Skip to main content

Full text of "Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 88.1907"

See other formats


32101 067873487 


ibrary of 
Princeton Universits. 


ei d Vi 


The Cinhtu Fight Hibrarn 
of 
Fronmmirs. 


EEE a TEE > Ir 


En 
or 


JAHRBÜCHER 


NATIONALÖKONOMIE UND STATISTIK. 


GEGRÜNDET VON 


BRUNO HILDEBRAND. 


HERAUSGEGEBEN VON 


DR J}. CONRAD, 


PROF. IN HALLE A, 8., 


IN VERBINDUNG MIT 


DR. EDG. LOENING, DF- W. LEXIS, DR- H. WAENTIG, 


PROF. IN HALLE A. 8., PROF. IN GÖTTINGEN, PROF. IN HALLE A, 8. 


M. FOLGE. 33. BAND, 


ERSTE FOLGE, BAND I—XXXIV; ZWEITE FOLGE, BAND XXXV—LV 
ODER NEUE FOLGE, BAND I—XXI; DRITTE FOLGE, BAND LXXXVII (III. FOLGE, 
BAND XXXII). ` 


JENA, 
VERLAG VON GUSTAV FISCHER. 
U. O, 1907. 


Uebersetzungsrecht vorbehalten. 


yA ED 


Inhalt d. XXXIII. Bd. Dritte Folge (LXXXVIII). 


I. Abhandlungen. 


Breseiani, Costantino, Ueber die Methoden der Einkommenverteilungsstatistik. 
S. 577. 

Hesse, Albert, Die Auskünfte der Arbeitgeber für Steuerzwecke und ihre Verwendung 
für die Einkommen- und Lohnstatistik. S. 784. 

Liefmann, Robert, Die heutige amerikanische Trustform und ihre Anwendbarkeit 


in Deutschland. S. 325. 
Lifschitz, F., Zur Methode der Wirtschaftswissenschaft bei D. Ricardo. S. 314. 


Pabst, Fritz, Ist die Grundrente in der Peripherie der Stadt eine „allgemeine Mono- 


polrente“? 8.1. 
Buesch, H., Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. S. 21, 


145. 
Schaposehnicoff, N., Die Böhm-Bawerksche Kapitalzinstheorie. S. 433. 


Schwarzschild, Otto, Die Großstadt als Standort der Gewerbe. S. 721. 
Seutemann, Karl, Der Stand der Statistik der Bevölkerungsbewegung im Deutschen 
Reiche und die Hauptzüge der Bevölkerungsentwickelung in den letzten 15 Jahren. 


S. 289. 
Wermert, Georg, Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden und die 


Mittel zur Schaffung der Kurszettelwahrheit. S. 601. 
Zahn, Friedrich, Der preußische Sparkassengesetzentwurf vom Standpunkt städti- 


scher Finanzpolitik. S. 481. 
Zimmermann, F. W. R., Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik 


über dieselben. S. 452. 


I. Nationalökonomische Gesetzgebung. 


Brodnitz, Georg, Englands wirtschaftliche Gesetzgebung im Jahre 1905. 8. 58. 
Geh rig, Hans, Frankreichs wirtschaftliche Gesetzgebung im Jahre 1905. 8. 178. 
Hesse, Albert, Die wirtschaftliche Gesetzgebung des Deutschen Reiches im Jahre 


1906. S. 350. 
Derselbe, Die wirtschaftliche Gesetzgebung der deutschen Bundesstaaten im Jahre 
1906. S. 508, 795. 


š III. Miszellen. 
Ce 


Arnold, A. Das indische Geldwesen unter besonderer Berücksichtigung seiner Reformen 


seit 1393. S. 393. 
Bönisch, Sind die Einkommen- und Ergänzungssteuern richtig verteilt? S. 390. 


pl ; pt \ 
A" ab 
2 woy 141307 9909 16 


IV Inhalt. 


Bunzel, Julius, Josef v. Körösy. S. 527. 

Ergebnisse der Volkszählung in Preußen. S. 101. 

Grünspecht, David, Die Entlastung der öffentlichen Armenpflege durch die Arbeiter- 
versicherung. 8. 63, 364. 

Haacke, Heinrich, Der Rückgang des Deutschtums in Budapest. S. 522. 

Koch, Hans, Die Baumwollfrage. S. 681. 

Krämer, G., Das Postbankwesen. S. 209. 

Loeffler, Die notwendigen Aenderungen unseres Etats-, Kassen- und Rechnungswesens, 
S. 195. 

Mayer, Adolf, Ueber eine Umkehrung des „von Thünenschen Gesetzes“. S. 823. 

Neve, Oscar, Der Tarifvertrag im Deutschen Reich. S. 89. 

Preisaufgaben der Rubenow-Stiftung. S. 379. 

Schneider, Karl, Das Gemeineigentum in den Pyrenäen und seine Wirkung. 8. 821. 
Seutemann, Karl, Die finanzstatistische Arbeit in deutschen Städten, erläutert an 
dem Material über die Kostensteigerung der höheren Schulen in Barmen. S. 663. 
Stillich, Oscar, Ueber den Stellenwechsel der Dienstboten. S. 537. 

Wagner, Moritz, Zur Versicherung der Privatbeamten. $S. 802. 
Würzburger, Eugen, Die „Partei der Nichtwähler“. S. 381. 


IV, Literatur. 


Badtke, Walther, Zur Entwickelung des deutschen Bückergewerbes.. (Fritz 
Schneider.) S. 833. ' 

Bajoński, Kritik und Reformen der deutschen Staatslotterien als Finanzregalien. 
(v. Heckel.) S. 270. 

Bellom, Maurice, Les Lois d’Assurance Ouvrière A l’Etranger. III. Assurance contre 
Vinvaliditö. 2. Vols. (Alfred Manes.) S. 558. 

Bernhard, Ludwig, Handbuch der Löhnungsmethoden. (Fritz Schneider.) 
S. 835. 

Bittner, Die Geschichte der direkten Staatssteuern im Erzstifte Salzburg bis zur Auf- 
hebung der Landschaft unter Wolf Dietrich. I. Die ordentlichen Steuern. (v. Heckel.) 
S. 270. 

Boelcke, Die Entwickelung der Finanzen im Großherzogtum Sachsen-Weimar von 
1851 bis zur Gegenwart. Finanzwissenschaftliche Studie. Abhandlungen des staats- 
wissenschaftlichen Seminars zu Jena, herausgeg. v. Pierstorff. Bd. III, 1. (v. Heckel.) 
S. 261. 

Bogdan St. Markowitsch, Die Gemeinden und ihr Finanzwesen in Serbien. 
Sammlung nat.-ökon. und statistischer Abhandlungen des staatswissenschaftlichen 
Seminars zu Halle a./S., herausgeg. v. J. Conrad. Bd. 46. (v. Heckel.) S. 269. 

Bosenick, A., Der Steinkohlenbergbau in Preußen und das Gesetz des abnehmenden 
Ertrages. (Hermann Levy.) S. 825. 

Brauns, Heinrich, Der Uebergang von der Handweberei zum Fabrikbetrieb in der 
Niederrheinischen Samt- und Seidenindustrie und die Lage der Arbeiter in dieser 
Periode. (Fritz Schneider.) S. 834. 

Brocard, H., Les doctrines &conomiques et sociales du Marquis de Mirabeau dans 
l’Ami des Hommes. (Karl Heldmann.) S. 545. 

Brunhuber, Die Wertzuwachssteuer. Zur Praxis und Theorie. (v. Heckel.) S. 265. 

Buonvino, Orazio, Il giornalismo contemporaneo. (v. Schullern.) S. 570. 

v. Buschman, J. Ottokar, Das Salz, dessen Vorkommen und Verwertung in sämt- 
lichen Staaten der Erde. II. Band. Asien, Afrika, Amerika und Australien mit 
Ozeanien. Herausgeg. mit Unterstützung der Kais. Akademie der Wissenschaften in 
Wien aus der Treitl-Stiftung. (E. Roth.) S. 412. 

Busuiocescu, Das Tabakmonopol in Rumänien. Volkswirtschaftliche und wirtschafts- 
geschichtliche Abhandlungen, herausgeg. v. Stieda. Neue Folge. 4. Heft. (v. Heckel.) 
S. 265. 

Collas, Der Staatsbankrott und seine Abwickelung. Münchener volkswirtschaftliche 
Studien, herausgeg. v. Brentano u. Lotz. 68. Stück. (v. Heckel.) 8S. 266. 

Croner, Johannes, Der Grundbesitzwechsel in Berlin und seinen Vororten (1895— 
1904). Eine statistische Studie. Nach dem bei den Aeltesten der Kaufmannschaft 
von Berlin gesammelten Material bearbeitet. (Karl Seutemann.) $. 569. 


Inhalt. V 


Damme, Das deutsche Patentrecht. Ein Handbuch für Praxis und Studium, (A. Elster.) 
8:712: 

Diehl, K., Neue Lehrbücher der Nationalökonomie. S. 102. 

Dyhrenfurth, Gertrud, Ein schlesisches Dorf und Rittergut. Geschichte und soziale 
Verfassung. (Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen. 25. Band, 2. Heft.) 
(G. v. Below.) S. 838. 

Emminghaus, Die Steuergesetzgebung der deutschen Bundesstaaten über das Ver- 
sicherungswesen. Veröffentlichungen des Vereins für Versicherungswissenschaft, her- 
ausgegeben v. Manes. Heft 6. (v. Heckel.) S. 270. 

Zur neueren finanzwissenschaftlichen Literatur (1904—1906). (Max 
von Heckel.) S. 260. 

Fridrichowiez, Eugen, Kurzgefaßtes Kompendium der Staatswissenschaften in Frage 
und Antwort. (Georg Brodnitz.) S. 410. 

Fuisting, Finanzpolitische Zeit- und Streitfragen. 1. u. 2. Heft. (v. Heckel.) 
8S. 262. 

Garelli, Alessandro, Le imposte nello Stato moderno. Vol. I. L’Imposizione per- 
sonale segondo il diritto finanziario positivo. (v. Heckel.) S. 271. 

George, Paul, Das heutige Mexiko und seine Kulturfortschritte. (Paul Krische.) 
S. 272. 

Gehrke, Franz, Die neuere Entwickelung des Petroleumhandels in Deutschland. 
(Fritz Schneider.) S. 834. 

Gerecke, Bruno, Theodor Schmalz und seine Stellung in der Geschichte der National- 
ökonomie. Ein Beitrag zur Geschichte der Physiokratie in Deutschland. (F. Lif- 
schitz.) 5. 546. 

Gerlach, Gemeindesteuerrecht. Neue Zeit- und Streitfragen, herausgeg. von der Gehe- 
stiftung zu Dresden. Jahrg. II, 7—8. (v. Heckel.) 8. 268. 

Zur Gewerbegeschichte und -politik. (Fritz Schneider.) S. 832. 

Gide, Charles, Grundzüge der Nationalökonomie. Uebers. von Dr. Gustay Weiß 
von Wellenstein. (K. Diehl.) S. 123. 

Ghent, W. J., Mass and Class, a survey of social division. (Robert Schachner.) 
S. 125. 

Gorham Groat, George, Trade Unions and the law in New York. (Fritz Kest- 
ner). S. 135. 

Hauser, R., Die deutschen Ueberseebanken. (Abhandlungen des staatswissenschaft- 
lichen Seminars zu Jena, herausgeg. von Prof. Dr. Pierstorff. 3. Band, Heft 4.) (Otto 
Warschauer.) S. 420. 

v. Heckel, Zur neueren finanzwissenschaftlichen Literatur. (1904—1906.) S. 260. 

Heimann, R., Die neuere Entwickelung des Kalisyndikats. (Hermann Levy.) 
S. 831. 

Horn, Erfurts Stadtverfassung und Stadtwirtschaft. Sammlung nat.-ökon. u. statistischer 
Abhandlungen des staatswissenschaftlichen Seminars zu Halle a./S., herausgeg. v. J. 
Conrad, Bd. 45. (v. Heckel.) S. 268. 

Hövermann, Zur Reform des Ftats-Kassen- und Rechnungswesens einschließlich der 
Verhältnisse der Rechnungs- und Kassenbeamten. (v. Heckel.) S. 270. 

Huber, F. C., 50 Jahre deutschen Wirtschaftslebens. Der gesetzgeberische Ausbau des 
Deutschen Reiches und seine Wirtschaftspolitik. (J. Wernicke.) S. 552. 

v. Jagemann, Zur Reichsfinanzreform. (v. Heckel.) S. 261. 

Paar Die Reichsfinanzreform von 1906 und ihre neuen Steuern. (v. Heckel.) 

. 261. 

Die Jahresberichte der deutschen Gewerbeaufsichtsbeamten. (W. Kähler.) S. 241. 

Kiesel, Die Gesellschaften mit beschränkter Haftung und ihre Heranziehung zur 
Staatseinkommensteuer in Preußen. (v. Heckel.) S. 263. 

Kirschberg, Manfred, Der Postscheck. Eine wirtschaftliche und juristische Studie. 
Mit Berücksichtigung der österreichischen, deutschen und schweizerischen Verhältnisse. 
(Otto Warschauer.) S. 561. 

Lehr, J., Politische Oekonomie in gedrängter Fassung (Volkswirtschaftslehre u. Wirt- 
schaftspolitik, Finanzwissenschaft, Statistik u. s. w.). 4. vermehrte Auflage. Besorgt 

_von Prof. Dr. C. Neuburg. (K. Diehl.) S. 124. 
Neue Lehrbücher der Nationalökonomie. (K. Diehl.) S. 102. 


VI Inhalt. 


Leontief, Wassilij, Die Lage der Baumwollarbeiter in St. Petersburg. (Fritz 
Schneider.) S. 834. 

Levy, Hermann, Literatur über die Produktions- und Absatzverhältnisse im Bergbau. 
S. 825. 

Liebmann, J., Kommentar zum Gesetz betr. die Gesellschaften mit beschränkter Haf- 
tung. Fünfte, gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage nebst einem Anhange: 
Die Einkommenbesteuerung der Ges. m. b. H. in Preußen und die Reichsstempelabgabe 
auf die Tantiemen. (A. Elster.) S. 714. 

Linschmann, Die Reichsfinanzreform von 1906. Bibliothek der Rechts- u. Staats- 
kunde. Bd. 21a. (v. Heckel.) S. 261. 

Lochmüller, W., Zur Entwickelung der Baumwollindustrie in Deutschland. (Fritz 
Schneider.) S. 834. 

Luschin von Ebengreuth, A., Allgemeine Münzkunde und Geldgeschichte des 
Mittelalters und der Neueren Zeit. (v. Below und Meinecke, Handbuch der Mittel- 
alterlichen und der Neueren Geschichte.) (Theo Sommerlad.) S. 551. 

Marshall, Alfred, Handbuch der Volkswirtschaftslehre. Bd. I. Nach der 4. Aufl. 
des engl. Orig. übers. von H. Ephraim und Arthur Salz. Mit einem Geleitwort von 
Lujo Brentano. (K. Diehl.) S. 102. 

Marcuse, Paul, Betrachtungen über das Notenbankwesen in den Vereinigten Staaten 
von Amerika. (Otto Warschauer.) S. 558. 

März, Joh., Die Fayencefabrik zu Mosbach in Baden (aus „Volkswirtsch. u. wirt- 
schaftsgesch. Abhandl.“, herausgeg. v. W. Stieda, Neue Folge, Heft 7). (Fritz 
Schneider.) 8. 707. 

Meyer, Hermann, Die Einkommensteuerprojekte in Frankreich bis 1887. Berlin 
1905. (v. Heckel.) S. 264. 

von Myrbach-Rheinfeld, Freiherr, Grundriß des Finanzrechts. Grundriß des 
österreichischen Rechts Bd. III, 7. Abt. (v. Heckel.) S. 202. 

Naef, Tabakmonopol und Biersteuer. Ein Beitrag zur schweizerischen Wirtschafts- 
und Finanzpolitik. Züricher volkswirtschaftliche Studien, hrsg. v. Herkner 3. Heft. 
(v. Heckel.) S. 265. 

Niedener, Die Ausgaben des preußischen Staats für die evangelische Landeskirche 
in den älteren Provinzen. Kirchenrechtliche Abhandlungen, hrsg. von Stutz. 13.— 
14. Heft. (v. Heckel.) S. 270. 

Olep, Heinrich, Die deutsche Süßstoffgesctzgebung. Namentlich das Süßstoffgesetz 
vom 7. VII. 1902. (Max von Heckel.) S. 137. 

Ortloff, Hermann, Deutsche Konsumgenossenschaften im neuen Zentralverband und 
die Hamburger Großeinkaufsgesellschaft. (J. Wernicke.) S. 279. 

Pesch, Heinrich, 8. J., Lehrbuch der Nationalökonomie, Bd. I Grundlegung. 
(K. Diehl.) S. 118. 

v. Petrazycki, L., Aktienwesen und Spekulation. Eine ökonomische und rechts- 
psychologische Untersuchung. Aus dem Russischen ins Deutsche übertragen unter 
Redaktion und mit einem Vorwort des Verfassers. (Otto Warschauer.) S. 562. 

Pometta, Daniele, Sanitäre Einriehtungen und ärztliche Erfahrungeu beim Bau des 
Simplontunnels 1898—1906. (E. Roth.) 8. 233. 

Posener, Paul, Besondere Volkswirtschaftslehre. 26. Band des Grundriß des ge- 
samten deutschen Rechts in Einzeluusgaben. (Georg Brodnitz.) S. 410. 

Pototzky, Hans, Ludwig Heinrich von Jakob als Nationalökonom. Ein Beitrag 
zur Geschichte der Nationalökonomie Deutschlands im 19. Jahrhundert, (F. Lif- 
schitz.) 8. 547. 

Literatur über die Produktions- und Absatzverhältnisse im Bergbau. 
(Hermann Levy.) S. 825. 

Rabius, Wilhelm, Der Aachener Hütten-Aktien-Verein in Rote Erde 1846—1906. 
(Fritz Schneider.) S. 833. 

Raffel, Friedrich, Englische Freihändler vor Adam Smith. (Hermann Levy.) 
S. 409, 

Reimers, Charlotte, Die Berliner Filzschuhmacherei. (Fritz Schneider.) 8.855. 

de Retz de Serviès, André, De l'impôt progressif dans Phistoire en France de 
1739—1870. (v. Heckel.) S. 264. 

Rheinboldt, Das Reichsfinanzwesen. Burschenschaftliche Bücherei. 2. Bd. 8. Heft. 
(v. Heckel.) S. 260. 


Inhalt. VII 


Riesser, Das Bankdepotgesetz (Gesetz betr. die Pflichten der Kaufleute bei Aufbe- 
wahrung fremder Wertpapiere, v. 5. Juli 1896). Für die Praxis erläutert. Zweite, 
völlig umgearbeitete Auflage. (A. Elster.) S. 711. 

Ripert, H., Le Marquis de Mirabeau, (L’Ami des Hommes.) Ses théories politiques 
et économiques. (Thèse de doctorat.) (Karl Heldmann.) 8S. 545. 

Rosenhaupt, Karl, Die Nürnberg-Fürther Metallspielwarenindustrie in geschicht- 
licher und sozialpolitischer Beleuchtung. (Fritz Schneider.) S. 835. 

Roscher, System der Armenpflege und Armenpolitik. 3. Auflage, ergänzt von Christian 
J. Klumker. (Georg Brodnitz.) S. 422. 

Sander, Paul, Die reichsstädtische Haltung Nürnbergs, dargestellt auf Grund ihres 
Zustandes von 1431 bis 1440. 1. und 2. Halbbd. (Theo Sommerlad.) S. 413. 
Sardemann, Das steuerfreie Existenzminimum als Beneficium competentiae und Ar- 
mutsprophylaxe. (v. Heckel.) S. 263. 

Schäffle, A., Abriß der Soziologie, herausgeg. von Karl Bücher. (Max Rind.) 
S. 406. 

Schneider, Fritz, Zur Gewerbegeschichte und -politik. 8. 832. 

Schilder, Sigmund, Agrarische Bevölkerung und Staatseinnahmen in Oesterreich. 
(H. Rauchberg.) S. 425. 

Schriften des deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit, Heft 70/71. 
(Georg Brodnitz.) S. 422. 

Schröter, Die Steuern der Stadt Nordhausen und ihre Bedeutung für das Gemeinde- 
finanz wesen historisch dargestellt. Sammlung nat.-ökon. u. statistischer Abhandlungen 
des staatswissenschaftlichen Seminars zu Halle a./S., herausgeg. v. J. Conrad. Bd. 48. 
(v. Heckel.) S. 269. 

Seligman, Edwin R. A., Principles of Economics with special reference to Ameri- 
can conditions. (K. Diehl.) S. 115. 

Speck, E., Handelsgeschichte des Altertums. Dritter Band, 1. Hälfte: Die Kar- 
thager. Die Etrusker. Die Römer bis zur Einigung Italiens 265 v. Chr. Dritter 
Band, 2. Hälfte A: Die Römer von 265 bis 30 v. Chr. Dritter Band, 2. Hälfte B: 
Die Römer von 30 v. Chr. bis 476 n. Chr. (Theo Sommerlad.) S. 549. 

Statistisches Jahrbuch deutscher Städte. (J. C.) S. 281. 

Stieda, Wilhelm, Die keramische Industrie in Bayern während des 18. Jahrhunderts. 
(Bd. 14, No. 4 der Abhandl. der phil.-histor. Klasse der kgl. sächs. Gesellsch. der 
Wissensch.) (Fritz Schneider.) S. 275. 

Stillich, O., Steinkohlenindustrie. (Hermann Levy.) S. 827. 

Stoepel,K. Th., Die deutsche Kaliindustrie und das Kalisyndikat. (Hermann Levy.) 
S. 830. 

Sunder, Das Finanzwesen der Stadt Osnabrück von 1648—1900. Sammlung nat,.-ökon. 
u. statistischer Abhandlungen des staatswissenschaftlichen Seminars zu Halle a./S., 
herausgeg. v. J. Conrad, Bd. 47. (v. Heckel) S. 268. 

Thomas, A., The Growth and Direction of our foreign Trade in Coal. (Hermann 
Levy.) S. 829. 

Trautvetter, Das neue deutsche Zolltarifrecht. Ein Leitfaden. (v. Heckel.) 
S. 265. 

Trescher, Die Entwickelung des Steuerwesens im Herzogtum Sachsen-Gotha. Ab- 
handlungen des staatswissenschaftlichen Seminars zu Jena, herausgeg. v. Pierstorff, 
Bd. II, 3. (v. Heckel.) S. 261. 

Uhde, K., Die Produktionsbedingungen des deutschen und englischen Steinkohlenberg- 
baues. (Hermann Levy.) 8. 829. 

Uhlmann, Franz, Der deutsch-russische Holzhandel. (Sodoffsky.) S. 131. 

Vossberg, Walter, Die deutsche Bau-Genossenschaftsbewegung. (J. Wernick e.) 
S. 565. 

Wagner, Adolf u. Preuss, Kommunale Steuerfragen. Zwei Referate erstattet der 
Ortsgruppe Berlin der Gesellschaft für soziale Reform. Mit einer Vorbemerkung von 
M. v. Schulz. (v. Heckel.) S. 267. 

Weston, Stephen F., Principles of Justice in Taxation. (v. Heckel.) S. 271. 

Wicksell, Knut, Föreläsningar i nationalekonomi. (M. Marcus.) S. 397. 

Wismüller, Franz X., Die bayerische Moorkolonie Großkarolinenfeld. Im Auftrage 
des Kgl. Bayerischen Staatsministeriums des Innern. Mit einer Karte und einer An- 
sicht von Großkarolinenfeld. (P. Holdefleiss.) S. 415. 


VIII Inhalt. 


Zeitlin, Der Staat als Schuldner. Fünf Volkshochschulvorträge. (v. Heckel.) 
S. 266. 


Zorn, Ueber die Tilgung von Staatsschulden. Abhandlungen aus dem Staats-, Ver- 
Der und Völkerrecht, herausgeg. v. Zorn und Stier-Somlo, Bd. I, 3. (v. Heckel.) 

Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des 
Auslandes. S. 125. 272. 406. 545. 704. 837. 

Die periodische Presse des Auslandes. S. 141. 285. 427. 572. 716. 850. 

Die periodische Presse Deutschlands. S. 143. 287. 430. 574. 719. 853. 

Bemerkung der Redaktion. S. 288. 


Volkswirtschaftliche Chronik. S. 649. 707. 1. 55. 113. 197. 


Fritz Pabst, Grundrente in der Peripherie der Stadt. 1 


I. 


Ist die Grundrente in der Peripherie der 
Stadt eine „allgemeine Monopolrente“ ? 


Von 
Dr. Fritz Pabst, Berlin. 


Gelegentlich einer Besprechung des Buches „Kleinhaus und 
Mietkaserne“ von Andreas Voigt und Paul Geldner in der Zeitschrift 
für die gesamte Staatswissenschaft (1906) Heft 2, S. 336 ff. weist 
Dr. H. Jolles darauf hin, daß die Feststellung der Abhängigkeit der 
Bodenpreise von den auf dem Grundstück erzielbaren Erträgen noch 
nicht beweist, daß kein Monopol am Boden vorliegt oder möglich 
ist. Er sagt mit Recht, „der Preis des monopolisierten Bodens ist 
ganz ebenso eine Funktion des Mietertrages wie der Preis des freien 
Bodens)“. Im Zusammenhang damit wird die Ansicht ausgesprochen, 
daß „die Mieten monopolistische Höchstpreise und daher von der 
Kostengestaltung ziemlich unabhängig“ seien. Diese Ansicht sucht 
Jolles nunmehr in einer im 3. Heft der genannten Zeitschrift 
(S. 433 ff.) veröffentlichten Untersuchung: „Die allgemeine Monopol- 
rente von städtischem Grundbesitz“ näher zu begründen. 

1. Bevor die von dem Verfasser aufgestellte Theorie untersucht 
wird, sei zunächst der wesentlichste Inhalt seiner Ausführungen 
kurz dargelegt. Jolles erinnert daran, daß die schon von Adam 
Smith vertretene Vorstellung von der monopolistischen Natur der 
städtischen Grundrente auch heute noch allgemeine Geltung in der 
Staatswissenschaft und Nationalökonomie hat. Demgegenüber er- 
scheinen die gegensätzlichen Ansichten von Andreas Voigt, Weber, 
Pohle und auch von Philippovich?) „daß die städtische Grundrente 
der Regel nach Differentialrente sei“, als eine die Regel bestätigende 
Ausnahme. Die Ursache des Monopols finden die Vertreter der 
communis opinio fast ausnahmslos in den Verhältnissen des Bodens, 
besonders in dem beschränkten Vorkommen desselben, wobei einmal 
an „eine allgemeine Beschränktheit allen Baulandes, andererseits an 
die "Seltenheit einzelner besonders ausgezeichneter Lagen“ gedacht 


1) Uebrigens wird das A. Voigt am ie bestreiten. 
2) Die Belege vergl. Jolles a. a. O. S. 433. 
Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIII. 1 


2 Fritz Pabst, 


wird. Diese Vorstellung knüpft an die Bodenpreisentwickelung in 
der Peripherie der Stadt an. Nur die dort angeblich zum Ausdruck 
gelangende „allgemeine Monopolrente“, die von „der Monopolnatur 
einzelner besonders ausgezeichneter Lagen“ zu unterscheiden ist, 
untersucht der Verfasser. 

Er beginnt mit einem Ueberblick über die herrschenden 
Vorstellungen der Monopoltheorie. Die „allgemeine Monopol- 
rente“ soll sich bilden auch auf demjenigen Boden, „auf dem eine 
Differentialrente unmöglich ist, auf dem schlechtesten jeweilig be- 
bauten Boden“. Roscher und andere nehmen dies an, sowohl unter 
der Voraussetzung, „daß der gesamte Boden zum Anbau erforderlich 
ist“, als auch für den Fall, „daß der gesamte Boden juristisch okku- 
piert ist“. Auf diese Ansicht von der „allgemeinen Monopolnatur 
der städtischen Grundrente“ stützt sich die Spekulations- oder Aus- 
sperrungstheorie, die ja die Anerkennung!) der meisten National- 
ökonomen und vieler Praktiker gefunden hat. 

Mit Recht führt nun Jolles aus: „Die monopolistische Macht des 
Eigentums kann nur auf der besonderen Natur des Eigentums- 
objektes beruhen.“ Er weist nach, unter Bezugnahme auf die Fest- 
stellungen von Andreas Voigt und Weber, daß der städtische Boden 
seiner wirtschaftlichen Natur nach nicht zu den monopolisierbaren 
Gütern gehört und daß deshalb die Spekulationstheorie unzutreffend 
ist. Diese Theorie kann auch nicht mit der Erwägung begründet 
werden, daß „die Stadt mit ihrer Umgebung nur auf eine bestimmte 
Entfernung hin wirtschaftlich in unmittelbare Beziehung gesetzt zu 
werden vermag“. Die herrschende Vorstellung von der „allgemeinen 
Monopolnatur des städtischen Baulandes“* ist also abzulehnen. Als 
die Regel bestätigende Ausnahme führt der Verfasser an, „beson- 
dere Geländeverhältnisse, z. B. bei Gebirgsorten und Inselstädten 
und politische Baubeschränkungen namentlich in Festungsstädten“. 
Er hätte noch hinzufügen können abnorme Eigentumsverhältnisse 
und abnorme Eigentumsausnutzung, wie sie Weber in England in 
seinem Buche: „Ueber Bodenrente und Bodenspekulation in der 
modernen Stadt“ (1904) S. 82 nachgewiesen zu haben glaubt. Dort 
würde in der Tat, wenn jene Schilderungen zutreffen, in einigen 
Gemeinden eine Monopolrente, hervorgerufen durch Aussperrung des 
zur Bebauung erforderlichen Bodens und damit eine Steigerung 
des Bodenertrages bezw. der Mieten infolge der künstlich in die 
Höhe getriebenen Bodenpreise vorliegen. 

Im zweiten Teil seiner Ausführungen legt nun Jolles seine An- 
sicht über das Wesen der „Peripheriegrundrente“ dar. Es handelt 
sich dabei nach dem Verfasser in der Tat um ein Monopol, aber nicht 
um ein Monopol der Bodeneigentümer, sondern um ein solches der 
Hauseigentümer. Die Differentialrententheorie erklärt angeblich die 
Gestaltung der Bodenpreise an der Stadtgrenze nicht hinlänglich. 
Der Boden an der Stadtgrenze müßte, wie auch Henry George?) 


1) Vergl. Jolles S. 435. 
2) Vergl. Zitat bei Jolles a. a. O. S. 443. 


Ist die Grundrente in der Peripherie der Stadt eine „allgemeine Monopolrente“? 3 


hervorhebt, den landwirtschaftlichen Wert haben. Dies sei jedoch 
nirgends der Fall, wie insbesondere von Möller !) und Feig?) nach- 
gewiesen worden ist, obschon die Peripheriegrundrente eine Rente 
letztklassigen Bodens darstelle. f 

In dieser Peripheriegrundrente kommt nach Jolles ein all- 
gemeines Monopol zum Ausdruck, welches durch die besondere 
Natur des Baukapitals und durch die allgemeine Monopolstellung 
der Hausbesitzer hervorgerufen wird. 

Diese Ansicht sucht Verfasser folgendermaßen zu begründen: 
Schon die Notwendigkeit, ein verhältnismäßig bedeutendes Quantum 
von Kapital als stehendes Kapital fest anzulegen, beeinflusse das Ver- 
hältnis von Angebot und Nachfrage bei der Gebäudeherstellung, in- 
dem sie das Angebot zur Vorsicht und zu langsamem Nachfolgen 
veranlasse. Die „städtische Kapitalverwendung“ sei aber noch in 
anderer Beziehung hinsichtlich ihres Einflusses auf Angebot und 
Nachfrage auf dem Häusermarkt eigenartig. Allgemein werde näm- 
lich auf Grund der Ergebnisse der Wohnungsstatistik ein bestimmter 
Vorrat von leerstehenden Wohnungen, etwa 3 Proz., als normal ge- 
fordert. Es sei aber eine Tatsache, daß sich ein solcher Ueber- 
schuß von leerstehenden Wohnungen (und anbaufertig hergestelltem 
Lande) nicht bildet ë). 

Jolles sagt, diese Forderung, einen solchen „konkurrierenden 
Vorrat“ hervorzurufen, würde man eben nicht stellen, wenn auch nur 
die Möglichkeit einer entsprechenden und ausreichenden Ausdehnung 
des Angebots von Wohnungen bestände. Aus dieser unerfüllten 
Forderung dürfe mit Recht auf monopolistisch gesteigerte Preise 
geschlossen werden. Folgendes sei daher eine grundlegende Tat- 
sache: „der jeweilig vorhandene Häuserbestand nimmt eine Monopol- 
stellung ein, weil das Baukapitel seiner wirtschaftlichen Natur nach 
nicht wesentlich (sie!) über die Nachfrage hinaus vermehrbar 
ist“ (S. 446). 

Auf Grund dieser unerwiesenen These behauptet Jolles, die 
städtische Hausunternehmung sei als eine Art „unteilbarer Unter- 
nehmung“ (nach Sax) zu betrachten. Sie genieße wie andere Unter- 
nehmungen der Art, z. B. Eisenbahnen, Kanäle u. s. w. eine Monopol- 
stellung. Wie bei diesen, habe auch hier die Konkurrenzunterneh- 


1) Vergl. Möller: „Wohnungsnot und Grundrente, Jahrb. f. Nat.-Oek., Jena 1902, 
3. Folge, 23. Bd., S. 31: „Im Umkreis der nach dem Stande der Verkehrsmittel er- 
reichbaren Entfernungen, zur Zeit eine Meile, vervielfachen sich die Bodenpreise un- 
bebauter Flächen auf 20 bis 40 M. für das Quadratmeter und höher. Die Preise in 
ländlicher Lage betragen 0,04 bis 0,80 M. für das Quadratmeter.‘ 

2) Vergl. Feig: Schriften des Vereins für Sozialpolitik (1903) 111. Bd. S. 158: 
„Die Verhältnisse des Grund- und Bodens in Düsseldorf unter dem Einflusse der Wirt- 
schaftskrise von 1900“: In den wichtigsten Arbeiterwohnvierteln wie Oberbilk, Flingern, 
Derendorf betragen die Durchschnittswerte der Baustellen etwa 300 bis 700 M.; in dem 
noch entfernter vom Stadtmittelpunkt belegenen Lierenfeld etwa 140 M., ein Preis, 
der auch für die besten Böden in dem Gemüsebau treibenden Außen- 
orte Hamm bezahlt wird, während Ackerland in den anderen südlichen Außen- 
orten mit 15 bis 20 M. für die Quadratrute bezahlt wird.“ 
3) Vergl. Jolles a. a. O. S. 449. 


1* 


4 Fritz Pabst, 


mung nur die Wirkung, daß sie zu einer Zersplitterung der Nach- 
frage führe und die Rentabilität der Hausunternehmungen allgemein 
vernichte. 

Wie bei anderen „unteilbaren Unternehmungen“, sei auch in 
der Hausunternehmung eine Anpassung des Angebots an die Nach- 
frage durch Verdrängung der schwächeren Unternehmungen „kaum 
jemals“ (sic!) möglich. Der Grund für diese „Eigentümlichkeit der 
Konkurrenzverhältnisse auf dem städtischen Häusermarkt“ aber ist 
nach Jolles zu sehen in der „Unwandelbarkeit und Unzerstörbarkeit 
der Hausunternehmung‘“, die wiederum auf der Tatsache beruht, 
„daß in der Hausunternehmung das umlaufende Kapital, abgesehen 
von dem unerheblichen Verwaltungsaufwande, vollständig fehlt“ 
(S. 447). 

Während sonst durch Aenderung des umlaufenden Kapitals in 
derselben Unternehmung das Angebot verändert werden könne ohne 
Veränderung des stehenden Kapitals, also insbesondere auch ohne 
Veränderung in der Zahl der Unternehmungen, sei dies bei der 
Hausunternehmung nicht der Fall. Unwandelbarkeit und Unzerstör- 
barkeit der Hausunternehmungen beschränken also nach dem Ver- 
fasser die Konkurrenz auf „die völlig unzulängliche Form der 
Vorratsproduktion“ und bewirken somit die Unmöglichkeit einer 
wirksamen Konkurrenz auf dem Häusermarkt (vgl. S. 449). Der 
Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage sei mithin nicht das Er- 
gebnis, sondern die Grenze der Konkurrenz, diese „Konkurrenz- 
beschränkung“ aber Ursache, nicht Folge der „spekulativen Ein- 
schließung der Stadt“. 

Der Verfasser kommt sonach zu dem Ergebnis: Die Peripherie- 
grundrente ist eine allgemeine Monopolrente, ist nicht, wie die 
Differentialrente Folge, sondern Ursache der Mietzinshöhe und end- 
lich, weil auf Eigenschaften des Baukapitals beruhend, keine Boden- 
sondern Häuserrente. 

2) Einleitend sei bei der Kritik der Jolleschen Theorie hervor- 
gehoben, daß ich die Meinung derjenigen teile, welche die städtische 
Grundrente der Regel nach als Differentialrente ansehen. Eine 
eigentliche Monopolrente, also eine „allgemeine Monopolrente“ ist 
meines Erachtens nur vorhanden, wenn vermöge eines ausschließ- 
lichen Bodeneigentums in der Peripherie der Stadt die Bodeneigen- 
tümer das Angebot im Mißverhältnis zum tatsächlichen Bedarf ein- 
schränken !). Weber will, wie schon dargetan, in England einige 

derartige Fälle konstatiert haben. 

Eine kurze Erörterung erfordert hierbei der Begriff des „Mono- 
pols“. Ein „Monopol“ sehe ich also darin, wenn ein zur Befriedigung 
der Nachfrage absolut erforderliches Bodenquantum, das durch keine 
Konkurrenz ersetzt werden kann, von seinen Eigentümern zum 
Zwecke der Preissteigerung künstlich zurückgehalten wird. Dagegen 

1) Vergl. auch meine Ausführungen in: Kritik der Bodenreform, Berlin 1905, 
S. 57 u. 67. 


Ist die Grundrente in der Peripherie der Stadt eine „allgemeine Monopolrente“? 5 


betrachte ich die Vorzugsstellung jedes Grundeigentümers derart, 
daß der Fleck Boden, der ihm gehört, in seiner speziellen Lage nur 
einmal vorkommt, nicht als „Monopol“. Wollte man das letztere 
tun, so müßte man das Bodeneigentum überhaupt als einen mono- 
polistischen Besitz und die Grundrente als eine Monopolrente be- 
zeichnen. 

Ueber die vermutliche Höhe der Bodenrente in dem Falle eines 
solchen tatsächlichen Monopols sei noch folgendes bemerkt: Auch 
wenn infolge Ausschlusses jeder Konkurrenz und durch Einschrän- 
kung des Angebots ein bei freier Konkurrenz undenkbares Miß- 
verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage entstanden ist, vermag 
der Bodeneigentümer nicht einfach den Bodenpreis beliebig zu be- 
stimmen; auch dann wird nicht der Zustand eintreten, den die Boden- 
reformtheorie schon heute als vorhanden hinstellt, wonach der 
Mehrertrag der steigenden volkswirtschaftlichen Produktion von der 
steigenden Grundrente absorbiert wird. 

Steigender Bodenwert setzt vielmehr Vermehrung der Bevölke- 
rung und Erweiterung der Produktion voraus. Erst müssen Technik 
und Volkswirtschaft fortschreiten, ehe nutzbringende Kapitalanlage 
möglich sein wird und ihrerseits wieder die Höhe der Grundrente 
steigert.t 

Die Höhe der Grundrentensteigerung und damit der Wert- 
zuwachs des Bodens, der ja nur die kapitalisierte Grundrente dar- 
stellt, richtet sich erst als sekundäres Moment nach der Entwickelung 
der Volkswirtschaft. Die Grundrente kann also nur solange ge- 
deihen, wie die ganze Volkswirtschaft blüht. Gefährdet sie diese, 
so untergräbt sie damit ihre eigene Existenz 1). 

Allerdings werden bei einem wirklichen Monopol die jeweilig 
höchstmöglichen Preise oder Mieten erzielt werden; sie sind viel- 
leicht bedeutend höher, als es bei dem Zustande freier Konkurrenz 
der Fall wäre. Aber eine Ueberspannung der Forderungen des 
Monopolisten müßte einen Rückschlag auf den Bodenpreis ausüben. 
Die Entwickelung würde durch Abwanderung der Bevölkerung auf 
monopolfreien Boden gehemmt werden. Die Monopolisierung oder 
besser die rücksichtslose Ausbeutung der Monopolstellung würde den 
Monopolinhaber in erster Linie schädigen. 

Besonders verhängnisvoll würden die nachteiligen Folgen für 
den Monopolbesitz namentlich dann sein, wenn der Monopolist ein 
Bodenspekulant wäre, der den Boden schon teuer vom „Urbesitzer“ 
erworben hat. — Den praktischen Beweis für die Richtigkeit dieser 
Wirkung der Bodenmonopolausnutzung hat meines Erachtens Weber 
an dem Beispiel der englischen Stadt Greenock erbracht. 

Eine Monopolrente, wie ich sie hier geschildert habe, würde in 
der Tat eine „allgemeine Rente“ darstellen, die mit der Differential- 
rente nichts zu tun hat. Sie würde die Ursache des gestiegenen 
Ertrages sein, während bei der Differentialrente der steigende Boden- 


1) Vergl. Kritik der Bodenreform, S. 64. 74, 90. 


6 Fritz Pabst, 


preis sich aus dem natürlichen Wertvollerwerden des Bodens durch 
die wachsende Nachfrage und sein beschränktes Vorkommen in be- 
sonderer Lage ergibt. 

Dies über die Möglichkeit einer Monopolrente beim Boden! — 

Jolles hat nun die üblichen Monopolvorstellungen mit Geschick 
zurückgewiesen, und es ist sehr erfreulich, daß er die doch allgemein 
vertretene und insbesondere von den Bodenreformern und ihrer An- 
hängerschaft im Tone absoluter Unfehlbarkcit gepredigte Lehre von 
der Monopolnatur des städtischen Bodens so entschieden und rück- 
haltslos abgelehnt hat: es zeugt dies unter heutigen Verhältnissen 
von anerkennenswertem Mut. Aber seine neue Theorie, die unter 
Anwendung eines ziemlich umfangreichen wissenschaftlichen Appa- 
rates doch das Vorhandensein einer allgemeinen Boden- bezw. Häuser- 
rente konstatieren zu können glaubt, muß meines Erachtens ebenso 
entschieden wie die herrschenden Vorstellungen abgelehnt werden. 

Zunächst ist die conditio sine qua non seiner Theorie — seine 
Behauptung, daß ein konkurrierender Vorrat im allgemeinen auf dem 
Wohnungsmarkt nicht bestehe, mit anderen Worten, daß im Laufe 
einer längeren Periode durchschnittlich erheblich weniger als 3 Proz. 
der Wohnungen leerstehen — unbewiesen geblieben. Mit einer 
bloßen Vermutung ist nichts bewiesen, selbst wenn sie von Vielen 
geteilt werden sollte. Ehe man sich anschickt, eine derartige funda- 
mentale Theorie zu entwickeln, sollte man doch die Voraussetzungen, 
auf welche sie sich stützt, auch induktiv recht sorgfältig untersuchen. 

Jolles bringt aber z. B. absolut kein statistisches Material zum 
Beweis seiner Behauptung bei. Es ist richtig, daß unsere Woh- 
nungsstatistik leider — und höchst bedauerlicherweise — so ziem- 
lich versagt, aber man hätte doch wohl einen Versuch induktiver 
Beweisführung erwarten dürfen. 

Im folgenden soll dies geschehen! Bei der ungenügenden Ent- 
wickelung der Wohnungsstatistik muß man sich leider auf wenige 
Städte beschränken und zwar werden im folgenden die von Pohle +) 
mitgeteilten Zahlenangaben benutzt, welche noch, soweit möglich, 
für die späteren Jahre ergänzt worden sind. 

(Siehe Tabelle I auf S. 7.) 

Danach betrug also der Anteilssatz der leerstehenden Wohnungen 

durchschnittlich: 


1. in Hamburg in den letzten 21 Jahren 4,583 Proz. 
2. „ Leipzig RER = 16 a 3,482 y 
8. „ Magdeburg „ » R 12 " 2,868 „ 
4. „ Berlin AR- A 10 A 2,693 p 
5. „ Dresden 5 n 9 a6 5,194 » 
6. „ Mannheim „ „ s 7 1.074088: + 


In vier von diesen Gemeinden mit im allgemeinen starker, zum 
Teil rapider Entwickelung hat also die Bautätigkeit im Durchschnitt 
einer längeren Zeitdauer das als „normal“ betrachtete Angebot von 

1) Vergl. Pohle, Der Wohnungsmarkt unter der Herrschaft der privaten Bau- 
spekulation, Zeitschr. f. Sozialwissenschaft, 1904, Heft 10, 8. 623 ff. 


Ist die Grundrente in der Peripherie der Stadt eine „allgemeine Monopolrente“? 7 


Tabelle I. 


Die Zahl der leerstehenden Wohnungen in Prozenten der Ge- 
samtzahl betrug in folgenden Städten im Jahre: 


Jahr | en | Leipzig ee Berlin?) | Dresden Mannheim 
1885 2,23 

1886 2,50 

1887 2,38 

1858 2,8% 

1889 3.44 

1890 4,64 6,74 

1891 5,86 6,88 

1892 8,38 6,32 

1893 9,01 5,40 

1894 9,00 4,52 6,98 

1895 7,98 3,29 5,53 

1896 6,37 1,51 3,90 

1897 4,58 0,82 2,05 

1898 3,51 1,03 1,16 

1899 2,97 1,17 0,86 1,62 
1900 2,51 1,68 6,17 1,40 
1901 2,16 1,97 1,08 ) 5,12 
1902 2,72 2,88 2,20 6,76 
1903 3,54 3,99 3,08 6,61 
1904 4,38 4,20 3,74 4,24 
1905 4,80 3,96 3,10 2,09 7,08 2,71 


leeren Wohnungen nicht nur erreicht, sondern zum Teil recht erheb- 
lich überschritten! Nur Magdeburg und Berlin machen eine Aus- 
nahme. Aber wenn auch hier der Durchschnittssatz von 3 Proz. 
um ein weniges nicht voll erreicht wird, so wird man nicht be- 
haupten können, daß dies ein Beweis für die Richtigkeit der Jolles- 
schen Behauptung ist. Für Berlin kommt ferner, namentlich für 
die letzten Jahre in Betracht, daß es mit seinen Vororten eine wirt- 
schaftliche Einheit bildet und daher in Bezug auf den Wohnungs- 
markt mit diesen zusammen betrachtet werden muß°). Leider fehlt 
es noch immer an einer entsprechend ausgestalteten Statistik für 
Groß-Berlin. 

Allein aber auf die Gestaltung des Durchschnittsangebots 
in einer längeren Periode kann es hier ankommen! Die 
Wissenschaft wenigstens darf kein Verfahren anerkennen, wie es 


1) Die Hamburger Statistik betrifft „die Gelasse‘“, umfaßt also Wohnungen ein- 
schließlich der gewerblich benutzten Räume. Seit 1902 werden die leerstehenden Woh- 
nungen gesondert festgestellt, Danach gestaltet sich das Ergebnis, wie folgt: 

1902 2,2 1904 4,1 
1903 3,1 1905 4,4 

2) Die Resultate der Zählungen bis 1898 einschließlich sind nach der Angabe 
des statistischen Amts der Stadt Berlin mit den späteren Zahlen vergleichbar, obwohl 
das bis dahin geübte Verfahren von dem späteren etwas abweicht. 

3) Vgl. dr. Baumert, Zum preußischen Wohnungsgesetzentwürf. Berlin 1905, 
C. Heymanns Verlag, 8. 33. 


8 Fritz Pubst, 


z. B. der Verfasser des preußischen Wohnungsgesetzentwurfs beliebt 
hat, der, obwohl ihm die entgegengesetzte Entwickelung nach dem 
Jahre 1900 bekannt gewesen ist, dennoch aus den Zahlen einiger 
Jahre eine allgemeine Tendenz zur Abnahme des Angebots an leeren 
Wohnungen zu folgern, keinen Anstaud genommen hat!). 

Eine so objektiv und bona fide geführte Untersuchung wie die 
von Jolles läuft aber gleichfalls Gefahr, ihres wissenschaftlichen 
Charakters verlustig zu gehen, wenn sie Schlagworten, die aller- 
dings eine offizielle Bestätigung gefunden haben, vertrauend, vor- 
handenes statistisches Material unbeachtet läßt. 

Es ist sehr bedauerlich, daß das mitgeteilte Zahlenmaterial in 
demselben Umfange nicht auch für andere Städte erhältlich ist. Die 
folgende Tabelle II S. 9 enthält Zahlenmaterial für eine Reihe von 
Großstädten, die im allgemeinen erst von 1900 ab oder noch später 
die Zahl der leerstehenden Wohnungen feststellen bezw. für welche 
frühere Zahlen nicht ermittelt werden konnten ?). 

Die Erhebungen erfolgten in der einzelnen Gemeinde nicht 
immer zu den Terminen der Vorjahre; die Ergebnisse sind trotz- 
dem für unseren Zweck genügend vergleichbar. 

Auch in diesen Gemeinden kommt ausnahmslos die von Pohle 
hervorgehobene Tendenz der Wohnungsproduktion zum Ausdruck, 
sich in entgegengesetzter Richtung wie das allgemeine Wirtschafts- 
leben zu bewegen. In allen ist seit dem Jahre 1900, einem Jahre 
hochgespannter wirtschaftlicher Entwickelung, eine Vermehrung des 
Wohnungsangebots eingetreten; in allen, mit Ausnahme von Bremen 
und Dortmund ist ferner der „normale“ Satz von 3 Proz. in 
einzelnen Jahren überschritten oder wenigstens annähernd erreicht 
worden. Aus diesen Zahlen soll jedoch nicht ohne weiteres der aus 
der Tabelle I gefolgerte allgemeine Rückschluß gezogen werden. 


Bremen und Dortmund nehmen unter ihnen eine Ausnahme- 
stellung ein, was aber nicht etwa die Richtigkeit der Jollesschen 
Behauptung von der unzureichenden Herstellung von Wohnungen 
bewahrheitet. In Bremen erklärt sich der niedrige Prozentsatz 
hauptsächlich aus dem dort vorherrschenden Kleinbau. Die „Mit- 
teilungen des Bremischen Statistischen Amts“ (1905 No. 1) bemerken 
dazu (vgl. S. 4: Man wird hiernach einen Betrag von 
1,50—2,50 Proz. leerstehender Wohnungen für Bremen 
je nach der Jahreszeit als normal ansehen dürfen. In 
anderen Großstädten rechnet man gewöhnlich mit höheren Ziffern 


1) Vergl. Entwurf, Begründung auf S. 13 ff. Siehe auch Pohle, a. a. O., S. 619 ff. 
Dasselbe Verfahren ist übrigens auch bei Adolf Damaschke zu rügen. Vergl. Adolf 
Damaschke, Die Bodenreform, S. 60. 

2) Die Ermittelung geschah durch eine am 6. September d. J. veranstaltete Um- 
frage des preußischen Landesverbandes der Haus- und Grundbesitzervereine bei den 
statistischen Aemtern bezw. Magistraten der deutschen Gemeinden mit über 100 000 Ein- 
wohnern (Großstädte). Der Unterzeichnete nimmt an, daß aus seiner Stellung als 
Generalsekretär des genannten Verbandes nicht die Folgerung gezogen wird, daß er zu 
einer objektiven wissenschaftlichen Untersuchung unqunlifiziert sei. 


Ist die Grundrente in der Peripherie der Stadt eine ‚allgemeine Monopolrente‘? 9 


Tabelle II. 


I 
Stadt 1900 | 1901 | 1902 | 190s 1904 | 1905 
— zZ —— L -— — 

* Essen ®) 1,25 | 2,63 | 4,76 | 5,33 | 3,49 |1,09 
Königsberg 2,84 | 3,19 | 2,83 | 3,98 4,32 | — 
* Straßburg 2,14 — 1,40 | 2,29 2,44 | 2,86 
* Kiel?) 0,0 | — — | 3,35 — | 2,88 
Düsseldorf — 3,1 2,86 | 5,51 4,36 | 4,28 
* Bremen !) 1,10 — — 2,33 1,77 | 2,06 
* Chemnitz 1,15 — | 3,08 4,33 |4,45 
* Wiesbaden — — — — — |349 
Dortmund *) — |  — — — 1,7 |1,62 
* Posen 1,10! — — |2, 4,7 6,469) 

* Barmen — — — 48 6,3 
Rixdorf 0,50 ; 0,60 | 2,07 | 6,62 | 8,75 — 

* Schöneberg — |3,60 3,01 ‚4,13 
Charlottenburg j| — — — | 3,38 | 3,48 |2,98 
Danzig 2,8 _ — |34ħ| — |— 

* Duisburg -= — — | 3,98 — |—- 

* Cassel — — — 4, — — |4,87 

* Cöln®) — 391 | — — |464 


In den mit * bezeichneten Gemeinden haben weitere Zählungen nicht statt- 
gefunden, 


und pflegt insbesondere den zulässigen Mindestbetrag der leer- 
stehenden auf 3 Proz. aller Wohnungen zu veranschlagen. Wenn 
wir in Bremen zu niedrigeren Ziffern gelangen, so dürfte das durch 
die verhältnismäßig übersichtliche Gestaltung des 
Wohnungsmarktes, das Fehlen versteckter Wohnungen 
in Hinterhäusern, die weite Verbreitung des Eigen- 
tums an Wohnhäusern erklärt werden. 

Was endlich Dortmund anbelangt, so kann man aus dem dürf- 
tigen Material natürlich keine allgemeine Folgerung ziehen. 


1) Von je hundert „Privatwohnungen‘“. Der Bericht sagt (vergl. Mitteilungen des 
Bremischen statistischen Amts im Jahre 1906, No. 1, S. 1): „Es kann nicht geleugnet 
werden, daß schon seit einiger Zeit eher eine Ueberfüllung des Wohnungsmarktes zu 
besorgen ist.“ Es wird dies begründet mit der starken Zunahme der im November 
1905 an die Grenze der polizeilichen Abnahme gerückten Wohnungen! 

2) Bei der Kieler Zählung ist zu beachten, daß im Jahre 1900 die Küchen nicht 
als heizbare Zimmer gezählt wurden, wie im Jahre 1903 und 1905. Ferner ist nach 
Mitteilung des statistischen Amts die Zahl der leerstehenden Wohnungen für 1905 ver- 
mutlich zu klein! 

3) Vorläufiges Ergebnis nach den „Monatsübersichten‘‘, Posen, No. 8 (1905). 

4) Die im Dezember 1905 im Bau befindlichen Wohnungen Dortmunds be- 
trugen zusammen mit den leerstehenden 4,09 Proz. aller Wohnungen. 

5) Im Mai 1906 belief sich die Zahl der in Charlottenburg leerstehenden Woh- 
nungen auf 3,40 Proz. Seit Mai 1898 werden dle leerstehenden Wohnungen festgestellt. 
Für die Jahre bis 1903 sind jedoch die Relativzahlen nicht feststellbar. 

6) Einschließlich des am 1. August 1905 eingemeindeten Rüttenscheid machten 
die leerstehenden Wohnungen am 23. Oktober 1905 1,16 Proz. aus. 

7) Resultat soll nach der Mitteilung des Magistrats nicht ganz zuverlässig sein. 

8) Außerdem fand in Cöln im Jahre 1897 (gleichfalls am 1. Dezember) eine Zäh- 
lung statt, welche den Prozentsatz von 4,12 Proz. ergab. 


10 Fritz Pabst, 


Zum Schluß seien in einer Tabelle III noch einige Zahlen über 
die Städte Frankfurt a. M., Hannover, Breslau, Altona und München 
mitgeteilt, welche die Entwickelung des Wohnungsmarktes in Ab- 
ständen von je 5 Jahren beleuchten: 


Tabelle III. 


Jahr Frankfurt a. M. *Hannover!) *Breslau?) * Altona) * München 


1880 _ 6,54 _ — — 
1885 2,99 1,46 2,2 — 2,1 
1890 3,29 1,25 8,0 — 5,7 
1895 9,81 4,76 5,7 4,38 3,2 
1900 1,94 1,47 1,9 1,10 5,0 
1905 4,38 1,87 6,8 2,18 4,2 


Auch sie zeigen die von Pohle hervorgehobene Gesetzmäßigkeit 
der Gestaltung des Wohnungsangebots (entgegengesetzt der allge- 
meinen wirtschaftlichen Entwickelung) und scheinen auch für unsere 
Behauptung des zureichenden Angebots an leeren Wohnungen zu 
sprechen. Jedenfalls erhellt auch aus ihnen ohne weiteres die Un- 
richtigkeit der Jollesschen Behauptung, daß der Anteilssatz von 3 Proz. 
im allgemeinen nicht erreicht wird ^4). 


1) In Hannover haben bisher nur alle 5 Jahre in Verbindung mit der Volks- 
zählung Wohnungszählungen stattgefunden, 

2) Der Anteilssatz betrug in Breslau 1904 5,8 Proz. 

3) Leerstehende Wohnungen einschließlich der mit Geschäftslokalen untrennbar 
verbundenen. Die Zahl für 1905 ist durch Fortschreibung berechnet. Die anderen 
Zahlen sind bei den Volkszählungen ermittelt worden. 

4) Es sei hierbei erwähnt, daß die Städte Gelsenkirchen, Bochum, Braunschweig, 
Crefeld, Rixdorf, Elberfeld, Aachen, Stettin und Nürnberg mitteilten, daß sie bisher 
noch keine Zählungen der leerstehenden Wohnungen vorgenommen hätten bezw. nicht 
oder noch nicht in der Lage seien, die erbetenen Angaben zu machen. Karlsruhe hat 
seit 1897 derartige Feststellungen vorgenommen und swar von 1893 ab dreimal jähr- 
lich im April, Juli und Oktober. Leider ist eine Aufnahme sämtlicher Wohnungen 
erstmalig im Dezember 1905 erfolgt; infolgedessen lassen sich die Relativzahlen nicht 
berechnen. Die absoluten Zahlen enthält anliegende Uebersicht: 


Uebersicht über die in Karlsruhe leerstehenden Wohnungen 
in den Jahren 1897 —1906. 


Wohnungen mit . . . Zimmern 
eA ae a Tie a 
Jahrgang s 8 
1 2 3 4 5 6 | u,mehr sammen 
FG Aprilzählung 

1897 _ - |- _ _ _ -| - — 
1898 4 29 24 24 16 | 9 9 12 127 
1899 4 52 37 | 66 45 26 13 8 301 
1900 21I 77 83 i 63 38 23 19 15 339 
1901 14 106 73 56 46 33 11 10 349 
1902 31 189 109 52 38 27 8 12 466 
1903 39 261 144 94 46 27 13 12 036 
1904 23 198 151 106 44 24 10 10 566 
1905 40 183 123 | 113 60 33 8 7 567 


1906 45 293 229 | 157 79 so 2i 8 882 


Ist die Grundrente in der Peripherie der Stadt eine „allgemeine Monopolrente‘‘? 11 


Unsere induktive Untersuchung der Tatsachen berechtigt zu der 
Annahme, daß ein konkurrierender Vorrat, wo es erforderlich ist, 
nämlich in Gemeinden mit Entwickelung, auch besteht. In Ge- 
meinden ohne Entwickelung fehlt natürlich ein solcher konkurrierender 
Vorrat, aber man wird auch für diese daraus nicht das Bestehen 
eines Häusermonopols folgern dürfen!) Ein Häusermonopol kann 
dort um so weniger vermutet werden, als derartige Gemeinden häufig 
sogar an Bewohnerzahl abnehmen, also die Nachfrage nach Woh- 
mmgen und gewerblich genutzten Räumen sogar zurückgeht ?). 

Jolles Annahme, daß der jeweilige Häuserbestand eine Monopol- 
stellung einnehme, und somit eine Monopolstellung der Hausbesitzer 


Wohnungen mit... . Zimmern 

Jah Zu- 

a 2 3 4 5 6 | 7 | 8 | sammen 
u. mehr 
Julizählung 
1897 3 26 40 | 26 17 3 2 6 123 
1898 2 25 37 729 26 15 rt 9 154 
1899 14 50 8 | 58 42 21 7 9 282 
1900 20 117 83 | 48 43 37 14 14 376 
1901 18 159 82 | s4 | 44 33 13 10 413 
1902 35 202 mı | -71 43 21 13 9 505 
1908 25 agr 163 69 37 25 12 7 589 
1904 39 207 130 100 59 29 18 10 592 
1905 _ = = = = — = _ _ 
1906 24 = - |- — = = — ei 
Oktoberzählung 

1897 9 29 55 62 33 10 15 6 219 
1898 8 48 79 47 32 36 29 12 291 
1899 19 | 93 138 76 46 38 18 5 437 
1900 27 |, 172 134 71 46 34 I 21 520 
1901 40 198 105 66 44 37 I 8 516 
1902 35 | 267 167 92 47 18 8 10 644 
1908 43 | 253 225 113 52 | 20 13 13 732 
1904 4 201 186 122 37 | 35 13 II 689 
1905) | 58 | 365 | 299 | zıı 97 | 52 20 1 1113 
1906 = | = = pi E =, 


*) Zählung im Dezember. 


In Halle betrug die Zahl der Wohnungen, welche „im vorangegangenen Kalender- 
e" leerstanden „in Summa nach ganzen Jahren“: 


1899 : 2,28 Proz. 1908 : 1,57 Pror 
1900: 182 „ 1904: 2,22 „ 
1901; 9971 Altstadt 1905: 2,13 „ 

" 0,80] Vororte 1906: 1,94 „ 


1902: 0,91 Proz. 
Von den befragten 41 Großstädten sind keine Antworten eingegangen von Planen i. V. 
und Stuttgart. 
1) Vergl. Dr. Baumert, a. a. O. S. 34, Wohnungsverhältnisse in Nauen und 
Bernuan. 
_ 2) Vergl. Zahn, Die Volkszählung 1900 und die Großstadtfrage. Conrads Jahr- 
bücher 1903, Bd. 26, S. 191 ff. 


12 Fritz Pabst, 


besteht, ist also irrig. Damit aber fällt das ganze künstlich und 
mühevoll konstruierte Gebäude seiner Monopolrententheorie zu- 
sammen. — 

Aber man braucht sich nicht auf diese induktive Widerlegung 
zu beschränken. Der Nachweis der Unrichtigkeit der Theorie ist 
auch auf dem Wege möglich, den der Verfasser ausschließlich in 
seinen Ausführungen beschritten hat, dem Wege deduzierender Be- 
trachtung. Jolles behauptet, wie gezeigt, daß das Baukapital seiner 
wirtschaftlichen Natur nach „nicht wesentlich“ über die Nach- 
frage hinaus vermehrbar sei und folgert daraus die angebliche 
Monopolstellung der städtischen Hausunternehmung nach Analogie 
der „unteilbaren Unternehmung“. 

Trifft diese Ansicht über den Charakter des Baukapitals zu? 

Zunächst ist im Interesse der Klarheit und der Möglichkeit ver- 
nünftiger Auseinandersetzung zu tadeln, daß Jolles hier, dem Bei- 
spiele der Bodenreformer und insbesondere dem Adolf Damaschkes !) 
folgend, in diese These den Ausdruck „nicht wesentlich“ hinein- 
bringt. Mit solchen Einschränkungen ist schließlich jede Behauptung 
zu verteidigen. Man füge jeder These die Worte „im wesentlichen“ 
hinzu, so wird man unverletzbar sein und seine Definitionen und 
Theorien unwiderleglich machen. Es ist deshalb zu begrüßen, wenn 
Jolles später seine These genauer dahin formuliert, daß auf dem 
Häusermarkt der Ausgleich von Angebot und Nachfrage die 
Grenze der Konkurrenz darstelle. Danach ist also die These noch 
dahin zu korrigieren — und damit zu verschärfen — daß das Bau- 
kapital überhaupt nicht über die Nachfrage hinaus vermehrbar sei. 

Die Beobachtung der tatsächlichen Verhältnisse des Baumarktes 
ergibt nun aber — wie gezeigt — ohne weiteres das Gegenteil dieser 
Annahme. In ihrer scharfen Formulierung erweist sich also die 
These von vornherein als unzutreffend. Unsere statistischen Nachweise 
haben dargetan, daß das Baukapital bezw. das Angebot auf dem 
Wohnungs- und Häusermarkt im Gegenteil außerordentlich und mit 
verhältnismäßig langer Dauer die Nachfrage zu überschreiten 
vermag. 

Die städtische Hausunternehmung kann deshalb — wenn jene 
Eigentümlichkeit bei ihr nicht vorhanden ist — auch keine „unteil- 
bare Unternehmung“ sein. Und dies ist auch in der Tat nicht der 
Fall. Es kann keine Rede davon sein, daß die Konkurrenz auf dem 
Häusermarkt die „Zersplitterung der Nachfrage und Beseitigung der 
allgemeinen Rentabilität“ herbeiführt, wenn sie die ihr angeblich 
gezogene Grenze — nämlich den Ausgleich zwischen Angebot 


1) Vergl. A. Damaschke, a. a. O. S. 66: „Die Höhe der Wohnungsmieten hängt 
verhältnismäßig wenig (sic) von dem Willen des einzelnen Hauseigentümers ab. 
Der Preis ist „im wesentlichen“ (sic) dem Gesetz von Angebot und Nachfrage 
unterworfen.“ 

Vergl. S. 81: „Eine solche Steuer würde die heutige Spekulation in den Außen- 
terrains beendigen und „im wesentlichen“ den landwirtschaftlich gerechtfertigten 
Preis für den Boden wieder herstellen.“ 


Ist die Grundrente in der Peripherie der Stadt eine „allgemeine Monopolrente‘“? 13 


und Nachfrage — überschreitet. Wie die „alltägliche Erfahrung“ 
das Gegenteil erweisen soll, ist einfach unverständlich. Die Statistik !) 
beweist — wenn noch einmal statistisches Material herangezogen 
werden darf — im Gegenteil z. B. für Essen und Rixdorf folgendes: 
Der Anteilssatz der leerstehenden Wohnungen in Essen betrug am 
4. Nov. 1902 überhaupt 4,76 Proz. aller Wohnungen, am 26. Okt. 
1903 überhaupt 5,33 Proz. Obwohl also ein mehr als normales An- 
gebot im Jahre 1902 vorhanden war, wuchs dasselbe im nächsten 
Jahre in dem Grade, daß die Zahl der leerstehenden Wohnungen 
auf mehr als den 20. Teil aller Wohnungen stieg. In Rixdorf waren 
die bezüglichen Zahlen sogar: am 1. Dez. 1903 6,62 Proz., am 
1. April 1904 8,75 Proz.! 

Die angebliche Tatsache, daß der Ausgleich von Angebot und 
Nachfrage auf dem Wohnungs- bezw. Häusermarkt die Grenze 
der Konkurrenz bildet, wird aber noch schlagender widerlegt 
durch die tatsächliche Gestaltung der Marktlage für die kleinen 
Wohnungen in diesen beiden Gemeinden. Der Anteilssatz der 
Wohnungen mit 1 Zimmer in Essen, der sich am 1. Nov. 1901 auf 
7,15 belief, stieg am 4. Nov. 1902 auf 18,95 und erreichte am 
26. Okt. 1903 die erschreckende Ziffer von 23,46! An diesem Termin 
stand also ca. der 4. Teil aller Kleinwohnungen dieser Art 
leer?) Aehnlich stieg in Rixdorf das Angebot mit 2 Zimmer- 
wohnungen von 1902 mit 2,94 auf 9,43 im Jahre 1903 und erhöhte 
sich trotzdem im Jahre 1904 auf 13,09. 

Die Bautätigkeit ist bisweilen eine so überspannte gewesen, daß 
Gemeindebehörden sich veranlaßt gesehen haben, warnend ihre Stimme 
zu erheben. So heißt es z. B. im Verwaltungsbericht der Stadt Leipzig 
für 19033): „Die eingetretene Krisis auf dem Leipziger Grundstück- 
markt wäre zu vermeiden gewesen, wenn die seit einer Reihe von 
Jahren vom statistischen Amt an dieser Stelle wiederholt ausge- 
sprochenen Warnungen vor einer zu großen Bautätigkeit mehr Be- 
achtung gefunden hätten.“ 

Wie nachhaltig aber die Ueberproduktion an Wohnungen sein 
kann, beweist am besten das Beispiel Dresdens. Dort hat sich der 
Rat durch die schweren Schädigungen der Hauseigentümer, ihrer 
Hypothekarier und damit auch weiterer, an sich unbeteiligter Kreise 
der Bevölkerung veranlaßt gesehen, die Baustellenbesitzer, Baugeld- 
geber u. s. w. durch einen Erlaß dringend zu bitten, „in dem Ver- 
kauf von Baustellen und der Gewährung von Baugelddarlehen, 
mindestens zunächst auf 2 Jahre, tunlichste Zurückhaltung zu üben“ 


1) Vergl. Tabelle auf S. 15 der Begründung zu dem Entwurf eines preußischen 
Wohnungsgesetzes zur Verbesserung der Wohnungsverhältnisse.. Amtliche Veröffent- 
lichung, Berlin 1904, C. Heymanns Verlag. 

2) In den folgenden Jahren betrugen die bezüglichen Zahlen: 1904: 13,29; 1905: 
6,98. Also immer noch ein die Normalzahl 3 Proz. weit überschreitendes Angebot! 
Zu den Wohnräumen sind auch die Küchen und Mansarden gerechnet worden. 

3) Vergl. Sonderabdruck desselben S. 11 und 12. 


14 Fritz Pabst, 


In dem Erlaß!) wird unter anderem hervorgehoben, daß selbst die 
Zinsen der mit größter Vorsicht hypothekarisch ausgeliehenen Gelder 
aus Stiftungen häufig nicht mehr regelmäßig bezahlt werden und 
längere Zeit gestundet werden müssen. 

