren lassen können und gleichzeitig
eine andere, ihren noch bei weitem nicht verbrauchten Kräften ent-
sprechende neue Beschäftigung gegen verhältnismäßig geringes Entgelt
übernehmen können, wodurch sie nicht nur sich selbst in den Bezug
eines höheren Einkommens, als sie früher hatten, setzen können, sondern
ganz besonders infolge davon, daß sie die ihnen noch zur Verfügung
stehende Kraft verhältnismäßig billig anbieten können, dem Nachwuchs
empfindliche Konkurrenz bereiten werden“ 1).
Die Witwenrente stellt sich auf die Hälfte der von dem ver-
1) Vergl. Zeitschr. f. Versicherungswissensch., 1906, Heft 1, S. 41.
Miszellen. 807
storbenen Ehegatten bezogenen Rente bezw. der von ihm zur Zeit des
Ablebens erworbenen Anwartschaft auf eine solche.
Der Erziehungsbeitrag war in dem Regierungsentwurf auf
10 Proz. für jedes Kind, für jede Doppelwaise auf 20 Proz. der be-
zogenen oder zu beanspruchenden Invaliditätsrente festgesetzt. Nunmehr
beträgt sie 25 Proz. resp. 50 Proz. des nach 120 Beitragsmonaten er-
worbenen Pensionsanspruches des verstorbenen oder versicherten Eltern-
teils. Die für den Bezug der Erziehungsbeiträge für mehrere Kinder
vorgeschlagenen Bestimmungen sind einigen Abänderungen unterworfen
worden. Kinder, deren versicherte Mutter gestorben ist, erhalten eben-
falls Erziehungsbeiträge. War in dem Regierungsentwurf das Erlöschen
des Bezuges des Erziehungsbeitrages auf das 14. Lebensjahr festgesetzt,
so jetzt auf das 18. oder auf den früher eintretenden Tod des Kindes.
Bei doppelt verwaisten Kindern, deren beide Elternteile versichert
waren, werden die Erziehungsbeiträge nur nach jedem Elternteil beur-
teilt, der die höhere Anwartschaft hat. Unehelichen Kindern einer männ-
lichen versicherten Person steht ein Anspruch auf Erziehungsbeiträge
nicht zu. Daneben wird sowohl für die Witwe als auch für die hinter-
bliebenen Kinder eine einmalige Abfindung vorgesehen. Diese beläuft
sich natürlich auf den doppelten Betrag des nach 120 Beitragsmonaten
erworbenen Pensionsanspruches des Verstorbenen. Im Regierungsent-
wurf waren 50 Proz. der fälligen Invalidenrente vorgesehen. Weiter-
hin wird auch ein Rückerstattungsanspruch für solche Versicherte ge-
geben, deren Versicherungspflicht infolge Dienstaustrittes oder infolge
dauernder Verwendung im Auslande erloschen ist, statuiert. Weiblichen
Mitgliedern steht ein Anspruch auf die volle Prämienreserve zu, falls
sie innerhalb 2 Jahren nach Abschluß der Ehe aus der Versicherungs-
pflicht ausscheiden.
Eine freiwillige Fortsetzung der Versicherung hatte der
Regierungsentwurf nicht vorgesehen. Die Motive bemerken hierzu:
„Von der Zulässigkeit der freiwilligen Fortsetzung der Versicherung
mußte aus zwei Gründen abgesehen werden. Erstens würde eine Fort-
setzung der Versicherung eine nicht unwesentliche Komplikation im
Betriebe zur Folge haben und diese hierdurch verteuern, was unbedingt
vermieden werden muß. Zweitens aber würden durch die Zulässigkeit
der freiwilligen Fortsetzung der Versicherung die Dienstgeber zur Ver-
sorgung von Personen herangezogen werden, die ihre Arbeitskraft viel-
leicht nur zum geringen Teile in unselbständiger Stellung als Angestellte
aufgebraucht haben. Eine solche Belastung des Dienstgebers müßte un-
bedingt hintangehalten werden, soll das Prinzip, das die Belastung
des Dienstgebers ökonomisch und sozial begründet erscheinen läßt, nicht
eine Durchbrechung erfahren.“ Da nunmehr die erwähnten Erziehungs-
beiträge der Dienstgeber fortgefallen sind, greift eine freiwillige Fort-
setzung der Versicherung Platz, wenn der freiwillig Versicherte die ge-
samte Prämie zahlt. Ueber das Erlöschen der freiwilligen Versicherung
sowie über die nach dem Erlöschen bestehen bleibenden Ansprüche sind
besondere Bestimmungen getroffen. Dem freiwillig Versicherten wird
auch Gelegenheit gegeben, eine Erhöhung seiner Anwartschaften über
808 Miszellen.
das gesetzliche Maß mit oder ohne Anrechnung von Dienstjahren zu
erwerben, wenn er einen Betrag zahlt, welcher der entfallenden
Prämienreserve gleichkommt. Allerdings soll eine Anrechnung der
Dienstjahre nur auf Grund der tatsächlich zurückgelegten Dienstjahre
und nur innerhalb eines Jahres nach Beginn der Versicherungspflicht
Platz greifen.
Für die Sicherstellung der Leistungen wird das Kapital-
deckungsverfahren in Anwendung gebracht. Für jeden Ver-
sicherten wird aus festen Prämien eine individuelle Pràmienreserve an-
gesammelt. Für jeden Gehaltsmonat betragen die festen Prämien:
in der I. Gehaltsklasse 6 K
”„ » I. 1 In
” ”„ II. » 12 „
” » IV. ” 18 n
n ” V. » 24 y
» n VI. n 30 »
Hiervon hat in den ersten vier Gehaltskiassen der Dienstgeber ?/,, der
Versicherte !),, in den höheren Gehaltsklassen beide je die Hälfte zu
zahlen. Ein eigentlicher Zuschuß seitens des Staates ist nicht vorge-
sehen. Vielmehr gewährt der Staat lediglich jährlich den Betrag von
100000 K, der zur Bestreitung der Gehälter der leitenden Beamten
der Pensionsanstalt und deren Landesstellen verwendet werden soll.
Daneben ist die Erwerbs- und Rentensteuerfreiheit der Pensionsanstalt
sowie die Stempelfreiheit für alle Urkunden konzediert.
Die Durchführung der Versicherung ist der schon währen
Pensionsanstalt in Wien und deren Landesstellen übertragen, und
zwar mit der Maßgabe, daß das erste Statut der Pensionsanstalt im
Verordnungswege erlassen wird und eine Abänderung jedesmal der
staatlichen Genehmigung bedarf. Als Regel soll gelten, daß in jedem
Kronland eine Landesstelle errichtet wird. Der Vorstand der Pensions-
anstalt setzt sich zusammen aus einem von der Regierung ernannten
Präsidenten und aus 20 Mitgliedern, die je zur Hälfte von Dienstgebern
und von Versicherten aus ihrer Mitte zu wählen sind, wie überhaupt
der Gesetzgeber durchweg an der paritätischen Besetzung der Verwal-
tungsstelle festgehalten hat. Dementsprechend setzt sich auch der Aus-
schuß der Landesstellen zusammen. Bei jeder Landesstelle wird auch
ein Schiedsgericht errichtet, daß in allen auf die Versicherung
bezüglichen strittigen Punkten zu entscheiden hat.
Der Regierungsentwurf hatte auch eine Versicherung gegen
Stellenlosigkeit vorgesehen. In den Motiven wird darauf hinge-
wiesen, eine Fürsorge für die Privatbeamten dürfe sich nicht nur darauf
beschränken, dieselben gegen die Nachteile der verlorenen oder vermin-
derten Arbeitsfähigkeit zu schützen, sondern es müsse auch hauptsäch-
lich dafür gesorgt werden, daß die Privatbeamten in Fällen mangelnder Er-
werbsunfähigkeit nicht auf eine tiefere Stufe des Berufslebens und damit
ihrer Lebensführung herabsinken würden. „Nicht ein bloß platonischer
Wunsch ist es, der zu diesem Gedanken führt, sondern tatsächlich ge-
radezu ein Bedürfnis. Die starke Verbreitung unverschuldeter Stellen-
Miszellen. 809
losigkeit — und nur um diese kann es sich selbstverständlich handeln
— wurzelt zum großen Teil in der allenthalben zu beobachtenden Un-
zulänglichkeit der Bestimmungen der Dienstverträge, bezw. dem Fehlen
einer ausreichenden Dienstespragmatik. Die unwillkürliche Entlassung
des Angestellten ohne ein Verschulden auf dessen Seite wird auch bei
sehr eingehend stipulierten Dienstverträgen möglich sein, ohne daß dem
Angestellten ein rechtlicher Anspruch auf Ersatz des ihm dadurch er-
wachsenden Schadens zustehen würde Auch die für manche Dienst-
verhältnisse ex lege geltende sechswöchentliche Kündigungsfrist kann
selbstverständlich nicht als ein zulänglicher Schutz gegen die bedenk-
lichste ökonomische Schädigung des Angestellten angesehen werden.
Insofern der vorliegende Gesetzentwurf nun überhaupt schon die Ten-
denz verfolgt, im Wege positiver Gesetzesnormen eine gewisse Rechts-
sicherheit für Verhältnisse zu schaffen, die eigentlich durch den Ab-
schluß des Dienstvertrages geregelt werden müßten, entspricht es ganz
dem Geiste desselben, auch diesen Nachteil des Mangels einer Dienstes-
pragmatik als Korrelat der Existenzsicherung durch die Unterstützung
im Falle der Stellenlosigkeit nach Möglichkeit zu paralysieren. Für die
Bestimmung der Höhe der zugesicherten Unterstützung war die Erwä-
gung entscheidend, daß der Zweck derselben zunächst darin besteht,
dem Stellenlosen einen solchen Rückhalt zu bieten, welcher ihn instand-
setzt, Stellungsangebote auszuschlagen, durch welche er auf ein nied-
rigeres Maß der Lebensführung herabgedrückt würde, die er aber, dem
Zwange der Not folgend, annehmen müßte, wenn er der vollständigen
Mittellosigkeit gegenüber stünde“ 1).
Die Unterstützung im Falle der Stellenlosigkeit sollte für jeden
Monat der Stellenlosigkeit !/,, der Invaliditätsrente betragen, auf welche
der Versicherte Anspruch gehabt hätte, wenn er im Zeitpunkte des Be-
ginnes der Stellenlosigkeit invalide geworden wäre. Der Anspruch
wurde an folgende Voraussetzungen geknüpft: 1) die letzte Bedienstung
darf nicht infolge freiwilligen Austrittes aus dem Dienstverhältnisse
oder infolge einer durch grobe Verletzung wesentlicher Dienstpflichten
verschuldeten Entlassung verloren gegangen sein; 2) Nachweis der Sub-
sistenzlosigkeit; 3) seit Auflösung des Dienstverhältnisses müssen 3 Mo-
nate vergangen sein, in denen der Versicherte ohne sein Verschulden
keine Anstellung oder Beschäftigung gefunden hat, die ihm mindestens
einen Abzug in der Höhe der niedrigsten Invaliditätsrente, wenn auch
nur vorübergehend, bietet.
Dieser von dem Regierungsentwurf vorgeschlagene Weg begegnete
sowohl auf seiten der Arbeitgeber als auf seiten der Privatbeamten
dem heftigsten Widerspruch. Die Arbeitgeber sträubten sich gegen
jede weitere Belastung, die sie besonders drückend in Zeiten wirtschaft-
lichen Niedergangs empfinden würden. Die Privatangestellten wollten
von der Versicherung gegen Stellenlosigkeit nichts wissen, weil die
1) Leuckfeld, Zum gegenwärtigen Stand der Frage einer Pensions- und Hinter-
bliebenen-Versicherung der Privatangestellten. Zeitschrift f. d. ges. Versich.-Wissensch.,
1906, 8. 52 ff.
810 Miszellen.
Lasten, die ihnen auferlegt würden, in keinem Verhältnis zu den zu
erwartenden Leistungen stünden, zumal nur selten ein Privatbeamter
die Stellenlosigkeitsunterstützung zu beziehen in die Lage käme. Der -
soziale Ausschuß des österreichischen Abgeordnetenhauses hat daher auch
die Versicherung gegen Stellenlosigkeit beseitigt.
Oesterreich kann für sich den Ruhm in Anspruch nehmen, auf
diesem Gebiete der sozialen Versicherung bahnbrechend gewirkt zu
haben. Welche Wirkung allerdings das Gesetz haben wird, kann man
noch nicht voraussagen. Jedenfalls werden die in Oesterreich gewon-
nenen Erfahrungen von der allergrößten Wichtigkeit für das Vorgehen
Deutschlands in dieser Frage sein. Meines Erachtens haftet dem öster-
reichischen Gesetz der wesentliche Mangel an, daß sowohl Dienstgeber
als auch Dienstnehmer durch dasselbe außerordentlich belastet worden
sind, da die Regierung sich nicht dazu verstanden hat, einen staatlichen
Zuschuß zu jeder einzelnen Rente zu gewähren.
Wie schon oben hervorgehoben, hat erfreulicherweise auch in
Deutschland die ÖOrganisationsbewegung unter den Privatbeamten
außerordentliche Fortschritte gemacht. Mit dem Erstarken dieser Or-
ganisationsbewegung setzte auch eine immer kräftigere Agitation ein,
welche eine öffentlich-rechtliche Versicherung für die Privatbeamten
forderte. Die Organisationen der einzelnen Berufszweige schlossen sich
zusammen, um durch gemeinsames Vorgehen auf Parlament und Regie-
rung einzuwirken. Es kam zur Gründung des „Hauptausschusses für
die staatliche Pensions- und Hinterbliebenen-Versicherung der Privat-
angestellten“, der in seiner Sitzung vom 16.—18. Januar 1904 einheit-
liche Vorschläge für die obligatorische staatliche Invaliden-, Alters- und
Hinterbliebenen-Versicherung der Privatangestellten formulierte, die sich
in folgenden Punkten zusammenfassen lassen: 1) Es ist für die obli-
gatorische Invaliden-, Alters- und Hinterbliebenen -Versicherung der
Privatangestellten eine besondere Kasseneinrichtung gemäß $ 10 des
Invalidenversicherungsgesetzes zu schaffen. 2) Gewährung des Reichs-
zuschusses von 50 M. für jede von der besonderen Kasseneinrichtung
im Rahmen des Invalidenversicherungsgesetzes zu gewährende Rente.
3) Die Beiträge werden von den Privatangestellten und den Arbeit-
gebern je zur Hälfte getragen. 4) Als Privatangestellte im Sinne dieses
Gesetzes gelten Personen, welche gegen Gehalt im Privatdienste oder
bei staatlichen, kommunalen oder kirchlichen Behörden in noch nicht
mit Pensionsberechtigung ausgestatteten Stellen beschäftigt sind, soweit
sie nicht als gewerbliche Arbeiter (Gesellen, Gehilfen, Lehrlinge, Fabrik-
arbeiter u. s. w.), als Tagelöhner und Handarbeiter oder als Gesinde
Dienste verrichten. 5) Der Versicherungspflicht unterstehen alle Privat-
angestellte ohne Unterschied des Gehaltes. 6) Als Altersgrenze gilt
nach unten 18 Jahre, nach oben 40 Jahre. 7) Folgende Personen sind
befugt, freiwillig in die Versicherung einzutreten, solange sie das
40. Lebensjahr nicht vollendet haben: a) kaufmännische Agenten, Kom-
missionäre, Bücherrevisoren und nicht fest angestellte Buchhalter;
b) Lehrer, welche, ohne fest angestellt zu sein, wissenschaftlichen oder
künstlerischen Unterricht erteilen, Musiklehrer, Sprachlehrer, Repetitoren,
Miszellen. 811
Lehrer in gewerblichen und technischen Fertigkeiten und anderen Unter-
weisungen; c) Privatgelehrte, Schriftsteller, Korrektoren, Personen, welche
freie Künste ausüben (Schauspieler, Pianisten u. s. w.), ohne sich in fester
Stelle zu befinden. 8) Weiterversicherung auch der Stellenlosen wie im
Invalidenversicherungsgesetz. 9) Die Versicherungspflichtigen werden in
mindestens fünf Klassen eingeteilt. 10) Gegenstand der Versicherung
ist a) für den Versicherten der Anspruch auf Gewährung einer Invaliden-
bezw. Altersrente; b) für die hinterlassene Witwe und die Waisen eine
Witwenrente bezw. ein Erziehungsbeitrag für die Waisen. Invaliden-
rente erhält der Versicherte nach Maßgabe des Invalidenversicherungs-
gesetzes. Altersrente erhält, ohne daß es des Nachweises der Erwerbs-
unfähigkeit bedürfte, derjenige Versicherte, welcher das 60. Lebensjahr
vollendet hat. Der Anspruch auf Witwenrente erlischt im Falle der
Wiederverheiratung. Die Erziehungsbeiträge werden bis zum 16. Lebens-
jahr der Waisen gezahlt. 11) Der Ausschuß wünscht, daß die Leistungen
der Versicherung annähernd die Höhe der Pensions- und Hinterbliebenen-
bezüge der Staatsbeamten der entsprechenden Gehaltsklassen erreichen.
12) Behandlung der Kranken sowie Uebernahme des Heilverfahrens wie
im Invalidenversicherungsgesetz. 13) Angestellte, die bei einer vom
Reichsaufsichtsamte für die privaten Versicherungen zugelassenen Klasse
versichert sind, sind von der Zugehörigkeit zur staatlichen Pensions-
anstalt für Privatangestellte befreit, sofern jene Kasse die Mindest-
leistungen der staatlichen Anstalt erfüllt.
Die Agitation der Privatbeamten in dieser Frage bewirkte, daß
auch die Regierung und die größeren Parteien des Reichstages sich für
die außerordentlich wichtige Angelegenheit interessierten. Letztere
haben sogar die Frage der Versicherung der Privatbeamten zu einem
festen Punkt ihres Parteiprogramms gemacht. Um nun die erforder-
lichen statistischen Unterlagen zu erhalten, haben die Organisationen
der Privatbeamten auf Veranlassung und unter Beratung der Reichs-
behörde im Oktober 1903 eine allgemeine Umfrage erlassen, deren Er-
gebnisse in Form einer dem Reichstag vorzulegenden Denkschrift be-
arbeitet wurden. Auf diese Denkschrift werde ich unten noch näher
zurückkommen. In der Folgezeit verfehlten die Parteien des Reichs-
tages, namentlich die nationalliberale, die konservative und die Zentrums-
partei nicht, die ganze Bewegung durch immer wieder gestellte Anträge
weiter in Fluß zu bringen und möglichst positiven Maßnahmen entgegen-
zuführen. Die Regierung verhielt sich vorläufig noch abwartend, wie
die Aeußerungen des Staatssekretärs des Innern am 10. Mai 1904 im
Reichstage erkennen ließ. „Welche gesetzlichen Folgerungen daraus
gezogen werden könnten oder gezogen werden müßten, darauf kann ich
mich heute in keiner Richtung festlegen; das müßte Gegenstand sehr
eingehender künftiger Beratung sein.“
Einen kräftigen Stoß erhielt die Bewegung durch die Interpellation
des Abgeordneten Freiherrn Heyl zu Hernsheim im Reichstage
am 14. März ds. Js.!). Die großen Parteien des Reichstages benutzten
1) Vergl. Stenographische Berichte des deutschen Reichstages, S. 466 ff.
812 Miszellen.
wiederum diese Gelegenheit, um ihrer Sympathie für die Versicherung
der Privatbeamten Ausdruck zu verleihen. Es sei hier daran erinnert,
daß bei dieser Gelegenheit sich ein ergötzlicher Streit unter den Par-
teien entspann, welche Partei denn eigentlich als Vater des Gedankens
der Versicherung der Privatbeamten gelten könne. Hoffentlich sind die
Privatbeamten hierbei der tertius gaudens. Auch die Regierung ließ
erklären, daß es ihr mit der Versicherung der Privatbeamten durchaus
ernst sei!).
Einige Tage nach dieser Interpellation erschien auch endlich die
längst erwartete Denkschrift über die Lage des Privatbe-
amtenstandes. Die Grundlagen dieser Denkschrift entstammen be-
kanntlich einer privaten Erhebung, die von den Organisationen der
Privatbeamten in die Wege geleitet wurde. Unter Mitwirkung der zu-
ständigen Stellen des Reichsamts des Innern wurde nämlich im Herbste
1903 von diesen Organisationen 200000 Fragebogen versandt, von
denen 157390 ausgefüllt zurückgesandt wurden. Eine Reihe von
Fragebogen mußte wegen Unvollständigkeit oder Unrichtigkeit der ge-
machten Angaben aus der Bearbeitung ausscheiden, so daß schließlich
154 843 als für die Bearbeitung geeignet übrig blieben. Demjenigen,
der mit den Ergebnissen der Berufszählung von 1895 vertraut ist,
dürften beim Lesen dieser Zahlen sofort erhebliche Bedenken aufstoßen.