Die in der statistischen Tabelle mitgeteilten Ziffern für Dresden 
beweisen aufs evidenteste die Möglichkeit jahrelanger Ueber- 
produktion von Wohnungen bezw. jahrelanger Andauer eines über- 
mäßigen Angebots. Im Jahre 1899 betrug nämlich der Prozentsatz 
der leerstehenden Wohnungen 3,12 Proz. Von diesem Zeitpunkt 
an, also nicht weniger als 6 Jahre lang, ist diese „Normalgrenze‘ be- 
ständig überschritten gewesen, in den letzten 3 Jahren durch die 
abnormen Ziffern von >7 Proz. Diese Tatsachen beweisen, daß die 
Hausunternehmung in Bezug auf die Gestaltung des Angebots und 
die Konkurrenzverhältnisse durchaus nicht günstiger gestellt ist, 
als andere Unternehmungen. 

Auch eine weitere oben erwähnte Analogie, welche Jolles bei 
den „unteilbaren Unternehmungen“ und der Hausunternehmung findet, 
besteht in Wirklichkeit nicht. Auch von der sich darin bekundenden 
„Eigentümlichkeit" der Konkurrenz auf dem städtischen Häuser- 
markt, daß sie kaum jemals zur Verdrängung einer schwächeren 
Unternehmung durch eine stärkere führt, kann keine Rede sein. 

Zunächst erscheint es schon mißlich, Tätigkeiten der Stofiver- 
änderung zu vergleichen mit Funktionen, die man ja auch als 
„Gewerbe“ und „Produktion“ bezeichnen kann, nämlich mit einer 
Tätigkeit des Vorrathaltens und Zurverfügungstellens. 
Aber davon sei hier abgesehen. Jene nach Jolles unmögliche oder 
kaum mögliche Verdrängung vollzieht sich auch auf dem Wohnungs- 
und Häusermarkt. Diese wichtigste Form des Verdrängungsvorgangs 
ist keineswegs technisch ausgeschlossen. Die Verdrängung vollzieht 
sich hier nämlich durch Abbruch veralteter Gebäude und Wiederaufbau 
in moderner Form. Das alte Gebäude mit mangelhaften oder gänz- 
lich fehlenden hygienischen Einrichtungen aller Art wird durch das 
moderne Haus ersetzt. Eine andere Form der Verdrängung der 
schwächeren Hausunternehmung durch die stärkere äußert sich im 
Umbau und in baulicher Neuausgestaltung. Gerade so, wie vielfach 
im Kaufmannsladen die weniger vollkommene Ware durch bessere 
verdrängt wird, verdrängt durch Neuaufbau oder Umbau des Ge- 
bäudes die zweckmäßig ausgestattete Wohnung die weniger voll- 
kommene. 

Jolles behauptet weiter, daß eine derartige Verdrängung aus 
dem Grunde nicht möglich sei, weil bei der Hausunternehmung das 
Angebot nicht durch das umlaufende Kapital beeinflußt werden könne. 
Dieses fehle, abgesehen von dem unerheblichen Verwaltungsaufwand, 
fast vollständig. Zunächst ist jedoch die Frage sehr strittig, ob 
Kapitalinvestierungen, wie Einbau von Klosett, Wasserleitung, Bade- 


1) Vergl. Schreiben des Rates, Abgedruckt in den Schriften des Zentralverbandes 
der städtischen Haus- und Grundbesitzervereine Deutschlands 1905, Heft 4, S. 29 ff. 


Ist die Grundrente in der Peripherie der Stadt eine „allgemeine Monopolrente‘“‘? 15 


einrichtung, von Gas, elektrischer Beleuchtung, Zentralheizung, von 
Speisekammern u. s. w., die Ausstattung mit Tapeten, Malerei, An- 
strich, Linoleum, nicht als Verwendung umlaufenden Kapitals be- 
trachtet werden können. Faßt man aber die Ausstattung mit der- 
artigen sich verhältnismäßig schnell abnutzenden Einrichtungen als 
Verwendung stehenden Kapitals auf, so wird doch jedenfalls 
dadurch dasselbe erreicht, was in der Stoffveredlung durch In- 
vestierung umlaufenden Kapitals in Form von Maschinen u. s. w. 
erreicht wird, bezw, erreicht werden kann oder soll, nämlich die 
Verdrängung der schwächeren, weniger vollkommeneren Unter- 
nehmung. 

Nebenbei ist überhaupt die Annahme, daß das umlaufende 
Kapital die Voraussetzung einer wirksamen Konkurrenz sei, wie 
Jolles weiter behauptet, doch wohl sehr cum grano salis zu nehmen. 
Eine wirksame Konkurrenz ist auch bei primitiven Produktionstätig- 
keiten, wo wenig umlaufendes Kapital zur Verfügung gelangt, denk- 
bar. Ja, Unternehmungen mit sehr geringem umlaufenden Kapital 
können unter Umständen technisch hoch entwickelten, die ein sehr 
hohes Quantum umlaufenden Kapitals benutzen, bis zur Verdrängung 
der letzteren überlegen sein. Man denke z. B. an die erdrückende 
Konkurrenz, die eine technisch tiefstehende Landwirtschaft einer 
technisch hochentwickelten, viel umlaufendes Kapital verwendenden 
bei großer Verschiedenheit der natürlichen Ausstattung des Bodens 
an Fruchtbarkeit bereiten kann. Ein gleichartiges im Tagbau be- 
triebenes Bergwerk wird einem mit viel umlaufendem Kapital 
arbeitenden, unterirdisch betriebenen Bergwerk zum mindesten ge- 
wachsen sein, gerade weil es weniger umlaufendes Kapital er- 
fordert. 

Auch insofern besteht keine grundlegende Verschiedenheit 
zwischen der Hausunternehmung und gewerblicher Produktion ohne 
Monopolcharakter, als auch in der Hausunternehmung durch Kapital- 
verwendung in der geschilderten Weise das Angebot verändert werden 
kann ohne Aenderung des stehenden Kapitals und der Zahl der 
Unternehmungen. Das Angebot wird dabei nicht nur qualitativ, 
sondern auch quantitativ verändert. Durch Einbau von Klosetts, 
Badeeinrichtungen u. s. w. werden auch Aenderungen in Bezug auf 
die Größe der Wohnungen eintreten, ohne daß die Zahl der Unter- 
nehmungen sich ändert. 

Wie wenig die „Unwandelbarkeit und die Unzerstörbarkeit der 
Hausunternehmung“ eine wirtschaftlich vorteilhaftere Ausnutzung 
des Bodens verhindern kann, zeigt deutlich die in den Großstädten 
jetzt alltägliche Erscheinung, daß verhältnismäßig neue Wohnge- 
bäude und andere geschäftlichen Zwecken dienende Häuser ver- 
schwinden, um Gebäuden mit intensiver Lageausnutzung Platz zu 
machen. Man denke an Warenhäuser, Musterlager, Restaurants und 
Hotels. Die physische Dauerhaftigkeit und die verhältnismäßige 
Größe des stehenden Kapitals verhindern z. B. nicht. daß ein noch 
tadelloses Wohngebäude von einem Hotel verdrängt wird. Das 


16 Fritz Pabst, 


erstere wird in diesem Falle allerdings nicht wie ein Bergwerk 
verlassen, sondern abgerissen und durch ein neues Gebäude ersetzt. 


Allerdings muß das Wohnungs- und Häuserangebot insofern 
vorsichtiger sein, und das gibt ja auch Jolles zu, als sein Risiko, 
einerseits mit Rücksicht auf die verhältnismäßig bedeutende Fest- 
legung von Kapital beim Häuserbau und die Dauerhaftigkeit des 
Produktes, andererseits hinsichtlich der schwierigen Feststellbarkeit 
des Wohnungsbedarfs, erheblich größer ist, als bei anderen Ge- 
brauchsgütern, die schnellerer Abnutzung unterliegen und deren 
Absatzverhältnisse leichter übersehbar sind. 


Deshalb erscheint es fraglich, ob überhaupt die Forderung, daß 
im Durchschnitt 3 Proz. aller Wohnungen immer leer stehen müssen, 
nicht viel zu weit geht. In dieser allgemeinen Formulierung er- 
scheint sie jedenfalls außerordentlich angreifbar. Es muß da doch 
mindestens ein vernunftgemäßer Unterschied zwischen den einzelnen 
Gemeinden hinsichtlich ihrer durch wirtschaftlichen Charakter und 
andere Momente bedingten Entwickelung gemacht werden 1). 


Der fundamentale Unterschied, den Jolles zwischen Hausunter- 
nehmung und anderen monopolfreien „Gewerben“ annehmen zu müssen 
glaubt, ist jedenfalls nicht vorhanden. Auch auf dem städtischen 
Häusermarkt findet die Konkurrenz nicht ihre Grenze im Aus- 
gleich von Angebot and Nachfrage. Auch hier ist eine längere 
Zeit andauernde Ueberproduktion (an Wohnungen und Gebäuden) 
möglich. Letzteres ist um so leichter möglich, als, was auch Pohle ?) 
mit Recht hervorhebt, unter einer Ueberproduktion nicht die neuen 
Gebäude, also das Baugewerbe, sondern die älteren Hausunterneh- 
mungen, die Besitzer der veralteten Gebäude, leiden. Diese ver- 
lieren in einer Zeit der Ueberproduktion ihre Mieter, welche in die 
neuen, vollkommener und besser ausgestatteten Wohnungen in den 
neuerbauten Häusern übersiedeln. Davon werden aber nicht nur 
die Hauseigentümer betroffen, die unter Umständen ihr Eigentum 
und damit ihr Vermögen verlieren, sondern auch die älteren Ge- 
bäude, indem sie allmählich neuen und modern ausgestatteten Platz 
machen. 

Die Grundrente an der Peripherie kann also nicht aus dem 
Grunde eine Monopolrente sein, weil angeblich der Hausbesitz eine 
„unteilbare Unternehmung“ ist und die Konkurrenzverhältnisse auf 
dem Häusermarkt von den sonst geltenden total verschieden sind. 


1) Vergl. Pohle a. a. O. S. 628—635. Siehe auch Weber a. a. O. S. 72ff. Weber 
bezeichnet mit Recht die Forderung, „die Zahl der leerstehenden Wohnungen müsse 
3 Proz. der Gesamtzahl betragen“, als eine fast unbegreifliche sozialökonomische Ver- 
irrung. — Das statistische Amt Bremens sieht in einem „Satz von 3 Proz. schon ein 
Zeichen einer gewissen Ueberproduktion des Wohnungsmarkts‘“ für die dortigen Ver- 
hältnisse (I). Vergl. „Mitteilungen“ 1906, No. 1, 8. 4. 

2) Vergl. Pohle a. a. O. S. 632. Ebenso Verwaltungsbericht der Stadt Leipzig 
für 1904. Siehe Sonderabdruck S. 11 (Tabelle IV): „Wie bisher entfällt die größte 
Zahl der leeren Wohnungen, 3582, auf alte Häuser, während nur 930 in Neubauten 
vorkommen.“ 


Ist die Grundrente in der Peripherie der Stadt eine „allgemeine Monopolrente‘“? 17 


Es besteht daher auch keine Monopolstellung der Hausbesitzer bezw. 
ihrer Gebäude. 

3) Wie erklärt sich denn aber nun die Tatsache, daß das Peri- 
pheriehaus nicht immer nur die Baukosten und den landwirtschaft- 
lichen Bodenpreis verzinst, sonden eine Rente abwirft und daß der 
Preis der Peripheriegrundstücke eben ihren agrarischen Nutzwert 
überschreitet ? 

Die Ursache dieser Erscheinung ist dieselbe, die im Zentrum 
die Preissteigerung hervorruft. Die auf Wohn- oder Geschäftsboden 
Tätigen erzielen im allgemeinen auf gleicher Bodenfläche einen 
höheren Ertrag aus ihrer Arbeit, als die auf derselben Bodenfläche 
bei landwirtschaftlicher Nutzung derselben Arbeitenden. Die Arbeit 
in der Stadt liefert einen höheren Ertrag als die Tätigkeit auf dem 
Lande; mit Ausnahmen, welche die Regel bestätigen. Dies gilt aber 
für die in der Peripherie Wohnenden ebenso wie für die im Stadt- 
zentrum tätigen und eventuell dort wohnenden Bewohner der Stadt, 
wenn auch nicht in demselben Verhältnis. Infolgedessen kann der 
Besitzer des Peripheriehauses bezw. der dortige Wohnungsmieter 
einen höheren Boden- bezw. Mietpreis zahlen, als er nach dem land- 
wirtschaftlichen Wert des Bodens gerechtfertigt wäre. 

Daß dem Grundbesitzer aber ein höherer Preis geboten wird, 
als ihn die agrarische Nutzung des Bodens bedingen würde, ist zu- 
rückzuführen auf die Unvermehrbarkeit einer gegebenen Landtläche 
2 ihrer besonderen Lage und die andererseits zunehmende Nach- 
Tage. 

So erklärt sich ganz natürlich das Wertvollerwerden günstig 
gelegener Grundstücke, in diesem Falle des städtischen Bodens. 

Je näher man dem Stadtinnern wohnt, um so größer sind die 
Vorteile an Zeitersparnis, Ersparung von Fahrgeld, an körperlicher 
Schonung u. s. w. für den Wohnungsmieter: Für den Mieter von 
Geschäftsboden, den Kaufmann. den Gewerbetreibenden treten sie 
in Gestalt höherer Reinerträge hervor. Der Boden wird also um so 
wertvoller, je näher er dem Stadtzentrum liegt, der Wettbewerb der 
Nachfragenden steigert an sich, ohne Eingreifen des Bodeneigen- 
tümers den Bodenpreis. Selbsverständlich wird der Bodeneigentümer, 
weil ihm das natürliche Wertvollerwerden des Bodens bekannt ist, 
von selbst höhere Preise fordern. Den Preis bestimmt aber nicht 
er selbst, sondern endgültig der auf dem Boden erzielbare Ertrag 
der Arbeit des Wohnungs- und Geschäftsmieters. 

Nun erscheint das Wertvollerwerden des Bodens und seine dem- 
entsprechende Preissteigerung am begreiflichsten im Stadtinnern und 
besonders beim Geschäftsboden. Aber was für diese Lagen und 
diese Benutzungsweise des Bodens gilt, das gilt auch für den Wohn- 
boden und für die Grundrente der Wohnhäuser an der Stadtgrenze. 
Auch dort ist Boden von durchaus gleich vorteilhafter Lage in ge- 
Tingerem Umfange vorhanden als Nachfrage danach besteht. Des- 

alb muß sich auch dort eine Grundrente bilden. Je wohlhabender 
die miteinander konkurrierende Bevölkerung ist, je günstiger die 
Dritte Foige sd, XXXII (LXXXVIII). 2 


18 Fritz Pabst, 


Erwerbsaussichten für den einzelnen sind, je größer die Stadt end- 
lieh ist, um so höher wird die Grundrente im allgemeinen steigen, 
um so mehr wird diese Steigerung sich auch an der Stadtgrenze 
bemerkbar machen. 

Die Difterentialrente der Peripheriegrundstücke wird auch ver- 
hältnismäßig um so höher sein, je rapider die Entwickelung der 
Stadt sich gestaltet. Gemeinden mit sehr geringer Entwickelung 
werden eine sehr unbedeutende Peripheriegrundrente haben, ebenso 
wie dort die Differentialrente im Stadtzentrum verhältnismäßig un- 
bedeutend ist. Bei solchen Gemeinden, deren Bewohner z. B. über- 
wiegend von agrarischer Tätigkeit leben, wird wahrscheinlich über- 
haupt keine erkennbare Peripheriegrundrente entstehen, d. h. es 
werden die Peripheriehausgrundstücke nur den landwirtschaftlichen 
Bodenwert und die Baukosten verzinsen. 

Ja, es ist sogar nicht ausgeschlossen, daß in solchen Gemeinden 
unter Umständen der landwirtschaftlich genutzte Boden höher im 
Preise steht, als die entsprechende Bodenfläche eines Hausgrund- 
stücks bezw. eines Geschäfts. Mit Recht schreibt Stein!): „Es ist 
kein Natur- oder Wirtschaftsgesetz, daß Bauland höher im Werte 
stehe als Ackerland, für städtische Verhältnisse bildet es eine Regel. 
In Dörfern mit vorzüglichem Ackerboden und einer übergroßen Zahl 
von Gehöften kehrt sich das Verhältnis um, wie ich in einer Dorf- 
gemeinde im Taunus feststellen konnte.“ 

Jolles wird gegenüber der Behauptung, daß die Peripherierente: 
als Lage-, daher als Differentialrente zu betrachten sei, einwenden, 
daß diese Erklärung der Theorie Ricardos entgegen stehe. Denn 
diese betrachtet ja als Bedingung für die Entstehung einer Diffe- 
rentialrente das Vorhandensein einer Bodenklasse ohne Rente. 

Eine solche Bodenklasse ist aber auch beim städtischen Haus- 
boden vorhanden. Man darf sie nur nicht bei dem bereits als Bau- 
land betrachteten Boden suchen. Sie kommt darin zum Ausdruck, 
daß jeweilig in der Umgebung der Stadt Boden vorhanden ist, für 
den augenblicklich nur ein seinem landwirtschaftlichen Nutzungswert 
entsprechender Preis gezahlt werden wird. Dieser Boden kann aber 
eben bei Gemeinden mit Entwickelung nicht in unmittelbarer Nähe 
der Häusergrenze liegen, oder gar mit dem Boden der Peripherie- 
grundstücke identisch sein. 

Im baureifen Gebiet?) wird also bei allen Städten mit Ent- 
wickelung eine als Differentialrente zu charakterisierende Grundrente 
hervortreten. 

Der noch nicht baureife, jedoch an sich bebaubare Boden aber 
muß aus dieser Betrachtung ganz ausscheiden. Sein Preis kann 


1) Vergl. Stein, Wohnungsfrage, Wohnungsreform und die wirtschaftlichen Momente. 
(Bericht über den I. Allgemeinen Wohnungskongreß in Frankfurt a. M. Göttingen 
1905, S. 430.) 

2) Vergl. über die Begriffe „baureif“ und „bebaubar“ A. Voigt, Ueber kom- 
munale Boden- und Wohnungspolitik. Volkswirtschaftliche Wochenschrift 1905. Sonder- 
abdruck S. 15 ff., und Kleinhaus und Mietkaserne S. 137 ff. 


lst die Grundrente in der Peripherie der Stadt eine „allgemeine Monopolrente“? 19 


nicht zum Widerlegen des Gesagten benutzt werden; denn die bei 
den Verkäufen erzielten Preise dürfen überhaupt nicht als Ausdruck 
der späteren, dauernd erzielbaren Grundrente betrachtet werden. 
Auch hierin stimme ich mit A. Voigt völlig überein. Die Preis- 
gestaltung dieser Bodenklasse hat auf die nach seiner Bebauung auf 
ihm erzielbare Grundrente überhaupt keinen Einfluß, abgesehen von 
dem oben besprochenen einzigen Monopolfall!). Daß sie höher als 
bei agrarischer Nutzung bewertet wird, ist einfach darauf zurück- 
zuführen, daß dieser Boden in absehbarer Zeit denselben Ertrag 
wie die heutigen Peripheriegrundstücke erzielen wird. 

Wenn nach Feig?) in Hamm für Gemüseboden derselbe 
Preis gezahlt wurde, wie für Bauland in dem als Arbeiterwohnviertel 
bereits in Betracht kommenden Düsseldorfer Vorort Lierenfeld, so 
beweist dieses Beispiel nicht nur die verhältnismäßig geringe Höhe 
der Baulandrente in dem letztgenannten Ort, sondern zeigt zugleich 
den von Jolles bestrittenen allmählichen Uebergang der Ackergrund- 
rente zur Baulandgrundrente. — 

Dieses allmähliche Ansteigen wird nur überall dort undeutlich 
bezw. unsichtbar, wo die Bauspekulation einsetzt. Hierbei ist ferner 
zu beachten, daß die Spekulation in der Peripherie — worauf der 
Herr Herausgeber dieser Zeitschrift den Unterzeichneten mit Recht 
hinwies — „eine viel größere Rolle spielt als im Zentrum und da- 
durch die Preise dem Mietsertrage in höherem Maße vorauszueilen 
pflegen“. 

Es ist endlich zu beachten, daß man bei Untersuchung der 
Peripheriegrundrente auch die während der notwendigen Vorberei- 
tungszeit des Baulandes, z. B. für Freilegung und erste Einrichtung 
der Straße, durch Zinsausfall u. s. w. entstehenden Kosten zu berück- 
sichtigen hat. Diese verteuern den Bodenpreis weiter beim Spe- 
kulanten und müssen in einer entsprechenden Rente des fertigen 
Hauses zum Ausdruck gelangen. Sie gehören, streng genommen, 
nicht zu den eigentlichen Baukosten. Diese Rente steckt in der 
Differentialrente, ist schwer unterscheidbar von ihr, darf aber nicht 
mit ihr verwechselt werden. 

Die Rente der Peripheriehausgrundstücke ist also eine zunächst 
noch wenig gefestigte Lagerente. Die grundrentenlose Zone, also 
die schlechteste Bodenklasse, stellt das Gebiet der Stadtumgebung 
dar, welches als Bauland noch nicht in Betracht kommt, wo die 
Nachfrage also höchstens den agrarischen Bodenpreis bieten wird. 

Weil die Peripherierente keine Monopolrente sondern lediglich 
Differentialrente ist, bedingt durch das natürliche Wertvollerwerden 
des Bodens bei zunehmender Ausdehnung der Stadt, ist schließlich 
auch die Jollessche Vermutung unrichtig, daß der Boden an der 
Peripherie einer beweglichen Stadt allgemein nur den landwirtschaft- 
lichen Preis haben kann. Auch dort bietet das Wohnen an der un- 


1) Vergl. Dr. F. Pabst, Gewinnsteuer und Grundsteuer nach dem gemeinen Wert. 
Preuß. Verwaltungsblatt, Jahrg. er Sonderabdruck S. 20. 
2) Vergl. Feig a. a. O., S. 158. 


2x 


20 Fritz Pabst, Grundrente in der Peripherie der Stadt. 


mittelbaren Stadtgrenze größere wirtschaftliche Vorteile und An- 
nehmlichkeiten für den betreffenden Mieter oder Hausbesitzer, als 
wenn er mit seinem beweglichen Haus sich weiter von der Peri- 
pherie entfernt. Dieser natürlichen höheren Wertschätzung ent- 
spricht auch ein natürlicher höherer Boden- bezw. Pacht- oder 
Mietspreis; es ist also dort eine Peripherierentenbildung ebensogut 
möglich, wie bei unbeweglichen Häusern. Besonders gilt dies 
natürlich wieder unter der Voraussetzung starker Entwickelung der 
Stadt und des Wohlstandes ihrer Bewohner. 

Im Gegensatz zu Jolles komme ich also zu folgendem Ergebnis: 
Es existiert in der Tat an der Peripherie der sich entwickelnden 
Stadt eine Grundrente, die höher ist, als die bei agrarischer Nutzung 
des Bodens erzielbare. Aber diese Rente ist keine „allgemeine 
Monopolrente“, sondern Differentialrente, sie ist nicht die Folge des 
höheren Bodenpreises, sondern vielmehr die Ursache der höheren 
Bewertung des Bodens; sie ist nicht auf Eigenschaften des Bau- 
kapitals zurückzuführen, sondern auf den durch die besondere Lage 
des Bodens gestiegenen natürlichen Gebrauchswert desselben, sie 
ist keine Häuserrente, sondern eine Boden- und zwar eine Boden- 
differentialrente. 


H. Ruesch, Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 21 


I. 


Der Berliner Getreidehandel unter dem 
deutschen Börsengesetz. 


Von 
H. Ruesch. 


Inhalt. Einleitung. I. Entstehung des Börsengesetzes. II. Bedeutung des Ter- 
minhandels. III. Auflösung und Wiederherstellung der Berliner Produktenbörse. IV. Die 
Rechtsprechung des Reichsgerichts. V. Heutige Bedeutung des Berliner Lieferungs- 
handels. VI. Wirkungen -auf die Getreidepreisbildung. VII. Schluß: Börsenreform. 


Einleitung. 


Zu einem der wichtigsten unserer sozial- und zugleich auch 
wirtschaftspolitischen Gesetze des letzten Jahrzehnts gehört sicher 
das Börsengesetz vom 22. Juni 1896. Das ersieht man schon an 
der lebhaften Kritik, die dasselbe nicht nur in den Kreisen der 
Interessenten, sondern auch bei zahlreichen Vertretern der Wissen- 
schaft hervorgerufen hat. Neben den vielen Berichten und Petitionen der 
verschiedensten Interessenvertretungen, besonders der Handelskam- 
mern und kaufmännischen Korporationen, den alljährlich beim Etat wie- 
derkehrenden Debatten über die Zweckmäßigkeit der getroffenen Bestim- 
mungen, den zahllosen Artikeln der periodischen sowohl wie der 
Tagespresse, hat sich die Fachliteratur in einem solchen Grade an- 
gehäuft, daß es fast als ein undankbares Unternehmen erscheinen 
könnte, sich mit dieser Materie noch einmal zu beschäftigen, zumal 
von allen Seiten eine Reformbedürftigkeit anerkannt ist und sich 
selbst die Feinde der Börse der Notwendigkeit einer Gesetzesände- 
rung nicht länger verschließen können. Allerdings wird von letzterer 
Seite das Heil in einer Verschärfung des Gesetzes durch Aufnahme 
von Strafbestimmungen erhofft!), aber diese Tendenz hat doch so 
wenig Aussicht auf wirklichen Erfolg, daß man vielmehr nach den 
Reichstagsverhandlungen über die Börsennovelle eine wenn auch 
nur kleine Erleichterung wenigstens für die Fondsbörse erwarten 


1) Antrag von Wangenheim vom 20. 11. 1900: „Die verbündeten Regierungen zu 
ersuchen, dem Reichstage baldigst einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch welchen die 
im Börsengesetz vom 22. Juni 1896 verbotenen Termingeschäfte unter Strafe gestellt 
werden“. Ferner Graf Reventlow in der 79. Sitzung vom 29. April 1904 über einen 
Zusatzantrag zu § 78: ‚„Zuwiderhandlungen gegen die §§ 48, 50, 66 werden bestraft 
mit Gefängnis bis zu 6 Monaten. Gleichzeitig ist zu erkennen auf Geldstrafe in Höhe 
des Werts des Geschäftsgegenstandes und auf Ausschließung von sämtlichen deutschen 
Börsen auf die Dauer von 1—10 Jahren“ (Verhandlungen des Reichstags 11. Leg.-Per. 
1. Session, Bd. 3, S. 2514). 


22 H. Ruesch, 


kann. Dagegen scheint man die Produktenbörse ihrem Schicksal 
überlassen zu wollen, trotzdem gerade hier der Verkehr heute fast 
jeder rechtlichen Grundlage entbehrt, zu welchem Resultat wenig- 
stens auch wir bei unserer Untersuchung gelangen. Unter diesen 
Umständen ist es ganz zweckmäßig, sich noch einmal speziell mit 
diesem Gebiet näher zu beschäftigen und zu untersuchen, welcher 
Art hier die Wirkungen des Börsengesetzes gewesen sind und ob 
nicht die Zustände an der Produktenbörse ebensosehr eine Reform 
erheischen, wie die an der Fondsbörse. Und zwar wird sich die 
folgende Darstellung auf den Berliner Getreidehandel beschränken 
können, denn Berlin war damals die einzige Terminbörse Deutsch- 
lands von bedeutenderem und die Grenzen des Landes hinausragen- 
dem Einfluß und mußte so naturgemäß am intensivsten vom Verbot 
des Terminhandels getroffen werden. Es wird sich allerdings zum 
Zweck einer zusammenhängenden Darstellung nicht vermeiden lassen, 
auch auf den Kampf gegen den Terminhandel und damit auf die 
Entstehung des Gesetzes kurz zurückzukommen, wenn auch die 
einzelnen Punkte schon meistens einer vielfachen, eingehenden Er- 
örterung gewürdigt sind, so daß über die allgemeine volkswirtschaft- 
liche Bedeutung der Termingeschäfte wohl nichts wesentlich Neues 
gesagt werden kann. Da wir auch über die ersten Folgen des 
Gesetzes, wie die Auflösung und später die Wiederherstellung'!) der 
Produktenbörse hinreichend unterrichtet sind, so wird es sich haupt- 
sächlich um die Schilderung der heutigen rechtlichen und wirtschaft- 
lichen Zustände im Berliner Getreidehandel handeln unter beson- 
derer Berücksichtigung der eventuellen Vorteile oder Nachteile, die 
sich für unsere ganze Volkswirtschaft aus der Lahmlegung des 
Börsenterminhandels ergeben haben. 


I. Entstehung des Börsengesetzes. 


Die neue deutsche Börsengesetzgebung erhielt ihren Anstoß 
durch drei Initiativanträge des Reichstages im Jahre 1891, in welchen 
die Regierung um die Einbringung eines Gesetzentwurfes gegen 
den Mißbrauch des Börsenspiels noch in derselben Session ersucht 
wird?). Anlaß dazu gaben die schon in den 80er Jahren infolge 
einer kolossalen Ueberspekulation hervorgetretenen Ausschreitungen 
an der Börse, gegen die sich zahllose Petitionen an den Reichstag 
mit der Bitte um gesetzliches Eingreifen gewandt hatten. Ein weit- 
gehendes Mißtrauen gegen das Treiben au den Börsen hatte zwar 
schon lange bestanden, es war die Geringschätzung der Tätigkeit 
des Kaufmanns überhaupt, die in diesen Kreisen auch den Haß 
gegen die Börse, diese vollendetste Organisationsform des modernen 
Großhandels, hervorrufen half. Aber erst die großen Verluste im 


1) Vergl. insbesondere F. Goldenbaum, „Auflösung und Wiederherstellung der 
Berliner Produktenbörse“ (in Schmollers Jahrbuch, Bd. 24, Heft 3, Bd. 25, Heft 1) 
und G. Wermert, „Börse, Börsengesetz und Börsengeschäfte‘“, Leipzig 1904. 

2) Verhandlungen des Reichstags 8. Leg.-Per. 1. Session, Anlagen Bd. 4, No. 528 
und 531, Bd. 3, No. 342. 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 23 


Börsenspiel Anfang der 90er Jahre und damit verbunden die Zu- 
sammenbrüche einiger großer Bankfirmen ließen den Wunsch nach 
einer durchgreifenden Reform des Börsenwesens allgemein aufleben 
und „es entstand in weiten Kreisen das dringende Verlangen, daß 
durch gesetzgeberisches Eingreifen den Auswüchsen des Geschäfts- 
verkehrs an der Börse entgegengetreten und die zur Zeit unzuläng- 
lichen Vorkehrungen zum Schutz des Publikums vervollständigt 
werden möchten“ 1). Man sieht, die Bewegung war eine durchaus 
sozialpolitische, es galt, die Schwachen und Unerfahrenen vor zu 
großen Verlusten zu bewahren. Die Börse selbst hatte es nicht 
vermocht, aus sich heraus die anerkannten Mißstände zu beseitigen, 
und so erschien ein Eingreifen des Staates auch ganz berechtigt, 
denn es ist kein Widerspruch mit der Gewerbefreiheit, wenn man 
für den Handel in gemeingefährlichen Geschäften eigentümliche 
Vorsichtsmaßregeln trifft 2). 

Es kommt aber noch ein zweiter Punkt von großer Wichtig- 
keit in Betracht. Die Umsätze und Preisfestsetzungen der Börse 
sind weit über ihren Rahmen hinaus von größtem Einfluß auf das 
Wohlergehen des ganzen Landes, und so sehr der Handel zur Er- 
füllung seiner Aufgaben auch ganz besonders einer weitgehenden 
Freiheit und Unbeschränktheit bedarf, hat die Gesetzgebung doch 
die Verpflichtung, in das Getriebe des Börsenverkehrs ordnend einzu- 
greifen, wenn die Interessen der Allgemeinheit es erfordern. „Schon 
die bloße Tatsache der wirtschaftlichen Macht eines Marktes, wie sie 
auch immer entstanden sein mag, ist Grund genug, um den Staat 
zu veranlassen, diesen Markt streng zu beaufsichtigen, d. h. ihn 
unter Börsenrecht zu stellen“ ?). Vorausgesetzt ist dabei natürlich, 
daß die Eingriffe des Staats den Handel in der Ausübung seiner 
wirtschaftlichen Tätigkeit nicht hemmen und die Börsen nicht unter- 
drücken, und man wird sich daher bei einer Reform auf die not- 
wendigsten Punkte beschränken müssen. Daß man hierauf bei der 
deutschen Börsengesetzgebung nicht genügend Rücksicht genommen 
hat, wird heute auch von der Wissenschaft ziemlich allgemein an- 
erkannt. 

Um nun für den Gesetzentwurf die nötigen Grundlagen zu 
erhalten, beschloß die Reichsregierung eine Enquete zu veranstalten, 
in welcher die auf den Börsenverkehr und die Stellung der Börsen 
im allgemeinen bezüglichen tatsächlichen und rechtlichen Fragen 
einer eingehenden Prüfung unterzogen werden sollten®). Neben 
Staatsbeamten und 3 Professoren der Staatswissenschaften und der 
Rechte wurden in die Börsenenquetekommission berufen Bankfach- 
männer, Vertreter des Handels, der Industrie und der Landwirt- 
schaft. Die Kommission trat am 6. April 1892 zusammen und er- 
ledigte ihre Aufgabe unter Vernehmung von insgesamt 115 Sachver- 


1) Entwurf eines Börsengesetzes vom 3. Februar 1895 (9. Leg.-Per. 4. Session, 
Bd. 1, Anl. No, 14). 

2) G. Cohn, „Beiträge zur deutschen Börsenreform“, S. 49. 

3) Cosack, Lehrbuch des Handelsrechts, S. 322. 

4) Wermuth und Brendel, „Börsengesetz“, S. 1. 


24 H. Ruesch, 


ständigen in 93 Sitzungen. Am 11. November 1893 wurde dann 
der Bericht dem Reichskanzler übergeben, und die darin enthaltenen 
Vorschläge bildeten das Gerippe für das spätere Börsengesetz. 

Das Verfahren der Enquete ist vielfach angegriffen worden !), aber 
es darf doch nicht verkannt werden, daß sie zur Kenntnis des deut- 
schen Börsenwesens viel beigetragen hat. Dagegen erachten wir 
es für einen Grundfehler, sich noch heute immer wieder auf die 
Ergebnisse der Enquete von 1893 zu berufen und dieselben zur 
Beurteilung der Börsen heranzuziehen. In unserer heutigen rasch- 
lebigen Zeit, wo man auf allen Gebieten ein rastloses Fortschreiten 
und Neubilden fast täglich beobachten kann, wäre es doch wunderbar, 
wenn nicht auch der Handel, der sich vermöge seiner Beweglichkeit 
schneller wie irgend ein anderer Beruf jeder Veränderung rasch 
anpassen kann, in seiner Organisation, seiner Technik und nicht zum 
mindesten in seinen moralischen Anschauungen große Wandlungen 
durchgemacht hätte. Man darf eben nicht vergessen, daß seitdem 
bereits 13 Jahre verflossen sind, und daß schon das Börsengesetz 
selbst wesentliche Aenderungen veranlaßt hat. 

Die Verhältnisse haben sich heute gegen damals total verändert, 
und speziell an der Produktenbörse würde man vergeblich nach 
einem der damals so scharf verurteilten Mißbräuche suchen. Die Ver- 
handlungen der Börsenenquetekommisson haben daher für uns nur 
noch historischen Wert, und da findet man dann allerdings, daß die 
Anklagen gegen die Börse eines gewichtigen Grundes nicht entbehrten, 
ja die eben abgeschlossene Untersuchung hatte das bedeutsame Er- 
gebnis gehabt, daß alle namhaften Vertreter der Berliner Börse die 
Reformbedürftigkeit anerkannten ?). 

Das Börsenspiel hatte immer weitere Kreise ergriffen, die wirt- 
schaftlich weder Anlaß noch Vermögen zu Börsenspekulationen 
hatten, und eine Menge von kleinen und mittleren Existenzen hatte 
ihr letztes Hab und Gut dabei verlieren müssen. Eine verheerende 
Wirkung war in dieser Richtung der von manchem gewissenlosen 
Börsenagenten geübten Praxis zuzuschreiben, in einer großen Zahl 
von Provinzplätzen pekuniär minderbegüterte und somit ihrer wirt- 
schaftlichen Lage nach völlig ungeeignete Personen in die Termin- 
spekulation hineinzuziehen. Die hier entstehenden großen Verluste 
mußten natürlich den Gesetzgeber aufmerksam machen. Aber auch 
den besseren Kreisen an der Börse war ein derartiges Treiben 
durchaus unerwünscht, waren sie es doch, die alle Vorwürfe gegen 
jene unsauberen Elemente mit auf sich nehmen und so als Un- 
schuldige doppelt leiden mußten. Man kann daher mit Recht an- 
nehmen, daß seitens dieser Kreise schon von selbst eine kräftige 
Reaktion gegen jenes Treiben eingesetzt hätte, wenn nicht das 
Börsengesetz gleich allzu scharf jede Möglichkeit zu selbständigem 
Einschreiten abgeschnitten hätte, indem es sich gegen alle in gleicher 
Weise wandte. Wenn es auch sehr zu beklagen war, daß das Börsen- 


1) Vergl. insbesondere Pfleger und Gschwindt, „Bösenreform“ I, S. 1—18. 
2) G. Cohn a. a. O., S. 47. 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 25 


spiel in weite Schichten der Bevölkerung getragen war, die ledig- 
lich die Absicht hatten, „durch Aufwendung relativ kleiner Mittel 
an möglichst großen Kursdifferenzen zu gewinnen“ und die sich mit 
Beträgen engagierten, die in keinem Verhältnis zu ihrem Vermögen 
standen, so hätte man sich hier wohl damit begnügen können, gegen 
die gewohnheitsmäßige Ausnutzung des Leichtsinns und der Uner- 
fahrenheit des Publikums einzuschreiten, wenn z. B. Bedenken damit 
beschwichtigt wurden, es handele sich bei den Geschäften ja nur 
um die Differenz !). 

Im übrigen bieten sich aber so viele Gelegenheiten zum Spiel, 
daß es ein aussichtsloses Unternehmen sein mußte, durch Einschrän- 
kung der Börsenspekulation irgend welche Besserung erzielen zu 
tonnen. 

Wichtiger als diese Verleitung zum Spiel war jedenfalls die Ge- 
fahr, daß durch diese Teilnahme unberufener Personen an der Preis- 
bildung die natürliche und richtige Bewertung der Waren gestört 
wurde, und das war nachher auch eins der Hauptargumente gegen 
den Terminhandel an der Produktenbörse. 

Im allgemeinen hatten sonst, wie schon ausgeführt, mehr die 
Verhältnisse an der Fondsbörse den Anstoß zur breiteren Erörte- 
rung der Börsenreformfrage gegeben, aber es waren doch auch an 
der Berliner Produktenbörse mancherlei Mißstände, die zur Kritik 
herausforderten und von den Beteiligten keineswegs geleugnet wurden. 
Bei der verhältnismäßig erst kurzen Entwickelung des dortigen 
Terminhandels war es schließlich nicht zu verwundern, daß dem- 
selben noch manche Kinderkrankheiten anhafteten. 

Erwähnt mag hier werden, daß z. B. Scheinkündigungen?), d. h. 
Kündigungen ohne vorhandene Ware oder mehrfache Benutzung 
derselben Ware zu gleichzeitigen Kündigungen, wenn auch nur bei 
minderwertigen Firmen, nichts Außergewöhnliches gewesen sein 
sollen, und es ist klar, wie durch derartige Machenschaften die Preis- 
gestaltung zeitweise stark gestört werden konnte. Von den Müllern 
wurde außerdem mehrfach über die schlechte Lieferungsqualität des 
Berliner Terminmarktes geklagt, wenn auch seit 1589 durch Herauf- 
setzung des Mindestgewichts erhebliche Verbesserungen eingetreten 
waren. Ein Grund für diese Klage ist aber jedenfalls mit in dem 
Umstande zu suchen, daß besonders die kleinen Mühlen mit ihren 
unentwickelten technischen Einrichtungen nur bestimmte Qualitäten 
und Provenienzen zu vermahlen vermögen, und daher für sie die 
nur nach Gewicht bestimmte Ware oft absolut unbrauchbar ist. 
Daß aber auch direkt mit der Andienung unkontraktlicher Ware 
von gewissen Händlern viel Unfug getrieben wurde, zeigt sich, wenn 
1892 von 65050 t nach Ankündigung besichtigten Weizens 47 000 t 
und von 62000 t besichtigten Roggens 23 200 t für unkontraktlich 
erklärt werden mußten), es soll sich schließlich ein spezifisches 


1) Bericht der Börsenenquetekommission, 8. 131. 
2) Sitzungsprotokolle der BEK., S. 315. 
3) Bericht der BEK. Statistische Anlagen, S. 340. 


26 H. Ruesch, 


Termingetreide herausgebildet haben, welches seine Aufgabe in An- 
kündigungen erschöpfte !). 

Man darf aber diese Fälle nicht so verallgemeinern, wie dies 
oft geschehen ist. Es waren nur wenige skrupellose Händler, die 
sich zu solchen Praktiken herabließen. Der große Prozentsatz un- 
kontraktlicher Ware wird schon erklärlicher, wenn man berücksichtigt, 
daß eine Besichtigung der Ware nur stattfand, wenn der Abnehmer 
dieselbe für nicht einwandfrei hielt, so daß sich in den obigen 
Zahlen nicht die ungeheuren Mengen widerspiegeln, die von vorn- 
herein ohne Besichtigung durch die Sachverständigenkommission ab- 
genommen wurden. 

Da nun damals nach den Berliner Preisnotierungen der größte 
Teil der deutschen Ernte bewertet wurde (d. h. bei Verkäufen in 
der Provinz wurde immer der Terminpreis abzüglich der Transport- 
kosten bis zum Orte der Terminbörse zu Grunde gelegt), so mußten 
es die Produzenten um so mehr als Härte empfinden, von der Preis- 
bildung ganz ausgeschlossen zu sein, als sie sahen, daß an der Börse 
unberechtigte Einflüsse auf den Preis einwirken konnten, und die 
Folge war schließlich, daß der anfangs sozialpolitische Kern der Be- 
wegung immer mehr zurücktrat und wirtschaftliche Interessen den 
Ausschlag gaben. Der Stein war jedenfalls ins Rollen gekommen, 
und schon am 19. April 1894 beschloß der Reichstag: „Die ver- 
bündeten Regierungen zu ersuchen, auf Grund der Börsenenquete 
ein Börsengesetz tunlichst bald vorzulegen.“ 

Der Zweck eines Börsengesetzes mußte nun sein, pekuniär und 
beruflich ungeeignete Personen vom Börsenspiel möglichst fernzuhalten 
und dadurch die Preisbildung von unberechtigten Faktoren unabhängig 
zu machen, im Interesse der Börse war ferner für sichere Rechts- 
verhältnisse zu sorgen, die man gerade damals infolge der ver- 
schiedenen Auffassung der sogenannten Differenzgeschäfte durch die 
Gerichte sehr vermissen mußte. Natürlich war es sehr schwer, bei 
dem lebhaften Widerstreit der Meinungen allen Interessen gerecht 
zu werden, und der Entwurf eines Börsengesetzes vom 3. Dezember 
1895 bezeichnet es als seine Hauptaufgabe, „die Entfernung der 
Auswüchse herbeizuführen, ohne die Börse in ihren nutzbringenden 
und notwendigen Funktionen zu stören“. Sagte doch auch der 
Vertreter der verbündeten Regierungen, der Reichsbankpräsident 
Dr. Koch in der Sitzung vom 9. Januar 1896: „Der Handelsstand 
darf das Vertrauen zu dem Bundesrat und zu den Regierungen 
haben, daß die Maßnahmen, zu welchen sie durch den Entwurf er- 
mächtigt werden, niemals auf eine Schädigung des Handels und 
damit des Landeswohls abzielen werden, sondern daß die ver- 
bündeten Regierungen immer die allgemeinen Interessen im Auge 
behalten werden.“ 

Aber gerade hier gingen die Anschauungen der verschiedenen 


1) H. Schumacher, „Der Getreidehandel in den Vereinigten Staaten von Amerika 
und seine Organisation“ (in Conrads Jahrbüchern, 3. F. Bd. 11 S. 167). 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 27 


Parteien weit auseinander. Was speziell den wichtigsten Punkt für 
den Getreidehandel, den Terminhandel anbelangt, so glaubte die 
Regierung, daß derselbe mehr Vorteile als Nachteile mit sich bringt, 
und an ein Verbot war in dem Entwurf ebensowenig gedacht, wie 
in dem Bericht der Börsenenquetekommission Derartiges verlangt 
war. Vielmehr hoffte man durch Verschärfung der Börsendisziplin 
und durch Einführung eines Terminregisters für Waren die Teil- 
nahme unberufener Personen an der Preisbildung verhindern zu 
können. Aber der Reichstag gab sich damit nicht zufrieden, be- 
sonders bei dem allgemeinen Widerwillen der Agrarier gegen die 
Tätigkeit der Börse überhaupt, die den internationalen Charakter 
des Getreidehandels am vollendetsten zum Ausdruck brachte, ge- 
wannen die Bestrebungen für ein Verbot des Terminhandels immer 
mehr an Boden. 

„Dazu kam die Unkenntnis des Börsenwesens in weiten Kreisen 
der maßgebenden Persönlichkeiten und eine heftige Agitation, welche 
die Leidenschaften derart entflammt und eine solche Flut von Be- 
hauptungen und sinnlosen Vorwürfen umhergeworfen hatte, daß auch 
klarer Blickende in diesem Wirrsal des rechten Weges verfehlten“ }). 
Die Regierung versuchte vergeblich diesen unüberlegten Schritt eines 
Terminhandelsverbotes zu verhindern; während es in der Kommission 
noch gelungen war, den anfangs schon gefaßten Beschluß wieder 
rückgängig zu machen, indem die Regierung den Antrag energisch 
bekämpfte, nahm die dritte Lesung denselben wieder auf, und zwar 
wurde der Paragraph, der das Verbot des Terminhandels in Getreide 
und Mühlenfabrikaten aussprach, mit der stattlichen Majorität von 
200 gegen 39 Stimmen angenommen, obgleich es an Warnungen 
wahrlich nicht gefehlt hatte?). Nicht mehr volkswirtschaftliche Er- 
wägungen, sondern politische Machtverhältnisse gaben den Aus- 
schlag ®), und die krasseste Interessenpolitik trat offen zu Tage. 
Man hoffte, so in der Preisbildung vom Einfluß des Weltmarktes 
unabhängig zu werden, und die heimische Produktion bei derselben 
wieder zur vollen Geltung zu bringen, was bei der Betrachtung des 
Terminhandels im nächsten Abschnitt noch deutlicher werden wird. 

Von Bedeutung für die Produktenbörse sollte ferner noch der 
$ 4 des Gesetzes werden. Es war schon lange auch von der Regie- 
rung als eine nicht ganz unberechtigte Forderung der Landwirte 
angesehen worden, bei der Entscheidung von Fragen. die, wie 
die Festsetzung der Preise und der Lieferungsqualität, für sie von 


1) G. Wermert a. a. O., S. 191. 

2) So schrieb z. B. Eschenbach, den sicher der Vorwurf eines Börsenfreundes 
nicht treffen kann, in Bd. 68 der Preußischen Jahrbücher (S. 517): „Ein Verbot des 
Terminhandels würde in letzter Linie die juristische Ungültigkeit überhaupt aller Zeit- 
bez. Fixgeschäfte involvieren, eine Möglichkeit, die für viele Zweige des modernen 
Wirtschaftslebens geradezu zum Ruin führen müßte.“ Mit Recht sagt derselbe Autor 
an anderer Stelle („Zur Börsenreform‘, S. 45), der Gedanke, überhaupt das Termin- 
und Zeitgeschäft ganz zu verbieten, zeuge von einer so ungeheuerlichen Ignoranz und 
Kurzsichtigkeit, daß auf ihn näher einzugehen wohl überhaupt nicht nötig sei. 

3) F. Goldenbaum a. a. O. in Schmollers Jahrbuch Bd. 24, S. 223. 


28 H. Ruesch, 


großer Wichtigkeit waren, durch Eintritt in die Börsenorgane mit- 
wirken zu können. Diesem Wunsche ist nun insofern entsprochen 
worden, als die Landesregierungen eine Vorschrift in die Börsen- 
ordnungen hineinbringen können, daß in den Vorständen der Pro- 
duktenbörsen die Landwirtschaft, die landwirtschaftlichen Neben- 
gewerbe und die Müllerei eine entsprechende Vertretung finden. 
In Preußen ist dieser Bestimmung durch $ 2 Abs. 4 des Gesetzes 
über die Landwirtschaftskammern vom 30. Juni 1894 entsprochen 
worden durch die Bestimmung, daß den Landwirtschaftskammern 
eine Mitwirkung bei der Verwaltung und den Preisnotierungen der 
Produktenbörsen nach Maßgabe der für die Börsen zu erlassenden 
Bestimmungen übertragen wird!). Die Ausführung dieser Anord- 
nung führte dann ja bekanntlich zu der Auflösung der bedeutend- 
sten Produktenbörsen, auf die noch zurückzukommen sein wird. 

Diese beiden Aenderungen, das Verbot des Terminhandels und 
die Aufnahme nichtkaufmännischer Mitglieder in den Börsenvorstand, 
mußten tief in die Lebensbedingungen der Produktenbörsen ein- 
schneiden. Es war überhaupt die Frage, ob der Handel mit diesen 
Beschränkungen seine wichtige Aufgabe noch ausreichend erfüllen 
konnte. Jedenfalls wäre es wohl möglich gewesen, auf andere Weise 
die vorhandenen Mißstände zu beseitigen, ohne dem Terminhandel 
gleich ganz den Garaus zu machen. Die Gesamtheit mußte so büßen, 
was nur einige Wenige an gewissenlosen und unlauteren Geschäfts- 
manipulationen gesündigt hatten. 

Auch in Handelskreisen war man einer Reform durchaus nicht 
abgeneigt gewesen ?), wie schon aus den Verhandlungen der Börsen- 
enquete ersichtlich wird, aber bei dem großen volkswirtschaftlichen 
Wert, den heute im Zeitalter des Weltverkehrs eine kräftige Zentral- 
börse bedeutet, durfte man auch dem Handel keine zu großen Hemm- 
nisse in den Weg legen, wenn man überhaupt dessen nutzbringende 
Bedeutung anerkannte. Solche radikalen Eingriffe in die Börsen- 
tätigkeit hatte jedenfalls bis zum letzten Augenblick niemand er- 
wartet. Jetzt zeigte sich, daß man die Anschuldigungen der Agrarier 
für viel zu leicht und unhaltbar genommen hatte, indem man es 
nicht für nötig hielt. denselben von Anfang an energisch entgegen- 
zutreten. „Man hatte übersehen, daß die öffentliche Meinung auch 
durch die unsinnigsten Schlagworte beeinflußt werden und der unrich- 
tigsten Ansicht zum Siege verhelfen könne“ 3). 


II. Bedeutung des Terminhandels. 


Fragt man sich nun nach den tieferen Gründen, die zu einer 
so radikalen Maßnahme eines Terminhandelsverbots führen konnten, 


1) Wermuth und Brendel a. a O., S. 33. 

2) So heißt es z. B. in einem Gutachten der Aeltesten der Berliner Kaufmann- 
schaft von 1904: „Auch wir teilen den Wunsch, daß diejenigen Kreise, die durch 
Beruf und Mittel nicht dazu berechtigt sind, nicht nur vom Terminhandel in Waren, 
sondern von Spekulationsgeschäften jeder Art sich fernhalten.“ 

3) J. Bunzel, „Der Terminhandel, seine volkswirtschaftliche Bedeutung und Reform“. 
Zeitschrift für Volkswirtsch., Sozialpol. und Verw., Bd. 6, S. 386. 


Der Berliner Getreidehandal unter dem deutschen Börsengesetz. 29 


so werden die vorhandenen Mißstände, besonders an der Berliner 
Börse, an und für sich ein derartiges Vorgehen ebensowenig recht- 
fertigen können, wie dies die vorhandene börsenfeindliche Stimmung 
allein vermöchte. Die ganze Frage drehte sich überhaupt sowohl 
in der Enquete als auch nachher in der Regierungsvorlage nur darum, 
ob und welche Einschränkungen der Getreideterminhandel erfahren 
sollte, und wie insbesondere dessen mißbräuchliche Ausnutzung durch 
Heranziehung des Privatpublikums verhütet werden konnte. 


Weshalb ist man nun auf die dahingehenden Vorschläge nicht 
eingegangen und glaubte den Terminhandel ganz abschaffen zu müssen ? 
Die wahre Ursache des Verbots wird wohl eben in dem Wesen des 
Terminhandels liegen, nämlich in der Internationalität des Getreide- 
handels, die er am reinsten zum Ausdruck bringt!). An und für sich 
ist der Terminhandel nichts anderes als eine verfeinerte Technik 
des individuellen Zeitgeschäfts, dem Bedürfnis des Handels nach 
Erleichterung und Beschleunigung des Verkehrs entsprungen. Wäh- 
rend beim einfachen Lieferungsgeschäft noch alle Vertragspunkte 
dem freien Uebereinkommen der Kontrahenten überlassen sind, ist 
beim Börsentermingeschäft der Vertragsinhalt, mit Ausnahme des 
zu zahlenden Preises und der Quanten, wobei auch eine Minimal- 
menge usancemäßig feststeht, dem Belieben der Kontrahenten ent- 
rückt?). Alle wichtigen Bestandteile des Kaufvertrags sind gleich- 
mäßig durch Börsenusancen, meist verdichtet zur Börsenbedingung, 
festgestellt, und so ist hier im vollendetsten Maße die Fungibili- 
sierung durchgeführt, alle Geschäfte werden nach derselben Schablone 
abgeschlossen. Natürlich kann es sich dabei nur um Massengüter von 
gleicher Beschaffenheit handeln, um sogenannte vertretbare Güter, 
zu denen auch das Getreide rechnet. 

Vermöge dieser Gleichartigkeit aller Geschäfte ist es nun 
ermöglicht, zu den festen Bedingungen der Termingeschäfte jeder- 
zeit einen Käufer und Verkäufer zu finden und jede günstige 
Konjunktur augenblicklich durch Termindeckung auszunutzen. Der 
Kaufmann kann jetzt mit größter Leichtigkeit einen günstigen Mo- 
ment zum Ankauf verwenden, ohne schon einen bestimmten Käufer 
zu haben, und er kann verkaufen, ohne schon genau zu wissen, 
woher er sich die Ware beschaffen wird. Dies mußte für den Han- 
del natürlich eine große Erleichterung sein; „das technische Moment 
der Uebertragung ist auf das möglichste vereinfacht, und die ökono- 
mische Ueberlegung über die Verwendung der Waren findet in dem 
zeitlichen Raume zwischen dem Augenblicke des Geschäftsabschlusses 
und dem Tage der Lieferung die Gelegenheit zur freien Entfaltung 
ihrer Wirksamkeit ohne das Anhängsel der körperlichen Gestalt der 
Waren, die für diesen Zweck vielmehr nur eine Last ist“). Der 
Terminhandel ist eben einem wesentlichen Bedürfnis des Handels 


1) Wiedenfeld, Art. „Getreidehandel‘“ im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 

2) Wiedenfeld, „Die Börse in ihren wirtschaftlichen Funktionen und ihrer recht- 
lichen Gestaltung vor und unter dem Börsengesetz“, S. 37. 

3) G. Cohn, „Nationalökonomie des Handels und des Verkehrswesens“, S. 362. 


30 H. Ruesch, 


entsprungen und keine bloße Erfindung der Börse zur Förderung 
des Spiels, was eigentlich kaum erwähnt zu werden brauchte. 

Bei der immer feineren Ausbildung des Nachrichtenwesens wird 
so auch die Preisbildung eine weit richtigere, zumal bei den usance- 
mäßigen Vertragsbedingungen jeder seine Meinung über den Vorrat 
und Bedarf des Weltmarktes mit in die Wagschale werfen kann und 
bei der Vielseitigkeit der Teilnahme unvorhergesehene Preisbewe- 
gungen immer seltener werden. Besonders die für den Termin- 
handel sehr wichtige Teilnahme des Kapitals wird durch diese Er- 
übrigung einer speziellen Warenkenntnis gewährleistet. Oertliche 
und zeitliche Differenzen werden immer mehr vermieden, alle Mög- 
lichkeiten, die nach Maßgabe der augenblicklichen Verhältnisse auf 
den Weltmarkt einwirken könnten, werden schon vorweg eskomp- 
tiert, und schließlich spricht sich so im Terminpreis das Fazit der 
allerverschiedensten in- und ausländischen Einflüsse aus, man hat 
gleichsam einen Barometer, an dem man die Veränderungen ab- 
liest). Die Hauptaufgabe des Terminhandels ist überhaupt mehr 
die Preisbestimmung als die tatsächliche direkte Befriedigung des 
Bedarfs, und daher bringt denn auch eine kräftige Produktenbörse 
die Interessen einer Volkswirtschaft geschlossen auf dem Weltmarkt 
zum Ausdruck. 

Von besonderer Wichtigkeit muß ein solches Mitwirken an der 
internationalen Preisbildung für ein Importland wie Deutschland 
sein. Bis zum Erlaß des Börsengesetzes nahm Berlin diese Stellung 
ein. „In Berlin kouzentrierte sich zusehends der endgültige inter- 
lokale und intertemporale Ausgleich von Angebot und Nachfrage, 
die Nivellierung und Feststellung der Preise, hier wurde Deutsch- 
land als wirtschaftliche Einheit dem Auslande gegenüber repräsen- 
tiert“ ?). Berlins Meinung gab damals in der Preisbildung für Roggen 
sogar den Ausschlag. Der deutsche Getreidehandel konnte durch 
die Berliner Terminbörse so mit Erfolg sein Gegengewicht gegen 
die überseeische Konkurrenz geltend machen und bei der inter- 
nationalen Preisbildung bestimmend mitwirken. Mit jedem be- 
deutenden Handelsgebiet waren Verbindungen angeknüpft, und Berlin 
hatte mit diesem durch ansehnliche Kapitalien unterstützten Ge- 
schäft allmählich eine der ersten Stellen auf dem Weltmarkt für 
Getreide errungen’). 

Für den effektiven Getreidehandel hatte der Terminhandel nun 
noch aus dem Umstande eine besondere Bedeutung, als er dem 
Händler die Gelegenheit bot, sich gegen die durch zeitliche Schwan- 
kungen entstehenden Verluste zu sichern. Diese Versicherungs- 
möglichkeit setzt den Handel überhaupt erst in stand, im Herbst 
die gewaltigen Massen der heimischen Ernte ohne Preisdruck auf- 


1) Emil Meyer, „Berichte über den Weizen-, Roggen- und Spiritushandel von 
Berlin und seine internationalen Beziehungen“, 1897. 
2) W. Borgius, „Mannheim und die Entwickelung des südwestdeutschen Getreide- 


"handels“, S. 111. Volksw. Abhandl. d. bad. Hochschulen, Bd. 2, Heft 1. 


3) Jahresbericht der Aeltesten der Berliner Kaufmannschaft 1897, S. 94. 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 31 


zunehmen und dann allmählich im Laufe des Jahres in den Konsum 
überzuführen oder aus Gegenden mit Ueberfluß an Getreide in 
solche zu befördern, wo Bedarf herrscht. So wird durch den Ter- 
minhandel die wirtschaftlichste Verteilung der Waren über Raum 
und Zeit erreicht. 

Zur Zeit der steigenden Getreidepreise bis in die 60er Jahre 
des vorigen Jahrhundert hinein, wo Deutschland auch seinen Be- 
darf an Brotgetreide noch selbst produzierte, war allerdings eine 
solche Preissicherung von geringerer Bedeutung. Aber seitdem wir 
für Roggen schon seit 1860, für Weizen seit 1875 Importland ge- 
worden sind und das Getreide sich immer mehr zu einem der 
wichtigsten Welthandelsartikel herausgebildet hat, mußte der solide 
Handel sich gegen die durch die täglich veränderte Geschäftslage 
erzeugten Schwankungen, zumal durch die Erschließung neuer Pro- 
duktionsländer ein Zeitalter sinkender Getreidepreise einsetzte, auch 
eine dementsprechende Sicherung verschaffen, wollte er nicht zum 
wilden Spekulanten werden und jeden Tag sein Hab und Gut in den 
oft recht beträchtlichen Warenmengen aufs Spiel setzen. Das Inter- 
esse an einer Gelegenheit, sich für jeden Augenblick einen vorteil- 
haften Preis zu sichern, mußte aber um so stärker werden, als 
sich durch die verbesserten Verkehrsmittel die Einwirkung der Pro- 
duktionsländer aufeinander verschärfte und das Verhältnis zwischen 
Vorrat und Bedarf von Jahr zu Jahr unübersichtlicher wurde. Ohne 
diese Preissicherung wäre es überhaupt nur den größten Firmen 
möglich zu importieren, da diese sich bei dem großen Umfang ihrer 
Geschäfte eventuell in sich selbst sichern können, indem gute Jahre 
die schlechten mit tragen helfen. 

Nun ist andererseits nicht zu leugnen, daß mit dem Termin- 
handel auch allerlei Uebelstände verbunden sein können. Es fragt 
sich aber doch, ob man die Segnungen der Verkehrsformen be- 
seitigen soll, weil sie von wenigen mißbraucht werden. Es ist hier 
besonders die Gefahr zu nennen, die in der schon geschilderten Be- 
teiligung von Kreisen und Personen liegt, die vermöge ihres Be- 
rufs oder ihres geringen Vermögens keineswegs die Tragweite der 
eingegangenen Geschäfte beurteilen können und oft schon durch das 
Fehlschlagen eines Termingeschäftes von geringem Umfange dem 
wirtschaftlichen Ruin zugeführt werden. Derartige Elemente ohne 
Sachkenntnis und Urteilsfähigkeit vermögen dann auch die Preis- 
bildung um so mehr zu stören, als sie in Zeiten der Erregung die 
herrschende Richtung zu verstärken pflegen !), und der Preis ent- 
spricht schließlich nicht mehr den tatsächlichen Verhältnissen. 

Da nun aber’ der Terminpreis für die Produzenten ein wesent- 
licher Faktor für die Bewertung ihrer Erzeugnisse war, so kann 
man allerdings begreifen, wie in diesen Kreisen auch ein Interesse 
an den Vorgängen an der Produktenbörse wach werden mußte. 


—— 


8 T Wiedenfeld, „Der deutsche Getreidehandel“, in Conrads Jahrb, 3. F. Bd. 7, 


32 H. Ruesch, 


Wenn das Termingeschäft für den Konsumenten, den Produzenten 
und den Händler wirtschaftlich gesund funktionieren soll, so müssen 
eben unberechtigte Einflüsse des Terminhandels auf die Preisgestal- 
tung der Waren beseitigt und die Beteiligung des außerhalb der 
Börse stehenden Privatpublikums eingeschränkt werden 1). 


Noch manche andere Einwände sind gegen den Terminhandel 
erhoben worden, die aber zum größten Teil einer mangelhaften 
Kenntnis des Börsenwesens entspringen ?) oder Mißbräuche betreffen, 
die mit der Form des Termingeschäfts an und für sich nichts zu 
tun haben und beseitigt werden können, ohne seine Funktionen zu 
stören. Besonders wurde immer über die Baissetendenz geklagt, 
obgleich der Nachweis einer solchen bisher noch nicht gelungen ist 
und wohl auch nie gelingen wird®). Durch den Terminhandel soll 
der Händler einen Antrieb erhalten, fremdes Getreide über Bedarf 
ins Land zu schicken und damit Preisdruck auszuüben *). Dieser 
Vorwurf wird schon durch die einfache Tatsache widerlegt, daß dann 
ja die Preise infolge des Ueberangebots unter den Weltmarktpreis 
sinken müßten und eine Ausfuhr lohnend würde. Die Arbitrage 
wird es aber zu einer solchen Preisdifferenz gar nicht erst kommen 
lassen. Weil eben die ganze Welt sich an dem Terminhandel be- 
teiligt, müssen sich notwendigerweise auch die Inlandpreise zu den 
Auslandpreisen regulieren. Steht der Preis hier niedriger, so kauft 
das Ausland, umgekehrt kauft der hiesige Händler, und das Aus- 
land tritt mit Verkaufsordres auf den Markt, bis dann sofort die 
Differenz wieder beseitigt ist. Je größer der Markt und je viel- 
seitiger die Teilnahme ist, desto weniger wird sich ein Preis im 
Widerspruch mit dem Weltmarkt halten können. „Wenn der Han- 
delsstand auf den Gang der Preise Einfluß gewinnen wollte, dann 
hätte er seine Börse nicht errichten dürfen, an der Nachfrage ebenso 
wie das Angebot aus den Tausenden von Ein- und Verkaufsquellen 
zusammenströmt, an der die gewaltigen Einflüsse der Ernteaussichten 
und der Lage des Weltmarkts maßgebend eine Rolle spielen, und 
an denen zu gleichen Preisen jeden Augenblick gekauft und ver- 
kauft werden kann“ 5). 


Was man mit dem Verbot des Terminhandels erreichen wollte, 
war vielmehr etwas ganz anderes. Die vermeintliche Baissetendenz 
lag wohl darin, daß an Stelle der Produktionskosten jetzt die Kon- 
junktur für die Preisbestimmung den Ausschlag gab, und diese Kon- 
junktur brachte der Terminpreis am reinsten zum Ausdruck. Der 
Terminhandel war es, der den Konnex mit dem Weltmarkt am eng- 


1) Oest. Enq. Sachverst. Prot., S. 465 (Dr. Horovitz). 

2) Vergl. Wermert a. a. O., 8. 195 ff. 

3) G. Cohn (Nationalökon. d. Handels u. Verkehrswesens, 8. 366) sagt: „Ich habe 
kein Wort über die Ansicht verloren, daß der Terminhandel den Preisdruck bei dem 
Korn verschulde. Diese Ansicht liegt unterhalb jeder wissenschaftlichen Diskussion.“ 

4) Verhandl. d. Reichstags 9. Leg.-Per., 4. Session (Paasche in der 97. Sitzung 
yom 5. Juni 1896). 

5) Emil Meyer 1895. 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 33 


sten darstellte und es hauptsächlich den Importeuren ermöglichte, 
das ausländische Getreide zu den jeweiligen Weltmarktspreisen ohne 
besonderes Risiko herbeizuschaffen, durch dessen niedriges Preis- 
niveau die ganze heimische Ernte in Mitleidenschaft gezogen wurde. 

Wenn man den Terminhandel beseitigen konnte, so war die 
Einfuhr wenn auch nicht unterbunden, so doch bedeutend erschwert, 
und die Preise mußten sich wieder mehr nach den inländischen 
Produktionskosten richten, denn es fehlte ja die Terminbörse, die 
die Veränderung des Weltmarktes zur Geltung bringen konnte. Der 
Handel würde auch, argumentierte man, ohnedem im stande sein, 
effektives Bedürfnis und effektive Nachfrage zu befriedigen. Der 
Importeur würde wieder naturgemäßer Haussier, Weltmarkt und 
Verkehrsverhältnisse würden die Hausse schon zurückhalten. Wie 
aber der Händler diese Hausse zu Zeiten sinkender Getreide- 
preise durchsetzen kann, darüber bleiben uns die Gegner des 
Terminhandels die Antwort schuldig. Man hatte noch immer die 
Meinung, der Handel könne die Preise seinen Interessen gemäß 
willkürlich gestalten, und der Terminhandel sei eine wesentliche 
Ursache des niedrigen Preisniveaus. 

Es war ein Kampf zwischen Weltwirtschaft und nationaler Wirt- 
schaft, und was im Antrag Kanitz nicht gelungen war, hoffte man 
so auf Umwegen durch das Terminhandelsverbot zu erreichen: Un- 
abhängig von der Weltpreiskonjunktur sollten wieder die heimischen 
Erzeugungskosten des Getreides für die Preisbildung maßgebend sein. 

Nun befand sich die Landwirtschaft sicher in einer sehr schwie- 
rigen Lage. Die Riesenproduktion in Amerika, Argentinien und 
anderen überseeischen Ländern hatte einen verderblichen Preisdruck 
hervorgerufen, der durch die Ausgestaltung des raschen und billigen 
Transports noch wesentlich verschärft wurde. Bei der hervor- 
ragenden Bedeutung einer kräftigen Landwirtschaft für jedes Staats- 
wesen hat nun der Staat auch die Pflicht, der Landwirtschaft helfend 
zur Seite zu stehen, da sie aus eigenen Kräften nicht so wie die 
Industrie die Konjunktur selbständig von sich abwenden kann. Aber 
auch hier gibt es eine Grenze, wenn das Wohl der Allgemeinheit 
allzusehr Interessen einzelner geopfert werden muß. Es wäre im 
höchsten Grade gefährlich, einen Staat wie Deutschland mit be- 
trächtlichem Importbedürfnis an Getreide von der Außenwelt abzu- 
schließen und die Versorgung des Volkes mit den wichtigsten Nah- 
rungsmitteln aufs Spiel zu setzen. Denn darüber läßt sich nicht 
mehr hinwegdeuteln: Deutschland ist heute Getreideimportland, und 
es könnte, zumal im Falle einer Mißernte oder eines Krieges, von 
den schlimmsten Folgen sein, wenn man die notwendige Einfuhr 
erschweren wollte. 

Deutschland ist nun einmal mit seinem starken Importbedürfnis, 
das sich in den letzten Jahren ziemlich ständig auf ein Sechstel 
des Gesamtbedarfs an Brotgetreide beziffert (vergl. Tab. I), und 
seinem regen Getreideexport seit Aufhebung des Identitätsnachweises 
naturgemäß aufs intensivste mit dem Weltmarkt verknüpft, und eine 

Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII). 3 


34 H. Ruesch, 


Politik der wirtschaftlichen Abschließung ist heute für den industriell 
am weitesten entwickelten Staat auf dem europäischen Kontinent 
ein Unding. 


Tab. 1. Konsum an Brotgetreide in Deutschland. 
(Tonnen zu 1000 kg.) 


Inlands: | gintuhr 


Erntejahr vorrat Ansiahr Verfügbar Kilogramm 
(1./7.—30./6.) ee in das deutsche Zollgebiet | pro. Kopf 

Weizen. 

1893/94 3 054 739 746 622 18 599 3 782 762 74,1 
1894/95 2 997 315 1 280 331 108 785 4 168 861 80,7 
1895/96 2 841 061 1537 069 71852 4 306 278 82,3 
1896/97 3 090 169 1493 432 148 136 4 435 465 83,5 
1897/98 2 934 551 1 289 313 269 284 3 954 580 73,4 
1898/99 3 270 833 I 602 791 179 355 4 694 269 85,8 
1899/00 3 502 759 1371557 308 370 4 565 946 82,3 
1900,01 3 490 818 1512 976 276 370 4727 424 83,8 
1901/02 2 225 646 2 319 833 48 721 4496 758 78,5 
1902/03 3573 259 2 006 264 179 340 5 400 183 92,8 
1903/04 3 244 227 2 055 334 195 405 5 104 156 86,6. 
1904/05 3 476 642 2 035 042 318 556 5 193 128 86,8 
Roggen. 

1893/94 7919035 155 559 13 850 8.060 744 158,0 
1894/95 7 315 456 681 418 91 531 7 905 343 153,0 
1895/96 6 722 991 886 751 59 673 7 550 069 144,3 
1896/97 7 517 065 973 723 214 344 8 276 444 155,8 
1897/98 7 156 159 894 603 304 296 7 746 466 143,7 
1898/99 8 021493 728 349 295 765 8 454 077 154,5 
1899/00 7677710 628 336 278 883 8 027 163 144,6 
1900/01 7 538 314 972 686 187 574 8 323 426 147,6 
1901/02 7 174 597 872 439 157 970 7 889 066 137,7 
1902,03 8 447 877 1030 294 266 484 9 211 687 158,3 
1903/04 8 882 314 612 602 368 454 9 126 462 154,8 
1904/05 9 023 886 399 693 631610 8 791 969 147,0 


Es ist natürlich für die Getreideproduzenten sehr unangenehm, 
daß der inländische Preis lediglich von demjenigen abhängt, zu 
welchem die ausländischen Zufuhren angeboten werden und sich 
sogar im Widerspruch mit dem Ergebnis der heimischen Ernte ge- 
stalten kann. Aber es gibt schließlich viele andere Mittel, durch 
die der Staat es der Landwirtschaft erleichtern kann, über Krisen 
hinwegzukommen, und das haben wir in Deutschland mit der Er- 
höhung der Schutzzölle auch in hinreichendem Maße getan. 

Wenn oft von agrarischer Seite behauptet wird, bei besseren 
Preisen, die auf die Herstellungskosten der heimischen Produzenten 
basierten, sei die Landwirtschaft wohl im stande, das für den Ge- 
brauch der Bevölkerung notwendige Getreide selbst hervorzubringen, 
so ist vielleicht kaum daran zu zweifeln, daß der deutsche Boden 
bei intensiver Wirtschaft das für die Gegenwart noch zu leisten 


Der Berliner Getreidehundel unter dem deutschen Börsengesetz. 35 


vermöchte, aber Conrad sagt mit Recht!), daß um dem Boden das 
fehlende Quantum noch abzugewinnen, eine Intelligenz gehört, welche 
der großen Masse der deutschen Landwirte bis jetzt noch fehlt, und 
bis es gelungen ist, sie entsprechend zu heben, wird so viel Zeit 
vergehen, daß durch die Volkszunahme der Bedarf wieder um ein 
Beträchtliches gesteigert ist, ganz abgesehen davon, daß die je- 
weilige Witterung den Ernteausfall eventuell stark verändern kann 
und ein Importbedürfnis auch schon aus Rücksichten auf die Quali- 
tät nicht zu vermeiden ist, und gar nicht zu reden von kriegerischen 
Ereignissen, die eine geordnete Bedarfsversorgung vor allem zur 
Voraussetzung haben. Ob man nun überhaupt durch ein Termin- 
handelsverbot einen derartigen Abschluß vom Weltmarkt erreichen 
konnte, blieb zum mindesten sehr zweifelhaft, denn der Handel kann 
sich sehr rasch in seinen Formen den gegebenen Verhältnissen an- 
passen, und gerade im Börsengesetz vom 22. Juni 1896 war eine 
Umgehung außerordentlich leicht gemacht. Jedenfalls versuchen 
wollte man es, auf diese Weise sich vom Weltmarkt unabhängig zu 
machen, wenn man auch nach außen allerlei andere Beschwerden 
gegen den bösen Terminhandel vorbrachte. 

Ein Unglück war für die Berliner Börse, daß sich damals ge- 
rade hier so manche Mißstände fanden, so daß Unbeteiligte glauben 
mußten, derartiges wäre überhaupt mit dem Terminhandel verbunden 
und helfen könnte nur eine vollständige Beseitigung des Uebels. 
Als typisch galten immer die Fälle Cohn & Rosenberg und Ritter & 
Blumenfeld. Wenn man aber bedenkt, daß die einen bei ihren Ge- 
schäftsmanipulationen in kürzester Frist ihren Ruin fanden, während 
der andere nach kurzer Börsentätigkeit im Irrenhaus endigte, so 
waren das doch sicher Ausnahmen, die man billig nicht so verall- 
gemeinern kann. Denn Auswüchse finden sich auf jedem Gebiet. 

Den Landwirten waren aber alle diese Vorfälle äußerst will- 
kommen, jetzt hatte man Beweise, welch eine Gefahr für die ganze 
Volkswirtschaft im Terminhandel liegt. Die Spekulanten warfen 
beliebig große Produktenmassen nominell auf den Markt, dann 
wieder sperrten sie alles Getreide ein und verursachten so beliebig 
große Preisschwankungen, bei denen sie mühelos ihre Gewinne ein- 
heimsten. Dies und vieles andere wurde dann gutwillig geglaubt, 
und die handelsfeindliche Strömung hatte schließlich ihr Ziel erreicht. 
Während es vorher die amerikanische Konkurrenz und die Gold- 
währung war, wurde jetzt der Terminhandel als der Sündenbock 
hingestellt, der die Schuld an der schlechten Lage der Landwirt- 
schaft trug. 

Ob allerdings der erwünschte Erfolg eingetreten ist, bleibt eine 
andere Frage, auf die noch zurückzukommen sein wird. Jedenfalls 
ist es sehr interessant, wie sich der Handel mit den gesetzlichen 
Vorschriften abzufinden wußte, und zwar wird in folgendem speziell 


1) Conrad in seinen Jahrbüchern, 3. F. Bd. 15, S. 657. 
3*+ 


36 H. Ruesch, 


geschildert werden, wie sich der Einfluß des Börsengesetzes auf den 
Berliner Getreidehandel gestaltet hat. 


II. Auflösung und Wiederherstellung der Berliner 
Produktenbörse. 


Was bestimmt nun das Gesetz hinsichtlich des Terminhandels ? 
Nach $ 50 Abs. 3 ist der börsenmäßige Terminhandel in Getreide 
und Mühlenfabrikaten untersagt, und in $ 51 sind dann als Folgen 
des Verbots festgesetzt, daß Börsentermingeschäfte in den betroffenen 
Waren von der Benutzung der Börseneinrichtungen ausgeschlossen 
sind und von den Kursmaklern nicht vermittelt werden dürfen. Auch 
dürfen für solche Geschäfte, sofern sie im Inlande abgeschlossen sind, 
Preislisten nicht veröffentlicht oder in mechanisch hergestellter Ver- 
vielfältigung verbreitet werden. Desgleichen ist ein von der Mit- 
wirkung der Börsenorgane unabhängiger Terminhandel von der 
Börse ausgeschlossen, so weit er sich in den für Börsentermin- 
geschäfte üblichen Formen vollzieht. 

Zweierlei also hatte der Handel zu berücksichtigen, wollte er 
nicht von der Börse ausgeschlossen werden. Er mußte alles ver- 
meiden, was als für Börsentermingeschäfte übliche Form angesehen 
wurde, worüber man natürlich im einzelnen streitig sein konnte, 
und zweitens durfte er keine Börsentermingeschäfte mehr abschließen, 
ein Begriff, der durch das Gesetz näher umschrieben ist, so daß 
man hier einen besseren Anhaltspunkt hatte. Man hatte nämlich, 
wie es in dem Entwurf eines Börsengesetzes heißt, eine Grundlage 
haben wollen für die ganzen Bestimmungen über das Termingeschäft, 
und am Anfang des Abschnittes IV ($ 48) findet sich daher eine 
Definition, nach welcher als Börsentermingeschäfte in Waren oder 
Wertpapieren gelten sollen: Kauf- oder sonstige Anschaffungsge- 
schäfte a) auf eine festbestimmte Lieferungszeit oder eine festbestimmte 
Lieferungsfrist, b) wenn sie nach Geschäftsbedingungen geschlossen 
werden, die von dem Börsenvorstand für den Terminhandel fest- 
gesetzt sind, und c) wenn für die an der betreffenden Börse ge- 
schlossenen Geschäfte solcher Art eine amtliche Feststellung von 
Terminpreisen erfolgt. 

Wenn nun der Terminhandel eine wirtschaftliche Notwendigkeit 
bedeutete, so mußte sich der Handel auch mit diesen gesetzlichen 
Beschränkungen zurechtfinden und Formen ausfindig machen, die 
es ihm ermöglichten, auch fernerhin auf solidem Wege unter der 
Möglichkeit einer Preissicherung die Vermittlung zwischen Vorrat 
und Bedarf zu übernehmen und für die nötige Deckung des vor- 
handenen Defizits Sorge zu tragen. 

Der Wortlaut des Gesetzes kam dabei den Händlern sehr zu 
statten, denn wirtschaftlich traf der $ 48 keineswegs das Wesen der 
Börsentermingeschäfte. Die amtliche oder nichtamtliche Preisnotie- 
rung ist z. B. für die täglichen Börsenbesucher ganz unerheblich. 
Diese kennen ohnehin die Lage des Marktes und können so eine 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 37 


Feststellung von Preisen überhaupt ganz entbehren. Populisiert doch 
ein detaillierter offizieller Bericht oft ein Kapital mühsam er- 
worbener Geschäftserfahrungen, das meist für die Erwerber größeren 
Wert hat, wenn es auf den Kreis der Wissenden beschränkt bleibt !). 
So fehlt an dem Chicagoer board of trade jede amtliche Kundgebung 
durch öffentliche Organe, ja die Börse ist sogar bemüht, eine Kund- 
gebung von Preisen zu verhindern ?). Von Wichtigkeit sind die amt- 
lichen Notierungen nur für die auswärtigen Händler und das Privat- 
publikum, um diese über die Lage des Marktes zu orientieren. So 
kann schließlich das Fehlen solcher Preisnotizen zu einer Verenge- 
rung des Terminmarktes führen, ja vielleicht seine Leistungsfähigkeit 
derart schwächen, daß er den Bedürfnissen des Handels nicht mehr 
genügt. Denkbar wäre aber auch hier ein Zustand, bei dem private 
Kursberichte und telegraphische Mitteilungen mehrerer sich gegen- 
seitig kontrollierender Kommissionäre Außenstehende über die Ge- 
schäftslage unterrichteten 3). 

Auch brauchen die Bedingungen des Börsenterminhandels durch- 
aus nicht immer vom Börsenvorstand festgesetzt zu sein, es genügt, 
wenn die Usancen nur tatsächlich der Gewohnheit gemäß von allen 
geschäftsführenden Teilen angewandt werden. 

Es wird überhaupt kaum möglich sein, eine erschöpfende Defi- 
nition des Börsenterminhandels zu geben. An Stelle des bisher 
geübten Brauchs wird man stets mit Erfolg andere Formen ausfin- 
dig machen, die zum selben Ziel führen. Die österreichischen 
Agrarier haben sich denn auch den Mißerfolg des deutschen Börsen- 
gesetzes zu nutze gemacht und auf eine Definition des Termin- 
geschäftes ganz verzichtet. Nach dem dortigen Gesetz vom 4. Ja- 
nuar 1903 ist den Börsenleitungen die Feststellung von Geschäfts- 
bedingungen für Börsentermingeschäfte in Getreide- und Mühlen- 
fabrikaten, sowie von Bestimmungen über deren Abwickelung unter- 
sagt, besonders wenn sie eine Vorschrift enthalten, durch welche 
von vornherein für den Geschäftsabschluß eine einheitlich anzuwen- 
dende Getreidetype festgestellt wird und die überhaupt geeignet ist, 
den einzelnen Geschäften einen tunlichst gleichen Inhalt zu geben. 
Um auch Umgehungsformen zu verhindern, haben die Ministerien 
derartige Formen im Verordnungswege zu verbieten. 

Solehe Bestimmungen, die den Börsenterminhandel wirklich ver- 
nichten, hat aber das deutsche Gesetz nicht‘), und es war ganz 
selbstverständlich, daß der Handel aus dem Gesetz seine Konse- 
quenzen zog und sich den Wortlaut desselben zum Vorteil machte, 
hatten doch auch weder Regierung noch Reichstag den reellen Liefe- 
Tungshandel auf Zeit irgendwie verbieten wollen. 


1) H. Schumacher a. a. O. (Conrad, Bd. 11), S. 198. 

2) Derselbe S. 195 ff. 

3) Vergl. auch Goldenbaum a. a. O., S. 232 f. 

4) Eine sehr feine Kritik der ganz unklaren Bestimmungen über den Termin- 
handel bei Max Weber „Art. Börsengesetz“ im 2. Supplementband des Handw. d. 
Staatsw. (1. Aufl.). 


38 H. Ruesch, 


Die Hauptsache war natürlich, daß man auch weiter die Mög- 
lichkeit behielt, das namentlich bei dem Importgeschäft entstehende 
Risiko abzuwälzen und sich einen breiten Markt in fungibler Ware 
zu erhalten. Diesen Anforderungen entsprach vollkommen ein neuer 
Schlußschein, der von der Freien Vereinigung der Produktenhändler 
ausging. So war die Festsetzung von Börsenbedingungen vermieden, 
denn die neuen Kontrakte konnten natürlich von der Vereinigung 
nur empfohlen werden, das Gefühl der Solidarität bewirkte aber, 
daß sie auch tatsächlich zur Anwendung gelangten und alle Ge- 
schäfte nach diesen Usancen abgeschlossen wurden. Man verließ 
sich darauf, daß der Gemeinsinn und das gemeinsame Interesse ge- 
nügende Stützen für den Bau abgeben würden, und darin hatte man 
sich auch nicht getäuscht‘). Man hatte durchaus festgehalten an 
der typischen Lieferungsqualität, Mindestquantum und Lieferungs- 
frist waren dieselben wie beim bisherigen Termingeschäfte. Dagegen 
war die Form des Fixgeschäftes fallen gelassen, indem für den Verzug 
die Bestimmungen des Handelsgesetzbuches Art. 354/56 und 343, 
die handelsrechtlichen Lieferungsgeschäfte betreffend, in Anwendung 
kamen, wenn man auch tatsächlich in allen Fällen des Verzugs oder 
der Nichterfüllung die gegenseitigen Ansprüche durch freundschaft- 
liches Schiedsgericht regelte?). 

Die börsenmäßigen Einrichtungen des Kündigungsbüros und der 
obligatorischen Sachverständigenkommissionen wurden vermieden, 
und äußerlich war die Form der alten gegenüber so unähnlich wie 
möglich. Von der Definition des § 48 war so gut wie nichts mehr 
geblieben, da man auch die amtlichen Preisnotierungen aufgab, und 
doch konnte wirtschaftlich der neue Schlußschein dieselben Bedin- 
gungen erfüllen wie der alte. Allerdings niemand konnte hindern, 
daß einzelne Interessenten von den allgemeinen Bedingungen ab- 
weichende Punkte in den Schlußschein aufnahmen, aber wenn hier 
von der Freien Vereinigung feste Bedingungen in den Schlußschein 
aufgenommen waren, so wurde dadurch den Kaufleuten die Gefahr 
ad oculos geführt, die aus einem Auseinandergehen in bestimmten 
Punkten sich für den Lieferungshandel ergeben könnten, und so 
kamen denn auch die neuen Kontrakte trotz des Fehlens einer legi- 
timierten Autorität allgemein zur Anwendung’). 

Auf die einzelnen Punkte hier näher einzugehen, erübrigt sich, 
da wir in der Arbeit von Goldenbaum in Schmollers Jahrbüchern 
1900 und 1901 eine eingehende und interessante Schilderung der 
damaligen Sachlage haben und an späterer Stelle auch noch an der 
Hand des jetzt geltenden Schlußscheines, der sich nur wenig von 
dem 1896 in Kraft getretenen unterscheidet, das Wesentliche gesagt 
werden wird. 

Allerdings waren mit der Schaffung dieses Schlußscheins für 


1) F. Goldenbaum a. a. O., Bd. 24, Heft 3, S. 273. 
2) Derselbe, S. 257. 
3) F. Goldenbaum a. a. O., S. 261. 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 39 


den Berliner Getreidehandel die Schwierigkeiten noch nicht erschöpft. 
Es handelte sich noch um die oktroyierte Börsenordnung vom 
23. Dezember 1896, in der besonders 2 Punkte den Händlern unan- 
nehmbar schienen, die Ernennung von 5 Vertretern der Landwirt- 
schaft durch den Landwirtschaftsminıster und 2 Vertretern des Müllerei- 
gewerbes durch den Handelsminister und ferner das praktisch uner- 
füllbare Verlangen, in den Preisnotierungen bei den verschiedenen 
Getreidegattungen die Sorten nach Ursprung, Gattung, Qualitäts- 
gewicht, Beschaffenheit (Farbe, Trockenheit, Geruch) und Erntezeit 
zu unterscheiden, ebenso die Angabe der gehandelten Mengen und 
außer den höchsten und niedrigsten dafür gezahlten Preisen noch 
die unerledigten Aufträge anzugeben, Bestimmungen, durch welche 
die Fungibilität der Lieferungsware einfach vernichtet worden wäre. 
Doch die Hauptrolle sollte der erste Punkt spielen, und so wird es 
sich nicht vermeiden lassen, auch auf diese Frage der Hineindelegie- 
rung nichtkaufmännischer Mitglieder in den Börsenvorstand etwas 
näher einzugehen, obgleich an und für sich diese Sache heute von 
ziemlich geringer Bedeutung erscheint, da man sich ja schließlich 
nach Verlauf von 3 Jahren ganz friedlich geeinigt hat und das zu- 
gestand, was man vorher für unmöglich erklärt hatte. Die ganze 
Entrüstung von damals wird also wohl vielmehr auf die so wie so 
erregte Stimmung zurückzuführen sein, unkonsequent erscheint aber 
die Haltung der Händler auf jeden Fall. 

Allerdings wird auch ein objektiver Beurteiler der Dinge zugeben 
müssen, daß die dem Handel gestellten Zumutungen nach dem so- 
eben erfolgten Schlag des Terminhandelsverbots etwas reichlich stark 
waren. Es ist absolut nicht zu verwundern, wenn man in den Kreisen 
der Getreidehändler unmöglich an ein gedeihliches Zusammenwirken 
mit Personen denken konnte, die noch kurz vorher die unbegrün- 
detsten Verdächtigungen gegen ihren Stand ausgestoßen hatten. Wäh- 
rend alle kaufmännischen Mitglieder des Börsenvorstandes aus der 
freien Wahl der an dem Verkehr der Produktenbörse teilnehmenden 
Korporationsmitglieder hervorgingen, sollten hier vom Ministerium 
Leute hineindelegiert werden, von denen man annehmen mußte, daß 
sie nur als Aufsichtsorgan funktionieren würden, was um so mehr 
wahrscheinlich war, als der Börse im Laufe des Kampfs wiederholt 
falsche Preisnotierung vorgeworfen war. Hier galt es die Ehre des 
Standes zu wahren, wollte man nicht selbst zugeben, daß die Notie- 
rung nicht den tatsächlichen Verhältnissen entsprach. War doch 
schließlich durch die Ernennung des Staatskommissars von seiten 
des Staats für genügende Aufsicht gesorgt. Man merkte eben die 
Absicht, Berlin seine Bedeutung als Zentralbörse überhaupt zu 
nehmen und es zu einem Lokalmarkt wie jeden anderen zu machen. 
Eine derartige Funktion hat aber Berlin nie ausgeübt, hierfür diente 
bestenfalls der Frühmarkt. Und vollends eine Mitarbeiterschaft 
der Landwirte konnten sich die Getreidehändler bei der ganzen 
Organisation und dem Wesen der Berliner Produktenbörse noch 
weniger vorstellen. Sie wußten nicht, wie da rein kaufmännische 


40 H. Ruesch, 


Angelegenheiten, deren Führung eine lange Erfahrung und ein ge- 
reiftes Urteil auf kaufmännischem Gebiet verlangt, von Personen 
erledigt werden sollten, denen infolge ihrer Beschäftigung in einem 
ganz anderen Beruf diese Fähigkeiten abgehen müssen !), nach ihrer 
Ansicht diente eben die Berliner Börse lediglich den Interessen des 
Handels?). Aber sicher hätte man allein aus diesem einen Grunde 
die Produktenbörse noch nicht zu verlassen brauchen. Man wird 
diesen folgenschweren Entschluß erst recht verstehen, wenn man 
die ganzen anderen Eingriffe in den Getreidehandel mit in Betracht 
zieht. Jetzt schien das Maß voll, man faßte es als Ehrensache auf, 
hier nicht nachzugeben, und so wurde beschlossen, die Tätigkeit an 
der Produktenbörse lieber ganz aufzugeben. Der Geschäftsverkehr 
nahm dann im sogenannten Feenpalast seinen Fortgang. Aber schon 
am 31. Juni 1897 war auch dies vorbei infolge eines Verbots der 
Zusammenkünfte durch den Polizeipräsidenten, wogegen man aller- 
dings beim Bezirksausschuß Berufung einlegte. Es handelte sich 
um die Frage, ob die täglichen Versammlungen als Börse anzusehen 
waren und somit einer Staatsgenehmigung bedurften, oder ob ein 
Börsencharakter nicht vorlag. Jedenfalls galt es, rechtzeitige Vor- 
bereitungen gegen etwaige neue gesetzliche oder polizeiliche Maß- 
nahmen zu treffen, und man mußte einen Weg ausfindig machen, 
der den Geschäften auch weiteren Bestand verlieh. Waren Ver- 
sammlungen der Masse verboten, so stellte der Handel die Behörden 
vor die neue Aufgabe, ihnen das Recht streitig zu machen, sich in 
einem gemeinsamen Hause eine große Anzahl von Zimmern neben- 
einander zu mieten, wodurch ihnen die Möglichkeit einer schnellen 
Besprechung und Abschließung der Geschäfte verblieb. Man sie- 
delte daher in das frühere Hospital zum Heiligen Geist über, wo 
der geschäftliche Verkehr dann von Kontor zu Kontor gepflegt wurde, 
so daß man hier schlechterdings von einer Börse nicht mehr sprechen 
konnte. 

Jetzt zeigte sich erst, welchen Wert der Berliner Notiz bisher 
im Lande gehabt hatte. an ihr hatte jeder Interessent täglich die 
Veränderungen des Weltmarkts ablesen können. Nach Einstellung 
der Notierungen fehlte der Ersatz. Eine allgemeine Verwirrung in 


1) Jahresbericht der Aeltesten d. Kaufm., 1896. 

2) Im übrigen ist es natürlich sehr verständlich, wenn die Landwirte die enorme 
Wichtigkeit der Getreidepreise für ihre wirtschaftliche Lage betonen und einen Anteil 
an der Preisbildung fordern. Wie sie aber dabei ihr Interesse geltend machen wollen 
oder überhaupt können, das ist ein dem Kaufmann ziemlich unbegreiflicher Standpunkt. 
Denn wenn schon jedes einzelne Geschäft nur zu stande kommen kann durch Gegen- 
überstellung eines Käufers und Verkäufers und demgemäß die Tausende der an der 
Börse abgeschlossenen Geschäfte nur durch Gegenüberstellung einer ebensolchen An- 
zahl von Käufern und Verkäufern, so verbürgt dies, daß der Widerstreit der Interessen 
gerade auf diese Weise wie auf einer Goldwage abgewogen den jeweilig allerkorrekte- 
sten Marktpreis hervorrufen muß, an dem ebensowenig das Interesse einer Minderzahl 
von Kaufleuten wie von Landwirten sich auf rechtlichem und geradem Wege Geltung 
verschaffen kann. Und dann muß man noch bedenken, daß das Getreide beute eines 
der wichtigsten Welthandelsartikel ist, auf dessen internationale Bewertung ein Gebiet 
wie Deutschland mit seiner Ernte so gut wie gar keinen Einfluß auszuüben vermag. 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 41 


der Preisbildung trat ein. Niemand wußte, wie er kaufen oder ver- 
kaufen sollte. Die Marktberichte des Kaiserlichen Statistischen Amtes 
und der Zentralnotierungsstelle der Preußischen Landwirtschafts- 
kammern genügten keineswegs den Ansprüchen, und so mußte dieser 
unerquickliche Zustand bald bei allen beteiligten Kreisen und nicht 
zum wenigsten bei der Regierung, den lebhaften Wunsch nach einer 
Wiederherstellung der Berliner Produktenbörse wachrufen. 

Es waren langwierige Unterhandlungen, die hier zu führen waren. 
Besonders über die Art der Beteiligung der Landwirtschaft an der 
Börsenleitung herrschten noch immer große Meinungsdifferenzen, 
aber mit einigem guten Willen gelang es doch schließlich zu einem 
modus vivendi zu kommen, am 15. Januar 1900 wurden die Ver- 
handlungen geschlossen und die Börse auf einer die Beteiligten 
leidlich befriedigenden Grundlage wiederhergestellt.e. Die Einigung 
ist im wesentlichen das Verdienst des Staatskommissars an der Ber- 
liner Börse, Hemptenmacher, der vom 7. Februar 1898 bis zum 
15. Januar 1900 im ganzen 11 vertrauliche Besprechungen mit Ver- 
tretern der Landwirtschaft und des Getreidehandels veranstaltete 1). 

Für die von der Landwirtschaft gemäß $ 4 Abs. 2 des Börsen- 
gesetzes und $ 2 Abs. 4 des Gesetzes über die Landwirtschafts- 
kammern geforderte Vertretung im Börsenvorstand einigte man sich 
schließlich dahin, daß vom Preußischen Landesökonomiekollegium 
10 Landwirte vorzuschlagen sind, aus welchen die am Verkehr der 
Produktenbörse teilnehmenden Korporationsmitglieder 5 auf 3 Jahre 
zu wählen haben und von den 12 Vertretern der Kaufmannschaft sollen 
2 dem Müllereigewerbe angehören. Die Form der Aufnahme der 
Landwirte hatte damit ihre gehässige Art verloren, schließlich konnte 
ihr Einfluß auch nicht allzu bedeutend werden, und die Kaufleute 
konnten so zeigen, daß an der Börse nichts zu verheimlichen ist, 
ja. es mußte sogar in ihrem Interesse liegen, wenn auf diese Weise 
die haltlosen Ansichten der agrarischen Kreise über das Treiben 
an der Börse geklärt würden. 

Was die Befugnisse der landwirtschaftlichen Vertreter anbelangt, 
so können dieselben an den Beratungen des Vorstandes der Pro- 
duktenbörse teilnehmen, und zwar nur in Angelegenheiten des Han- 
dels mit landwirtschaftlichen Produkten und Nebenprodukten. Außer- 
dem sind bei der Preisfeststellung für landwirtschaftliche Produkte 
meist 2 Vertreter der Landwirtschaft, der landwirtschaftlichen Neben- 
gewerbe oder anderen Berufsstände im Börsenvorstand zur Mitwir- 
kung heranzuziehen. Die Leitung der Preisfeststellung liegt jedoch 
immer in den Händen eines der dazu bestimmten kaufmännischen 
Mitglieder des Börsenvorstandes, deren Namen von Anfang bis Schluß 
des Monats durch öffentlichen Aushang an der Produktenbörse be- 
kannt gemacht sind. Da bei Meinungsverschiedenheiten unter den 
mitwirkenden Vorstandsmitgliedern die Mehrheit entscheidet, so haben 
es die Landwirte nicht in der Hand, nach ihrem Willen einen Preis 


1) Vergl. Wermert a. a. O., S. 64. 


42 H. Ruesch, 


durchzusetzen, Angebot und Nachfrage sind nach wie vor allein 
maßgegend. 

Wie sehr überhaupt die ganze Beteiligung der Landwirtschaft 
an der Preisnotierung illusorisch sein sollte, sieht man schon daraus, 
daß in den ersten 2 Monaten, April und Mai, zwar einer der beiden 
designierten Vertreter der Landwirtschaft erschienen ist und sich 
dafür interessiert hat, wie die Kurse gemacht werden, aber dann 
von Juni ab erschien auf lange Zeit hinaus kein einziger Landwirt 
mehr, und trotz wiederholter Aufforderung der Börsenverwaltung an 
die betreffenden Herren ist keiner mehr zum Kursmachen gekommen ; 
schließlich hat das Oberpräsidium das letzte Mittel versucht, die 
Herren aufzufordern, aber ohne Erfolg‘). 

Auch heute hat man meistens nur mit dem Erscheinen eines 
einzigen Landwirtes zu rechnen. Die Landwirte hätten nun in den 
5 Jahren Erfahrungen genug sammeln und ihre Beschwerden vor- 
bringen können, sie haben aber nie Anlaß genommen, ihre Ansichten 
zu äußern nnd etwas zu tadeln. 

Auch die praktisch unbrauchbaren $$ 29a bis f der Börsen- 
ordnung über die Spezialisierung bei den Notierungen wurden in 
den erwähnten Konferenzen beseitigt, und $ 29a und b (§ 35 und 
36 der jetzigen Börsenordnung) erhielten folgende Fassung: 

$ 29a (35). In den zur Veröffentlichung gelangenden amt- 
lichen Preisnotierungen sind die bei den verschiedenen Getreide- 
gattungen (Weizen, Roggen u. a. m.) nach der Lage des Geschäfts- 
verkehrs an der Börse hauptsächlich in Betracht kommenden Sorten 
mit Unterscheidung nach inländisch und ausländisch, nach Qualitäts- 
gewicht, nach Beschaffenheit in Farbe, Geruch und Trockenheit, 
nach alter und neuer Ernte zu bezeichnen, soweit diese Unter- 
scheidungsmerkmale festzustellen sind. 

$ 29b (36). Für jede einzelne der gemäß $ 35 zur Notierung 
gelangenden Getreidesorten sind die dafür wirklich gezahlten Preise 
zu notieren, soweit dies festzustellen ist. 

Insoweit sich diese Notierungen auf Abschlüsse über besonders 
geringe Qualitäten beziehen oder sonst besondere Verhältnisse vor- 
liegen, ist dies bei der Notierung kenntlich zu machen. 

Die in $ 29a aufgestellten Merkmale kommen natürlich nur 
bei den Lokopreisen und daher besonders in den Notierungen des 
Frühmarktes zur Geltung. An der Börse selbst handelt es sich 
mehr um Lieferungsgeschäfte, und da ist es nun nicht gelungen, 
den Lieferungshandel in genereller Ware zu vernichten, wie es von 
den Agrariern durch die eingehende Spezialisierung erstrebt wurde. 

In dem neuen Schlußschein, der aus den Verhandlungen hervor- 
gegangen ist, bleibt die typische Qualität, wie sie auch früher ge- 
handelt wurde. Lieferbar ist nur Weizen, gesund, trocken und für 
Müllereizwecke gut verwendbar, mit einem Normalgewicht von 755 g 
per Liter. Ausgeschlossen von der Lieferung sind: Rauhweizen, 


1) Sachverst.-Protok. d. Oester. Enq., I, S. 233 (Experte von Weiß). 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 43 


Kubanka und andere ausländische Hart- (Gries-) Weizen, ferner künst- 
liche Mischungen von weißem und rotem (gelbem) Weizen. Der 
Andienung unkontraktlicher Ware ist dadurch vorgebeugt, daß jeder 
Posten frühestens am Tage vor der Andienung von 3 Sachverstän- 
digen zu begutachten ist und bei Lieferbarkeit eine Beutelprobe von 
mindestens 2 kg im Wägeramt zu hinterlegen ist. 

Diese Besichtigung vor der Andienung ist einer der wichtigsten 
Punkte, denn hierdurch ist den meisten der früheren Angriffe die 
Spitze abgebrochent), zumal der Käufer auch noch bei 2 M. Mehr- 
oder Minderwert zur Annahme verpflichtet ist und daher die effek- 
tive Erfüllung der Geschäfte eine bedeutende Erleichterung erfahren 
hat. Im allgemeinen ist die Qualitätsfrage so zur Zufriedenheit 
aller Beteiligten gelöst; da nur für Müllereizwecke gut verwendbarer 
Weizen oder Roggen geliefert werden darf, sind auch die Klagen 
der Konsumenten über unbrauchbare Ware verstummt. 

In einem Einfuhrgebiet wie Deutschland, zumal mit seinem 
eigenen Sortenreichtum, läßt sich überhaupt eine derartige Qualitäts- 
bezeichnung nicht durchführen, wie etwa in den Vereinigten Staaten, 
wo das Termingeschäft zugleich auf dem generellen Charakter der 
Ware schon an und für sich beruht und sich als organischer Be- 
standteil des Ganzen darstellt. Wir müssen uns mit einem Mindest- 
gewicht und dem Ausschluß bestimmter Provenienzen begnügen ?), 
um eine für den Lieferungshandel genügende Menge von gleich- 
mäßiger Ware zur Verfügung zu habeu. Für gute Ware wird sich 
immer eine höhere Bewertung erzielen lassen, die Bedingungen für 
den Berliner Lieferungshandel sind nun aber schon so hoch be- 
messen, daß die inländische Ware sogar oft den Anforderungen nicht 
mehr entspricht, von der gefürchteten „Berliner Lieferungsqualität“ 
kann heute schlechterdings nicht mehr geredet werden. 

Auch das Verlangen, die Lieferungsqualität nach den durch- 
schnittlichen Ergebnissen der heimischen Ernte von Zeit zu Zeit 
festzustellen 3), würde schon an der oben erwähnten Mannigfaltigkeit 
der Sorten scheitern und kann einer gedeihlichen Entwickelung des 
Lieferungshandels nur hinderlich sein. Natürlich darf die Qualität 
desselben nicht dauernd im Widerspruch mit den Ergebnissen der 
im Inland geernteten Sorten stehen. Eine solche Klage ist aber, 
wie schon oben gesagt, heute nicht möglich. 

Als Schluß, d. h. Mindestquantum bei jedem Abschluß, gelten 
auch heute nach altem Herkommen noch 50 t, wenn auch im Schluß- 
schein nur 30 t verlangt werden. 

Die Lieferungsfrist ist die einmonatliche geblieben. Als Haupt- 
termine sind September, Oktober, Dezember und Mai, Juli zu 


1) Der Direktor des Verbandes deutscher Müller, van den Wyngaerdt, sagt in 
einem Bericht über die Lieferbarkeit anzukündigenden Getreides (Stat. Anl. der BEK. 
8. 349): „Die Vorprüfung ist die Gesundung der Börse.“ 

2) Wiedenfeld, „Wesen und Wert der Zentralproduktenbörsen‘“, in Schmollers 
Jahrbuch, Bd. 27, S. 165. 

3) Bericht der BEK. S. 120. 


44 H. Ruesch, 


nennen. Im September und Oktober kommen die Erzeugnisse der 
heimischen Ernte zuerst in erheblichem Umfang auf den Markt, im 
Dezember tritt im allgemeinen der Schluß der Schiffahrt ein, während 
Anfang Mai die ersten großen Zufuhren aus dem Ausland eintreffen, 
und der Julitermin ist insofern von großer Bedeutung, als vor der 
Ernte bei den erschöpften Beständen ein größerer Bedarf vorhanden 
zu sein pflegt. 

Im Andienungsschreiben, dem die Bescheinigung der Sach- 
verständigen beigefügt sein muß, ist bei Lieferung vom Kahn anzu- 
geben: 1) das Datum, 2) der Name des Schiffers, die Nummer des 
Kahns und der Ort der Abladung, 3) der Standort des Kahns und 
bei Lieferung vom Boden 1) das Datum, 2) die genaue Bezeichnung 
der Partie nach Lagerraum und Menge. j 

Ergibt sich bei der Abnahme eines überwiesenen Postens ein 
Fehlgewicht, das nicht über 5 Proz. betragen darf, so wird das- 
selbe zum Preise des Abnahmetages bezw., falls die Abnahme nach 
Ablauf der vertragsmäßigen 6 Tage erfolgt, zum Preise des letzten 
Tages der vertragsmäßigen Abnahmefrist berechnet. 

Die Andienung liegt in Wahl des Verkäufers und muß dem 
Käufer an einem Werktage bis 12 Uhr mittags zugestellt werden. 
Dieser sogenannte Dispositionsschein kann Dritten überwiesen 
werden, die Umlaufszeit endigt am Tage der Ausstellung nachmittags 
6 Uhr. 

Während nun vor dem Börsengesetz durch das Kündigungsamt 
im Scontrationsverfahren die Erfüllung aus Termingeschäften wesent- 
lich erleichtert war, hatte man dies Verfahren als Börseneinrichtung 
aufgeben müssen. Hieraus konnten große Schwierigkeiten für die 
glatte Erledigung der Geschäfte entstehen. Die Folge war, daß im 
Feenpalast und später im Kontorhaus eine Person, die früher im 
Kündigungsbureau der Produktenbörse angestellt war, die Abwicke- 
lung der Geschäfte auf private Rechnung übernahm und den einzelnen 
Firmen ihre Dienste anbot). Damit war wieder eine gewisse Zen- 
tralisation des Kündigungswesens erreicht und doch die Form des 
Börsenbrauchs vermieden, denn es war eine rein private Tätigkeit 
eines unabhängigen Kaufmanns. 

Derselbe setzte nun auch an der wiederhergestellten Produkten- 
börse die Abwickelung der Geschäfte als eine Art Kündigungs- 
kommissar fort. In der Arbeit von Goldenbaum war diese Tätig- 
keit des näheren mit ihren Vorteilen für den Handel geschildert ?), 
doch dies sollte das Ende der erleichternden Form bedeuten °’). 

Am 17. Dezember 1900 fragte der Oberpräsident bei den 
Aeltesten an, ob an der Produktenbörse ein Kündigungskommissar 
zur Abwickelung einer größeren Zahl von Geschäften benutzt werde, 
im bejahenden Falle wäre die Börsenaufsicht auf diese als Kün- 


1) Goldenbaum, Bd. 1, 8. 249. 
2) Derselbe S. 242 ff. 
3) Vergl. Korrespordenz der Aeltesten 1901, No. 10. 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 45 


digungsbureau anzusehende Tätigkeit auszudehnen. Die, Aeltesten 
antworteten dann unter dem 17. Januar 1901, daß der sogenannte 
Kündigungskommissar lediglich private Botendienste versehe, so daß 
eine Ausdehnung der Börsenaufsicht auf denselben unstatthaft wäre. 
Der Oberpräsident war aber anderer Ansicht und forderte die 
Aeltesten auf, gemäß § 1 Abs. 3 des Börsengesetzes ihre Aufsicht 
auf die Tätigkeit des Kündigungskommissars auszudehnen. Dieser 
lehnte es jedoch ab, als unabhängiger Kaufmann seine Firma unter 
Aufsicht zu stellen und gab daher seine Tätigkeit auf, so daß jetzt 
wieder die schwerfällige Kündigung von Bureau zu Bureau statt- 
findet, indem A dem B, B dem C, C dem D kündigt, bis endlich 
derjenige Kontrahent gefunden wird, der die Ware tatsächlich über- 
nimmt. Da auch die Zahl der abgeschlossenen Geschäfte und der 
Kreis der Personen kein allzugroßer mehr ist, so läßt sich das An- 
dienungsverfahren auf diese primitive Weise schließlich ohne große 
Schwierigkeiten bewerkstelligen. 

Wesentlich an dem Schlußschein ist dann noch, daß für den 
Verzug die Bestimmungen der §§ 325.und 326 BGB. und 373 HGB. 
über das handelsrechtliche Lieferungsgeschäft in Anwendung kommen 
und zwar mit der Maßnahme, daß der Nichtsäumige dem Säumigen 
zur Bewirkung der Leistung unter allen Umständen eine ange- 
messene Frist gemäß $ 326 BGB. Abs. 1 gewähren muß, womit dem 
Einwand des Vorliegens von Fixgeschäften ein für allemal begegnet 
ist. Natürlich bedeutet dies für den Handelsverkehr .eine große 
Erschwerung, besonders das Rüchtrittsrecht des § 325 BGB. könnte 
zu den größten Unzuträglichkeiten führen. Die Solidarität und Ge- 
samkeit der Interessen hat dann dazu geführt, daß keiner wagen 
kann, von seinen einmal eingegangenen Verpflichtungen zurück- 
zutreten, er würde sich dadurch ehrlos machen und müßte seine 
Tätigkeit einfach einstellen, da niemand noch mit ihm Geschäfte ab- 
schließen würde. Auch Nachfrist wird nur in wirklich unver- 
schuldeten Fällen gefordert, unberechtigte Ansprüche kommen nicht 
vor. Der Kaufmann ist an Pünktlichkeit gewöhnt und kann sich 
nicht auf unbegrenzte Lieferungsfristen einlassen, jede Kalkulation 
würde sonst unmöglich gemacht. 

Die langen Kämpfe haben eben die verschiedensten Inter- 
essenten fester denn je zusammengeschmiedet, und die unlauteren 
Elemente haben bald weichen müssen. Man kann sagen, daß heute 
der Grundsatz strengster Pflichterfüllung im handelsrechtlichen Liefe- 
rungsgeschäft herrscht, und unmoralische Handlungen würden einen 
Händler einfach unmöglich machen, was um so bewundernswürdiger 
ist, als sich der kaufmännische Stand mehr als jeder andere Beruf 
aus den verschiedensten Gesellschaftsklassen zusammensetzt. 

Schließlich konnte man auch sonst mit dem vorläufigen Resultat 
zufrieden sein. Der Lieferungshandel in typischer Ware war, wenn 
auch unter sehr schwerfälligen Formen, gerettet und somit die Mög- 
lichkeit einer Risikoversicherung geblieben. Man konnte wieder das 
Börsenlokal beziehen und hatte wenigstens die Regierung klar über- 


46 H. Ruesch, 


zeugt, daß volkswirtschaftlich eine kräftige Produktenbörse nicht zu 
entbehren sei. Andererseits hatten die Agrarier von ihren extremen 
Forderungen fast nichts erreicht. Die Produktenbörse blieb nach 
wie vor mit der Fondsbörse eng verbunden und erhielt nicht die 
vom Bund der Landwirte gewünschte selbständige Organisation. Der 
Einfluß der Landwirte im Börsenvorstand mußte schon bei der 
kleinen Vertreterzahl äußerst gering bleiben, und so war auch keine 
Rede davon, daß die Landwirte in jeder Verwaltungsinstanz den 
gleichen Einfluß wie der Handel erlangten, was sie gerne erreicht 
hätten. Die Börse blieb nach wie vor eine Spezialeinrichtung der 
Kaufmannschaft. Auch alle anderen, den Handel beschränkenden 
Forderungen wie Deklarationszwang, Aufstellung von Qualitätstypen 
und Nachweis des Charakters von Effektivgeschäften gelangten nicht 
zur Erfüllung. Schließlich ist es vor allen Dingen den Agrariern 
nicht gelungen, den Getreideimport zu hemmen und Deutschland 
vom Weltmarkt abzusperren. Auch heute noch gelingt es dem 
Handel, das in Deutschland vorhandene Defizit an Brotgetreide zu 
Weltmarktpreisen herbeizuschaffen. Erreicht ist nur eine Erschwerung 
der Handelstätigkeit, die aber den Landwirten sicher keinen Vorteil 
gebracht, wenn nicht sogar direkten Schaden zugefügt hat. 


IV. Die Rechtsprechung des Beichsgerichts. 


Aus der ganzen Technik des handelsrechtlichen Lieferungs- 
geschäfts, wie es heute an der Produktenbörse geübt wird, und be- 
sonders aus dem Zweck, den dasselbe zu erfüllen sucht, geht un- 
zweifelhaft hervor, daß wirtschaftlich kein wesentlicher Unterschied 
mit den früheren Termingeschäften besteht, wie auch allgemein von 
Sachkennern zugegeben wird. Der jetzt geltende Schlußschein legt 
keine individuellen Warenposten zu Grunde, sondern nach generellen 
Merkmalen gekennzeichnetes Getreide, alle Geschäfte werden uach 
derselben Schablone abgeschlossen, und so ist die Möglichkeit ge- 
blieben, seine Verpflichtungen zu erfüllen, ohne daß jeder Käufer 
die Unkosten des effektiven Empfangs der Ware zu tragen braucht. 

Freilich ist die ganze Form schwerfälliger wie früher, es fehlt 
die schnelle Form der Abwickelung durch ein mechanisches Kündi- 
gungsverfahren, beim Verzug ist eine schnelle Erledigung durch 
Selbsthilfekauf oder -verkauf nicht gewährleistet, aber was das Wesent- 
liche ist, es bleibt der breite Markt, für die Lieferungsqualität kann 
jederzeit ein Käufer und Verkäufer gefunden werden. 

Juristisch dürfte allerdings eine Identifizierung mit dem ver- 
botenen Terminhandel wohl kaum möglich sein. Das jetzt geübte 
handelsrechtliche Lieferungsgeschäft ist weder Fixgeschäft, noch sind 
seine Bedingungen vom Börsenvorstand festgesetzt, vielmehr ist es 
hervorgegangen aus der freien Vereinbarung von Regierung, Land- 
wirten und Händlern. Auch die für Börsentermingeschäfte üblichen 
Formen, wie Kündigungsbureau und Schiedsgericht, sind vermieden, 
so daß es wohl kaum möglich ist, diese Geschäftsform unter den 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 47 


Begriff des verbotenen Börsenterminhandels zu subsumieren. So 
könnte man denn annehmen, das handelsrechtliche Lieferungsgeschäft 
vermöchte unter den gegebenen Verhältnissen sehr gut die Bedürf- 
nisse des Handels zu befriedigen, und dem wäre auch so, wenn nicht 
die rechtliche Unsicherheit den Lieferungshandel so gut wie lahm 
legte. Auf Grund der neuen Formen hat sich an der Berliner Börse 
ein Geschäftsverkehr entwickelt, an dem weder Regierung, Landwirte 
noch Müllerei etwas auszusetzen haben. Die vielen früher beklagten 
Mißstände sind teils durch die Bestimmungen des neuen Schluß- 
scheins, teils durch die Einschränkung der Teilnehmerzahl auf die 
beteiligten Kreise beseitigt, und der Verkehr bewegt sich auf durch- 
aus solider Basis. Da muß man es um so mehr bedauern, daß 
den handelsrechtlichen Lieferungsgeschäften in Getreide und Mühlen- 
fabrikaten nach dem Stand der heutigen Rechtsprechung des Reichs- 
gerichts fast jede rechtliche Grundlage genommen ist. 

Es kommen hier besonders die Entscheidungen vom 12. Oktober 
1898, 28. Oktober 1899 und 1. Dezember 1900 in Betracht!). In 
allen drei Fällen handelte es sich allerdings nicht um Geschäfte der 
Produktenbörse, aber aus der Begründung der Urteile läßt sich leicht 
schließen, welch einem Schicksal der Lieferungshandel an der Ber- 
liner Produktenbörse ausgesetzt wäre, wenn sich das Reichsgericht 
mit einem derartigen Fall zu befassen hätte. 

Das Reichsgericht geht von dem Gedanken aus, von Anfang an 
sei das Bestreben der beteiligten Kreise gewesen, das Gesetz illu- 
sorisch zu machen. Es komme aber nicht auf die Terminologie des 
Gesetzes an, sondern auf den wirtschaftlichen Charakter der Ge- 
schäfte. Man habe an die Stelle des der bisherigen Uebung ent- 
sprechenden Tatbestandes einen anderen gesetzt, mit welchem man 
im übrigen dasselbe erreichte, und hier habe nun der Richter den 
Willen des Gesetzes zum Ausdruck zu bringen und jede Umgehung 
zu vereiteln. 

Das ist ja auch im großen und ganzen richtig, daß der Richter, 
besonders bei den sozialpolitischen Gesetzen, aus dem Geist des 
Gesetzes zu ermitteln und dieses so auszulegen hat. daß der Zweck 
erreicht werde °). Nun hatte aber hier der Gesetzgeber mit unzwei- 
deutiger Sicherheit den Begriff „Börsentermingeschäft“ fest umgrenzt, 
und aus der ganzen Geschichte des Börsengesetzes geht unzweifel- 
haft hervor, daß man keineswegs alle Lieferungsgeschäfte auf Zeit 
treffen wollte, sondern nur die genau umschriebenen des $ 48 Börsen- 
gesetz. 

Es darf doch nicht dahin kommen, daß der Richter an die 
Stelle des Gesetzgebers tritt, indem er die Gesetze so auslegt, wie 
er am besten den Zweck zu erreichen glaubt, ohne sich um den 
Wortlaut zu kümmern. Dann brauchte man heute keine Gesetze 
mehr zu machen, sondern könnte einfach einen Grundsatz aufstellen, 

1) Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen, Bd. 42, 44, 47. 

2) Freund in der Deutschen Juristenzeitung, Jahrg. 1900, No. 23. 


48 H. Ruesch, 


den der Richter dann zu verwirklichen hätte. So haben sich auch 
angesehene Juristen!) wie Riesser, Laband, Staub, Keyßner u.a. m. 
mit Recht entschieden gegen diese Auffassung des Reichsgerichts 
gewandt. 

Von ganz besonderer Bedeutung für unsere Materie war die 
letzte der drei Entscheidungen vom 1. Dezember 1900, da es sich hier 
um ein verbotenes Termingeschäft und zwar in Bergwerksanteilen 
handelte. Es wird hier nämlich ausgesprochen, daß der Zweck des 
Gesetzes, die Spekulation zu unterdrücken, unerfüllt bleiben müsse, 
wenn nicht die durch $ 50 Börsengesetz untersagten Geschäfte ge- 
mäß § 134 BGB. für nichtig erklärt würden und deshalb keine 
Verbindlichkeit erzeugten. Es kann aber hier als feststehend be- 
trachtet werden, daß der Gesetzgeber eine solche Absicht nicht hatte, 
sondern nur die Folgen des $ 51 BG. eintreten lassen wollte. Auf 
einen Antrag Graf Arnim und Genossen: Auf Grund des Börsen- 
gesetzes verbotene, im Auslande geschlossene börsenmäßige Termin- 
geschäfte für unklagbar und unvollstreeckbar zu erklären, äußerte 
sich nämlich der Vertreter des Bundesrats, Reichsbankpräsident 
Dr. Koch am 6. Juni 18962): „Der Entwurf bestimmt... ... die 
Wirkungen der von ihm vorgesehenen objektiven Verbote in § 51 
meiner Ansicht nach erschöpfend“, und weiter: „Die vorliegenden 
Verbote beruhen darauf, daß aus wirtschaftlichen Gründen die deut- 
schen Börseneinrichtungen sich den verbotenen Termingeschäften zu 
versagen haben. Damit ist alles Nötige erreicht.“ 

Der Reichstag hat es denn auch so belassen und keinen weiter- 
gehenden Beschluß gefaßt. Es ist unerfindlich, wie das Reichs- 
gericht zu der Anwendung des § 134 BGB. schreiten konnte, 
nach dem verbotene Gesetze nichtig sind, wenn sich nicht aus dem 
Gesetz etwas anderes ergibt. Aus dem $ 51 Börsengesetz wie aus 
der Absicht des Gesetzgebers ergibt sich aber, daß nur die Folgen 
des $ 51 gewollt waren, was zudem auch ganz klar dem Wortlaut 
des Gesetzes entspricht. Die Folgen des $ 134 konnte der Gesetz- 
geber überhaupt noch gar nicht im Auge haben, da das BGB. erst 
drei Jahre nach dem Börsengesetz in Kraft getreten ist; wenn sich 
eben Lücken im Gesetz befinden, so muß man an eine Revision des- 
selben treten, um klar zu zeigen, was der Gesetzgeber will. So ist 
jedenfalls aus dem Gesetz nicht zu ersehen, daß die verbotenen 
Termingeschäfte rechtsunwirksam sein sollen. 

Ebenso sehr interessiert die Frage, was das Reichsgericht unter 
börsenmäßigem Terminhandel im Sinne des § 51 Abs. 3 versteht. 
Schon im Urteil von 1599 war an eine Definition der fraglichen 
Geschäfte gedacht, indem gesagt wurde, daß im Gegensatz zum ge- 
wöhnlichen Fixgeschäft die Geschäfte im börsenmäßigen Termin- 


1) Riesser, Die handlungsrechtlichen Lieferungsgeschäfte. Berlin 1900. 

Laband und Staub in No. 6 der Deutschen Juristenzeitung vom 15. März 1904. 
Staub ebenda, Jahrg. 5, No. 15. 

Keißner in Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht, N. F., Bd. 34. 

2) Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, 4. Session, Bd. 4, S. 2449. 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 49 


handel einen allgemeinen, schablonenhaften Charakter dadurch er- 
halten hätten, daß sie nach vorher an der Börse für alle Geschäfte 
dieser Art festgesetzten gemeinsamen Bedingungen, auf dieselbe fest 
bestimmte Zeit über feste Mengeneinheiten geschlossen, und daß für 
sie an der Börse fortdauernd Terminpreise amtlich festgestellt und 
veröffentlicht würden. „Auf dieser Gleichartigkeit aller Geschäfte“, 
heißt es dann weiter, „nach Menge, Termin, Terminpreis beruht die 
Möglichkeit der Deckung jedes Kontrahenten durch Gegengeschäft, 
der Lösung durch bloße Differenzzahlung, die Möglichkeit der Be- 
teiligung weiter Kreise an den Geschäften ohne den Besitz von 
Mitteln zur Effektiverfüllung, die stets umgangen werden kann, die 
Möglichkeit der Benutzung dieser Geschäfte zu einfachen Differenz- 
und Spielgeschäften.“* 

In der Entscheidung vom 1. Dezember 1900 heißt es dagegen: 
„Wesentlich ist nur, daß das Geschäft zu einem festen Termin ohne 
Rücksicht auf besondere persönliche Bedürfnisse der Parteien, also 
mit typischem Inhalt geschlossen wird und zu einem Preise, der sich 
an der Börse infolge des Zusammentreffens und Zusammenwirkens 
der Börsenbesucher ergibt. Wie dagegen dieser Preis festgestellt, 
und ob das Geschäft genau an der Börse selbst geschlossen wird, 
ist wiederum unerheblich.“ Man sieht, feste Mengeneinheiten sind 
nach dem letzten Urteil nicht mehr erforderlich, und so ist es durchaus 
nicht ausgeschlossen, daß der feste Termin auch nicht mehr nötig 
ist. Heißt es doch schon im Urteil von 1899, daß der Fixcharakter 
für die börsenmäßigen Termingeschäfte im weiteren Sinne unwesent- 
lich sei, und wurde ein handelsrechtliches Lieferungsgeschäft mit 
2 Tagen Nachfrist als ein Börsentermingeschäft nach $ 48 ange- 
sehen, d. h. als ein Geschäft „auf eine festbestimmte Lieferungszeit 
oder eine festbestimmte Lieferungsfrist“. 

Da ist es denn kein Wunder, wenn die Getreidehändler sich 
bisher gescheut haben, eine Sache beim Reichsgericht durchzufechten ; 
sie könnten die ganze augenblicklich geübte Technik des handels- 
rechtlichen Lieferungsgeschäfts in Frage stellen; denn fiele die Ent- 
scheidung zu ihren Ungunsten aus, so würde damit das handels- 
rechtliche Lieferungsgeschäft als börsenmäßiger Terminhandel von 
der Börse gemäß $ 51 Abs. 3 ausgeschlossen, und der Handel will 
sich vor eine solche Alternative nicht stellen, solange er das Be- 
mühen der Regierung sieht, ihm auf gesetzgeberischem Wege den 
rechtlichen Schutz wiederzuverschaffen, auf den jeder Stand im 
Staat gleichmäßigen Anspruch hat. 

Jedenfalls ist es nach der bisherigen Judikatur nicht ganz un- 
wahrscheinlich, daß das Reichsgericht in dem handelsrechtlichen 
Lieferungsgeschäft der Produktenbörse eine Umgehung des Gesetzes 
erblickt, wenn es auch juristisch unter die bisherigen Entscheidungen 
nicht fallen würde. 

Das Reichsgericht geht eben von der Auffassung aus, der Gesetz- 
geber habe auf jeden Fall die Spekulation unterdrücken wollen. 
Sind die gesetzlichen Bestimmungen hierzu mangelhaft, so hat der 

Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII). 4 


50 H. Ruesch, 


Richter das Gesetz zu ergänzen, indem er das, was der Gesetzgeber 
verboten haben würde, wenn er es gewußt hätte, selbst verbietet. 
So ist besonders nach dem Urteil vom 1. Dezember 1900 ein recht 
unerquicklicher Rechtszustand eingetreten. Unter Zustimmung der 
Regierung und selbst der agrarischen Vertreter entwickelt sich an 
der Berliner Börse auf Grund des neuen Schlußscheins ein durch- 
aus reeller Geschäftsverkehr ohne die früheren Auswüchse, und doch 
entbehren alle diese Geschäfte des rechtlichen Schutzes, auf den der 
Handel ganz sicher glaubte rechnen zu können, nachdem er bei 
der Verständigung auf die Wünsche der Regierung und der Pro- 
duzenten bereitwilligst eingegangen war. 

Neben dem Differenzeinwand aus $ 764 BGB. ist der Getreide- 
händler jetzt noch dem Einwand der Nichtigkeit der Geschäfte aus- 
gesetzt. Ein Schuldverhältnis wird durch ein solches Geschäft nicht 
begründet, bestellte Sicherheiten können zurückgefordert, ja sogar 
das endgültig Geleistete kann noch auf 30 Jahre in Frage gestellt 
werden. 

Zu welchen Konsequenzen dieser Zustand führt, zeigt ein Fall, 
der in einer Eingabe des Vereins Berliner Getreide- und Produkten- 
händler an den Reichstag vom 25. März 1905 Erwähnung findet: 
„Ein Provinzhändler, der in Berlin 150 t Weizen bei seinem Kom- 
missionär zu Lager gegeben hat, läßt durch ihn diesen Weizen im 
Januar zur Ablieferung im Mai verkaufen, weil er dadurch besser 
als bei einem Loco-Verkauf fährt. Bald hiernach gerät der Auftrag- 
geber in Konkurs. Der Konkursverwalter gibt im Februar, nachdem 
eine größere Preissteigerung erfolgt ist, an die Kommissionsfirma 
den Auftrag, die auf dem Speicher liegenden 150 t Weizen loco zu 
verkaufen. Diese lehnt es mit der Begründung, daß der Weizen 
bereits zur Ablieferung im Mai gegeben sei, ab. Seitens des Kon- 
kursverwalters wird Klage erhoben; er verlangt für die Masse den 
Vorteil des gestiegenen Preises für die 150 t Lagerweizen, erhebt 
aber gleichzeitig für den gleich großen Schaden aus dem Verkauf 
des Maiweizens, den der Kommissionär geltend macht, den Einwand 
der Nichtigkeit dieses Geschäfts.“ 

Ehrlose und minderwertige Elemente werden geradezu ange- 
reizt, eingegangene Verpflichtungen auf Grund der Reichsgerichts- 
entscheidung von 1900 abzustreiten, und Treu und Glauben im 
Getreidehandel wird immer mehr untergraben, trotzdem von allen 
Seiten anerkannt wird, daß das handelsrechtliche Lieferungsgeschäft 
für den reellen Getreidehandel absolut notwendig ist. 

Und zwar steht der oben erwähnte Fall durchaus nicht verein- 
zelt da. Wiederholt sind Berliner Getreidehändler dadurch geschä- 
digt worden, daß der Einwand der Nichtigkeit von ihren Gegen- 
kontrahenten oder deren Rechtsnachfolgern mit Erfolg gerichtlich 
erhoben wurde. Vormünder oder Konkursverwalter werden ja ge- 
radezu vor einen Gewissenskonflikt gestellt und sehen sich oft im 
Interesse ihrer Klienten gezwungen, Einwände zu machen, die der 
derzeitige Kontrahent nie gemacht haben würde. Es herrscht jeden- 


Der Berliner Getreidehandel unfer dem deutschen Börsengesetz. 5 


falls augenblicklich ein Zustand, wie er gar nicht schlimmer gedacht 
werden kann, dessen besondere Wirkungen im nächsten Abschnitt 
noch ausführlicher geschildert werden sollen. Die Händler tragen 
lieber einen großen Verlust, wenn sie sich gütlich mit ihren Gegen- 
kontrahenten einigen können, als daß sie an die Gerichte gehen, 
da ihnen hier doch wenig Aussicht auf Erfolg zu hoffen bleibt. 

Nicht nur im Interesse des Handels und der ganzen Volks- 
wirtschaft, sondern auch, um sein eigenes Ansehen zu wahren, hätte 
daher der Gesetzgeber alle Veranlassung, möglichst schnell eine 
gesetzliche Aenderung eintreten zu lassen; denn es ist ein unhalt- 
barer Zustand, daß sich unter den Augen und der stillschweigenden 
Zustimmung der Regierung ein Geschäftsverkehr entwickelt, dem 
die ordentlichen Gerichte den Rechtsschutz versagen und welcher 
nach der Judikatur des höchsten Gerichtshofes als ein gesetzlich 
verbotener Terminhandel angesehen werden kann. Die Rechts- 
sprechung des Reichsgerichts ist um so gefährlicher, als sie nicht 
nur einen jeden Augenblick schwankenden, sondern unter Umständen 
sogar entgegengesetzten Standpunkt einnehmen kann. Die Autorität 
des Staates könnte in einem solchen Falle jedenfalls sehr leiden. 
Welche Wirkungen kann es schließlich auf das Rechtsbewußtsein 
im Volk ausüben, wenn offen eine Gesetzumgehung geduldet wird. 
Und schließlich muß auch das Ausland das Vertrauen zum deutschen 
Kaufmann verlieren, wenn es weiß, daß in Deutschland ein Gesetz 
besteht, welches sogar dem Kaufmann gestattet, auf Grund einer 
formalen Bestimmung sich seinen Verpflichtungen zu entziehen. 
(Kaempf in der 77. Sitzung des Reichstags 1904.) 

Will die Regierung die Konsequenzen auf sich nehmen, so mag 
sie das handelsrechtliche Lieferungsgeschäft verbieten. Erkennt sie 
aber die Notwendigkeit des Lieferungshandels an, dann muß sie 
auch für geordnete Rechtsverhältnisse Sorge tragen und an eine 
Gesetzesrevision schreiten. Es ist allerdings weniger die Regierung 
af die Volksvertretung, die sich hier der nötigen Einsicht ver- 
schließt. 


V. Heutige Bedeutung des Berliner Lieferungshandels. 


Was nun die speziellen Wirkungen des Börsengesetzes auf den 
Umfang und die Tätigkeit des Handels anbetrifft, so sind diese wohl 
mehr auf die oben geschilderte Rechtsprechung zurückzuführen, 
als auf das Terminhandelsverbot, da man ja einen Ersatz in dem 
handelsrechtlichen Lieferungsgeschäft gefunden hatte, welches unter 
verändertem Namen und in veränderter Form volkswirtschaftlich 
ganz leidlich die Funktionen des börsenmäßigen Termingeschäfts 
ausfüllen könnte, obgleich man dasselbe natürlich nur als Notbehelf 
ansehen darf. 

Wenn auch von 1897—1900 der Handel schon sehr zurückgegangen 
war und Berlin von seiner Bedeutung als Terminbörse viel einge- 

büßt hatte, so lag dies mehr an der Unübersichtlichkeit der abge- 
4* 


52 H. Ruesch, 


schlossenen Geschäfte im Feenpalast und im Kontorhaus, zumal 
Fernerstehenden durch das Aufhören der amtlichen Terminnotie- 
rungen jede Orientierung unmöglich gemacht war. Aber an der 
wiederhergestellten Produktenbörse durfte man doch an eine Wieder- 
genesung des Lieferungshandels denken. Da kam nun das Urteil 
vom 1. Dezember 1900. Die hierdurch geschaffene Rechtslage mußte 
selbstverständlich auf die Getreidebörse äußerst lähmend wirken, an 
die Stelle der ausgleichenden Tendenz über Raum und Zeit trat 
eine Geschäftsunlust, wie sie für eine Zentralbörse und somit für 
die ganze Volkswirtschaft im höchsten Maße gefährlich werden kann. 

Bei der heutigen Rechtslage muß sich jeder, der sich nicht 
großen Gefahren aussetzen will, im Lieferungshandel seinen Gegen- 
kontrahenten erst genau ansehen, ehe er mit ihm abschließt, und die 
Folge ist, daß der Kreis der am Lieferungshandel beteiligten Per- 
sonen ein immer kleinerer geworden ist, und zwar so klein, daß er 
für die Zwecke des Lieferungshandels kaum mehr ausreicht. Viele 
Firmen haben ihre Tätigkeit gänzlich eingestellt oder auch teilweise 
auf andere Gebiete übertragen). Der Verein Berliner Getreide- und 
Produktenhändler, dem die meisten der an der Produktenbörse 
tätigen Firmen angehören, hat seit dem Jahre 1897 etwa ein Viertel 
der Mitglieder verloren ?). Die Produktenbörse hat zeitweilig fast 
den Charakter eines Lokalmarktes angenommen, so sehr macht sich 
der Rückgang der Geschäfte bemerkbar. Ganz besonders fehlt auch 
die Beteiligung des Großkapitals, welches sich früher in der Form 
des Reportgeschäfts lebhaft betätigte. 

Als im Winter 1900/01 ein erheblicher Teil des angebauten 
Wintergetreides ausgewintert war, rüstete sich der Handel, das vor- 
aussichtliche Defizit aus dem Ausland herbeizuschaffen. Nun waren 
aber die Nachrichten des Königlich Preußischen Statistischen Bureaus 
über den Umfang der Auswinterung stark übertrieben, und die Folge 
war natürlich ein zu starker Import. Der Handel hatte jetzt nicht 
genügend flüssige Mittel, um seiner Aufgabe gerecht zu werden und 
die gewaltigen Getreidemassen aufzunehmen, und er wandte sich des- 
halb an das Kapital, welches sich aber durch die veränderte Geschäfts- 
lage allmählich von der Produktenbörse fortgewöhnt hatte und seine 
Mithilfe versagte. So müssen sehr oft kolossale Warenmengen ohne 
Deckungsverkäufe aufgenommen werden, und die Händler werden 
ohne ihren Willen zu Spekulanten allerersten Ranges gemacht. 

Durch diese Dezimierung der Zahl der Händler und besonders 
durch die geringe Beteiligung des Kapitals an dem Zeitgeschäft ist 
eben die Aufnahmefähigkeit des Marktes ganz bedeutend geschwächt, 
und es ist den Importeuren und großen Effektivhändlern oft ganz 
unmöglich, sich für ihre Anschaffungen an der Berliner Börse zu 
sichern. Während dieselbe früher für jedes Quantum aufnahme- und 
abgabefähig war), konnte nunmehr ein größerer Posten, wie die 

1) Aeltestenbericht, 1898, S. 58—59. 


2) Ministerialblatt der Handels- und Gewerbeverwaltung, 1901, S. 260. 
3) Emil Meyer, 1897. 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz, 53 


Ladung eines Ozeandampfers, oft gar nicht untergebracht werden, 
ohne einen erheblichen Preisdruck hervorzurufen, während anderer- 
seitsein Deckungskauf von ein paar tausend Tonnen bisweilen eine nicht 
voll in Rechnung gezogene Preissteigerung hervorzurufen vermag. 

Welche Rückwirkungen solche Unlust auf den Handel haben 
muß, ist ganz klar. So ist z. B. den Berliner Händlern das früher 
blühende Weltvermittelungsgeschäft fast gänzlich genommen. Denn da- 
zu gehörte eine starke Terminbörse, um die kleinen Konjunkturen 
rasch ausnutzen zu können. Der Kaufmann ist darauf angewiesen, 
seine Entschlüsse schnell zu fassen. Hat z. B. ein Importeur eine 
Schiffsladung Weizen unterwegs und sich an der Berliner Börse einen 
Preis von 180 M. pro 1000 kg gesichert, so kann ihm vielleicht aus 
London telegraphisch ein Preis von 182 M., auf Berlin umgerechnet, 
geboten werden. Er versucht, diese Konjunktur auszunutzen, indem 
er die Ware nach London offeriert, um sich bei Annahme der Offerte 
in Berlin für seinen Lieferungsverkauf zurückzudecken. Dazu ge- 
hört aber ein großer Markt, und der fehlt heute, Der betreffende 
Händler weiß nicht, ob er den Posten überhaupt erhalten wird und 
muß jedenfalls damit rechnen, daß dieser Deckungskauf den Preis 
erheblich erhöhen wird. So muß er das gewinnbringende Geschäft 
unterlassen, nur die kleinsten Mengen können noch gehandelt werden, 
ohne gleich den Preis unberechtigt zu drücken oder zu heben. 

Es gibt nun schon einige sehr große Firmen, die wegen der 
Schwierigkeiten, welche damit verbunden sind, eine Preissicherung 
an der Terminbörse ganz entbehren zu können glauben, und die- 
selben haben dabei, unterstützt durch einige Jahre stabilerer, ja so- 
gar steigender Preise, nicht unerhebliche Gewinne erzielt. Im all- 
gemeinen halten jedoch die soliden Firmen ein solches Verfahren 
für eine sehr gefährliche Spekulation und begnügen sich lieber mit 
einem kleineren, aber sicheren Gewinn, weshalb auch vom Verein 
Berliner Getreide- und Produktenhändler immer wieder für die Her- 
stellung geordneter Rechtsverhältnisse plaidiert wird, denn heute ist 
kein Kaufmann mehr in der Lage, einen Ueberblick über sein Ge- 
schäft und sein Vermögen zu gewinnen. 