Denn die 154 843 bearbeiteten Fragebogen stellen etwa den 5. Teil
aller Privatangestellten dar, die von der Berufszählung von 1895 er-
faßt wurden (621 825). Diesen Bedenken verschließt sich naturgemäß
auch der Verfasser der Denkschrift nicht. Indessen kann man dem-
selben zustimmen, wenn er behauptet, daß die Denkschrift geeignet sei,
einen Einblick in die Lage der Privatbeamten zu tun, der die Frage
nach der Notwendigkeit einer staatlichen Versicherung der Privatbeamten
berechtigt erscheinen lasse.
Daß seit der Berufszählung von 1895 ganz erhebliche Verschie-
bungen stattgefunden haben, zeigt sich in den Ergebnissen der Denk-
schrift, welche sich mit der Verteilung der befragten Personen auf die
einzelnen Berufsgruppen beschäftigen. Die Uebersicht läßt erkennen,
daß die große Masse der an der Ausfüllung der Fragebogen beteiligten
männlichen Privatangestellten der Berufsgruppe Bergbau, Hütten-
wesen, Industrie angehört. - Auf diese kommen 62 Proz.; dann folgt die
Berufsgruppe Handelsgewerbe mit 22 Proz., während die nächsthöhere
Gruppe Freie Berufsarten nur mit rund 4 Proz. an den Erhebungen be-
1) Graf von Posadowsky: „Die verbündeten Regierungen werden es sich angelegen
sein lassen, auf Grund der Denkschrift diese schwierigen Fragen eingehend zu prüfen,
und ich werde sehr bald die Gelegenheit ergreifen, die Auffassungen der verbündeten
Regierungen einzuholen, ob sie bereit sind, in den von den Privatangestellten ge-
wünschten Richtungen den Weg der Gesetzgebung zu beschreiten, auf welchen Grund-
lagen diese Gesetzgebung aufgebaut werden soll. Ich glaube, ehe man endgültig Be-
schlüsse in dieser Frage faßt, wird es auch für die Mitglieder des hohen Hauses und
für die Privatangestellten selbst nützlich sein, sich in die verwickelten Einzelheiten der
Denkschrift zu vertiefen und sich hierbei auch klar zu werden, inwieweit sie im stande
sein werden, den finanziellen Anforderungen einer solchen Zwangsversicherung zu ge-
nügen.“
Miszellen. 813
teiligt ist. Beim weiblichen Geschlecht hat die Gruppe Handels-
gewerbe mit 54 Proz. den größten Anteil an den Erhebungen. Ihr folgt
die Gruppe Bergbau, Hüttenwesen, Industrie mit 23 Proz.; hier herrscht
also fast das umgekehrte Verhältnis wie beim männlichen Geschlecht.
Die zum Ausdruck gekommenen Gesamtergebnisse nähern sich daher für
das männliche Geschlecht mehr der durchschnittlichen Lage der im
Bergbau, Hüttenwesen und in der Industrie, und für das weibliche
Geschlecht mehr der durchschnittlichen Lage der im Handelsgewerbe
tätigen Privatangestellten.
Faßt man die Privatangestellten, welche sich an der Erhebung
beteiligt haben, nach der Stellung in den einzelnen Berufsarten zu-
sammen, so ergibt sich, daß beim männlichen Geschlecht etwa 50 Proz.
als kaufmännisches und 37 Proz. als technisches Personal — darunter
24,5 Proz. als Werkmeister — beschäftigt sind; beim weiblichen Ge-
schlecht gehört die überwiegende Mehrheit der Beteiligten, nämlich
72 Proz., dem kaufmännischen Berufe an.
Die Altersgliederung der an den Erhebungen beteiligten
männlichen Privatangestellten schließt sich im allgemeinen an die Alters-
gliederung der Berufsstatistik an.
Ein nicht zu unterschätzender Umstand, der nicht von äußerlichen
Momenten betrachtet werden darf, ist der, daß beim männlichen Geschlecht
die verheirateten Personen in erheblich höherem Maße sich bei der Aus-
füllung der Fragebogen beteiligt haben, als ihrem Verhältnis zur Gesamt-
zahl nach den berufsstatistischen Erhebungen entspricht. Wie die Denk-
schrift richtig hervorhebt, kann dieses Ergebnis nicht überraschen.
„Denn da die Erhebungen in erster Linie darauf abzielten, eine Grund-
lage für eine bessere Fürsorge für die Privatangestellten abzugeben,
mußte von vornherein damit gerechnet werden, daß die verheirateten
Personen wegen ihres unmittelbaren Interesses an der Hinterbliebenen-
versorgung viel mehr geneigt sein würden, die Fragebogen auszufüllen,
als solche, bei denen die Familienfürsorgepflicht erst später in Frage
kommt. Beim weiblichen Geschlecht trifft dieses weniger zu; die Zahlen
zeigen wohl hauptsächlich aus diesem Grunde das umgekehrte Verhält-
nis.“ Hieraus erklärt sich auch, daß die auf Grund der Zahl über den
Familienstand bewirkte Belastungsberechnung der gewünschten Fürsorge
etwas zu hoch ausfällt und in Wirklichkeit sich niedriger stellen wird.
Allein, wie die Denkschrift bemerkt, dürfte dies unter Berücksichtigung
der übrigen für die Berechnung in Betracht kommenden Faktoren
(Sterbe- und Invaliditätstafeln) kein Fehler sein. Weiterhin führt die
erwähnte Tatsache zu der Folgeerscheinung, daß sich das Bild über
den Umfang der bereits bestehenden Fürsorge, worauf ich unten noch
näher zurückkomme, verhältnismäßig günstiger stellt.
Ueberraschende Ergebnisse liefert die Denkschrift über die bisher
noch unbekannten Verhältnisse betreffend Zahl und Alter der
Kinder der Privatangestellten auf den einzelnen Altersstufen. Von
den 150056 männlichen Privatangestellten waren rund die Hälfte, nämlich
72030 verheiratet, die insgesamt 186 686 Kinder unter 18 Jahren hatten.
Auf einen Vater entfielen demnach durchschnittlich 2,59 Kinder unter
814 Miszellen.
18 Jahren. Dies ist ein ganz bedenkliches Ergebnis, das, vom Stand-
punkte des Volkswohls aus betrachtet, recht bedauerlich erscheint.
Noch ungünstiger stellt sich das Ergebnis, wenn man die Aufnahme
über die Zahl der Väter unter den Beamten bei der Bergisch-märkischen
Eisenbahn heranzieht, die in der Denkschrift erwähnt wird. Es muß
allerdings dabei berücksichtigt werden, daß durch diese Aufnahme nur
die Kinder bis zum 15. Lebensjahr betroffen sind. Immerhin fällt der
Vergleich recht zu Ungunsten der Privatangestellten aus. Es entfielen
nämlich auf 100 Privatbeamte 35,6 Väter, dagegen auf 100 Bahnbeamte
75,4 Väter. „Man kann diese Feststellung wohl mit Recht als einen
Beleg für die außerordentlich mißlichen Existenzverhältnisse unter den
Privatbeamten, dann auch für die scharfe Inanspruchnahme der Be-
teiligten durch die Berufsarbeit ansehen. Eine Ermittelung der Zahl
der Witwen war hier natürlich ausgeschlossen, weil die Fragebogen
diese ja nicht erreichen konnten. In dieser Beziehung wird der Gesetz-
geber sich also auf die allgemeinen Ermittelungen darüber stützen
müssen“ !),. Erwähnt sei auch noch, daß die Zahl der zu versorgenden
Kinder in der Altersklasse 40—45 Jahre ihren Höhepunkt erreicht, um
dann allmählich wieder abzunehmen. Ein sehr vorsichtig aufzunehmen-
des Ergebnis haben die Erhebungen über das Alter der Privatange-
stellten gezeitigt. Hatte die Berufszählung von 1895 gezeigt, daß 16,9 Proz.
der Privatbeamten über 50 Jahre alt waren, so gibt die Denkschrift
diesen Prozentsatz nur mit 12,1 an.
Wenn Arens in seinem zitierten Aufsatze hieraus schließen will,
daß bei den älteren Privatbeamten sich immer noch im starken Maße
das Bestreben geltend mache, eine selbständige Existenz zu erreichen,
so dürfte das meines Erachtens eine Ansicht sein, die mit der rauhen
Wirklichkeit nicht in Einklang gebracht werden kann. Es soll nicht
geleugnet werden, daß es auch im Alter von über 50 Jahren einer ganzen
Reihe von Privatbeamten gelingt, eine selbständige Existenz noch zu
erringen. Allein es ist zu berücksichtigen, daß es den älteren Privat-
beamten in den meisten'Fällen an der erforderlichen Initiative mangelt.
Vor allem jedoch kommt in Betracht, daß die Konzentrationsbewegung
wie die Spezialisierung der Berufe im gewerblichen Leben es dem
Privatbeamten in der Regel unmöglich machen, eine selbständige Existenz
zu erringen?). Zweifelloes wird die nächste Berufszählung einen noch
niedrigeren Prozentsatz als der in den Denkschrift mit 12,1 angegebenen
liefern.
Recht mangelhafte Ergebnisse hat die Frage nach dem Einkommen
geliefert. Schon von vornherein rechneten die beteiligten Faktoren damit,
daß ein großer Teil der Privatangestellten sich weigere, überhaupt An-
gaben über diese Frage zu machen. Es ist dies ja begreiflich, da bei
derartigen Gelegenheiten immer der Verdacht besteht, daß die gemachten
Angaben zu steuerlichen Zwecken verwendet werden könnten. Wenn
1) Arens, Soziale Praxis, No. 28, Sp. 723.
2) Vergl. Dilloo, Wilhelm, Pensionseinriehtungen für Privatbeamte. Ein Weg-
weiser zur Schaffung und Reorganisierung von Beamten - Pensionseinrichtungen bei
Privatunternehmungen (Schriften der Zentralstelle für Volkswohlfahrt 32), Berlin 1907.
Miszellen. 815
auch in den Fragebogen die Garantie gegeben war, daß die gemachten
Angaben unter keinen Umständen zur Kenntnis der Steuerbehörde ge-
langen würden, so scheint dies doch eine große Anzahl von Privatan-
gestellten nicht abgehalten zu haben, die Fragebogen nicht oder unvoll-
ständig auszufüllen. Weiterhin hat eine ganze Reihe von Privatbeamten
ihre Nebenbezüge überhaupt nicht oder zu niedrig angegeben, so daß.
ein objektives Urteil über die Einkommensverhältnisse der Privatbeamten
durch die Ergebnisse der Denkschrift wenn nicht ganz unmöglich, so
doch recht zweifelhaft erscheint. Immerhin liefern die Ergebnisse einen
wertvollen Beitrag zu der längst bekannten Tatsache, daß die Ein-
kommensverhältnisse der Privatbeamten sowohl in ihrer Höhe als auch
in ihrer Beständigkeit keine günstigen sind. Nachfolgende Tabelle gibt
über die Einkommensverhältnisse Aufschluß:
Anzahl der befragten Privatangestellten in neben-
bezeichneten Einkommensstufen
Einkommensstufen überhaupt von 100 der Gesamtzahl
männlich weiblich männlich weiblich
ON 1; rr ob 4 5.
unter 1000 M. 4777 ı 860 3,18 38,86
1000 bis unter 1250 M. 17 235 1410 11,49 29,45
1250 „ „1800, 18 568 693 12,37 14,48
1500 „ ss. 1800: s 23 871 460 15,91 9,61
1800 „ » 2100 „ 24 410 202 16,27 4,22
2100 „ ay AOD a 17 155 6r 11,43 1,27
2400 „ m 2700 „ 15 254 47 10,17 0,98
2700 „ w 13000 ú 6 239 I 4,16 0,02
3000 „ a 3600 4, 10016 16 6,67 0,83
3600 und darüber 11544 5 7,69 0,10
Ohne Angabe 987 32 0,66 0,68
Zusammen | 150 056 | 4787 7 100,00 5, | 100,00
Bei den männlichen Personen ist also die Einkommenstufe von
1800—2100 M. mit 16,27 Proz. am stärksten besetzt; ihr folgt die
Stufe von 1500—1800 M. mit 15,91 Proz., dann 1250—1500 M. mit
12,87 Proz., während 11,49 Proz. der Stufe von 1000—1250 M. und
fast ebenso viel (11,43 Proz.) der Stufe 2100—2400 M. angehören.
7,69 Proz. haben ein Einkommen von über 3600 M. Bei den weib-
lichen Personen gehört die höchste Zahl der ersten Stufe unter 1000 M.
mit 38,86 Proz. an. Dann folgt die Stufe 1000—1250 M. mit 29,45
Proz., dann die Stufe 1250—1500 M. mit 14,48 Proz., während 17,21
Proz. ein Einkommen von über 1500 M. beziehen. Bringt man als
Durchschnitt der einzelnen Stufen für die männlichen Personen in der
ersten Stufe 764 M., in der höchsten Stufe 3800 M. und im übrigen
das Mittel in Ansatz, und entsprechend für die weiblichen Personen
710 M. in der untersten Stufe, 3700 M. in der höchsten Stufe und im
übrigen gleichfalls das Mittel und läßt man die ohne Angabe der Ein-
kommensstufen nachgewiesenen Personen aus der Berechnung heraus,
816 Miszellen,
so ergibt sich als Einkommensdurchschnitt für die männlichen Personen
2064,51 M., für die weiblichen Personen 1135,58 M. In der Alters-
gruppe von 30—35 Jahren wird dieses Durchschnittsgehalt erreicht.
In der Altersgruppe von 40—45 Jahren ist dagegen ein Sinken des
durchschnittlichen Gehaltes wahrnehmbar. Recht beachtenswert ist hier-
bei, daß das Durchschnittsgehalt der sogenannten „Freien Berufsarten“
am niedrigsten ist, nämlich 1790 M. Die Berufsgruppe Bergbau und
Industrie weist ein Durchschnittsgehalt von 2156 M. auf. Haben die
Mitglieder der Freien Berufe ihr Höchstgehalt in der Altersklasse 35
bis 40 Jahre erreicht, so ist dies für die Landwirtschaft erst in der
Altersgruppe 45—50 Jahren der Fall. Sehr beachtenswert ist auch,
daß mit dem Alter von 70 Jahren und darüber das Durchschnittsgehalt
sehr sinkt, nämlich auf 1879.
Wenn von den Organisationen der Privatangestellten die Forde-
rung einer staatlichen Versicherung erhoben wird, so war es zur Be-
urteilung der Berechtigung dieser Forderung unumgänglich notwendig,
festzustellen, in welchem Umfange eine Fürsorge durch Ab-
schluß von Versicherungen bereits besteht.
Zunächst war festzustellen, in welchem Umfange die Privatbeamten
an der Reichsinvalidenversicherung beteiligt sind. Der Kreis
der invalidenversicherungspflichtigen Personen umfaßt bekanntlich alle
bis zu 2000 M. entlohnten Angestellten in den meisten Berufsarten.
Die Erhebung hat ergeben, daß von den durch dieselbe betroffenen
Personen beim männlichen Geschlecht 58,12 Proz. zwangsweise,
10,17 Proz. freiwillig, zusammen also 68,29 Proz., beim weiblichen
Geschlecht 92,44 Proz. zwangsweise, 1,13 Proz. freiwillig, zusammen also
93,57 Proz. versichert waren.
Bezüglich der privaten Versicherung sei hervorgehoben, daß
von der Gesamtzahl der befragten männlichen Privatangestellten 28,2
Proz. eine Lebensversicherung, 7,9 Proz. eine Pensionsversicherung,
7,9 Proz. eine Witwenversicherung abgeschlossen haben; 26,1 Proz. sind
bei einer Berufsgenossenschaft und 15,6 Proz. bei einer privaten Ver-
sicherungsgesellschaft gegen Unfall versichert. Außerdem sind 9086
Personen oder 6,1 Proz. an Pensions- und Witwenkassen beteiligt, welche
von der anstellenden Firma eingerichtet sind. Von diesen zahlen 7796
selbst Beiträge; soweit darüber Angaben gemacht sind, zahlen hiervon
7085 Beiträge in einer Gesamthöhe von jährlich 469751 M. —, somit
kommen im Durchschnitt auf jeden Angestellten 66,30 M. Daneben leisten
die Firmen noch für 5271 Angestellte Beiträge in Höhe von 439172 M.
oder im Durchschnitt für jeden jährlich 83,32 M. Endlich sind noch
2706 — 1,8 Proz. der befragten Angestellten anderweitig durch ihre
Firma auf Pension versichert; davon leisten 1913 eigene Beiträge in
Höhe von jährlich 127504 M. oder im Durchschnitt auf den Kopf
66,65 M., während von den Firmen für 2205 Angestellte Beiträge in
Höhe von 184495 M. oder im Durchschnitt für jeden 83,67 M. jährlich
gezahlt werden.
Die von den Firmen eingerichteten Pensions- und Witwenkassen
gewähren 5274 = 58,0 Proz. der bei ihnen Versicherten einen Rechts-
Miszellen. 817
anspruch auf die Versicherung, während von den von ihren Firmen
anderweit auf Pension Versicherten 1926 = 72,5 Proz. einen solchen
Rechtsanspruch haben. Die Gesamthöhe der jührlichen Versicherungs-
beiträge ist von 34077 Privatangestellten oder 22,71 Proz. aller be-
fragten angegeben und beträgt zusammen 4641831 M., so daß im Durch-
schnitt jeder dieser Privatangestellten einen jährlichen Versicherungs-
beitrag von 136,22 M. zahlt.
Auffälligerweise rühren die höchsten Aufwendungen für Lebens-
versicherungszwecke von den landwirtschaftlichen Privatangestellten her,
die im Durchschnitt pro Jahr 169,50 M. aufwenden. Hieran schließen
sich die Privatangestellten im Zeitungswesen mit 150 M., diejenigen
im Bergbau und im Handel mit durchschnittlich 134—137 M.
Sehr wichtige Ergebnisse haben die Erhebungen über die Stellen-
losigkeit geliefert. In den 5 Jahren von 1899—1903 waren zu-
sammen 16229 männliche Personen insgesamt 22121mal stellungslos,
demnach war jeder Stellungslose im Laute der 5 Jahre durchschnittlich
1,4mal ohne Stellung. Bei dem weiblichen Geschlecht stellte sich diese
Zahl auf 990 Personen mit 1523 Fällen, durchschnittlich pro Person
1,5 Fälle. Was die Dauer der Stellenlosigkeit angeht, so betrug diese
bei 16229 männlichen Personen 2452978 Tage, d. h. durchschnittlich
im Jahre pro Person 30,2 Tage, bei 989 weiblichen Personen zusammen
181815 Tage, d. h. durchschnittlich im Jahre pro Person 36,8 Tage.
Die Erhebungen bestätigen auch die täglich gemachte Erfahrung, daß
die Stellungslosigkeit mit dem Alter außerordentlich zunimmt. Die Alters-
klasse 14 bis unter 20 Jahren weist eine Stellungslosigkeit von 19,8
Tagen auf, die bis zur Altersklasse bis zu 70 Jahren und darüber auf
nicht weniger als 105,0 Tage steigt, d. i. eine Vermehrung um fast das
Fünffache. Recht auffälligerweise ist die Berufsgruppe: Landwirtschaft
mit der höchsten Prozentziffer, nämlich mit 18,64 Proz. beteiligt, von
den landwirtschaftlichen Beamten, welche den Fragebogen austüllten,
ist durchschnittlich jeder pro Jahr 6!, Tage stellungslos, im Zeitungs-
wesen 4,4, beim Handel 3,7. Der Bergbau und die Industrie weisen
die günstigste Ziffer, nämlich 2,9 Proz. auf.
Wenn diese Ergebnisse wesentlich günstiger sind als etwa die Er-
gebnisse der österreichischen Denkschrift, so kann das nur freudig be-
grüßt werden. Andererseits kann man sich jedoch nicht der Ansicht
verschließen, daß die Zitier ein beredtes Zeugnis ablege von der Un-
sicherheit der Stellung der Privatbeamten.
Die Berechnung über die Kosten einer Pensions- und Hinter-
bliebenenversorgung der Privatbeamten geht von der Forderung der
Privatangestellten aus, daß ihnen und ihren Angehörigen für den Fall
der Erwerbsunfähigkeit oder des Todes tunlichst die gleiche Fürsorge
zugesichert werde, welche für die Reichs- und Staatsbeamten besteht.
Zur Orientierung seien die in Frage kommenden Bestimmungen hier
angeführt *).