Es ist ganz unverkennbar, daß bei der heutigen Sachlage die 
oben erwähnten 2--3 großen Firmen auch einen immer wachsenden 
Anteil des ganzen Geschäfts an sich reißen. Durch die Gesetz- 
gebung wird "hier die Konzentration ebenso begünstigt, wie eine solche 
im Bankgewerbe auf dieselbe Weise zu Tage getreten ist. Es ist sehr 
zu bezweifeln, ob diese Entwickelung denjenigen, welche das Gesetz 
als einen so großen Erfolg preisen, wirklich auf die Dauer gefallen 
wird. Für die Erzielung möglichst günstiger Preise wird wohl jeden- 
falls eine vielseitige Konkurrenz den Landwirten weit bessere Ga- 
rantien bieten, als wenn schließlich ein paar Riesenfirmen die Preise 
diktieren können. 

Da nun hier der breite Terminmarkt fehlt, so ging man viel- 
fach dazu über, an auswärtigen, besonders amerikanischen Börsen 
Deckung für die Engagements zu suchen, wenn auch bei der großen 


54 H. Ruesch, 


Entfernung die Vorteile der kleinen Schwankungen nicht so ausgenutzt 
werden können und nicht unerhebliche Kosten an Kommissions- 
spesen entstehen. Für Roggen ist diese Preissicherung außerhalb 
Berlins kaum möglich, da Berlin hierfür allein wirkliche Bedeu- 
tung hat. 

Vorsichtige Händler sind auch schon aus einem anderen Grunde 
von diesen Termindeckungen an auswärtigen Plätzen zurückgekommen. 
Es konnte nämlich vorkommen, daß sie statt der gehofften Preis- 
sicherung einen doppelten Verlust zu erleiden hatten. Nicht immer 
gehen die Preisbewegungen zur selben Zeit auf allen Weltmärkten 
Hand in Hand. Lokale Einflüsse, wie z. B. der Ausfall der heimi- 
schen Ernte, können eine Zeitlang sehr gut von anderen Börsen 
abweichende Preise hervorrufen, besonders wo man die internationale 
Arbitrage derart mit Fesseln belegt hat, wie bei uns. 

Auch Amerika mit seinen großen Terminbörsen kann sich als 
Exportland gelegentlich von den Einflüssen der anderen Welt ab- 
schließen, zumal ein verhältnismäßig hoher Zoll einen Getreideimport 
erst möglich macht, wenn die Preise dort über Weltmarktspreis plus 
Zoll gestiegen sind. Dies wird aber in einem Exportland, wie die 
Ver. Staaten es auch heute noch sind, nur in ganz außergewöhnlichen 
Fällen zutreffen. So hatten z. B. im Jahre 1904 die amerikanischen 
Börsen vom Weltmarkt völlig unabhängige Preisschwankungen; 
gegenüber 638 Mill. Bushels im Vorjahr betrug die Ernte diesmal 
nur 552 Mill. Bushels, und daher ging der Export auch ganz erheb- 
lich zurück. Die New Yorker Preise konnten damals zeitweilig so- 
gar über Berliner Notiz steigen. Die Preisentwickelung gestaltete 
sich in der in Betracht kommenden Zeit folgendermaßen: 


Berlin New York 

1904 (Mark pr. 1000 kg) 
(Juni) (173,3) (169,3) 
Juli 173,3 164,5 — 
August 178,9 + 165,2 + 
September 178,3 — 177,6 + 
Oktober 177,7 — 182,8 + 
November 176,3 — 184,7 + 
Dezember 178,5 + 182,5 — 

1905 
Januar 177,0 — 186,9 + 
Februar 176,5 — 189,5 + 
März 173,7 — 182,3 — 
April 171,9 — 163,6 — 
Mai 175,0 + 153,7 — 
Juni 173,9 — 164,0 + 


In den 12 Monaten ging also die Preisbewegung auf den beiden 
Plätzen 9mal in verschiedener Richtung. So mußten sich natürlich 
gewaltige Verluste für diejenigen ergeben, die an den amerikanischen 
Börsen Sicherung für ihre Geschäfte genommen hatten. Hatte z. B. 
ein Berliner Händler eine Schiffsladung Weizen in Argentinien ge- 
kauft und sich vielleicht an der Chicagoer oder New Yorker Börse 
einen bestimmten Preis durch einen Terminverkauf gesichert, so 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 55 


konnte es sehr leicht vorkommen, daß bis zum Tage der Ankunft 
der Berliner Preis gesunken war, während andererseits der Termin- 
preis in New York sich in steigender Richtung bewegte, so daß der be- 
treffende Händler sich nun dort mit Verlust eindecken mußte, während 
er zugleich die Ware selbst zu gesunkenen Preisen loszuschlagen ge- 
nötigt war. So ist es ganz erklärlich, daß diese Termindeckungen an den 
amerikanischen Börsen im Nachlassen begriffen sind, obgleich sogar 
amerikanische Getreidefirmen ihre Commis voyageurs hierher schicken, 
um Händler und Müller zu veranlassen, dort ihre Geschäfte zu 
machen !). Zeitweise war das dann auch in großem Umfange der Fall, 
aber die vielen erlittenen Verluste machten dem deutschen Händler 
bald klar, daß man am Markt selbst sein muß, um den ganzen Ge- 
schäftsverkehr übersehen zu können. In Amerika spielen bei der 
Spekulation oft so gewaltige Kapitalmächte mit, daß es unmöglich 
ist, von hier aus in das Getriebe des dortigen Börsenlebens hinein- 
zublicken. Nur Berlin vermag den deutschen Händlern eine wirklich 
gesunde und rechnungsmäßige Arbitrage zu bieten. 

Nicht unerwähnt darf hier noch bleiben, daß die kolossalen 
Summen, die früher den Berliner Kommissionären von Inländern und 
Ausländern für die Abwicklung der Geschäfte an Kommission gezahlt 
wurden, fortfallen und jetzt ins Ausland wandern, ohne Berücksich- 
tigung der vielen Spesen, die der deutsche Handel selbst jetzt für 
Kommission ans Ausland zu zahlen hat. 

Nun ist aber nicht nur für die Kaufleute die Gelegenheit einer 
Preissicherung von großem Vorteil, sondern in nicht geringerem 
Maße bedienen sich die Mühlenindustrie und besonders auch die 
landwirtschaftlichen Genossenschaften, wie auch einzelne Landwirte 
des Lieferungshandels, um sich gegen etwaige Verluste zu sichern. 
Die von den Landwirten so sehr gepriesenen Genossenschaften 
können ihren Geschäftsbetrieb nur dann auf eine solide kauf- 
männische Grundlage stellen, wenn sie für die von ihren Mitgliedern 
gemachten Einkäufe Sicherung an der Berliner Produktenbörse 
nehmen, und dies ist auch tatsächlich in bedeutendem Umfang der 
Fall. Es ist geradezu eine Ironie, wenn diejenigen Kreise, die als 
Politiker am heftigsten die Börse und den Terminhandel befehdeten, 
in ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit den weitgehendsten Gebrauch von 
den Vorteilen der Börseneinrichtungen machen. 

Ebenso müssen die großen Mühlen zur Aufrechterhaltung eines 
gleichmäßigen Geschäftsbetriebs Vorausverkäufe in Mehl oft auf lange 
Zeit hinaus machen und bedürfen zu diesem Zweck eines breiten 
Lieferungsmarktes, um sich dort für ihre Verkäufe zu decken. Auch 
kann sich so der Müller für längere Zeit die Ware für seinen Be- 
trieb sichern, wenn ihm die Preislage gerade angemessen erscheint. 
Es ist aber durchaus nicht notwendig, daß er nachher die Ware dort 
auch wirklich abnimmt. Vielmehr wird er sich in der Provinz oder 
im Ausland je nach Bedarf die Qualitäten suchen, die er zur Ver- 


1) W. Mancke, Die Bewertung des Weizens und Roggens, 1902. 


56 H. Ruesch, 


mahlung gerade am besten gebrauchen kann, während er jedesmal 
in der Höhe des gekauften Postens sein Lieferungsgeschäft an der 
Börse realisiert und so auf jeden Fall gegen die Preisschwankungen 
gesichert ist. Auf diese Weise können die Mühlen ihren Einkauf 
auf mehrere Wochen und Monate sachgemäß verteilen. Ein ein- 
maliger großer Ankauf auf dem Effektivmarkt würde sich gar nicht ohne 
Zahlung eines höheren Preises bewirken lassen, ungerechnet die 
Zinsverluste für das auszulegende Kapital, die Lagerspesen, die 
Kosten des Schaufelns u. s. w. 1). 

Das Unterlassen derartiger preissichernder Geschäfte würde jeden 
Händler, wie die Mühlen und Genossenschaften zu Spekulanten 
stempeln. Und doch liegt die Möglichkeit vor, daß der Richter in 
einem Geschäft, das nicht durch die Lieferung oder Abnahme der 
verkauften oder gekauften Ware ausgeglichen wird, ein Differenz- 
geschäft findet. 

Aber auch für die Provinzhändler, und somit auch schließlich 
wieder die Produzenten muß ein gesund funktionierender Lieferungs- 
handel einen ebenso großen Wert haben wie für den Importhändler 
und Müller. 

Wie sollte es überhaupt anders möglich sein, im Herbst die ge- 
waltigen Massen der heimischen Ernte ohne Preisdruck aufzunehmen, 
wenn der Handel nicht durch die Versicherungsmöglichkeit aufnahme- 
fähig bliebe! „Wenn diese Möglichkeit in der Jahreszeit, wo etwa 
die Hälfte der heimischen Produkte auf den Markt gebracht wird, 
nicht bestünde, so würde nur mehr der kapitalkräftige Spekulant in 
der Lage sein, die über den momentanen Konsumbedarf hinaus- 
gehende Erntemenge anzukaufen, und es ist selbstverständlich, daß 
diese Spekulantengruppe für die momentan nicht verwendbare Ernte- 
menge nicht den vollen Marktpreis, sondern einen erheblich geringeren 
Preis bezahlen würde, weil sie immer in Rechnung stellen müßte, 
daß sie die Gefahr eines etwaigen Preisrückgangs bis zur Absatz- 
möglichkeit tragen müßte“ ?). 

So wird z. B. bei uns in der Provinz Sachsen viel Weizen ge- 
baut, und es werden besonders im Herbst größere Posten von den 
Händlern angekauft, die dann die gekaufte Ware einlagern und zur 
Preissicherung per Lieferung nach Berlin verkaufen, da sich ge- 
wöhnlich eine Verschiffung im Winter wegen der Eisverhältnisse 
nicht mehr ermöglichen läßt. Im Warthe- und Netzedistrikt wird 
andererseits viel Roggen gebaut und im Winter in die Kähne ein- 
geladen, die dann im Frühjahr nach Eröffnung der Schiffahrt teils 
nach den Seehäfen zum Export, teils nach Berlin dirigiert werden. 

Wie sollte hier der Landwirt sein Getreide überhaupt los werden, 
wenn dem Händler die Möglichkeit genommen wird, sich am Termin- 
markt zu sichern. Mindestens würde sich der Händler eine erheb- 


1) J. Bunzel, a. a. O. S. 129. 
2) Horovitz, Die Effektivgeschäfte und börsenmäßigen Termingeschäfte an der 
Wiener Produktenbörse. Schmollers Jahrb., Bd. 27, S. 193. 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 57 


liche Risikoprämie berechnen und diese dem Landwirt bei der Preis- 
berechnung abziehen. Und zwar sind diese Provinzhändler um so 
mehr am Lieferungsgeschäft interessiert, als sich ihnen durch den 
Terminverkauf die Möglichkeit bietet, die Ware günstig zu lombar- 
dieren, da dieselbe schon zu einem festen Preise verkauft ist und 
daher nicht mehr durch einen Preissturz an Wert verlieren kann. 
So wird dann der Händler wieder kapitalkräftig und ist im stande, 
neue Posten Getreide den Produzenten zu guten Preisen abzunehmen. 
Natürlich läßt sich auch nicht bestreiten, daß die Provinzhändler 
andererseits beim Fehlen einer aufnahmefähigen Terminbörse durch 
die höhere Risikoprämie wieder erhebliche Gewinne erzielen können, 
zumal bei steigenden Konjunkturen, und daher oft Gegner einer 
kräftigen Zentralbörse sind. Diesen Provinzhändlern paßte es teil- 
weise ganz schön, als sie keine feste Berliner Notiz sahen, konnten 
sie doch so im Trüben Preise geben, wie sie ihnen gerade paßten, 
so daß man auch hier sieht, wie sehr sich die Landwirte durch eine 
Lahmlegung des Terminhandels in ihr eigenes Fleisch schnitten. 
(Fortsetzung folgt.) 


58 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 


I. 
Englands wirtschaftliche Gesetzgebung im Jahre 1905. 


Von Georg Brodnitz, Halle a. S. 


Das letzte Jahr der unionistischen Regierung hat kein großes 
Ergebnis auf gesetzgeberischem Gebiete gebracht. Der Etat hält sich 
in den bisherigen Grenzen, doch mußten die Mittel für den regelmäßigen 
Zinsendienst weiter auf 28 Mill. £ erhöht werden, während sie 1902 
erst 23 Mill. £ betragen hatten. Das Markenschutzgesetz lehnt sich 
eng an die bisherige Gesetzgebung von 1883—1889 an. 

Sozialpolitisch bedeutsam ist die Durchbrechung manchesterlicher 
Anschauungen durch die Anordnung der Arbeitslosenfürsorge, die sich 
aber in recht engen Grenzen hält und von irgend einer Lösung des 
Problems weit entfernt ist. Internationale Interessen berührt das Ein- 
wanderungsgesetz, das aber für uns nur sekundäre Bedeutung behalten 
wird, während es sich bei scharfer Handhabung den osteuropäischen 
Einwanderern unangenehm fühlbar machen kann. Sein prinzipieller 
Einfluß liegt darin, daß es ein weiterer Schritt im Umbau der engli- 
schen Wirtschaftspolitik ist und symptomatische Bedeutung auch für 
uns hat. 


I. Finanzen und Zölle. 


1) Etat für 1905/1906: Appropriation Act, 1905, 5 Edw. 7, 
ch. 17; Consolidated Fund (No. 1) Act, 1905; 5 Edw. 7, ch. 1; Consoli- 
dated Fund (No. 2) Act, 1905, 5 Edw. 7, ch. 6. 

(Siehe Tabelle auf S. 59.) 

2) Bewilligungnichtfeststehender Einnahmen. Finance 
Act, 1905, 5 Edw.”7, ch. 4; Isle of Man (Customs) Act, 1905, 5 Edw. 
7, ch. 16. 


l. Der Teezoll beträgt vom 1. Juli 1905 bis 1. Juli 1906 6 d. für das Pfund. 
Die erhöhten Zölle und Abgaben für Tabak, Bier und Spirituosen bleiben in Kraft, 
auch auf der Insel Man. 

II. Aufgehoben wird der Stempel auf Gütertransportverträge und Lieferungs- 
anweisungen (Stempelgesetz von 1891). 

III. Die Einkommensteuer für 1905 beträgt 1 sh. 

IV. Zur Einlösung der 1905 fälligen (aus Anlaß des südafrikanischen Krieges 
ausgegebenen) Schatzscheine dürfen bis 10 Mill. £ neue Schatzscheine, amortisier- 
bar in 10 Jahren, ausgegeben werden. . 

Dem Schatzamt werden für den regelmäßigen Zinsendienst jährlich 28 Mill. £ 
überwiesen. 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 59 


Ordinarium Zuschuß 
£ sj|d £ | s | d 
1903-—1904—1905. 
Nachtrag für die Flotte 1903/04 100 | 00 97 850| 15| 5 
rA für die Zivilverwaltung 1903/04 1345 |17| 4 96| 9| 4 
An für das Heer 1904/05 550000 | o| o 600 000| o| o 
a für die Zivilverwaltung 1904/05 76630 | ol o 11490| O| o 
628075 |17| 4 709437| 4| 9 
1905—1906. 
Flotte 33 389500 | o| o | 1688 687| o| o 
Heer 29 813000 | o| o | 3557 725| olo 
Heer, Werkstätten und Material 100 | o| o | 3350000 0| o 
63 202600 | o| o | 8596412| o| o 
Zivilverwaltung: 
1) Königliche Paläste, öffentliche Gebäude 2700861 | o| o 102 204| 0| o 
2) Parlament, Ministerien, Münz- und Staats- 
schuldenverwaltung, Irland 2738163 | o|o 578 722| 0| o 
3) Justizverwaltung 3860 206 | 0| o 791968 o| o 
4) Unterricht einschl. Museen 16 330337 | 0| o 28 368| o| o 
5) Auswärtiger Dienst 1927445 | ojo 164040 0| o 
6) Pensionen, Unterstützungen 816502 | 0) o 147| 0,0 
7) Besondere Ausgaben für Kommissionen, | 
Reisen, für Irland = 292359| oļo| 5 400| o| o 
28 665 873 | o| o | 1670849 olo 
Revenüenverwaltung: Zoll-, Steuer-, Post-, | 
Telegraphenverwaltung Å 19435475 | o|o 503255 0 0 
Gesamtbewilligungen | 111932023 |17| 4 11479953 4,9 


3) Beibehaltung der Landsteuern. Agricultural Rates 
Act, 1896, ete. Continuance Act, 1905, 5 Edw. 7, ch. 8. 
Das Landsteuergesetz von 1896 bleibt bis 1910 in Kraft. 


4) Bewilligung von Mitteln für öffentliche Arbeiten. 
Publie Works Loans Act, 1905; 5 Edw. 7, ch. 22. 


Es werden für England und Schottland 4 500 000 £ und für Irland 900 000 £ 
angewiesen für Bauten und Meliorationen. 


5) Vergl. unter VI. i. 


I. Handel und Gewerbe. 


1) Markenschutzgesetz. Trade Marks Act, 1905, 5 Edw. 
7, ch. 15. 


I. Marken im Sinne dieses Gesetzes sind Kennsprüche, Zeichen, Namen, 
Etikettes, Aufschriften, Unterschriften, Worte, Buchstaben und Ziffern. Waren- 
zeichen sind diejenigen Marken, die ihren Eigentümer als Verfertiger oder Händler 
der bezeichneten Waren kennzeichnen sollen. Sie werden in das Warenzeichen- 
register des Patentamts eingetragen, das zur Einsicht offen zu halten ist. Die Ein- 
tragung setzt voraus, daß das Warenzeichen enthält entweder den Namen einer 
Gesellschaft, einer Einzelperson oder Firma, oder den Namenszug des Antrag- 
stellers bezw. seines Geschäftsvorgängers, oder ein oder mehrere Worte, die frei er- 
funden sind oder wenigstens weder Qualitäts- und Quantitätsbezeichnungen noch 
geographische Namen sind. Ausnahmen kann das Handelsamt gestatten. Be- 
sondere Farbengebung ist gestattet, sonst gilt die Eintragung für alle Farben. 
Ausgeschlossen sind täuschende oder anstößige Zeichen. 


60 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


II. Der Antrag auf Eintragung muß schriftlich gestellt werden. Gegen seine 
Ablehnung besteht Berufung wahlweise an das Handelsamt oder den High Court 
in London. Wird der Antrag angenommen, so ist er zu veröffentlichen. Es kann 
dann gegen die Eintragung Einspruch erhoben werden, der vor der Register- 
behörde zu verhandeln ist (Berufung wie oben). Erfolgt kein Einspruch, so ist 
die Eintragung vorzunehmen und dem Antragsteller zu bescheinigen. 

III. Ein eingetragenes Warenzeichen kann nur mit dem Geschäft zugleich 
übertragen werden. Sind mehrere Personen Rechtsfolger, so werden sie sämtlich 
eingetragen. 

Es können Markenserien für einen Eigentümer eingetragen werden, deren 
Bestandteile sich nur in der Farbe oder in Samene- oder Zahlenangaben vonein- 
ander unterscheiden. Marken mit geringen Abweichungen können für einen 
Eigentümer als „zusammengehörige Marken“ eingetragen werden und sind dann 
nur im Zusammenhang übertragbar. 

IV. Die Eintragung gilt für 14 Jahre und kann dann stets für die gleiche 
Periode erneuert werden. Vor Ablauf der Schutzfrist ist der Eigentümer zu be- 
nachrichtigen. Erfolgt keine Erneuerung, so ist die Marke zu streichen, darf aber 
erst nach Ablauf eines Jahres für einen anderen neu eingetragen werden, es sei 
denn, daß sie innerhalb der letzten 2 Jahre nıcht benutzt worden ist. Die Löschung 
kann jederzeit auf Antrag erfolgen, wenn nachgewiesen wird, daß der Eigentümer 
sie nicht benutzen wollte, oder innerhalb der letzten 5 Jahre nicht benutzt hat. 
Die Eintragung einer Marke kann nach Ablauf von 7 Jahren nicht mehr ange- 
fochten werden, es sei denn, daß sie durch Betrug erlangt war. Die Eintragung 
einer Marke gibt dem Eigentümer das ausschließliche Benutzungerecht. Nicht 
eingetragene Marken geben dies Recht nur, wenn sie vor 1897 bereits in Gebrauch 
waren und ihre Eintragung abgelehnt worden ist. 

V. Die Ausführung des Gesetzes und die Festsetzung der Gebühren liegt dem 
Handelsamte ob. 

VI. Die Spezialregister der Meßmacherinnung in Sheffield und der Patentamts- 
abteilung in Manchester (für den Baumwollhandel) bleiben bestehen. Neueintra- 
gungen sind auch im Hauptregister in London zu verzeichnen. 

VII. Betrügerische Herbeiführung einer Eintragung wird strafrechtlich ver- 
folgt. Fälschliche Bezeichnung eines Warenzeichens als „eingetragen“ wird mit 
Geldstrafe bis zu 5 £ belegt. Besonders verboten ist die nicht autorisierte Ver- 
wendung königlicher Wappen oder ähnlicher Abzeichen für Warenzeichen. 

2) Einschränkung des Schankbetriebes in Irland. 
Licensing (Ireland) Act, 1905, 5 Edw. 7, ch. 3. 

Die bisher für einzelne Stunden des Weihnachtstages bestehenden Beschrän- 
knngen des Schankbetriebes in Irland werden auf den ganzen Tag ausgedehnt. 

3) Ergänzungsbestimmungen fürdie Wahlder Wiege- 
kontrolleure in den Kohlengruben. Coal Mines (Weighing of 
Minerals) Act, 1905, 5 Edw. G ch. 9. 

Außer dem Wiegekontrolleur (check weigher) darf ein Stellvertreter gewählt 
werden. Die Bergleute haben für sein Unterkommen, für Schreibgelegenheit und 
Gewichte zu sorgen. Von jeder Wahl ist der Grubeneigentümer oder sein Vertreter 
sogleich zu benachrichtigen. Das Wahlrecht wird auf alle Personen ausgedehnt, 
die nach dem Gewichte der Kohlen entlohnt werden. Jede Wahl ist den Berechtigten 
in geeigneter Weise vorher anzukündigen. 


III. Verkehrswesen. 


1) Einwanderungsgesetz. Aliens Act, 1905, 5. Edw. 7, ch. 13. 


I. Regulierung der Einwanderung. 

Einwanderer dürfen von Einwandererschiffen nur in Häfen gelandet werden, 
in denen sich Einwandererbeamte befinden, und nur mit deren Erlaubnis. Gegen 
Verweigerung der Erlaubnis steht dem Einwanderer und dem Schiffseigentümer 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 61 


bezw. seinem Stellvertreter Berufung an das Einwanderungsamt des betr. Hafens 
zu. Als unerwünschte Einwanderer gelten: wer nicht die nötigen Mittel hat oder 
erlangen kann, um sich und seine Angehörigen angemessen zu erhalten; wer geistes- 
paor idiotisch oder so krank ist, daß er voraussichtlich der Armenpflege zur 

st fällt oder sonst Schaden anrichten kann; wer in einem fremden Staat, mit dem 
ein Auslieferungsvertrag besteht, wegen einer nicht politischen, die Auslieferung 
rechtfertigenden Straftat verurteilt ist; gegen wen bereits früher ein Ausweisungs- 
befehl auf Grund dieses Gesetzes ergangen ist. Wegen unzureichender Mittel darf 
nicht zurückgewiesen werden: wer einwandert, um sich gegen Strafverfolgung wegen 
politischer oder religiöser Straftat oder gegen Verfolgung und Lebensgefahr aus 
religiösen Gründen zu schützen; wer in einem fremden Lande von der Einwande- 
rung zurückgewiesen wurde, sofern er unmittelbar vorher mindestens 6 Monate in 
England gelebt hat, und wer in England als Sohn eines Engländers geboren 
worden ist. 

Der Staatssekretär kann Einwandererschiffe widerruflich von diesen Vorschriften 
befreien, wenn von ihnen keine Landung unerwünschter Einwanderer (außer auf 
der Durchreise) zu erwarten steht. 

Strafbar ist, wer entgegen dem Gesetze einwandert oder Einwanderer landet. 

Das Einwanderungsamt jedes Hafens hat aus 3 Personen zu bestehen ; nähere 
Vorschrift auch bezüglich des Verfahrens erläßt der Staatssekretär. 

II. Ausweisung unerwünschter Einwanderer. 

Der Staatssekretär kann einen Ausweisungsbefehl erlassen gegen einen Ein- 
wanderer, wenn er von einem Gerichtshof zu Gefängnis verurteilt ist und dieser 
seine Ausweisung empfohlen hat, oder wenn innerhalb 12 Monaten nach der 
Einwanderung ein Gerichtshof erweist, daß er 3 Monate ohne Subsistenzmittel 
war, oder wenn er in einem fremden Staate wegen einer die Auslieferung recht- 
fertigenden nicht politischen Straftat verurteilt war, sofern er nach Erlaß dieses 
Gesetzes eingewandert ist. Die Kosten der Ausweisung kann der Staatssekretär 
übernehmen; erfolgt sie innerhalb 6 Monaten nach der Einwanderung, hat der 
Kapitän die Auslagen zu ersetzen und den Ausgewiesenen nach dem Einschiffungs- 
baten zurückzubringen. 

III. Allgemeine Bestimmungen. 

Jeder Schiffskapitän, der im Vereinigten Königreich Einwanderer landet oder 
einschifft, hat nach näherer Vorschrift den Behörden die erforderlichen Angaben 
zu machen. 

Uebertretungen des Gesetzes und falsche Angaben sind strafbar. 

Als Einwanderer gelten nur Zwischendeckspassagiere mit Ausnahme derjenigen, 
dıe das Vereinigte Königreich nur auf der Durchreise berühren. Als Einwanderer- 
schiffe gelten nur solche, die mindestens 20 Einwanderer an Bord haben. Die 
Auslegung des Gesetzes steht dem Staatssekretär zu. 

Das Gesetz tritt am 1. Januar 1906 in Kraft. 


2) Haftung der Eisenbahnen für Feuerschäden. Railway 
Fires Act, 1905, 5 Edw. 7, ch. 11. 

Die Eisenbahngesellschaften haften für Feuerschäden, die von Lokomotiven 
auf Feldern oder ın Waldungen angerichtet werden, wofern binnen 7 Tagen An- 
zeige erfolgt ist. 


3) Haftung der Reeder für Unfälle. Shipowners’ Negli- 
gence (Remedies) Act, 1905, 5 Edw. 7, ch. 10. 

Erleidet jemand in einem Hafen des Ey e Königreichs an seiner Person 
Schaden auf einem oder durch ein Schiff oder durch Nachlässigkeit des Reeders, 
Kapitäns oder der Mannschaft, so kann das Schiff, wenn es sich in einem Hafen. 
einem Fluß des Vereinigten Königreichs oder innerhalb drei Seemeilen befindet, 
von jedem Richter bis zur Sicherheitsleistung beschlagnahmt werden, wenn ihm die 
Haftung des Reeders wahrscheinlich gemacht wird und keiner der Reeder im Ver- 
einigten Königreich seinen Wohnsitz hat. 


4) Vergl. VI. 1. 


62 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


IV. Agrarpolitik. 
Vergl. oben 1, 3. x 


V. Sozialpolitik. 


1) Organisationder Arbeitslosenunterstützung. Unem- 
ployed Workmen Act, 1905, 5 Edw. 7, ch. 18. 


Auf Anordnung der Zentralbehörde (Local Government Board) sind in allen 
Distrikten Londons und allen Landgemeinden und Städten mit mehr als 50000 
Einwohnern (auf Antrag auch in Orten mit weniger als 50000, aber mehr als 
10000 Einwohnern) Notstandskommissionen einzurichten, die sich aus Mitgliedern 
der Gemeinde- und Armenverwaltung zusammensetzen. Die Kommissionen haben 
sich mit den Arbeitsverhältnissen ihres Bezirkes zu beschäftigen. Arbeitslosen, die 
ohne Verschulden keine Arbeit erlangen können und für die Armenpflege nicht 

eeignet erscheinen, sollen sie Arbeit zu verschaffen suchen. Zur Unterstützung 
er Kommissionen werden in London und den Provinzen Zentralkommissionen ge- 
bildet, die Uebersichten über den Arbeitsmarkt zu führen und den Kommissionen 
mitzuteilen haben. Die Zentralkommissionen können auch die Uebersiedelung des 
Arbeitslosen und seiner Angehörigen nach anderen Plätzen veranlassen oder ge- 
eignete Notstandsarbeiten einrichten, wozu sie auch Land erwerben dürfen. Die 
Kosten sind durch freiwillige Stiftungen und Beiträge der Kommunen, die nicht 
mehr als 1 d auf das £ steuerbaren Wertes betragen dürfen, zu decken. Unter- 
stützung unter diesem Gesetze nimmt dem Empfänger nicht das 
Stimmrecht in der Staats-, Gemeinde- und Kirchenverwaltung. 

Die Regelung des Verfahrens und alle weiteren Ausführungen liegen der 
Zentralbehörde ob. 

Das Gesetz tritt sofort in Kraft, aber nur für die Dauer von 3 Jahren. 

2) Vergl. oben II, 3. 


VI. Kolonialpolitik. 


1) Eisenbahnbau in Indien. East India Loans (Railways) 
Act, 1905, 5 Edw. 7, ch. 19. 


Der Staatssekretär für Indien wird ermächtigt, bis zu 20 Mill. £ aufzunehmen 
für Zwecke des Eisenbahnbaues in Indien durch den Staat oder durch Gesellschaften. 


Miszellen. 63 


Miszellen. 


I. 


Die Entlastung der öffentlichen Armenpflege dureh die 
Arbeiterversicherung. 
Von David Grünspecht. 


Inhaltsverzeichnis. Teil I. Einleitung. $& 1. Allgemeine Einleitung. 
$ 2. Ueber die Erhebungen des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit 
und des Reichsamts des Innern und die Frage der Zu- und Abnahme der Armenlasten. 
$ 3. Allgemeines über die Einwirkung der Arbeiterversicherung auf die öffentliche 
Armenpflege. 

Teil II. Die Einwirkung der Arbeiterversicherung auf die Armenpflege. 
$ 1. Krankenversicherung und Armenpflege. § 2. Unfallversicherung und Armenpflege. 
$ 3. Invaliditäts- und Altersversicherung und Armenpflege. 

Teil III. Schluß. Der Ausbau der bestehenden Arbeiterversicherung zum Zwecke 
weitgehenderer Entlastung der Armenpflege. 


Quellenangabe. 

Atlas und Statistik der Arbeiterversicherung des Deutschen Reiches. Berlin 1904. 

Ascher, L., Krankenfürsorge und Arbeiterversicherung. Zeitschrift für Sozial- 
wissenschaft, Berlin 1898. 

Ayers, F. W., Arbeiterversicherung und Armenpflege. (Dissertation.) Berlin 
1901/02. 

Bielefeldt, A., Die Heilbehandlung der gegen Unfall und Invalidität ver- 
sicherten Arbeiter in Deutschland. Berlin 1900. 

Ders., Der Einfluß der deutschen Arbeiterversicherung auf die Bekämpfung der 
Lungentuberkulose. Die Krankenpflege, Berlin 1901/02. 

Ders., Einfluß der deutschen Arbeiterversicherung auf die Verhütung und Be- 
kämpfung von Volkskrankheiten. Ibid., Berlin 1903/04. 

Böhmert, V., Art. in Zeitschrift des Kgl. Sächs. Stat. Bureaus. Dresden 1893. 

Ders., Das Armenwesen in 77 deutschen Städten. Dresden 1887. 

Van der Borght, Grundzüge der Sozialpolitik, II. Teil. Leipzig 1904. 

Ders., Die soziale Bedeutung der deutschen Arbeiterversicherung. Jena 1898. 

Brinkmann, C., Arbeiterversicherung und Armenpflege. Zeitschrift für Sozial- 
wissenschaft, Jg. 1, Berlin 1898. 

Bühl, Das Armenwesen. Handbuch der Hygiene. (Separatabdruck.) Jena 1904. 

Conrad, J., Grundriß der politischen Oekonomie, 4. Aufl., Teil II. Jena 1904. 

Die deutsche Arbeiterversicherung als soziale Einrichtung, 2. Aufl. Berlin 1905. 

Düttmann, Umbau der Arbeiterversicherung. Arbeiterversorgung, Berlin 1904. 
— Invaliden- und Altersversicherung, Mainz 1904/05. 

Einhauser, R., Zur Reform der deutschen Unfallversicherung. Zeitschrift für 
Sozialwissenschaft, Jg. 3, Berlin 1900. 

Ellering, Invalidenheime. Reformblatt für Arbeiterversicherung, Frankfurt a./M., 
1905. 

Farnam, H. W., The Psychologie of German Workmen Insurance. Yale Review, 
Vol. 13, New Haven 1904. 


64 Miszellen. 


Fleischer, M., Zur Frage der Witwen- und Waisenversicherung. Zeitschrift für 
Sozialwissenschaft, Jg. 6, Berlin 1903. 

Francke, E., Arbeiterversicherung im Deutschen Reiche. Soziale Praxis, Ber- 
lin 1900. 

v. Frankenberg, H., Artikel über die Erhebung des Reichsamts des Innern. 
Brauns Archiv, Berlin 1897. 

Ders., Die Versorgung der Arbeiterwitwen und -Waisen in Deutschland. Ibid., 
Berlin 1897. 

Ders., Rente und Armenunterstützung. Archiv für öffentliches Recht, Tübingen 
1901. 

Freund, R., Armenpflege und Arbeiterversicherung. Schriften des Deutschen 
Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit, Leipzig 1895. 

Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Artikel: Arbeiterversicherung (auch 
Krankenversicherung, Unfallversicherung und Invaliditäts- und Altersversicherung), 
Armenpflege ete. 

Isenbart und Spielhagen, Das Invalidenversicherungsgesetz. Berlin 1900. 

Kalender und Statistisches Jahrbuch für das Königreich Sachsen auf das Jahr 1894. 
Dresden 1893. 

Keiner, Die Entwickelung der deutschen Invalidenversicherung. (Dissertation.) 
München 1903/04. 

Klein, G. A., Die Leistungen der Arbeiterversicherung des Deutschen Reiches. 
Berlin 1900. 

Lass und Klehmet, Grundrisse der deutschen Arbeiterversicherung. Handbuch 
der Arbeiterwohlfahrt, Stuttgart 1903. _ 

Lass und Zahn, Einrichtungen und Wirkungen der deutschen Arbeiterversiche- 
rung, 3. Aufl. Berlin 1904. 

Leitfaden zur Arbeiterversicherung des Deutschen Reiches. Berlin 1900. 

Manes, A., Die Arbeiterversicherung. Leipzig 1905. 

Münsterberg, E., Die Armenkrankenpflege. Die Krankenpflege, Berlin 1901/02. 

Münsterberg, Reichserhebung über den Einfluß der Arbeiterversicherung auf 
die Armenpflege. Soziale Praxis, Jg. 6. 

Olshausen, Arbeiterversicherung und Hamburger Armenpflege. Soziale Praxis, 
9. Jg. 

Pinkus, N., Workmen’s insurance in Germany. Yale Review, Vol. 13, 1, 
New Haven 1904. 

Prinzing, Fr., Die soziale Lage der Witwe in Deutschland. Zeitschrift für 
Sozialwissenschaft, Jg. 3, Berlin 1900. 

Ders., Grundzüge und Kosten eines Gesetzes über die Fürsorge für die Witwen 
und Waisen der Arbeiter. Ibid. 

Roscher, System der Volkswirtschaft, Bd. 5. Stuttgart 1894. 

Rosin, H., Das Recht der Arbeiterversicherung, Bd. 2. Berlin 1904. 

Ders., Umschau und Vorschau auf dem Gebiete der Arbeiterversicherung. Pro- 
rektoratsrede. Freiburg 1897. 

Rumpf, Organisation und Betrieb der Heilstätten der deutschen Invaliden- 
versicherung. Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft, Bd. 5, Heft 4. 
Berlin 1905. 

Schmoller, G., Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, 2. Teil. Leip- 
zig 1904. 

r Vogt, G., Die Vorteile der Invalidenversicherung und ihr Einfluß auf die deut- 
sche Volkswirtschaft. Berlin 1905. 

Weicker, Die Volksheilstätten für Lungenkranke und ihre sozialpolitische Be- 
deutung. Invaliden- und Altersversicherung, Jg. 6, Mainz 1895/96. 

Weymann, K., Die sozialpolitische Wirkung der §§ 46 und 146 IVG. Vor- 
schläge zur Beseitigung des Erlöschens der Anwartschaft. Arbeiterversorgung, Jg. 21, 
No. 17, Berlin 1904. 

Zacher, Leitfaden zur Arbeiterversicherung des Deutschen Reiches. Berlin 1904. 

Zeller, A., Die Norddeutsche Holzberufsgenossenschaft und ihre Heilanstalt in 
Neu-Rehmsdorf. Invaliden- und Altersversicherung, Jg. 6, Mainz 1905/06. 

v. Zwiedineck-Südenhorst, O., Arbeiterschutz und Arbeiterversicherung. 
Leipzig 1905. 


Miszellen. 65 


Teil I 
i 

Die Armenverbände haben nach dem Gesetze vom 6. Juni 1870 
die Verpflichtung, alle Personen, die in ihrem Bezirke „hilfsbedürftig“ 
werden, zu unterstützen. Durch die drei sozialpolitischen Gesetze, das 
Krankenversicherungsgesetz, die Unfallversicherungsgesetze und das 
Invalidenversicherungsgesetz, die wir unter dem Namen Arbeiterver- 
sicherungsgesetze zusammenfassen, werden nun für hervorragende Gründe 
der „Hilfsbedürftigkeit“ im Wege der Versicherung Vorkehrungen ge- 
troffen. Diese sozialpolitische Gesetzgebung verfolgt ja vornehmlich 
den Zweck, die arbeitende Klasse gegen die Gefahr der Erwerbs- 
unfähigkeit zu schützen, herbeigeführt durch Alter, Unfall oder Invali- 
dität. Sie soll somit vorbeugend wirken gegen einen Zustand, in dem 
Tausende und Abertausende Angehöriger jener Volksschichten der Sorge 
der Armenpflege anheimfallen. Es müssen somit zwischen Armenpflege 
und Arbeiterversicherung Beziehungen bestehen, die zu ergründen der 
Zweck folgender Ausführungen sein soll. 

Oberflächliche Beobachter erkennen in der fast überall stetig zu- 
nehmenden Armenlast den „sicheren“ Beweis dafür, daß die Arbeiter- 
versicherung nicht ihren Zweck erreicht hat. Sie gehen bei dieser Be- 
urteilung also von der Annahme aus, Arbeiterversicherung und Armen- 
pflege seien zwei kommunizierende Gefäße, dergestalt, daß die Mittel der 
einen Institution, ein Zufluß, den sie erhält, sich zahlenmäßig ausdrück- 
bar (in einem bestimmten Verhältnisse) der anderen mitteilen müßten. 
Unzweifelbaft steht fest, daß trotz der Wirksamkeit der Arbeiterver- 
sicherung die Ausgaben für die Armenpflege in den letzten Jahrzehnten 
fast überall im Steigen begriffen sind, und es dürfte verlohnen, bei 
dieser auffallenden Tatsache etwas zu verweilen, dient sie doch gerade 
dazu, jeden entlastenden Einfluß der Arbeiterversicherung auf die öffent- 
liche Armenpflege zu negieren. 


§ 2. 

Um die Wechselwirkung von Arbeiterversicherung und Armenpflege 
kennen zu lernen, sind bereits zwei umfangreiche Erhebungen veran- 
staltet worden. Der Deutsche Verein für Armenpflege und Wohltätig- 
keit ist dieser Frage in seiner Erhebung vom Jahre 1894 näher ge- 
treten. Ihm gebührt das Verdienst, diesem Gegenstande frühzeitig - 
seine Aufmerksamkeit geschenkt und hierdurch vor allem den Anstoß 
dazu gegeben zu haben, daß das Reichsamt des Innern im Jahre 1895 
eine Enquete veranstaltete, deren Ergebnisse — vom Kaiserlichen 
Statistischen Amt bearbeitet — 1897 veröffentlicht wurden. 

Diese Erhebungen können jedoch für unser Problem keineswegs 
Befriedigendes leisten, ist doch hier, abgesehen von den Mängeln jeder 
derartigen Veranstaltung, der Verschiedenartigkeit der Zählung in 
mancherlei Beziehung der denkbar weiteste Spielraum gelassen, ein 
Umstand, der den Ueberblick erschweren, das Urteil trüben muß, Sagt 
doch das Reichsamt des Innern selbst über seine Erhebung, „daß zur 

Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII). 5 


66 Miszellen. 


Beantwortung der Frage, inwieweit die Versicherungsgesetzgebung auf 
die Armenpflege eingewirkt habe, ihr nur ein geringer Anhalt zu ent- 
nehmen sei“. Es ist somit einem Urteil, das sich nur auf jene Zahlen 
stützt, wenig Gewicht beizumessen. Ich möchte an dieser Stelle einen 
derartigen Versuch des amerikanischen Professors W. Farnam erwähnen, 
der in der von ihm redigierten Yale Review mit N. Pinkus über dieses 
Problem polemisiert. „Die offizielle Zusammenfassung der Enquete von 
1895 behaupte, so sagt — frei übersetzt — Farnam, der weitaus größte 
Teil der befragten Armenverwaltungen konstatiere, daß die Arbeiterver- 
sicherung auf die Armenpflege entlastend eingewirkt habe; jedoch zeigt 
uns eine genaue Zählung, daß von der Totalzahl der eingegangenen 
Antworten 44 Proz. eine einfache Bejahung geben u. s. w. ... Doch 
wenn wir fragen, ob eine Verminderung in der Summe der Aufwendungen 
eingetreten ist, so finden wir, daß 160 von 276, also 58 Proz., keine 
solche Abnahme feststellen können . . .“ 

Hiermit glaubt Farnam die optimistischen Anschauungen des Reichs- 
amts des Innern endgültig und schlagend aus seinen eigenen Auf- 
stellungen heraus widerlegt zu haben. Wie irreleitend eine derartige 
Beweisführung sein kann, wurde bereits einleitend hervorgehoben, sie 
geht auch — rein mathematisch betrachtet — aus der falschen Vor- 
aussetzung hervor, alle Antworten als absolut gleichwertig zu betrachten. 
Um die Resultate einer Erhebung einer mathematischen Berechnung zu 
Grunde legen zu können, müßte man zuerst jede einzelne Zahl mit einem 
Faktor versehen, der das ihr zukommende „Gewicht“ zum Ausdruck 
bringen sollte; ein Beginnen, das augentällig den Stempel des Unaus- 
führbaren in sich trägt. 

Es sollte uns zuerst die Frage interessieren, worin die erwähnte Ver- 
mehrung der Armenlasten ihren Grund hat. In den Antwortschreiben 
der bei den Erhebungen beteiligten Armenverwaltungen sind die ver- 
schiedensten Ursachen hierfür angegeben. 

Die Aufwendungen der Armenverwaltungen sind naturgemäß von 
der in den letzten Dezennien eingetretenen Teuerung der Lebensmittel 
stark beeinflußt worden. Wenngleich wir zu weit gehen würden, wenn 
wir annähmen, überall sei der Gedanke zum Siege gekommen, intolge 
dieser Preissteigerung sei eine Erhöhung der einzelnen Armenunter- 
stützung unerläßlich, so muß doch beim Budget der geschlossenen 
Armenpflege — wie im privaten Haushalte — diese Verteuerung unbe- 
dingt zum Ausdrucke kommen. In Fulda haben sich nach amtlicher 
Aufstellung in den letzten 25 Jahren die Fleischpreise durchschnittlich 
gerade um 331/, Proz. erhöht (s. Tabelle 1 S. 67). 

Dies bedeutet für die Ausgaben der dortigen Armenverwaltung um 
so mehr, als gerade die Naturalunterstützungen in ihren Etats den größten 
Rauın einnehmen. Es war zuerst in Elberfeld, wo die Armendeputation — 
in der richtigen Erwägung, daß die Armen mit den bisher gewährten 
Unterstützungen bei den veränderten Verhältnissen keineswegs mehr 
das Allernötigste bestreiten könnten — vom 1. Januar 1891 ab eine 
Erhöhung jeder Armenleistung um 17 Proz. eintreten ließ. Manche 
anderen Städte sind diesem guten Beispiele gefolgt. Oldenburgs Armen- 
verwaltung erklärt z. B. — frei zitiert — die Erhöhung der Armenunter- 


Miszellen. 67 


Tabelle 1. 
Die Fleischpreise in Fulda während der letzten 25 Jahre 
1880—1905. 
(Kilo.) 
Jans 1 rn 2 Kalbfleisch | Hammelfleisch | Schweinefleisch 
M. | Pfg. | M. | Pf. | M. | Pig. | M. | Pe. | M. | Pig. 
1830 ı | r Ih 2 1,02 = 59 = 98 I 25 
1885 1 | 22 ı | 10 — | 75 1 10 I 30 
1890 I 32 I 20 — 95 I 16 I 45 
1895 1 40 I | 24 I 16 I 20 I 30 
1900 I 32 1 10 I 20 I Io I 25 
1903 I 45 I | 20 I 40 I 25 I 45 
1905 1 65 I 45 I 40 I 35 I 55 


stützungen trete um so lieber ein, als die Arbeiterversicherung eine 
weitere Zunahme der Armenlasten verhindere; wohingegen Berlin, dessen 
Armenverwaltung für das Jahr 1891/92 eine Erhöhung der Almosen und 
Pflegegelder um insgesamt 344 730 M. hat eintreten lassen, den Zusammen- 
hang mit einer Entlastung durch die Arbeiterversicherung abstreitet. 

Sicher sind die Armenverwaltungen nur durch die Arbeiterver- 
sicherung in den Stand gesetzt worden, in freierer Bewegung die ein- 
gehenden Unterstützungsgesuche zu behandeln, „was ihnen bei der 
größten Liberalität nicht möglich gewesen wäre, hätte der Armenetat 
das Bild der Belastung geboten, das er ohne die Einwirkung der Ar- 
beiterversicherung hätte haben müssen“ !). „Ist vorher trotz Armenpflege 
viele Not nicht behoben worden, so ist der Armenpflege jetzt die Mög- 
lichkeit gegeben, intensiver zu arbeiten, die Versicherungsrenteneinkommen 
zu ergänzen und nicht mehr bloß die Hungrigen zu befriedigen, sondern 
dazu auch bessere Wohnung und Kleidung zu schaffen“ 2). 

Auch auf die Organe der Armenpflege selbst hat die Sozialgesetz- 
gebung rückgewirkt: „Das lebhafter gewordene Pflichtgefühl gegenüber 
den unbemittelten Klassen, welches zum Erlaß der sozialpolitischen Ge- 
setze führte, macht sich auch bei einem Teil der Träger der hiesigen 
Armenpflege geltend und findet seinen Ausdruck in der auskömmlicheren 
Bemessung mancher Unterstützung.“ (Armenverwaltung Wiesbaden in 
der Erhebung des „Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätig- 
keit“ 1894.) 

Die Zunahme der unehelichen Geburten wird auch vereinzelt als 
Grund für die Erhöhung der Armenlasten angeführt; jedoch die Vor- 
aussetzung trifft außer für einige Orte noch höchstens für Bayern zu, 
wo eine, wenn auch geringe, Zunahme der unehelichen Geburten im 
Berichtsdezennium zu verzeichnen war — und zwar von 13,3 Proz. auf 
14,1 Proz., während im Reiche die Zahl der unehelichen Geburten von 
9,5 Proz. auf 9 Proz. sämtlicher Geburten herabging. 

Mehr Gewicht ist dem Umstande beizumessen, daß das preußische 


1) Dr. Freund in Heft 21 der Schriften des „Deutschen Vereins für Armenpflege 
und Wohltätigkeit‘“. 
2) Zwiedineck-Südenhorst, Arbeiterschutz und Arbeiterversicherung. Leipzig 1905. 
5* 
Ə 


68 Miszellen. 


Gesetz vom 11. Juli 1891 „Abänderung des Gesetzes zur Ausführung 
des Gesetzes über den Unterstützungswohnsitz vom 8. März 1871“ die 
Landarmenverbände verpflichtet, für die Bewachung, Kur und Pflege 
der hilfsbedürftigen Geisteskranken, Idioten, Epileptiker, Taubstummen 
und Blinden, sobald sie der Anstaltspflege bedürfen, in geeigneten An- 
stalten Fürsorge zu treffen. Hiernach mußten beispielsweise in Schlesien 
1893/94 nicht weniger als 899 derartige Unterstützungsbedürftige mit 
einem Kostenaufwande von 92664 M. in Anstalten untergebracht werden. 

Am meisten wird wohl die Armenverwaltung der Städte belastet 
durch den Zuzug Arbeitsuchender. Die ländlichen Arbeiter blicken 
neidisch auf die höheren Löhne, die die Arbeiterschaft der Städte be- 
zieht; sie sind sich jedoch nicht bewußt, daß auch deren Ausgaben ent- 
sprechend höher sind. Uebereilterweise verlassen sie mit Kind und 
Kegel die ländliche Heimat, und nur zu oft bereuen sie bitter das, was 
sie getan. Sie finden, da sie sehr bescheidene Ansprüche stellen, wohl 
Arbeit, solange durch günstige Konjunkturen viel Arbeitskräfte in der 
Stadt gebraucht werden. Es tritt ein Rückschlag ein — Beschäftigungs- 
losigkeit der weniger tüchtigen, minder geübten Arbeiter ist die Folge. 
Aber die Ausgaben gehen trotz mangelnden Einkommens weiter. Die 
Armenpflege wird angerufen, sie muß eingreifen — eine schwere Belastung 
ihrer Etats ist herbeigeführt. Sehr oft aber ist Krankheit des Arbeits- 
losen oder seiner Angehörigen eine Folge der schlechteren Ernährung, 
eine Ursache dauernder Inanspruchnahme der öffentlichen Armenpflege. 

Es dürfte sogar vorkommen, daß die höheren Leistungen der Armen- 
pflege in den Städten den Zuzug begünstigen. So strömt die arme 
Rhönbevölkerung nach Fulda herein, und man kann fast mit Bestimmt- 
heit annehmen, daß, wenn sie 2 Jahre in der Stadt wohnt, den gesetz- 
lichen Unterstützungswohnsitz erworben hat, auch von diesem erlangten 
Rechte ausgiebigsten Gebrauch macht. Sie rechnet hierbei auf die ihr 
bekannte Liberalität der Armenverwaltung, die wohl hauptsächlich 
darauf beruhte, daß die Stadt nur verhältnismäßig geringe Zuschüsse 
zur Generalarmenkasse zu leisten hatte, die bis vor einigen Jahren ihre 
Ausgaben mindestens zur Hälfte aus den Zinseinkünften größerer 
Stiftungen bestritt. Das Fallen der Kurse mehrerer Wertpapiere — 
Hand in Hand mit der Verteuerung der Lebensmittel — haben nun- 
mehr darin auch Wandel geschaffen. 

Gegen die Arbeiterversicherung wird von seiten einiger Ärmenver- 
waltungen der Vorwurf erhoben, sie habe in manchen Fällen auf die 
Armenpflege belastend rückgewirkt: 

1) Der nicht versicherte Arbeiter, insbesondere die nicht versicherte 
Familie des Versicherten, erkennen den wohltätigen Einfluß sofortiger 
ärztlicher Hilfe, vor allem auch in den Fällen, in denen sie dieselbe 
früher nicht in Anspruch zu nehmen gewohnt waren. Sie verlangen 
von der Armenpflege ein rechtzeitiges Eingreifen und eine gründliche 
und geordnete Durchführung der Krankenpflege. Nicht zu vergessen 
sind hierbei diejenigen Personen, welche die Wohltaten der Versiche- 
rung genossen haben, die aber, einerlei aus welchen Gründen, aus dem 
versicherungspflichtigen Berufe und wohl immer — da ihnen Trieb und 
Mittel zur „Weiterversicherung“ fehlten — auch aus der Versicherung 


Miszellen. 69 


selbst ausgeschieden sind. Sie dürften nicht die letzten sein, die im 
Falle einer Erkrankung vor die Armenverwaltung mit dem bestimmten 
Verlangen nach Bewilligung eines Arztes und Gewährung intensiver 
Krankenpflege hintreten. Der Armenverband Colmar!) äußert hierzu 
folgendes: „Die Krankenversicherung hatte auch die an sich recht gute 
Folge, daß die Arbeiter sich mehr an die Zuziehung ärztlicher Hilfe 
bei Erkrankungen in ihrer Familie gewöhnten. Für die hierdurch er- 
wachsenden Ausgaben hatte die Armenpflege dann aufzukommen. Die 
durch die Versicherung der Häupter eingetretene Ersparnis wurde durch 
die Erweiterung des Kreises der Armenkrankenpflege somit mehr wie 
aufgewogen. Die Armenkrankenpflege mußte infolge der starken Inan- 
spruchnahme seitens der Arbeiter für ihre Familien völlig umgewandelt 
werden, eine Umwandlung, welche die Verdoppelung der diesbezüg- 
lichen Ausgaben im Gefolge hatte“. Wir dürfen wohl mit Colmar diesen 
„belastenden Einfluß der Krankenversicherung“ als eine „gute Folge“ 
der Arbeiterversicherung bezeichnen, und wir können nur wünschen, 
daß diese Erkenntnis — selbst mit noch größeren Opfern der Armen- 
verwaltungen — sich immer mehr ausbreiten möchte, zum Wohle unserer 
Arbeiterschaft und zum Segen für das Vaterland! 

2) Die höheren Leistungen der Arbeiterversicherung veranlassen 
viele, die bereits unterstützt worden sind, mehr als bisher zu verlangen, 
andere, auch um eine Unterstützung einzukommen. In der Erhebung 
des „Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit“ charakte- 
risieren zwei kleine Verbände diesen belastenden Einfluß der Arbeiter- 
versicherung, indem sie von einer Begehrlichkeit der beteiligten Kreise 
sprechen, durch welche der Druck auf die Armenverwaltung überhaupt 
und auch mehr zu gewähren, gewachsen sei. Psychologisch erklärlich 
ist es, daß die Leistungen der Arbeiterversicherung die „beteiligten 
Kreise“ veranlassen, sich auch entsprechende Unterstützungen, sei es in 
Form einer Rente der Arbeiterversicherung selbst oder als Leistung 
der Armenpflege zu verschaffen. Jedoch liegt hierin noch nicht ohne 
weiteres die Gefahr der „Mehrbelastung“ der Armenpflege; d. h. 
„Mehrbelastung“ in Bezug auf ihre Ausgaben. Eine Mehrbelastung ihrer 
Organe durch eine größere Zahl eingehender Gesuche dürfte meines 
Erachtens die einzige belastende Rückwirkung der Arbeiterversicherung 
auf die Armenpflege sein. Bei gewissenhafter Prüfung der Berech- 
tigung jedes Gesuches wird eine weise Armenpflege der beregten Ge- 
fahr schon aus dem Wege zu gehen wissen. 

Es muß noch davor gewarnt werden, eine Abnahme in der Summe 
der Aufwendungen der Armenverwaltungen ohne weiteres auf das 
Konto der Arbeiterversicherung zu setzen. Es können hierfür auch 
Gründe zur Geltung kommen, die ganz außerhalb der Arbeiterver- 
sicherung liegen. In manchen Armenverbänden sollen Organisations- 
änderungen die Ursache des Rückgangs der Ausgaben sein; meist 
handelt es sich in solchen Fällen um die Einführung des „Elberfelder 
Systems“. Günstige Lage des Arbeitsmarktes, auch milde Winter 
mindern sehr die Zahl der Beschäftigungslosen und ersparen der 


1) Schriften des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit, Heft 21. 


70 Miszellen. 


Armenpflege somit manches Opfer. In Industriestädten unmittelbar 
benachbarten Landgemeinden mag wohl in der Verbesserung der Kom- 
munikationsmittel und der hierdurch herbeigeführten größeren Gelegen- 
heit zu lohnender Arbeit die Ursache eines Rückgangs der Belastung 
der Armenpflege zu suchen sein. Einen deutlichen Beweis hierfür 
liefert die nähere Umgebung Fuldas: Manche kommunale Armenhäuser 
sind leer, einige sind sogar niedergerissen; hingegen sieht man in jenen 
Orten massive Häuser entstehen, deren Besitzer früher die ländlichen 
Armen bildeten, jetzt aber durch den höheren und gleichmäßigen Ver- 
dienst in der Stadt in den Stand gesetzt sind, sich durch ihrer Hände 
Arbeit zu einer gewissen Wohlhabenheit emporzuschwingen. 


§ 3. 

Unter den einzelnen Arten der Versicherung finden wir — selbst 
noch verschieden in Städten und auf dem platten Lande — in Bezug auf 
ihre Einwirkung auf die Armenpflege die größten Verschiedenheiten. 

In den Städten, vor allem den Großstädten, tritt dieser Einfluß am 
stärksten in die Erscheinung, wohnen doch in ihnen Tausende und 
Abertausende versicherungspflichtiger Personen. (Die freiwillig Ver- 
sicherten kommen wohl kaum in Betracht, da sie in zu geringer An- 
zahl vorhanden und gewöhnlich in verhältnismäßig besserer Vermögens- 
lage sind.) Der großstädtische Arbeiter bezieht fast durchweg einen 
höheren Lohn als der kleinstädtische, jedoch seine Ausgaben (vor allem 
für Miete) sind auch bedeutend größer. 

Das statistische Amt der Stadt Leipzig hat für das Jahr 1900 
folgende Prozente des Anteils der Miete am Einkommen festgestellt: 


23 Proz. bei den Einkommensklassen bis 1100 M. 

19,30 u n»n » ” 1100— 2200 „, 

19,02 n »n n 2200—2400 „u. f. 
Wenngleich es erst spezieller Untersuchungen bedürfte — die für 


manche Orte sicherlich ganz andere Verhältniszahlen liefern würden — 
ehe man die obigen statistischen Angaben verallgemeinern, als Regel 
erklären könnte, so darf man wohl als feststehend annehmen, daß es 
viele, viele Städte gibt, in denen die Arbeiter in ähnlicher Weise durch 
die Ausgaben für Miete belastet, ja überlastet sind. Sicher ist jeden- 
falls, daß in Großstädten der Arbeiter meist sonnenlose Hinterhäuser, 
unfreundliche Keller- und Mansardenwohnungen innehat, die oft nur 
aus einem einzigen Raum bestehen, dessen Wert in sittlicher und 
sanitärer Hinsicht durch Schlafstellenvermieten, Heimarbeit u. s. w. 
noch bedeutend herabgedrückt wird. Außer diesen ungesunden Woh- 
nungsverhältnissen wirkt auch das ganze Getriebe der Großstadt, durch 
ihre Verlockungen zur Ausschweitung, ihren großen Entfernungen mit, 
- den großstädtischen Arbeiter leichter zu erschöpfen und eher . aufzu- 
reiben als den kleinstädtischen. Den in Großstädten bedeutend erhöhten 
Lebensansprüchen kann die Arbeiterversicherung nicht genügend Rech- 
nung tragen, deshalb erfordern die Leistungen derselben in den großen 
Städten oft das ergänzende Eingreifen der Armenpflege. 

In mittleren und kleineren Städten sind die Arbeiter meist in 
einigen wenigen größeren Etablissements vereinigt, die schon zum Teil 


Miszellen. 71 


vor dem Erlaß der Arbeiterversicherungsgesetze ihre Arbeiter gegen 
Krankheit und auch gegen Unfall versichert hatten, so daß im Budget 
der Armenpflege in jenen Orten schon vor unserer Sozialgesetzgebung 
sich ähnliche Einflüsse geltend machten. 

Auf dem platten Lande mit vorwiegend landwirtschaftlicher Be- 
völkerung gibt es überhaupt noch keinen allgemeinen Versicherungs- 
zwang, was die Verfolgung des Einflusses bedeutend erschwert. 

Für die Beurteilung am wichtigsten, und der Feststellung des ent- 
lastenden Einflusses der Arbeiterversicherung auf die Armenpflege am 
meisten widerstrebend ist der Umstand, daß die von den beiden Insti- 
tutionen, der Arbeiterversicherung einerseits und der Armenpflege ander- 
seits, erfaßten Personenkreise keineswegs identisch sind. Arbeiterversiche- 
rung und Armenpflege haben wohl unverkennbar enge Beziehungen zuein- 
ander, jedoch wenn auch der Motivenbericht zu dem ersten im Jahre 
1881 dem deutschen Reichstage unterbreiteten Gesetzesentwurf betont, 
„es handele sich bei den Maßnahmen, welche zur Besserung der Lage der 
besitzIosen Klassen ergriffen werden können, nur um eine weitere Ent- 
wickelung der Idee, welche der staatlichen Armenpflege zu Grunde liegt“, 
so ist gerade die grundverschiedene Tendenz der beiden Institutionen 
die Ursache der mangelnden Identität der von beiden erfaßten Personen- 
kreise. Leistet doch die Arbeiterversicherung lediglich für einen durch 
größere oder geringere Erwerbsunfähigkeit herbeigeführten Rückgang 
oder Wegfall des Einkommens Ersatz, oder sichert sie in der Alters- 
versicherung den „Veteranen der Arbeit“ ein Auskommen im Greisen- 
alter, so ist die Armenpflege berufen, allen denjenigen helfend die Hand 
zu reichen, die — einerlei aus welchen Gründen — entweder gar kein 
oder nur ein unzureichendes Einkommen besitzen. Somit dürfte ein 
Armenverband gar nicht mit Unrecht betonen, daß „die Leistungen, der 
, auf Grund der sozialpolitischen Gesetze ins Leben gerufenen verschiedenen 
Kassen zumeist anderen Kategorien von Leuten zu gute kommen, als den- 
jenigen, aus welchen sich die Kostgänger der Armenpflege rekrutieren.“ 


Teil IL 
8. 


Von allen Zweigen der Arbeiterversicherung hat die Kranken- 
versicherung zweifellos am meisten einen entlastenden Einfluß auf 
die Armenpflege ausgeübt. „Die Krankheitskosten wirken für die 
Familienwirtschaft wie die Kriege und ähnliches für die Staatswirt- 
schaft. Sie kommen unregelmäßig und unerwartet; das gewöhnliche 
Budget ist nicht für sie eingerichtet!).“ Erhöhte Ausgaben bei mangeln- 
dem Einkommen zwingen die Beteiligten in einer großen Zahl der Fälle, 
die Hilfe der öffentlichen Armenpflege in Anspruch zu nehmen. Sehr 
bedeutend ist daher die Zahl der wegen „Krankheit“ aus Armenmitteln 
Unterstützten. Sie machen fast überall mehr als !/, aller Armenpfleg- 
linge aus. Somit ist es einleuchtend, daß sich hier gerade ein Feld 
bot für eine bedeutende, nachhaltige Entlastung der Armenpflege durch 


1) Schmoller, G., Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre. 2. Teil. 
Leipzig 1904. 


72 Miszellen. 


die Arbeiterversicherung. Treffendes hierzu führten schon die Motive 
zum Krankenversicherungsgesetz aus: 

„Die Verarmung zahlreicher Arbeiterfamilien hat ihren Grund darin, 
daß sie in Zeiten der Krankheit ihrer Ernährer eine ausreichende Unter- 
stützung nicht erhalten. Sind diese, weil gegen Krankheit nicht ver- 
sichert, auf die öffentliche Armenpflege angewiesen, so erhalten sie eine 
Unterstützung in der Regel erst dann, wenn alles, was sie an Erspar- 
nissen, an häuslicher Einrichtung, Arbeitsgerät und Kleidungsstücken 
besitzen, für die Krankenpflege und den notdürftigsten Unterhalt der 
Familie geopfert ist. Und selbst dann, wenn die Armenpflege mit ihrer 
Hilfe früher eintritt oder der Erkrankte einer Krankenkasse angehört, ist 
die Unterstützung meistens so ungenügend, daß sie eine ausreichende Pilege 
des Kranken nicht ermöglicht und den Ruin seiner Wirtschaft nicht zu 
verhindern vermag. Bei vielen Arbeitern ist daher eine ernstliche Krank- 
heit die Quelle einer Minderung der Erwerbsfähigkeit, wenn nicht völliger 
Erwerbsunfähigkeit für die ganze Lebenszeit; und selbst diejenigen, 
welche ihre volle Erwerbsfähigkeit wiedererlangen, können meist nur 
durch jahrelange Anstrengung und Entbehrung das während der Krank- 
heit Verlorene soweit ersetzen. Dazu fehlt aber der Mehrzahl unserer 
Arbeiter die erforderliche Energie und Umsicht. Eine durch Krankheit 
und namentlich durch wiederholte Krankheit heruntergekommene Ar- 
beiterfamilie gelangt daher nur selten wieder zu geordneten wirtschaft- 
lichen Verhältnissen. Die Zahl der Arbeiterfamilien sowie der Witwen 
und Waisen, welche der Not und der öffentlichen Armenpflege dauernd 
anheimfallen, weil ihre Wirtschaft durch mangelhafte Unterstützung in 
Krankheitszeiten zerrüttet, oder ihr Ernährer infolge mangelhafter Pflege 
erwerbsunfähig geworden oder gestorben ist, dürfte größer sein als die 
Zahl derjenigen, welche durch die Folgen von Unfällen bedürftig werden.“ 

Der Einfluß der staatlichen Krankenversicherung wird sich nicht 
nur bei der offenen und geschlossenen Krankenpflege, sondern vor allem 
auch beim Beerdigungswesen bemerkbar machen müssen. Die für uns 
maßgebendsten Armenverbände, diejenigen der Großstädte, äußern sich 
über diesen Punkt fast alle übereinstimmend, indem sie „einen sehr 
wesentlichen Einfluß der Krankenversicherung anerkennen“. Niemand 
wird leugnen, daß die bedeutenden Aufwendungen der Krankenkassen 
manche Arbeitskraft gerettet, hierdurch manchen, der sonst dem Siech- 
tum verfallen, vor der dauernden Inanspruchnahme der Armenpflege 
bewahrt haben. Die durch die Institutionen der staatlichen Kranken- 
versicherung weiten Volkskreisen gewährte ärztliche Hilfe, die be- 
willigten Heilmittel, die ermöglichte Herausnahme Kranker aus ärmlich 
eingerichteten, ungesunden Wohnungen zum Zwecke gründlicher Be- 
handlung in gesunden, bequem ausgestatteten und sachverständig ge- 
leiteten Heilanstalten, die gewährten Krankenrenten für die Zeit der 
Erwerbsunfähigkeit bis — seit 1903 — zur Dauer eines halben Jahres, 
sollte dies alles der öffentlichen Armenpflege nicht manche Last von 
den Schultern — als direkte Wirkung — genommen haben? Sollten 
die beiden Milliarden, die bis 1903 schon für die genannten Zwecke 
verausgabt waren, nicht mitgewirkt haben an der Hebung der Volks- 


Miszellen. 73 


gesundheit und somit mittelbar nicht entlastend auf die Armenpflege 
eingewirkt haben durch Schwindenlassen mancher Verarmungsursache ? 

Hervorzuheben ist vor allem ein nicht ziffernmälig feststellbarer, 
doch sicherer vorbeugender Einfluß des Krankenversicherungsgesetzes. 
Der Arbeiter gewöhnt sich daran, bei allen, auch den „leichten“ Er- 
krankungen rechtzeitig ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen; und 
gerade das rechtzeitige Eingreifen ärztlicher Kunst ist ja für den 
Ausgang so mancher Krankheit von entscheidendem Einfluß. Nicht 
zögern wird ein gegen Krankheit versicherter Arbeiter, wenn er sich 
krank fühlt, die Arbeit einzustellen. Er wird nicht bis zur völligen 
Erschöpfung seiner Kräfte arbeiten, sondern bestrebt sein, seine Gesund- 
heit wiederherzustellen, ungeachtet des Ausfalles an Lohn, bestehend 
in der Differenz seines früheren Tagelohnes und der Gesamtleistung der 
Krankenkasse. Unter der Einwirkung der Arbeiterversicherung muß 
somit ein gesünderes und widerstandsfühigeres Geschlecht heranwachsen, 
eine Einwirkung, die erst nach Jahrzehnten voll und ganz in die Er- 
scheinung treten wird. Die Wirkung der Krankenversicherung auf den 
nichtversicherten Teil der ärmeren Bevölkerung wurde bereits erwähnt. 
Es wird hier einem Uebel mit großen Opfern vorgebeugt, dessen Folgen 
ungleich höhere Opfer gefordert haben würden. 