*) 1) Jeder Beamte, welcher sein Diensteinkommen aus der Reichskasse bezieht, er-
hält aus der letzteren eine lebenslängliche Pension, wenn er nach einer Dienst-
Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIIN). 52
818 Miszellen.
Da einwandfreie Grundlagen für die Invaliditäts- und Sterblichkeits-
verhältnisse der Privatbeamten nicht vorliegen, ist in der Denkschrift
die Invaliditäts- und Sterblichkeitstafel für das Nichtzugpersonal der
Eisenbahn zu Grunde gelegt worden, wie dies auch in Oesterreich ge-
schehen ist. Die Ausführung der Berechnung mußte einerseits von einem
für die ganze Versicherungsdauer gleichbleibenden Gehalt, anderer-
seits von einem steigenden Gehalt ausgehen. Für diese beiden
Annahmen sind sodann die Beiträge ermittelt worden, welche bei reiner
Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung, sowie für den Fall erforder-
lich sind, daß die Invalidenpension nach Ablauf der 10-jährigen Warte-
zeit bei Vollendung des 65. bezw. 60. Lebensjahres auch dann gewährt
wird, wenn von einer Erwerbsunfähigkeit im einzelnen Falle noch nicht
die Rede ist. Für die erste Berechnung legt die Denkschrift ein durch-
schnittliches Jahreseinkommen von rund 2100 M. zu Grunde. Die Höhe
der Invalidenpension, Witwen- und Waisengeldbezüge würden sich dann
folgendermaßen stellen:
Nach Ablauf der nebenbezeichneten Versicherungsdauer
Dauer der berechnet sich der Jahresbetrag des Anspruchs in
Zugehörigkeit Mark auf
no yer Waisengeld | Waisengeld
sicherung in iden- A ek ser
vollen Jahren ae Witwengeld | ` für für jede
jede Waise | Doppelwaise
1 2 3 4 5
10 525 210 42 70
15 700 280 56 931%,
20 875 350 70 116°),
25 | 1050 420 84 140
30 1225 490 98 163'/,
35 1400 560 112 186°),
40 1575 630 126 210
zeit von wenigstens 10 Jahren infolge eines körperlichen Gebrechens oder
wegen Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte zu der Erfüllung
seiner Amtspflichten dauernd unfähig ist und deshalb in den Ruhestand ver-
setzt wird.
2) Bei denjenigen aus dem Dienste scheidenden Beamten, welche das 65. Lebens-
jahr vollendet haben, ist eingetretene Dienstunfähigkeit nicht Vorbedingung
des Anspruchs auf Pension.
3) Die Pension beträgt, wenn die Versetzung in den Ruhestand nach vollendetem
10., jedoch vor vollendetem 11. Dienstjahr eintritt, '°/,, und steigt von da ab
mit jedem weiter zurückgelegten Dienstjahr um '/,, des Diensteinkommens,
Ueber den Betrag von *°/,, des Einkommens findet eine Steigerung nicht statt.
4) Der Berechnung der Pension wird im allgemeinen das von dem Beamten zu-
letzt bezogene Diensteinkommen zu Grunde gelegt.
5) Das Witwengeld besteht in 40 v. H. derjenigen Pension, zu welcher der Ver-
storbene berechtigt gewesen ist oder berechtigt gewesen sein würde, wenn er am
Todestage in den Ruhestand versetzt wäre,
6) Das Waisengeld beträgt:
a) für Kinder, deren Mutter lebt und zur Zeit des Todes des Beamten zum
Bezuge von Witwengeld berechtigt war, '/, des Witwengeldes für jedes Kind,
b) für Kinder, deren Mutter nicht mehr lebt oder zur Zeit des Todes des Be-
Miszellen. 819
Nimmt man einen Zuschlag für Verwaltungskosten hinzu, so würden
hierfür zu zahlen sein bei einem Eintrittsalter von 20 Jahren 11,78 Proz.,
25 Jahren 13,25 Proz., 30 Jahren 14,28 Proz., 35 Jahren 15,30 Proz.,
40 Jahren 16,25 Proz. des Gehaltes.
Geht man dagegen von einem steigenden Gehalte aus, so ergeben
sich für einen im Alter von 25 Jahren in die Versicherung eintretenden
Privatangestellten folgende Gehalts- und Pensionssätze:
Nach Ablauf der nebenbezeichneten Versicherungsjahre beträgt
Dauer der der Anspruch in Mark auf
Zugehörigkeit das Jah
zur Ver- Se ; Waisengeld
sicherung in | einkommen Invaliden- 7s Waisengeld für jede
vollen Jahren gehn Witwengeld für Doppelwaise
M. jede Waise
10 | 1 300 325,00 130,00 26,00 43,33
15 1450 483,33 193,33 38,67 64,45
20 1 600 666,67 266,67 53,33 88,89
25 1750 875,00 350,00 70,00 116,67
30 1 900 I 108,33 443,33 88,67 147,78
35 2050 1 366,67 546,67 109,33 182,22
40 2 200 1 650,00 660,00 132,00 220,00
Entsprechend den obigen Eintrittsaltern sind hiervon zu zahlen
17,42 Proz., 18,48 Proz., 19,04 Proz, 19,52 Proz, 20,21 Proz. Die
Denkschrift hält es für fast ausgeschlossen, eine obligatorische Pensions-
und Hinterbliebenenfürsorge aller Privatangestellten einzuführen, die
nach dem Alter zur Zeit des Eintritts abgestuft werden, es müßten
vielmehr zur Vermeidung großer Schwierigkeiten bei der Erhebung der
Beiträge und der Durchführung der Versicherung Durchschnittsbeiträge
eingeführt werden, die vom Eintrittsalter unabhängig sind. Unter Be-
rücksichtigung, daß auch das Heilverfahren der Invalidenversicherung
Platz greiten soll, kommt die Denkschrift schließlich zu dem Ergebnis,
daß, wenn nur die Personen bis zum Alter von 40 Jahren in die Ver-
sicherung aufgenommen werden, 18,88 Proz. des Gehaltes an Prämien,
daß, wenn man auch die älteren hinzunehmen will, 19,01 Proz. zu
zahlen sind.
Wenn man sich auch in den maßgebenden Kreisen der Privatange-
stellten durchaus nicht der Ansicht verschlossen hat, daß eine staatliche
Zwangsversicherung nur mit ziemlich erheblichen Opfern erkauft werden
kann, so dürfte dieses Ergebnis doch etwas allzu pessimistisch sein.
amten zum Bezuge von Witwengeld nicht berechtigt war, '/, des Witwen-
geldes für jedes Kind.
7) Das Recht auf den Bezug des Witwen- und Waisengeldes erlischt:
a) für jeden Berechtigten mit dem Ablaufe des Monats, in welchem er sich
verheiratet oder stirbt,
b) für jede Waise außerdem mit dem Ablaufe des Monats, an welchem sie das
18. Lebensjahr vollendet.
8) Die Pension, sowie das Witwen- und Waisengeld wird monatlich im voraus
gezahlt.
52*
820 Miszellen.
Eine ganze Reihe von namhaften Führern der Privatbeamtenbewegung
hat von vornherein den Standpunkt vertreten, auf eine selbständige
Versicherung zu verzichten und den weiteren Ausbau der bestehenden
Invalidenversicherung zu befürworten. Von den meisten Organisationen
ist jedoch dieser Weg als nicht gangbar bezeichnet und verworfen
worden. Ob dies richtig ist, kann hier nicht untersucht werden. Jeden-
falls steht der Reichstag und die Regierung einer selbständigen Ver-
sicherung syınpathischer gegenüber. Es ist wohl kaum anzunehmen,
daß der deutsche Gesetzgeber einen Zuschuß zu den Pensionssätzen ab-
lehnen wird, wie dies in Oesterreich der Fall ist. Ferner ist auch
nicht anzunehmen, daß die Arbeitgeber vollständig beitragsfrei bleiben
werden. Die deutschen Arbeitgeber haben durch ihre zahlreichen Stift-
ungen und sonstigen Einrichtungen auf dem Gebiete der Fürsorge für
ihre Privatangestellten bewiesen, daß ihnen das Wohl dieser für das
Gedeihen der deutschen Volkswirtschaft außerordentlich wichtigen Be-
völkerungsklasse sehr am Herzen liegt. Andererseits wird der deutsche
Gesetzgeber nicht unberücksichtigt lassen können, daß diese Institutionen
den Arbeitgebern lieb geworden sind, und daß ein Verschwinden der-
selben die Opferwilligkeit herabzumindern geeignet sein kann. Daher
wird der Gesetzgeber den bestehenden Zustand berücksichtigen und im
einzelnen Falle tragen müssen, ob den gesetzlichen Vorschriften genügt
wird. Diejenigen Arbeitgeber, welche einer Beitragsleistung nicht
sympathisch gegenüberstehen, sollten bedenken, daß die Privatange-
stellten bei größeren Streiks, von denen nur wenige Betriebe verschont
bleiben, in der Regel treu zu ihren Arbeitgebern gehalten haben, und
daß ein schroff ablehnendes Verhalten dazu führen kann, die Organi-
sationen der Privatbeamten, welche zur freudigen Mitarbeit mit ihren
Arbeitgebern gewillt sind, in gewerkschaftliche Bahnen mit überwiegen-
dem Kamptescharakter zu drängen.
Miszellen. 821
XVII.
Das Gemeineigentum in den Pyrenäen und seine Wirkung.
Von Karl Schneider- München.
Ueber das in den Pyrenäen, sowohl auf der spanischen wie be-
sonders auf der französischen Seite noch in großer Ausdehnung vor-
handene gemeinschaftliche Bodeneigentum der Gemeinden gibt das
„Bulletin de la Societ& de Géographie Commerciale de Bordeaux“ vom
4. Juni d. J. einige interessante Angaben. Danach beträgt das Ge-
meindeeigentum in den Pyrenäen-Departements (Basses-Pyrénées, Hautes-
Pyrénées, Haute-Garonne, Ariège, Pyr&ne&es-Orientales) fast den fünften
Teil dieser Departements und umfaßt 44 Proz. der gebirgigen Teile der-
selben; im Departement Hautes-Pyrénées beträgt es mehr als ein Drittel
der gesamten Bodenfläche. Die landwirtschaftliche Untersuchung von
1892 ergab, daß 47 Proz. dieses Gemeindeeigentums unter die nicht
bebaute Bodenfläche fielen, während die bebaute Fläche 53000 ha
Wiesen und 215000 ha Wald umfaßte, wovon 50000 ha nicht unter
der staatlichen Forstordnung standen. Im Laufe der letzten Jahre ist
indessen ein großer Teil dieser Wiesen und Wälder nach Angabe des
genannten Blattes so vernachlässigt worden, daß er ebenfalls zur un-
bebauten Fläche gezählt und dieser fast zwei Drittel des gesamten Ge-
meineigentums zugerechnet werden müssen. Eine Eigentümlichkeit des
Gemeineigentums in den Pyrenäen besteht in der Ausdehnung der Mit-
eigentümer über die üblichen Grenzen; nicht nur zwischen Angehörigen
einer und derselben Gemeinde, sondern auch zwischen mehreren ver-
schiedenen Gemeinden, die sogar in manchen Fällen zum Teil auf
französischem, zum Teil auf spanischem Boden gelegen sind, ist dort
der Boden in gemeinsamem Eigentum geteilt. Diese Fälle sind durch
besondere Grenzverträge und weitere Abmachungen zwischen den beiden
Pyrenäenstaaten geregelt, so durch den Vertrag vom 14. April 1862
und den Zusatz vom 27. Februar 1863. Die Wirkungen dieses Ge-
meineigentums bezeichnet die erwähnte Zeitschrift als überwiegend un-
günstig, sowohl im Hinblick auf die Verwüstung des Landes durch
Ueberschwemmungen, da keiner der Miteigentümer eine kräftige Reg-
samkeit zum Schutze des oft von Ueberschwemmungen heimgesuchten
oder von den Gießbächen mit fortgerissenen Bodens ergreifen wolle,
wie auch in Bezug auf die übermälige Ausnutzung des Bodens durch
das Weidevieh, die eine Hauptursache der zunehmenden Wertverminde-
822 Miszellen.
rung des dortigen Bodens sei. Gegenwärtig sei durch den übermäßigen
Zutrieb zu diesen Gemeinweiden und die Vernachlässigung jeder plan-
mäßigen Fürsorge für die Erhaltung der Humusschicht der Boden be-
reits in solchen Maße geschädigt, daß ernste Gefahr für die Zukunft
dieser Gegend bestehe, deren Bevölkerung sich in den letzten 60 Jahren
um ein volles Viertel vermindert habe. Von dem Eingreifen des Staates
erwartet der Verfasser des Artikels, ein höherer Beamter, keinen Er-
folg, da auch die Bestimmungen über die Ausübung der Weide vom
Jahre 1882 keinen Erfolg gehabt hätten, sondern vielmehr nur von
der systematischen Belehrung der Bevölkerung, aus privater Initiative,
wie sie sich vor allem die Association pour l'Aménagement des Mon-
tagnes in Bordeaux zum Ziel gesetzt habe. Diese Gesellschaft, die die
Bedeutung einer geregelten Wald- und Forstwirtschaft im Gebirge auch
für die Bewohner des Flachlandes und besonders für die regelmäßige
Tätigkeit der Flüsse erkannt hat, beabsichtigt, selbst mit langfristigen
Pachtverträgen Weideland aus diesem Gemeineigentum in Betrieb zu
nehmen und durch bessere Bewirtschaftung, Aufforstung u. s. f. der
Bevölkerung die Schädlichkeit ihrer jetzigen Wirtschaftsweise und den
Nutzen einer besseren praktisch vor Augen zu führen.
Miszellen. 823
XVIII.
Ueber eine Umkehrung des „von Thünenschen Gesetzes“.
Von Prof. Adolf Mayer.
Die Volkswirtschaftslehre verdankt von Thünen bekanntlich die Auf-
stellung des Gesetzes, welches ausspricht, daß die Preise der landwirt-
schaftlichen Produkte sich richten nach den Produktionskosten auf dem
unter den ungünstigsten Verhältnissen produzierenden Ackerland, das noch,
um die vorhandene Nachfrage zu decken, notwendig bebaut werden muß.
Auf diese Weise entsteht für das bessersituierte Land die Grundrente,
welche dort dem produzierenden Unternehmer in den Schoß fällt. —
Der Nachweis wurde geführt durch die Fiktion des abgeschlossenen
Landes mit inneren und äußeren Kreisen verschiedener Intensität des
Betriebes — „der isolierte Staat“ — also durch glückliche Abstraktion.
Ich weiß nicht, ob auch von der Möglichkeit einer Umkehrung
dieses Gesetzes in der Wissenschaft der Volkswirtschaftslehre schon
die Rede war. Die angesammelte Literatur ist ja enorm und für den
Außenstehenden schwierig zu übersehen. Aber gewiß gibt es Fälle —
und ich bin mit einem derselben in meiner Tätigkeit als Agrikultur-
chemiker praktisch in Berührung gekommen — wo nicht die eherne
Nachfrage, sondern das eherne Angebot die Sache regelt. Fäkalien
werden durch die großen Städte naturnotwendig erzeugt, und soweit
nicht Kanalisation ohne Berieselung besteht, was doch noch lange nicht
allgemein durchgeführt ist und wovon, soweit sie durchgeführt ist, man
auf die Dauer wohl wieder wird abkommen müssen, entsteht dadurch
ein Angebot von Düngestoffen, dem eine sehr zögernde Nachfrage nach
denselben gegenübersteht. Die Analogie wird vollständig gemacht durch
den Umstand, daß sich diese Nachfrage in Zonen voneinander gliedert,
ganz ähnlich wie die konzentrischen Kreise des Thünenschen Staates.
Zunächst um die große Stadt herum finden sich in der Regel gärtnerische
Betriebe, denen der Gebrauch der städtischen Auswurfstoffe sehr genehm
ist, da sie beinahne gar keine Transportkosten aufzuwenden haben, um
dieselben zu gebrauchen. Dann wird aber in den weiteren Entfernungen
die Sache je länger je schwieriger, da die Transportkosten mehr und
mehr steigen, bis wir endlich die Zone erreichen, wo der Gebrauch
überhaupt unmöglich wird, weil die Transportkosten den vollen Betrag
des Gebrauchswertes der Düngmittel erreicht haben.
824 Miszellen.
Da nun die Fäkalien zu jedem Preise von der Hand gesetzt
werden müssen, so ergibt sich, daß, da auch hier das obige Gesetz mit-
spricht: auf einem Markt die Preise bestimmt werden
durch den Gebrauchswertder Fäkalien derjenigenäußer-
sten Zone, die noch notwendig an dem Ankauf sich be-
teiligen muß, um alles abzusetzen. —
Bei Verbesserung der Transportmittel oder der Transportfähigkeit
der Ware (das letztere z. B. auf dem Wege der Poudrettefabrikation)
rücken die maßgebenden Zonen nach außen, im umgekehrten Falle, z. B.
infolge der Verdünnung durch Wasserspülung, nach innen. — Dasselbe
ist ja variatis variandis auch beı dem von Thünenschen Staate der
Fall. Das Gesetz bleibt darum doch bestehen. Es müssen nur andere
Variabeln in die Gleichung eingesetzt werden. In jedem Falle erhellt,
daß die Gebraucher der inneren Zone infolge der Umstände eine
Prioritätsrente genießen, die darin besteht, daß sie zu demselben Preise
mitkaufen können, welche den äußeren Zonen durch die Notwendigkeit
auferlegt wird. Auch die Grundrente ist ja nur ein besonderer Fall
für das, was man später unter dem mehr allgemeinen Ausdruck von
Prioritätsrente zusammengefaßt hat. — Offenbar muß es auch andere Fälle
geben, in denen dieselbe Gesetzmäligkeit sich geltend macht. Meine
Absicht war nur, ganz prinzipiell auf diese Umkehrung eines an und
für sich schon bekannten Prinzipes aufmerksam zu machen. Wer weil,
wo dasselbe eine nützliche Anwendung findet.
Literatur. 825
Literatur.
IV.
Literatur über die Produktions- und Absatzverhältnisse
im Bergbau.
Von Dr. Hermann Levy.
1) Bosenick, A., Der Steinkohlenbergbau in Preußen und das
Gesetz des abnehmenden Ertrages. Tübingen (Laupp) 1906. VI +
114 SS.
2) Stillich, O., Steinkohlenindustrie. Leipzig (Jäh und Schunke)
1906. VI -+ 357 SS.
3) Thomas, A., The Growth and Direction of our foreign Trade
in Coal. Journal Royal Statistical Society. 30. September 1903.
4) Uhde, K., Die Produktionsbedingungen des deutschen und eng-
lischen Steinkohlenbergbaues. Jena (Gustav Fischer) 1907. XI +
216 SS.
5) Stoepel, K. Th., Die deutsche Kaliindustrie und das Kali-
syndikat. Halle a. S. (Tausch und Grosse) 1904. IV + 329 SS.
6) Heimann, R., Die neuere Entwickelung des Kalisyndikats.
Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung etc. 1906.
Die genannten Abhandlungen ermöglichen insofern eine zusammen-
fassende Besprechung, als sie insgesamt die Produktions- und Ab-
satzverhältnisse des Bergbaus, insbesondere des Kohlen- und Kali-
bergbaus, untersuchen. Wenn wir diesen Stoff als den Kernpunkt
jener Schriften herausschälen, zeigt es sich vor allem, wie verschieden
die Methode einer Klarlegung jener Verhältnisse sein kann.
Dr. Bosenick, der bereits ein bemerkenswertes Buch über die
Arbeitsteilung im Kohlenbergbau geschrieben hat, versucht die Produk-
tionsverhältnisse im preußischen Kohlenbergbau nach der theoretischen
Seite hin zu behandeln. Er stellt sich die Aufgabe, den Einfluß des
Gesetzes vom abnehmenden Ertrage auf den Kohlenbergbau zu ent-
wickeln und gewinnt damit einen geeigneten Ausgangspunkt für die
Beurteilung und Analyse unserer Kartellentwickelung und deren Wir-
kungen.
Die Anwendung des Gesetzes vom abnehmenden Ertrage auf den
826 Literatur.
Bergbau ist nicht neu. Dagegen ist es lehrreich, an der Hand der
Ausführungen des Verfassers zu verfolgen, wie sich jenes Gesetz ge-
rade im preußischen Kohlenbergbau in dessen einzelnen Produktions-
stadien offenbart. Die für den Nationalökonomen etwas ermüdenden
detaillistischen Erörterungen über Technik und Oekonomie der Förde-
rung, über Grubenausbau und Schächte dienen dazu, im einzelnen die
Wirksamkeit jenes genannten Gesetzes zu erweisen und zugleich dar-
zulegen, welche Mittel dem Unternehmer zu Gebote stehen, um die ihm
nachteiligen Wirkungen desselben zu supendieren. Das Hauptmittel
hierfür ist: eine Steigerung der Kapitalkonzentration. Diese ermöglicht,
wie Bosenick zeigt, daß die Kosten des maschinellen Transportes, also
die Kosten der Förderung im Gegensatze zu denen der Gewinnung, dem
Gesetz des zunehmenden Ertrages unterworfen werden. So ent-
steht in dem Male, wie sich bei der zunehmenden Tiefe des Bergbaus
das Gesetz vom abnehmenden Ertrage geltend macht, die Tendenz, durch
eine beständige Vermehrung und Konzentration des Maschinenkapitals
der Wirkung jenes Gesetzes auf die Rentabilität des Bergbaus ent-
gegenzuarbeiten.