Für den Einflaß der staatlichen Krankenversicherung in Sachsen 
bietet der „Kalender und Statistisches Jahrbuch für das Königreich 
Sachsen auf das Jahr 18941)“ folgende interessante Daten: 

Die Gesamtzahl der infolge von Krankheit Unterstützten betrug‘ 

1880 25 070 Personen 
1885 nur 21612 ed 
1890 nur noch 18959 ĝ 

Die Zahl der Selbstunterstützten infolge von Krankheit hat 

sich folgendermaßen vermindert. Sie betrug: 


1880 16 683 Personen 
1885 14 741 ü und sank 
1890 auf 12783 


Der prozentuale Anteil der Ursache „Krankheit“ an der Gesamt- 
unterstützungsziffer sank von 
26,76 Proz. auf 
24,3 „» bezw. auf 
ZZi n 
und an der Selbstunterstützungsziffer von 
31,08 Proz. auf 
27,71 „ bezw. auf 
25,58 7 
Beim Eingehen auf dauernde und vorübergehende Unterstützung 
zigen die dauernd Unterstützten eine geringe Zunahme, während sich 
nur für die vorübergehend Unterstützten sehr beträchtliche Abnahmen 
der wegen Krankheit Unterstützten ergeben. 
Dauernd Selbst- und Mitunterstützte: 
9910 (1880) 
10 029 (1885) und 
10 103 (1590). 


1) Kalender und Statistisches Jahrbuch für das Königreich Sachsen auf das Jahr 
1894, Dresden 1893. 


74 Miszellen. 


Vorübergehend Selbst- und Mitunterstützte : 
15 160 (1880) 
11 583 (1885) und 
8 856 (1890). 
Dauernd Selbstunterstützte: 
5742 (1880) 
6315 (1885) und 
6319 (1890). 
Vorübergehend Selbst unterstützte : 
10941 (1880) 
8 426 (1885) und 
6 464 (1890). 

Um das obige Zahlenmaterial deutlicher, wirksamer zu gestalten, 
möge noch folgende auf 10000 Einwohner des Königreichs Sachsen 
bezogene Aufstellung folgen: 

Wegen Krankheit 

1) Dauernd Selbst- und Mitunterstützte: 


1880 33,30 
1885 31,50 
1890 28,80. 
2) Vorübergehend Selbst- und Mitunterstützte : 
1880 51,00 
1885 36,40 
1890 25,30. 


Diese auffallenden Verschiedenheiten erklären sich leicht, und gerade 
sie bestätigen am deutlichsten die wohltuende, entlastende Einwirkung 
der Arbeiterversicherung auf die Armenpflege. Der Grund dieses ver- 
schiedenen Verhaltens ist darin zu finden, daß das Krankenversicherungs- 
gesetz anfangs nur 13 Wochen Unterstützung vorschrieb, die länger - 
Kranken der Sorge der Armenpflege überantwortend, die durch die- 
selben lange und schwer belastet werden mußte. 

Ziffernmäßig weist auch Berlin den entlastenden Einfluß des Kranken- 
versicherungsgesetzes etwa folgendermaßen nach 1): 

„Im Berichtsdezennium ist die Zahl der in die zwei städtischen 
Krankenhäuser (am Friedrichshain und Moabit) aufgenommenen Kranken- 
kassenmitglieder von 564 auf 4612 gestiegen, während im gleichen Zeit- 
raume eine Abnahme der Zahl der Armen, welche der geschlossenen 
Armenpflege anheimtielen, von 4592 auf 3196 eingetreten ist. Nach 
Ablauf der statutarischen Unterhaltungspflicht der Kassen verbleiben 
der Armenpflege noch 2,2 bis 2,3 Proz. der Kranken. Die.Zahl der 
Hauskranken, welche die städtischen Bezirksarmenärzte in Anspruch 
nehmen mußten, ist von 4,46 Proz. der Bevölkerung im Jahre 1883 auf 
3,76 Proz. der Bevölkerung im Jahre 1893 zurückgegangen.“ 

Der Einfluß der staatlichen Krankenversicherung wurde stark ge- 
trübt dadurch, daß schon vor Einführung des Versicherungszwanges ein 
Teil der Arbeiter gegen Krankheit bei Fabrikkrankenkassen und Hilfs- 
kassen auf Gegenseitigkeit versichert war. Seit 1876 konnte sogar durch 
Ortsstatut — laut Gesetz vom 8. April 1876 — die Einrichtung von 

1) Erhebung des Reichsamts des Innern, „Vierteljahrshefte zur Statistik des 
Deutschen Reiches“, 1897, II. 


Miszellen. 75 


Hilfskassen angeordnet und auf demselben Wege auch ein Beitritts- 
zwang für Arbeiter, die das 16. Lebensjahr überschritten haben, an- 
geordnet werden. Ende 1876 waren in Deutschland bereits 5239 Kranken- 
kassen mit 896000 Mitgliedern vorhanden. Die Mitgliederzahl nahm in 
der Folgezeit, wohl beeinflußt durch das oben erwähnte Gesetz, sehr 
stark zu, so daß man in Preußen allein im Jahre 1880 die Zahl der bei 
Krankenkassen versicherten Arbeiter auf 1!/, Millionen Personen an- 
schlug. Das Gesetz von 1876 hat somit wohl einigen Erfolg zu ver- 
zeichnen gehabt — in einigen Gemeinden führte es sogar zur Zwangs- 
versicherung aller Arbeiter gegen Krankheit — jedoch bis zur um- 
fassenden Regelung dieser Materie bedurfte es noch einer geraumen 
Zeit. Nachdem in Bayern schon über 14 Jahre eine Art obligatorischer 
Krankenversicherung segensreich gewirkt, kam für unser ganzes Vater- 
land am 15. Juni 1883 eine Zwangsversicherung gegen Krankheit für 
die gewerblichen Arbeiter zu stande. Was dieses Krankenversicherungs- 
gesetz für die Entlastung der Armenpflege leisten kann, bringt die Ar- 
menverwaltung Elberfelds in ihrem Bericht an das Reichsamt des Innern 
in folgenden interessanten Details zum Ausdruck: 

1) Eine Familie, die aus Mann, Frau und 3 Kindern im Alter von 
5, 3 und 1 Jahr bestehen möge, bedarf nach den Grundsätzen der 
hiesigen Armenverwaltung zum notdürftigen Unterhalte pro Woche 
9,90 M., welcher Betrag bei Krankheit des Mannes und gänzlich man- 
gelndem Einkommen der Familie als Unterstützung zu gewähren wäre. 
Ist nun der Mann versichert, so zahlt die Krankenkasse ein wöchent- 
liches Krankengeld von 7 M. 50 Pf., so daß die Armenverwaltung nur 
noch den überschießenden Betrag von 2,40 M. zu entrichten hat. Ferner 
darf nicht außer acht gelassen werden, daß die Krankenkasse die Kosten 
auch für Arznei und Arzt und die sogenannten „kleinen Heilmittel“ 
liquidiert, welche im anderen Falle der Armenverband zu tragen hätte. 

2) Ueberweist nun die Kasse den erkrankten Ehemann dem Kranken- 
hause, so wäre, da die Frau der kleinen Kinder wegen einem lohnenden 
Erwerbe nicht nachgehen kann, der Familie eine Unterstützung von 
7,40 M. zu gewähren. Die gesetzliche Familienunterstützung beträgt 
nun die Hälfte des ursprünglichen Krankengeldes, also 3,75 M. wöchent- 
lich. Die zu leistende Unterstützung der Armenpflege beträgt demnach 
nur 3,65 M. für die Woche. 

Solche und ähnliche Fälle kommen teils mehr, teils weniger vor. Ab- 
hängig ist die größere oder geringere Entlastung von der Lage des Arbeits- 
marktes, da bei Erwerbsstockung viele Arbeiter aus der Versicherung 
ausgeschieden sind und nunmehr der Armenpflege allein anheimfallen, 

Was den Einfluß der Krankenversicherung auf die Almosenpflege 
betrifft, so läßt sich der Anteil, den sie an einer etwaigen Entlastung 
trägt, schwer bestimmen, da hier Unfallversicherung und auch Invaliden- 
versicherung konkurrieren. 

Sicherlich hat die Krankenversicherung einen bedeutenden Einfluß 
ausgeübt auf das Armenbeerdigungswesen. Die arbeitende Klasse — 
die in den weitaus meisten Fällen von der Hand in den Mund lebt, 
falls sie überhaupt ohne Unterstützung auskommen kann, auch alles für 
das Allernötigste aufwenden muß — kann selten die größere Ausgabe 


76 Miszellen. 


für die Beerdigung eines Mitgliedes der Familie selbst tragen. Dies 
trifft natürlich wohl immer da zu, wo eine längere Krankheit die letzten 
Spargroschen der Familie aufgezehrt hat, gar, wo der Verstorbene der 
Ernährer gewesen. Hier mußte die Armenpflege in einer großen Zahl 
der Fälle eingreifen, indem sie die entstehenden, oft nicht unbedeutenden 
Kosten auf sich übernahm. Die Krankenversicherung, die ihren Mit- 
gliedern ein Sterbegeld gewährt, hat naturgemäß ganz beträchtliche Ver- 
änderungen herbeiführen können. Aus den Berichten der einzelnen 
Armenverwaltungen kann man mit großer Wahrscheinlichkeit in der 
Abnahme der Armenbegräbnisse seit Wirksamkeit des Gesetzes den 
Einfluß der Krankenversicherung erkennen. Die Tatsache, daß — sofort, 
als in den Jahren 1891—1892 eine Erwerbsstockung eintrat, die zur 
Folge hatte, daß viele Arbeiter aus der Versicherung ausschieden — 
die Zahl der Armenbegräbnisse wieder stieg, spricht sehr für die Richtig- 
keit unserer Ansicht (s. Tabelle 2). 


Tabelle 2. 


Armenbeerdigungen. (Heft 21 Schriften des Deutschen Vereins 
für Armenpflege und Wohltätigkeit. Leipzig 1895.) 


Ort | 1880 | 1885 1890 1893 
Aachen 807 ( 85) 666 ( 95) | 5o01 ( 104) 619 (112) 
Altona 240 ( 91) 240 ( 104) 200 ( 143) 300 (150) 
Barmen 340 ( 95) 190 ( 103) | `120 ( 120) 160 (123) 
Berlin 3) 2500 (1300) | 2400 (1500) | © 3y 
Bielefeld ) 82 ( 34) 76 ( 39) 77 ( 44) 
Danzig 915 (102) 814 ( 108) 797 ( 114) 669 !) 
Dessau 55 ( 24) 47 ( 27) 40( 37) 50 ( 38) 
Dortmund 360 ( 66) 270( 77) 150 ( 89) 170 ( 96) 
Düsseldorf 800 ( 91) | 560 ( 114) 500 ( 141) 570 (152) 
Elberfeld 240 ( 92) | 190( 109) 150 ( 125) 150 ') 
Elbing 78(35) | 69( 38) 75( 41) 2) 
Erfurt 190 ( 50) 130 ( 56) 120 ( 70) 160 ( 70) 
Frankfurt a. O. 110 ( 51) 88 ( 54) 56( 55) 63 2) 
Metz 500 ( 43) 460( 42) | 300( 44) | 430 (45) 
Plauen i. V. 59 ( 35) 25( 42)| 43( 47) | 64( 50) 
Rostock 196 ( 37) 148 ( 38) 189 ( 44) 182 1!) 
Schwerin 10 ( 30) 16 ( 31) 10 ( 33) 16 !) 
Zittau 71 ( 21) 66 ( 21) 44 ( 23) 37 ( 23) 


Es zeigt sich in vielen Fällen eine nicht unbedeutende absolute 
Abnahme in der Zahl der Armenbeerdigungen, der eine sehr erhebliche 
relative Abnahme derselben entspricht, da die Bevölkerung in diesen 
Städten sich im Berichtsdezennium bedeutend vermehrt hat (s. die ent- 
sprechenden Angaben in Tabelle 2). 

Es ist nicht ausgeschlossen, daß der hierin zu erblickende Einfluß 
der Krankenversicherung noch viel deutlicher aus den Zahlen hervor- 
ginge, wenn man sie für die beiden Geschlechter getrennt anführen 
würde, da ja die Männer verhältnismäßig mehr. von der Versicherungs- 
pflicht erfaßt werden, als die Frauen. Waren doch z. B. 1903 bei 


1) Die betreffende Angabe fehlt in der Erhebung. Die eingeklammerten Zahlen 
bedeuten die Einwohnerzahl in Tausenden. 


Miszellen. 77 


allen der Aufsicht des Reichsversicherungsamtes unterstehenden Kassen- 

einrichtungen 8357 109 Männer, aber nur 2557824 Frauen versichert. 
Die Zusammenstellung der Erhebung von 1894 enthält eine hierfür 

brauchbare getrennte Aufstellung nur sehr vereinzelt (s. Tabelle 3). 


Tabelle 3. 


Armenbeerdigungen. (Heft 21 Schriften des Deutschen Vereins 
für Armenpflege und Wohltätigkeit. Leipzig 1895.) 


o Männer | Frauen 

rt — a -— : 

Á = {1880 | 1885 | 1890 | 1893 | 1880 | 1885 | 1890 | 1893 
Bautzen 26 17 | 10 | 16 12 | 26 | 12 | 23 
pasel 92 72 58 | 50 77 73 52 i 56 
olmar 62 Ag AB 29. 44 57 35 | 43 
Gnesen 36. 1.42 | 5f | 21 42 | 50 59 | 42 
Magdeburg 42 | 51 , 66 | 62 35 48 | 81 79 
Thorn rooi) 89 | 57 |) m 53 | 45 | 47 1) 


Diese können die Ansicht bestätigen, daß, wo überhaupt eine Ab- 
nahme der Armenbeerdigungen zu konstatieren ist, beim männlichen 
Geschlecht ein größerer Rückgang eingetreten ist als beim weiblichen. 
Die verhältnismäßige Zunahme in Magdeburg ist auch dementsprechend. 

Sei es mir gestattet, hier eine Bemerkung wiederzugeben, welche 
die Armenverwaltung Berlins zu diesem Punkte macht, nachdem sie 
die entlastende Wirkung der Krankenversicherung anerkannte: „Es ist 
zu berücksichtigen, daß bei einem Teil der ärmeren seßhaften Bevölke- 
rung sich das Bestreben zeigt, durch Mitgliedschaft bei einer auf Frei- 
willigkeit beruhenden Sterbekasse“ (wie sie in lokalen Verbänden schon 
von altersher bestanden) „sich ein angemessenes Begräbnis zu sichern, 
das Armenbegräbnis zu vermeiden“. Sicherlich ist hierin ein hoch- 
wichtiger erzieherischer Einfluß unserer Sozialgesetzgebung zu erblicken, 
welche durch Leistung eines Sterbegeldes an ihre Mitglieder den nicht- 
versicherten Teil der ärmeren Bevölkerung zur Vermeidung des Armen- 
begräbnisses anregt. 

Diejenigen Träger der Krankenversicherung, die nach dem Gesetze 
vom 10. April 1892 und der Novelle hierzu vom 25. Mai 1903 zur 
Leistung einer Wöchnerinnenunterstützung verpflichtet sind, haben 
sicherlich vielmals die Armenpflege ihres Ortes entlasten können. Ge- 
nauere Erhebungen, um positives Material für diese spezielle Frage zu 
sammeln, haben noch nicht stattgefunden. Nicht ungerügt darf hierbei 
eine große Lücke des Krankenversicherungsgesetzes bleiben: 

Die Gemeindekrankenversicherung ist nicht gesetzlich zur Leistung 
einer Wöchnerinnenunterstützung an ihre Versicherten verpflichtet. Nun 
entfällt aber ein großer Teil der gegen Krankheit versicherten Frauen 
gerade auf die Gemeindekrankenversicherung, die 1903 mehr als 36 Proz. 
aller Kassen überhaupt ausmachten und über 13 v. H. aller Versicherten 
umfaßten. Somit wäre eine Verpflichtung dieser Art der Zwangsorgani- 
sationen der staatlichen Krankenversicherung vom sozialpolitischen 


1) Die Angabe für das Jahr 1893 fehlt in der Erhebung. 


78 Miszellen. 


Standpunkte aus ebenso wünschenswert, wie sie in hygienischer Be- 
ziehung einem dringenden Bedürfnisse abhelfen würde. 

Ein weiterer Uebelstand besteht in Bezug auf die Gewährung von 
Krankengeld an solche Krankenkassenmitglieder, welche an Geschlechts- 
krankheiten leiden. Die meisten Kassen sind zwar jetzt davon abge- 
kommen, den an Geschlechtskrankheiten leidenden Mitgliedern auf Grund 
der §§ 6a, bezw. 26a, des Krankenversicherungsgesetzes das Kranken- 
geld zu sperren oder zu kürzen, wie es früher allgemein üblich war. 
Gesetzlich steht ihnen aber nach wie vor nichts im Wege, statutarisch 
einen Anspruch auf Krankengeld in diesen Fällen auszuschließen oder 
zu kürzen, während gerade eine allgemeine gesetzliche Verpflichtung zur 
Zahlung von Krankengeld bei Leiden dieser Art dringend erforderlich 
wäre. Wie die Motive zur Novelle des Krankenversicherungsgesetzes 
vom 25. Mai 1903 richtig ausführen, „haben sie eine solche Ausdeh- 
nung genommen, daß dadurch der allgemeine Gesundheitszustand, der 
Wohlstand und die Wehrhaftigkeit der Bevölkerung in einem größeren 
Umfange gefährdet werden“. Somit „gehört die schnelle und wirksame 
Heilung von Geschlechtskrankheiten zu den dringendsten Erfordernissen 
der allgemeinen Wohlfahrt“. Nimmt man noch hinzu, daß die aus nahe- 
liegenden Gründen bei Geschlechtsleiden häufig vorkommenden Verheim- 
lichungen (woraus nicht allein eine dauernde Schädigung des Versicherten 
selbst, sondern eine fortwährende Vermehrung jenes Uebels resultieren 
muß, Unglück für viele, ständige Gefahr für die Gesamtheit!) lediglich 
durch einen Anspruch auf Krankengeld vermindert werden können, so 
ergibt sich die Notwendigkeit einer ausdrücklichen gesetzlichen Aner- 
kennung dieses Anspruches. 

Ich kann mich daher nicht mit der Ansicht van der Borghts befreunden, 
der der Sperrung des Krankengeldes bei Geschlechtskrankheiten einen 
erzieherischen Einfluß auf die Arbeiter zuschreibt. „Es ist wertvoll, 
daß derartige einem unsittlichen Verhalten feindliche Bestimmungen in 
den Gesetzen stehen. Je mehr der Arbeiter mit den Einzelheiten der 
Versicherungsgesetze vertraut wird, desto eher ist es möglich, daß mancher, 
der sich noch vor dem Hinabgleiten schützen kann, wenn er seine Kräfte 
zusammennimmt, zu einem entsprechenden Verhalten veranlaßt wird“ 1). 
Bei Arbeitern, die sittlich sehr gefestigt, kann wohl von einem Erfolge 
in dieser Hinsicht manchesmal die Rede sein; aber in der Regel dürften 
die beregten Gefahren doch zur Vorsicht mahnen! Man kann erziehe- 
risch auf andere Weise, mit „unschädlicheren“ Mitteln auf die Arbeiter- 
schaft einwirken, ohne Gefahr zu laufen, das Wohl der Gesamtheit so 
sehr aufs Spiel zu setzen. 

Verschiedene äußere Umstände stehen der genauen Feststellung des 
entlastenden Einflusses der Krankenversicherung auf die Armenpflege 
hindernd im Wege: 

Die Kommunalverbände kommen der Verwaltung der Krankenver- 
sicherung in manchen Fällen entgegen, indem sie (jedenfalls in Aner- 


1) v. d. Borght, Die soziale Bedeutung der deutschen Arbeiterversicherung. 
Jena 1898. 


Miszellen. 79 


kennung der ihrer Armenpflege durch die Versicherung gewordenen 
Entlastung) einen Teil der Kosten der Krankenhauspflege von Kranken- 
kassenmitgliedern auf sich übernehmen, indem sie sich nicht die vollen 
Selbstkosten erstatten lassen. So liquidiert z. B. Magdeburg für ein 
Krankenkassenmitglied bei seiner Aufnahme ins städtische Krankenhaus 
pro Tag nur 1,50 M., wohingegen dieser Kranke der Stadt rund 2,13 M. 
Selbstkosten verursacht. In Straßburg i. E. verzichtet das Spital zu 
Gunsten bedürftiger Angehöriger von Krankenkassenmitgliedern gewöhn- 
lich auf die Hälfte der Pflegekosten. Oftmals haben Stadtverwaltungen 
besondere Privilegien in den Staats- oder Provinzialkrankenhäusern 
am Orte. So hat Fulda überhaupt keine Ausgaben für die geschlossene 
Armenkrankenpflege, da die Stadt nie alle ihr nach alten Rechten zu- 
stehenden Freiplätze im Landkrankenhause besetzt hat. 

Es haften dem Krankenversicherungsgesetz selbst auch Mängel an, 
die für unser Problem sehr störend wirken, da sie den entlastenden 
Einfluß des Gesetzes auf die Armenpflege trüben. 

Es ist hier vor allem zu erwähnen, daß der Kreis der Versicherten 
des Krankenversicherungsgesetzes verhältnismäßig zu eng begrenzt ist, 
und oft die Versicherung von einem ÖOrtsstatut oder Landesgesetz ab- 
hängig macht, wo eine straffe Regelung von Reichswegen nur zu sehr 
am Platze wäre. Dies betrifft vor allem die Arbeiter in land- und 
forstwirtschaftlichen Betrieben. Wer die Verhältnisse auf dem Lande 
kennt, der weiß, wie segensreich hier eine Krankenversicherung wirken 
könnte. Stundenweit ist der Arzt entfernt, ein meilenlanger Weg führt 
zur Apotheke. Und wie muß erst die Gefahr angewachsen sein, bevor 
der ländliche Arbeiter sich dazu entschließt, den Arzt holen zu lassen! 
Es hängt dies zuvörderst mit der mangelnden Einsicht zusammen, daß 
es dringend nötig ist, bei allen Krankheiten einen Arzt zu Rate zu 
ziehen und nicht angebracht ist, mit Hausmitteln das Uebel zu „kurieren“. 
Hauptsächlich sind jedoch die sehr bedeutenden Unkosten daran schuld, 
daß auf dem Lande Krankheiten so oft durch Verschleppung dauerndes 
Siechtum herbeiführen müssen. Durch Schaffen einer Praxis für einen 
Arzt, durch Unterbringung der Kranken in geeigneten Heilanstalten 
könnte durch Krankenversicherung der ländlichen Armenpflege manches 
Opfer erspart werden. Aehnliches gilt für die Dienstboten, für welche 
bislang noch kein allgemeiner Versicherungszwang existiert. 

Daß die gesetzliche „Familienunterstützung“ nicht immer ausreicht, 
um die Bedürfnisse der Familie des in geschlossener Krankenpflege 
befindlichen Versicherten zu bestreiten, ist nur auf eine nicht indivi- 
dualisierende Behandlung der Unterstützungsfälle zurückzuführen. Be- 
denkt man, daß bei Krankheit des versicherten Ehemannes eine selbst 
erwerbende Frau ohne Kinder (jedesmal ein gleiches Einkommen des 
Mannes vorausgesetzt, das der Berechnung des Krankengeldes zu Grunde 
gelegt wurde) genau soviel erhält wie eine kinderreiche Familie, so 
liegt in der Individualisierung sicherlich ein Mittel, durch leicht zu 
machende Ersparnisse wohl immer mehr die oftmals nötigen Zuschüsse 
der Armenpflege überflüssig zu machen — unbeeinflußt dadurch, daß die 
in der Praxis vorkommenden Fälle gewöhnlich nicht so extrem liegen. 


80 Miszellen. 


Es wäre dies, was die individuelle Behandlung jedes Falles angeht, 
kein Sprung ins Dunkele, bot doch die Invalidenversicherungsanstalt 
Berlin, die dies Verfahren bei den Familien der in Sanatorien aufzu- 
nehmenden Invaliden schon lange eingeführt hat, bereits 1895 einen 
deutlichen praktischen Beweis für die Durchführbarkeit und die Nütz- 
lichkeit dieses Systems. 

Würde überdies die gesetzliche Unterhaltspflicht der Krankenkassen 
noch mehr erweitert oder käme, was das Erstrebenswerte wäre, eine 
Beschränkung überhaupt in Fortfall, so würde sich gewiß eine noch 
bedeutendere Entlastung der von der Krankenversicherung berührten 
Zweige der öffentlichen Armenpflege bald bemerkbar machen. Die 
Novelle zum Krankenversicherungsgesetz vom 25. Mai 1903 erweiterte 
die gesetzlichen Mindestleistungen der Krankenkassen auf 26 Wochen, 
von welchem Tage ab bei einer großen Anzahl der Krankheitsfälle die 
Krankenfürsorge auf die Organe der Invalidenversicherung übergeht. 
Immer jedoch gibt es noch Fälle, in denen beim Aufhören der Kassen- 
leistung die Armenpflege eingreifen mul. 

Die Uebergabe von Versicherten an die Armenpflege ist vom 
sozialpolitischen Standpunkte aus mit Recht als Angriffspunkt gegen 
die Krankenversicherung benutzt worden. Meines Erachtens spricht aber 
der Umstand ebenso sehr, ebenso dringend für die Beseitigung jeder 
zeitlichen Beschränkung der Kassenleistungen, daß hierdurch oftmals 
ein noch möglicher Heilerfolg sehr in Frage gestellt werden kann. 

Die Ausdehnung der Krankenversicherungspflicht auf die Familien 
der Versicherten, wie sie schon bei manchen Trügern der Krankenver- 
sicherung mit gutem Erfolge durchgeführt wurde, eröffnet in Bezug 
auf eine direkte und indirekte Entlastung der Armenpflege durch die 
Krankenversicherung weitere Perspektiven. 

Unter der Einwirkung der staatlichen Krankenversicherung ist 
auch eine neue Art der Armenkrankenpflege überhaupt erst entstanden. Es 
ist dies die Rekonvaleszentenpflege. In der Erkenntnis, daß der durch 
längere Krankheit geschwächte Körper, wenn er zu bald den Strapazen 
der Arbeit wieder ausgesetzt wird, fruchtbaren Nährboden für alle möglichen 
Krankheitskeime bietet, machen viele leistungsfähige Krankenkassen 
von dem ihnen zustehenden Rechte Gebrauch, ihren Versicherten „für 
die Dauer eines Jahres von Beendigung der Krankenunterstützung ab“ 
eine Genesendenfürsorge oder Aufnahme in eine Rekonvaleszentenanstalt 
zu gewähren ($ 21,3a KVG.). Sie vollzieht sich entweder in besonderen 
Rekonvaleszentenanstalten oder besteht in Badekuren, Landaufenthalt 
und ähnlichem. Die Armenpflege kannte derartige Maßnahmen nicht. 
Ihr lag nur daran, ihre Unterstützten möglichst bald in den Stand 
zu setzen, ihre gewohnte Arbeit wieder aufzunehmen. 

Wie sehr nun eine derartige rationelle Methode der Krankheits- 
behandlung entlastend auf die öffentliche Armenpflege wirken muß, ist 
einleuchtend, trägt sie doch zu ihrem Teile dazu bei, eine der Haupt- 
ursachen der Verarmung schwinden zu lassen! 


Miszellen. 81 


§ 2. 

Chronologisch folgten dem Krankenversicherungsgesetz die ver- 
schiedenen Unfallversicherungsgesetze; jedoch steht die Un- 
fallversicherung, was ihre Wirkung auf die Armenpflege anlangt, keines- 
wegs in der Reihe nach der Krankenversicherung, der wir den größten 
Einfluß auf die Armenpflege zuschrieben. 

Als schädigend für die Feststellung des entlastenden Einflusses der 
Unfallversicherung auf die öffentliche Armenpflege muß vor allem er- 
wähnt werden, daß die Armenverbände in den weitaus meisten Fällen 
keine Kenntnis von den erfolgten Rentenbewilligungen erhalten. Da 
überdies die Renten der Unfallversicherung meist so reichlich bemessen 
sind, daß sie ein ergänzendes Eingreifen der Armenpflege unter nor- 
malen Verhältnissen gewöhnlich überflüssig machen, so laufen die 
Armenverbände Gefahr, diesen Einfluß zu unterschätzen. Es erklärt 
sich auch hierdurch die Vorsicht, mit der sie sich darüber äußern. 
Meines Erachtens besteht aber keine Schwierigkeit, daß die Armenver- 
waltung sich die so nötige Kenntnis verschaffe. Zuerst könnte man 
die Berufsgenossenschaften verpflichten, die Namen ihrer Rentenempfänger 
und die Höhe der Rente, auf welche sie Anspruch haben, in periodischen 
Nachweisungen zu veröffentlichen. Die Armenbehörde kann sich auch 
jederzeit bei der Postdienststelle, welche die Renten auszahlt, genauestens 
über die Rentenempfänger ihres Bezirkes informieren. 

Die oft und mit Recht angefeindete Schwerfälligkeit der Berufs- 
genossenschaften bei Festsetzung der Renten liefert viel Material für 
die Armenpflege. Viele, die diese vorläufige Hilfe in Anspruch nehmen 
mußten, scheiden nach erfolgter Rentenbewilligung wieder aus der 
Armenpflege aus. Es wäre nun ganz falsch, hierin allein die Sphäre 
des Einflusses erblicken zu wollen. Es ist vielmehr zu beachten, daß 
in vielen Fällen die Rentenbewilligung schnell erfolgt, in anderen die 
Rentenberechtigten — wegen ihres Anspruchs — im stande sind, Dar- 
lehen aufzunehmen, Kredit für die notwendigen Lebensmittel zu erhalten. 
Andere werden von Verwandten unterstützt oder verschleudern und 
versetzen alles nur einigermaßen Entbehrliche aus Scheu vor dem 
Almosennehmen. Unter der Zahl jener, die in den Rentengenuß ge- 
treten sind, ohne mit der Armenpflege in Berührung gekommen zu sein, 
gibt es sicherlich eine ganze Reihe solcher, die beim Fehlen der Rente 
über kurz oder lang ihr doch schließlich anheimgefallen wären. Man 
muß hierbei beachten, daß schon seit dem Haftpflichtgesetz vom 7. Juni 
1871 die Unternehmer für eine ganze Reihe von Unfällen zu Schaden- 
ersatz verpflichtet waren; manche kamen sogar durch Versicherung 
ihrer Arbeiter gegen Unfall bei privaten Gesellschaften für alle 
— auch die nicht haftpflichtigen — Unfälle auf. Es muß auch noch 
des für die Beurteilung so wichtigen Umstandes Erwähnung getan 
werden, daß ein großer Teil derjenigen, die einen Unfall erlitten, über- 
haupt nicht erwerbsunfähig und daher nicht so hilfsbedürftig ist, um 
die Hilfe der öffentlichen Armenpflege in Anspruch nehmen zu müssen. 

Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIII). 6 


$ 


82 Miszellen. 

Nur eine genaue Untersuchung der wirtschaftlichen Verhältnisse aller 
Unfallrentner könnte zahlenmäßig diesen entlastenden Einfluß ergeben. 
Material, auf solchen Untersuchungen fußend, fehlt in den Erhebungen 
vollkommen. 


sehr unsicher, da ihnen die Unterlage fehlt. 
Für die Frage der Einwirkung der Unfallversicherung auf die 


öffentliche Armenpflege bietet die Unfallstatistik einigen Anhalt. 


können wir entnehmen: 


Tabelle 4. 


Schätzungen sind zwar vereinzelt vorhanden, sind jedoch 


Ihr 


Verletzte in versicherungspflichtigen Betrieben, für welche bei ent- 
schädigungspflichtigen Unfällen erstmalig Entschädigungen fest- 


gestellt sind. 


Zahl und Folgen der Unfälle in den Jahren 1886—1903 


Auf 1000 Versicherte 


k und zwar: und zwar: 
Ezi — 
EN | 4 
& Z o dauernd vorüber- | 
3 ae R Jo P gehend 2l g 
E über- |7 & Getötete völlig teilweise Erwerbs- 2/38 
© | haupt | o Erwerbsunfähige unfähige E S 
ea 55° | 
sache 3 = é F r ad Erwerbs- 
er | ab- | in | ab- | in | ab- | in ab- | in ‚= iät 27 
AS solutProz.| solut,Proz.| solut |Proz.| solut |Proz. ADIRMEE 
es Si N J7 oe hs fs ar Z Mi, T > I; T OT 
1886| 10540| 100 2716/25,77| 1778.16,87) 3 961137,58 2 085 19,78 [2,83 0,73/0,48 1,06 0,36 
1887 | 17 102| 162 '3270 19,12 3166 18,51' 8462'49,48| 2 204 12,89 |4,15 0,79|0,77|2,05 0,54 
1888 | 21057 200 3645|17,31| 2203 10,46 11 023|52,35! 4 186 |19,88 |2,04 0,35|0,21 1,07 | 0,41 
1889 | 31019| 294 5185|16,72 2882, 9,2916 337 52,67| 6615 ‚21,32 [2,32 0,39|0,22|1,22 | 0,49 
1890| 41420 393 5958|14,38 26811 6,4722 615 54,60|10 166 |24,55 [3,04 0,44/0,20 1,66 | 0,74 
1891| 50507 | 479 6346|12,56 2561, 5,0727 788 55,02113 812 27,35 12,80 0,35j0,14| 1,54 | 0,77 
1892 | 54 827 520 5811 10,60 2640 4,81|30 569 55,76 15 807 |28,83 [3,04 0,32/0,15|1,69 | 0,88 
1893| 61874 | 587 6245|10,09 2487| 4,0236 236 58,57|16 906 ‚27,32 [3,41 0,34|0,14 2,00 | 0,93 
1894| 68677 | 652 6250| 9,10, 1752, 2,55 38 952 56,72|21 723 31,63 3,78/0,34/0,10|2,14 | 1,20 
1895| 74467 | 707 6335| 8,51. 1608| 2,24 40 527 54,42.25 937 134,83 [4,05 0,35|0,09 2,20 | 1,41 
1896 | 85 272) 809 6489| 8,20 1524, 1,79|44 373 52,03 32 380 37,98 [4,84 0,39|0,09|2,52 | 1,84 
1897 | grızı| 865 7287| 7,99 1452 1,5046 489151,00 35 943 39,42 |5,08 0,41 0,08|2,59 2,00 
1898| 96774 | 918 7848| 8,11 1109) 1,1547 764 49,36|40 053 141,38 [5,30 0,43/0,06]2,62 | 2,19 
1599 104 811 994 7999| 7,83 1297| 1.24 51 240 48,89|44 275 42,24 5,63/0,43 0,07,2,75 | 2,38 
1900 | 106 447 | 1010 8449| 7,94 1366| 1,28,51 11148,02|45 521 42,76 |5,63/0,45/0,07|2,70 | 2,41 
1901 | 116089 | 1101 8359| 7,20 1416| 1,22 54 340 46,81|51 974 44,77 |6,15/0,4410,082,88 | 2,75 
1902 | 119 901 | 1138 17842] 6,54 1396| 1,16 55 264 46,09|55 399 46,21 6,28/0,41|0,07|2,90 | 2,90 
1903 | 127 947 | 1214 |8236 6, 1517| 1,19|58 129/45,42|60 065 46,95 6,5719,42 0,08|2,99 | 3,08 


(Entnommen dem Stat. Jahrbuch für das Deutsche Reich. Jaurg. 1905, Die Prozent- 
zahlen sind der besseren Uebersicht halber von mir berechnet.) 


Die Fälle dauernder völliger Invalidität sind in steter Abnahme 


begriffen, jedenfalls unter dem Einflusse einer gründlichen Krankenfür- 
sorge, welche die Berufsgenossenschaften ihren Versicherten angedeihen 
lassen. Ihre Zahl ist von 16,87 Proz. aller entschädigten Unfälle des 
Jahres 1886 auf 1,19 Proz. der Unfälle des Rechnungsjahres 1903 
herabgegangen. Der größte Prozentsatz, im Mittel immer 45—50 Proz. 
aller Unfallverletzten entfällt auf die dauernd teilweise Erwerbsunfähigen. 
Wenn in der Erhebung des Reichsamtes des Innern ein Armenverband 


Miszellen. 83 


die Ansicht äußert, diese Halbinvaliden würden in den Betrieben, in 
denen sie den Unfall erlitten, gerne als Laufburschen oder Portiers 
beschäftigt, so ist dies eine sehr erfreuliche Tatsache, die ein gutes 
Licht auf das sittliche Empfinden dieser Unternehmer wirft; leider ist 
dies aber keineswegs die Regel. Bei dem starken Angebot von voll- 
ständig Arbeitsfähigen fällt es denjenigen, die eine Einbuße an ihrer 
Erwerbsfähigkeit erlitten, schwer, eine lohnende Beschäftigung zu finden. 
Nur zu oft sind diese daher in die traurige Lage versetzt, die Hilfe 
der öffentlichen Armenpflege anrufen zu müssen. Somit dürfte hieraus 
gerade eine recht beträchtliche Entlastung der Armenpflege durch die 
Unfallversicherung, in zunehmendem Schutz vor Mehrbelastung, mit 
ziemlicher Sicherheit zu folgern sein. Derjenige Zweig der öffentlichen 
Armenpflege, der den dauernd zu Unterstützenden seine Hilfe bietet, 
ist die Almosenpflege.e Um die Einwirkung der Unfallversicherung auf 
diesen Zweig der Armenpflege deutlicher zum Ausdruck bringen zu 
können, dürfte es sich empfehlen, die Almosenpfleglinge nach Ge- 
schlechtern getrennt aufzuführen, ist es doch eine unbestrittene Tat- 
sache, daß fast überall die Almosenempfänger zumeist dem weiblichen 
Geschlechte angehören. Ferner ist nur — im Verhältnis zu der Zahl 
der gegen Unfall versicherten Männer — eine geringe Anzahl Frauen 
gegen diese Gefahr durch Versicherung gedeckt. Die Zahl der bei 
den Berufsgenossenschaften versicherten Arbeiter wird dem Geschlechte 
nach zwar nicht getrennt nachgewiesen: doch nimmt man an offizieller 
Stelle an, daß z. B. für 19031) 12 964000 Männer, aber nur 5 001 000 
Frauen gegen Unfall versichert waren. Da also die Männer verhältnis- 
mälig mehr von der Versicherungspflicht erfaßt werden wie die Frauen, 
so müßte sich bei ihnen auch die Einwirkung am deutlichsten nachweisen 
lassen. Zu diesem Zwecke entnehmen wir der Erhebung des Deutschen 
Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit die entsprechenden „ge- 
trennten“ Daten, und wir finden bei einer großen Anzahl von Armen- 
verbänden unsere Ansicht bestätigt: bei den Almosenempfängern männ- 
lichen Geschlechtes ist ein schnellerer Rückgang, ein langsameres Steigen 
feststellbar als bei der Zahl der weiblichen Unterstützten. Dort, wo 
dies Verhältnis nicht besteht, haben die Berichterstatter fast immer die 
Möglichkeit gehabt, außerhalb der Arbeiterversicherung liegende Gründe 
für die Mehrbelastung beizubringen. Für diejenigen Orte, die keine 
getrennten Nachweisungen liefern, „ist die Wahrscheinlichkeit vor- 
handen, daß auch hier die Steigerung lediglich auf den weiblichen 
Teil entfällt“. (Freund, a. a. O.) 

Im Armenbeerdigungswesen ist der Einfluß der Unfallversicherung 
wohl lange nicht so fühlbar als der der Krankenversicherung. Hierfür 
dürfte wohl schon ein Beweis in einer bloßen Nebeneinanderstellung der 
Leistungen der beiden Zweige der Arbeiterversicherung an Sterbegeld 
liegen. Von sämtlichen Trägern der deutschen Unfallversicherung sind 


1) Die deutsche Arbeiterversicherung als soziale Einrichtung, II. Aufl., Berlin 
1905, 8. 39. 
6* 


84 Miszellen. 


an Sterbegeld 1885—1903 6312315 M. gezahlt worden, wohingegen 
die Aufwendungen der sämtlichen Krankenkassen für diesen Zweck im 
nämlichen Zeitraume über 77000000 M. betrugen, und dabei ist wohl 
auch hervorzuheben, daß die Unfallversicherung einen um mehrere 
Millionen größeren Kreis von Versicherten umfaßt. 

Wenngleich uns die Unfallstatistik anzeigt, daß der prozentuelle 
Anteil der Unfälle tödlichen Ausgangs an der Gesamtheit der Unfälle 
immer mehr zurückgeht, so lehrt sie uns auch zugleich die traurige 
Tatsache, daß doch jährlich Tausende von Arbeitern Betriebsunfällen 
zum Opfer fallen. Wie schrecklich war die Lage der Hinterbliebenen 
vor unserer Sozialgesetzgebung! Nach dem Haftpflichtgesetz von 1871 
mußte der Unternehmer für durch seinen Betrieb verursachte Unfälle 
nur dann Schadenersatz leisten, wenn seines Vertreters Verschulden klar 
bewiesen war, was zu einer großen Anzahl endloser Prozesse Veranlassung 
gab. Welch bange Wochen für die arme Familie! „Heut ist jedoch 
die bejammernswerte Frau, der die Bahre des im Bergwerk oder in der 
Fabrik verunglückten Mannes ins Haus getragen wird, sicher, daß sie 
und ihre Kinder nicht der Not und dem Hunger — notdürftig gemindert 
nur durch die Armenpflege — preisgegeben sein werden !)!“ 

Die Witwen- und Waisenversorgung der Unfallversicherung ($ 16 
des Gewerbeunfallversicherungsgesetzes und die Parallelparagraphen) 
muß unbedingt die Armenpflege entlastet haben; denn sie hat es sicher- 
lich mancher Witwe ermöglicht, ohne Inanspruchnahme öffentlicher Wohl- 
tätigkeit, sich und ihre Kinder zu ernähren (s. weiter unten. Wenn- 
gleich die für das einzelne Kind gewährte Rente nicht immer ausreicht, 
um seine Pflegegelder zu begleichen, so weist in solchen Fällen die 
dann wohl nötige Zulage von seiten der Armenverwaltung mittelbar, 
vor allem jedoch der oft beobachtete Rückgang in der Zahl der der 
Armenpflege zur Last fallenden Waisenkinder mit großer Wahrscheinlich- 
keit auf eine stattgehabte Entlastung durch die Unfallversicherung hin. 
In Fulda würde z. B. ein alleinstehendes Kind bis zur Novelle des 
Unfallversicherungsgesetzes von 1900 die Hilfe der Armenpflege haben 
anrufen müssen (vorausgesetzt, daß ihm keine andere Unterstützungs- 
möglichkeit zur Verfügung stand), wenn sein durch Unfall verstorbener 
Ernährer — die Novelle schließt ja auch nicht die Unterstützung von 
Enkeln aus, wenn sie Doppelwaisen sind — nicht mindestens 720 M. 
verdiente. Nun, da das Pflegegeld um 66?/, Proz. gestiegen, müßte 
das Jahresarbeitsverdienst des durch Unfall Getöteten gar 900 M. be- 
tragen haben, damit die Rente, die sein Kind beanspruchen kann, allen- 
falls die Kosten der Aufnahme in eine Familie decke. Ich erwähnte 
bereits oben, daß es eine ganze Anzahl Orte gübe, in denen seit Inkraft- 
treten der Unfallversicherungsgesetze ein beträchtlicher Rückgang in 
der Zahl der auf Armenkosten zu verpflegenden Waisen sich bemerkbar 
gemacht hat. Die Antwortschreiben der bei der Erhebung des Deutschen 
Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit beteiligten Armenverbände 


1) Rosin, Umschau und Vorschau auf dem Gebiete der Arbeiterversicherung, 
Freiburg 1897. 


Miszellen. 85 


enthalten eine ganze Reihe hierfür brauchbarer Angaben, die sich auf 
die Jahre 1880, 1885, 1890 und 1893 beziehen. (S. Tabelle 5.) 


Tabelle 5. 
Auf Kosten der Armenpflege zu verpflegende Waisen. (Aus Heft 21 


der Schriften des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit, 
Leipzig 1895). 


Ort | 1880 1885 1890 1893 
| 

Aachen D | 167 | 18 1) 
Barmen 93 71 45 44 
Bielefeld 145 205 120 93 
Bromberg 197 181 149 138 
Cassel 95 100 45 50 
Dortmund 320 460 300 320 
Erfurt 80 66 42 56 
Rostock 19 31 24 | 31 
Marburg 24 16 20 29 
Zittau 19 16 10 15 


Für diejenigen Orte, in denen kein Rückgang in der Zahl der auf 
Armenkosten verpflegten Waisen, vielleicht sogar noch eine Zunahme 
eingetreten ist, da lassen sich gewöhnlich Gründe finden, deren be- 
lastender Einfluß auf die Armenpflege von der Arbeiterversicherung nicht 
paralysiert werden kann (Influenzaepidemie). In Bezug auf eine mehr- 
mals beobachtete Zunahme in der Zahl der auf Armenkosten zu ver- 
pflegenden Waisen während des Trienniums 1890—1893 dürfte es 
wohl genügen, daß ich auf die analogen Verhältnisse bei der Frage der 
Armenbeerdigungen (s. „Krankenversicherung“) verweise. Auch für 
Berlin ist ein Rückgang in der Zahl der der Armenpflege zur Last ge- 
fallenen Waisen von 0,34 Proz. der Bevölkerung des Jahres 1883 auf 
0,29 Proz. der Bevölkerung im Jahre 1891 eingetreten. 

Weniger markant wird dieser Einfluß in jenen Gegenden sein 
müssen, in denen schon lange vor dem Erlaß unserer Sozialgesetze die 
Arbeiter sich in Genossenschaften vereint hatten, um — oft unterstützt 
von ihrem Lohnherrn — die Folgen von Unfällen zu entschädigen 
(Knappschaftskassen). Die Unfallversicherung hat zweifelsohne einen 
entlastenden Einfluß ausgeübt auf die Armenkrankenpflege. Diese ihre 
Wirkung wurde jedoch anfänglich von der Krankenversicherung voll- 
kommen in den Schatten gestellt. Erst in allerneuester Zeit, man kann 
sagen in den letzten 15 Jahren, hat die Krankenfürsorgetätigkeit der 
Unfallversicherung durch Einrichtung von Unfallstationen und -kranken- 
häusern seitens der Berufsgenossenschaften einen bedeutenden Auf- 
schwung genommen. In der richtigen Erkenntnis, daß der erste Ver- 
band das Schicksal der Wunde entscheidet, daß von der bedrohten 
Arbeitskraft um so mehr zu retten ist, je früher eine gründliche zweck- 
entsprechende Heilmethode einsetzt, übernehmen viele Berufsgenossen- 
schaften gegebenenfalls sofort nach dem Unfall das Heilverfahren. 


1) Diese Angaben fehlen in der Erhebung. 


86 Miszellen. 


Nach 8 9 des Gewerbeunfallversicherungsgesetzes und den entsprechenden 
Paragraphen der übrigen Unfallversicherungsgesetze hat ja die Berufs- 
genossenschaft die Verpflichtung erst „vom Beginn der 14. Woche nach 
dem Unfall“ freie ärztliche Behandlung, Arznei und sonstige Heilmittel 
zu gewähren. Sie ist jedoch nach $ 76c des Krankenversicherungsgesetzes 
berechtigt, „in Erkrankungsfällen, welche durch Unfall herbeigeführt 
werden“ sofort nach dem Unfall „das Heilverfahren auf ihre Kosten zu 
übernehmen“. Wie sehr die Berufsgenossenschaften den hohen Wert 
einer sachgemäßen Heilbehandlung Unfallverletzter für die Wiederher- 
stellung der Erwerbsfähigkeit erkannt haben, das beweist die fort- 
währende Zunahme ihrer Ausgaben für diesen Zweig ihrer Tätigkeit. 
Noch 1885 standen ganze 19 M. auf dem Ausgabeetat der Berufsge- 
nossenschaften unter dem Titel „Krankenfürsorge“, jedoch die Folgezeit 
brachte ganz andere Summen als Aufwendungen für Heilbehandlung in 
den Rechnungsaufstellungen zum Vorschein. Und die folgende Tabelle 
redet eine deutliche Sprache, daß die Berufsgenossenschaften in ihrem 
eigenen Interesse bestrebt sind, für eine möglichst sorgfältige Behand- 
lung bei den durch Unfall Verletzten zu sorgen: 


Pflege in einer 


7 Kraukenfürsorge (mit 
Jahr Angehörigenrente 


seit 1886) Heilanstalt 
1885 19 = 
1890 2071294 931 182 
1595 4 646 328 2 396 995 
1900 6 919 962 3 350 177 
1903 8 809 081 4 219 461 


Dafür spricht vor allem die rasche Zunahme der Ausgaben der 
Berutsgenossenschaften für die Heilbehandlung innerhalb der ersten 
13 Wochen nach dem Unfall: 


1885 — 
1390 36 096 
1895 316 355 


1900 701614 
1903 666 377 
Das Heilbehandlungsverfahren der Unfallversicherung kann bedeu- 
tend intensiver gestaltet werden als das der Krankenkasse, die sehr oft 
nur mit beschränkten Mitteln arbeitet. Braucht doch die Berufsgenossen- 
schaft selbst nicht große Opfer zu scheuen, wo die Möglichkeit vor- 
handen ist, einem Unfallverletzten seine Erwerbsfähigkeit erhalten oder 
wiedergeben zu können, d. h. der drohenden Rentenlast vorzubeugen. 
Ihren Zweck glaubten die Berufsgenossenschaften am besten da- 
durch zu erreichen, daß sie besondere Krankenhäuser für ihre Unfall- 
verletzten erbauten. So sind die Heilanstalt „Bergmannsheil“ zu Bochum, 
das Krankenhaus „Bergmannstrost“ zu Halle a. S., das Kranken- und 
Rekonvaleszentenhaus der Norddeutschen Holzberufsgenossenschaft zu 
Neu-Rahnsdorf (Wilhelmshagen) bei Berlin u. a. geradezu bekannte 
Musteranstalten dieser Art. Andere Berufsgenossenschaften, die keine 


Miszellen. 87 


eigenen Heilanstalten bislang errichtet haben, stellen öfters — durch 
Verträge mit den Gemeinden oder anderen Körperschaften — ihren 
Versicherten selbständige Abteilungen zur gründlichen Behandlung in 
Krankenhäusern, auch den Kliniken der Universitäten, zur Verfügung. 
Es darf auch nicht unerwähnt bleiben, daß die Heilbestrebungen der 
Organe der Unfallversicherung vielfach Anregung gegeben haben zur 
Errichtung sogenannter medico -mechanischer Heilanstalten für durch 
Unfall Verletzte, die von den Berufsgenossenschaften sehr in Anspruch 
genommen werden. Somit können die Bedauernswerten, denen ein Be- 
triebsunfall einen Teil ihrer Erwerbsfähigkeit raubte, sicher sein, daß 
ihnen von seiten der Berufsgenossenschaft eine Behandlung zu teil 
werden wird, wie sie ihnen besser gar nicht gewährt werden könnte. 
Und wie wohltuend muß diese Leistung der Träger der Unfallversiche- 
rung auf die Armenpflege wirken! 

Interessant sind für die Frage der Entlastung der Armenpflege 
durch die Unfallversicherung folgende — gekürzt wiedergegebene — 
Ausführungen des Kalenders und Statistischen Jahrbuchs für das König- 
reich Sachsen !): 

„Die Gesamtzahl der infolge von „Unfall“ (im weiteren Sinne des 
Wortes) Unterstützten betrug im Jahre 


1880 2443 

1885 2400 

1890 1378 
Hierunter sind Selbstunterstützte enthalten 

1880 1079 

1885 1142 


1890 617 (!) 


Dieser ganz außerordentliche Rückgang in der Zahl der Gesamt-, 
sowie der Selbstunterstützten in der Periode von 1885 zu 1890 auf 
beinahe die Hälfte, kann auf nichts anderes als auf die Unfallversiche- 
rung der Arbeiter zurückgeführt werden. Auch der prozentuale Anteil 
der Unterstützungsursache „Unfall“ an der Gesamtheit ist von 1885 
zu 1890 zurückgegangen, während nämlich 

1880 2,60 Proz. 

1885 271 9 
aller Unterstützten auf diese Ursache entfallen, brauchten 

1890 nur 1,70 Proz. 
aller Unterstützten wegen „Unfall“ aus Armenmitteln unterstützt zu 
werden. 

Bei den Selbstunterstützten finden wir 


1880 2,01 Proz. 
1885 2,15 s» 
und 1890 nur noch its 5 


wegen Unfalls Unterstützte. 


1) Dresden 1893. 


88 Miszellen. 


Auf 10 000 Einwohner des Königreichs Sachsen entfallen wegen 
Unfall 


1) dauernd 

Selbst- und Mitunterstützte: 
1880 5,5 
1885 5,2 
1890 2,8 


2) vorübergehend 
Selbst- und Mitunterstützte: 


1880 2,7 
1885 2,3 
1890 1,1 


Hiernach haben sich im Jahrzehnt 1880/1890 die wegen Unfall 
dauernd Unterstützten auf fast die Hälfte verringert, die Zahl der 
vorübergehend Unterstützten auf mehr als die Hälfte. Der haupt- 
sächlichste Rückgang findet sich im Jahrfünft 1885/1890, in welches 
der Beginn der Wirksamkeit der Unfallversicherung fällt.“ Diese au- 
thentischen Zahlen dürften einen deutlichen Beweis dafür liefern, daß 
tatsächlich eine nicht zu unterschätzende Entlastung der Armenpflege 
durch die Unfallversicherung stattgefunden hat. Schließlich hat auch 
die Unfallversicherung insofern der Armenpflege manches Opfer erspart, 
als sie Vorkehrungen trifft, um die Zahl und Wirkung der Unfälle 
möglichst zu mindern. Die Berufsgenossenschaften sind zu diesem 
Ende befugt, sogenannte „Unfallverhütungsvorschriften“ zu erlassen, 
und haben auch ein gesetzliches Recht, ihre Mitglieder, die den Vor- 
schriften „über die in ihrem Betriebe zu treffenden Einrichtungen und 
Anordnungen“ zuwiderhandeln, sehr empfindlich zu disziplinieren. Wenn- 
gleich auch die Unfallstatistik keine Abnahme in der Zahl der Unfälle 
anzeigte, so mag doch mancher Unfall hierdurch verhütet, mögen andere 
Unfälle in ihren Wirkungen abgeschwächt worden sein. Diese Tätigkeit 
der Berufsgenossenschalten hat ferner unzweifelhaft in hervorragendem 
Maße zur Verhinderung von Krankheiten beigetragen, wie sie sich im 
Anschluß an gewisse Arbeiten so olt und mit solch traurigen Folgen 
entwickelten: sogenannte „Berufskrankheiten“. 

Somit wird man dem früheren Präsidenten des Reichsversicherungs- 
amtes, Dr. Bödiker, völlig beipilichten, wenn er sagte: „Die obligato- 
rische Unfallversicherung hat in der Tat eine bessere Heilung der Ver- 
letzten und folgeweise die möglichste Verminderung des Grades ihrer 
Erwerbsunfähigkeit zur Folge gehabt. Es wird dadurch in den Familien 
viel Schmerz, Kummer und Sorge beseitigt. Wo sonst der Tod ein- 
trat, wird das Leben erhalten; wo sonst Verkrüppelung die Folge ge- 
wesen wäre, tritt jetzt die Erhaltung gerader Gliedmaßen ein. Aus 
Hunderten, ja Tausenden von ganz oder teilweise Erwerbsunfähigen 
werden arbeitende, nützliche Glieder der Gesellschaft gemacht und an 
die Stelle der Last, Krüppel zu erhalten, tritt die produzierende Kraft 
des Genesenen !“ 

(Fortsetzung folgt.) 


Miszellen. 89 


II. 
Der Tarifvertrag im Deutschen Reich. 


Von Oscar N eve- Berlin. 


Das Problem des Tarifvertrages bedeutet unter den volkswirt- 
schaftlichen Erscheinungen der Gegenwart dasjenige, das nicht allein 
innerhalb der neuen industriellen Entwickelung für Arbeitgeber und 
Arbeitnehmer ständig wachsende Tragweite erlangt hat, sondern auch 
die nationalökonomische und die Rechtswissenschaft darf in gewissem 
Sinne die Frage der kollektiven Regelung der Arbeitsbedingungen als 
ein Novum ansehen. 

In eine systematische Darstellung des Tarifvertrages in 
Deutschland wie in eine Würdigung der damit zusammenhängenden 
historischen, theoretischen und sonstigen Fragen eingetreten zu sein, 
ist das Verdienst des Kaiserlichen Statistischen Amts, dessen 
Abteilung für Arbeiterstatistik vor kurzem mit einer hierauf bezüg- 
lichen Veröffentlichung die Reihe der „Beiträge zur Arbeiterstatistik* 
in den No. 3—5 fortsetzt!). 

Die hauptsächlichsten Ergebnisse dieser amtlichen Publikation ge- 
langen nachstehend im Zusammenhang zur Vorführung. 

Die Entstehungsgeschichte der umfangreichen, großzügig angelegten 
Arbeit reicht 3 Jahre zurück. Im Juni 1903 brachte das vom Kaiser- 
lichen Statistischen Amt herausgegebene „Reichs-Arbeitsblatt“ ein erstes 
an alle Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände und die sonst in Be- 
tracht kommenden Organisationen und Stellen gerichtetes Ersuchen, 
der arbeiterstatistischen Abteilung die für eine Sammlung von Tarif- 
verträgen erforderlichen Unterlagen zur Verfügung zu stellen. Bei der 
ursprünglichen Idee, lediglich das daraufhin eingegangene Material in 
einer Zusammenstellung zu publizieren, ist es aber sodann nicht ver- 
blieben. Von einem solchen Plan, dessen Ausführung nur von bedingtem 
Wert gewesen wäre, ging das Kaiserliche Statistische Amt später viel- 
mehr ab, um eine systematische Bearbeitung des Stoffes vorzunehmen. 
Diese gibt der 2. Band. Daneben ergab sich die Notwendigkeit einer 
theoretischen Einführung, die in eine kurze Darlegung der für die Be- 
urteilung des Problems in Betracht kommenden historischen, volks- 


1) Der Tarifvertragim Deutschen Reich. Referent: Regierungsrat Dr. Leo, Bd. 1—3. 
8%. (180— 406—424 Seiten.) Berlin, Carl Heymann, 1906. 8 M. 


90 Miszellen. 


wirtschaftlichen, juristischen u. s. w. Fragen einzutreten hatte, und die 
Band 1 enthält. Der 3. Band bringt das Material selbst. Dabei konnte 
von der Wiedergabe sämtlicher dem Kaiserlichen Statistischen Amt 
zur Verfügung stehenden Tarife Abstand genommen werden, da einer- 
seits die textliche Verarbeitung der gesamten Unterlagen erfolgt ist, 
andererseits ein besonderer nach Gewerben gegliederter Index alle 
gesammelten Tarife berücksichtigt. 

Um vorweg auch einen ziffernmäßigen Anhalt zu geben, sei mit- 
geteilt, daß die amtliche Sammlung nahezu 1600 Exemplare zählt. Sie 
ist damit noch keine absolut erschöpfende, umfaßt aber den weitaus 
größeren Teil aller im Deutschen Reich bestehenden Tarifverträge, und 
bot der Bearbeitung die ausreichende Grundlage. Die Zahl der an 
diesen Verträgen paktierenden Arbeiter wird auf rund eine halbe 
Million veranschlagt. 

Die Arbeit leitet den 1. Band ein mit einer Darstellung der volks- 
wirtschaftlichen Entwickelung, des Wesens und der Be- 
deutung des Tarifvertrags. 

Bemerkenswert für den Gang der Entwickelung ist die Stellung- 
nahme der Interessenten, die nicht immer eine einheitliche gewesen ist. 
Was die Arbeitnehmer anlangt, so wird auf die ausgesprochen ableh- 
nende Haltung früherer Zeiten verwiesen, wie sie beispielsweise eine 
Protestresolution des Leipziger Gewerkschaftskartells gegen tarifliche 
Vereinbarungen aus dem Jahre 1897 noch zum Ausdruck brachte. Seit 
dem Jahre 1899 gelangt indessen gerade die gegenteilige Anschauung 
zum Durchbruch, die den Weg und das Ziel der kollektiven Regelung 
der Arbeitsbedingungen als gangbar und erstrebenswert bezeichnet. Auf 
seiten der Arbeitgeber hat man sich bis heute, wenn auch nicht aus- 
schließlich, so doch überwiegend tariflichen Vereinbarungen gegenüber 
zumeist ablehnend verhalten. Diese abweichende Stellungnahme der 
Parteien findet ihre natürliche Erklärung in der Verschiedenartigkeit 
der Auffassungen von Vorteil und Nachteil tariflicher Abmachungen, 
die sich für Arbeitnehmer wie Arbeitgeber von ebenso verschieden- 
artigen Gesichtspunkten entwickeln lassen. Erinnert sei hinsichtlich 
der Vorzüge nur an die aus der einheitlichen Festsetzung resultierende 
Ständigkeit der Löhne und Arbeitsbedingungen, die Unabhängigkeit 
von den Schwankungen der Konjunktur, die in der Regel bestehende 
Aussicht weiterer Lohnaufbesserung nach Ablanf des Vertrages. Auch 
der Arbeitgeber hat hieran Teil durch die Sicherung vor Lohn- und 
Arbeitsdifferenzen, womit gleichzeitig die geschäftliche Lage vor Er- 
schütterungen bewahrt bleibt, und wenn das tarifliche Geltungsgebiet 
ein genügend ausgedehntes ist, durch die Ausschaltung der Preisunter- 
bietung seitens der Konkurrenten. Entsprechend ergeben sich die Nach- 
teile: Für den Arbeitnehmer der Mangel jedweder Individualisierung; 
der über das Durchschnittsmaß tüchtige Arbeiter kann den höheren 
Lohn, den an sich zu erzielen ihm möglich wäre, nicht erlangen, der 
untüchtige Arbeiter, dessen Leistungen nicht dem Lohn entsprechen, 
wird entlassen. Für den Arbeitgeber die bei konstant zu haltenden 
Löhnen und Arbeitsverhältnissen ständig bestehenden Schwierigkeiten 


Miszellen. 91 


der Anpassung an die wechselnde Konjunktur, insbesondere beim Wett- 
bewerb auf dem internationalen Markt und durch die schon gestreifte 
Nivellierung der Arbeitsbedingungen, da sie individuelle Höchstlei- 
stungen unterbindet. Weiter wird hingewiesen auf die mit der kollek- 
tiven Regelung für einzelne Gewerbe eintretenden Hemmungen und 
Behinderungen, besonders bei stetig sich ändernder Technik, z. B. die 
Maschinenindustrie, auf das immer wieder beobachtete Hinauftreiben 
der Lohnforderungen nach Ablauf der Verträge, auf die politischen 
Momente, die seitens der organisierten Arbeiterschaft hineingetragen 
werden, endlich auf den Mangel eines einheitlich klaren Tarifver- 
traysrechts. 

Die Gewerbe, welche in Deutschland den Tarifgedanken verwirk- 
licht haben, lassen sich in zwei Gruppen scheiden. Soweit er 
älteren Datums ist, hat sich das Handwerk bemüht — abgesehen vom 
Buchdruckergewerbe, in dem der Tarifgedanke zurückgeht bis in die 
Zeit der ersten sozialpolitischen Arbeiterbewegung des Jahres 1848 — 
der Entwickelung zur Großindustrie gegenüber seinerseits fester sich 
zusammenzuschließen. Die amtliche Untersuchung bezeichnet als hierher 
gehörig die „Schlägergewerbe“ (Feingold-, Silber- und Metallschläger) 
sowie die Solinger Gewerbe. Für die neuzeitliche Annahme des 
Tarifsystems, soweit es die modernen großen Arbeiterorgani- 
sationen in ihr Programm aufgenommen haben, kommen hauptsäch- 
lich die holzverarbeitenden Gewerbe (Tischler, Parkettleger, Böttcher), 
die Nahrungsmittel- und Bekleidungsgewerbe (Bäcker, Schneider, Schuh- 
macher u. s. w.) und das Baugewerbe in Betracht. Im übrigen besteht 
anscheinend die Entwickelungstendenz einer allmählichen Uebertragung 
der Tarifbewegung von den handwerklichen auf die großindustriellen 
Gewerbe. Auch das Ausland gibt hierfür die Bestätigung, im beson- 
deren England und die Vereinigten Staaten, hier findet sich der Tarif- 
vertrag speziell im Kohlenbergbau, in der Eisen- und Baumwollen- 
industrie vertreten. 

An die Vorführung der für die Entwickelungsgeschichte des kol- 
lektiven Arbeitsvertrages bemerkenswerten Tatsachen knüpft die amt- 
liche Untersuchung eine Erörterung über die volkswirtschaftliche 
Bedeutung. 

Die Idee des Tarifvertrages, in die Praxis übersetzt, stellt sich 
dar als das Mittel, die Störungen der Volkswirtschaft, wie sie Streiks 
und Aussperrungen und alle sonstigen gewaltsamen Auseinandersetzungen 
zwischen den Interessenten des Produktionsprozesses bedeuten, im In- 
teresse einer friedlichen Entwickelung zu vermeiden und auszuschalten. 
In gleicher Weise sollen auch die im Anschluß an tarifliche Vereinba- 
rungen in der Regel entstehenden Tarifämter, Schlichtungskommissionen 
u. s. w. hauptsächlich die Aufgabe übernehmen, für den Endtermin der 
Verträge die neu festzusetzenden Regelungen auf friedlichem Wege anzu- 
bahnen, um somit gewaltsame Auseinandersetzungen und die ultima 
ratio des Streiks zu vermeiden. Die Frage dagegen, ob der Tarifver- 
trag das Mittel ist und sein wird, Lohn- und Arbeitsdifferenzen über- 
haupt aus der Welt und damit einen dauernden gewerblichen 


92 Miszellen. 


Frieden zu schaffen, verneint die Untersuchung!). Er bedeute in der 
Praxis immer nur einen „vorübergehenden Interessenausgleich, einen 
bewaffneten Waffenstillstand“. 

Die gegebenen historischen Beiträge zur Tarifbewegung in 
Deutschland behandeln besonders ausführlich das Buchdruckgewerbe, 
das bekanntlich auf die älteste Tarifgeschichte zurückblickt. Sodann 
wird auf den tariflichen Entwickelungsgang in den übrigen graphischen 
Gewerben und in der Buchbinderei eingegangen, um abschließend die 
Verhältnisse in den Schlägergewerben der Metallindustrie und im Bau- 
gewerbe zur Vorführung zu bringen. Auf eine nähere Darlegung aller 
dieser zerstreuten geschichtlichen Einzelheiten muß hier mit Rücksicht 
auf den zu Gebote stehenden nur knappen Raum verzichtet werden. 
Es sei hierfür auf die Spezialliteratur verwiesen, die auch in der Ver- 
öffentlichung zur Grundlage gedient hat?). Zusammenfassend führt die 
amtliche Untersuchung zu diesen geschichtlichen Mitteilungen folgen- 
des aus. „Die Darstellung wird geeignet sein der Einsicht zum Durch- 
bruch zu verhelfen, daß erfolgreiche Durchführung von Tarifverträgen, 
abgesehen von bestimmten wirtschaftlichen und organisatorischen Vor- 
aussetzungen, von inneren psychologischen Faktoren auf beiden Seiten 
abhängig ist, die nicht ohne weiteres überall vorhanden sind und daß 
der Geschichte des Tarifvertrages auch die Geschichte des Tarifbruchs 
von der einen oder der anderen Seite nicht ganz fremd ist, so daß die 
Geschichte des Tarifvertrags gleichzeitig auch eine Geschichte der dem 
Tarifvertrag vorangehenden oder ihn unterbrechenden Lohn- und Tarif- 
kämpfe ist.“ In Bezug auf das Buchdruckgewerbe und die Vorbe- 
dingungen der dortigen Tarifdurchführung — der bei beiden Parteien 
vorhandene gute Wille zur Innehaltung der Verträge, die als gerechter 
Ausgleich der Interessen empfunden werden müssen, und die gegen- 
seitire gleichwertige Anerkennung der Parteien — wird abschließend 
resnmiert: „Diese Vorbedingungen, die beiderseits ein großes Maß von 


1) Kennzeichnend ist hier die Stellungnahme der freien (sozialdemokratischen) 
Gewerkschaften. Das „Korrespondenzbl. d. Generalkom. d. Gewerksch.“ schreibt hierüber in 
der Nummer vom 29. Juli 1905 u. a.: „Für den Unternehmer bleibt das treibende Motiv 
der Vertragschließung das Bedürfnis nach Ruhe — für die Gewerkschaften die Voraus- 
setzung zur Durchführung weiterer Forderungen. Wo andere Motive die Arbeiter be- 
herrschen, als die des kämpfenden Fortschritts, wo sie sich leiten lassen von dem Idol 
eines dauernden Friedens, da hört die Tarifgemeinschaft auf, eine Etappe des Klassen- 
kumpfes zu sein, da gerät sie in den Sumpf des Zünftlertums. Der Gegensatz zwischen 
Unternehmertum und Arbeiterklasse schließt ihn“ — den Tarifvertrag — „als Traktat 
eines dauernden Friedens ganz von selbst aus. Unsere Gewerkschaften und vor allem 
ihre leitenden Kreise sind einig in der Bewertung der Tarifgemeinschaften als 
Werkzeuge des Emanzipationskampfes der Arbeiter auf wirtschaftlichem 
Gebiet. Sie weisen daher auch die Illusion gewerblicher Friedensverträge im Sinne 
bürgerlicher Friedensschwärmer zurück.“ 

2) Fanny Imle, Gewerbliche Friedensdokumente, Jena 1905. Friedrich Zahn, Die 
Organisation der Prinzipale und Gehülfen im deutschen Buchdruckgewerbe. (Schrift. d. 
V. f. Sozialp. XLIV.) Leipzig 1890. Ludwig Rexhäuser, Zur Geschichte des Verbandes 
der deutschen Buchdrucker. Statistik des Tarifamts der deutschen Buchdrucker 1906. 
Der deutsche Buchbinderverbaud im Jahre 1900, 1901. Stuttgart 1901 und 1902. A. 
Knoll, Die Arbeiterschaft des Steinsetzergewerbes. Berlin 1904. Fritz Paeplow, Die 
Organisation der Maurer Deutschlands 1869—1899. Hamburg 1900 u. s. w. 