Mit außerordentlichem Fleiß hat der Verfasser einen großen Schatz
von Material gesammelt, an dessen Hand er die einzelnen Züge jener
Entwickelungstendenz genau analysiert. Die zunehmende Kapitalkonzen-
tration geht danach unter einer ausgeprägten Kapitalimmobilisation vor
sich, d. h. das stehende Betriebskapital wächst im Vergleich, ja zum
Teil auf Kosten des umlaufenden (in Löhnen und Material verausgabten
Kapitals. Es ist nun unleugbar, daß diese Tendenz die Möglichkeit und
Basis einer Kartellorganisation der Produzenten erweitert. Denn der
steigende Anteil des fixen Kapitals im Produktionsprozeß erschwert
sicherlich das Aufkommen neuer Konkurrenz, die sich weit eher da
bildet, wo das Schwergewicht der Produktion noch in der Handarbeit
beruht. Weiter verstärkt auch die Kapitalimmobilisation das Bedürfnis,
den Wettbewerb auszuschalten, in dem Maße, wie sie die Schwerüber-
tragbarkeit des Betriebskapitals erhöhte, und daher den Wunsch der
Produzenten steigert, den kapitalentwertenden Konkurrenzkampf nicht
fortzusetzen. Allein, weit über das Ziel hinaus eilt die aus jener Ten-
denz abstrahierte Folgerung des Verfassers: daß „die große Kapital-
immobilisation und die damit einhergehende Schwerübertragbarkeit und
Schwervermehrbarkeit der Kapitalien den letzten Grund für die
Entstehung kartellartiger Gebilde“ darstelle. Dies hat wohl auch Bren-
tano, der zuerst jenen ganzen Zusammenhang aufdeckte, nicht gemeint.
Die Kapitalimmobilisation verstärkt einerseits die Monopolisierbarkeit
eines Produktionszweiges, sie verstärkt also die Voraussetzungen der
Monopolorganisation. Sie erhöht andererseits die Gefahren eines
Verlustes auf seiten der Unternehmer, verstärkt also das Streben
nach Ausschaltung des Wettbewerbs. Allein trotz Kapitalimmobilisation
gibt es keine Kohlenkartelle in England! Das hätte dem Verfasser
bei Auffindung des „letzten Grundes“ der Kartellbildung zu denken
geben müssen. Er hätte dann vielleicht einsehen müssen, dab
nicht die Monopolisierbarkeit der Produktion, wie sie durch die
Literatur. 827
Schwervermehrbarkeit entsteht, allein maßgebend für die Entstehung der
Kartelle ist, sondern auch die Monopolisierbarkeit des Ab-
satzes und daß diese sowie die Gründe, welche zu ihrer Ausnützung
führen, notwendigerweise ebenfalls für die Entstehung einer Monopol-
organisation maßgebend sind. Ein Vergleich zwischen den Absatz-
verhältnissen der deutschen und englischen Kohlenindustrie, von denen
die eine eine Monopolisierbarkeit des Absatzes aufweist, die andere nicht,
wäre dem Verfasser in dieser Hinsicht nützlich gewesen, indem er ihn
vor einer etwas voreiligen Zuspitzung seiner Schlußfolgerungen bewahrt
hätte.
Zustimmen kann man im allgemeinen den letzten Erörterungen der
Schrift. Sie schildern den Weg vom Kartell zum Trust. Es ist richtig,
daß einem Trust weniger als einem Kartell daran gelegen ist, alle
Betriebe, auch die ungünstigsten, zu erhalten, und daß daher das Streben,
das Gesetz vom abnehmenden Ertrage zu suspendieren, beim Trust am
stärksten in Erscheinung treten muß. Es ist auch anzunehmen, daß die
Tendenz zur Vertrustung fortschreitet, in dem Maße wie die Föder-
beschränkungen den günstig arbeitenden Werken Opfer zu Gunsten der
ungünstig wirtschaftenden Gruben auferlegen. Daß aber in praxi ein
Trust die ungünstig arbeitenden Betriebe durchaus nicht immer aus-
schaltet, das haben die Erfahrungen in Amerika gezeigt. Dort besitzt
z. B. der Stahltrust eine ganze Reihe von Werken, die zu hohen Kosten
und nur in Haussezeiten an der Produktion teilnehmen, und der Schutz
„der schwachen Betriebe“, den Bosenick beim Trust beseitigt sieht,
spielt nach wie vor eine mächtige Rolle. Also auch hier sind allzu
scharfe Schlußfolgerungen nicht am Platze!
Im ganzen aber wird die Schrift Bosenicks einen sehr günstigen
Eindruck auf den Leser ausüben. Denn sie zeigt überall das wissen-
schaftliche Streben, aus der Fülle der Einzeltatsachen das einheitliche
Zusammenwirken derselben zu erkennen und darzulegen. Einen An-
spruch auf Wissenschaftlichkeit in diesem Sinne kann die Schrift von
Stillich nicht erheben. Er scheint dies selbst empfunden zu haben,
denn er entschuldigt sich in seiner Einleitung mit den Worten: „Die
Behandlung ist in erster Linie deskriptiver Natur und erhebt sich nur
an Punkten besonderer Veranlassung auf die Höhe theoretischer Be-
trachtung.“ Angesichts dieses Selbstgeständnisses die Monographien von
sechs industriellen Betrieben als „nationalökonomische For-
schungen“ zu bezeichnen, ist vermessen. Jeder Handelskammerbericht,
jeder Leitartikel einer großen Fachzeitschrift über eine neue industrielle
Unternehmung wäre dann eine „nationalökonomische Forschung“. Auf
der anderen Seite wird ein jeder Doktorant, der eine nationalökonomische
Arbeit anzufertigen hat, darauf verwiesen, daß es sich nicht um eine
deskriptive Aneinanderfügung wirtschaftlicher Tatsachen handeln
dürfe, sondern um die wissenschaftliche Analyse gewisser sozialer Massen-
erscheinungen und um ein einheitliches, auf das Ganze gerichtetes Ur-
teil, welches die Probleme der jeweils zu behandelnden Frage zu er-
forschen und zu klären sucht. Man kann daher auch angesichts dieses
zweiten Bandes der Stillichschen Forschungen nur denen Recht geben,
828 Literatur.
die bereits früher ihnen das Prädikat „nationalökonomisch“, im wissen-
schaftlichen Sinne, versagt haben.
Allein selbst wenn der von Stillich als Ausnahme bezeichnete Son-
derfall eintritt, daß sich seine Forschung auf die „Höhe theore-
tischer Betrachtung“ erheben will, so ist das Resultat dieses
Strebens ein recht problematisches. Der Verfasser beschränkt sich
darauf, ein kurzes Resumé in fettgedruckten Lettern einer jeden seiner
Monographien beizufügen, so dab nunmehr ein kleines Mosaik von wirt-
schaftlich-technischen Einzelheiten den Abschluß bildet. Geradezu
märchenhafte Höhen aber erreicht seine theoretische Betrachtung, wenn
er hier und da ein wirkliches Gesetz zu sehen glaubt. So findet er
z. B. bei Erörterung der „Hibernia“ ein „Preisgesetz“ der Kohle:
„Der Preis der Kohle(!) steht in einem proportionalen(!) Verhältnis zu
ihrer Größe.“ (Gemeint ist, daß der Preis einer bestimmten Quantität
Kohle, soweit nicht die Normalqualität, sondern die Stücksorte
in Frage kommt, mit der Größe der Stücke steigt. Was das speziell
„proportionale“ dabei sein soll, ist nicht klar, und auch von Stillich
nicht erörtert. Nach seiner Formulierung müßte es erscheinen, als ob
der Preis „der“ Kohle überhaupt von ihrer Stückgröße abhinge, also
die verschiedenen sonstigen Kriterien der Qualität gar nicht in Frage
kämen. Aus jener oben von mir verdeutlichten Erscheinung aber ein
„Preisgesetz für den Kohlenverkauf“, etwa wie eine Rententheorie oder
ein Gesetz vom Ausgleich der Gewinne, konstruieren zu wollen, erscheint
mehr als kühn, selbst wenn man jenen Zusammenhang in verständlichere
Worte und Terminologie kleidet, als der Verfasser es getan hat.
Was nun die deskriptive Arbeit angeht, so ist anzuerkennen, daß
der Verfasser in seinen Schilderungen, besonders in den Erörterungen
über die „Hibernia“, „Gelsenkirchen“ und die Aktiengesellschaft „Königs-
born“ ein recht ansehnliches Material gesammelt hat, das dem Weiter-
studierenden von Nutzen sein kann. ‚Jedoch überwiegt überall die
Uebernahme bereits vorhandenen Materials in wörtlicher oder fast wört-
licher Fassung und die eigenen Ergänzungen, vor allem aber das eigene
Sichten, Gruppieren und Konzentrieren jenes Materials tritt stark in den
Hintergrund. Selbst zu der Hiberniaangelegenheit äußert sich der Ver-
fasser nicht selbständig, sondern er begnügt sich, ein getreues Referat
der Argumente für und wider die Verstaatlichung des Kohlenbergbaus
zu geben, und dann schließt sich das dem Verfasser eigene Resumé in
fettgedruckten Lettern an, das aber ebenfalls kein einziges neues Resul-
tat bringt. Hier wäre doch Gelegenheit gewesen, mit jenem eigen-
artigen System des bloßen Referats bereits bekannter Gedanken zu
brechen und einmal etwas wissenschaftliche „Urproduktion“ dem Leser
darzubieten. Allein lassen wir dem Verfasser seine Schreibweise, die
ihm schon in seiner Arbeit über die englische Agrarkrisis, der fast
wortgetreuen Uebernahme eines parlamentarischen Enqueteberichtes, an-
haftet. Dieses zweite Buch „nationalökonomischer Forschungen“ kann
im besten Falle nur den Wert haben, den Liefmann einst nach scharfer
Bemängelung dem ersten Buche zugesprochen hat: den Wert einer
Materialsammlung, welche zeigt, „wie sich einige schon allgemein fest-
Literatur. 829
gestellte volkswirtschaftliche Erscheinungen in den Verhältnissen einzelner
großer Unternehmungen spiegeln“.
Während hier ein Angehöriger der nationalökonomischen Wissen-
schaft diese, selbst bei gewiß emsigen Einzelstudien, nicht merklich zu
bereichern vermochte, hat ein englischer Kohlenindustrieller, der Ab-
geordnete D. A. Thomas, eine Studie veröffentlicht, welche neben den
aus eigener Erfahrung hervorgegangenen Sonderuntersuchungen äußerst
beachtenswerte Gesamtresultate wissenschaftlichen Charakters liefert.
Thomas untersucht zunächst historisch die Entwickelung der englischen
Kohlenindustrie, die Triebtedern und Umstände, welche ihr bereits seit
dem Ende des 18. Jahrhunderts zu ihrer heutigen Weltstellung ver-
holfen haben. An Hand eingehender statistischer Untersuchungen werden
von ihm dann im zweiten Teile seiner Abhandlung die Kohlenexport-
verhältnisse, insbesondere die Richtung des Fxports und die Chancen
seiner Weiterentwickelung geschildert. Der Verfasser hat das riesige
Exportgebiet englischer Kohle in zehn Gruppen oder Distrikte zerlegt
und unter genauer Berücksichtigung der Preis- und Frachtverhältnisse
für jeden einzelnen dieser Distrikte die heutigen Absatzverhältnisse eng-
lischer Kohle geschildert. Die Frage, wie hohe Kohlenpreise in Eng-
land den Auslandsabsatz beeinflussen, führt den Vertasser zu einer
Untersuchung der Momente, welche zu den zeitweiligen enormen Preis-
schwankungen in Kohle zu führen pflegen und eine Kohlennot wie in
England die von 1873 und 1900 hervorrufen. Vielleicht wäre hier
einiges über die früheren Kartelle, die ja Thomas bekannt sind, zu
sagen gewesen und über die Art der heutigen Preisbildung in England
selbst. Denn da in Deutschland der von Thomas oft erwähnte steigende
Kohlenexport nicht zum geringsten einen Ausfluß der Kartellpolitik dar-
stellt, so wäre es wichtig gewesen, die Stellung des nichtkartellierten
Unternehmertums in England zur Exportfrage zu erörtern. Dann hätte
man freilich Untersuchungen über den inländischen Preis anstellen
müssen, der, wie man aus dem Buch von Ashley (Adjustment of
Wages) entnehmen kann, auch in England auf unbestrittenen Märkten
höher gehalten wird als da, wo eine Konkurrenz der verschiedenen
Produktionszentren herrscht. Allein auch ohne jene Erörterung sind
die Resultate des Verfassers wertvoll: obschon die Kohlenexporte Eng-
lands im ganzen ein großes und ständiges Wachstum zeigen, hat der
anderweitige Wettbewerb den Absatz englischer Kohle auf vielen
Märkten, die früher ganz von England abhingen, stark ge-
schmälert. Teils ist in einzelnen Ländern die Eigenproduktion an
Stelle der Einfuhr getreten, wie z. B. in den Vereinigten Staaten von
Amerika, teils haben sich einzelne Länder zu wichtigen Exportstaaten
entwickelt. So empfindet England die deutsche Kohlenkonkurrenz
in den verschiedensten europäischen Ländern, im fernen Osten dagegen
die immer stärker anwachsenden Exporte Indiens und Japans. Von
wichtigen Märkten, welche Englands Kohle noch so gut wie ausschließ-
lich beherrscht, sind noch übrig: Teile der französischen und der Mittel-
meerküste, Brasilien, Uruguay, Argentinien und die Westküste Afrikas.
Dr. Uhde, der die Produktionsbedingungen des deutschen und eng-
830 Literatur.
lischen Kohlenbergbaus miteinander vergleicht, hätte gut getan, sich mit
den Ausführungen von Thomas bekannt zu machen, da sie ihm bei der
Erörterung des Außenhandels sicherlich wertvolle Dienste geleistet hätten.
Auch in seiner Schrift spielt der Wettkampf zwischen englischer und
deutscher Kohle eine wichtige Rolle, obschon nicht die Absatz-, sondern
die Produktionsverhältnisse der Kohle den Hauptgegenstand seiner Er-
örterungen bilden. Die Arbeit Uhdes ist sorgfältig durchgeführt und
mit reichlichem statistischen Material versehen. Die Abschnitte über
Kapitalbesitz und Kapitalstatistik dürften besonderes Interesse erregen.
Ebenso bieten die Preisvergleiche manche interessanten Ergebnisse:
ein Vergleich der englischen Preise von Steinkohle ab Werk mit denen
der drei großen deutschen Bezirke in der Zeit von 1882—1903 zeigt,
daß die Preissteigerung der letzten 5 Jahre jener Periode in England
nicht geringer war als in Deutschland. Im übrigen wird die Schrift
Uhdes wohl hauptsächlich als eine deskriptive und orientierende Arbeit
aufzufassen sein, die wohl geeignet ist, weiteren Forschungen auf diesem
Gebiete als Grundlage zu dienen.
Die Arbeit von Dr. Stoepel über die Kaliindustrie ist eine volks-
wirtschaftliche Studie, die allgemeine Beachtung verdient. In dem
ersten Teile der Arbeit erfahren wir die Geschichte der Kaliindustrie,
insbesondere auch die Entstehungsgeschichte des Kalisyndikats, dessen
Anfänge auf die Jahre 1872—1874 zurückreichen. Es folgt im zweiten
Abschnitt eine für den Nichtfachmann wichtige Beschreibung der
einzelnen Kalirohsalze und deren Fabrikate, dann wird die Bedeutung
der Kaliindustrie für die Landwirtschaft und die chemische Industrie
erörtert, wobei es dankenswert ist, daß die einzelnen Zweige der
chemischen Industrie, für welche Kali von Bedeutung ist, einzeln und
ausführlich behandelt werden. Der Leser hat dann genug von der
technischen und wirtschaftlichen Bedeutung des Kali erfahren, um mit
Verständnis den Ausführungen über das Kalisyndikat und die, jene
Frage umgebenden Probleme folgen zu können. Im letzten Abschnitte
werden uns gewisse Retormvorschläge vorgeführt: so die Reform der
rechtlichen Verhältnisse im hannöverschen Kalibergbau, die Frage der
monopolistischen Ausgestaltung des Kalibergbaus, das Projekt eines
Kaliausfuhrzolls, die Abwässerungsfrage u. s. w. Der Verfasser sieht
in dem Kalisyndikat ein Fiskuskartell, das auch für die organisatorische
Ausgestaltung anderer Industrien, z. B. der Kohlenindustrie, vorbildlich
sein könne. Demgegenüber verwirft er die Idee einer Verstaatlichung
des Kalibergbaues, gegen die er verschiedene, durchaus stichhaltige
Argumente anführt. Bedeutsam sind auch die Ausführungen über das
Ausfuhrzollprojekt, das ja seit dem Erscheinen des Stoepelschen Buches
infolge eines — freilich vorläufig gescheiterten — Antrags im Reichs-
tag wieder neues Interesse gewonnen hat. Stoepel weist den Gedanken
eines Ausfuhrzolls aus verschiedenen Gründen ab. Unwahrscheinlich
ist seine Annahme, daß ein Ausfuhrzoll zu einer Steigerung der aus-
ländischen Kaliproduktion führen würde. Diese ist so unbedeutend und
im Vergleich zu der unserigen so kostspielig, daß sie ein deutscher Aus-
fuhrzoll von geringer Höhe nicht wesentlich rentabler machen würde.
Literatur. 831
Richtiger ist es, wenn Stoepel darauf verweist, daß bei unseren uner-
meßlichen Schätzen an Kali und der bisherigen Politik des Syndikats,
an das Ausland teuerer zu verkaufen als an das Inland, insbesondere
die deutschen Landwirte, eine Maßnahme ungerechtfertigt erscheinen
müsse, die der deutschen Kaliindustrie den Absatz im Auslande nur er-
schweren könne. Die Zeit, welche seit dem Erscheinen des Buches
verflossen ist, hat dem Verfasser nicht in allem recht gegeben. So hat
er augenscheinlich die Machtstellung des Syndikats im Auslande über-
schätzt, wenn er es so hinstellt, als ob das Syndikat seine outsiders
auf fremden Märkten mit Leichtigkeit niederkonkurrieren könne. Die
jüngsten Erfahrungen des Syndikats widersprechen dieser Ansicht. Sie
haben gezeigt, daß potente outsiders (Sollstedt) auch im Auslandsabsatze
mit dem Syndikat erfolgreich konkurrieren können, während Stoepel
gemeint hatte, daß ihr Wettbewerb mit dem Syndikat „auf dem Welt-
markte“ „undenkbar“ sei.
Im Gegensatz zu dem zuvor besprochenen Buch von Uhde muß
betont werden, daß die Arbeit von Stoepel in angenehmem Styl und
fließender Darstellung verfaßt ist und nicht nur als brauchbare Material-
sammlung, sondern auch als anregende wirtschaftspolitische Lektüre be-
trachtet werden kann.
Im Mittelpunkte der Arbeit von R. Heimann, die hier noch kurz
erwähnt werden soll, steht ebenfalls die Frage des Staatsmonopols in
der Kaliindustrie sowie das Problem eines Ausfuhrzolles.. Heimann be-
handelt eingehend den Antrag auf Einführung eines Kaliausfuhrzolls,
der am 1. März 1906 in der Steuerkommission des Reichstags zur Ver-
handlung kam. Gegen die Einführung eines Ausfuhrzolls spricht nach
Heimann: 1) Das reiche Vorkommen der Kalisalze, das eine Erschöpfung
in absehbarer Zeit nicht befürchten läßt. 2) Das Bestehen des Kar-
tells, das keine Schleuderpolitik treibt. 3) Die Möglichkeit einer Ab-
wälzung des Ausfuhrzolls auf den inländischen Konsumenten durch Er-
höhung der Inlandspreise. 4) Die Gefahr von Retorsionsmaßnahmen.
Daß Amerika, wie Heimann meint, auf Petroleum oder Kupfer Retor-
sionsausfuhrzölle gegen Deutschland erheben werde, ist höchst unwahr-
scheinlich. Denn die Zollerhebung bei der Ausfuhr nur nach einem
bestimmten Lande wäre hier in ihrer technischen Durchführung geradezu
unmöglich. 5) Als letztes Argument gegen den Ausfuhrzoll führt Hei-
mann dessen geringen fiskalischen Ertrag an und schließt so die Kette
seiner Einwände, deren Mehrzahl wir beipflichten können. Die Arbeit
Heimanns bildet in manchen Teilen eine lehrreiche Ergänzung des
Stoepelschen Buches.
832 Literatur.
W
Zur Gewerbegeschichte und -politik.
Von Fritz Schneider-Sorau N.-L.
Badtke, Walther, Zur Entwickelung des deutschen Bäcker-
gewerbes. Samml. nationalök. u. statist. Abhandl. d. staatsw. Seminars
zu Halle a. S., Bd. 52. Jena (Gustav Fischer) 1906. 216 SS.
Rabius, Wilhelm, Der Aachener Hütten-Aktien-Verein in Rote
Erde 1846—1906. Volksw. u. wirtschaftsgesch. Abhandl. von Stieda,
N. F., Heft 8. Jena (Gustav Fischer) 1906. VII u. 145 SS.
Gehrke, Franz, Die neuere Entwickelung des Petroleumhandels
in Deutschland. Ergänzungsheft 20 der Zeitschr. f. d. ges. Staatsw.,
Tübingen (H. Laupp) 1906. VII u. 121 SS.
Lochmüller, W., Zur Entwickelung der Baumwollindustrie in
Deutschland. Abhandl. des staatsw. Seminars zu Jena, Bd. 3, Heft 3.
Jena (Gustav Fischer) 1906. VII u. 127 SS.
Leontief, Wassilij, Die Lage der Baumwollarbeiter in St. Peters-
burg. München (Ernst Reinhardt) 1906. 114 SS.
Brauns, Heinrich, Der Uebergang von der Handweberei zum
Fabrikbetrieb in der Niederrheinischen Samt- und Seidenindustrie und
die Lage der Arbeiter in dieser Periode. Staats- u. sozialw. Forsch.
von Schmoller u. Sering, Bd. 25, Heft 4. Leipzig (Duncker & Humblot).
XII u. 256 SS.
Reimers, Charlotte, Die Berliner Filzschuhmacherei. Staats-
u. sozialw. Forsch. von Schmoller u. Sering, Bd. 21, Heft 4. Leipzig
(Duncker & Humblot). VIL u. 84 SS.
Rosenhaupt, Karl, Die Nürnberg -Fürther Metallspielwaren-
industrie in geschichtlicher und sozialpolitischer Beleuchtung. Münch.
volksw. Studien von Brentano u. Lotz, 82 Stck. Stuttgart (Cotta) 1907.
X u. 219 SS.
Bernhard, Ludwig, Handbuch der Löhnungsmethoden. Leipzig
(Duncker & Humblot) 1906. XLIV u. 234 SS. u. 4 graph. Tafeln.
Gemeinsam ist den vorliegenden Arbeiten (außer der letztgenannten)
in erster Linie der äußerliche Umstand, daß sie in Seminarien zu Disser-
tationszwecken entstanden sind. (Bernhard hat eine deutsche Bear-
beitung des Buchs von Schloss „Methods of industrial remuneration“
geliefert.) Gemeinsam ist ferner allen aufgeführten Arbeiten, daß sie
Literatur. 833
sich mit gewerblichen Gegenständen befassen. Ich habe sie nach der
üblichen Gewerbeeinteilung aneinandergereiht und bespreche sie einzeln
in dieser Folge. — Badtke stellt auf Grund eingehender, selbständiger
Studien die älteste und die zünftlerische Geschichte der Bäckerei dar,
schildert dann den Uebergang zur Gewerbefreiheit und die neueste Ent-
wickelung an der Hand der Statistik. Wir verfolgen so durch die
Jahrhunderte die Umgestaltung von der Lohn- zur Marktbäckerei.
Haus-, Lohn- und Marktbäckerei haben freilich von jeher nebeneinander
bestanden wie heute, aber streitig ist namentlich für die älteste ger-
manische Zeit, in welchem Umfange. B. legt Gewicht darauf, von An-
fang an die Preisbäckerei nachzuweisen. Die mittelalterliche Zunft-
geschichte wird aufs gründlichste behandelt und mit Hilfe eigener
archivalischer und anderer Studien insbesondere nach der wirtschaft-
lichen Seite in manchen Beziehungen geklärt. Wesentliches bietet sich
hier nicht, die Zunftgeschichte ist ja nach allen Seiten bearbeitet. Die
Untersuchung der neuzeitlichen Verhältnisse wird sehr zweckmäßig nach
Großstädten im einzelnen und für das Reich im ganzen (an der Hand
der Berufszählungen) durchgeführt. Nun reicht infolgedessen die Dar-
stellung nur bis zum Jahre 1895. Wir haben neuerdings durch den
deutschen Bäckerverband eine bis 1906 reichende Enquete erhalten,
welche im ganzen zwar die Resultate B.s bestätigt, aber doch zeigt, daß
gerade im letzten Jahrzehnt die Entwickelungstendenz der kapitalisti-
schen Konzentration sich schärfer! ausprägt, als B. annehmen mußte.
B. konnte feststellen, daß die Gewerbefreiheit die Entwickelung zum
größeren Betriebe zweifellos inauguriert habe, daß aber eine Ueber-
setzung des Gewerbes nicht eingetreten sei. Indes kann er nicht ver-
schweigen, daß eine große Zahl unrationeller Zwergbetriebe entsteht
und vergeht. Man muß hervorheben, daß B. seinen Gegenstand aufs
sicherste beherrscht und nach allen Richtungen aufs sorgfältigste bear-
beitet hat; durch das Ganze leuchtet insbesondere die praktische Kennt-
nis der konkreten Verhältnisse, und es scheint mir deshalb auch er-
wähnenswert, daß B. sich bei seiner abweichenden Festsetzung der
Grenze des Bäckereigroßbetriebes (mindestens 10 Arbeiter) in Ueberein-
stimmung mit der Enquete des Bäckerverbandes befindet. — Rabius’
Darstellung der Entwickelung des Hütten-Vereins Rote Erde ist im
wesentlichen ein Ruhmesblatt der die letzten drei Jahrzehnte umfassen-
den Verwaltung Kirdorf-Magery. Das Buch soll nicht getadelt werden,
obwohl eine geschlossen fortschreitende, organisch zusammenhängende
Darstellung zu vermissen ist, während mehr die historische Durchführung
einzelner Seiten der Verwaltung in getrennter Darlegung, manchmal
sogar aus dem Zusammenhang heraus zurück- und vorgreifend geboten
wird. Wertvoller wäre es zweifellos für die Bereicherung der Wirt-
schaftsgeschichte gewesen, wenn R. sich bemüht hätte, die Geschichte
der ersten 30 Jahre gründlicher zu bearbeiten und für diese Zeit eine
Darstellung zu bieten, die den Blick in den inneren Mechanismus des
Hütten-Vereins-Betriebes, in den Werdegang der Geschäftsleitung und
wirtschaftlichen Organisation eröffnet. hätte. Denn für die moderne
Industrieentwickelung, namentlich in Rheinland-Westfalen, haben wir
Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII). 53
834 Literatur,
Material und Bearbeitung genug. — Gehrkes Arbeit bringt eine mit
Rücksicht auf die neuere Bewegung des Petroleummarktes in Deutsch-
land sehr dankenswerte Uebersicht der Lage gewissermaßen als Fort-
setzung der bekannten R. Schneiderschen Arbeit von 1902. Nach kurzer
Darlegung des Standes der Industrie an den verschiedenen Fundstätten
der Welt schildert G. die Handelsorganisation und den Wettbewerb der
Petroleum-Großmächte sowie die Entwickelung der Preisbewegung. Die
Darstellung ist knapp und klar auf Grund einer völligen Beherrschung
des Stoffes, soweit sie für einen außenstehenden Beobachter möglich.
Wenn G. zwar etwas naiv Meinungen über Aussichten und Entwicke-
lungstendenzen der Industrie vorträgt, so wird man doch im ganzen
(bei Differenzen in Nebenpunkten) der umsichtigen, verständigen und
objektiven Beurteilung der Lage zustimmen müssen. — Lochmüller
bringt eine Skizze der heutigen Lage der deutschen Baumwollindustrie
mit Vorbemerkungen über die Baumwolle, über die technische und wirt-
schaftliche Entwickelungsgeschichte der Industrie und statistischen Ta-
bellen. Die Arbeit betrachtet etwas eingehender die brennenden Tages-
fragen: die Zollpolitik, den Börsenhandel, die Arbeiterfrage und die
Kartellbewegung. Verfasser sieht die Baumwollindustrie so an, wie sie
sich etwa vom Bureau des Zentralverbandes deutscher Industrieller aus
darstellt, und der Generalsekretär des Baumwollgarn-Konsumenten-Ver-
bandes dürfte nicht gerade angenehm berührt sein von seiner nachdrück-
lichen Anrufung im Vorwort. Ich will nicht sagen, daß L. sich nicht
der Objektivität befleiligt, aber weder gelingt es ihm, dies Ziel zu er-
reichen noch bereichert er die Wissenschaft oder Praxis, noch können
die Bemerkungen des Vorworts die Mängel der Arbeit entschuldigen.
Namentlich das Kapitel über die Arbeiterverhältnisse ist mehr als
dürftig. — Leontief liefert eine ausgezeichnete Darstellung der
Arbeitsverhältnisse in der russischen Baumwollindustrie, insbesondere
derjenigen Petersburg. Weder die offiziösen und halboffiziösen
russischen Werke über die dortige Industrie noch deutsche Reise-
studien können uns die tatsächlichen Verhältnisse so unverstellt
und konkret naherücken, und man muß wünschen, daß wir noch
recht viel derartige Spezialarbeiten wie die von L. bekommen.
Die landsmännische Kenntnis der heimischen Zustände mit dem
Blick für die richtige Einordnung des Einzelnen ins Allgemeine
und dem vorurteilslosen Streben nach wissenschaftlicher Objektivität
läßt ein Bild entstehen, welches jedes Detail im Zusammenhang der
nationalen Eigenart lebendig werden und organisch hervorwachsen läßt,
ohne die ständige Verbindung mit der modernen Weltwirtschaft zu ver-
nachlässigen. Es ist ein Vorzug des Buches, daß aus dieser eindring-
lichen und umfassenden Behandlung der Aufgabe eine Erhöhung der
nationalökonomischen zur Kulturskizze hervorgegangen ist. Und so gibt
diese Spezialbearbeitung auch wieder ein Bild der russischen Industrie-
verhältnisse im ganzen, in ihrer Entwickelung und ihrer gegenwärtigen
Lage, bezeichnend für das, was man als „russische“ Zustände kennt,
lehrreich für den Wirtschaftspolitiker und den deutschen Exporteur. —
Brauns bringt in Ergänzung der Arbeiten von Thun und Gottheiner
Literatur. 835
über die niederrheinische Seidenindustrie eine sehr gründliche und um-
fassende Darstellung der Krefelder Industrie im Uebergang von der
Haus- zur Fabrikindustrie. Der größere Teil des Buchs ist der
Hausindustrie gewidmet, und die mechanische Weberei wird gewisser-
malen von unten her, d. h. vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der
Arbeiterlage betrachtet. (Daher auch die etwas zu ausgiebige Behand-
lung der Technik.) Im übrigen soll dies kein Vorwurf sein, da der
Ausgangspunkt des Verfassers eben die „sozialpolitische“ Seite der Sache
ist. Die geschilderten Verhältnisse sind für die Textilhausindustrie
typisch, und B. hat sie nach allen Richtungen der eingehendsten Be-
leuchtung unterzogen. Man wird seine Beurteilung der Hausindustrie
nicht anzweifeln können, während die Kritik und die Forderungen be-
züglich der Fabrikindustrie etwas beeinflußt sind von dem vorher ge-
meldeten Prinzip der Arbeit. — Reimers stellt in einer durch Kürze
und dabei eindringendes Sachverständnis ausgezeichneten Arbeit in einem
nach allen Seiten klar beleuchteten Bilde die Berliner Filzschuhmacherei
als Haus- und Fabrikindustrie dar. Wir haben es hier nicht mit einer
nüchternen Dissertation zu tun, sondern mit einem wohlabgerundeten
Werke, in dem sich eine Persönlichkeit mit scharfem Blick, Kenntnis
der Volkswirtschaft und warmem Herzen für ihren Gegenstand doku-
ımentiert. Die Natur der Aufgabe bringt es mit sich, daß die Verfasse-
rin die Darlegung der Arbeiterverhältnisse in den Vordergrund schiebt, es
rechtfertigt sich daraus auch ihre Beurteilung der volkswirtschaftlichen
Bedeutung der Berliner Schuhindustrie. Man kann danach im ganzen
der Verfasserin die Anerkennung einer wohldurchdachten, konsequenten
Auffassung nicht versagen, ohne durchaus mit ihr einverstanden zu sein.
— Eine ähnliche Arbeit, dem Gegenstande und der Anlage nach, ist die
von Rosenhaupt über die Nürnberg-Fürther Spielwarenindustrie Die
Fürther Industrie hat sich erst im 18. Jahrhundert neben und im
dauernden Wettbewerb mit der Nürnberger entwickelt, bis beide um
die Mitte des vorigen Jahrhunderts durch den Handel, für den die ge-
samte Spielwarenindustrie dort arbeitet, wieder zum Ganzen verschmolzen
werden. In Nürnberg haben die Großbetriebe mehr Uebergewicht, in
Fürth die Mittel- und Kleinbetriebe. Das gesunde Nebeneinander dieser
verschiedenartigen Betriebe ist der Arbeitsteilung, der stets wechseln-
den Mannigfaltigkeit dieser Produktion zu danken. Dabei ist allerdings
die Lage der Hausarbeit und Heimarbeiter eine sehr schlechte, teils
infolge der Abhängigkeit vom Handel und der Kapitallosigkeit, teils
infolge der Beschränktheit und Energielosigkeit der Leute. Rosenhaupt
führt das in umfassender Untersuchung mit sorgfältiger Abwägung
aller Momente im Detail aus. Unter den Vorschlägen zur Hebung der
Hausindustrie legt R. mit Recht größten Wert auf die genossenschatt-
liche Organisation und die Fachschulbildung. Hinsichtlich der Heim-
arbeit ist hervorzuheben, daß die Kinderarbeit noch immer und trotz
des Gesetzes von 1903 eine große Rolle spielt. — Bernhards „Be-
arbeitung“ des Buchs von Schloss ist von zweifelhaftem Wert, eine Aus-
gabe des Sch.schen Werkes wäre verdienstvoller gewesen. Sch.s Dar-
stellung hat mit ihrer veralteten, an die „klassische“ Schule anknüpfen-
53*
836 Literatur.
den Methode und ihrem beschränkten Gesichtspunkt nur noch historischen
Wert und ist inzwischen von deutschen Arbeiten überholt worden.
Wenn nun schon keine Ausgabe, sondern eine „Bearbeitung“ vorge-
nommen werden sollte, dann hätte der Bearbeiter allerdings nicht nur
Lohnfragen-Spezialist, sondern Nationalökonom sein müssen. Daß die
sogenannten Löhnungsmethoden (Zeit-, Akkord- und Prämienlohnsystem,
woraus Bernh. sechs Systeme macht) keine verschiedenen Welten, sondern
Ausdrucksformen eines einzigen Prinzips sind, das hätte für den National-
ökonomen keiner Entdeckung durch Bernh. bedurft, und daß jenes
Prinzip nicht etwa, wie Bernh. mit Schloß denkt, der Preis der Arbeits-
leistung, sondern das allgemeine Verteilungsproblem ist, das hätte der
Nationalökonom gewußt. Bernh. bleibt völlig in dem Sch,schen Stadium
primitiver volkswirtschaftlicher Betrachtung. Es ist weder volkswirt-
schaftlich gedacht, noch privatwirtschaftlich nützlich, lediglich die Löh-
nungsmethoden aufzuzählen und, illustriert durch Beispiele, darzustellen.
Die Volkswirtschaftslehre verlangt eine eindringende Untersuchung über
die tatsächliche Anwendung, Verbreitung und Wirkung, und zwar ist
dies der grundsätzliche Gesichtspunkt für die Bearbeitung, nicht ein
nebensächlicher. Bei solcher Auffassung der Aufgabe könnte es nicht
vorkommen, daß die Lohnfrage nur vom technisch-privatwirtschaftlichen
Gesichtspunkt (hauptsächlich des Unternehmers) betrachtet wird (wie
B. das tut), sondern es würde eine sozialpolitische Klärung unter gleich-
mäßiger Berücksichtigung des Interesses auch der Arbeiter und der
Nation, sowie der außer dem Geldpreise für Arbeitsleistung maßgeben-
den Momente (Arbeitsorganisation, Wohlfahrtseinrichtungen u. s. w.)
stattfinden. Dann würde auch der untrennbare Zusammenhang mit der
Entlöhnung der Beamten und sogenannten freien Berufe nicht verloren
gehen, und es könnte nicht passieren, daß man (der Mitarbeiter B.s:
Th. Harms) von „absolut richtigen Lohnsystemen“ spricht. Hiernach
hat es keinen Zweck, noch über das Buch im einzelnen oder über B.s
Panegyrikus auf den Akkordlohn zu sprechen.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Ausland. 837
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands
und des Auslandes,
1. Geschichte der Wissenschaft. Enoyklopädisches. Lehrbücher. Spezielle
theoretische Untersuchungen.
Bernstein, Eduard, Die Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung. Ein
Kapitel zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. 1. Teil. Vom Jahre 1848 bis
zum Erlaß des Sozialistengesetzes. Illustriert. (In 17 Lieferungen.) 1. Lief. Berlin,
Buchhandlung Vorwärts, 1907. Lex.-8. VI— S. 1—16. M. 0,30.
Lensch, Paul, Sozialistische Literatur. 2 Vorträge. Leipzig, Leipziger Buch-
druckerei Aktiengesellschaft, 1907. 8. 23 SS. M. 0,15.
Marx, Karl, Zur Kritik der politischen Oekonomie. Herausgeg. von Karl
Kautsky. 2., verm. Neuausg. Stuttgart, J. H. W. Dietz Nachf., 1907. 8. LVIII—203
SS. M. 2.—.
Saitzeff, Helene, William Godwin und die Anfänge des Anarchismus im
XVIII. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte des politischen Individualismus. Berlin,
O. Häring, 1907. gr. 8. 77 SS. M. 2.—.
Weissfeld, M., Kants Gesellschaftslehre. Bern, Scheitlin, Spring & C°, 1907. gr. 8.
III—136 SS. M. 1,50. (Berner Studien zur Philosophie und ihrer Geschichte. Bd. 52.)
Zepler, G. (Berlin-Charlottenburg), Sozialrevisionistische Demokratie. Neue Wege
für Demokratie und Sozialismus. Ein Ruf an Revisionisten und Mitläufer. Berlin,
Hermann Walther, 1907. gr. 8. 43 SS. M. 1.—.
Bakounine, Michel, Oeuvres. Tome 1. Fédéralisme, Socialisme et Antithéolo-
gisme. Lettres sur le Patriotisme. Dieu et l’État. 5. édition. Paris, P.-V. Stock, 1907.
8. XL—326 pag. fr. 3,50. (Bibliothèque sociologique. N° 4.)
Bouglé, C. (Prof.), Qu'est-ce que la sociologie? Paris, Félix Alcan, 1907. 8.
175 pag. fr. 2,50.
Caird, Ed., Philosophie sociale et religion d’ Auguste Comte. Traduit de Panglais
par Miss May Crum et Charles Rossigneux. Préface de Boutroux. Paris, Giard et
Brière, 1907. 8. fr. 4.—. (Bibliothèque sociologique internationale. Tome 35.)
Denis, H., Histoire des systèmes économiques et socialistes. Tome Il: Les fon-
dateurs. Paris, Giard et Brière, 1907. 8. fr. 10.—. (Bibliothöyue internationale d’éco-
nomie politique.)
Axon, William E. A., Cobden as a citizen. A chapter in Manchester history.
A facsimile of Cobden’s pamphlet “Incorporate your borough”, with an introduction
recording his career as a municipal reformer and a Cobden bibliography. Ilustrated.
London, T. Fisher Unwin, 1907. 8. XII—207 pp. 21/.—.
Blackmar, Frank W. (Prof.), Economics. London, Macmillan & C°, 1907.
Cr. 8. 546 pp. 6/.—.
Headlam, Stewart D., The socialist’s church. London, G. Allen, 1907. 18.
V—84 pp. 1/.—. (Labour Ideal Series.)
Laycock, F. U., Political economy in a nutshell. London, Swan Sonnenschein
& C°, 1907. Cr. 8. XVI—208 pp. 2/.6.
MacDonald, J. Ramsay, Socialism and Society. 5. edition. London, Inde-
pendent Labour Party, 1907. 8. XX—186 pp. 1./—. (The Socialist Library. II.)
De Luca, Francesco, La dinamica delle forze sociali. Napoli 1907. 8. VIII
—223 pp. 1. 3,50.
Trucco, A. M., Il governo economico internazionale. Vol. II: Risoluzione del
problema economico. Milano 1907. 16. 900 pp. l. 6.—.
838 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
2. Geschichte und Darstellung der wirtschaftlichen Kultur.
Dyhrenfurth, Gertrud, Ein schlesisches Dorf und Rittergut.
Geschichte und soziale Verfassung. (Staats- und sozialwissenschaftliche
Forschungen. 25. Band, 2. Heft.) Leipzig 1906, Verlag von Duncker
und Humblot. X und 178 SS.