Miszellen. 93 
a 
Erziehung, Disziplin und Mäßigung voraussetzen, sind keineswegs überall 
gegeben, und sie sind auch in der sehr bewegten Tarifgeschichte des 
Buchdruckgewerbes keineswegs immer vorhanden gewesen, sondern 
sie sind auch in diesem Gewerbe im wesentlichen erst eine Errungen- 
schaft des letzten Jahrzehnts.“ 

Für die Beurteilung des Rechtsproblems geht die Untersachung 
von dem Gesichtspunkte aus, daß der Tarifvertrag kein Arbeits- 
vertrag ist, da er nur die Bedingungen, unter denen gearbeitet 
werden soll, einheitlich festlegt, nicht aber die Arbeitsleistung zum 
Gegenstande hat. In zweiter Linie charakterisiert er sich immer als 
Kollektivvertrag, da immer eine Mehrzahl von Personen Kontrahent ist. 

Zwei Arten vertraglicher Regelung müssen unterschieden werden: 
entweder schließen die einzelnen Personen der beiderseitigen Mehrheiten 
den Vertrag — wie bei den Buchdruckern — oder es wird paktiert 
von der einzelnen Person zur Gesamtheit bezw. von Verband zu Ver- 
band. Im ersteren Falle kann der einzelne Arbeitgeber oder Arbeit- 
nehmer jederzeit aus der Tarifgemeinschaft ausscheiden, im zweiten 
bleiben die Kontrahenten für die Dauer der Verträge an ihren Inhalt 
gebunden. 

Hieraus fließt die Frage nach dem Rechtscharakter tariflicher 
Vereinbarungen. Bei dem Mangel der Möglichkeit einer festen juri- 
stischen Klassifizierung mußte sich die Arbeit darauf beschränken, zu 
definieren, was der Tarifvertrag nicht ist. Daß er keinen Arbeitsvertrag 
darstellt, war schon angeführt worden. Er kann auch als Arbeits- 
ordnung nicht angesehen werden, die ja einseitig festgesetzt wird und 
zumeist Lohnbestimmungen nicht aufnimmt, er kann weiter nicht als 
Koalition gelten, die sich als Verabredung darstellt zur Erlangung 
günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, weil er selber diese Bedin- 
gungen enthält, ebenso scheiden aus die Begriffe des Vergleichs, der 
stets eine Leistung zur Voraussetzung hat, wie sie der Tarifvertrag eben 
nicht kennt, und der Usance, da es um Einführung neuer Arbeitsbedin- 
gungen sich handelt. Endlich kann der Tarifvertrag nicht angesprochen 
werden als Gesellschaft, da nicht gemeinsame Zwecke, sondern entgegen- 
gesetzte Interessen bestehen, vor allem auch wieder das Merkmal der 
Leistung fehlt. 

Trotz der Schwierigkeit seiner juristischen Klassifizierung bleibt der 
Tarifvertrag „ein Rechtsgeschäft mit rechtsverbindlicher Kraft“, was 
übrigens die Mehrzahl der Tarife besonders noch zum Ausdruck bringt. 
Daß ihn das BGB. nicht kennt, bedarf nicht besonderer Erwähnung. 
Aus diesem Mangel der privatrechtlichen Regelung resultieren für die 
praktische Rechtsprechung ständige Schwierigkeiten. 

Sie treten von neuem zu Tage bei der Frage der Rechts- 
wirkung des Tarifvertrags.. Auf der einen Seite wird die Theorie 
vertreten, daß sie eine absolute sei, und daß die tarifliche Vereinbarung 
die Arbeitsverträge der Kontrahenten ergänze und für sie maßgebend 
sei, auf der anderen Seite ist die praktische Rechtsprechung zumeist 
von diesem Grundsatz abgegangen und hat sich für die Derogierbarkeit 
der Verträge ausgesprochen. Daneben wird noch eine vermittelnde 


94 Miszellen. 

b 
dritte Ansicht vertreten, daß nämlich Sonderabreden zwar zu Recht be- 
stehen können, daß aber im Klagewege die Aufhebung der in den Arbeits- 
vertrag übernommenen den tariflichen Vereinbarungen zuwiderlaufenden 
Bedingungen erzwungen werden kann. 

Was den Geltungsbereich des Tarifvertrags anlangt, so werden 
die daran teilnehmenden Personen, da er ein Rechtsgeschäft ist, vermöge 
ausdrücklicher oder stillschweigender Willenserklärung ihm unterworfen. 
An die letztere knüpfen sich wieder strittige Fragen: ein Nichtkontrahent, 
der unter einem auf tariflicher Regelung beruhenden Arbeitsvertrag 
arbeitet, soll nicht eo ipso auch unter den Festsetzungen der ersteren 
stehen. Zweifelhaft ist es ferner, ob ein Arbeiter, der aus einer Orga- 
nisation, die eine Kollektivvereinbarung abschloß, ausscheidet, auch 
weiterhin noch unter dem Tarife steht. De lege ferenda wird die Frage 
bejaht, de lege lata steht sie offen. Für den örtlichen Geltungsbereich 
pflegt man entsprechend zu trennen in Firmen-, Lokal- und National- 
oder Generaltarite. Die zeitliche Geltung legt der Tarit zumeist aus- 
drücklich fest, sie ändert sich mit den jeweiligen Interessen der Kon- 
trahenten. 

Die rechtliche Sicherung der Tarifverträge durch Klage 
und Schadenersatzanspruch stößt sich an der Frage der Rechtstühigkeit 
der Parteien. Besonders wo auf seiten der Arbeitnehmer die großen 
Berufsverbände kontrahieren, die in der Regel die Rechtsfähigkeit nicht 
besitzen, ergeben sich Schwierigkeiten, da solche Verbände auch nicht 
parteifähig sind ($ 50 CPO.) Ebenso scheitert die Durchführung von 
Schadenersatzansprüchen, wiewohl de jure eine Haftung der Verbände 
vorhanden ist, gewöhnlich in der Praxis; das Verbandsvermögen wird 
anderweitig sicher gestellt, der Verband löst sich auf u. s. w. 

Bemerkenswert ist in dieser Beziehung der kürzlich neu abge- 
schlossene Tarif der Buchdrucker. Er stellt den Grundsatz auf und 
spricht ihn besonders aus, daß für die Anerkennung der Urteile der 
Schiedsinstanzen der Verein, dem der Verurteilte angehört, mit seinem 
Vermögen haftet. Der Verband übernimmt hier tatsächlich eine Ga- 
rantie für die Handlungen seiner Mitglieder. 

Im allgemeinen aber muß die rechtliche Seite des Tarif- 
vertrags als durchaus noch nicht geklärt angesehen werden. Aus dieser 
Erkenntnis heraus erklären sich auch die seitens der Verbände zum Teil 
eingerichteten Schlichtungskommissionen, paritätischen Einigungsämter 
u. s. w., die oben schon erwähnt wurden. Sie dienen der Beilegung der 
aus tariflichen Vereinbarungen oft sich ergebenden Ditierenzen der 
Kontrahenten besser als es im Wege der Klage vor den ordentlichen Ge- 
richten möglich ist. Denn „der Taritvertrag schwebt zurzeit hinsichtlich 
seiner Durchführbarkeit rechtlich in der Luft. Seine Durchführung ist 
letzten Endes eine Machtfrage. Die Rechtswissenschaft steht dabei 
nicht am Ende, sondern am Anfang ihrer Aufgabe.“ Bekanntlich setzte 
der letzte deutsche Juristentag das Rechtsproblem des Taritvertrags auf 
seine Tagesordnung. 

Was das Ausland anlangt, so ist die rechtliche Regelung eine 
widersprechende. Die tariflichen Vereinbarungen in England sind bei- 


Miszellen. 95 


spielsweise lediglich privatrechtlicher Natur, ihre Durchführung ist rein 
moralische Pflicht und die Gerichte können wegen der Innehaltung über- 
haupt nicht in Anspruch genommen werden. Das Gegenteil liegt vor 
für Australien und Neuseeland. Wie überhaupt in diesen Ländern das 
Prinzip der staatlichen Regelung der Arbeitsbedingungen besteht, so hat 
auch der Tarifvertrag öffentlich-rechtliche Bedeutung. Zwischen diesen 
Grenzen bewegen sich in den einzelnen anderen Staaten die Abstufungen 
und Variationen hinsichtlich der rechtlichen Auffassung. Die gegebene 
internationale Uebersicht, auf deren Einzelheiten hier nicht näher ein- 
gegangen werden kann, führt daneben zu der allgemeinen Erkenntnis, 
daß überall etwa die gleichen Kräfte im Spiele sind, die die allmähliche 
Ueberführung der individuellen Vertragsschließung in die Form der 
kollektiven bewirken. Mit der Ausbildung des Tarifvertrages hat in 
allen Ländern ein bestimmter wirtschaftlicher Prozeß eingesetzt, dessen 
Merkmale sich kurz so kennzeichnen lassen, daß überall das soziale 
Interesse in den Vordergrund rückt, das individuelle aber zurücktritt. 

Die systematische Bearbeitung des gesammelten Tarifmaterials, wie 
sie Band 2 enthält, bringt in ihrem einleitenden Teil unter anderem 
eine interessante tabellarische Uebersicht, welche die dem Amt vorge- 
legenen Tarife, sowie die mit ihnen erfaßten Betriebe und Arbeiter auf 
die Berufsgruppen der Reichsstatistik verteilt. Dabei ergibt sich, daß 
mit Tarifverträgen überhaupt noch nicht vertreten sind die land- und 
forstwirtschaftlichen Betriebe, der Bergbau, die chemische Industrie, die 
Industrie der Leuchtstoffe, das Handels- und Versicherungsgewerbe, Be- 
herbergung und Erquickung und etliche andere. Wenn man von den 
letztaufgeführten Gruppen absieht, ist es somit in Deutschland die 
Großindustrie, in die der Tarifvertrag bisher noch keinen Ein- 
gang gefunden hat. Auch die Textilindustrie ist nur mit wenigen 
Verträgen beteiligt; eine größere Anzahl weist zwar die Metallindustrie 
auf, es handelt sich aber dabei nur um eine scheinbare Ausnahme, ein 
beträchtlicher Teil sind Firmentarife, ein Drittel etwa betrifft die 
Klempnerei, also ein zumeist handswerksmäßig betriebenes Gewerbe. 
Am meisten ausgebildet erscheint der Tarifvertrag bei den 
polygraphischen Gewerben, die durchgängig Generaltarife auf- 
weisen. Hier hat also eine einheitliche das ganze Gewerbe umfassende 
Regelung der Arbeitsverhältnisse durch den Tarifvertrag stattgefunden. 

Mit der größten Zahl der eingegangenen Tarife war das Baugewerbe 
vertreten (606), daran schließen an die Industrie der Nahrungs- und Ge- 
nubmittel (194), Bekleidung und Reinigung (176), die Industrie der 
Steine und Erden (151), Holz- und Schnitzstoffe (130) u. s. w. Eine 
ähnliche Reihenfolge ergibt die Gruppierung der Industrien nach der 
Zahl der beteiligten Arbeiter. 

Nach diesen allgemein orientierenden Angaben wird zunächst zur 
Untersuchung der Regelung der Arbeitszeit in den Tarifverträgen 
geschritten 1). Soweit hierüber in die Verträge Bestimmungen aufge- 


ne Die amtliche Publikation hat die materielle Bearbeitung des Stoffes in Bd. 2 
für die einzelnen Teile so angelegt, daß die allgemeine Zusammenfassung der Ergebnisse 


96 Miszellen. 


nommen sind, was nicht durchgängig der Fall ist, überwog im Durch- 
schnitt der Zehnstundentag. Von 1175 Tarifen galt er für 701, das ist 
59,67 Proz. Der Rest enthält in der Mehrzahl noch kürzere Arbeits- 
zeiten. 

Das nachstehende Tableau illustriert die interessanten Einzelheiten: 


Stunden 


Angaben 


| | A3 ad žl | | 
| 5 E 3|o| 
PE Wegen: | 
kolti 8 15 |8| 88 ES 
8. al (ši | wg B ESE © islan 
ss ja 8 1588| ER Bs BS la Eg | rm 
g yi l 2l sials] Sla 8'518 8 5|3 8 I S |E Z| x. der Gear 
g Zjsž sa E5 EZS] a ae Vsa 5 g S 3538| zahl 
2E ela aa 2225 a gael nalga S |2E 815,888 | 
$ SSRS oles 3E Ria a Re Re 2 l2lE2 82 
SOSAZLVOHHR nun 2 222 813 5 ala a, az alu 
| | nd AID n | Kirai 
i ee | H 
| | Metallgewerbe | 
> : - = ——- = = 
1-1 1|—|—|—| 2|—i—| 2 ı re E S a E eN —| — |[—'—|— 6| 085 
—i—|—l 5 1i—| 1) 1|—|—|—. 3| — 1/11 — |— — || 11) 0,93 
11 — | = — |=|- '—|—|——| — |=| — —j|— 1 1 0,08 
23| 2| 8ı5 522 20117J18| 2lır! 6| 5 ı 3] — 2) 1 |—| 1 |—) III 174| 14,81 (90, 
29! 2|8 21023] 9| 5 3| 8ı6 3| 4 | 2— 2|—| ı 7| 17 |3| ı 1| 3| 5 164| 13,97 
E e a —|— —| SE =l 2| 8 — |—' 1l— 12| 1,01 
292 15|35 11 1031 46| ı 2|37|20 —| 7 |— 2| 1j 2| 5| 94 | 9! 40 |17 118| 5701), 59,67 
Skals ee E |— 1 =. =" T ‚0,08 
| s 
23:=|.4, =, I 2 4 = 2|—|— 1 —i—|—|—| 9 9 —|— 561 47) oy 
> 1-1] 4 || 19 | 4 1) 481 aoj 
| —=|— E —| — |—|{— —|—|——| — |—| 17) || 1 0,08 
4 | 
| | | 
29| 2| 5| 1! 4|27|31 r| 7| 4; 23—| 4 | 2| 1l—| 4|14 15j22')| 3 66 ')| 10 |20 3l277 — 


Einer Erörterung bedarf diese Uebersicht nicht. 

Eine graphische Darstellung der durchschnittlichen Arbeitszeit in 
den verschiedenen betrachteten Gewerben, wie sie in Form einer Kurve 
zur Darstellung gelangt, gibt ein entsprechendes Bild, sie steigt nur 
ausnahmsweise über die Zehn-, bezw. fällt unter die Neunstundenlinie. 

Ueberstunden wollen die Tarife anscheinend nach Möglichkeit be- 
seitigen bezw. beschränken, besonders das Baugewerbe tritt in dieser 
Richtung hervor. Sehr mannigfaltig im Gegensatz dazu sind die über 
die Arbeitspausen getroffenen Festsetzungen. Die größte ist die Mittags- 
pause, die normal auf 1 Stunde, neben Schwankungen zwischen !/, und 
2 Stunden, bemessen wird. Die Tageslichtausnutzung (Baugewerbe), 
die Schwere der Arbeit (Steinsetzer) oder auch eine Anrechnung auf die 
Vesperzeit (Braugewerbe) sind einige der Gründe, die hier mit hinein- 
spielen. Die \/,-stündige Frühstückspause besteht fast ohne Ausnahme, 
eine Vesperpause ist nicht allgemein üblich. Die Summe aller Arbeits- 
pausen beträgt beim Zehnstundentag in der Regel 2 Stunden. 

Noch einige allgemeine Ergebnisse sind anschließend in Bezug auf 
die Regelung der Arbeitszeit aufzuführen, 


der Sonderuntersuchung der verschiedenen Gewerbe vorangestellt wird. Auf diese sehr 
ausführlichen speziellen Darlegungen, die die einzelnen Berufe betreffen, kann hier 
nicht eingegangen werden. 

1) Hierin sind die Tarife mit wechselnden Arbeitszeiten mit einbegriffen. 


Miszellen. 97 


Ordnet man zunächst die Orte, für die die Tarife gelten, nach 
ihrer geographischen Lage, so tritt eine Zunahme der täglichen 
Arbeitszeit in der Richtung von Westen nach Osten zutage. 
Während der Maurer in Krefeld, in Cassel, in Ratherow den Zehn- 
stundentag hat, arbeitet er in Langenbielau 10!/, Std. in Rawitsch 
ll Std. Der Zimmerer ist in Düsseldorf 9!/, Std. beschäftigt, in Cassel 
10 Std., in Schneidemühl 101/, Std. u. s. w. Die Großstädte machen 
allerdings hiervon eine Ausnahme. Dies führt zu einem Teil bereits 
auf eine andere Erscheinung, auf welche die Arbeit ebenfalls hinweist, 
daß nämlich die Arbeitsdauer in umgekehrtem Verhältnis steht zur 
Ortsgröüße. In entgegengesetztem Sinne bewegt sich die Gestaltung 
der Löhne; je größer der Ort je höher der Lohn, so daß das Resultat 
erscheint, daß die höheren Löhne bei der kürzeren Arbeitszeit gezahlt 
werden. 

Die Verteilung von Lohnhöhe und Arbeitsdauer auf die einzelnen 
Gebiete Deutschlands zeigt folgende Reihenfolge. Die niedrigsten Löhne 
vertreten Pommern und Schlesien, daran schließen an Sachsen und Posen, 
dann folgen Brandenburg, weiter Hannover und Hessen, dann mit den 
höchsten Löhnen die Westgebiete!), Das Maximum bedeuten die Städte 
Berlin und Hamburg. 

Eine letzte Frage drängt sich im Zusammenhang damit auf, die 
nach dem Verhältnis der Lohnhöhe zu den Kosten der Lebenshaltung 
innerhalb ein und desselben Gewerbes. Sie konnte im Rahmen dieser 
Arbeit systematisch allerdings nicht untersucht werden, es zeigt sich 
aber ohne weiteres, daß die Löhne da niedrig sich normieren, wo die 
Lebenshaltung billig ist, also in Pommern, u. s. w., in Gebieten mit 
noch gering entwickelter Industrie, in denen noch die Landwirtschaft 
im Vordergrund steht. Auf der anderen Seite steigt die Lohnhöhe je 
näher man den großen Industriezentren des Westens kommt, unter gleich- 
zeitigem Steigen der Kosten der Lebenshaltung. 

Was die Regelung der Arbeitslöhne durch die tarifliche Ver- 
einbarung anlangt, so scheiden sich die Gewerbe nach drei Gruppen, 
je nachdem in ihnen Zeit- oder Stücklohn oder beide Arten von 
Lohnsystemen Verwendung finden, Um einige Beispiele anzuführen, so 
fallen nach dem amtlichen Material in die erste Gruppe das (engere) 
Baugewerbe, Steinsetzer, Brauer, Bäcker, von den Generaltaritlern die 
Lichtdrucker, Formstecher, der zweiten sind zuzuweisen Stukkateure, Holz- 
arbeiter, Töpfer, Steinmetzen, Böttcher, Schneider, Schuhmacher, Buch- 
binder, Eisen- und Zinngießer, Feilenhauer, Buchdrucker, Notenstecher in 
der letzten erscheinen Glaser, Tapezierer, Klempner, Bau- und Maschinen- 
schlosser. Eine Erklärung für die Verschiedenartigkeit der üblichen Lohn- 
systeme läßt sich allgemein so geben, daß der Zeitlohn den Gewerben mit 
relativ gleichmäßiger Arbeit eigentümlich ist, in denen „eine Spezialisierung 
der vorkommenden Arbeiten im Sinne einer weit ins einzelne gehenden 
Arbeitsteilung weniger vorhanden ist“ (Maurer, Steinsetzer). Akkord- 


3 1) Ost- und Westpreußen weisen so wenig Tarifabschlüsse auf, daß sie für diese 
Vergleiche ausscheiden mußten. 


Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII). T 


98 Miszellen. 


löhne sind auf der anderen Seite da zu finden, wo die einschlägigen 
Arbeiten voneinander sehr abweichen, in denen also „der Arbeits- 
prozeß sich in zahlreiche Teile auflöst und die spezielle Fertigkeit des 
einzelnen Arbeiters für den Arbeitserfolg erheblich ins Gewicht fällt“. 

Auch die Frage wie die Arbeiter zur Frage der Zeit- oder 
Akkordlöhnung sich stellen, streift die amtliche Arbeit!) und gelangt 
hierfür zu dem Eindruck, daß „die Arbeiter in der Mehrheit der Ge- 
werbe die Zeitlöbnung vor der Akkordlöhnung bevorzugen“, und damit 
die letztere, „allerdings nicht in allen Gewerben mit gleichem Nach- 
druck, bekämpfen“. Die Erscheinung findet in den Tarifen in der 
Regel ihren Ausdruck durch besondere Festsetzungen, welche die Akkord- 
löhnung zum Teil beschränken, zum Teil auch direkt untersagen, so bei 
den Dachdeckern, Steinsetzern u. s. w. Solchen Entwickelungstendenzen 
entspricht es, daß für die obengenannte dritte Gruppe, in welche die 
(Gewerbe rangieren, die den Zeitlohn neben dem Akkordlohn haben, 
die Bekämpfung des Akkordsystems besonders deutlich hervortritt. 
Beispielsweise verbieten von den Tarifen der Klempner !/,, bei den 
Tapezierern mehr als !/, die Akkordlöbnung. Die Beispiele ließen sich 
beliebig vermehren. Insgesamt weisen die augenblicklichen Verhältnisse 
der künftigen Entwickelung etwa den Weg, daß die heutigen Gewerbe 
des Zeitlohns zu diesem System immer ausschließlicher übergehen, daß 
besonders auch die Gewerbe der dritten Gruppe hierin mit einbezogen 
werden, daß dagegen der Akkordlohn, sofern er gerecht geregelt wird, 
in den Gewerben schließlich dauernd Fuß fassen wird, die für die ge- 
sonderten Arbeitsvorgänge abgestufte oder qualifiziertere Leistungen 
verlangen. 

Hinsichtlich der Höhe der Löhne konnte die Untersuchung 
naturgemäß zu allgemeineren Ergebnissen nicht gelangen. In der Dar- 
stellung der Einzelgewerbe ist aber nach Möglichkeit versucht worden, 
über den Durchschnittslohn des jeweiligen Berufs Angaben zu machen; 
dafür muß auf die Lektüre der Arbeit selbst verwiesen werden. Da- 
gegen bestehen zusammenfassende Angaben über die Lohnform, im 
besonderen den Naturallohn, wie sich über ihn Festsetzungen finden 
bei den Brauern, 'Bäckern, Schneidern und Schuhmachern. Die Tarife 
sehen hier in der Regel einen bestimmten Lohnabzug für „Kost und 
Logis“ vor. Bekannt ist auch der „Freitrunk“ im Braugewerbe, der 
zum Teil übrigens in neuerer Zeit — auch wohl ein Verdienst der 
Antialkoholbewegung — durch Bargeld abgelöst wird. 

Auch die Heimarbeit wird bisweilen in die tarifliche Regelung 
mit einbezogen. Die Heimarbeiter der Schuhmacher erhalten höhere 
Löhne als die in der Werkstatt arbeitenden Berufsgenossen, die 
Schneider — zu einem Teil auch die Schuhmacher — dringen im Gegen- 
satz hierzu auf Abschaffung der Heimarbeit. Ebenso verbieten sie die 
Tarife der Lithographen. 

Sofern Bestimmungen über Ueberstunden aufgenommen sind, 


1) Sie verweist zugleich auf die Arbeit von Dr. Ludwig Bernhard, „Die Akkord- 
arbeit in Deutschland‘. 


Miszellen. 99 


werden durchweg erhöhte Löhne in Form von Zuschlägen zu den 
vereinbarten Zeitlöhnen gezahlt. Sie betragen 10—33 Proz., für Nacht- 
und Sonntagsarbeit 25—100 Proz. 

Der Lohnzahlungstermin ist überwiegend der Sonnabend, bei 
den Bäckern wird stellenweise auch am Sonntag vormittag und Montag 
gelohnt, bei den Chemigraphen und Kupferdruckern übrigens am Sonn- 
abend ausdrücklich nicht. Zahlungsort ist die Werkstatt oder das 
Kontor des Arbeitgebers, beim Baugewerbe in der Regel der Bauplatz. 
Die Lohnperioden endlich sind, wo sie überhaupt Gegenstand der 
Abmachung bilden, dementsprechend zumeist wöchentlich fixierte, aus- 
nahmsweise wird auch alle 14 Tage oder monatlich abgerechnet. Eine 
Sonderstellung nehmen in Bezug hierauf noch die Akkordlohngewerbe 
ein; bei langfristigen Akkorden, soweit sie über eine Woche sich hinaus- 
ziehen, werden gewöhnlich allwöchentliche Abschlagszahlungen in Höhe 
des zu Grunde gelegten Zeitlohns geleistet, nach Fertigstellung des Ak- 
kords wird dann der Rest ausbezahlt. 

Der letzte Teil des 2. Bandes behandelt zusammenfassend den 
übrigen Inhalt der Tarifverträge, speziell ihre Bestimmungen 
sozialpolitischer Natur. Soweit derartige Festsetzungen in die 
tariflichen Vereinbarungen mit aufgenommen werden, sind sie haupt- 
sächlich in denjenigen Gewerben zu finden, bei denen auf beiden Seiten 
der Kontrahenten der Tarifgedanke schon in erheblicherem Umfange 
Fuß gefaßt hat oder zu ausgedehnterer Entwickelung gelangt ist. Die 
Abmachungen über die Schaffung von Einrichtungen zur Ueberwachung 
des Tarifs und zur Schlichtung von Streitigkeiten stehen hier im Vorder- 
grund. Je nachdem es um Firmen-, Lokal- oder Generaltarife sich 
handelt, sind die Organisation, die Funktionen, die Kompetenzen dieser 
Tarifschiedsgerichte (Schlichtungskommissionen, Lohnkommis- 
sionen) verschiedenartig. 

Die einfachste Form zeigt der Firmentarif. Die Arbeit bezeichnet 
die hier vorgesehenen Schiedsgerichte als eine einfache „Vermittelungs- 
instanz“, der die Arbeiter ihre Wünsche und Beschwerden vorzutragen 
haben; hält die Schiedskommission die letzteren für berechtigt, so bringt 
sie sie dem Arbeitgeber zur Kenntnis. Da die Entscheidung hierauf 
aber stets in seinen Händen liegt, so ist dieser Firmentarifinstitution 
eine eigentlich schiedsgerichtliche Tätigkeit in Wirklichkeit nicht bei- 
zumessen. 

Bildeten das Schiedsgericht dieser Form nur Arbeitnehmer, so 
setzen sich die der Lokaltarife unterschiedlich hiervon aus Arbeitgebern 
und Arbeitern paritätisch zusammen. Die Mitgliederzahl ist in der 
Regel 3—5, sie steigt aber auch bis zu 9 Personen. Der aus der Mitte 
der Kommission gewählte Verhandlungsleiter ist zumeist ein Arbeit- 
geber, bisweilen aber auch ein „Unparteiischer“ (der Vorsitzeude des 
Gewerbegerichts, der Handelskammersyndikus, ein Mitglied der Ge- 
meindeverwaltung u. s. w.), der entweder das Stimmrecht der übrigen 
Mitglieder oder das Recht der Entscheidung bei Stimmengleichheit be- 
sitzt. Bis zum Spruch des Schiedsgericht sollen in der Regel alle ge- 
waltsamen Auseinandersetzungen durch Streik u. s. w., ebenso wie alle 


7* 


100 Miszellen. 


Beinflussungen durch die Verbandspresse unterbleiben. Daneben sehen 
in einer Anzahl von Fällen die Tarife für den Fall der Anfechtung 
der getroffenen schiedsgerichtlichen Entscheidung noch eine Berufs- 
instanz vor, die das Gewerbegericht — als Einigungsamt — bildet. 

Das Schiedsgericht in seiner vollkommensten Form geht aus den 
Generaltarifen hervor, besonders der Buchdruckertarif ist hier vorbild- 
lich gewesen. Die untere Instanz sind die lokalen paritätisch einge- 
richteten Schiedsgerichte (mit mindestens 2 Prinzipalen und 2 Gechilfen 
besetzt), die Berufungsinstanz, deren Entscheidung unbedingt verbindlich 
ist, bildet das aus drei Prinzipalen und drei Gehilfen zusammengesetzte 
„Jaritamt“. 

Neben den Festsetzungen über die Schiedsgerichte legen die Taril- 
verträge namentlich auch Wert auf Wahrung des Koalitionsrechts. 
Maßregelungen oder Entlassung wegen der Zugehörigkeit zu einem Ver- 
bande sollen — dieser Grundsatz wird aufgestellt — ausgeschlossen 
sein. Oft wird eine besondere Erklärung darüber noch aufgenommen, 
dab seitens der Arbeitgeber die Organisation der Arbeiter als gleich- 
berechtigter Verhandlungsfaktor ausdrücklich anerkannt wird. 

Vereinzelt sind in die Tarifverträge auch Bestimmungen über Ur- 
laubgewährung aufgenommen, so wiederholentlich im Braugewerbe und 
beim Handels- und Transportarbeiterverband. Die Länge des Urlaubs 
beträgt 3—10 Tage, der Lohn wird währenddem weiter gezahlt. Wo 
auch der 1. Mai als Feiertag seitens der Arbeitgeber zugestanden wird, 
findet dagegen Lohnabzug statt. 

Bestimmten Gewerben sind dann besondere Abmachungen eigen 
über Innehaltung der Unfallverhütungsvorschriften (Bau- 
gewerbe), über Bereithaltung von Verbandskästen, über Reinigung 
der Arbeitsräume, Waschgelegenheit und über sonstige hygie- 
nische Anforderungen an die Werkstatt (Schneider, Schuhmacher). 

Rücksichtlich der Kündigung des Arbeitsverhältnisses besteht 
anscheinend auf der Arbeiterseite das Bestreben, an der gesetzlichen 
14-tägigen Kündigungsfrist nicht festzuhalten, vielmehr an ihre Stelle 
die 24-stündige zu setzen; in den Akkordlohngewerben sollen aber an- 
gefangene Akkorde bei 24-stündiger Kündigungsfrist erst fertiggestellt 
werden, so bei den Holzarbeitern, auch bei den Töpfern. 

Die Kündigungsfrist für den Tarifvertrag wird über- 
wiegend auf 3—6 Monate festgesetzt, im Steinsetzgewerbe dagegen ist 
die jährliche Kündigungsfrist die übliche. Ein großer Teil der Ver- 
träge enthält übrigens hinsichtlich der Dauer überhaupt keine Angaben, 
womit häufig Anlaß zu Streitigkeiten gegeben ist. 

Soweit der sonstige, sozialpolitische Inhalt der Tarifverträge; bei 
der so verschiedenartigen Gestaltung im einzelnen kommt ihm natur- 
gemäß die Bedeutung nicht zu, wie sie dem eigentlichen Kern aller 
Tarifvereinbarungen, den Bestimmungen über die einheitliche Regelung 
der Arbeitszeit und des Arbeitslohnes, beizumessen ist. 

Von einer Besprechung des 3. Bandes, der ausgewähltes Tarif- 
material zum Abdruck bringt, wird Abstand genommen. 


s-a s 


Miszellen. 101 


III. 


Ergebnisse der Volkszählung in Preussen. 


Das Königliche Statistische Landesamt in Berlin veröffentlicht in 
einer Sondernummer der Statistischen Korrespondenz vom 26. September 
die hauptsächlichsten endgültigen Ergebnisse der Volkszählung vom 
l. Dezember 1905. Die wichtigsten Resultate daraus seien hier wieder- 
gegeben. i 

Die Zahl der Juden hat sich seit der letzten Volkszählung vom 
2. Dezember 1900, wo sie 392 322 betrug, um 17179 auf 409 501 ver- 
mebrt. Diese Zunahme ist schwächer als bei allen anderen Kon- 


fessionen ; 

denn sie betrug nur 43,79 Proz., dagegen bei den 
Evangelischen 69,85 „ 

Katholiken 102,26 ,„ 

anderen Christen und Dissidenten 311,99 ,„ 

Personen nicht christlicher Konfession (ohne Juden) 456,02 „ 

Personen mit anderer unbestimmter Angabe der Religion 186,86 „, 

Personen ohne Angabe der Religion 395,69 „ 


Die Folge ist, daß der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung 
wiederum, wie schon seit Jahrzehnten, zurückgegangen ist; er betrug 


1871 1,32 Proz. 1895 1,19 Proz. 
1880 1,33 „ 1900 114 „ 
1885 1,29 „ 1905. 1,10 
1890 1,24 „ 


Ueber die Entwickelung in den einzelnen Provinzen gibt die folgende 
Tabelle Auskunft: 


Zahl der Juden bei der Volkszählung!) in Preußen. 


Gebiet | 1871 | 1880 1890 | 1900 1905 
| 

Provinz Ostpreußen 14425 — 18218 14 411 13 877 13 553 
„ Westpreußen 26 632 26 547 21 750 18 226 16 139 
Stadt Berlin 36015 , 53949 79 286 92 206 98 893 
Provinz Brandenburg 11469 12 296 13 775 25 766 40 427 
„ Pommern 13037 | 13886 12 246 10 880 9 660 

„ Posen 61982 | 56609 44 346 35 227 30 433 
Schlesien 46 619 52 682 48 003 47 586 46 845 
Sachsen 5958 | 6 700 7 949 8 047 8050 
Schleswig-Holstein 3729 | 3 522 3571 3 486 3 270 
Hannover 12 790 14 790 15 112 15 393 15 581 
Westfalen 17 245 18 810 19 172 20 640 20 757 
Hessen-Nassau 36 390 41316 44 543 48 105 50 016 

»  Bheinland 38 424 43 694 47 234 52 251 55 408 
Hohenzollern 721 771 661 532 469 
Summa für Preußen | 325436 | 363790 | 372059 | 392322 | 409501 


8 1) Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden 1906, II. Jahrg., Heft 11, 
166. 


102 Literatur. 


Literatur. 


I. 


Neue Lehrbücher der Nationalökonomie. 
Besprochen von Karl Diehl- Königsberg. 


1) Alfred Marshall, Handbuch der Volkswirtschaftslehre. 
Bd. I. Nach der 4. Auflage des englischen Originals mit Genehmigung 
des Verfassers übersetzt von Hugo Ephraim und Arthur Salz. 
Mit einem Geleitwort von Lujo Brentano. 717 SS. Stuttgart und 
Berlin (J. G. Cottasche Buchhandlung Nachfolger) 1905 

2) Edwin R. A. Seligmann, Professor of political economy 
Columbia University, Autoor of „Essays in taxation“, „the economic 
interpretation of history etc.“ Principles of Economics with special 
reference to American conditions. 613 SS. Longmans, Green and Co. 
91 and 93 fifth Avenue, N. Y., London and Bombay, 1905. 

3) Heinrich Pesch, S. Jọ, Lehrbuch der Nationalökonomie. 
Bd. I: Grundlegung. 485 SS. Freiburg i. Br., Herdersche Verlagshandlung. 

4) Charles Gide, Grundzüge der Nationalökonomie. Mit Zu- 
stimmung des Verfassers übersetzt und für den deutschen Leser ein- 
gerichtet von Dr. Gustav Weiß von Wellenstein. Wien 384 SS. 
(Manzsche K. u. K. Große Verlags- und Universitäts-Buchhandlung) 1905. 

5) J. Lehrs Politische Oekonomie in gedrängter Fassung (Volkswirt- 
schaftslehre und Wirtschattspolitik, Finanzwissenschaft, Statistik u. s. w.). 
Vierte vermehrte Auflage. Besorgt von Dr. C. Neuburg, Professor 
an der Universität Erlangen. 176 SS. München .(J. Lindauersche Buch- 
handlung [Schöpping]) 1905. 


Einer besonderen Empfehlung bedarf Marshalls Handbuch der 
Volkswirtschaftslehre nicht. Schon seit langer Zeit ist dies Werk dem 
deutschen akademischen Studium zu gute gekommen. Lehrer wie Studie- 
rende haben aus dem reichen Schatz an Wissensstoff, der dort enthalten 
ist, mit Vorliebe geschöpft. Wie Marshalls Werk in England das 
verbreitetste nationalökonomische Lehrbuch ist, so gibt es wohl auch 
in Deutschland kein national-ökonomisches Lehrbuch in fremder Sprache, 
welches sich gleicher Beliebtheit erfreut. 

Welchem Umstande verdankt Marshalls Werk diese Beliebtheit? 


Literatur. 103 


Mir scheint in erster Linie seiner Vielseitigkeit. Es ist 
für den Studierenden der Nationalökonomie so wertvoll, weil es, wie 
kaum ein anderes Werk, ein getreues Spiegelbild der verschiedenen 
wissenschaftlichen Strömungen abgibt, die für unser Fach von Wichtig- 
keit sind. Vom Geiste der klassischen Nationalökonomie, wie von der 
historischen Schule spürt man den Hauch, aber auch die österreichische 
Grenzuutzen-Theorie kommt zu ihrem Recht, und schließlich hat auch 
die Darwinistische naturwissenschaftliche Richtung großen Einfluß auf 
die Gedankengänge des Verfassers gehabt. — 

Auf der Basis breitester Literaturkenntnis, die nicht nur die englische 
Literatur, sondern auch die deutsche, französische, amerikanische 
und italienische Literatur umfaßt, gibt der Verfasser ein Bild der Er- 
gebnisse der wissenschaftlichen Forschung aller Länder. Es ist daher 
mit großer Freude zu begrüßen, daß dieses vortreffliche Werk durch 
die deutsche Uebersetzung noch weiteren Kreisen als bisher zugängig 
gemacht wird. Die Uebersetzung ist, soweit ich nachprüfen konnte, 
zuverlässig. Die schwierige Aufgabe, die oft sehr verwickelten Gedanken- 
gänge des Autors in angenehm lesbarem Deutsch wiederzugeben, ist 
den Debersetzern gut gelungen. Zwar sollte vorausgesetzt werden, 
daß diejenigen, die ein so weitgehendes Interesse für unser Fach haben, 
wie es zum Studium dieses Werkes notwendig ist, genügend englisch 
verstehen, um einer Uebersetzung nicht zu bedürfen. Aber die Er- 
fahrung, die man als akademischer Lehrer täglich aufs neue macht, 
zeigt, daß diese Sprachkenntnis leider noch sehr ungenügend verbreitet 
ist, so daß auch aus diesem Grunde eine Uebersetzung wünschenswert 
erschien. 

Für den deutschen Studierenden ist Marshalls Werk deshalb 
besonders wertvoll, weil er hier eine vertiefte Betrachtung ge- 
rade der schwierigsten Themata der theoretischen Nationalökonomie 
findet. Namentlich der Verteilungsprozeß, die Zusammenhänge zwischen 
Lohn, Rente, Zins und Gewinn und ähnliche Probleme sind viel ein- 
gehender und gründlicher behandelt, als es sonst in Grundrissen üblich 
ist. Als gute geistige Gymnastik wird daher den deutschen Studierenden 
das Durcharbeiten des Marshallschen Werkes zu empfehlen sein. 
Ich möchte besonders auf das 5. Buch: „Die Theorie des Gleichgewichts 
von Angebot und Nachfrage“ und das 6. Buch: „Wert oder Verteilung 
und Tausch“ hinweisen. — 

Bei der rückhaltlosen Anerkennung, die ich in den bisherigen 
Ausführungen dem Werke des verehrten englischen Autors zolite, ist 
es auch notwendig, auf gewisse Mängel hinzuweisen. Zum Lehren und 
Lesen ist das Werk — wie bereits erwähnt — vorzüglich geeignet; 
als Führer nach der methodologischen und sozialphilosophischen Seite 
kann es nicht unbedingt empfohlen werden. Es kann nur Nutzen 
stiften, wenn es nach dieser Richtung hin mit Kritik gelesen und 
studiert wird, denn der eigene Standpunkt des Verfassers 
ist bei dem eklektischen Verfahren, welches er einschlägt, leider oft 
ein verschwommener. Gerade die Vielseitigkeit, die ich dem Werke 
nachrühme, bringt allzu leicht die Gefahr mit sich, welcher der 


104 Literatur. 


Verfasser keineswegs ganz entgangen ist, daß grundverschiedene Stand- 
punkte versöhnt werden sollen, daß versucht wird, allen möglichen 
Parteien recht zu geben. Eine weitgehende Sucht, Kompromisse zu 
schließen und Richtungsunterschiede zu versöhnen, hat dahin geführt, 
daß man oft vergebens nach einer scharfen, logisch einwandfreien 
Stellungnahme zu wichtigen Problemen sucht. Ich habe bereits bei 
anderer Gelegenheit (Ueber die nationalökonomischen Lehrbücher von 
Wagner, Schmoller, Dietzel und Philippovich mit besonderer 
Rücksicht auf die Methodenfrage in der Sozialwissenschaft, in diesen 
Jahrbüchern 1902 und in meinen Erläuterungen zu Ricardo Bd. I, 
S. 89ff.) auf diese Kompromißucht Marshalls hingewiesen, möchte 
aber heute noch einiges zur Charakteristik dieser Eigentümlichkeit 
hinzufügen. 

Unbefriedigend ist vor allem die methodologische Einleitung. Hier, 
wo es darauf ankam, die eigentliche systematische Grundlegung dieses 
ganzen Wissensgebietes zu geben, die Abgrenzung der politischen Oekono- 
mie gegenüber den andern Wissenschaften vorzunehmen, vermisse ich 
besonders eine klare und widerspruchslose Aussprache. Einiges zum 
Beleg meiner Ansicht. — 

Schon gleich der erste Satz, mit dem das Werk beginnt, gibt zu 
Bedenken Anlaß; er lautet: „Die politische Oekonomie oder Wirtschafts- 
lehre ist eine Untersuchung des Menschen in seinen gewöhnlichen 
Lebensverrichtungen;; sie betrachtet die Tätigkeit des einzelnen und 
der Gesellschaft, soweit sie sich auf die Gewinnung und den Verbrauch 
der Mittel zum materiellen Wohlstand erstreckt.“ 

Ist wirklich die politische Oekonomie eine Untersuchung „des 
Menschen“ und des „einzelnen“? Ich sollte meinen, wenn etwas an 
den Anfang aller nationalökonomischen Propädeutik zu stellen wäre, so 
wäre es gerade die Feststellung, daß die Volkswirtschaftslehre es nicht 
mit dem „einzelnen“ und nicht mit „dem Menschen“, sondern nur mit 
menschlichen Gemeinschaften, mit sozialen Erscheinungen zu tun hat. 

Marshall weiß aber wohl auch die Bedenken zu würdigen, die 
seiner Auffassung entgegen stehen, daher schwächt er diesen Satz wieder 
ab und versieht ihn, wie er das überhaupt liebt, mit bestimmten 
Klauseln; er sagt nämlich an anderer Stelle: „Die Nationalökonomen 
erforschen die Handlungen der Individuen, aber mehr in Bezug auf das 
soziale Leben, als auf das individuelle“ (S. 78); und an anderer Stelle: 
„Bei den meisten wirtschaftlichen Problemen findet man den besten 
Ausgangspunkt in den Motiven, welche den einzelnen bewegen, wobei 
letzterer nicht als isoliertes Atom, sondern als Glied 
einer besonderen Erwerbs- oder Wirtschaftsklasse be- 
handelt wird.“ 

In seiner Methodenlehre geht Marshall von dem Satz aus, daß 
der Vorteil der Wirtschaftslehre gegenüber den anderen Zweigen 
der Sozialpolitik darin bestände, daß sie sich hauptsächlich mit den 
Wünschen, Bestrebungen und anderen Affekten der menschlichen 
Natur beschäftige. Die äußeren Erscheinungsformen der „menschlichen 
Natur“ seien leicht meßbar und daher für die wissenschaftliche Methode 


Literatur. 105 


„besonders geeignet“. Er bezeichnet direkt als Ausgangspunkt der 
Wirtschaftslehre das Studium des Maßstabes der menschlichen 
Genüsse. Bei der Annahme eines genügend breiten Durchschnittes, 
der die persönlichen Eigentümlichkeiten der Individuen ausgleiche, sei 
das Geld, welches Leute mit gleichem Einkommen zur Erlangung eines 
Genusses oder zur Vermeidung einer Unannehmlichkeit hergäben, ein 
guter Maßstab des betreffenden Genusses oder der betreffenden Un- 
annehmlichkeit. Die Nationalökonomie sull aber keineswegs etwa im 
Sinne der klassischen Nationalökonomie zum Ausgangspunkt das 
egoistische Streben nach eigenem materiellen Vorteil nehmen, sondern 
das Geld bedeute zwar Verfügung über materiellen Reichtum, könne 
aber auch in den Dienst der edelsten menschlichen Zwecke 
gestellt werden. 

Den ausschlaggebenden Grund dafür, daß die Nationalökonomie 
eme Wissenschaft sei, erblickt Marshall in dem Umstand, daß die 
Motive des menschlichen Handelns korrekt genug meßbar seien, um zu 
einem sicheren Resultat zu gelangen. „Mit Hilfe der Statistik und 
anderer Mittel stellt sie fest, wieviel Geld die (lieder einer besonderen 
Gruppe, welche sie beobachten, im Durchschnitt, gerade noch bereit 
sind, als Preis eines bestimmten Dinges, das ihnen genehm ist, zu be- 
zahlen, oder wieviel ihnen angeboten werden muß, um sie zu einer 
gewissen Mühe oder Entsagung, die ihnen nicht genehm ist, zu ver- 
anlassen.“ 

„So z. B. können sie sehr genau abschätzen, wieviel man zahlen 
muß, um für ein an irgend einem Platze zu errichtendes Geschäft das 
entsprechende Angebot an Arbeit niedrigster und höchster Art hervor- 
zubringen: wenn sie eine Fabrik irgend einer Art besuchten, die sie 
niemals vorher gesehen haben, können sie genau bis auf 1—2 Schilling 
pro Woche sagen, was ein Arbeiter verdient, indem sie nur beobachten, 
bis zu welchem Grade seine Beschäftigung der Uebung bedart und 
welche Ansprüche an seine körperliche, geistige und moralische Fähigkeit 
gestellt werden und sie können mit ziemlicher Genauigkeit die Preis- 
steigerung voraussagen, die einer gegebenen Angebotsverminderung bei 
einem gewissen Gute folgt und wie dieser erhöhte Preis auf diese An- 
gebote zurückwirken wird.“ 

Die Nationalökonomen brauchten hierbei keineswegs von einem 
abstrakten Wirtschaftsmenschen auszugehen: „Sie befassen sich mit 
dem Menschen, wie er ist. Aber da sie sich in der Hauptsache mit 
denjenigen Seiten des menschlichen Lebens befassen, in denen die 
Wirksamkeit des Motivs so regelmäßig ist, daß sie vorausgesagt werden, 
und bei denen die Bewertung der Triebkräfte an Resultaten berechnet 
werden kann, haben sie ihre Arbeit auf einer wissenschaftlichen Basis 
erbaut. 

Denn an erster Stelle befassen sie sich mit Tatsachen, welche 
beobachtet werden können und mit Quantitäten, die man messen und 
deren Größe man fixieren kann, so daß bei etwaigen Meinungsverschieden- 
heiten öffentliche Beweise und wohleingerichtete Aufzeichnungen heran- 
gezogen werden können; auf diese Weise erhält die Wissenschaft eine 


106 Literatur. 


solide Grundlage für ihre Arbeit. Zweitens findet man, daß die Probleme, 
welche man zusammen als wirtschaftliche bezeichnen darf, weil sie sich 
besonders auf das Verhalten des Menschen und den Einfluß von Motiven, 
welche durch Geldpreise meßbar sind, beziehen, eine ziemlich gleich- 
artige Gruppe ausmachen.“ 

In Bezug auf die wissenschaftliche Methode will Marshall jede 
Einseitigkeit vermieden wissen. Sowohl das deduktive wie das induktive 
Verfahren seien berechtigt; durch induktiv erlangtes Material müßten 
die deduktiv abgeleiteten Sätze modifiziert und eingeengt werden. Er 
erklärt die Möglichkeit beider Methoden einmal folgendermaßen: Er 
meint, die Lehre von den Gezeiten biete eine gute Analogie zur Wirt- 
schaftslehre; bei beiden übten gewisse zu Grunde liegende Kräfte einen 
sichtbaren, teilweise ausschlaggebenden Einfluß auf fast jede Bewegung 
aus. Bei der Lehre von den Gezeiten sei es die Anziehungskraft von 
Mond und Sonne, in der Wirtschaftslehre sei es das Streben, möglichst 
gute Befriedigung auf billigstem Wege zu erzielen. In beiden Fällen 
würde ein rein deduktives Studium der isolierten oder mit anderen 
verbundenen Wirksamkeit der führenden Kräfte Resultate zutage bringen, 
welche vielleicht von wissenschaftlichem Interesse, aber von keinem 
praktischen Nutzen wären. Aber in jedem Falle seien derartige 
Deduktionen insofern von Nutzen, als sie die beobachteten Tatsachen 
belebten, miteinander verknüpften und auf diese Weise zum Aufbau 
sekundärer Gesetze für die Wissenschaft beitrügen. 

Da Marshall aus der „menschlichen Natur“ bestimmte wirtschaft- 
liche Sätze ableitet, hält er es auch für möglich, wirtschaftliche Gesetze 
aufzustellen, und zwar unterscheidet er, je nach der Strenge, wirt- 
schaftliche und soziale Gesetze. Die strengeren Gesetze seien 
die wirtschaftlichen Gesetze, nämlich jene, welche sich auf Handlungen 
bezögen, bei welchen die Stärke der hauptsächlich in Frage kommenden 
Motive durch Geldespreis bemessen werden könne. Ein soziales Gesetz 
sei die Feststellung, daß eine bestimmte Verhaltungsweise unter be- 
stimmten Umständen von den Gliedern einer sozialen Gruppe erwartet 
werden könne. 

Es würde viel zu weit führen, wollte ich an dieser Stelle versuchen, 
eine ausführliche Kritik der methodologischen Grundanschanungen 
Marshalls zu geben. Da Marshall einerseits die Methode der 
isolierenden Abstraktion der klassischen Volkswirtschaftslehre, andererseits 
die detailpsychologische Analyse der Grenznutzentheoretiker und zwar 
in ihrer feinsten mathematischen Ausgestaltung, nach dem Vorgange 
von Cournot, Walras, Jevons, Patten, Wicksteed acceptiert, 
so kaun ich auf meine Kritik dieser Methoden an den oben zitierten 
Stellen verwiesen. Hier nur kurz folgendes: 

Wenn Marshall den Ausgangspunkt der Wirtschaftslehre von 
der menschlichen Natur nimmt, so scheint mir dies verfehlt. Er 
behauptet zwar, daß die menschliche Natur immer gleich sei, da der 
fundamentale Kern der wirtschaftlichen Organisation hauptsächlich von 
denjenigen Bedürfnissen, Handlungen, Neigungen und Abneigungen ab- 
hänge, die sich überall beim Menschen finden; diese Bedürfnisse ete. 


Literatur. 107 


seien nicht immer gleich in Form, auch nicht einmal ganz gleich im 
Inhalt, aber sie bildeten doch ein genügend dauerndes und all- 
gemeines Element, um bis zu einem gewissen Grade in allgemeinen 
Sätzen zusammengefaßt werden zu können. Dies bestreite ich. Kann 
man wirklich aus der menschlichen Natur wirtschaftliche Sätze ableiten, 
die sowohl für die Periode des Feudalismus, wie für die des Kapitalis- 
mus, für die Zeit der unfreien Arbeit, wie die der freien Arbeit passen ? 
Es muß doch stets der historische Charakter der Wirtschaftslehre 
insoweit festgehalten werden, als es sich immer für uns nur um Fest- 
stellungen von Tatbeständen handeln kann, die für einzelne Epochen 
oder Perioden des Wirtschaftslebens zutreffen, die aber je nach dem 
Stande der rechtlichen Ordnung, dem Stande der Technik u. s. f. durchaus 
verschieden sind. Damit fällt auch die Möglichkeit von ewigen 
wirtschaftlichen Gesetzen von selbst fort. Wenn Marshall 
meint, daß die Existenzberechtigung der Nationalökonomie als besonderer 
Wissenschaft darin begründet sei, daß sie sich hauptsächlich mit dem 
Teil der menschlichen Tätigkeit befasse, welcher am meisten unter 
Kontrolle meßbarer Motive stände, so stünde es um die Wissen- 
schaftlichkeit unseres Faches sehr schlecht, denn gerade die Meßbarkeit 
dieser Motive ist durchaus nicht vorhanden. Es wird selbst von Fach- 
psychologen kaum bestritten werden, daß die Meßbarkeit der Lust- und 
Unlustgefühle, die Marshallim Auge hat, durchaus unsicher ist. Daher 
sind auch solche Fragen, deren exakte Beantwortung Marshall 
unserer Wissenschaft zuweist, wie z. B.: „Welcher Zuwachs an Wohl- 
befinden wird sich mit apriorischer Wahrscheinlichkeit aus einer ge- 
gebenen Vermehrung des Reichtums irgend einer sozialen Klasse er- 
geben (S. 95)“, für uns gar nicht lösbar. 

Aus diesem Grunde ist auch die Annahme sozialer Gesetze im 
Sinne Marshalls unmöglich. Der Vergleich (S. 80), den er zwischen 
der Anziehungskraft von Mond und Sonne und dem ökonomischen 
Prinzip anstellt, hinkt ebenso, wie die an anderer Stelle einmal gebrachte 
Analogie: „Das Vorhandensein eines großen Arbeitsangebots von Streich- 
holzschachteln zu einem sehr niedrigen Lohnsatze ist in derselben Weise 
normal, als die Krümmung der Knochen ein normales Resultat ist, wenn 
man Strychnin genommen hat (S. 89)“. In beiden Fällen werden exakt 
festzustellende naturgesetzliche Verknüpfungen in eine Linie gestellt 
mit einer durchaus wandelbaren, exakter Beobachtung und Fest- 
stellung gar nicht zugänglichen wirtschaftlichen Erscheinung. 

Von sehr problematischem Werte scheinen mir auch die zahlreichen 
mathematischen Formeln zu sein, dieMarshall zur Illustration seiner 
psychologischen Detailanalyse gibt. Ich kann nicht finden, daß das Wert- 
und Preisproblem durch Kurven, welche die Nachfrage eines Menschen 
nach einem Gute durch die Intensität seiner Kauflust für ein gewisses Quan- 
tum darstellen soll, befördert wird. Wenn nun gar im Kapitel „über die 
Elastizität der Bedürfnisse“ uns eine Kurve der Elastizität der Nach- 
frage vorgeführt wird, so daß wir genau ablesen können, wie stark die 
Nachfrage nach grünen Erbsen zu Beginn und zu Ende der Saison, 
und wieder verschieden je nach den verschiedenen sozialen Bevölke- 


108 Literatur. 


rungsschichten sich gestaltet, so kann man nur bedauern, daß so viel 
Mühe und Geist in unfruchtbarer Weise angewandt wird. 

Die Anhänger der Grenznutzentheorie werden solche Ausführungen 
allerdings höher schützen, wie auch die Freunde der klassischen Natio- 
nalökonomie die Partien seines Werkes, in denen er mehr ihren Ideen 
folgt, anerkennen werden. Was aber jedenfalls alle Richtungen unbe- 
friedigt läßt, ist sein Versuch der Verschmelzung grundverschiedener 
Methoden. Ich verweise hier nochmals auf meine Kritik des Marshall- 
schen Versuchs der Versöhnung der klassischen Werttheorie und der 
Grenznutzentheorie. Das Ergebnis, zu dem Marshall gekommen, ist, 
daß es auf die Länge der Zeitperiode ankommt, welche in Be- 
tracht gezogen wird. Bei längeren Zeiten sollen die Produktions- 
kosten, bei kürzeren Zeiten der Grenznutzen maßgebend sein. Wie 
unbestimmt ist alles dies! Was soll man unter längeren und kür- 
zeren Zeitperioden verstehen ? 

Auch eine weitgehende Verwertung’ der naturwissenschaftlich-bio- 
logischen Entwickelungsgesetze nach dem Vorgange von Herbert 
Spencer für die Sozialwissenschaft halte ich für verfehlt. So meint 
Marshall einmal geradezu, die Wirtschaftslehre sei eine Wissenschaft 
des Lebendigen und daher eher der Biologie als der Technik ver- 
wandt (!!) (S. 7); und ein anderes Mal spricht er von einer einheit- 
lichen Wirksamkeit der Naturgesetze in der physikalischen und in der 
moralischen Welt (S. 269). 

Die Lehre vom Kampf ums Dasein wird direkt für die Volkswirt- 
schaftslehre verwertet. Er acceptiert das „Gesetz vom Ueberleben des 
Geeignetsten“ auch für die politische Oekonomie; es bedeute für die 
Volkswirtschaft, daß die Existenz derjenigen Organismen sich fort- 
pflanzen lasse, welche am besten ausgerüstet seien, aus ihrer Umgebung 
Nutzen zu ziehen“ (S. 270). 

Auch in dem den „Grundbegriffen“ gewidmeten Kapitel tritt das 
Bestreben des Verfassers, Gegensätze möglichst auszugleichen, ausein- 
andergehende Definitionen zu versöhnen, dem Sprachgebrauch des ge- 
wöhnlichen Lebens möglichst weite Konzessionen zu machen, störend 
hervor. Denn die Klarheit und Schärfe der Begriffe muß notwendiger- 
weise darunter leiden. Tatsächlich sind die von Marshall gegebenen 
Definitionen in der Regel keineswegs ein Muster logisch einwandfreier 
Begriffe. Doch Marshall selbst hat sich in wünschenswerter Offenheit 
über die Grundsätze, von denen er sich bei der Aufstellung von De- 
finitionen hat leiten lassen, ausgesprochen. 

Er meint, im gewöhnlichen Gebrauch habe fest jedes Wort viele 
Schattierungen seiner Bedeutung und müsse daher aus dem Zusammen- 
hang erklärt werden: wie Bagehot gezeist habe, müßten sogar die 
formvollendetsten nationalökonomischen Schriftsteller diesem Beispiele 
folgen, um genügend Worte zu ihrer Verfügung zu haben. Gewöhn- 
lich gäbe es für jeden Ausdruck eine Bedeutung, welche Hauptbedeu- 
tung genannt zu werden verdiene, weil sie für die Zwecke der modernen 
Wissenschaft von größerer Bedeutung sei, als irgend eine sonstige ge- 
bräuchliche; sie soll dann als wahre Bedeutung des betreffenden Aus- 


Literatur. 109 


drucks aufgestellt werden, wenn nichts anderes ausdrücklich bestimmt 
oder vom Zusammenhang gefordert wird; daneben soll es aber diesen 
Begriff noch im engeren oder weiteren Sinne geben. Da sich immer 
eine gewisse Neinungsverschiedenheit über die genaue Abfassung einer 
Definition unter den Nationalükonomen fände, müsse ein gewisser 
„strittiger Spielraum“ bleiben (S. 101). Charakteristisch für diese Auf- 
fassung sind auch die Sätze, die er schon in seiner Vorrede ausspricht: 
„je einfacher und absoluter eine Wirtschaftstheorie ist, um so größer 
wird die Kontusion sein, die sie bei den Versuchen verursacht , Wirt- 
schaftstheorien auf die Praxis anzuwenden, wenn die Scheidelinien, aut 
die sie Bezug nimmt, im wirklichen Leben nicht gefunden werden 
können. Im wirklichen Leben gibt es keine deutlichen Scheidelinien 
zwischen den Dingen, die Kapital sind, und denen, die es nicht sind, 
oder zwischen denen, die Existenzbedarf darstellen, und denen, die es 
nicht tun, oder schließlich zwischen Arbeit, die produktiv ist, und solcher, 
die es nicht ist.“ 

Ich möchte nur einige Beispiele aus dem Marshallschen Lehr- 
buch dafür anführen, wie diese eklektische Manier zur Verschwommen- 
heit führt: z. B. will Marshall den Begriff „Güter“ so weit getaßt 
wissen, dab auch die Gelegenheit zu schönen Reisen, zum Besuche 
schöner Landschaften, Museen ete. dazu gehört. Auch „Erwerbsfähig- 
keiten“ sind nach Marshall Güter, und zwar deshalb, weil ihr Wert 
in der Regel gewissermaßen indirekt meßbar sei. Den Begriff des 
Reichtums will Marshall so weit gefaßt wissen, daß auch „die 
Geschicklichkeit des Zimmermannes“ darunter fällt. Besonders zu 
Bedenken Anlaß gibt die Kapitaldefinition von Marshall. Wie kann 
ein Student zu einer klaren Vorstellung vom Wesen des Kapitals kommen, 
wenn er liest: „Das Kapital besteht zum großen Teil aus Kenntnissen 
und Einrichtungen, die wir Organisation nennen wollen, und diese sind 
wiederum teils Privateigentum, teils nicht.“ Auch der Mensch wird 
von Marshall als Produktionsfaktor bezeichnet: in gewissem Sinne 
seien „die Natur und der Mensch zwei Produktionsfaktoren“. 

Ausdrücke, die sich als feste und klare Bezeichnungen für bestimmte 
Erscheinungen in der Nationalökonomie ein gewisses Bürgerrecht er- 
worben haben, liebt Marshall auf wesensverwandte, aber prinzipiell 
durchaus verschiedene Erscheinungen anzuwenden. Auch hierfür einige 
Beispiele: 

Das Gesetz des abnehmenden Bodenertrages ist kein 
nationalökonomisches, sondern ein naturwissenschattliches Gesetz, das auf 
exakten, natürlichen Tatsachen beruht. Marshall konstatiert noch eine 
Reihe weiterer solcher Gesetze und zwar das Gesetz des abnehmenden 
Grenznutzens, das Gesetz vom zunehmenden Ertrag und das Gesetz vom 
konstanten Ertrag. Das erste Gesetz lautet: „Der Grenznutzen eines 
Gutes nimmt mit jeder Vermehrung des bereits vorhandenen Vorrates 
ab“; das zweite lautet: „Eine Vermehrung von Kapital und Arbeit führt 
gewöhnlich zu einer verbesserten Organisation, welche die Wirksamkeit 
von Kapital und Arbeit erhöht. Daher gibt in denjenigen Erwerbs- 
zweigen, welche sich nicht mit der Gewinnung von Rohprodukten be- 


110 Literatur. 


fassen, eine Vermehrung von Kapital und Arbeit im allgemeinen über 
Verhältnis großen Ertrag; und weiterhin hat diese verbesserte Orga- 
nisation das Bestreben, jeden gesteigerten Widerstand, den die Natur 
der Gewinnung größerer Rohproduktenmengen entgegensetzt, zu ver- 
mindern oder sogar zu überwinden.“ Und schließlich, wenn die Wir- 
kungen der Gesetze vom steigenden und abnehmenden Ertrage sich das 
Gleichgewicht halten, dann haben wir drittens das Gesetz vom kon- 
stanten Ertrag vor uns: „Jede Mehrproduktion wird durch Arbeit und 
Opfer erlangt, welche im gleichen Verhältnis vermehrt sind.“ 

Es muß zu den größten Mißverständnissen führen, wenn solche toto 
coelo verschiedene Erscheinungen in einer einheitlichen Gruppe von 
Gesetzen aufgestellt werden. Nur bei dem Gesetz vom abnehmenden 
Bodenertrag kann man wirklich von einem Gesetz im strengen Sinne 
eines Naturgesetzes sprechen. Unabhängig von menschlichen Organisa- 
tionen muß dieses Gesetz in allen Zeiten immer das gleiche bleiben. 
Dagegen handelt es sich bei dem sogenanuten „Gesetz vom abnehmenden 
Grenznutzen“ nur um Tatsachen, die auf Beobachtungen des mensch- 
lichen Seelenlebens beruhen, Tatsachen, die aber keineswegs so allge- 
meingültig sind, daß sie zu einem „Gesetz“ in Analogie des genannten 
Naturgesetzes formuliert werden können. Nur in sehr eingeengter und 
sorgfältig abgegrenzter Form könnte hier von einer Gesetzmälßigkeit 
überhaupt die Rede sein. Vollends aber gilt dies für das sogenannte 
„Gesetz vom zunehmenden Ertrag“. Hier handelt es sich überhaupt 
nicht um eine allgemeine gesetzmäßige Erscheinung, sondern nur um eine 
Tatsache aus einer bestimmten Periode des Wirtschaftslebens für eine 
bestimmte Tätigkeit des Menschen, nämlich die industrielle, und auch 
hier nur für eine bestimmte ÖOrganisationsform, nämlich den kapitali- 
stischen Großbetrieb. Auch da kann man durchaus nicht ausnahmslos 
behaupten, daß mit der zunehmenden Größe der Betriebe auch ein 
Wachstum der Ertragsfähigkeit parallel geht. Marshall zieht aber in 
seinem umfangreichen Werke fortwährend diese Gesetze heran, er illu- 
striert sie auch durch mathematische Formeln, kurz, er behandelt diese 
sogenannten Gesetze so, als ob es sich in allen vier Fällen um so exakte 
und ausnahmslose Erscheinungen handelt, wie bei dem zuerst genannten 
Naturgesetz. 

Auch der von Marshall in Analogie zur Rente konstruierte 
Konsumentengewinn — er nennt ihn auch Konsumentenrente — scheint 
mir zur Unklarheit zu führen. Er versteht darunter folgendes: da der 
Preis, den jemand für eine Sache bezahlt, niemals höher sein könne, als 
der Betrag, dessen Bezahlung er der Entbehrung dieser Dinge vorziehe, 
so müsse die Befriedigung, welche ihm der Kauf verschaffe, im allge- 
meinen diejenige übersteigen, welche er in der Hingabe der Preissumme 
aufgäbe. Er erziele also von dem Kaufe einen Mehrwert von Befriedi- 
gung und dieser Mehrwert wird von ihm als Konsumentengewinn 
bezeichnet. Einige Güter ergäben besonders hohen Konsumentengewinn, 
es gäbe viele Güter des Komforts und des Luxus, deren Preise bedeu- 
tend niedriger seien, als diejenigen, welche viele Leute gern anlegen 


Literatur. 111 


würden, um sie nicht zu entbehren. Als „gute“ Beispiele nennt 
Marshall: Streichhölzer, Salz, eine billige Zeitung, Briefmarken. 

Es ist mir unerfindlich, wie man hier irgend eine Analogie zur 
Rente entdecken kann, und ich halte daher auch die ganze Aufstellung 
des Begriffes Konsumentengewinn für überflüssig oder vielmehr 
für irreführend. Während es sich bei der Rente um den Vorteil handelt, 
den jemand aus einem natürlichen Monopol zieht, handelt es sich 
hier, wenn ich den Verfasser richtig verstehe, um die Konstatierung der 
Tatsache, daß infolge billiger Produktionskosten bestimmte, mehr oder 
minder notwendige Gebrauchsartikel sehr billig hergestellt werden 
können. Daß der Konsument sich darüber freut, solche Dinge billig zu 
erhalten, ist klar. Wie man aber solche aus einfachen Verhältnissen 
der Preiskonjunkturen sich ergebenden Umstände noch zu besonderen 
ökonomischen Phänomenen erheben will, ist mir unerfindlich. 

Am meisten ist mir aber der Mangel an Begriffsschärfe bei 
Marshall aufgefallen in dem Kapitel „über die Rente“; ich möchte 
daher bei seiner Rententheorie etwas ausführlich verweilen, um so mehr, 
weil dieses Kapitel besonders geeignet ist, die Eigentümlichkeiten seiner 
Methode und Darstellungsart hervortreten zu lassen. 

Die Rente wird zunächst im 8. Kapitel des V. Buches behandelt 
unter der Ueberschrift „Die Rente oder das Einkommen aus einem 
nicht von Menschen verfertigten Produktionsmittel und der Wert des 
Produktes.“ Marshall geht von einer Prüfung der klassischen Renten- 
theorie aus. Als die beiden wichtigsten Sätze der klassischen Lehre 
bezeichnet er: 

1) Der Preis des ganzen Produktes ist durch die in Geld veran- 
schlagten Kosten an der Bebauungsgrenze (an der Grenze des isolierten 
Staates) bestimmt. 

2) Die Rente erscheint nicht als Bestandteil der Produktionskosten. 

Diese Lehren seien zwar richtig, würden aber häufig falsch inter- 
pretiert und bedürften einer präzisen Auslegung. Marshall selbst 
schlägt eine bessere Formulierung dieser Theorie vor, und zwar durch 
folgende 4 Sätze, die er als „Rettung der klassischen Lehre“ bezeichnet. 

1) Die Menge gebauter Produkte und also die Lage der Bebauungs- 
grenze (d. h. die Grenze der gewinnbringenden Kapital- und Arbeits- 
verwertung auf gutem und schlechten Boden in gleicher Weise) sind 
beide von den allgemeinen Nachfrage- und Angebotsverhältnissen be- 
herrscht. Sie sind einerseits bestimmt durch die Nachfrage, d. h. durch 
die Zahl der Leute, die das Produkt verbrauchen, die Intensität des 
Bedürfnisses nach diesem Produkt und durch ihre Zahlungsfähigkeit. 
Andererseits sind sie bestimmt durch das Angebot, d. h. durch die Aus- 
dehnung und Fruchtbarkeit des verfügbaren Grund und Bodens, die 
Zahl und Hilfsquellen derer, die ihn zu bebauen bereit sind. So be- 
stimmen sich Produktionskosten, Dringlichkeit der Nachtrage, Produktions- 
grenze und Produktenpreis wechselseitig, und man begeht keinen Zirkel- 
schluß, wenn man sagt, irgend einer dieser Faktoren sei zum Teil durch 
die anderen bestimmt. 


112 Literatur. 


2) Die Rente wirkt nicht mit bei der Regelung der allgemeinen 
Nachfrage- und Angebotsverhältnisse oder ihrer gegenseitigen Bezie- 
hungen. Sie ist bestimmt durch die Fruchtbarkeit des Bodens, den 
Preis des Produkts und die Lage der Bebauungsgrenze; sie ist der 
Wertüberschuß (Mehrwert) der Gesamterträge, die Kapital und Arbeit, 
auf Boden angewendet, über diejenigen Erträge hinaus erhalten, die sie 
unter ebenso ungünstigen Umständen, wie die an der Bebauungsgrenze 
sind, erhalten würden. 