Georg Hanssen, der zuerst in vollkommen befriedigender Weise die
Entstehung der großen Gutsherrschaft im nordöstlichen Deutschland ge-
schildert hat, erläuterte diesen Vorgang an dem Beispiel des Gutes
Rundhof in Angeln. Seitdem hat man die Entwickelung der Guts- oder
Grundherrschaft und des landwirtschaftlichen Betriebs oft mit Erfolg
an der Geschichte eines einzelnen Besitzes erläutert. Das Allgemeine
spiegelt sich im einzelnen wider, und andererseits kann man eine zu-
verlässige Anschauung von dem Allgemeinen nur durch die Berück-
sichtigung des Einzelnen gewinnen. Monographien über ein einzelnes
Gut oder eine einzelne Ortschaft werden daher stets willkommen ge-
heißen, wenn nur die Quellen für ihre Geschichte so reichlich fließen,
daß ihre Durchforschung ein Resultat verspricht. Bei der vorliegenden
Arbeit, die sich mit dem Gut und Dorf Jacobsdorf im schlesischen
Kreis Neumarkt beschäftigt, ist diese Voraussetzung vorhanden. Be-
sonders für das 13. und 14. Jahrhundert und noch mehr für die Zeit
seit dem 17. liegt schönes Quellenmaterial vor. In einem ersten, histo-
rischen Teil der Arbeit wird dieses verwertet. Die Untersuchung wird
neben den bisher vorliegenden Schriften, die sich mit der schlesischen
Agrargeschichte beschäftigen, ihren Platz behaupten. Um ein paar
Einzelheiten hervorzuheben, so sind die Ausführungen über die Zehnt-
pflicht lehrreich. Als „Ritterrecht“ gilt die Befugnis, den Zehnten in
einer besonderen Art zu entrichten, und dies Privileg kommt denjenigen
Aeckern zu, die die Ritter mit eigenem Pfluge bebauen (S. 8 f.). Die
Nachrichten über die Zehntenzahlung unterrichten uns somit zugleich
über die Eigenwirtschaft der Ritter. Seite 18 führt die Verfasserin
eine Notiz aus dem 14. Jahrhundert an, wonach zwei Deutsche als
„Gärtner“ im Dienst sind. Es ist nun die Frage, ob wir diese Angabe
als einen Beweis des Niederganges der im 13. Jahrhundert in Schlesien
angesiedelten deutschen Kolonisten anzusehen haben. Die Verfasserin
hat gewiß recht, wenn sie auf die Möglichkeit hinweist, daß der Ein-
tritt von Deutschen in ein abhängiges Dienstverhältnis hier damit zu-
sammenhängt, daß das Land schon knapp geworden war. Jüngere
Söhne der deutschen Kolonisten konnten nicht immer mehr selbst Bauern-
güter erhalten. Interessant ist die Mitteilung über den schnellen Be-
sitzwechsel des Rittergutes Jacobsdorf: in den Jahren 1730—1852
wechselte es nicht weniger als fünfzehnmal den Eigentümer (S. 40).
Man ersieht daraus wiederum, daß die Verhältnisse der alten Zeit keines-
wegs immer so stabil waren, wie man es sich oft vorstellt. Die Theorie
von der altslavischen Zadruga wird von der Verfasserin zu zuversicht-
lich verwandt. Vergleiche dazu meinen Aufsatz „Das kurze Leben
einer viel genannten Theorie (über die Theorie vom Ureigentum)“ in der
Beilage der Allg. Zeitung, Jahrgang 1903, Nr. 11 und 12 und
Seeligers Histor. Vierteljahrschrift, Jahrgang 1904, S. 61 ff Zu
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 839
wünschen wäre, daß die Verfasserin mehr Hinweise auf die anderen
Arbeiten zur schlesischen Agrargeschichte, vor allem G. Dessmanns Buch
„Geschichte der schlesischen Agrarverfassung“ (Straßburg 1904) und
Opitz’ Arbeit über die Laudemien gegeben und sich mehr mit ihnen
auseinandergesetzt hätte. Solche Hinweise haben ja nicht dekorative
Bedeutung, sondern dienen dazu, dem Leser das Studium zu er-
leichtern.
Der zweite, umfangreichere Teil der vorliegenden Schrift schildert
die heutigen sozialen Verhältnisse in Jacobsdorf. Die Verfasserin spricht
hier auf Grund zuverlässigster und umfassendster Beobachtung (sie ist,
wie es scheint, die Schwester des jetzigen Besitzers des Ritterguts
Jacobsdorf). Die Schilderung der jetzigen Verhältnisse und ihre Kritik
fließen aus ehrlicher Liebe zum Lande. Es werden uns eingehend vor-
geführt: Lohnverhältnisse, Budgets der Arbeiterfamilien und der Renten-
empfänger, Arbeitszeit und Gesundheitliches, Wohnungszustände, Fragen
der Erziehung, Bildung und Sittlichkeit. Obwohl ja die schlesischen
Verhältnisse nicht als typisch für die ostdeutschen Verhältnisse über-
haupt gelten können, so wird doch jeder, der der Landarbeiterfrage
seine Aufmerksamkeit widmet, diese Ausführungen mit Nutzen lesen.
Eben weil die Verfasserin gut unterrichtet ist, vermag sie anschaulich
zu zeigen, wie die spezifisch wirtschaftlichen Motive von anderen ge-
kreuzt werden. So z. B. ist es interessant, daß viele Gutsarbeiter ein-
fach aus Liebe zu den Pferden dazu geführt werden, ein Gespann zu
übernehmen, obgleich sie sich damit die Arbeit vermehren (S. 71). Da
die Verfasserin näher auf die gemütliche Seite im Leben des Land-
arbeiters und des Baueru eingeht, so mögen dazu noch einige Be-
merkungen gemacht werden. Einen erhöhten Status erhält das Leben
der Landleute da, wo die religiöse Bewegung im Volk tiefer Wurzel
schlägt. Wir finden dann lebhafte Vereinstätigkeit, Organisation, ver-
mehrte Lektüre; Bauer und Arbeiter, die sonst oft schroff einander
gegenüberstehen, nähern sich. Diese Bewegung wirkt auch wieder auf
die wirtschaftliche Tätigkeit. Ein Kollege in Tübingen, ein geborener
Württemberger, sagte mir, daß in Württemberg die intelligentesten
Bauern meistens „Pietisten‘ ‘seien. Es wäre gewiß lohnend, Distrikte,
in denen eine solche, wirklich volkstümliche Bewegung (äußerliche Kirch-
lichkeit genügt natürlich nicht) besteht, eingehend zu schildern. Der-
artige Bezirke finden sich nicht bloß z. B. in Württemberg und am Nieder-
rhein, sondern auch mehrfach in Ostdeutschland. Die Verfasserin spricht
auch von der Gelegenheit zu heiterer Unterhaltung, die den Landleuten
geboten wird. Hierzu mag eine Beobachtung notiert werden, die Andrä-
Roman in seinem Buch „Aus längst vergangenen Tagen“ (Bielefeld und
Leipzig 1899) macht, daß nämlich die Landleute im Osten Deutschlands,
im Gegensatz zu denen im Westen, auffallend wenig Sinn für volks-
tümliche Spiele haben. Ob diese Beobachtung für den ganzen Osten
zutrifft, darüber wage ich kein Urteil abzugeben. Bei Andrä-Roman
kann man sich übrigens über ältere Bemühungen der Gutsherrschaft
für edlere Unterhaltung der Gutsarbeiter (Leseabende u. s. w.) unter-
richten.
Freiburg i. B. G. v. Below.
840 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Adams, Brooks, Das Gesetz der Zivilisation und des Verfalles. Vollständige
und autorisierte Uebersetzung nach der englischen und französischen Ausg. Mit einem
Essay von Theodor Roosevelt. Wien, Akademischer Verlag, 1907. gr. 8. XXXII—+440
SS. M. 10.—.
Brons, Bernhard, Geschichte der wirtschaftlichen Verfassung und Verwaltung
des Stiftes Verden im Mittelalter. Münster i. W., Franz Coppenrath, 1907. gr. 8.
VI—120 SS. mit 1 Karte. M. 2,40. (Münstersche Beiträge zur Geschichtsforschung.
Neue Folge. XIII.)
Brunnhofer, Hermann (Priv.-Doz., Bern), Oestliches Werden. Kulturaustausch
und Handelsverkehr zwischen Orient und Ökzident von der Urzeit bis zur Gegenwart.
Neuere Essays. Bern, Victor Schlüter, 1907. gr. 8. VI—440 SS. M. 8.—.
Chamberlain, Housten Stewart, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts.
2 Hälften. (VIII. Aufl.) Volksausg. München, F. Bruckmann A.G., 1907. 8. XXI
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Eggert-Windegg, Wilhelm, Eduard Mörikes Haushaltungsbuch aus den
Jahren 1843 bis 1847. Stuttgart, Strecker & Schröder, 1907. gr. 8. III—18-—34 SS.
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Hübner (Oberstleutn. z. D.), Die französische Sahara. Versuch einer geographisch-
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Dieterich’sche Verlagsbuchh., 1907. gr. 8. 76 SS. M. 1,60.
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Rabe, Alexander, Aerztliche Wirtschaftskunde mit besonderer Rücksicht auf
Buchführung, Gebührenwesen und soziale Gesetzgebung. Leipzig, Werner Klinkhardt,
1907. Lex.-8. XIV—361 SS. M. 6.—.
Vallentin, W., Argentinien und seine wirtschaftliche Bedeutung für Deutschland.
Vortrag. Berlin, Hermann Paetel, 1907. gr. 8. 47 SS. M. 0,40.
Wirtschaftsvereine, Mitteleuropäische, in Deutschland, Oesterreich und Ungarn.
Verhandlungen der ersten gemeinsamen Konferenz in Wien 1906. Wien und Leipzig,
Carl Fromme, 1907. Lex.-8. VIII—263 SS. (Veröffentlichungen der Mitteleuropäischen
Wirtschaftsvereine, zugleich Heft III der Veröffentlichungen des M.E.W.V. in
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Hocquart de Turtot, E., Le tiers état et les privilèges. Paris, Perrin et C“,
1907. 8. 286 pag. fr. 3,50.
Nolte, Alice, Essai sur le Montenegro. Paris, C. Levy, 1907. 16. fr. 6.—.
Sergi, G., La Sardegna. Note e comenti. Illustrata con tavole e figure. Torino,
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3. Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik. Auswanderung
und Kolonisation.
Eisenbahnen, Die, Afrikas. Grundlagen und Gesichtspunkte für eine koloniale
Eisenbahnpolitik in Afrika. Berlin, C. Heymann, 1907. 4. 363 SS. mit eingedruckten
Kartenskizzen und 1 farbigen Karte. M. 5.—.
Erzberger, M. (Reichstags-Abg.), Die Zentrumspolitik im Reichstage, mit beson-
derer Berücksichtigung der Kolonialpolitik. Eine Uebersicht über die Tätigkeit der
Zentrumsfraktion in der 11. Legislaturperiode vom 3. Dezember 1903 bis 13. Dezember
1906. Berlin, Germania, 1907. gr. 8. 79 SS. M. 1,50.
Falkenhausen, Helene v., Ansiedlerschicksale. 11 Jahre in Deutsch-Südwest-
afrika 1893—1904. 4. Aufl. Berlin, Dietrich Reimer, 1907. 8. VI—260 SS. M. 3.—.
Hubert, Lucien, Französisch-Westafrika. Vortrag. Berlin, Dietrich Beimer,
1907. gr. 8. 35 SS. M. 0,50.
Kuhn, Philalethes (Stabsarzt), Gesundheitlicher Ratgeber für Südwestafrika.
Mit Abbildungen im Text und 1 Bildertafel. Berlin, Ernst Siegfried Mittler und Sohn,
1907. 8. VI—230 SS. M. 3,60.
Obst, J. G., Unser Kolonialbesitz. Zeitgemäße wirtschaftliche Studie zur Auf-
klärung für Jedermann. Gotha, Paul Hartung, 1907. gr. 8. 48 SS. M. 1.—.
Parkinson, R., 30 Jahre in der Südsee. Land und Leute, Sitten und Gebräuche
im Bismarckarchipel und auf den deutschen Salomoinseln. Herausgeg. von (Dir.-Assist.)
B. Ankermann. (In 28 Lieferungen.) 1. Lief. Stuttgart, Strecker & Schröder (1907).
gr. 8. S, 1—32 mit Abbildungen und 2 Tafeln. M. 0,50.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 841
Passarge, S. (Prof.), Die Buschmänner der Kalahari. Mit 2 Tafeln, 24 Abbil-
dungen im Text und 1 Karte. Berlin, Dietrich Reimer, 1907. gr. 8. 144 SS. M. 3.—.
Plehn, H., und Helmut Sarwey, Kolonialpolitik. Im Lichte der kolonialen
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Herausgeg. von (Prof.) Albert. VIII. Das Studium der Landwirtschaft an der Univer-
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von (Prof.) Albert. Berlin, P. Parey, 1907. Lex.-8. 35 SS. M. 0,50.
Conradi, A. (Oekonomie-R.), Betriebslehre. 4., verb. Aufl. Berlin, P. Parey, 1907.
8. 92 SS. M. 1.—. (Landwirtschaftliche Unterrichtsbücher.)
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Hygiene seit Erlaß der Bekanntmachung des Bundesrats betr. die Einrichtung und den
Betrieb der Zinkhütten vom 6. II. 1900. Berlin, August Hirschwald, 1907. gr. 8. 60 SS.
mit 9 Figuren und 3 Tafeln. M. 2.—. (Erweiterter Sonder-Abdr. aus: Vierteljahrsschrift
für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitätswesen.)
Gaucher, Nicolaus (Direktor), Handbuch der Obstkultur. Aus der Praxis für
die Praxis bearbeitet. 4., vollständig neubearb. Aufl. Mit 625 Original-Holzschnitten
und 16 Tafeln. (In 20 Lieferungen.) 1. Lief. Berlin, P. Parey, 1907. Lex.-8. S. 1—
80. M. 1.—.
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Staatssozialismus, Staatsnationalismus und Bodenreform. Dresden, E. Pierson (1907). 8.
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Lemberg, Heinrich, Die Steinkohlenzechen des niederrheinisch - westfülischen
Industriebezirks, des Aachener Bezirks und des Saargebiets, der Pfalz und von Elsaß-
Lothringen sowie die Braunkohlengruben des rheinischen Braunkohlengebiets. 13. Aufl.
Dortmund, C. L. Krüger, 1907. 8. IV—189 SS. M. 3.—.
Marx, W., Bilder und Skizzen aus der Landwirtschaft. Mit 33 Abbildungen.
Wien, Carl Gerold’s Sohn, 1907. 8. VIII—408 SS. M. 5.—. (Archiv für Landwirt-
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842 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Maucher, Wilhelm (Dipl.-Ing.), Die sächsischen Erz- und Kohlenvorkommen.
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Craz & Gerlach, 1907. 8. 40 SS. M. 1.—.
~ Niess, Hermann (Berginspektions - Assist.), Die Bekämpfung der Wassersand-
(Schwimmsand-) Gefahr beim Braunkohlenbergbau. Freiberg (Sa.), Craz & Gerlach, 1907.
Lex.-8. 104 SS. mit 19 Skizzen. M. 3,60.
Rau, Gustav, Die Not der deutschen Pferdezucht. Stuttgart, Schickhardt & Ebner,
1907. gr. 8. VIII—256 SS. M. 4.—.
Rodewald, H. (Prof.), und H. Quante, Die Hafer-Anbauversuche der deutschen
Landwirtschafts-Gesellschaft in den Jahren 1901—1904. In Bezug auf die Kornerträge
besprochen und berechnet nach den Regeln der Ausgleichungsrechnung. Berlin, P. Parey,
1907. Lex.-8. VII—51 SS. M. 1.—. (Arbeiten der deutschen Landwirtschafts-Gesell-
schaft. Heft 125.)
Rümker, K. v. (Prof.), Tagesfragen aus dem modernen Ackerbau. 1. Heft. Der
Boden und seine Bearbeitung. 3., neubearb. Aufl. Berlin, P. Parey, 1907. gr. 8.
62 SS. M. 0,80.
Schultze, Leonhard (Priv.-Dozent), Die Fischerei an der Westküste Süd-Afrikas.
Bericht über Untersuchungen au der deutsch-s-w-afrikanischen Küste und am Kap der
guten Hoffnung, der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amts erstattet. Mit 12 Tafeln.
Berlin, Otto Salle, 1907. Lex.-8. VI—57 SS. M. 4.—. (Abhandlungen des deutschen
Seefischerei-Vereins. Bd. 9.)
Stolzenwald (Hütteningenieur), Zinkgewinnung. Mit 19 Abbildungen. Hannover,
Max Jänecke, 1907. kl. 8. 83 SS. M. 1,40. (Bibliothek der gesamten Technik.
Bd. 41.)
Struck, Hermann, Ernst Mahnkopf und Wilhelm Kegel, Aus der
Praxis der Binnensee- und Flußfischerei. 3 Vorträge. Neudamm, J. Neumann, 1907.
Lex.-8. 65 SS. M. 1,60.
Sydow, E. (Pastor), Der Arbeitermangel auf dem Lande. Berlin, J. Harrwitz
Nachf., 1907. 8. 18 SS. M. 0,50.
Sympher (Geh. Ober-Bau-R.), Der Talsperrenbau in Deutschland. Nach der Fest-
rede zum Schinkelfest des Architekten-Vereins zu Berlin am 13. März 1907. Berlin,
W. Ernst & Sohn, 1907. Lex. 8. 34 SS. mit 25 Abbildungen. M. 0,50. (Aus: Zentral-
blatt der Bauverwaltung.)
Teleki, Andor, Die Rekonstruktion der Weingärten mit Rücksicht auf die rich-
tige Auswahl der amerikanischen Unterlagsreben. 2., vollständig umgearb. und bedeutend
erweiterte Aufl. Wien, A. Hartleben, 1907. gr. 8. VII—200 SS. mit 23 Abbildungen.
M. 4.—.
Wimmenauer, Karl (Geh. Forst-R.), Grundriß der Waldertragsregelung
Frankfurt a. M., J. D. Sauerländer, 1907. gr. 5. 48 SS. M. 1.—.
Wlachoff, Christo, Die landwirtschaftliche Entwickelung Bulgariens. Diss.
Sofia, Christo Wlachoff, 1907. 8. X—81 SS. mit 4 Tabellen. M. 1,50.
Wölfer (Landwirtschafts-Lehrer), Grundsätze und Ziele neuzeitlicher Landwirtschaft.
2., neubearb. u. verm. Aufl. Berlin, P. Parey, 1907. gr. 8. XlI—504 SS. M. 6.—.
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Slater, Gilbert, The English peasantry and the enclosure of common fields.
London, Archibald Constable & C°., 1907. Cr. 8. VII—337 pp. 10/.6. (Studies in
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Webb, Wilfred Mark, The principles of horticulture, A series of practical
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Arbeitsnachweis, Der. Mitteilungen des Reichsverbandes der allgemeinen Ar-
beitsvermittelungsanstalten Oesterreichs. Herausgeg. von (Prof.) Ernst Mischler (Graz)
und (Bezirkskommissär) Rudolf von Fürer (Troppau). Jahrg. 1, Heft 1, 1. Jänner 1907.
Troppau, Otto Gollmann. gr. 8. M. 1.—.
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Neue, einfachste und übersichtlichste Form der doppelten Buchführung. Praktisch be-
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Statistik, Preußische. (Amtliches Quellenwerk.) Herausgeg. in zwanglosen
Heften vom Königlich Preußischen Statistischen Landesamt in Berlin. 202. Statistik der
Landwirtschaft (Anbau, Saatenstand, Ernte, Hagelwetter und Wasserschäden) im preußi-
schen Staate für das Jahr 1906. Berlin, Königliches Statistisches Landesamt, 1907.
Imp.-4. IV—XLIV—65 SS. M. 3.—.
Uebersicht, Alphabetische, sämtlicher Ortschaften des Königsreichs Sachsen mit
Angabe der politischen Gemeinde, der Amtshauptmannschaft, des Amtsgerichts, des
Standesamts, des Kirchspiels, der Bestellungspostanstalt, der Eisenbahnverkehrsstelle und
der Dampfschiffshaltestelle sowie der endgültig ermittelten Einwohnerzahl bei der Volks-
zählung am 1. XII. 1905. Dresden, C. Heinrich, 1907. gr. 8. VI—148 SS. M. 1,25.
Frankreich.
Résultats statistiques du recensement général de la population, effectué le 24
mars 1901. Tome II. III. (Ministère du commerce. Direction du travail. Service de
recensement.) Paris, Berger-Levrault, 1907. 8. Chaque vol. fr. 10.—.
`
Oesterreich-Ungarn.
Gemeindelexikon der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder.
Bearb. auf Grund der Ergebnisse der Volkszählung vom 31. XII. 1900. Herausgeg. von
der k. k. Statistischen Zentralkommission. XII. Galizien. Wien, k. k. Hof- und Staats-
druckerei, 1907. 4. X—1024 SS. M. 42.—.