3) Wenn dalıer die Produktionskosten für Produktenteile geschätzt 
werden, die nicht von der Grenze stammen (in dieser Schätzung er- 
scheint natürlich die Rente als ein Posten), und diese Schätzung dann 
in einer Aufzählung der Gründe verwendet wird, die den Produkten- 
preis bestimmen, dann liegt ein Zirkelschluß vor. Denn was gänzlich 
eine Folge ist, wird als Teilgrund derjenigen Dinge gezählt, deren Folge 
es eben ist. 

4) Die Produktionskosten des Grenzproduktes können ohne Zirkel- 
schluß festgesetzt werden, die Produktionskosten anderer Produktenteile 
aber nicht. Die Produktionskosten an der Grenze gewinnbringender 
Kapital- und Arbeitsanwendung sind diejenigen, nach welchen hin der 
Preis des ganzen Produkts tendiert, unter dem regelnden Einfluß der 
Nachtrage- und Angebotsverhältnisse. 

Marshall nimmt noch eine kleine Modifikation der klassischen 
Theorie nach der Richtung vor, daß er auf die Bebauung des Bodens 
mit verschiedenen Fruchtarten Rücksicht nimmt; eine Modifikation, die 
am Kern der klassischen Theorie nichts ändert. 

Nachdem so Marshall im wesentlichen den Lehren der klassischen 
Theorie gefolgt ist, schlägt er im 9. Kapitel „Die Quasirente oder der 
Ertrag aus einem schon früher vom Menschen verfertigten Produktions- 
instrument und der Produktenwert“ plötzlich einen neuen Weg ein. Er 
meint, daß der gewöhnliche Sprachgebrauch keinen Unterschied mache 
zwischen dem Einkommen, «as aus den freien Gaben der Natur flösse und 
dem aus den Kapitalsanlagen, die zur Melioration des Bodens und zur Er- 
richtung von Gebäuden benutzt würden. In allen diesen Fällen werde von 
Rente gesprochen. Das Einkommen, das aus landwirtschaftlichen Gebäuden 
oder Häusern gewonneu werde, sei aber wieder wesensverwandt mit 
dem Einkommen aus dauerbaren Maschinen. In der Tat, meint Mar- 
shall, hätten die Einkommen, die den von Menschen geschaffenen 
Produktionsmitteln verdankt würden, manches mit den echten Renten 
gemein. Die Reineinkommen, die aus früher geschatfenen Produktions- 
instrumenten gewonnen würden, nennt daher Marshall Quasirenten, 
und zwar sollen sie diese Bezeichnung haben, wenn es sieh um Pro- 
duktionswerkzeuge handelt, die nicht so schnell reproduziert werden 
können, so daß, wenn eine Aenderung in der Nachtrage nach solchen 
Produktionswerkzeugen eintritt, das Angebot nicht „alsbald“ erfolgen 
könnte. 

„Für die betreffende Zeit haben sie zu dem Preis der Dinge, an 
deren Produktion sie beteiligt sind, fast die gleiche Beziehung, wie der 


Literatur. 113 


Boden oder irgend eine freie Naturgabe, deren vorhandene Menge „dauernd 
fixiert“ ist, und deren Reineinkommen eine wirkliche Rente ist.“ 


Marshall gibt ein Beispiel: „Angenommen, es sei infolge einer 
Modeänderung eine ungewöhnliche Nachfrage nach einer bestimmten Art 
von Textilfabrikaten hervorgerufen; die zur Erzeugung dieses Fabrikates 
nötigen Spezialmaschinen könnten dann ein hohes Extraeinkommen ab- 
werfen. Es erscheint ein Ueberschuß über den Normalgewinn, der in 
solchen Anlagen sonst erzielt werden könnte, und dies ist die Quasi- 
rente.“ 

Im allgemeinen, meint Marshall, müßte also neben den Unter- 
schieden zwischen Boden und Kapital auch die Gleichheit beider 
Produktionsmittel beachtet werden. Der Grund und Boden sei eine 
ein für alle Mal fest gegebene Bestandmenge, dagegen die verfertigten 
Produktionsinstrumente ein beständig fließender Strom, der verstärkt 
oder abgeschwächt werden könnte. Soweit die Ungleichheit; die Gleich- 
heit bestehe aber in folgendem: 

Da manche dieser Produktionsinstrumente „nicht rasch“ reprodu- 
ziert werden könnten, so seien sie in Wirklichkeit für kurze Zeitstrecken 
eine fest gegebene Bestandsmasse. Für diese Perioden verhielten sich 
die ihnen verdankten Einkommen zum Wert der mittelst ihrer herge- 
stellten Produkte wie echte Renten. 


Wenn bisher Marshall Einkünfte, die in der Regel als Ge- 
winne aufgefaßt werden, als Rente oder Quasirente bezeichnet, 
so will er andererseits gewisse Einkünfte, die gewöhnlich als Rente 
bezeichnet werden, als Gewinne aufgefaßt wissen. Die Rente, die 
sich durch besonderen Vorteil der Lage eines Grundstückes ergibt, nennt 
er Lagerente. Es gäbe aber Ausnahmefälle, bei denen dieses Ein- 
kommen aus vorteilhafter Lage nicht als Rente, sondern als Gewinn 
anzusehen sei. Bisweilen sei der Besiedelungsplan einer ganzen Stadt, 
ja eines Bezirks, nach geschäftlichen Grundsätzen ausgerichtet und werde 
als eine Anlage auf Kosten und Gefahr einer einzelnen Person oder 
Gesellschaft ausgeführt. Diejenigen, die es unternähmen, einen neuen 
Bezirk zu kolonisieren oder eine neue Stadt zu bauen, gründeten ihre 
größten Hoffnungen darauf, daß es ihnen gelingen werde, die Gewinne 
aus kommerziellen Erfolgen selbst einzustreichen. In allen solchen 
Fällen müßte man das jährliche Einkommen aus Grund und Boden für 
viele Zwecke mehr als Gewinn, denn als Rente auffassen. 


Schließlich konstruiert Marshall noch eine zusammengesetzte 
Rente; als solche bezeichnet er die Hausrente; sie bestehe aus zwei 
Bestandteilen, der Quasirente des Gebäudes und der eigentlichen Rente 
des Grund und Bodens, auf dem das Gebäude steht. 

Nach diesen allgemeinen Betrachtungen über Rente, Quasirente 
und zusammengesetzte Rente bespricht Marshall dann im 9. Kapitel 
des 6. Buches „die Grundrente im engeren Sinne“. Hier zeigt sich, 
daß er die ursprüngliche Anlehnung an die klassische Theorie fast 

gänzlich aufgegeben hat. Er geht davon aus, daß die sogen. „Grund- 

Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVII). 8 


114 Literatur. 


rente“ überhaupt gar keine spezielle eigenartige Tatsache sei, sondern 
nur ein besonderer Fall einer allgemeinen Wirtschaftserscheinung, 
nämlich ein Fall von sogen. Differentialeinkommen. Er zieht das Fazit 
aus früher Gesagtem, indem er erklärt: „Die Grundrente ist nicht eine 
einzigartige Tatsache, sondern einfach die Hauptspecies einer großen 
Gattung von ökonomischen Phänomenen, und die Grundrententheorie 
ist keine isolierte ökonomische Lehre, sondern bloß eine von den Haupt- 
anwendungsfällen einer einzelnen Folgerung aus der allgemeinen Theorie 
von Angebot und Nachfrage; und es gibt einen beständigen Uebergang 
von der wirklichen Rente aus den freien Naturgaben, die von Menschen 
occupiert wurden, durch den aus Bodenverbesserungen bezogenen 
Ertrag hındurch, zu denjenigen Renten, die aus landwirtschaftlichen 
und Fabrik-Gebäuden, Dampfmaschinen und weniger dauerbaren Gütern 
erhalten wird.“ 

Ich kann die Marshallsche Rententheorie nicht als Rettung, 
sondern vielmehr nur als Verwässerung der klassischen Rententheorie 
ansehen. Was gerade den Vorzug der klassischen Theorie ausmacht, 
ist die klare und scharfe Abgrenzung des Renteneinkommens gegenüber 
allem übrigen Einkommen: Was dem Bodenmonopol als solchem und 
nicht der menschlichen Arbeit oder dem Unternehmungsgeist verdankt 
wird, ist Rente. Dies alles gibt Marshall Preis, indem er auch hier 
wieder Erscheinungen, die eine gewisse Aehnlichkeit mit der Rente 
haben, unter denselben oder einen ähnlichen Begriff zu bringen sucht. 
Was zunächst die Kapitalsanlagen anlangt, deren Reproduktion „längere 
Zeit“ in Anspruch nimmt, so ist doch immer noch zwischen dem Boden 
und diesen Anlagen der tiefgreifende Unterschied, daß im ersten Falle 
ein natürliches Monopol und im letzteren Falle ein von Menschen ge- 
schaffenes Produktionsmittel vorliegt. Aber selbst davon abgesehen, 
was heißt „längere Zeit“? Wo sollen „rentenartige“ Kapitalsanlagen 
anfangen? Es fehlt jedes klare Kriterium. Marshalls Vorliebe zur 
Produktionskostentheorie tritt auch hier wieder hervor. Bei kurz- 
fristigen Anlagen sollen die „Kosten“ für den Preis entscheidend sein; 
bei langfristigen soll dem Produzenten wegen der Schwierigkeit der 
Kapitalsanlage ein Extragewinn blühen können. Selbst einmal den 
Standpunkt der Produktionskostentheorie angenommen, müßten doch 
alle die Fälle, die Marshall unter dem Namen „Quasirente“ zusammen- 
faßt, richtiger als Konjunkturengewinne bezeichnet werden. Gewiß kommt 
es oft vor, daß bei plötzlicher großer Nachfrage nach Artikeln, die 
schwer vermehrbar sind, ein Extraprofit zu erzielen ist. Aber dies alles 
ist Profit und niemals Rente, auch nicht Quasirente. Ebenso ist es in 
den Fällen, wo Marshall meint, daß dort „mehr“ von Gewinn als 
von Rente gesprochen werden müsse. Nicht mehr, sondern allein 
von Gewinn kann die Rede sein. Ich meine die Gewinne der 
Terrainspekulation; gerade wie mit anderen Objekten wird hier mit 
Grund und Boden spekuliert; das Einkommen daraus ist auch nicht 
gemischten Charakters, sondern reiner Gewinn. Hier brauchte Mar- 
shall gar keine „Korrektur“ der klassischen Lehre vorzunehmen, denn 
gerade nach dieser Theorie ist die Rente der unverdiente, d. h. ohne 


Literatur. 115 


jedes Zutun, auch ohne spekulative Geschäftsabsicht, dem Bodenbesitzer 
zufallende Mehrwert. 

Seligmans „Principles of economics“ sind in ganz besonderem 
Maße geeignet, den Studierenden als Lehrbuch neben den Vorlesungen 
zu dienen. Sie gehen nicht so in die Details der wissenschaftlichen 
Analyse ein, wie das Werk von Marshall; überhaupt liest sich das 
Werk viel leichter. Es ist auch nicht in erster Linie für die Fachleute 
und die Elite der Studierenden geschrieben, wie das Marshallsche 
Werk. Es ist populär im besten Sinne des Wortes, zeichnet sich durch 
klaren, logischen Aufbau des Systems und durch ganz besonders reich- 
haltige und sorgfältig ausgewählte Literaturangaben aus. Noch besonders 
hervorgehoben zu werden verdient, daß dieses Werk, welches nicht 
nur die theoretische Nationalökonomie im engeren Sinne umfaßt, sondern 
auch das Geld-, Kredit-, Verkehrs-, Versicherungs- und Armenwesen 
behandelt, für die praktische Brauchbarkeit dadurch besondere Vorzüge 
aufweist, daß es eine sehr große Anzahl höchst instruktiver Karten- 
beilagen mit graphischen Darstellungen enthält. Es zählt jedenfalls 
zu den besten Büchern dieser Art. 

Wie sehr die von mir oben charakterisierte Manier Marshalls, 
die Grenzen zwischen den einzelnen ökonomischen Kategorien zu ver- 
wischen, Schule gemacht hat, zeigt gerade dieses Werk auf das deut- 
lichste. Seligman geht in dieser Hinsicht noch weit über Mar- 
shall und seinen Landsmann Walker hinaus; so z. B. wenn er be- 
hauptet, daß aller Wert ein Differentialwert sei, und daher die 
Eigentümlichkeit der Grundrente als eines Differentialertrages gar keine 
Ausnahme, sondern nur ein Spezialfall einer allgemeinen ökonomischen 
Erscheinung sei. — 

Er sagt darüber folgendes (S. 217): „Jeder Wert kann als ein 
Differentialwert betrachtet werden. In jeder Art von Gütern gibt es 
verschiedene Grade, die verschiedenen Benutzungsarten entsprechen. 
Ein gutes Boot wird mehr Miete einbringen, als ein minderwertiges, 
und wenn es ganz schlecht ist, wird es überhaupt nicht vermietet 
werden können. Die Rente kann daher gemessen werden, wie ein 
Differential von einer Grenzlinie, wo keine Rente vorhanden ist, und 
die Rente irgend einer Sache kann ebensogut definiert werden, als 
der Differentialertrag oder Surplusertrag über die rentenlosen oder 
Grenzerträge derselben Klasse von Gütern.“ 

An anderer Stelle wird dieselbe Behauptung in noch schärferer 
Weise vorgetragen. Im Kapitel über Rente und Preis (S. 376) heißt 
es: „Es ist festgestellt, daß die Grundrente keinen Teil der Kosten 
ausmacht, und daß hohe Renten deshalb eine Wirkung und nicht eine 
Ursache hoher Preise sind. Es ist zweifellos wahr, daß, wenn Weizen 
auf Grund und Boden von verschiedener Fruchtbarkeit oder Lage ge- 
wonnen wird, die Konkurrenz den Preis allen Weizeus derselben 
Qualität auf die Produktionskosten des Grenzproduzenten, d. h. auf die 
Kosten des Produzenten des ungünstigen Bodens bringen wird. Der 
jenseits dieser Grenzen produzierende Landwirt wird einen Vorteil 

gr 


116 Literatur. 


haben, und wenn wir diesen differentiellen Mehrertrag Rente nennen, 
kann man sagen, daß diese Differentiale nicht in den Preis übergeht. 
Genau daselbe ist aber von jedem anderen Anteil bei der Verteilung 
wahr. Setze man an Stelle der Grundstücke Nähmaschinen, die monat- 
lich oder jährlich vermietet werden. Einige dieser Maschinen werden 
mehr Kleidungsstücke derselben Qualität herstellen, als andere; alle 
Kleidungsstücke werden aber zum selben Preise, nämlich zu den Kosten 
des Grenzproduzenten, d. h. zu den Kosten des Produzenten mit der 
schlechtesten Maschine abgegeben, und die Differentiale zwischen dem 
Grenzprodukt und dem Produkt der besseren Maschine wird als Surplus- 
rente dem Eigentümer der besseren Maschine zufallen.“ Ja, er geht 
an dieser Stelle noch weiter, und gibt auch ein Beispiel von den ver- 
schiedenen Lohnbezügen verschiedener tüchtiger Arbeiter, und schließt 
dann mit dem Satz: „Die Löhne der verschiedenen Kategorien der 
Arbeiter sind eine Differentiale in demselben Sinne, wie die Renten 
der verschiedenen Qualitäten des Grund und Bodens oder des Kapitals 
eine Differentiale ist.“ 

Ich habe absichtlich dieses ausführliche Zitat gegeben, weil es 
memes Ermessens auf das deutlichste zeigt, zu welcher theoretischen 
Verwirrung diese Betrachtungsweise notwendig führen muß. Hier gilt 
es gerade gegenüber der nur scheinbaren Uebereinstimmung auf die 
grundsätzliche Verschiedenheit an Bodendifferenzen und Arbeitsleist- 
ungsdifferenzen hinzuweisen. 

Ich möchte aber noch ein weiteres Beispiel dieser theoretischen 
Verschwommenheit anführen, und zwar die Erklärung des Gesetzes 
vom abnehmenden Ertrag. Im Anschluß an Marshall gibt auch 
Seligman drei Gesetze, nämlich das Gesetz vom abnehmenden, zu- 
nehmenden und konstanten Ertrag. Auch in seiner Erklärung des 
Gesetzes vom abnehmenden Ertrag geht er aber noch weit über 
Marshall hinaus, indem er behauptet, daß dieses Gesetz vom ab- 
nehmenden Ertrag eine ganz allgemeine Erscheinung der Volkswirtschaft 
sein soll. 

Auch hier zunächst einige wörtliche Zitate: (S. 212) „Das Grund- 
gesetz des Wertes ist das Gesetz der abnehmenden Nützlichkeit. Die 
Befriedigung, die von den aufeinanderfolgenden Vermehrungen eines 
Gebrauchsgutes ausgeht, nimmt ab mit der Vermehrung des Vorrates. 
Wenn wir in derselben Weise die Nützlichkeit der verschiedenen Ver- 
mehrungen der Produktionsgüter oder Produktionsmittel miteinander 
vergleichen, haben wir das Gesetz des abnehmenden Ertrages vor uns. 
An Stelle der abnehmenden Nützlichkeit von direkten Diensten, die uns 
durch eine konsumierte Sache geleistet wird, denken wir dabei an den 
verminderten Ertrag oder Dienst, der uns durch irgend etwas gewährt 
wird bei der Produktion des wirtschaftlichen Gutes, welches wir 
konsumieren. Wenn ein Mann einen Webstuhl bedient, wird er eine 
gewisse Menge Tuch leisten können, verdoppelt man die Webstühle, 
so wird er die doppelte oder mehr als die doppelte Arbeit leisten können: 
gibt man ihm 4 Webstühle, so wird der Ertrag vierfach sein. Von 
einer gewissen Grenze ab aber wird die Beaufsichtigung jedes folgen- 


Literatur. 117 


den Webstuhls seine Energie verringern und mehr Fehler verursachen. 
Der Gesamtertrag mag größer sein, aber der Ertrag jedes Webstuhls 
wird geringer sein, bis schließlich neue Webstühle den Gesamtertrag 
überhaupt nicht mehr vermehren. Wenn wir die Arbeiter anstatt der 
Maschinen vermehren, wird dieselbe Erscheinung eintreten; mehr An- 
strengung bedeutet nach einem gewissen Zeitpunkt relativ geringere 
Erträgnisse. Ein Ruderer kann seine Geschwindigkeit durch größere 
Anstrengungen vermehren, aber nach einem gewissen Punkt bei großen 
Anstrengungen keine größeren Geschwindigkeiten mehr bewirken. Eine 
Vermehrung der Ruderer wird dies Gesetz nicht abändern. 2 Männer 
werden ein Boot nicht 2mal schneller als einer rudern; 4 Männer werden 
es nicht 2mal so schnell als 2 rudern. Ein großer Omnibus kann mehr 
Leute aufnehmen, als ein kleiner, aber wenn eine bestimmte Größe er- 
reicht ist, wird es rentabler sein (it will pay better) einen anderen 
Omnibus zu kaufen, als den alten zu erneuern. 

Auf einem Grundstück kann es gewinnbringend sein, mehr Leute 
zu beschäftigen oder mehr Düngemittel und bessere Maschinen zu be- 
nutzen, aber nach einem gewissen Zeitpunkt beginnen zusätzliche Mengen 
von Arbeit und Kapital kleinere Erträgnisse zu liefern. Das Gesetz 
des abnehmenden Ertrages ist universell, es ist ein anderer Ausdruck 
für das Gesetz der abnehmenden Nützlichkeit. Das letztere rührt von 
der begrenzten Natur des Menschen her, das erstere von der begrenzten 
Natur in den Elementen seiner Umgebung.“ 

Ueber denselben Punkt spricht sich Seligman in dem Kapitel 
„verhältnis der Grundrente zu anderen Renten“ folgendermaßen aus: 
„Das Gesetz des abnehmenden Ertrages ist in der Tat die Grundlage 
des Rentengesetzes. Der Landwirt wird einmal einen Punkt erreichen, 
wo es ihm nicht mehr lohnt, noch einen Arbeiter oder noch eine Ma- 
schine auf seinem Grundstück zu verwenden, weil über die Grenze der 
nutzbringenden Auslagen jede zusätzliche Verwendung in Kapital oder 
Arbeit einen Ertrag liefert, der nicht hinreichend ist, um die Kosten 
zu decken. Jedenfalls wird er die extensive oder intensive Grenze der 
Ausnutzung des Grund und Bodens erreichen. Dies aber ist nichts 
dem Grundbesitzer Eigentümliches. Der Kapitalist wird 
ebenso einen Punkt erreichen, wo es ihm nicht mehr lohnen wird (it 
will not pay him) mehr Maschinen einer bestimmten Sorte zu kaufen 
oder eine weitere, für dasselbe Erzeugnis bestimmte Fabrik zu bauen; 
und der Arbeiter wird den Punkt erreichen, wo er nicht vorteilhafter- 
weise noch mehr Webstühle bedienen kann. 

Das Gesetz des abnehmenden Ertrages ist universell und auf alles 
anwendbar, was Wert besitzt; wenn es die Grundrente erklärt, erklärt 
es ebenso den Kapitalzins und den Arbeitslohn.“ 

Man kann nur bedauern, daß der Verfasser, der sonst gerade durch 
klare und logische Begriffsbildung sich auszeichnet, in diesem wichtigen 
theoretischen Kapitel so schwere Mißgriffe sich zu schulden kommen 
läßt. Denn bei diesen letzten Ausführungen kann man nicht, wie etwa 
bei der früher gerügten Ausdehnung des Rentencharakters auf ver- 
schiedene Arten von Differentialeinkommen allein von einer unzweck- 


118 Literatur. 


mäßigen Erweiterung des Rentenbegriffes sprechen. Hier kann man 
nicht etwa nur meinen, daß die klassische Theorie die zweckmäligere 
wäre. Bei dieser letzten Ausführung über das Gesetz vom abnehmen- 
den Ertrag muß man durchaus von einer irreführenden und mißver- 
ständlichen Verwechselung grundverschiedener Wirtschaftserscheinungen 
sprechen. Man kann nur dringend wünschen, daß diese Art von Begriffs- 
bildung aus den nationalökonomischen Grundrissen verschwinden möchte, 
denn in der Tat ergibt sich aus dem letzten Zitat, daß Seligman aus 
einem Rohertragsproblem ein Reinertragsproblem gemacht 
hat. Nie anders wurde das Gesetz des abnehmenden Ertrages aufgefaßt, als 
in dem Sinne eines Rohertragsproblems, d. h, daß vom bestimmten Zeit- 
punkt ab die Roherträge abnehmen. Nun macht Seligman dar- 
aus ein Reinertragsproblem, d. h. er führt alle möglichen Fälle auf, wo 
es im Interesse der privatkapitalistischen Ausnutzung eines Unter- 
nehmers nicht mehr gelegen sei, weitere Produktionsmittel anzuwenden. 
Es handelt sich jedoch hier um gänzlich verschiedene Fälle und das für 
viele ökonomische Probleme fundamental wichtige Gesetz des abnehmenden 
Ertrages wird durch solche „Erweiterungen“ ganz sinnlos und unver- 
ständlich. Indem Seligman ein einfaches naturgesetzliches Faktum 
zu einem allgemeinen Wertproblem erhob, hat er die Grundnatur 
des ersteren vollkommen verkannt. 

Ebenso liegt ein Mißverständnis zu Grunde bei der Parallele zwischen 
der abnehmenden Arbeitskraft des einzelnen Menschen und dem Gesetz des 
abnehmenden Ertrages. Daß die Arbeitskraft eines Menschen nicht in 
infinitum auszudehnen ist, sondern daß nach einer bestimmten Aufwendung 
von Arbeitskraft eine Verminderung der Leistungen auftreten mul, ist eine 
allbekannte Tatsache, die aber schlechterdings wieder gar nichts zu tun hat 
mit dem Gesetz des abnehmenden Ertrages; denn bei diesem handelt es 
sich darum, daß wir einen Unterschied konstatieren wollen zwischen der 
Leistung der Naturkräfte bei der industriellen und der landwirtschaft- 
lichen Produktion. Während bei der industriellen Produktion die Natur- 
kräfte wie freie Güter in beliebiger und unbegrenzter Weise die mensch- 
liche Arbeit unterstützen, sind die Naturkräfte bei der Landwirtschaft, 
so weit sie in einem Bodenstück konzentriert sind und zum Wachstum 
der Pflanzen unentbehrlich sind, nur bis zu bestimmten Grenzen für 
vermehrte Produktion ausreichend. Wenn aber einmal für dieses wich- 
tige Naturgesetz ein bestimmter technischer Ausdruck geprägt ist, ist 
es höchst bedenklich und gefährlich, dieses Gesetz auch für andere 
Erscheinungen, die höchstens ein paar kleine äußerliche Aehnlichkeiten 
aufweisen, anzuwenden. 

Die Grundlegung von Pesch ist der erste Band eines größeren 
Werkes, welches die gesamte Nationalökonomie umfassen soll. In diesem 
ersten Bande sind die wichtigsten allgemeinen methodologischen und 
sozialphilosophischen Grundfragen behandelt. Besonders eingehend 
nimmt der Verfasser Stellung zum System des Individualismus und 
Sozialismus. 

Charakteristisch für das Werk ist, daß es vom orthodox-katholischen 
Standpunkt aus geschrieben ist; es hebt sich aber vorteilhaft von vielen 


Literatur. 119 


anderen Werken, die von diesem Standpunkt aus verfaßt sind, dadurch 
ab, daß es in wohltuendster Objektivität auch anderen Richtungen ge- 
recht zu werden sucht. Frei von jedem Fanatismus gegenüber gegne- 
rischen Richtungen, prüft der Autor auch die Gedankengänge, die seinem 
Standpunkt diametral entgegengesetzt sind. Es finden sich in dem 
Werke viele treffende kritische Bemerkungen, dahin rechne ich z. B. 
mancherlei aus dem Kapitel „Ueber die Wirtschaftsstufen“, ferner über 
die evolutionistische Nationalökonomie. Auch wer die theologische 
Begründung, die der Verfasser seinen Sätzen gibt, für verfehlt hält, 
wird vielerlei Anregung und Belehrung aus diesem Werke schöpfen 
können. 

Sehr viele Berührungspunkte hat Pesch mit Adolph Wagner, 
den er selbst als seinen Lehrer bezeichnet. Mit Adolph Wagners 
Grundlegung hat dieses Werk gemein, daß die tiefsten und schwierigsten 
Probleme hier zur Erörterung gelangen, namentlich die Fragen der 
wirtschaftlichen Freiheit, des Privateigentums, die Stellung des Staates 
zur Volkswirtschaft und andere mehr. Die Grundauffassung, von welcher 
der Verfasser an die Betrachtungen der Nationalökonomie herangeht, 
kann man als anthropologisch-teleologisch einerseits und religiös-katho- 
lisch andererseits bezeichnen. Die grundlegenden Sätze des Verfassers 
lassen sich in aller Kürze etwa so zusammenfassen: 

Aus dem Gesetz Gottes, welches alles menschliche Streben und 
Handeln ordnet, ergeben sich Zweck und Norm der Herrschaft des 
Menschen über die äußere Welt. Die Welt soll uns helfen, unsere 
Lebensaufgaben im Diesseits und für das Jenseits zu erfüllen. Der 
Mensch muß daher entsagen überall, wo der Gebrauch der weltlichen 
Dinge zum Hindernis würde für die Erreichung der von Gott gewollten 
diesseitigen und jenseitigen Lebenszwecke. Kurz gesagt, der Mensch 
ist Mittelpunkt und Beherrscher der materiellen Welt nach Gottes 
Willen durch seine sinnlich vernünftige Natur, die ihn zugleich be- 
fähigt, in fortschreitender Entwickelung jene Herrschaft zu erweitern, 
zu vervollkommnen, zu befestigen. Der Mensch ist niemals bloß Objekt 
oder Werkzeug, sondern immer und überall Subjekt und Ziel der Wirt- 
schaft und wirtschaftlichen Tätigkeit. In steter Unterordnung unter das 
Gesetz desjenigen, der nicht mit abgeleitetem, sondern mit ursprünglichem, 
völlig souveränem Rechte die Welt regiert, die er erschaffen hat. 

In dem göttlichen Sittengesetz soll darum auch der Nationalökonom 
immer die höchste, wichtigste Norm für den Teil des Gesellschaftslebens 
erkennen, der den Gegenstand seiner Forschungen bildet. Die lex aeterna 
erscheint bei vernünftigen Menschen als das natürliche Licht der Ver- 
nunft, durch welches wir erkennen, was wir tun und meiden sollen, als 
göttliches Sittengesetz, das uns zu dem von Gott gewollten Ziel, auf den 
von Gott gewollten Weg zu leiten bestimmt ist. Dieses Gesetz ordnet 
sowohl die innere Gesinnung, wie das äußere Verhalten, unsere Bezie- 
hungen zur Welt, zu den Menschen zu der Gesellschaft; aus der un- 
wandelbar vernünftigen Menschennatur, dem unwandelbaren göttlichen 
Sittengesetz leitet die Nationalökonomie Prinzipien und stellt Forderungen 
auf darüber, wie die Entwickelung verlaufen soll. 


120 Literatur. 


Von diesem Standpunkt aus hält der Verfasser die Systeme des 
Individualismus und des Sozialismus für gleich verfehlt. Den leitenden 
Ideen des Individualismus, der absoluten Freiheit und Selbständigkeit 
der einzelnen Wirtschaften, die nur den eigenen Vorteil suchen, der 
individualistischen Dezentralisation stellt der Sozialismus die Forderung 
einer völlig einheitlichen zentralisierenden universalen Wirtschaftsge- 
nossenschaft gegenüber mit Verwischung aller sozialen Differenzierung 
zwischen Berufsgruppen, Klassen, Ständen. 

Verfasser tritt für ein drittes System ein, welches in der Mitte 
steht zwischen beiden Extremen einer absoluten Zentralisation und einer 
absoluten Dezentralisation; es beläßt der einzelnen Wirtschaft ihre rela- 
tive Selbständigkeit, fordert lediglich deren organische Eingliederung in 
das gesellschaftliche Ganze. 

Da aber die Gesellschaft als Verbindung freier sittlicher Wesen 
eine moralische Einheit darstellt, so muß auch der in letzter Linie jedes 
soziale System beherrschende Grundgedanke ein sittliches Postulat sein. 
Diese rechtlich sittliche Forderung, welche als oberstes und allgemeinstes 
Rechtsprinzip und Gesetz für das Individuum, für die Gesellschaft und 
den Staat sich darstellt, nennt der Verfasser Solidarität und das 
darauf aufgebaute Wirtschaftssystem Solidarismus. Er will keine 
allgemeine Wirtschaftsgenossenschaft. wohl aber ein soziales System, im 
Hinblick auf den natürlichen Sozialzweck der staatlichen Gesellschaft, 
geeinter Privatwirtschaften unter Wahrung aller berechtigten, mit dem 
Gesamtwohl vereinbarten Selbständigkeit, unter reicher Entfaltung eines 
durch Gemeingefühl starken Gesellschaftslebens. Das Gesamtwohl ist 
ihm nicht lediglich Produkt eines Mechanismus, sondern das Ziel, auf 
welches alle verpflichtet sind, jeder in seiner Weise, die Autorität un- 
mittelbar, die Bürger vor allem durch Unterordnung und Eintügung 
ihrer privaten Bestrebungen in das Ganze mit Rücksicht auf dessen 
Zweck. Nach den Forderungen des Gemeinwohls soll sich das Ver- 
hältnis und die Verteilung von privatwirtschaftlicher und gemeinwirt- 
schaftlicher Sphäre regeln, die Beschränkung oder Gewährung einer in 
sich berechtigten Freiheit, der Ausgleich der Interessen der verschiedenen 
Gruppen und Klassen u. s. w. Letztlich ist der Solidarismus nichts 
anderes, als die sittlich-organische Auffassung des staatlichen Gesell- 
schaftslebens in systematischer Einwirkung auf die Volkswirtschaft, um 
dieser die ihrem naturgemäßen Ziele (Volkswohlstand) entsprechende 
Organisation zu sichern. 

Soweit die Grundgedanken des Verfassers. 

In Kürze einige kritische Bemerkungen: 

Wenn Pesch einmal (S. 174) als den Kern jeder echt sozialen 
Auffassung das Ziel bezeichnet: „allen Volksgenossen nach Möglichkeit 
die gesicherten Bedingungen zu verschaffen für eine normale und gün- 
stige Entwickelung ihrer geistigen und körperlichen Existenz, wobei als 
wahrer Maßstab fortschreitende Kultur, insbesondere der materiellen, 
geistigen und sozialen Hebung gerade der unteren und mittleren Klassen, 
zu gelten hat“, so wird man sich dieser Auffassung durchaus anschließen 


Literatur. 121 


können. Was aber zu den größten Bedenken Anlaß gibt, ist die religiös- 
katholische Fundamentierung dieses Standpunktes. Es wird der Religion 
eine viel zu große Aufgabe und Verantwortlichkeit zugemutet, wenn aus 
ihr heraus auch die richtigeu Prinzipien für eine vernünftige Wirtschafts- 
und Sozialpolitik abgeleitet werden sollen. Wenn in dem eben ange- 
führten Zitat der Verfasser Stellung nimmt gegen das Darwinistische 
Prinzip einer natürlichen Entwickelung des Wirtschaftslebens, so stimmen 
wir darin mit ihm vollkommen überein, aber ist es nicht eine ganz 
analoge Verirrung, wenn er uns nun eine andere natürliche Ent- 
wickelung oktroyieren will, die ihren Ursprung von einem an- 
geblich göttlichen Sittengesetz herleitett? Mag auch die ethische 
Grundanschauung des Christentums für das Verhalten der Menschen im 
Wirtschaftsleben maßgebend sein, wie viele gerade der wichtigsten und 
schwierigsten Wirtschaftsprobleme sind religiös indifferent, oder können 
in verschiedenster Weise eine Lösung finden, ohne dabei dem religiösen 
Empfinden irgend wie zu nahe zu treten. Ob man die industriellen 
Kartelle unter Staatsaufsicht stellt oder nicht, ob man die großen 
Betriebe durch Steuern in ihrem Wachstum zu hindern suchen 
soll oder nicht, ob man sich für oder wider die Förderung der 
Fideikommisse erklärt, um nur einige Beispiele von Fragen 
zu erwähnen, die in neuerer Zeit viel besprochen wurden — 
für diese Erwägungen sind technisch-ökonomische Gesichtspunkte maß- 
gebend, nicht aber können sie aus religiöser Anschauung heraus ent- 
schieden werden. Der Verfasser ist der Gefahr nicht entgangen, in viel 
zu weitgehender Weise der Religion wirtschaftspolitische Tendenzen zu- 
zumuten, so z. B. wenn er aus der Natur des Christentums als einer 
Weltreligion folgert, daß auch die wirtschaftliche Solidarität über die 
Grenzen des einzelnen Staates hinausgehen müsse und dabei besonders 
auf die Wichtigkeit des internationalen Arbeiterschutzes hinweist, oder 
wenn er von demselben christlichen Standpunkt aus gegen die großen 
Riesenbetriebe sich ausspricht: „Gegen jene rücksichtslose Ausdehnung 
einer ins Ungemessene gehenden Produktion und Handelstätigkeit, so 
zwar, daß der große oder kolossale Betrieb zugleich zielbewußt die Ver- 
nichtung zahlreicher mittlerer und kleiner Betriebe erstrebt.“ 

Besonders fiel mir aber der Fehler des Verfassers, der als eifriger Be- 
kämpfer des Naturrechtes der individualistischen Nationalökonomie doch 
im Grunde genommen selbst ein neues Naturrecht schafft, bei seiner Be- 
handlung der Frage des Privateigentums auf. Er bekämpft die Legaltheorie 
und zwar deshalb, weil sie keine Rücksicht nähme auf das göttliche Sitten- 
gesetz. Hiernach dürfe über die Berechtigung des Privateigentums gar 
nicht gestritten werden, weil das Privateigentum ewigen und göttlichen 
Ursprungs sei. Das Privateigentum sei in seinem wesentlichen Bestand 
ein notwendiges Produkt. Schon die Tatsache, daß zu allen 
Zeiten, bei allen Völkern die Eigentumsinstitution sich vorfand, ließe 
sich nur dadurch erklären, daß die vernünftige Natur die Menschen zur 

Einführung und Bewahrung dieser Einrichtung angeleitet habe. Ihrem 
wesentlichen Inhalt nach entspräche also die Eigentumsinstitution einer 


122 Literatur. 


Forderung der Vernunft. Pesch schließt sich vollkommen den Sätzen 
an, die Leo XIII. in seiner Encyclica rerum novarum am 12. Mai 
1881 ausgesprochen hat. 

„Der Mensch hat auf Erden, nicht nur wie das Tier das einfache 
Gebrauchsrecht, sondern auch ein dauerndes Eigentumsrecht und zwar 
nicht allein bezüglich jener Dinge, die durch den Gebrauch verbraucht 
werden“; und ferner den Satz: „Das Privateigentum ist unter allen 
Umständen, sei es als Frucht der Arbeit oder des Gewerbes oder infolge 
von Uebertragung oder Schenkung ein Naturrecht und jedermann kann 
darüber in vernünftiger Weise nach seinem Gutdünken verfügen.“ 

Damit soll also eine der wichtigsten Grundfragen der Sozialwissen- 
schaft, die des Privateigentums, für die wissenschaftliche Betrachtung 
quasi ausgeschaltet werden; das Privateigentum wird uns als etwas hin- 
gestellt, das von Gott der menschlichen Natur ein für alle Mal ein- 
geprägt sei. Merkt der Verfasser nicht, daß er mit diesen Behauptungen 
in schroffen Widerspruch gerät mit seiner so energischen Stellungnahme 
gegen die Auffassung von natürlichen Faktoren im Wirtschaftsleben, 
welche die menschliche Willkür sonst ausschließen? Wenn er z. B. 
sagt: (S. 111) „In dem Augenblick, wo das Individuum der Naturhaft- 
notwendigkeit eines ehernen „Muß“ geschichtlichen Evolutionen völlig 
überantwortet nicht mehr durch sich selbst und aus sich selbst der 
Quell neuen frischen Kernlebens für die Gesamtheit sein könnte, hätte 
alle soziale Entwickelung, aller Fortschritt auch für die Gesellschaft 
sein Ende erreicht.“ 

Aber abgesehen hiervon läßt die Auffassung der Frage des Privat- 
eigentums zu wünschen übrig. Wenn der Verfasser das Privateigentum 
als einen Grundpfeiler der Volkswirtschaft aller Zeiten und Völker hin- 
stellt, und zwar aus dem Grunde, weil sich immer und überall Spuren 
des Privateigentums finden ließen, so ist hierauf folgendes zu er- 
widern: Für die volkswirtschaftliche Betrachtung kommt es nicht darauf 
an, ob wirklich zu allen Zeiten und bei allen Völkern Privateigentum, 
wenn auch in ganz geringem Maße vorhanden gewesen ist, son- 
dern darauf kommt es an, ob das Privateigentum die wichtigste und aus- 
schlaggebendste Besitzform war, und hierfür ist wieder die Frage des 
Privateigentums an Produktionsmitteln, nicht an Komsumtions- 
mitteln, entscheidend. Die Tatsache aber, die historisch feststeht, daß, 
wenn auch nicht bei allen Völkern, so doch bei vielen der wichtigste 
Vermögensbestandteil, nämlich das Grundeigentum, im Gemeineigentum 
und nicht im Privateigentum sich befand, sollte den Verfasser veran- 
lassen, auclı diese Frage als eine historisch-utilitarische, und nicht als 
eine göttlich-naturrechtliche zu behandeln. 

Was das System des Solidarismus, welches der Verfasser als drittes 
System den Systemen des Individualismus und des Sozialismus gegen- 
überstellt, anlangt, so wird man die weiteren Bände abwarten müssen, 
um zu den materiellen Postulaten des Verfassers Stellung nehmen zu 
können. In Bezug auf die formale und methodologische Seite dieses 
Problems möchte ich hier nur bemerken, daß von einem neuen dritten 
System, das koordiniert neben die Systeme des Individualismus und 


Literatur. 123 


Sozialismus treten könnte, nicht die Rede sein kann. Ebenso wie das 
sogen. karitative System, oder wie der sogen. Kathedersozialismus oder 
wie der Staatssozialismus ist hier kein prinzipiell neues Wirtschafts- 
system aufgestellt. Alle die genannten Richtungen gehören zum Indi- 
vidualismus und vollends der Verfasser, der in sehr energischer Weise 
die ewige Natur des Privateigentums und der freien Wirtschaftsorgani- 
sation vertritt, ist Individualist. Es handelt sich da nur um graduelle 
Unterschiede, so zwar, daß innerhalb des Individualismus die einzelnen 
Vertreter mehr oder minder weitgehende Forderungen eines staatlichen 
Eingreifens stellen. Mir scheint, daß der Verfasser auch den Fehler 
begangen hat, den Individualismus zu identifizieren mit dem schranken- 
losen Manchestertum oder etwa dem gouvernementalen Nihilismus eines 
Herbert Spencer. Das ist aber nur ein extremer Auswuchs des 
Individualismus. Die gesamte Gedankenrichtung von den Physiokraten 
bis zu den bürgerlichen Nationalökonomen unserer Tage herunter ist 
individualistisch, weil sie gegen die Gebundenheit der wirtschaftlichen 
Kräfte nach Art des Merkantilismus Front machten. Gerade wie aber 
Ricardo trotz seines Individualismus für die Verstaatlichung der Bank 
von England eintreten konnte, und wie John Stuart Mill trotz seines 
individualistischen Ausgangspunktes für weitgehende Sozialreformen plä- 
dierte, gehört auch Pesch mit seinem Solidarismus zum Individualismus. 

Wenn der Verfasser in den folgenden Bänden sich derselben Ob- 
jektivität bei der Kritik der gegnerischen Richtungen und derselben 
emsigen Hingabe an die Forschungen der neuesten Nationalökonomie 
betleißigt, dabei aber sich etwas mehr von seinem religiösen Dogmatis- 
mus freihält, so wird sein Buch neben den anderen deutschen Werken 
dieser Art einen durchaus ehrenvollen Platz beanspruchen dürfen. 

Die Grundzüge der Nationalökonomie von Gide können in keiner 
Weise mit den bisher betrachteten Werken auf eine Stufe gestellt 
werden. Sie wollen gar nicht dem Fachmann, auch nicht dem 
Studierenden dienen, sondern sie sollen dem großen Publikum in der 
denkbar einfachsten Weise das Wissenswerteste aus dem Gebiet der 
Wirtschaftslehre übermitteln. Die ungeheuer große Verbreitung, 
welche das Werk nicht nur in Frankreich, sondern auch durch zahl- 
reiche Uebersetzungen in vielen anderen Ländern gefunden hat, verdankt 
es eben dem Umstande, daß es in absolut leichtester Form die Volks- 
virtschaftslehre zu behandeln unternimmt. Es steht etwa in der Mitte 
zwischen den in Deutschland bekanntesten Grundrissen von Conrad 
und Philippovich und den ganz kurzen Leitfäden, zu denen der 
Student in Examensnöten greift. 

Der Verfasser hat sich durch die Uebersetzung dieses Buches den 
Dank aller derer erworben, die in dieser besonders leichtfaßlichen Form 
Belehrung wünschen. Wenn ich zugebe, daß das Werk in ganz be- 
sonderem Maße geeignet ist, diesen Leserkreisen dienlich zu sein, so 
vermag ich doch nicht das Bedenken zu unterdrücken, ob nicht diese 
Art von Popularisierung ihre Gefahren hat. Die eigentlichen schwierigen 
Probleme unseres Faches werden teils überhaupt umgangen, teils mit 
spielender Leichtigkeit dargestellt. 


124 Literatur. 


Der Standpunkt des Verfassers hebt sich wohltuend ab von dem 
auch heute noch in Frankreich weit verbreiteten extremen Individualismus. 
Er steht dem deutschen Kathedersozialismus sehr nahe und hat sich 
des Verdienst erworben, in seinem Vaterland für die Verbreitung dieser 
Anschauungen im großen Umfang gewirkt zu haben. 

Der Umstand, daß die von Neuburg besorgte neue Auflage des 
Lehrschen Grundrisses der politischen Oekonomie auf 176 Seiten die 
ganze theoretische und praktische Nationalökonomie, Finanzwissenschaft 
und Statistik umfaßt, beweist schon, daß wir es hier nur mit einer ganz ge- 
drängten Uebersicht zu tun haben. Es sind in den einzelnen Kapiteln immer 
nur die allerelementarsten Sätze zusammengestellt, es kann also nur 
dem Zwecke dienen, dem Studierenden den allernotwendigsten Wissens- 
stoff in knappester Weise zuzuführen. So gehört dies Buch bereits in 
die Kategorie von Schriften, die ich eben charakterisiert habe, die be- 
sonders wohl zur Repetition für Examenszwecke benutzt werden. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 125 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands 
und des Auslandes,. 


1. Geschichte der Wissenschaft. Encyklopädisches. Lehrbücher. Spezielle 
theoretische Untersuchungen. 


Bernstein, Eduard, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben 
der Sozialdemokratie. 12. Tausend. Stuttgart, J. H. W. Dietz Nachf., 1906. gr. 8. 
XX—188 SS. M. 2.—. 

Jentsch, Carl, Grundbegriffe und Grundsätze der Volkswirtschaft. Eine popu- 
läre Volkswirtschaftslehre. 2., verb. u. verm. Aufl. Leipzig, F. W. Grunow, 1906. 8. 
M. 3,50. 

Penzler, Johannes, Graf Posadowsky als Finanz-, Sozial- und Handelspoli- 
tiker, an der Hand seiner Reden dargestellt. (In 4 Bänden.) 1. Bd. 1882 bis 1898. 
Leipzig, J. J. Weber, 1907. Lex.-8. XIX—706 SS. M. 30.—. 

Ramus, Pierre, William Godwin, der Theoretiker des kommunistischen Anarchis- 
mus. Leipzig, F. Dietrich, 1906. 8. M. 1,50. 


Bittry, Pierre, Les Jaunes de France et la question ouvrière. Paris, Paclot, 
1906. 12. fr. 0,95. ; 

Feugère, Anatole, Lamennais avant „Dessai sur Pindifférence“, d’après des 
documents inédits (1782—1817). Paris, Bloud, 1906. 8. fr. 10.—. 

Harispe, Pierre, Convulsions sociales. Catholicisme et socialisme. Paris, Émile 
Nourry, 1907. 8. 370 pag. fr. 3,50. 

Serrigny, Bernard, La guerre et le mouvement économique. Leurs relations et 
leurs actions réciproques. Paris, Henri Charles Lavauzelle (1906). 8. 220 pag. fr. 3,50. 

Gilman, Charlotte Perkins, Women and economics. A study of the economic 
relation between men and women as a factor in social evolution. With an introduction 
by Stanton Coit. London, Putnam’s Sons, 1906. 8. XXIII —358 pp. $ 6.—. 

Gordon, William Clark, The social ideals of Alfred Tennyson as related to 
his time. London, T. Fisher Unwin, 1906. 8. 266 pp. 6/.6. 

Henderson, H., Wealth and workmen; or the division of men and money. 
2! revised edition., TII —351 pp. $ 1.—. 

Seligman, E. R. A., Principles of economics; with special reference to American 
conditions, 2% edition. XLVI—613 pp. $ 2,25. 

Colucci, G., Progresso e socialismo. Firenze 1906. 16. 120 pp. l. 2.—. 

Ferrari, Celso, Nazionalismo e internazionalismo: saggio sulle leggi statiche e 
dinamiche della vita sociale. Palermo, R. Sandron, 1906. 16. 285 pp. 1. 3.—. 

Sensini, Guido (prof.), Elementi di scienza sociale. Parte I. (Nozioni preli- 
minari e demografia.) Mantova, tip. Università popolare, 1906. 8. 14 pp. 

Toniolo, Giuseppe, Trattato di economia sociale: introduzione. Firenze 1907. 
8. XVI—376 pp. 1. 3.—. 

Zoccoli, Ettore, L’anarchia. Torino, fratelli Bocca, 1907. 8. 552 pp. l. 14.—. 


2. Geschichte und Darstellung der wirtschaftlichen Kultur. 

Ghent, W. J., Mass and Class, a survey of social divisions. 
New York (The Macmillan Company) 1904. 

Dieses Buch schließt sich eng an ein anderes an, das derselbe Autor 
zwei Jahre vorher im gleichen Verlage erscheinen ließ und durch das 
er in den Ländern mit englischer Sprache sehr bekannt geworden ist. 
Es führte den Titel „Our benevolent Feudalism“ und stellte dar, wie 
die Verhältnisse in Amerika sich immer mehr mittelalterlichen Zuständen 
nähern. Legte damals das Gesetz breite Schichten der Bevölkerung in 


126 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


unmündige Abhängigkeit, so ist es heute in Amerika die tatsächliche 
Macht, die immer weitgreifender alles dem Willen und Winke der In- 
dustrie- und Finanzmagnaten dienstbar macht. Nicht nur daß die Kraft 
der Arbeiterunionen sich hieran bricht, sondern auch Presse und Literatur, 
Gesetzgebung, Rechtsprechung, ja selbst die Kirche ist in den Ver- 
einigten Staaten in den Bannkreis dieser Männer gezogen worden. Ghent 
glaubt, daß sich diese Tendenz immer mehr ausgestalten wird und immer 
gewalttätiger wird, er sieht die bewatinete Macht im Solde des Kapitals 
gegen die Unzufriedenen — den willigen Dienstbereiten aber werden in 
feudalem Wohlwollen „panis et circenses“ gewährt, um die Stabilität 
der Produktion zu sichern. Wie einst der Arbeiter von Geburt an an 
der Scholle haftete, so sieht Ghent in Zukunft den Arbeiter als solchen 
geboren und zeitlebens in tatsächlicher Abhängigkeit verharren. 

Diesem Gebäude aus Tatsachen und Phantasien werden nun in 
Mass and Class neue Argumente zur Seite gestellt; auch sucht Ghent 
darzulegen, welche ethischen Momente die Bevölkerungsklassen auf ihrer 
Bahn leiten. 

Wenig glücklich ist der Verfasser in seiner Einteilung des Volkes 
nach ihrer wirtschaftlichen Eigenart. Er wendet sich gegen den Begriff 
der Mittelklasse, wie ihn deutsche Gelehrte und Politiker gebrauchen, 
verurteilt die Schichtung nach der Größe des Einkommens, wie sie von 
englischen Nationalökonomen erfolgt, und glaubt für Amerika die Existenz 
von nicht weniger als 6 Bevölkerungsklassen behaupten zu müssen: 


1) Lohnerntende Land- und Stadtarbeiter — Proletarians or wage 
carnings producers; 
2) Land-, Forst und Gartenwirtschaft treibende Personen — self 


employing producers; 

3) Lehrer, Geistliche, Aerzte, Künstler, Schriftsteller und Ange- 
stellte bei öffentlichen Körperschaften — social servants; 

4) Industrielle Handelsleute, Finanzmänner — traders; 

5) Renten beziehende Kapitalisten — idle capitalists; 

6) Rechtsanwälte, Privatbeamte und Politiker — retainers. 

Er unterläßt es, gravierende Unterscheidungsmerkmale anzugeben, 
beweist aber selbst den Unwert seiner Scheidung, wenn er späterhin 
bei der Klassenethik nur noch von den wage carnings, producers und 
den traders spricht. 

Bei jenen findet er zwei grundlegende moralische Anschauungen: 
Die Ethik der, „usefulness“, die er kurz mit dem Satz erklärt „wer 
nicht arbeitet, soll nicht essen“ und die Ethik der fellowship, der brüder- 
lichen Vertretung gemeinsamer Interessen. 

Die Durchführung dieser Ideen scheitert an der entgegengesetzten 
Auffassung der traders, bei denen er nur einen Beweggrund des Handels 
verfindet: die Gewinnsucht. 

Leben und Gesundheit der Mitmenschen wertet nichts gegenüber 
finanziellen Erfolgen: Altruismus ist für diese ein unbekannter Begriff. 

Er führt uns in das Reich des Schwindels, the reign of graft!) und 


1) Die Amerikaner haben diese Bedeutung des Wortes erst geschaffen: vordem ein 
slang-Wort, ist es heute in einem unserem deutschen „Schwindel“ nahestehenden Sinn 
gebraucht. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 197 


zeigt uns, wie die Gesamtheit der Bevölkerung unter der Unehrlichkeit 
der Unternehmer leidet. Die Verfälschung der Lebensmittel hat einen 
so großen Umfang angenommen, daß nicht weniger als 15 Proz. aller 
Nahrungsmittel (food) minderwertig und gesundheitsschädlich sind; mehr 
als eine Milliarde Dollars ist der Absatz solcher Waren in den Ver- 
einigten Staaten. Getränke und Genußmittel sind darin nicht einbezogen, 
auch bierfür gibt er in langen Ausführungen Nachweise nahezu un- 
glaublicher Art. Aber selbst am Krankenbette steht die gewissenlose 
Spekulation nicht nur durch Verabreichung wertloser Geheimmittel, 
sondern durch Aenderung der verordneten Medikamente. 

Ein anderes Gebiet sind die Abzahlungsgeschäfte und die Tätig- 
keit der „loan sharks“, der Darlehenshaie, die ihre Profite vor allem aus 
der Arbeiterbevölkerung ziehen, von der Börse gar nicht zu reden. 

Diese Ethik weiter Schichten der Unternehmer übt ihren Einfluß 
auf die ganze Gesellschaft, und die Frucht dieses von allen altruistischen 
Momenten absehenden Wirtschaftsgebarens wird sich im Kampfe der 
Arbeiter widerspiegeln, die keine Gemeinschaft mit den Unternehmern 
mehr haben. (S. 178, 152, 140). 

Er weist mit Recht auf England, Frankreich und Deutschland hin, 
wo der Staat die unteren Klassen nicht in gleicher Weise den Unter- 
nehmern ausgeliefert hat, wo noch „ein Richter und Rächer“ besteht. 
Aber auch dort bedarf es aller Anstrengungen des Staates im Bunde 
mit den nicht an Industrien und Handelsgewinn direkt interessierten 
Personen die gleiche Entwicklung zu verhindern. 

Ein schwacher und utopistischer Trost ist es, wenn er glaubt, daß 
die Verhältnisse von selbst zu einem „ultimate of social justice“ kommen, 
zu einer sozialen Gerechtigkeit ausgestalten: er meint, daß die Unter- 
nehmen sich immer mehr zusammenschließen und schließlich nur noch 
einige Direktoren vorhanden sind, die, selbst nur Angestellte, am Divi- 
dendengewinn nicht beteiligt sind; dann werde das ganze industrielle 
System von der Gesellschaft als ein Ganzes übernommen werden. 

Wann und wie wird die Wendung zum „coöperative commonwealth“, 
das letzte Wort des Buches, sich vollziehen? Er bleibt die Antwort 
schuldig. sollen die Interessen der Gesamtheit bis dahin, vielleicht 
hunderte von Jahren, geschädigt werden dürfen? 

Gerade aus der Darstellung der Verhältnisse in Amerika, wie sie 
uns Ghent in seinen zwei Büchern gibt, ergibt sich die schlimme Wir- 
kung des laisser faire, laisser aller, und hier mit starker Staatsgewalt 
wirksam abzuhelfen, ist wohl das nähere Ziel und sicherer Beginnende. 


Heidelberg - Sydney. Robert Schachner. 


Gruber, Ch. (Prof.), Wirtschaftliche Erdkunde. Leipzig, B. G. Teubner, 1906. 
8. VII—137 SS. M. 1.—. (Aus Natur und Geisteswelt. 122.) 

Heil, B. (Prof.), Die deutschen Städte und Bürger im Mittelalter. 2., verb. Aufl. 
Leipzig, B. G. Teubner, 1906. 8. VI—164 SS. mit zahlreichen Abbildungen im Text 
und auf 1 Doppeltafel. M. 1.—. (Aus Natur und Geisteswelt. 43.) 

Pappenheim, Graf zu (Hauptmann), Madagascar. Studien, Schilderungen und 
Erlebnisse. Berlin, D. Reimer, 1906. gr. 8. XII—356 SS. mit 102 photographischen 
Nlustrationen und 6 Karten. M. 8.—. 

. Sullam, Angelo, Die wirtschaftliche Entwicklung Italiens im Jahre 1905. Leip- 
ug und Berlin, B. G. Teubner, 1906. Lex.-8. VIII—49 SS. M. 2,80. 


128 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Vallentin, Wilhelm, Paraguay. Das Land der Guaranis. Berlin, H. Paetel, 
1907. Lex.-8. VIII—323 SS. Mit 38 Illustrationen nach photographischen Original-Auf- 
nahmen. M. 6.—. 

Wimbersky, Hubert, Eine obersteirische Bauerngemeinde in ihrer wirtschaft- 
lichen Entwicklung 1498—1899. 1. Teil. Graz, U. Moser, 1907. Lex.-8. VII— 
132 SS. Mit 1 Karte und 2 farbigen Tafeln. M. 5.—. 

Zepelin, C. v. (General-Major a. D.), Der ferne Osten. 1. Teil. Berlin, Zuck- 
schwerdt & C°, 1907. gr. 8. 276 SS. mit 2 Skizzen im Texte und 1 Karte. M. 6,50. 
(Rußland in Asien. Bd. VIIL) 


Gautier, Ferdinand, Chili et Bolivie. Étude économique et minière. Paris, 
Guilmoto, 1906. 8. VI—228 pag. avec 2 cartes. fr. 6.—. 

Stephan, Charles-H. (Consul), Le Guatemala économique. Renseignements 
pratiques. Paris, Chevalier & Riviere, 1907. 8. IV, 263 pag. fr. 4.—. 

Ashton, John, The dawn of the 19" century in England. A social sketch of 
times. 5% edition. London, T. Fisher Unwin, 1906. 8. 496 pp. 2/.6. 

Barker, J. Ellis, The rise and decline of the Netherlands. A political and 
economic history and a study in practical statesmanship. London, Smith, Elder, & C’, 
1906. 8. XI1V—478 pp. 10/.6. 

Baskerville, Beatrice C., The Polish jew. His social and economic value. 
London, Chapman & Hall, 1906. 8. 346 pp. 10/.6. 

Joyce, P. W., A small social history of ancient Ireland. London, Longmans, 
1906. 8. 3/.6. 

Molmenti, Pompeo, Venice. Its individual growth from the earliest begin- 
nings to the fall of the Republic. Translated by Horatio F. Brown. The Middle Ages. 
Parts 1 and 2. London, J. Murray, 1906. 8. 234, 246 pp. 21/.—. 

Stirling, Amelia Hutchison, A sketch of Scottish industrial and social 
history in the 18'% and 19° centuries. London, Blackie & son, 1906. VIII—225 pp. 
6/.—. 

Synge, M. B., A short history of social life in England. London, Hodder & 
Stoughton, 1906. 8. 424 pp. 6/.—. 

Ward, W., How can I help England? and other addresses on the relationship 
of christianity to social and political problems of to-day. London 1906. 8. 168 pp. 2.6. 


3. Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik. Answanderung 
und Kolonisation. 


Arendt, Otto (M. d. R.), Die parlamentarischen Studienreisen nach West- und 
Ostafrika. Reisebriefe aus Togo, Kamerun und Deutsch-Ostafrika. Berlin, C. A. 
Schwetschke und Sohn, 1906. 8. 174 SS. M. 3.—. 

Auer v. Herrenkirehen, Helmuth (Oberleutnant), Meine Erlebnisse wäh- 
rend des Feldzuges gegen die Hereros und Witbois nach meinem Tagebuch. Berlin, 
R. Eisenschmidt, 1907. Lex.-8. VII—111 SS. mit 52 Abbildungen und 1 Karte. 
M. 2.—. 

Deuss, Ludwig, Der Kongostaat und seine Errungenschaften. Ein Kapitel aus 
„Bed Rubber“ von E. D. Morel. Eine Antwort an die „uneigennützigen“ und ‚‚über- 
zeugten‘‘ Verteidiger des Kongostaates und seines menschenfreundlichen Systems zur 
„geistigen und materiellen Wiedergeburt‘‘ des Volkes der Eingeborenen. (Hamburg, 
Rothschild, Behrens & C°, 1906.) 8. 28 SS. 

Kardorff, Wilhelm v., Bebel oder Peters. Die Amtstätigkeit des Kaiserlichen 
Kommissars Dr. Carl Peters am Kilimandjaro 1891/92. Berlin, C. A. Schwetschke & Sohn, 
1906. 8. M. 1.—. 

Kriegs-Erlebnisse, Meine, in Deutsch-Süd-West-Afrika. Von einem Offizier 
der Schutztruppe. 134. Tausend. Minden, W. Köhler, 1907. 8. 208 SS. mit Abbil- 
dungen und 6 Tafein. M. 1,50. 

Külz, Ludwig (Reg.-Arzt), Blätter und Briefe eines Arztes aus dem tropischen 
Deutschafrika. Berlin, W. Süsserott, (1906). Lex.-8. 230 SS. mit 2 Karten. M. 5.—. 

Otto, Carl, Südwestafrika. Wohin steuern wir? Berlin, O. Dreyer, 1906. 8. 
M. 1,50, 

Schmidt, Max (Divisionspfarrer), Aus unserem Kriegsleben in Südwestafrika. 
Erlebnisse und Erfahrungen. Gr.-Lichterfelde-Berlin, Edwin Runge, 1907. 8. VII— 
204 SS. M. 2.—. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 129 


Schwabe, K. (Hauptmann), Der Krieg in Deutsch-Südwestafrika 1904—1906. 
Berlin, C. A. Weller, 1907. gr. 8. VIII—247 SS., mit 1 Karte, 16 Kunstbeilagen und 
zahlreichen Text-Illustrationen. M. 5.—. 

Semler (M. d. R.), Meine Beobachtungen in Süd-West-Afrika. Tagebuchnotizen 
und Schlußfolgerungen. Hamburg, Hermann’s Erben, 1906. gr. 8. 80—XXIII SS. 
M. 1,50. 

Vietor, J. K. (Mitglied des Kolonialamts, Bremen), Die nächsten Aufgaben unserer 
Kolonialpolitik. Hagen i. W., Otto Rippel, (1906). 8. 21 SS. M. 0,30. 

Vortisch, Hermann, Hin und her auf der Goldküste. Tagebuchblätter eines 
Missionsarztes. Basel, Basler Missionsbuchhandlung, 1907. 8. 232 SS. mit 1 farbigen 
Tafel und 1 Karte. M. 2,40. 

Werther, Waldemar C., Eine Reichsansiedlungs-Centrale. Berlin, H. Paetel, 
1907. 8. M. 0,60. 

Wettstein, K. A. (Oberleutn, a. D.), Streiflichter zu der Frage: Was kann aus 
Deutsch-Südwest-Afrika gemacht werden? Teilweise eine Entgegnung zu dem Artikel 
des Generals Leutwein in dem Maiheft der deutschen Revue. Zürich, Zürcher & Furrer, 
1907. 142 SS. M. 2.—. 

Ajalbert, Jean, L’Indo-Chine en p£ril. Paris, Stock, 1906. 12. fr. 1.—. 

Du Saguenay, La terre pour rien. Renseignements pratiques sur la colonisation 
agricole frangaise au Canada. Paris, Bloud, 1906. 16. fr. 2.—. 

Gonnard, René, L’emigration européenne au 19° siècle. (Angleterre. Alle- 
magne, Italie. Autriche-Hongrie. Russie.) Paris, Colin, 1906. 12. fr. 3,50. 

Jeppe, Carl, The kaleidoscopic Transvaal. London, Chapman & Hall, 1906. 8. 
XII—266 pp. 7/.6. 

Morel, E. D., Red rubber. The story of the rubber trade flourishing on the 
Congo in the year of grace 1906. With an introduction by Sir Harry H. Johnston and 
2 maps. London, T. Fisher Unwin, 1906. 8 XXI—213 pp. 2/.6. 

i Question of colour, A. A study of South Africa. London, W. Blackwood, 1906. 
. 336 pp. 6/.—. 

ERE, W. Basil, Lord Milner’s work in South-Africa from its commence- 
ment in 1897 to the peace of Vereeniging in 1902. London, John Murray, 1906. 8. 
VII—620 pp. 15/.—. 

Buonerba, Corrado, Le colonie ed i consoli nell’Europa orientale durante il 
medioevo. Roma, oromo-tip. Moderna, 1906. 8. 51 pp. 

Corridore, Francesco, La popolazione dello Stato romano (1656—1901). 
Roma, Ermanno Loescher & C°, 1906. 8. 287 pp. 1. 5.—. 

Rotondano, M. (avv.), Brevi cenni sull’ emigrazione: cause, effetti, rimedi, 
Lagonegro, tip. Lucana, M. Tancredi, 1906. 8. 33 pp. 


4. Bergbau. Land- und Forstwirtschaft. Fischereiwesen. 

Ehrenberg, Hans, Die Eisenhüttentechnik und der deutsche Hüttenarbeiter. 
Stuttgart, J. G. Cotta Nachf., 1906. gr. 8. IX—204 SS. M. 4,50. (Münchener volks- 
wirtschaftliche Studien. Stück 80.) 

Felber, Theodor (Prof.), Natur und Kunst im Walde. Vorschläge zur Ver- 
bindung der Forstästhetik mit rationeller Forstwirtschaft. Für Freunde des Waldes 
und des Heimatschutzes. Frauenfeld, Huber & C°, 1906. gr. 8. VIII—-135 8S. mit 
13 Figuren und 23 Vollbildern. M. 3,20. 

Holtmeier, Die jeverländische Marschwirtschaft. Mitteilung der Versuchs- und 
Kontrollstation der Landwirtschaftskammer für das Herzogtum Oldenburg. Berlin, P. 
Parey, 1907. Lex.-8. 102 SS. M. 3.—. 

Ledebur, A. (Bergakademie-Prof.), Handbuch der Eisenhüttenkunde. Für den 
Gebrauch im Betriebe wie zur Benutzung beim Unterrichte bearbeitet. 5., neu bearb. 
Aufl. 1. Abteilung: Einführung in die Eisenhüttenkunde. Leipzig, A. Felix, 1906. 
gr. 8. VII—408 SS. mit Abbildungen. M. 12,40. 

Müller, Lothar, Die Landwirtschaft auf dem Hunsrück unter besonderer Be- 
echan der des Kreises Simmern. Bonn, C. Georgi, 1906. gr. 8. 277 SS. 

Szujski, W. R. v., Die Agrar-Frage. Ein Entwurf zu ihrer definitiven Lösung. 
Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht, 1907. gr. 8. 38 SS. M. 0,80. 


Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII). 9 


130 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Uhde, Kurt, Die Produktionsbedingungen des deutschen und englischen Stein- 
kohlen-Bergbaues. Jena, Gustav Fischer, 1907. gr. 8. XI—216 SS. M. 3,50. (Thü- 
nen-Archiv. Ergänzungsheft 2.) 


Trabut, L., et R. Marès, L’Algerie agricole en 1906. (République française. 
Exposition coloniale de Marseille.) Alger, Imprimerie algérienne, 1906. 8. 531 pag. 
fr. 3,50. 

Alfonsi, Alfr. (capitano), Sulla coltivazione e sul commercio del frumento in 
rapporto alla panificazione militare. Napoli, tip. Melfi e Joele, 1906. 8. XV—170 pp., 
con sei tavole. 1. 4,50. 

Errera, Leo, Le basi scientifiche dell’ agricoltura: sei lezioni. Traduzione ita- 
liana del prof. Vittorio Peglion. Ferrara, tip. G. Bresciani succ., 1906. 16. 35 pp- 

Felcini, Arzeglio, Lezioni di agraria per gli istituti tecnici. Volume I: Agro- 
nomia, 2* edizione. Volume II: Agricoltura. Jesi 1906. 8. XII—304, XII—336 pp. 
l. .— 

Solari, S8., Agricoltura vecchia, agricoltura nuova: conseguenze. Parma 1906. 8. 
200 pp. 1. 2.—. 


5. Gewerbe und Industrie. 


Bernstein, Eduard, Der Streik. Sein Wesen und sein Wirken. Frankfurt a/M., 
Literarische Anstalt, (1906). 8. 119 SS. M. 1,50. (Die Gesellschaft. Sammlung sozial- 
psychologischer Monographien. 4.) 

Bonikowsky, Hugo, Der Einfluß der industriellen Kartelle auf den Handel 
in Deutschland. Jena, Gustav Fischer, 1907. gr. 8. XVIII—-318 SS. M. 6.—. 

Gutmann, Jul., Ueber den amerikanischen „Stahltrust“. Mit Berücksichtigung 
des deutschen Stahlwerkverbandes. Essen, G. D. Baedeker, 1906. gr. 8. VIII—160 SS. 
M. 3.—. 

Hammerschmidt, Wilh., Geschichte der Baumwollindustrie in Rußland vor 
der Bauernemanzipation. Straßburg, K. J. Trübner, 1906. gr. 8. XIV—124 SS. mit 
1 Karte. M. 3,50. (Abhandlungen aus dem staatswissenschaftlichen Seminar zu Straß- 
burg i. E. Heft 21.) 

Harms, Bernhard (Jena), Der Maximelarbeitstag. Vortrag, gehalten auf der 
17. Tagung des Evangelisch-Sozialen Kongresses in Jena. Tübingen, H. Laupp, 1907. 
8. 51 SS. M. 0,80. 

Hedinger, Osk. (Handelskammer-Sekr.), Beitrag zur Kenntnis der schweize- 
rischen Eisenproduktion. Bern (Aarau, H. R. Sanerländer & C°) 1906. Lex.-8. III— 
101 SS. M. 3.—. (Aus: Zeitschrift für Schweizerische Statistik.) 

Imle, Fanny, Die Tarifverträge zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in 
Deutschland. Jena, Gustav Fischer, 1907. 8. VI—159 SS. M. 2.—. 

Kammerer, Die Technik der Lastenförderung einst und jetzt. Eine Studie über 
die Entwicklung der Hebemaschinen und ihren Einfluß auf Wirtschaftsleben und Kultur- 
geschichte. München, R. Oldenbourg, 1907. gr. 8. VIII—262 SS. mit Abbildungen. 
M. 8—. 