Mitteilungen des statistischen Landesamts des Königreichs Böhmen. Deutsche
Ausg. VIII. Bd. 2. Heft. Finanzen der größeren Gemeinden für die Jahre 1398 und
1900. Prag, J. G. Calve’sche k. u. k. Hof- und Univ.-Buchh., 1906. Lex.-8. I’—CXLI
—126 SS. M. 5.—.
Mitteilungen, Statistische, über Steiermark. Herausgeg. vom Statistischen
Landesamte des Herzogtums Steiermark. 17. Heft. Das Findelwesen in Steiermark. Im
Statistischen Landesamte von Steiermark verfaßt von Otto Wittschieben., Graz, Leuschner
& Lubensky’s Univ.-Buchh., 1907. Lex.-8. X—118 SS. M. 3.—.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 849
Statistik, Oesterreichische. Herausgeg. von der k. k. Statistischen Zentral-
kommission. 79. Bd. II. Heft. Statistik des Sanitätswesens in den im Reichsrate ver-
tretemen Königreichen und Ländern für das Jahr 1903. Wien, Carl Gerold’s Sohn, 1907.
gr. 4. II —XXIX—253 SS. M. 8,50.
Rußland.
Jokinen (Chefarzt), Zur Sanitätsstatistik der Armee Finnlands während der Jahre
1881/1906. Berlin, E. 8. Mittler & Sohn, 1907. Lex.-8. XI—248 SS. mit Figuren.
M. 6.—.
Schweiz,
Mitteilungen des statistischen Amtes des Kantons Basel-Stadt. Nr. 10. Die im
Jahre 1906 im Kanton Basel-Stadt erstellten Neubauten von F. Mangold. Basel, C. F.
Lendorff, 1907. gr. 8. 35 SS. M. 0,60.
13. Verschiedenes.
Böhmert, Viktor (Prof.), Die Entstehung der Gesellschaft für Verbreitung von
Volksbildung. Zur Ehrung des 70jährigen Hauptbegründers Professor Fritz Kalle in
Wiesbaden. Berlin, Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung, 1907. kl.8. 20 SS.
M. 0,25.
Brugerette, Joseph (Abbé), Die Lehren der Niederlage oder das Ende eines
Katholizismus. Autorisierte Uebersetzung aus dem Französischen von Ludwig Fahrland.
Stuttgart, Strecker & Schröder, 1907. 8. 101 SS. M. 1,50.
Engels, H. (Prof.), Die Not ums Wasser. Vortrag. Dresden, von Zahn & Jaensch,
1907. gr. 8. 25 SS. M. 1.—. (Neue Zeit- und Streitfragen. Jahrg. 4, Heft 8.)
Galster (Vizeadmiral a. D.), Genügt unsere Küstenverteidigung? Wilhelmshaven,
Carl Lohse Nchfl., 1907. gr. 8. 19 SS.
Hilmer, Hermann, Amerikanische und deutsche Volksbildung. (Ein Vergleich.)
Vortrag. Leipzig, Teutonia-Verlag, 1907. 8. 38 SS. M. 0,60.
Hochschulen, Die deutschen. Illustrierte Monographien, herausgeg. von Theodor
Kappstein. Bd. 1. Freiburg im Breisgau von Fritz Baumgarten. Berlin, Wedekind & Co.,
1907. Lex.-8. 199 SS. M. 4.—.
Kerschensteiner, Georg, Grundfragen der Schulorganisation. Eine Sammlung
von Reden, Aufsätzen und Organisationsbeispielen. Leipzig, B. G. Teubner, 1907. gr. 3.
VI—296 SS. M. 3,20.
Mengers, Christian, Der Kulturkampf in Vergangenheit und Gegenwart.
Freie Gedanken eines deutschen Arbeiters, niedergeschrieben für Arbeiter aller Kon-
fessionen. Mit dem Bildnis des Verfassers. Leipzig, Wigand, 1907. gr. 8. V—62 SS.
M. 1,50.
Metzger, H. (Stadt-R.), Städte-Entwässerung und Abwässer-Reinigung. Hand- und
Hilfsbuch für technische Gemeinde- und Verwaltungsbeamte. Berlin, C. Heymann, 1907.
Lex.-8. XII—300 SS. mit Abbildungen. M. 7.—.
Müller, Hugo (Oberlehrer, Darmstadt), Die Gefahren der Einheitsschule für
unsere nationale Erziehung. Gießen, Alfred Töpelmann, 1907. gr. 8. VIII—142 SS.
M. 2,40.
Rost, Hans, Gedanken und Wahrheiten zur Judenfrage. Eine soziale und poli-
tische Studie. Trier, Paulinus-Druckerei, 1907. gr. 8. 103 SS. M. 1,20.
Seesselberg, Friedrich, Volk und Kunst. Kulturgedanken. Berlin, Schuster
& Bufleb, 1907. gr. 8. 246 SS. M. 4,50.
Spahn, Martin (Prof.), Der Kampf um die Schule in Frankreich und Deutsch-
land. Kempten und München, Jos. Kösel, 1907. Lex.-8. 33 SS. M. 0,70.
Stumpi, C., Zur Einteilung der Wissenschaften. Berlin (G. Reimer) 1907. Lex.-8.
94 SS. M. 3,50. (Aus: Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften.)
Swierezewski, Stanislaus, Wider Schmutz und Schwindel im Inseraten-
wesen. 3. erweiterte Aufl. Leipzig (Deutscher Kampf-Verlag) 1907. 8. 89 SS.
M. 1.—.
Tolstoj, Graf Leo, Der Weg zur sozialen Befreiung. Aufruf an die russische
Regierung, die Revolutionäre und das Volk. Herausgeg. von Eugen Heinrich Schmitt.
Autorisierle Uebersetzung von Albert Skarvan, 1. bis 3. Tausend. Berlin, Franz Wunder
(1907). 8. 53 SS. M. 0,80.
Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIII). 54
850 Die periodische Presse des Auslandes.
Villaret, A., Friedensbewegung, Haager Konferenz, Abrüstungsfrage. Stuttgart,
Ferdinand Enke, 1907. gr. 8. 20 SS. M. 0,80.
Walcker, Karl (Priv.-Doz.), Die religiösen und politischen Entwicklungs-
tendenzen der Kulturwelt. Sondershausen, F. A. Eupel, 1907. gr. 8. XII—66 SS.
M. 1,50.
Winterstein, Franz, Polnische Auferstehung. (Polonia rediviva.) Ernste Be-
trachtungen und Mahnungen. Lissa, F. Ebbecke, 1907. gr. 8. III —92 SS. M. 1,50.
Barre, André, La menace allemande. Paris, Louis-Michaud (1907). 8. 282 pag.
fr. 3,50.
Wassilieff, N. P., La vérité sur les „cadets“. Paris, A. Lanier, 1907. 8.
fr. 1,50.
Fraser, John Foster, Red Russia. With 48 full-page plates from photographs.
London, Cassell and Company, 1907. 8. XII—288 pp. 6/.—.
Galton, Arthur, Church and State in France, 1300—1907. London, E. Arnold,
1907. 8. 314 pp. 12/.6.
Pares, Bernard, Russia and reform. London, Constable, 1907. 8. 592 pp. 10/.6.
Die periodische Presse des Auslandes,
A. Frankreich.
Bulletin de Statistique et de Législation comparée. XXXI’ année, 1907, mars
Produits des contributions indirectes pendant l’annee 1906. — L’impöt sur les opérations
de bourse. — ete.
Journal des Fconomistes. 66° Année, 1907, 15 avril: Théorie de évolution:
progrès nécessités par la fondation des Etats, par G. de Molinari. — Le mouvement
financier et commercial, par Maurice Zablet. — La ligne souterraine Nord-Sud de Paris,
par E. Letourneur. — Lord Goschen (1831—1907), par A. Raffalovich. — ete.
Journal de la Société de Statistique de Paris. Année 48, 1907, N° 3, Mars: Le
progrès de Pile de Formose sous la domination japonaise (suite et fin), par Paul Meu-
riot. — Chronique de statistique judiciaire, par Maurice Yvern®s. — Chronique des
questions ouvrières et des assurances sur la vie, par Maurice Bellom. — ete. — N° 4,
Avril: Le peuple algérien. Essais de démographie algérienne, par V. Demontès (analyse
par E. Levasseur) — La répartition des industries aux États-Unis d’après le Census
de 1900, par Yves Guyot. — Les émissions et remboursements d’obligations des six
grandes compagnies de chemins de fer en 1906, par Alfred Neymarck. — Les pensions
civiles, par Malzac. — ete.
Réforme Sociale, La. XXVI’ année, n° 32, 16 avril 1907: L’impöt sur le revenu
à Pétranger et en France, I, par Hubert-Valleroux. — L’action sociale des catholiques
belges, par Louis Rivière. — Société d’&conomie sociale: les communautés de famille en
Auvergne, par M"=° Lucie Achalme, avec observations de Georges Blondel, Vicomte
Combes de Lestrade, Papillon, Hubert-Valleroux, Paul Nourrisson et Frèrejouan du
Saint. — ete. — n° 33, 1" mai 1907: Le taudis, ses dangers, ses remèdes, par E.
Cheysson. — L’impöt sur le revenu (dernier article), par Hubert-Valleroux. — Le faux
libéralisme, A propos d’un livre récent, par Alfred des Cilleuls. — L’oeuvre de
„L’ouvriere au grand air“ A Chambéry, par le Marquis d’Oncieu de Chaffardon. — ete.
Revue générale d'administration. XXX” année, 1907, mars: Pensions de retraite
des employés départementaux et communaux, par Jacques Buzzo. — Le domaine des
hospices de Paris depuis la Révolution (suite), par Amédée Bonde. — etc.
Revue internationale de Sociologie. XV° Année, 1907, N° 3, Mars: La méthode
d’enseignement en économie politique (suite et fin), par Emile Worms. — L’övolution
de Vintelligenee sous le régime des castes, par Charles Valentino. — Séance de la
Société de Sociologie de Paris, 13 février 1907: Les types professionnels: le bon juge.
Communication de Paul Magnaud. Discussion par Emile Worms, Ch. Séré de Rivières,
Vabb& Clamadieu, B. Roussy, Paul Vibert, Charles Limousin, René Worms, Alfred
Lambert, — etc.
Die periodische Presse des Auslandes. 851
B. England.
Century, The Nineteenth, and after. No. 363, May 1907: The problem of
Empire, by Sir Charles Tupper (ex-Prime Minister of Canada). — Will the British
Empire stand or fall? By J. Ellis Barker. — South African loyalty, by Lord Monk
Bretton. — Religion and the child, by Havelock Ellis. — The firmness of consols, by
Hartley Withers. — What to drink, by (Lieut.-Colonel) F. A. Davy. — The pearl
fishery of Ceylon, by Somers Somerset. — etc.
Edinburgh Review, The. N° 420, April, 1907: The land question. — Colonial
preferential tariffs. — Political parties and the country. — etc.
Journal of the Institute of Bankers. Vol. XXVIII, Part III, March, 1907: Bank
balance-sheets, by R. H. Inglis Palgrave. — Bankers’ advances on title-deeds to landed
property, III, by Bernard Campion. — Stamping of securities, by 8. E. Perry. — etc.
— Part IV, April, 1907: The international money market, by Cornelis Rozenraad. —
Gilbart lectures, 1907, I and II, by Sir John Paget. — ete.
Journal of the Royal Statistical Society. Vol. LXX, Part 1, 31* March, 1907:
Correlation of the weather and crops, by R. H. Hooker. — Statistics of production and
the census of production act (1906), by G. Udny Yule. — On the representation of
statistical frequency by a series, by (Prof.) F. Y. Edgeworth., — Prices in commodities
in 1906, by A. Sauerbeck. — Roumania’s forty years’ progress, 1866—1907, by Leon
Gaster. — ete.
teview, The Contemporary. No. 497, May, 1907: The government and its
problems, by J. A. Spender. — The Spanish people, by Havelock Ellis. — Imperial
organisation and the colour question, I, by W. Wybergh. — Country schools for town
children, by J. E. G. de Montmorency. — The Americans in the Philippines, by John
Foreman. — etc.
Review, The Economic. Published for the Oxford University Branch of the
Christian Social Union. Vol. XVII, 1907, No. 2, April: First impressions of India, by
(Rev.) J. Carter. — Immigration and transmigration, by N. B. Dearle. — Unemploy-
ment, I, by A. Mercer. — Infant mortality, by L. A. M. Priestley McCracken. — ete.
Review, The National. No. 291, May, 1907: Some suggestions for a unionist
policy, by H. O. Arnold Forster. — The failure of liberalism, by Joseph Clayton. —
Game preservation in East Africa, by Lord Cranworth. — Church and state in France,
by W. Morton Fullerton. — The Scotch land bill, by the Earl of Erroll. — etc.
Review, The Quarterly. No. 411, April, 1907 : Labour and socialism in Australia.
— The income tax. — The colonial conference. — The Irish university question. —
The prospects of constitutional government in Russia. — ete.
C. Oesterreich-Ungarn.
Handels-Museum, Das. Herausgeg. vom k. k. österr. Handels-Museum. Bd. 22,
1907, Nr. 16: Unruhen und Geschäftsverhältnisse in Rumänien. — Oesterreichisch-
portugiesische Handelsbezichungen. — ete. — Nr. 17: Unruhen und Geschäftsverhält-
nisse in Rumänien. — Die Geschäftslage in Rußland. — ete. — Nr. 18: Die Erhöhung
des Einfuhrzolles und die wirtschaftliche Lage in der Türkei, von Gustay Hertl (Kon-
stantinopel). — Rumänische Handelsverträge, von Viktor v. Riedl. — etc. — Nr. 19:
Das neue deutsch-amerikanische Handelsabkommen, von Sigmund Schilder. — Die neuen
Handelsverträge Serbiens, — etc.
Mitteilungen, Volkswirtschaftliche, aus Ungarn. Herausgeg. vom königl.-ung.
Handelsministerium. Jahrg. I, 1906, Heft 3: Organisierung des Exporthandels (Forts.
u. Schluß). — Der Donau-Theiß-Kanal. — ete. — Heft 4: Die landwirtschaftlichen
Verhältnisse der Länder der ungarischen Krone und einige wichtigere landwirtschaftliche
Industriezweige. — ete. — Heft 5/6: Eisen- und Metallindustrie-Ausstellung in Buda-
pest. — Gewerbe-Unfalls-Statistik. — ete. — Heft 7: Wirtschaftliche und Kulturver-
hältnisse Budapests. — Die Ernte Ungarns im Jahre 1906. — ete. — Heft 8: Die
ungarische Eisen- und Metallindustrie. — Statistik der Krankenunterstützungskassen in
den Jahren 1898—1904. — ete. — Heft 9/10: Gesetzentwurf über die Kranken- und Un-
fallversicherung der gewerblichen, Fabriks- und Handelsangestellten. — ete. — Heft 11:
Das ungarische Post-, Telegraphen- und Telephonwesen im Jahre 1905. — ete. —
Heft 12: Die landwirtschaftlichen Verhältnisse der Länder der ungarischen Krone und
einige wichtigere landwirtschaftliche Industriezweige im Jahre 1905. — Die ungarischen
54*
852 Die periodische Presse des Auslandes.
Eisenbahnen im Jahre 1905. — Das ungarische Post-, Telegraphen- und Telephonwesen
im Jahre 1905 (Schluß). — ete. — Jahrg. II, 1907, Heft 1: Die ungarischen Eisen-
bahnen im Jahre 1905 (Schluß). — Die Aus- und Rückwanderung in Ungarn im Jahre
1905. — ete. — Heft 2: Das ungarische Versicherungswesen im Jahre 1905. — Das
ungarische Genossenschaftswesen. — ete. — Heft 3: Der Bergwerk- und Hüttenbetrieb
in Ungarn. — Die ungarische Forstwirtschaft. — Die öffentlichen Straßen Ungarns.
— etc.
Monatschrift, Statistische. Herausgeg. von der k. k. Statistischen Zentral-
kommission. Neue Folge, Jahrg. XII, 1907, März-Heft: Das österreichische Straßen-
wesen 1891—1904, von Franz Weyr. — Die zeitliche Verteilung der Verunglückungen
im österreichischen Bergbau, von Siegfried Rosenfeld. — Die Oesterreicher in den Ver-
einigten Staaten von Amerika, von H. Fehlinger. — etc.
Rundschau, Soziale. Herausgeg. vom k. k. Arbeitsstatistischen Amte im Handels-
ministerium. Jahrg. VILI, 1907, Märzheft: Arbeitszeitverlängerungen in den fabriks-
mäßigen Betrieben Oesterreichs im IV. Quartale 1906. — Tarifverträge im Deutschen
Reiche. — Die Hausweberei in Oesterreich nach den Daten der Betriebszählung vom
3. Juni 1902. — ete.
F. Italien.
Giornale degli Economisti. Serie seconda, Anno XVIII, 1907, Febbraio: Appunti
sui metodi per la rivelazione dell’ andamento del mercato del lavoro, di Riccardo Bachi.
— Due recenti libri sul commercio internazionale e la politica commerciale, di Augusto
Graziani. — Sulla funzione revisoria della corte dei conti, di Francesco Vicario. — etc.
G. Holland.
Economist, De, opgericht door J. L. de Bruyn Kops. LVI’ jaarg., 1907, April:
Het ontwerp ziekteverzekeringswet 1907 van een geneeskundig standpunt beschouwd,
door J. W. Deknatel. — ete.
H. Schweiz.
Blätter, Schweizerische, für Wirtschafts- und Sozialpolitik. Jahrg. XV, 1907,
Heft 2: Postcheck- und Giroverkehr der Schweiz, von Jul. Landmann (Basel). —
Uebersicht über die Feuerversicherung der Gebäude, sowie des Mobiliars in der Schweiz
und im Auslande, von (Groß-R.) Kurt Demme (Bern). [Schluß.] — ete. — Heft 3:
Arbeitsämter und Kollektivstreitigkeiten, von (Vorst. des Arbeitsamtes Rorschach) Jakob
Lorenz. — ete.
Monatsschrift für christliche Sozialreform. Jahrg. 29, 1907, April: Der Posi-
tivismus, von (Prof.) M. Defourny. — Zur Wirtschaftsgeschichte des Kongostaates, von
Max Büchler (chem. Justizbeamten im Kasai-Distrikt). — Wirtschaftliche Tagesfragen,
von Sempronius (Wien). — Ueber Arbeiterseelsorge. Briefe an einen städtischen Vikar.
VIII. Brief, von (Prof.) J. Beck. — ete.
J. Belgien.
Revue Économique internationale. 4° Année, 1907, Vol. II, N. 1, Avril: Le ré-
gime commercial de l’Europe et les États-Unis d'Amérique, par Alexandre von Matle-
kovits. — La crise des syndicats miniers et siderurgiques allemands, par Albert Haas. —
Le futur régime des chemins de fer en Russie, par Marcel Lauwick. — La production
agricole au Japon, par (Prof.) René Gonnard. — ete.
M. Amerika,
Annals, The, of the American Academy of Political and Social Science. Vol.
XXIX, 1907, N°. 2, March: Railway and traffic problems: Public regulation of street
railway transportation, by Emory R. Johnson. — Prussian railway administration, by
Ernest S. Bradford. — Prussian railway rate making and its results, by G. G. Huebner.
— An argument against government railroads in the United States, by William All-
mand Robertson. — ete.
Journal of Politieal Economy. (University of Chicago Press.) Vol. 14, 1906,
N° 10, December: Our trade relations with Latin America, by Burdette Gibson Lewis.
— Harriet Martineau and the employment of women in 1836, by Edith Abbott. — ete.
— Vol. 15, 1907, N° 1, January: Employment of women in industries: eigar-making
Die periodische Presse Deutschlands. 853
— its history and present tendencies, by Edith Abbott. — The quantitative theory of
prices, by Albert S. Bolles. — ete. — N° 2, February: Secretary shaw and precedents
as to treasury control over the money market, by Eugene B. Patton. — Labor in the
packing industry, by Carl William Thompson. — ete. — N° 3, March: The nature of
capital and income, by Frank A. Fetter. — The trade-union programme of “Enlightened
selfishness”, by John Cummings. — ete. — N° 4, April: The tendency of modern com-
bination, I, by Anna Youngman. — Economic problems in agriculture by irrigation, by
Henry C. Taylor. — etc.
Magazine, The Bankers. Vol. LXXII, LXXIII, January to December 1906:
Trust companies — their organization, growth and management (continued), by Clay Her-
rick. — A practical treatise on banking and commerce, by G. H. — ete. — Vol. LXXIV,
January to April 1907: A practical treatise on banking and commerce (continued), by
G. H. — Trust companies — their organization, growth and management (continued), by
Clay Herrick. — Farm mortgage loans as investments, by Edgar van Deusen. -— Wall
Street and Lombard Street, by W. R. Lawson. — Bank direetors, their powers, duties
and liabilities, by John J. Crawford. — Stock shares of private corporations, by Edgar
van Deusen. — etc.
Publications, Quarterly, of the American Statistical Association. New series,
N° 76, December, 1906: The determination of racial stock among American immigrants,
by (Prof.) Richard Boeckh.
Die periodische Presse Deutschlands.
Alkoholfrage, Die. Vierteljahrsschrift zur Erforschung der Wirkungen des Al-
kohols. Jahrg. IV, 1907, Heft 1: Die „Trinkfestigkeit‘‘ vom ärztlichen Standpunkt aus,
von (Dr. med.) Meinert (Dresden). — Antialkoholunterricht in der Volksschule, von
(Schuldirektor) Karl Kohlstock (Gotha). — Probe einer Alkoholbelehrung in der Unter-
sekunda eines Gymnasiums, von R, Ponickau (Leipzig). — Die Mitarbeit der evangeli-
schen Kirche im Kampfe gegen den Alkoholismus, von (Pastor) Ernst Baars (Vegesack).
— Mithülfe der katholischen Kirche im Kampfe gegen den Alkoholismus, von (Pfarrer)
Neumann (Mündt bei Titz). — ete.
Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft.
Jahrg. 40, 1907, N’ 4: Die Mittel zur Erzielung vollständiger Kapitalrentenbesteuerung
im neuesten französischen Steuergesetzentwurf und anderen Steuergesetzen, von Eugen
von Ziegler (Berlin). — ete.
Archiv für Bürgerliches Recht. Bd. 29, 1906, Heft 1: Der Rechtscharakter des
gewerblichen Akkordvertrages, von (Privatdozent) Carl Koehne (Charlottenburg). — Preis-
bestimmung und $ 826 BGB., von Josef Kohler. — etc. — Heft 2: Staatsschuldbuch,
Staatsschuldentilgung und Treuhänderschaft in Genua im Jahre 1303, von Josef Kohler.
— ete. — Bd. 30, 1907, Heft 1: Inhaberschuldverschreibungen und Kreationstheorie,
von (Prof.) Langen (Münster). — Ein Beitrag zur rechtlichen Betrachtung des Girover-
kehrs, von (Rechtspraktikant) Mez (Müllheim, Baden). — etc.
Archiv für Eisenbahnwesen. Herausgeg. im Königlich Preußischen Ministerium der
öffentlichen Arbeiten. Jahrg. 1907, Heft 3, Mai und Juni: Die Eisenbahnen der Erde.
— Die Betriebssicherheit der Eisenbahnen, von Guillery. — Deutschlands Getreideernte
im Jahre 1905 und die Eisenbahnen, von Thamer. — etc.
Archiv, Allgemeines statistisches, herausgeg. von Georg von Mayr. Bd. 7,
Halbbd. 1, 1907: Die Berechtigung der Moralstatistik, von Georg v. Mayr. — Ueber
den Anteil germanischer Völker an der Entwicklung der Statistik, von Otto Behre. —
Methodologisches zur Verwertung der Einkommensteuerstatistik, von E. Huncke. —
Ueber die Notwendigkeit systematischer Arbeitsteilung auf dem Gebiete der Bevölkerungs-
(Sozial-) Statistik, von H. Bleicher. (Forts. u. Schluß.) — Zur Methodik und Technik
statistischer Karten, von Georg v. Mayr. — Kartographische Darstellung der Volks-
dichtigkeit, von (Prof.) G. H. Schmidt. — Zur Geschlechtsgliederung der städtischen
und ländlichen Bevölkerung, von W. Feld. — Ueber die spezifische Sterblichkeit der
beiden Geschlechter, von (Regierungs-R.) L. Knöpfel. — ete.
Blätter, Volkswirtschaftliche. Jahrg. VI, 1907, N' 8: Philosophie und Statistik,
von Reinhold Jaeckel (Charlottenburg). — Kindererziehungsrenten, von Borgius. —
854 Die periodische Presse Deutschlands.
Welche Form ist für eine Darlehns- und Unterstützungskasse des D.V.V. zweckmäßig?
Von Bittermann und Wernicke. — ete. — N" 9/10: Volkswirte und Volkswirtschafts-
lehre in den Sommer-Programmen der deutschen Hochschulen, von (Prof.) K. Thiess
(Danzig). — Zur Errichtung einer ständigen Ausstellungskommisson für die deutsche
Industrie, von Erhard Hübener (Berlin). — ete.
Export. Jahrg. XXIX, 1907, N’ 17: Zur wirtschaftlichen Lage in Rumänien. —
Die afrikanischen Eisenbahnen (Forts.), von Léon Jacob. —- ete. — N' 18: Das Handels-
abkommen mit den Vereinigten Staaten. — Die afrikanischen Eisenbahnen (Forts. und
Schluß), von Léon Jacob. — ete. — N" 19: Zum deutsch-amerikanischen Handelsprovi-
sorium. — ete. — N’ 20: Der deutsche Außenhandel. — Wirtschaftsverhältnisse in
Skandinavien. — ete.
Finanz-Archiv. Zeitschrift für das gesamte Finanzwesen. Jahrg. XXTII, 1906,
Bd. 2: Die Entwicklung des japanischen Steuerwesens vom Altertum bis zur Gegen-
wart, von (Prof.) Masao Kambe. — Die Staatsschulden Japans, von (Prof.) Masao Kambe.
— Aus der englischen Steuerpraxis, von C. H. P. Inhulsen. — Geschichte der Besteue-
rung des Salzes in Deutschland bis zum Jahre 1867 (Schluß), von Albrecht Offenbächer.
— Die Entwicklung der direkten Steuern in Elsaß-Lothringen, von Ludwig Gieseke. —
Die Novelle zum preußischen Einkommensteuer- und Ergünzungssteuergesetz, von Maatz.
— Die Reichsfinanzreform, von Georg Schanz. — ete. — Jahrg. XXIV, 1907, Bd. 1: Ver-
waltungskosten im Bereich der Zölle und indirekten Steuern, von Albert Manicke. —
Die Sanierung der österreichischen Staatsbahnfinanzen, von Gustav Herlt. — Die dänische
Steuerreform von 1903, von Nic. Hertel-Wulff. — Die oldenburgische Finanzreform
und insbesondere die neue Einkommensteuer- und Vermögenssteuergesetzgebung, von
(Ober-Finanz-R.) Joh. Meyer. — Die Novelle vom 21. April 1906 zum sächsischen Ver-
mögenssteuergesetz vom 2. Juli 1902, von Georg Schanz. — etc.
Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich.
Jahrg. 31, 1907, Heft 2: Zur Philosophie der Herrschaft. Bruchstück aus einer Sozio-
logie, von Georg Simmel. — Zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre. IV. Eine
Replik, von Ferdinand Tönnies. — Emil Steinbach als Sozialpbilosoph, von Leo Witt-
mayer. — Das Rentenprinzip in der Verteilungslehre, II, von Joseph Schumpeter. —
Das Geldsystem des Großherzogtums Luxemburg, von Albert Calmes. — Organisation,
Lage und Zukunft des deutschen Buchhandels, zugleich ein Beitrag zur Kartellfrage, II,
von August Koppel. — Ueber Arbeitslosenversicherung und Arbeitsnachweis, II, von
K. Oldenburg. — Die Entartungsfrage in England, von Heinrich Herkner. — etc.
Jahrbücher, Landwirtschaftliche. Bd. XXXVI, 1907, Heft 2: Untersuchungen
über den Einfluß der Ernährung auf die Milchsekretion des Rindes, von (Prof.) W.
von Knieriem und (Dozent) A. Buschmann. — Ein Beitrag zur Kenntnis der Korre-
lationen im pflanzlichen Stoffwechsel, von B. Hansteen. — Arbeiten aus dem landwirt-
schaftlichen Institut der Universität Königsberg i. Pr., Abteilung für Pflanzenbau.
1. Mitteilung. Eine chemische Bodenanalyse für pflanzenphysiologische Forschungen,
von Eilhard Alfred Mitscherlich.
Jahrbücher, Preußische. Bd. 128, Heft 2, Mai 1907: Kiautschau, von Aug.
Menge (Tokio). — Die letzten Reichstagswahlen und die Zukunft der Sozialdemokratie,
von Robert Jaffe (Charlottenburg). — Die Grundwertsteuer und die Wohnungsreformer,
von (Justiz-R.) Georg Baumert (Spandau). — ete.
Industrie-Zeitung, Deutsche. Jahrg. XXVI, 1907, N" 16: Die Großbanken
im Jahre 1906 (Schluß), von Steinmann-Bucher. — Denkschrift über das Kartellwesen,
von ©. Ballerstedt. — ete. — N’ 17: Der Achtstundentag in französischen Staats-
betrieben, von O. B. — ete. — N’ 18: Präsident Roosevelt und die „Verstaatlichung“
der Kohlenfelder. — ete. — N’ 19: Das deutsch-amerikanische Handelsabkommen. — etc.
— N' 20: Das neue preußische Berggesetz, von O. B. — Einnahme und Verdienst in
den Vereinigten Staaten von Amerika im Jahre 1906. — ete.
Mitteilungen des Handelsvertragsvereins. (Jahrg. 6) 1907, N’ 8: Die Verlänge-
rung des Handelsprovisoriums mit den Vereinigten Staaten, von M. Nitzsche. — Die
wirtschaftlichen Bedenken gegen eine staffelfürmige Mühlenumsatzsteuer, von M. — ete.
— N" 9: Die deutsch-spanischen Handelsbeziehungen, von Rud. Breitscheid. — Deutsch-
land und Kanada, von Max Nitzsche. — ete.
Monats-Hefte, Sozialistische. Jahrg. XIII, 1907, Mai: Die Stellung der sozial-
demokratischen Partei zur sozialpolitischen Gesetzgebung, von Johannes Heiden. —
Wann wird die Sozialdemokratie das Agrarproblem in Angriff nehmen? Von August
Die periodische Presse Deutschlands. 855
Müller. — Kartelle und Sozialdemokratie, von Richard Calwer. — Die gegenwärtige
Lage des amerikanischen Gewerkschaftswesens, von Morris Hillquit. — Trinkgeld und
Lohn, von Hugo Poetzsch. — etc.
Oekonomist, Der Deutsche. Jahrg. XXV, 1907, N" 1269: Die auswärtige
Politik und die wirtschaftlichen Aussichten. — ete. — N" 1270: Ueber Spekulation und
Kapitalanlage in Wertpapieren. — ete. — N’ 1271: Ueber die Grundlagen und Aus-
sichten der industriellen Konjunktur, — ete. — N" 1272: Die Politik unter dem Ge-
sichtspunkte der Geschäftswelt. — ete. — N" 1273: Reform des Scheckwesens ohne
Scheckgesetz, von F. Maeder (Iserlohn). — ete.
Plutus. Jahr 4, 1907, Heft 17: Trust oder Kartelle? III. Der Nutzen der
Begriffsverwirrung, von G. B. — ete. — Heft 18: Patentgesetz, Entwurf zu einem dem
Deutschen Reichstag vorzulegenden Gesuch um Aenderung des deutschen Patentgesetzes,
von (Patentanwalt) Georg Neumann (Berlin). — ete. — Heft 19: Die englische Garten-
stadt-Bewegung, von Erich Eyck (Berlin). — Trust oder Kartell? IV. (Schluß.) Der
Zwerg und das Riesenproblem, von G. B. — ete. — Heft 20: Gewinnsteuer auf Patente,
von (Prof.) E. Budde (Charlottenburg).
Rechtsschutz, Gewerblicher, und Urheberrecht. Jahrg. 12, 1907, N’ 4: Ent-
wurf einer Novelle zum Patentgesetz nebst Motiven, von (Rechtsanwalt) Richard Alexander-
Katz. — etc.
Revue, Deutsche. Jahrg. 32, 1907, Mai: Was ist sozial? Von Herzog Ernst
Günther von Schleswig-Holstein. — Der Seehandel, das Seekriegsrecht und die Haager
Friedenskonferenz, von Freiherrn von Schleinitz. — Die Agrarunruhen und das Mini-
sterium Sturdza in Rumänien, von Rudolf Graf Waldburg. — ete.
Revue, Politisch-Anthropologische. Jahrg. VI, N' 2, Mai 1907: Houzes Kritik der
Gesellschaftsanthropologie, von Georges de Lapouge. — Ueber den Einfluß der Blut-
mischung auf die Charakterzucht hervorragender Männer, von Albert Reibmayr. — ete.
Revue, Soziale. (Essen-Ruhr.) Jahrg. VII, 1907, Quartalsheft II: Das unehe-
liche Kind in den größeren Städten, von Hans Rost (Augsburg). — Zur Frage des Be-
sitzwechsels und der Entschuldung des ländlichen Grundbesitzes, von (Prof.) Martin
Fassbender (Berlin). — Die soziale Tätigkeit der Stadtgemeinde Essen, von T. Kellen
(Essen). [Schluß.] — Die Förderung des gewerblichen Mittelstandes, von Anton Retz-
bach (Freiburg). — Zum Kampf gegen den Alkoholismus im Jahre 1906, von F. Keller
(Heimbach, Baden). — Die neueste Entwiekelung von Sozialdemokratie und Liberalis-
mus. Die Sozialpolitik im neuen Reichsfag, von Hermann Flamm (Freiburg i. B.).
— ete.
Rundschau, Masius’. Blätter für Versicherungswissenschaft. Neue Folge.
Jahrg. XVIII, 1906, Heft 7—12: Die Todesursachen bei den Versicherten der Gothaer
Lebensversicherungsbank, auf Grund der Beobachtungen von 1829—1896, von R. Goll-
mer (Gotha). — Die deutsche Lebensversicherung im Jahre 1905. — Die Neuregelung
des preußischen Knappschaftswesens, von Fr. W. Günther. — Fünfter internationaler
Kongreß für Versicherungs-Wissenschaft. — Der Versicherungsbegriff, von A. Emming-
haus (Gotha). — Der 4. internationale Kongreß für Versicherungsmedizin und seine Er-
gebnisse speziell für die Lebensversicherung. — etc. — Jahrg. XIX, 1907, Heft 1:
Zum Gesetzentwurf über den Versicherungsvertrag und zur Feuerversicherung, von
A. Langhans. — ete. — Heft 2: Der neue schweizerische Gesetzentwurf über die Kran-
ken- und Unfallversicherung. — etc. — Heft 3 u. 4: Das luxemburgisch-belgische und
das belgisch-französische Abkommen über Unfallversicherung, von Fr. W. Günther. —
Die Vereinsversicherungsbank für Deutschland, von Mehliss. — Kritische Bemerkungen
zu der neuen Haftpflichtvorsorgeversicherung der Viktoria, von M. Sachse (Köln). -— ete.
— Heft 5: Private Pensions-Einrichtungen für Privatbeamte. — Zur Frage der Feuer-
lösch-Steuer, von A. Langhans. — etc.
Wirtschafts-Zeitung, Deutsche. Jahrg. III, 1907, N’ 9: Unsere handels-
politischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, von Max Nitzsche. — Die gegen-
wärtige wirtschaftliche Lage und die Aussichten für die Fortdauer der Hochkonjunktur,
von (Prof.) L. Pohle. — Die Mittel zur Bekämpfung der Geldnot (Schluß), von Ludwig
Bendix. — Deutschlands chemische Industrie im Anfang des 20. Jahrhunderts, von
H. Grossmann (Berlin). — Ein Beitrag zur Frage der Streikklausel (Schluß), von Walter
Abelsdorff (Berlin). — ete.
Zeit, Die Neue. Jahrg. 25, 1907, N" 29 u. 30: Positive Leistungen der Sozial-
demokratie, ein Beitrag zur Geschichte der Gesetzgebung, von Hermann Molkenbuhr.
856 Die periodische Presse Deutschlands.
(Forts. u. Schluß.] — ete. — N" 31: Die Konjunktur, von Rudolf Hilferding. — ete.
— N' 32: Rententheorie und Kapitalgewinn, von Julius Deutsch. — ete.
Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Kolonialwirtschaft. Herausgeg.
von der Deutschen Kolonialgesellschaft. Jahrg. IX, 1907, Heft 4, April: Der Wasser-
weg zum Nyassasee, von (Kpt.) M. Prager. — Parlamentarische Studienfahrt nach Deutsch-
Öst-Afrika (Schluß), von (Amtsgerichts-R.) Schwarze. — Südwest-Afrika eine Sand-
wüste?? Von (Oberregier.-R. a. D.) Boehm. — Die Handelsbeziehungen zwischen
Deutschland und Portugal, speziell in Kolonialprodukten, von Carl Singelmann (Braun-
schweig), — Die Eisenbahnen im östlichen Kongostaat, von D. Kürchhoff. — Koloniale
Probleme: B. Kleinkolonisation oder Plantagenbetrieb in Ostafrika? Von (Prof.) C. Ballod.
— Die Bekämpfung der Malaria, von L. Sofer. — etc.
Zeitschrift für Sozialwissenschaft. Jahrg. X, 1907, Heft 5: Die Gebiete der
offenen Tür in der Weltwirtschaft, von Sigmund Schilder (Wien). — Heiratsbeschrän-
kungen, II (Schluß), von Max Marcuse (Berlin). — Der Selbstmord bei den afrikanischen
Naturvölkern, I, von (Dozent) S. R. Steinmetz (Utrecht). — Die Arbeiterversicherungs-
gesetze in der russischen Montanindustrie, von Paul Martell (Berlin). — etc.
Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. Jahrg. 63, 1907, Heft 2: Wege
und Abwege der Steuerpolitik, von Georg v. Mayr. — Die Reform der direkten Steuern
in Frankreich, von P. G. Hoffmann. — Die geschichtliche Entwickelung der deutschen
Arbeitgeberorganisation, von Gerhard Kessler. — Volks- und Pensionsversicherung
und die Vereinsversicherungsbank für Deutschland, von (Regierungs-R.) Seidel (Allen-
stein). — Ergebnisse des V. Internationalen Kongresses für Versicherungswissenschaft,
von Gerhard Wörner. — ete.
Zeitschrift des Königlich Preußischen Statistischen Landesamts. Ergänzungs-
heft XXVI. Mitteilungen zur deutschen Genossenschaftsstatistik für 1905. Bearb. von
(Prof.) A. Petersilie.
Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft. Bd. XXVI, 1906, Heft 3:
Literaturbericht. — Heft 4/5: Die Reform der Untersuchungshaft, von (Landgerichts-R.)
Werner Rosenberg (Straßburg i. E.). — ete. — Heft 6: Das Finanzstrafrecht, von (Re-
gierungs-R.) Kurt Dronke (Königsberg). — Vier Jahre Fürsorgeerziehung in Preußen,
von (Prof.) Kohlrausch. — ete. — Heft 7/8: Das richtige Recht, von (Prof.) J. Maka-
rewicz (Krakau). — ete. — Bd. XXVII, 1907, Heft 1: After Prison — What? by
Maud Ballington Booth. — Der Determinismus und die Verantwortlichkeit der Mensched
für ihre Handlungen, von (Beichsgerichts-R. a. D.) Petersen (München). — Die Sozial-
demokratie und die Strafrechtsreform, von Franz Dochow (Heidelberg). — etc. — Heft 2:
Amerikanische Kriminalpolitik, von Prof. B. Freudenthal (Frankfurt a. M.). — ete. —
Heft 3: Literaturbericht. — Heft 4.5: Die Kriminalstatistik für das Deutsche Heer
und die Kaiserliche Marine, Teil I. II, von (Kriegsgerichts-B.) Heinrich Dietz (Rastatt).
— ete. — Heft 6: Die Umgrenzung eines Verbrechenschutzrechtes, eine Verteidigung,
von (Prof.) Thomsen. — Die Bejahung der jeweiligen Staats- und Rechtsordnung durch
den Anarchismus als Grundlage für die Strafrechtsreformbestrebungen der Anarchisten,
von Harald Gutherz (Berlin). — ete.
Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft. Bd. VII, 1907, Heft 2:
Die Bedeutung der drahtlosen Telegraphie für die Versicherung, insbesondere die See-
versicherung, von (Oberleutnant) Lodemann (Berlin). — Der Einfluß der Dimensionen
des Feuerrisikos auf den Prämiensatz, von (Prof.) Serge von Savitsch (St. Petersburg).
— Die dentsche Viehversicherung in ihren Hauptformen, von (Versicherungsrevisor) Her-
mann Ehrlich (Berlin). — Die englische Arbeiter-Unfallversicherung nach der Novelle
zum Haftpflichtgesetz, von Henry W. Wolff (London). — Der Einfluß des künftigen
Reichsgesetzes über den Versicherungs-Vertrag auf die bestehenden Versicherungsbedin-
gungen, von (Justizrat) Stefan Gerhard (Berlin). — Beitrag zur Zinstheorie, von (Privat-
dozent) J. V. Pexider (Bern). — Zur Verteidigung der Haftpflichtgarantie-Versicherung,
von (Direktor) Hans Kohl (Berlin). — etc.
Frommannsche Buchdruckerei (Hermann Pohle) in Jena.
- ma —
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