Leontief, Wassilij, Die Lage der Baumwollarbeiter in St. Petersburg, die 
Geschichte der Industrie und die Fabrikgesetzgebung. München, E. Reinhardt, 1906. 
gr. 8. IV—114 SS. M. 2,50. 

Tyszka, Carl v., Handwerk und Handwerker in Bayern im 18. Jahrhundert. 
Eine wirtschaftsgeschichtliche Studie über die bayerische Gewerbeverfassung im 18. Jahr- 
hundert. München, E. Reinhardt, 1907. gr. 8. X—116 SS. M. 2,50. 

Verhältnisse, Die, in der Kleider- und Wäschekonfektion. Auf Grund der 
durchgeführten Vernehmung von Auskunftspersonen herausgeg. vom k. k. arbeitsstati- 
stischen Amte im Handelsministerium. Wien, A. Hölder, 1906. Lex.-8. IV—102 SS, 
M. 1,30. 

Volger, Bruno, Das goldne Buch des Handwerks. 2 Bände. Leipzig, Deutsche 
Verlagsactiengesellschaft, (1906), Lex.-8. VIII —528, VIII—544 SS. M. 24.—. 

Zimmermann, Waldemar, Gewerbliches Einigungswesen in England und 
Schottland. Bericht der Studienkommission der Gesellschaft für soziale Reform. Jena, 
Gustav Fischer, 1906. 8. 112 SS. M. 0.70. (Schriften der Gesellschaft für sozial& 
Reform. Bd. II. Heft 10.) 


Gannay, P., L’imp£rialisme économique et la grande industrie anglaise. Paris 
1906. 8. XXI—317 pag. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.. 131 


Henry, Yves, Le caoutchouc dans l’Afrique occidentale française. Paris, Challa- 
mel, 1906. 8. fr. 9.—. 

Henry, Yves, Le coton dans l’Afrique oceidentale frangaise. Paris, Challamel, 
1906. 8. fr. 10.—. 

Le Paulmier, Manuel pratique des accidents du travail. Paris, A. Pedone, 
1906. 8. 123 pag. fr. 3.—. 

Claassen, H., Beet sugar manufacture. Translated by W. T. Hall and G. W. 
Rolfe. London, Chapman & Hall, 1906. 8. 12/.6. 

Laughlin, J. L., Industrial America. Berlin lectures of 1906. VI—361 pp. 
$ 1,25. (Contents: American competition with Europe. Protectionism and reciprocity. 
The labor problem. The trust problem. The railway question. The banking problem. 
Economic thinking in the U. S. etc.) 

Macgregor, D. H., Industrial combination. London, Bell, 1906. 8. 256 pp. 
71.6. 
i Albi, Orazio, Case e pensioni per gli operai: [conferenze] precedute da una 
lettera di Luigi Luzzatti. Casalbordino, N. De Arcangelis, 1906. 8. 110 pp., con 
ritratto. 1. 2.—. 

6. Handel und Verkehr. 

Uhlmann, Franz, Dr., Der deutsch-russische Holzhandel. Mit 
Tabellen. Verlag der Lauppschen Buchhandlung. Tübingen 1905. 

Das vorliegende Werk bezweckt, einen Ueberblick über den Um- 
fang und die wirtschaftliche Bedeutung des deutsch-russischen Holz- 
handels zu geben. : 

Große Bedeutung für den Holzexporthandel haben die Ostseeflüsse, 
und unter denselben besonders die Düna, welche durch den Beresina- 
kanal mit dem Dnjepr, durch den Aakanal mit der livländischen Aa, 
schließlich mit der kurländischen Aa in Verbindung steht. Von den 
Strömen, die ins nördliche Eismeer gehen, kommt für den Holztrans- 
port Rußlands nur die Dwina in Betracht, an deren Mündung Arch- 
angelsk liegt. Von den Strömen, die ins Schwarze Meer münden, hat 
nur der Dnjepr für den Holztransport und -Handel Bedeutung. 

Als wichtigster russischer Holzausfuhrplatz ist das am Dünastrome, 
ca. 17 Werst von seiner Mündung belegene Riga zu bezeichnen. 

Speziell bei dem deutsch-russischen Holzhandel, der uns hier in 
erster Linie interessiert, kommt die allergrößte Bedeutung in Bezug 
auf den Transport aus dem Innern Rußlands, der Memel, Warthe und 
insbesondere der Weichsel zu. 

Rußland liefert Deutschland die besten kiefernen Rundhölzer für 
die Sägeindustrie, Mauerlatten, kieferne und eichene Schwellen für die 
Eisenbahnen u. s. w. 

Mit Ausnahme Oesterreich-Ungarns liefern die anderen Staaten nach 
Deutschland nur bearbeitetes Holz. Solange als Rußland Rohholz ex- 
portiert, ist der Handel mit Rußland tür Deutschland von höherem 
wirtschaftlichem Wert als derjenige mit anderen Ländern. Der etwaige 
Ersatz der russischen Holzzufuhr durch vermehrten Holzimport aus 
anderen Ländern wäre für Deutschland aus dem Grunde nicht günstig, 
weil es eben auf die Sägeindustrie angewiesen ist. 

Leider wird der Rohholzimport aus Rußland durch die deutschen 
Rohholzzölle etwas erschwert, und die Berechtigung der letzteren wird 
denn auch von einer Reihe namhafter Nationalökonomen mit Recht 
nicht anerkannt. 


9* 


132 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Die deutschen Rohholzzölle, die durch den neuen Zolltarif noch 
bedeutend erhöht worden sind, könnten nämlich bewirken, daß sich in 
den für den deutschen Rohholzbezug in Betracht kommenden Gegen- 
den eine Sägeindustrie entwickelt, mit welcher die deutschen Säge- 
werke, soweit sie auf russisches Rohholz angewiesen sind, niemals 
konkurrieren könnten. Aus diesem Grunde dürfte im Interesse Deutsch- 
lands eine Ermäßigung der deutschen Rohholzzölle wünschenswert sein, 
und das um so mehr, als der Rundholzexport Rußlands nach Deutsch- 
land bereits im Rückgang begriffen ist und eine erhebliche Zunahme 
desselben, welche die deutsche Waldindustrie schädigen könnte, für 
die Zukunft kaum zu erwarten ist. Die Holzproduktion der für den 
deutsch-russischen Holzhandel in Betracht kommenden russischen Wälder 
ist heute nämlich eine schon beschränktere als früher, weil einmal 
diese Wälder infolge der Jahrzehnte hindurch in ihnen betriebenen 
Raubwirtschaft bereits stark gelichtet sind, dann aber auch, weil durch 
das im Jahre 1898 eingeführte russische Waldschutzgesetz einer weiteren 
maßlosen Abholzung eine Grenze gesetzt worden ist. 

Ueber die russisch-preußische Grenze werden fast 35 Proz. des 
russischen Holzes nach Deutschland ausgeführt. 

Vom Gesamtexport des russischen Holzes gehen ferner ca. 

38 Proz. nach England 

10 i „ Holland 

e » Frankreich 
Ca. ®/, des russischen Holzes wird also nach England und Deutschland 
versandt. 

Im Jahre 1897 repräsentierte die Holzausfuhr nach 


Großbritannien 21 948 000 Rbl. 
Deutschland 19 334000  „ 
Holland 5595 » 
Frankreich 3 701 J 
Belgien 2866 „ 
anderen Ländern 1396 ,„ 


Rußland exportierte in den Jahren 1851—1860 im ganzen Holz für 
ca. 4 643 000 Rbl., aber z. B. im Jahre 1900 für 58 384 000 Rbl. 

Die Uhlmannsche Arbeit ist für Praktiker und Theoretiker von In- 
teresse. Sie beweist eine vielseitige gründliche Information des Autors 
über den in Rede stehenden, im ganzen nicht schwierigen Gegenstand 
und ist in schlichter Weise, dabei übersichtlich, klar und mit Sach- 
kenntnis abgefaßt. Ein brauchbares Werk über das betreffende Thema 
gab es bisher noch nicht. Sodo fiiky: 


Cords, Th. M., Die Bedeutung der Binnenschiffahrt für die deutsche Beeschiff- 
fahrt. Eine Studie über Deutschlands Seeverkehr in seiner Abhängigkeit von der Bin- 
nenschiffahrt im Zeitraum 1890—1903. Stuttgart, J. G. Cotta Nachf., 1906. gr. 8. 
VIII —429 SS. M. 9,20. (Münchener volkswirtschaftliche Studien. Stück 81.) 

Doerr, Emil, Der Absatz landwirtschaftlicher Erzeugnisse im Kreise Mannheim. 
Karlsruhe, G. Braunsche Hofbuchdruckerei, 1906. gr. 8. IV—129 SS. mit 1 Karte. 
M. 2,40. (Volkswirtschaftliche Abhandlungen der badischen Hochschulen. Bd. IX. 
Ergänzungsheft 1.) 

Grossmann, Fritz, Die Präsent-Packung. Ein hervorragendes Mittel zur Steige- 
rung des Umsatzes. Magdeburg, Verlags-Gesellschaft, (1906). qu. gr. 8. 30 SS. mit 
Abbildungen. M. 3,50. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 133 


Hase, Oskar v., Emil Strauss, ein deutscher Buchhündler am Rheine. Leipzig, 
Breitkopf & Härtel, 1906. 8. M. 3.—. 

Hollmann, Hailer und J. Frost, Der Butterhandel in Dänemark, Frank- 
reich und den Niederlanden. Berlin, P. Parey, 1906. Lex.-8. IU—38 SS. M. 1.—. 
(Berichte über Land- und Forstwirtschaft im Auslande. Mitgeteilt vom Auswärtigen 
Amt. Stück 13.) 

Iger, Artur, Die Rechtsprechung des Berliner Kaufmannsgerichts. 110 wichtige 
Entscheidungen gesammelt und herausgegeben. 1. Bd. Berlin, O. Dreyer, (1906). kl. 8. 
M. 1,20. 

Krumholz, Emil (RegierungsR.), Die Geschichte des Dampfschiffahrtsbetriebes 
auf dem Bodensee. Innsbruck (Wagner) 1906. Lex.-8. VII—614 SS. M. 17.—. 

Lehrbuch der Handelswissenschaft. Herausgeg. von A. Manes. Leipzig, Jacobi 
& Quillet, 1906. 8. M. 10.—. 

Radunz, Karl, 100 Jahre Dampfschiffahrt 1807—1907. Rostock, C. J. E. Volck- 
mann, 1907. 8. M. 7.—. 

Röder, Herm., Das Verfahren vor den Kaufmannsgerichten. Berlin, Germania, 
1906. kl. 8. VII—69 SS. M. 0,50. 

Wiedenfeld, Kurt (Prof), Hamburg als Welthafen. Ein Vortrag. Dresden, 
v. Zahn & Jaensch, 1906. gr. 8. 47 SS. mit einem Plane der Hafenanlagen in Ham- 
burg. M. 1,50. (Neue Zeit- und Streitfragen. Bd. XII. Heft 8 und 9.) 

Zweig, Emil, Die russische Handelspolitik seit 1877. Unter besonderer Berück- 
sichtigung des Handels über die europäische Grenze. Leipzig, Duncker & Humblot, 
1906. gr. 8 X—181 SS. M. 4,80. (Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen. 
Heft 123.) 


Delorme, P., Le commerce algérien. (République française., Exposition coloniale de 
Marseille en 1906.) Tome I. Alger, Imprimerie algérienne, 1906. 8. VII—491 pag. 
fr. 3,50. 

Francotte, H., G. Eekhout e. a., Les ports et leur fonction économique. 
Tome 1”. Paris 1906. 8. 184 pag. fr. 3.—. 

Maria, Paul, Les sociétés commerciales par actions. Manuel théorique et pra- 
tique. Paris, Arthur Rousseau, 1906. 8. VII—364 pag. fr. 8.—. 

Michel, A., Régime commercial des colonies et possessions françaises, Tarifs colo- 
niaux. Paris, Paul Dupont, 1906. 8. fr. 4.—. 

Avebury, Lord, On municipal and national trading. London, Macmillan and 
C, 1906. 8. VI—176 pp. 5/.—. 

Graham, James, and George A. S. Olivier, Spanish commercial practice. 
Part 2. London, Macmillan and C°, 1906. 8. XIII—412 pp. 4/.6. 

Letters from a self-made merchant to his son. 15% edition. London, Methuen, 
1906. 8. 328 pp. 3/.6. 

Pigou, A. C., Protective & preferential import duties. London, Macmillan and C’, 
1906. 8. XIV—117 pp. 2/.6. 

(Reid, Sir Robert,) Commerce & property in naval warfare. A letter of the 
Lord Chancellor. Edited, with introduction, notes & appendices, by Franeis W. Hirst. 
London, Macmillan and C°, 1906. 8. 48 pp. 1/.—. 

Simon, André L., The history of the wine trade in England. Vol. 1. Lon- 
don, Wyman, 1906. 8. 400 pp. 5/.—. 

Guarneri, Fel., Le camere di commercio e i fittabili: memoria. Cremona, tip. 
Sociale, 1906. 8. 67 pp. 


7. Finanzwesen. 


Brunhuber, Robert, Neue Kommunal-Gewerbesteuern. Eine sozial-wirtschaft- 
liche Studie. Jena, Gustav Fischer, 1907. 8. 42 SS. M. 0,60. 

Fineisen, Aug. J., Die Akzise in der Kurpfalz. Ein Beitrag zur deutschen 
Finanzgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts. Karlsruhe, G. Braunsche Hofbuch- 
druckerei, 1906. 8, IV—71 SS. M. 2.—. (Volkswirtschaftliche Abhandlungen der 
badischen Hochschulen. Bd. IX. Heft 1.) 

Gerloff, Wilhelm, Die kantonale Besteuerung der Aktiengesellschaften in der 
Schweiz, Bern, A. Francke, 1906. gr. 8. IX—264 SS. M. 4.—. (Aus: Zeitschrift 
für Schweizerische Statistik.) 

Grotewold, Chr., Das Finanzsystem des Deutschen Reiches in politischer und 


134 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


wirtschaftlicher Beziehung. Seine Einrichtung und historische Entwickelung, seine Fehler, 
sowie Vorschläge zu deren Beseitigung. Leipzig, C. E. Poeschel, 1906. 8. VIL— 
150 SS. M. 2.— 

Kaufmann, Richard v., Die Kommunalfinanzen. (Großbritannien, Frankreich, 
Preußen.) 2 Bände. Leipzig, C. L. Hirschfeld, 1906. Lex.-8. XV—336, XVII—534 SS. 
M. 27.—. (lland- und Lehrbuch der Staatswissenschaften. Abteilung II. Bd. 5.) 

Schwarz, Otto (Geh. OberfinanzR.), Formelle Finanzverwaltung in Preußen und 
im Reich. Berlin, C. Heymann, 1907. gr. 8. VIII—177 SS. M. 3.—. 

Sodoffsky, Gustav, Zur Frage der Ertrags- oder Personalbesteuerung. Mit 
besonderer Beziehung auf die Gebüude-, Immobilien- und ES sowie auf 
Rußland. Riga, E. Plates, 1906. gr. 8. VII—87 -S M. 2.— 

Allix, Edgard, Traité kiömentsire de: science des finances et de législation 
financière franç aise. Paris, A. Rousseau, 1906. 8. fr. 10.—. 

Baron, André, Le Ministère des finances. Organisation et attributions. Paris, 
Laveur, 1906. 8. fr. 5.—. 

Snider, Guy Edward, The taxation of the gross receipts of railways in Wis- 
consin. New York, Macmillan Company, 1906. 8. VIII—138 pp. $ 1.—. (Publications 
of the American Economie Association. Series III, Vol. VII, N° 4.) 

Pasetti, Tom., Il monopolio del tabacco in Italia: cenni storieo-statistici. (Mi- 
nistero delle finanze: direzione generale delle privative.) Portici, tip. E. Della Torre, 
1906. 4. 157 pp. 


8. Geld-, Bank-, Kredit- und Versicherungswesen. 


Buchwald, Bruno, Die Technik des Bankbetriebes. Ein Hand- und Lehrbuch 
des praktischen Bank- und Börsenwesens. 3., verb. Aufl. Berlin, Julius Springer, 1907. 
8. XII—405 SS. M. 6.—. 

Dizler, Carl, Die Wirkung der Zinsfußermäßigung auf Rentensätze. Stuttgart 
(H. Lindemann) 1906. gr. 8. 50 SS. mit Figuren. M. 1.—. (Aus: Zeitschrift für Schweize- 
rische Statistik.) 

Grasemann, Paul, Lebensversicherung und Aerzte. Berlin, Hermann Walther, 
1907. 8. 77 SS. M. 1,50. 

Halbach, Hermann, Die Einwirkung der Arbeiterversicherungsgesetze auf die 
Knappschaftsvereine und ihre Einrichtungen. Leipzig, C. L. Hirschfeld, 1906. 8. IV— 
234 SS. M. 6,60. (Abhandlungen aus dem staatswissenschaftlichen Seminar zu Münster 
i. W. Heft 3.) 

Katzenstein, Louis, Die dreißigjährige Geschäftstätigkeit der Reichsbank. Ber- 
lin, L. Simion Nf., 1906. 8. 63 SS. M. 2.-—. (Volkswirtschaftliche Zeitfragen. 
Heft 223/24.) 

Obst, Georg, Kapitalanlage und Wertpapiere. Mit einem Anhang: Die Börse 
und ihre Geschäfte, 7. vollständig umgearb. Aufl. (13. bis 16. Tausend.) Leipzig, C. E. 
Poeschel, 1906. 8. 99 SS. M. 1.—. (Ratgeber in Geld- und Rechtsfragen. Bd. 1.) 

Schoplick, Reinhold, Die land- und forstwirtschaftliche Unfallversicherung im 
Geschäftsbereich der preußischen Kreis- und unteren Verwaltungsbehörden und ihrer 
Organe. Breslau, Maruschke & Berendt, 1907. 8. VIII—97 SS. M. 2.—. 

* Stillich, Oscar, Geld- und Bankwesen. Berlin, K. Curtius, 1906. 8. M. 3,20. 

Stryk, Gustav, Die deutsche Genossenschaft und ihre Bedeutung für den landwirt- 
schaftlichen Kredit. Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht, 1906. Lex.-8. 48 SS. M. 2.— 
(Aus: Bericht über die Verhandlungen der kaiserl. livländischen gemeinnützigen und 
ökonomischen Sozietät.) 

Wengler, A. (OberregierungsR.), Handwörterbuch der Krankenternicharuun, Leip- 
zig, Breitkopf & Härtel, 1906. Lex.-8. V—221 SS. M. 5.—. 


Fontaine, H., La bourse et ses opérations légales. Traité de droit financier. 
4'%=° édition, entièrement revue. Paris 1906. 8. 700 pag. fr. 15.—. 

Haristoy, J., Virements en banque et Chambres de compensation. Paris, Arthur 
Rousseau, 1906. 8. XXXIII—670 pag. fr. 12.—. 

Hickmann, A. L. (Vienne), Nouveau manuel des monnaies courantes d’or et d'argent. 
Systèmes monétaires de tous les pays du globe. Paris, Eichler, 1906. 12. fr. 3.—. 

Young, T. E., Insurance. A practical exposition for the student and business 
man. 2*4 edition, revised and enlarged. London, J. Pitman, 1906. 8. 386 pp. 5/.— 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 135 


Ciardini, Marino (avv.), I banchieri ebrei in Firenze nel secolo XV e il monte 
di pietà fondato da Girolamo Savonarola: appunti di storia economica, con appendice 
di documenti. Borgo S. Lorenzo, tip. Mazzocchi, 1907. 8. 103—CXVIIII pp. l. 5.—. 


9. Soziale Frage. 

George Gorham Groat, Trade Unions and the law in New 
York. Columbia University Press, New York 1905. 

Die Fragen der Arbeiterorganisation und des Arbeiterrechts, die in 
Amerika bislang fast nur in Zeitungen und Zeitschriften behandelt 
wurden, beginnen jetzt auch zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung 
seitens amerikanischer Gelehrter gemacht zu werden. Eine ausführliche 
Monographie von George Gorham Groat, herausgegeben von der „Faculty 
of Political Science“ der Columbia University in New York, behandelt 
„Gewerkvereine und Recht im Staate New York“. Gorham schildert 
zunächst die an Zahl der Mitglieder und Intensität stetig wachsende 
Organisation der Arbeiter dieses überwiegend von Industrie und Handel 
lebenden größten Staates der Union; zwischen 1894 und 1904 stieg die 
Mitgliederzahl von 160000 auf 400000. Die Grundlage der Organi- 
sation bildet die 1864 errichtete Workingmens Assembly, die sich später 
mit dem New Yorker Zweige der American Federation of Labor ver- 
einigt hat, während die vorübergehend so mächtigen Knights of Labor 
auch hier allmählich an Bedeutung verloren haben. Die Organisierung 
hat sich wie in Amerika häufig unter erheblichen Schwankungen voll- 
zogen, rasch gegründete Vereine sind zuweilen wieder verfallen, die 
industriellen Bedingungen der einzelnen Stadt, die Persönlichkeit des 
Organisators, oft auch die Jahreszeit spielen eine erhebliche Rolle. 

Die Tätigkeit jener Working men’s Assembly besteht im wesent- 
lichen in der Beeinflussung der Gesetzgebung. Gegründet zur Abwehr 
eines gegen den Streik gerichteten Gesetzes, hat sie sich im Lauf der 
Zeit mit den verschiedensten Fragen der Gesetzgebung beschäftigt 
und allmählich ein festes System ausgebildet, um die von ihr aufge- 
stellten Forderungen zu Gesetzen zu machen. Zweierlei ist dabei er- 
forderlich: einmal die Durchbringung von ihren Forderungen geneigten 
Abgeordneten, sodann deren Ueberwachung und Beeinflussung während 
der parlamentarischen Arbeit. Das Problem, mit dem sich die englischen 
Gewerkschaften so viel beschäftigt haben, ob es richtiger sei, eine eigene 
Partei zu gründen oder im Verbande einer anderen Einfluß zu erlangen, 
beschäftigt auch die Arbeiter New Yorks. Versuche, eigene Kandidaten 
aufzustellen, sind bisher fast durchgängig gescheitert und versprechen 
auch für die Zukunft wenig Erfolg; ein reines Arbeiterprogramm ver- 
mag die übrigen Wählerkreise nicht zu fesseln, vor allem aber, was 
wohl sehr zu unterstreichen ist, würden die Arbeiter nicht in der Lage 
sein, die ungeheuren Kosten eines amerikanischen Wahlkampfs zu tragen. 
So bleibt die Workingmens assembly einstweilen dabei, sich unter den 
verschiedenen Kandidaten den ihr näherstehenden, womöglich einan 
Arbeiter, auszusuchen und dann auf ihre Forderungen zu verpflichten. 

Durchaus originell und der Eigenart des amerikanischen Parlamen- 
tarismus angepaßt ist die Art, wie die Gewerkvereine die Arbeiten der 
Legislative und die Einhaltung der ihnen gegebenen Versprechungen 
überwachen. Ein besonderes Legislativkomitee ist am Sitz des Parla- 


136 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


ments, in Albany, eingerichtet, das den Verkehr vermittelt, den der 
Organisation nahestehenden Abgeordneten die Gesetzesvorschläge zur 
Betürwortung vorbereitet, und dessen Vorsitzender wöchentlich an den 
Präsidenten der Organisation in New York über die Erfolge zu berichten 
hat. Wie groß diese tatsächlich sind, hält Gorham Groat für schwer 
nachweisbar; die unmittelbar durchgesetzten Gesetze sind nicht von 
großer Bedeutung; erheblicher sei aber doch der Einfluß überhaupt, ins- 
besondere in der Abwehr arbeiterfeindlicher Strömungen; auch frage 
der Gouverneur die Organisation bei Stellenbesetzungen öfter um Rat 
und der einzelne Abgeordnete würde durch die Furcht, auf die „schwarze“ 
oder die „lauwarme“ Liste zu kommen, aber auch durch direkte von 
der Organisation veranlaßte Appellationen seiner Wählerschaft bestimmt, 
für die Arbeiterforderungen einzutreten. — 

Der ausfübrlichere und wertvollere zweite Teil der Arbeit handelt 
von der Stellung, die die Rechtsprechung und Gesetzgebung das 19. Jahr- 
hundert hindurch zu den Gewerkvereinen eingenommen haben. Die 
vorsichtige, schrittweise Aenderung in den Anschauungen der Gerichte 
über die Natur der Arbeiterorganisation und des Streiks von der Zeit 
an, wo man im Anschluß an alte englische Vorschriften jeden Gewerk- 
verein als eine Verschwörung ansah, bis im letzten Viertel des Jahr- 
hunderts die unbedingte Freiheit, sich zu organisieren und zu streiken, 
anerkannt wird, ist klar und erschöpfend dargelegt und würde auch für 
eine historische Darstellung der europäischen Entwickelungsphasen als 
wertvolle Parallele dienen können. Immer geht — nach angloamerika- 
nischem System — die Rechtprechung voran und die Gesetzgebung folgt 
nach. Noch 1835 wird die Organisation vom obersten Gerichtshof als 
eine Monopolisierungsbestrebung bezeichnet und untersagt, weil sie den 
Wettbewerb, „die Seele des Gewerbes“, verhindere; eine ausführliche, 
historisch und wirtschaftlich begründete Entscheidung vom Jahre 1867 
erkennt zuerst grundsätzlich das Recht zum Streik an, nur mit der Ein- 
schränkung, daß die erhobenen Forderungen berechtigt sein müßten. 
Von 1890 an gilt jeder Streik als erlaubt, soweit nicht die angewandten 
Mittel ungesetzlicher Natur sind; welche Mittel dies sind, wird ebenfalls 
in einer Reihe von Entscheidungen allmählich festgelegt, wobei insbe- 
sondere die Erlaubtheit des Boykotts wiederholt zur Erörterung gelangt. 
Auch hier siegt endlich die Ansicht, daß der Boykott an sich erlaubt 
ist und nur zu seiner Durchführung nicht ungesetzliche Maßnahmen an- 
gewandt werden dürfen. Als solche werden Gewalt, Zwang, Drohung, 
Einschüchterung bezeichnet; die Verrufserklärung findet sich nicht dar- 
unter. Eine Reihe weiterer zur Darstellung gelangender Entscheidungen 
betreffen interne Organisationsverhältnisse, deren Klagbarkeit grundsätz- 
lich anerkannt ist. Ob die Verpflichtung eines Unternehmers, nur 
Mitglieder einer Union anzustellen, klagbar ist, sei eine offene Frage. 

Im Anschluß an die Rechtsprechung hat die Gesetzgebuug das alte 
Verschwörungsverbot 1870 aufgehoben, die völlige Gleichstellung eines Ge- 
werkvereins mit jedem beliebigen Privatverein 1885 ausgesprochen ; 1887 
folgen — allerdings selten angewandte — Strafbestimmungen gegen Unter- 
nehmer, die ihre Arbeiter am Beitritt zu einem Gewerkverein hindern. 

So ist allmählich im Lauf des Jahrhunderts die völlige gewerbliche 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.. 137 


Freiheit, entsprechend den veränderten wirtschaftlichen Voraussetzungen 
und sozialen Anschauungen, durchgesetzt worden. Gorham Groat meint, 
daß künftige Gerichtsentscheidungen neben der Frage nach den Rechten 
beider Parteien auch für die Rechte des dritten Beteiligten, des Publikums, 
würden Sorge tragen müssen, ein in Amerika jetzt häufig wiederkehrender 
Gedanke. 

Die Arbeit vermag im ganzen einen guten Einblick in die Be- 
strebungen amerikanischer Arbeiterorganisionen, mehr noch in die Fragen 
gewerblichen Arbeiterrechts, zu geben. Für den Juristen ist es daneben 
interessant zu sehen, wie schwierige Fragen des Rechtes nicht durch 
Gesetzgebung, sondern durch fortlaufende, schöpferische Rechtsprechung 
entwickelt und gelöst werden; ob eine solche intensive gestaltende 
Tätigkeit der Richter nicht mehr Gewähr gibt für eine kontinuierliche 
Fortbildung des Rechts, als die stoßweiße auftretende, von politischen 
Majoritäten abhängige Gesetzgebung, ist sehr wohl zu fragen. 

Leipzig. Dr. Fritz Kestner. 


Münsterberg, E., Amerikanisches Armenwesen. Leipzig, Duncker & Humblot, 
1906. gr. 8. VI—120 SS. M. 2,40. (Schriften des deutschen Vereins für Armenpflege 
und Wohltätigkeit. Heft 77.) 

Radomski, J. (SchulR.), Das Schlafstellenwesen in Posen. Vortrag. Posen (J. 
Jolowiez) 1906. gr. 8. 15 SS. M. 0,40. (Veröffentlichungen des Vereins zur Fürsorge 
für kranke Arbeiter zu Posen. Heft 8.) 

Rost, Hans, Die Wohnungsuntersuchung in der Stadt Augsburg vom 4. I. bis 
24. III. 1904. Im Auftrage des Stadtmagistrats durchgeführt und dargestellt. Augs- 
burg (M. Rieger) 1906. Lex.-8. VI—292 SS. mit 2 Formularen, 7 farbigen graphischen 
Tafeln und 1 farbigen Plan. M. 8,25. 

Sombart, Werner, Das Proletariat. Bilder und Studien. Frankfurt a/M., Lite- 
rerische Anstalt, (1906). 8. XIV—88 SS. M. 1,50. (Die Gesellschaft. Sammlung sozial- 
psychologischer Monograpbien. 1.) 

Suess-Ratb, Helene, Die Frau. Eine Studie aus dem Leben. Wien, C. Ko- 
negen, 1906. 8. 54 SS. M. 1,80. 

Vandervelde, Emil (ehem. Prof.), Alkohol, Religion, Kunst. Drei sozialistische 
Untersuchungen. Aus dem Französischen von Engelbert Pernerstorfer. Jena, Gustav 
Fischer, 1907. 8. VIII-194 SS. M. 2.—. 

Griveau, Paul, L’aleoolisme, fléau social, moeurs, législation, droit comparé. 
Paris, Marchal et Billard, 1906. 8. fr. 6.—. 

Turot, Henri et Henri Bellamy, Le surpeuplement et les habitations à bon 
marché. Paris, Félix Alcan, 1907. 8. 260 pag. fr. 6.—. (Bibliothèque générale des 
Sciences sociales.) 

Dolling, Robert R., Ten years in a Portsmouth slum. 7'* edition. London, 
Masters, 1906. 8. 272 pp. 3/.6. 

Loane, M., The Queen’s poor. Life as they find it in town and country. New 
and cheaper edition. London, E. Arnold, 1906. 8. 320 pp. 3/.6. 

Sullivan, W. C., Alcoholism. A chapter in social pathology. London, Nisbet, 
1906. 8. 222 pp. 3/.6. 

Town and country housing. Report of a conference of the Garden City 
Association. London 1906. 8. 62 pp. 1/.—. 

Tagarelli, Donato, Dell alcoolismo: discorso. Firenze, R. Bemporad e figlio, 
1906. 16. 16 pp. 


10. Gesetzgebung. 

Olep, Heinrich, Die deutsche Sülstoffgesetzgebung. Nament- 
lich das Süßstoffgesetz vom 7. VII. 1902. Tübingen (Lauppsche Buch- 
handlung) 1904. gr. 8°. IV und 92 SS. 

Die vorliegende Schrift, eine Tübinger Doktordissertation, beschäf- 


138 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


tigt sich mit einem ganz modernen Problem der Gesetzgebung, nämlich 
mit der Behandlung der Süßstoffe vor allem im Reichsrecht. In einer 
kurzen Einleitung schildert er uns die Geschichte und Statistik der 
Süßstoffgewinnung und geht dann über zur Geschichte der deutschen 
Süßstoffgesetzgebung, deren Entstehung und einzelne Phasen er dem 
Leser vorführt. Der Ursachen waren mancherlei Art: die Besorgnis, 
daß die billigen Süßstoffe, die zwar hohe Sülkraft, aber keinen Nähr- 
wert haben, als Volksgenußmittel in die breiten Schichten der Bevölke- 
rung eindringen und den nährstoffhaltigen Zucker verdrängen, die 
Getahr der Nahrungsmittelverfälschung, der die Sülstoffe angeblıch 
Vorschub leisten, die unbequeme Konkurrenz für die rübenbauende 
Landwirtschaft und endlich das fiskalısche Interesse der Reichskasse 
an den Eingängen der bedrohten Zuckersteuer. Alle diese Erwägungen 
führten zu einer gesetzgeberischen Aktion gegen die Süßstoffe Nach- 
dem man diese zuerst durch das Nahrungsmittelgesetz vom 14. V. 1879 
durch partikuläre Gesetze, indessen ohne Erfolg, zu bekämpfen gesucht 
hatte, kam es zum ersten Süßstoffgesetz vom 6. VII. 1898. Dieses 
verbot die Verwendung von künstlichen Süßstoffen bei der gewerbs- 
mäßigen Herstellung von Bier, Wein, weinähnlichen Getränken, Kon- 
serven, Likören, Zucker und Stärkesyrupen, sowie das Feilbieten und 
den Verkauf solcher Genußmittel, und stellte den Zusatz von künst- 
lichen Süßstoffen zu Nahrungs- und Genußmitteln unter den Dekla- 
rationszwang. Das Gesetz hat nicht die erhoffte Wirkung, da die 
Deklarationspflicht nicht hinlänglich genau eingehalten wurde und 
außerdem Herstellung, Bezug, Absatz wie der ganze Verkehr mit Süß- 
stoffen nicht eingeschränkt und keiner gesetzlichen Ordnung unterworfen 
war. Dieser unbefriedigende Rechtsstand führte bald zu dem zweiten 
Süßstoffgesetz vom 7. VII. 1902. Die Motive waren jetzt stark schutz- 
zöllnerischer Art im Interesse der Rübenbau treibenden Landwirtschaft 
und stützten sich auch wesentlich auf die neu geschaffene Lage der 
deutschen Zuekerindustrie, die durch die Brüsseler Konvention vom 
5. IJI. 1902 ihrer den Zuckerexport fördernden Prämien beraubt war. 

Das neue Gesetz ging sehr radikal vor. Es verbot die Herstel- 
lung, die Beschaffung, den Verkehr und die Verwendung von Süßstoff 
und sülßstotfhaltigen Erzeugnissen, von welcher Regel nur einzelne Aus- 
nahmen zugelassen wurden. Die Süßstofffabrikation wird sehr beschränkt, 
tatsächlich einer einzigen Monopolfabrik zugestanden. Den vom Gesetz 
benachteiligten Personen, den Fabriken und den entlassenen Beamten 
und Arbeitern werden (reldentschädigungen zugestanden. In einem 
Schlußkapitel wird dann das ausländische Recht in knapper Uebersicht 
dargestellt. Von all diesen Vorgängen entrollt uns der Verfasser ein 
anschauliches Bild und sucht uns zu zeigen, wie die einzelnen Nieder- 
schläge der Anregungen, Wünsche, Agitation und der öffentlichen Dis- 
kussion sich zu festen Resultaten in der Gesetzgebung verdichtet haben. 
Hin und wieder wird durch dieses Verfahren seine Darstellung etwas 
breit und weitschweifig, Seinem Standpunkt nach billigt der Verfasser 
durchaus die Stellung und Aktion des Gesetzgebers. Die immerhin 
beachtenswerte Seite der Frage, nämlich die radikale Durchbrechung 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.. [39 


der Gewerbefreiheit und der scharfe Eingriff in das Wirtschaftsleben 
wird dagegen etwas stiefmütterlich behandelt. 
Münster i/W. Max von Heckel. 


Bolze (Reichsgerichtssenatspräsident a. D.), Rechte der Angestellten und Arbeiter 
an den Erfindungen ihres Etablissements. Für Juristen, Gewerbetreibende, Patentan- 
wälte, Techniker und Ingenieure. Leipzig, Akademische Verlagsgesellschaft m. b. H., 
1907. gr. 8. 44 SS. M. 1,20. 

Cohn, Max, Das innere Verhältnis zwischen der Gesellschaft mit beschränkter 
Haftung und ihren Gesellschaftern. Berlin, L. Oehmigkes Verl., 1906. 8. 97 SS. M. 2.—. 

Conrad, Herbert, Die Pfündungsbeschränkungen zum Schutze des schwachen 
Schuldners. Eine juristische und sozialpolitische Studie. Jena, Gustav Fischer, 1906. 
gr. 8. XVI—524 SS. M. 12.—. 

Fernow, A. (vortragender R.), Einkommensteuergesetz. Text-Ausgabe mit An- 
merkungen und Sachregister. 6. völlig neubearb. Aufl. Berlin, J. Guttentag, 1907. 16. 
XVU—457 SS. M. 3.—. (Guttentags Sammlung preußischer Gesetze. N" 10.) 

Goetsch, P. (vortragender R.), Das Reichsgesetz über das Auswanderungswesen 
vom 9. VI. 1897 nebst Ausführungsverordnungen, unter Benutzung amtlicher Quellen 
erläutert. 2. verm. Aufl. Berlin, C. Heymann, 1907. kl. 8. VIII—462 SS. M. 4.—. 
(Taschen-Gesetzsammlung. 37.) 

Grünberg, Siegmund, Das Speditionsrecht in seinen Grundzügen. Wien (M. 
Perles) 1907. gr. 8. 154 SS. M. 3.—. (Aus: Zoll- und Speditions-Zeitung.) 

Hoffmann, Albr. Rud. (vortragender R.), Das Reichs-Erbschaftssteuergesetz vom 
3. VI. 1906 nebst den Ausführungsbestimmungen des Bundesrats und den Vollzugsan- 
weisungen Preußens, Bayerns, Sachsens, Württembergs und Badens. Erläutert. Leipzig, 
Rossbergsche Verlagsbuchh., 1907. kl. 8 XXXVI-—353 SS. M. 5.—. (Juristische 
Handbibliothek. Bd. 187.) 

Peters, W. (weil. LandgerichtsR.), Die Zivilprozeßordnung für das Deutsche 
Reich. Mit den Entscheidungen des Reichsgerichts und den einschlagenden reichsrecht- 
lichen Bestimmungen. 4., verm. Aufl. Neue, um die Novelle vom 5. VI. 1905 ver- 
mehrte, wohlfeile Ausg. Berlin, H. W. Müller, 1907. 8. XVI—708 SS. M. 2,40. 


Clunet, Édouard, Les associations au point de vue juridique. (Aura 3 volumes.) 
Tome I. Paris, Marchal et Billard, 1906. 8. fr. 6.—. 

David, Adolphe, et Oscar Stave, Étude sur la législation minière en Nor- 
wege suivie d’une analyse des lois sur l’inspection du travail dans les usines et sur 
Passurance contre les accidents du travail. Paris, Oscar Lamberty, 1906. 8. 272 pag. 
fr. 10.—. 

Leurquin, Code de la saisie-arret. Bruxelles, veuve Ferdinand Larcier, 1906. 
8. 616 pag. fr. 10.—. 

Chiovenda, Gius. (prof.), Prineipi di diritto processuale civile. Napoli, 
N. Jovene e C., 1906. 8. 646 pp. l. 10.—. 

Codice di commercio. Quarta edizione. Milano, U. Hoepli, 1906. 16. 158 pp. 

Gristina, Antonino (avv.), La inappellabilitA delle sentenze in materia di 
fallimento (art. 913 cod. commercio). Palermo, tip. Colonia di s. Martino, 1906. 8. 
77 pp. 1. 2.—. 

PPelacchi, Pietro, Manuale teorico-pratico di procedura civile, commerciale e 
penale. Quinta edizione completamente riordinata sull’ ultima legge e regolamento degli 
ufficiali giudiziari. Firenze, tip. M. Mozzon, 1906. 8. 461 pp. l 4.—. 


11. Staats- und Verwaltungsrecht. 


Doerkes, Wilh. N., Die Immunität der Reichstagsabgeordneten. Berlin, Putt- 
kammer & Mühlbrecht, 1907. 8. 22 SS. M. 0,80. 

Görtz. v. (Geh. RegierungsR.), Die Verfassung und Verwaltung der schlesischen 
Landschaft, in systematischer Zusammenstellung der statutarischen und der betr. all- 
gemeingesetzlichen Bestimmungen dargestellt. 4. neubearb. Aufl. Breslau, W. G. Korn, 
1907. gr. 8. XXXI—296 SS. M. 6.—. 

Hoffmann, Georg, und Ernst Groth, Deutsche Bürgerkunde. Kleines Hand- 
buch des politisch Wissenswerten für jedermann. 4., verm. Aufl. 29.—31. Tausend. 
Leipzig, F. W. Grunow, 1906. 8. VIII—-385 SS. M. 2,50. 


140 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Jahrbuch des Verwaältungsrechts. Bearb. u. herausgeg. von (Prof.) Stier-Somlo 
(Bonn). 1. Jahrg. Berlin, Franz Vahlen, 1907. 8. XIV—513 SS. M. 11.—. 

Lotz, Albert, Geschichte des Deutschen Beamtentums. Berlin, R. von Decker’s 
Verlag, 1906. 4. (In 10 Lieferungen.) Lieferung 1. 64 SS. M. 1,80. 

Disléré, P., Traité de législation coloniale. Tome I. 3°». édition. Paris 1906. 
8. 1000 pag. fr. 20.—. 

Teissier, Georges, La responsabilité de la puissance publique. Paris, Paul 
Dupont, 1906. 8. fr. 10.—. 

Ashley, Percy, Local and central government, A comparative study of Eng- 
land, France, Prussia, and the United States. London, John Murray, 1906. 8. XI— 
396 pp. 10/.6. 

Criseuoli, Ang., Prime linee di una teoria giuridica della scienza costituzionale. 
Napoli, tip. Mazzocchi, 1906. 16. 170 pp. 1. 3.—. 

Acker, K. van, Overzicht der staatsinstellingen van België. XV—135 blz. 
fr. 2.—. 

12. Statistik. 
Deutsches Reich. 


Statistik des Deutschen Reichs. Herausgeg. vom Kaiserlichen Statistischen Amt. 
Neue Folge Bd. 174. Die Seeschiffahrt im J. 1905. Teil 1. Bestand der deutschen 
Seeschiffe (Kauffahrteischiffe). Teil 1. Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht, 1906. 4. 
I—18—54 SS. Für Teil 1 u, 2: M. 4.—. 

Statistik, Preußische. Herausgeg. in zwanglosen Heften vom Königlich Preußi- 
schen Statistischen Laudesamt in Berlin. 172. Heft. Die endgültigen Ergebnisse der 
Vieh- und Obstbaumzählung vom 1. XII. 1900 im preußischen Staate sowie in den 
Fürstentümern Waldeck und Pyrmont. II. Teil. Der Viehbesitzstand der Gehöfte. 
Berlin, Verlag des Königlich Preußischen Statistischen Landesamts, 1906. 4. XX— 
226 SS. M. 6,40. 200. Heft. Die Geburten, Eheschließungen und Sterbefälle im 
preußischen Staate während des Jahres 1905. Ebend. 1906. 4. XXIV—250 SS. 
M. 7.—. 


Frankreich. 


March, Lucien, Tables de mortalité de la population de la France au début du 
XX” siècle. Paris, Berger-Levrault, 1906. 8. fr. 2,50. 


Oesterreich-Ungarn. 


Mitteilungen des statistischen Landesamtes des Königsreichs Böhmen. Deutsche 
Ausg. VIII. Bd. 1. Heft. Ernte-Ergebnisse 1905 und die wichtigsten Zweige der land- 
wirtschaftlichen Industrie 1904—1905. Mit dem vorläufigen Berichte über die Getreide- 
ernte 1906. Prag (J. G. Calve) 1906. Lex.-8. IV—CCXXII—48 SS. M. 4.—. 

Statistik, Oesterreichische, herausgeg. von der k. k. Statistischen Zentralkom- 
mission. LXXVIII. Bd. 1. Heft. Die Ergebnisse der Zivilrechtspflege im Jahre 1904. 
Wien, Karl Gerold’s Sohn, 1906. 4. LXII—111 SS. M. 5,30. 


Holland. 


Bijdragen tot de statistiek van Nederland. Uitgegeven door de Centrale Com- 
missie voor de Statistiek. LXXIII. Statistiek der spaar- en leenbanken in Nederland, 
over het jaar 1904. ’s-Gravenhage 1906. 4. XXX—293 blz. fl. 1,25. 

Statistiek der bevolking van Amsterdam en eenige voorname steden der wereld, 
in de jaren 1899—1905. 57 blz. fl. 0,30. 


13. Verschiedenes. 


Chlumeckf, Leop. Frhr. v., Oesterreich-Ungarn und Italien. Das westbalka- 
nische Problem und Italiens Kampf um die Vorherrschaft in der Adria. Wien, 
F. Deuticke, 1907. 8. VII—247 SS. M. 4,50. 

Willmann, Otto (HofR.), Die Hochschule der Gegenwart. Vortrag. Dresden, 
v. Zahn & Jaensch, 1906. gr. 8. 21 SS. M. 1.—. (Neue Zeit- und Streitfragen. 
Bd. XIL. Heft 1.) 


Die periodische Presse des Auslandes. 141 


Die periodische Presse des Auslandes, 


A. Frankreich. 

Annales des Sciences politiques. XXI’ annte, 1906, VI, Novembre: La politique 
indigène de l’Angleterre en Afrique occidentale, par Emile Baillaud. — Les nouveaux 
impöts allemands, par J. P. Armand Hahn. — ete. 

Bulletin de Statistique et de Législation comparée. XXX“ annte, 1906, Octobre: 
Les impôts nouveaux et les dögrevements depuis 1870. — Les octrois en 1905. — La 
situation financière des départements en 1903. — Les caisses d’assurances en cas de 
décès et en cas d'accidents en 1905. — ete. — Novembre: Statistique generale des con- 
tributions directes et des taxes assimilées. — Le commerce extérieur en 1905. (Rösul- 
tats définitifs.) [France et Algérie.) — Production des vins et des cidres en 1906. 
(France et Algérie.) — ete. 

Journal des Économistes. 65° année, 1906, novembre: Aperçu historique des 


théories modernes de la valeur, par Maurice Bellom. — Mouvement agricole, par Mau- 
rice de Molinari. — Lettre de San-Francisco, par Georges Nestler Tricoche. — Encore 
l'assurance, par Frédéric Passy. — ete. — Décembre: Théorie de l’&volution, temps 


primitifs, par G. de Molinari. — Le réseau d’État de 1878 à 1883, par Schelle. — Un 
coup d'oeil sur les chemins de fer des États-Unis, par D. B. — Travaux des chambres 
de commerce, par Rouxel. — Une culture en Picardie: les hortillonnages, par E. Letour- 
neur. — Le dossier du protectionnisme: la production du fer et de l’acier au Canada, 
par A. Raffalovich. — ete. 

Journal de la Société de statistique de Paris. 47° année, 1906, N° 9, Septembre: 
Tables de mortalité de la population de la France au début du vingtième sitcle, par 
Lucien March. — Chronique des questions ouvrières et des assurances sur la vie, par 
Maurice Bellom. — ete. — N° 10, Octobre: Tables de mortalité de la population de 
la France au début du vingtième siècle, par Lucien March. [Suite et fin.] — Du carac- 
tère nouveau de l’immigration aux États-Unis, par Paul Meuriot, — ete. — N° 11, 
Novembre: Résultats statistiques du recensement de la population effectué le 24 mars 
1901, par E. Levasseur. — Chronique trimestrielle des banques, changes et métaux 
précieux, par G. Roulleau. — ete. 

Réforme Sociale, La. XXVI’ année, n° 22, 16 novembre 1906: Le Play et sa 
méthode de recherche et de démonstration de la valeur des principes sociaux, par 


Armand Gautier, de l’Académie des Sciences. — Une solution peu connue du problème 
des retraites ouvrières, par G. Olphe-Galliard. — L’alcoolisme, ses causes, ses effets, 
ses remèdes, dernier article, par Émile Pierret. — Un peuple peut-il avoir une vie 


morale saine si l’État en élimine les religions? Par Eugène Rostand, de l'Institut. — eto. 
— n° 23, 1" décembre 1906: Le Play et la vie provinciale, par Charles Brun. — La 
surveillance des apprentis, par André Vovart. — Société belge d’&conomie sociale. 
Rapport sommaire sur sa XXV” session, par Victor Brants. — ete. — n° 24, 16 décem- 
bre 1906: Les prix de vertu, discours de Paul Bourget, à l’Académie française. — Les 
retraites ouvrières et le socialisme. Réflexions d’un contribuable à propos d’un livre 
récent, par René de Kerallain. — Le röle social de l’ingenieur, par Maurice Bellom. 
— etc. 

Revue générale d’administration. XXIX” année, 1906, septembre A novembre: 
Le personnel des ministères, par G. Demartial. — La France d’aujourd’hui et la France 
de demain (suite et fin), par Jules d’Auriac. — De la compétence en matière de pro- 
priété, par Albert Roux. — etc. 


B. England. 

Century, The Nineteenth, and after. N° 358, December 1906: The labour move- 
ment, by J. Keir Hardie. — The race suicide scare, by James W. Barclay. — Friendly 
societies, by Sir Edward Brabrook. — etc. 

Journal of the Royal Statistical Society. Vol. LXIX, 1906, part 3, 29% Sep- 
tember: The generalised law of error, or law of great numbers, by (Prof.) F. Y. Edge- 
worth. — Miscellanea: Address to the Economic Science and Statistics Section of the 
British Association for the Advancement of Science, York, 1906, by (President of the 


142 Die periodische Presse des Auslandes. 


Section) A. L. Bowley. — On the sex-ratios of births in the registration distriets of 
England and Wales, 1881—90, by H. D. Vigor and G. Udny Yule. — etc. 

Review, The Contemporary. N” 492, December, 1906: Poor relief in Vienna, 
by Edith Sellers. — The Norwegian system of liquor control, by (Prof.) James Seth. — 
Local finance: letter to the editor, from H. Morgan-Browne. — etc. 

Review, The Economic. Published quarterly for the Oxford University Branch 
of the Christian Social Union. Vol. XVI, 1906, N° 4, October: The social teaching of 
the Bible, by (Prof.) W. Sanday. — Tariff reform, by F. Marsden Burnett. — Rating 
and site valuation, by A. Hook. — The control of public expenditure, by W. M. J. 


Williams. — The economie position, by Owen Fleming. — etc. 
Review, The National. N° 286, December 1906: The Treasury past and present, 
by (Permanent Under-Secretary to the Treasury) Sir Franeis Mowatt. — The future of 


tariff reform, by J. L. Garvin. — Land values — why and how they should be taxed, by 
Josiah C. Wedgwood. — The sacrifice of sea-power to „Economy“, by H. W. Wilson. 
— ete. 


C. Oesterreich. 


Handels-Museum, Das. Herausgeg. vom k. k. österr. Handels-Museum. Bd. 21, 
N" 46: Die Handelsverträge der Schweiz mit Frankreich und Spanien. — Die rumä- 
nische Petroleumindustrie. — etc. N’ 47: Die Entwickelung der Post im Zusammen- 
hange mit der Entwickelung des Welthandels, von Adolf Grossmann. — ete. — N" 48: 
Mitteleuropäischer Wirtschaftsverein, von Drucker. — Das internationale Exportgeschäft. 
— ete. — N" 49: Das Marineförderungsgesetz. — ete. — N" 50: Zur Durchführung 
des Zolltarifes. — Der neue spanisch-schweizerische Handelsvertrag. — ete. — N" 51: 
Genossenschaftsregister und Koalitionsgesetz, von Markus Ettinger. — Das internationale 
Exportgeschäft. — ete. 

Monatschrift, Statistische. Herausgeg. von der k. k. Statistischen Zentral-Kom- 
mission. Neue Folge. Jahrg. XI, September-Oktober-Heft: Die stichprobenweisen Vieh- 
schätzungen, eine kritisch-methodologische Untersuchung von Richard Pfaundler und 
Franz Weyr. — Vierzig Jahre englischer Landwirtschaftsstatistik, von Inama. — Die 
überseeische österreichische Wanderung in den Jahren 1904 und 1905 und die Ein- 
wanderungsverhältnisse in den wichtigsten überseeischen Staaten in diesen Jahren, Fort- 
setzung, von Richard von Pflügl. — Die Wiener k. k. Krankenanstalten während der 
Jahre 1892—1902, von Bratassevie.. — Die Kinderspitäler Wiens während der Jahre 
1893—1902, von Bratassevie. — Die Spitäler Niederösterreichs während der Jahre 1893 — 
1902, von Bratassevie. — Die adriatische Fischerei Oesterreichs in den Jahren 1902/03, 
1903/04 und 1904/05, von Karl Kraft. — Zur Statistik der Aktiengesellschaften, von 
F. Knarek. — etc. 

Rundschau, Soziale. Herausgeg. vom k. k. Arbeitsstatistischen Amte im Han- 
delsministerium, Jahrg. VII, N’ 11, November 1906: Kollektive Arbeitsverträge in 
Oesterreich im Jahre 1905. — Arbeitsverhältnisse und Wohlfahrtseinrichtungen in den 
Betrieben des österreichischen Tabakmonopols im Jahre 1905. — Wohlfahrtseinrich- 
tungen bei den k. k. österreichischen Staatsbahnen im Jahre 1905. — Die Arbeiter- 
partei und die neuesten Fortschritte der sozialen Reform in England, von Felix Frei- 
herrn v. Oppenheimer. — etc. 


D. Italien. 


Giornale degli Economisti. Giugno 1906: La teoria del costo di riproduzione 
e la critica, di D. Berardi. — Le miniere ed i minatori della Francia del Nord, di 
G. François. — Del metodo per determinare la situazione finanziaria di uno stato se- 
condo un ministro di Luigi XVI (Calonne), di C. Torlonia. — ete. — Luglio 1906: 
L’ofelimitä nei cicli non chiusi, di V. Pareto. — Il rapporto tra pigione e reddito 
secondo alcune recenti statistiche, di C. Bresciani. — Protezionismo marittimo e cre- 
dito navale in Italia, di V. Giuffrida. — La conversione del consolidato italiano, di 
F. Flora. — L’organizzazione nazionale degli operai edili, di L. Marchetti. — etc. — 
Agosto 1906: A proposito della teoria del valore, di A. Loria. — Per le finanze della 
Capitale, di L. Nina. — La dottrina dell’ egoismo di H. Spencer come interpretazione 
dell’ economia politica e delle forme storiche degli istituti industriali, di E. Cossa. — 
Le affittanze collettive e Ja disoccupazione nell’ agricoltura, di A. Serpieri ed E. Stella. 
— ete 


Die periodische Presse Deutschlands. 143 


G. Holland und Belgien. 


Revue Économique internationale. 3° Année, Vol. IV, N. 2, Novembre 1906: 
L'ouvrier nègre en Amérique, par (Prof.) W. E. Burghardt Du Bois. — La question 
des chemins de fer aux États-Unis, par (Prof.) Achille Viallate. — La protection ou- 
vrière internationale. Les conventions de Berne et l’assambl&e de Genève (septembre 
1906), par (Prof.) Ernest Mahaim. — etc. 


H. Schweiz. 


Blätter, Schweizerische, für Wirtschafts- und Sozialpolitik. Jahrg. XIV, 1906, 
Heft 18: Schuldenvermehrung oder Schuldentilgung? Von (Rechtsanwalt) J. Springer 
(Zürich). — Die IV. Delegiertenversammlung der Internationalen Vereinigung für den 
gesetzlichen Arbeiterschutz (Genf, vom 27.—29. September 1906), Bericht von N. Reiches- 
berg (Bern). — etc. 


Die periodische Presse Deutschlands. 


Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirt- 
schaft. Jahrg. 39, 1906, N" 11: Das Asylrecht des englischen Parlaments, von (Prof.) 
Julius Hatschek (Posen). — Die Reform der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Elsaß- 
Lothringen, von (LandgerichtsR.) Werner Rosenberg (Straßburg i. E.) — Haftung der 
Eisenbahnen bei Verletzung und Tötung von Personen nach dem Reichsgesetz vom 
7. Juni 1871. Eine systematische Darstellung von Paul Hammer (Würzburg). [Schluß.] 
— etc. 

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Der neuen Folge Bd. V, Heft 3, 
November 1906: Statistik als Wissenschaft, von Al. A. Tschuprow (St. Petersburg). — 
Ueber städtische Bodenrente und Bodenspekulation, von (Prof.) Carl Johannes Fuchs. 
[2. Artikel.] — Die transatlantische Auswanderung aus Finnland, von August Hjelt 
(Helsingfors). — Gemeinde und Sozialdemokratie, von Robert Schachner (Heidelberg). 
— Literatur: Zur Geschichte des Sozialismus, von Robert Michels (Marburg); Die 
Alkoholfrage, von B. Laquer (Wiesbaden); Neuere Literatur über Armenwesen, von 
Adolf Weber (Bonn). 

Blätter, Volkswirtschaftliche. Jahrg. V, N" 23, 5. XII. 1906: Wirtschaftliche 
Interessenvertretungen und ihre Presse in Brasilien. — ete. — N’ 24, 20. XII. 1906: 
Die Handelskammervereinigungen in den Kulturstaaten, von Erhard Hübener (Berlin). 
— Zur wirtschaftlichen Ausbildung der Kaufleute und Beamten, von Mil Richter 
(Leipzig). — Paris, von J. Wernicke (Berlin). — ete. 

Handels-Museum, Deutsches. Organ des Bundes der Kaufleute, herausgeg. 
von Vosberg-Rekow. Jahrg. 3, 1906, N’ 8: Was haben Rußlands Gläubiger zu er- 


warten? Von Georg Schultze. — Zur Lage des Handwerks, von Joh. Steindamm 
(Berlin). — ete. — N" 9: Unfallversicherung im kaufmännischen Gewerbe, von (Rechts- 
anwalt) Fuld (Mainz). — Der 8 Uhr-Ladenschluß, von (Handelskammersekretär) Fechner 
(Kottbus). — Ueber moderne Verkehrs-Vehikel, von J. Landgraf (Wiesbaden). — ete. 
— N’ 10: Die deutschen Kaufmannsstädte im Mittelalter, von Georg Schultze. — Ver- 
einbarung von Schiedsgerichten, von (Prof.) Schumacher (Cöln). — ete. — N" 11: Kar- 
tell und Kleinhandel, von J. H. Heiderich. — Die deutschen Kaufmannsstädte im Mittel- 


alter, von Georg Sehultze. [Schluß.] — ete. 

Jahrbücher, Preußische. Bd. 126, Heft 3, Dezember 1906: Was hindert die 
freie Selbstbesiedlung des Landes? Von G. W. Schiele (Naumburg a. S.). — Neue 
irische Probleme, von (Prof.) Wilhelm Dibelius (Posen). — Deutschlands Handelsbilanz, 
von Paul Büchner (Hamburg). — ete. 

Monatshefte, Sozialistische. Jahrg. XII, 1906, Heft 12, Dezember: Der Gesetz- 
entwurf, betreffend gewerbliche Berufsvereine, von Carl Legien. — Der Sozialismus in 
Belgien, von Emile Vandervelde. — Die Verfassungsreform und die Neuwahlen in 
Württemberg, von Berthold Heymann. — Die Bekämpfung der Kinderarbeit, von Julius 


144 Die periodische Presse Deutschlands. 


Deutsch. — Die Rechtsprechung in der Krankenversicherung, von Friedrich Kleeis. 
— etc, 

Rechtsschutz, Gewerblicher, und Urheberrecht. Jahrg. 11, N" 11, November 
1906: Ausverkaufswesen, von (Rechtsanwalt) Ludwig Fuld (Mainz). — Unlauterer Wett- 
bewerb. Medaillenunwesen und Ausstellungsschwindel, von H. Lienau (Steglitz). — Die 
Aufnahme einer strafrechtlichen Sanktion in $ 8 des Gesetzes zur Bekämpfung des un- 
lauteren Wettbewerbs, von (LandgerichtsR.) Finger (Straßburg i. E.). — ete. — N’ 12, 
Dezember 1906: Veröffentlichung der Erkenntnisse und Prozesse über unlauteren Wett- 
bewerb, von (Rechtsanwalt) Martin Wassermann (Hamburg). — Bedürfen die Bestim- 
mungen der deutschen Gesetzgebung über den Schutz gegen den Verrat gewerblicher 
Geheimnisse einer Aenderung oder Ergänzung? Von (Rechtsanwalt) Paul Schmidt. — ete, 

Revue, Deutsche. Jahrg. 31, Dezember 1906: Die Reichsbank und die Geld- 
verteuerung, von (Präs. des Reichsbankdirektoriums) Koch. — Beamtenvorbildung und 
Wirtschaftsleben, von (Prof.) Ernst von Halle (Berlin). — Fünfzig Jahre deutscher 
Technik, von Franz Bendt. — Zur Beschränkung des englischen Kabelmonopols, von 
R. Hennig (Berlin). — etc. 

Revue, Politisch-anthropologische. Jahrg. V, N" 9, Dezember 1906: Gesellschaft 
und Staat als Organismus, von J. G. Weiss. — Ein vorurteilsvolles Buch über das 
Rassenvorurteil, von Ludwig Woltmann. — Chinesen in Nordamerika, von Hans Feh- 
linger. — etc. — N" 10, Januar 1907: Germanische Rasse und romanische Kultur, von 
Ludwig Woltmann. — Die voraussichtlichen Folgen der Mutterschaftsversicherung, von 
Fr. von den Velden. — ete. 

Thünen-Archiv. Organ für exakte Wirtschaftsforschung. Jahrg. 2, 1907, 
Heft 1: Raubwirtschaft und Kraftkultur, II, Raubwirtschaft mit Menschenkräften. — 
Regenerativ-Ofen und Arbeiterbewegung in der deutschen und englischen Grünglas- 
Industrie. — Aus den Betriebsergebnissen eines Mecklenburgischen Rittergutes, IV, Be- 
trachtungen über die Lalendorfer Natural-Erträge, von (DomänenR.) Brödermann-Knegendort. 

Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reichs. Herausgeg. vom Kaiser- 
lichen Statistischen Amt. Jahrg. 15, 1906, Heft 4: Konkurs-Statistik 1905. — Anbau- 
flächen der hauptsächlichsten Fruchtarten im Juni 1906. — Tabakanbau 1906. Vor- 


läufige Nachweise. — Bierbrauerei und Bierbesteuerung 1905. — Hopfenanbau und 
Schätzung der Hopfenernte 1906. — Konkurse im 3. Vierteljahr 1906. — Die Berg- 
werke, Salinen und Hütten 1905. — Der Verkehr auf den deutschen Wasserstraßen 


1872—1905. — Die jugendlichen Fabrikarbeiter und die Fabrikarbeiterinnen 1905. — 
Salzgewinnung und -besteuerung 1905. — Streiks und Aussperrungen im 3. Vierteljahr 
1906. — Stärkezuckergewinnung und -handel 1905/1906. — Zuckergewinnung und -be- 
steuerung 1905/1906. — Der Tabak im deutschen Zollgebiet 1905. — Die Volkszählung 
am 1. Dezember 1905. — etc. 

Zeit, Die Neue. Jahrg. 25, Bd. 1, N" 9: Triebkräfte und Aussichten der russischen 
Revolution, von K. Kautsky. — Die Neunstundenschicht im Braunkohlenbergbau, von 
Max Hirsch. — Die Berufs- und Industrieverbände in Frankreich, von Paul Louis 
(Paris). — ete. — N" 10: Triebkräfte und Aussichten der russischen Revolution, von 
K. Kautsky. [Schluß.] — ete. — N’ 11: Der Gesetzentwurf gegen die gewerblichen 
Berufsvereine, von Josef Herzfeld. — ete. — N" 12: Die Auflösung des Reichstags und 
die Klassengegensätze in Deutschland, von Karl Emil. — Die Lage der Zivilberufs- 
musiker, von Viktor Noack. — ete. 

Zeitschrift für Socialwissenschaft. Jahrg. IX, 1906, Heft 12: Die Zeit als Wirt- 
schaftselement, von (Prof.) Wilhelm Schäfer (Hannover). — Der deutsche Steinkohlen- 
bergbau und seine Arbeiterverhältnisse, von (Ingenieur) Curt Goldschmidt (Zabrze). — 
Das Marktwesen auf den primitiven Kulturstufen, von Richard Lasch (Wien). [Schluß.] 
— etc. 


Frowmannsche Buchdruckerei (Hermann Pohle) in Jena, 


H. Ruesch, Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 145 


II. 


Der Berliner Getreidehandel unter dem 
deutschen Börsengesetz. 


Von 


H. Ruesch. 
(Fortsetzung und Schluß.) 


VI. Wirkungen auf die Getreidepreisbildung. 


Trotzdem sprechen sich die Vertreter der Landwirtschaft ganz 
günstig über den Erfolg des Terminhandelsverbots aus, so seien 
z. B. die Land- und Wochenmärkte seit Inkrafttreten des Bör- 
sengesetzes mehr und mehr erstarkt und Berlins Bedeutung für 
die Preisbildung mehr zurückgetreten. Es ist aber schon an 
anderer Stelle erwähnt worden, daß Deutschland nach wie vor 
Getreide-Importland geblieben ist und daher auch noch immer von 
der Konjunktur des Weltmarktes abhängig ist, nur daß heute der 
deutsche Getreidehandel kein entscheidendes Gegengewicht mehr 
gegen spekulative Ausschreitungen der anderen Weltmärkte geltend 
machen kann, wie es früher durch die Berliner Börse geschah. Es 
ist das zum mindesten ein recht zweifelhafter Vorzug, einseitig von 
den amerikanischen Börsen beeinflußt zu werden, als von Berlin. 
Heute kann der Berliner Handel seinen durch das früher blühende 
Termingeschäft erreichten Einfluß nicht mehr genügend ausnutzen 
und ist oft ziemlich hilflos den Bewegungen der ausländischen 
Börsen preisgegeben !). 

Wenn also jetzt die kleinen Marktplätze nicht mehr so direkt 
von der Berliner Notiz abhängig sind, so ist eben auch dort ganz 
und gar der amerikanische Kurszettel an die Stelle getreten, und 
es ist im höchsten Grade bedauerlich, wenn ein Land wie Deutsch- 
land so vollkommen sein bisher wichtiges Mitbestimmungsrecht an 
der internationalen Getreidepreisbildung aufgegeben hat. Man kann 
von einer verringerten Abhängigkeit vom Weltmarkt nicht reden, 
wenn z. B. auch die Zentralnotierungsstelle der preußischen Land- 
wirtschaftskammern täglich die amerikanischen und russischen Preis- 


i) Jahresbericht der Aeltesten 1897, S. 95 und 1898, S. 60. 
Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII. 10 


146 H. Ruesch, 


berichte, auf Deutschland umgerechnet, den Landwirten als Anhalt 
für die Berechnung der Preise brachte. Das ist jedenfalls sicher, 
für die Preisbildung können die an hunderten kleinen Provinzorten 
umgesetzten Mengen überhaupt keinen Einfluß haben. Die segens- 
reiche Wirkung wird vielmehr auf einem anderen Gebiet liegen. 
Die in den verschiedenen Bezirken notierten Preise geben dem 
verkaufenden Landwirt einen gewissen Anhalt für die Bewertung 
seiner Produkte, lokales Angebot und lokale Nachfrage treffen sich 
immer mehr auf dem Markt oder der kleinen Provinzbörse,. und die 
Landwirte können sich so mit Erfolg allmählich aus den Händen 
manches unreellen, kleinen Zwischenhändlers befreien. Schließlich 
braucht man sich hier auch nicht mehr so den täglichen Schwankungen 
des Weltmarktes hinzugeben, sondern man wird jetzt nur noch den 
allgemeinen Tendenzen in der Preisbewegung folgen, indem die 
lokalen Verhältnisse mitberücksichtigt werden, und damit werden 
die Terminhändler an der Zentralbörse die kolossale Verantwortung 
lost), durch die täglichen Variationen auch gleich für Tausende von 
anderen in der Provinz gemachten Abschlüssen den Preis festgesetzt 
zu haben. Ersetzen können diese Märkte aber eine Zentralbörse 
nie. Für die Preisbildung hat noch heute der totgeschlagene Ber- 
liner Handel eine weit größere Bedeutung als alle diese Frucht- 
märkte zusammen mit ihren relativ kleinen Verkaufsmengen. 

Viel wichtiger ist es jedoch, einmal einen zweiten Punkt zu 
untersuchen, ob sich nämlich wirklich die Getreidepreise infolge 
des Terminhandelsverbots gebessert haben, eine Meinung, die viel- 
fach von seiten der Landwirte vertreten wird. Es muß diese Preis- 
steigerung wohl einen anderen Grund haben, denn wir sahen, daß 
man einen Ersatz in dem handelsrechtlichen Lieferungsgeschäft ge- 
funden hat und sich in den Berliner Preisen immerhin noch die 
Lage des Weltmarktes widerspiegelt, wo der Terminhandel nach wie 
vor weiterblüht. Das Anziehen der Ceralienpreise ist daher auch 
keineswegs nur auf Deutschland beschränkt, es scheint vielmehr 
aus nachstehenden Tabellen ersichtlich, daß unserer Landwirtschaft 
diese günstige Konstellation nicht in dem Maße zugute gekommen 
ist, als wenn der Konnex mit dem Weltmarkt durch eine starke 
Terminbörse enger gewesen wäre. 

Stellt man die Jahresdurchschnittspreise der verschiedensten 
Plätze zusammen, so ergibt sich, daß nach Ueberwindung des nied- 
rigen Preisniveaus von 1893—1895 überall wieder ein Steigen der 
Preise eingesetzt hat und daß dabei gerade Deutschland namentlich 
für Weizen ganz wesentlich hinter den Auslandsplätzen zurück- 
geblieben ist, sicher nicht zum Vorteil der deutschen Landwirt- 
schaft (vergl. Tabelle 2). 

Der Preis des Roggens war im vorigen Jahr gegen 1896, als 


1) In der Börmenenquete wurde von Kaufleuten vielfach beklagt, daß sich in der 
Provinz alles nach den einzelnen Tagesnotizen der Berliner Börse richte. (Vergl. auch 
Wiedenfeld in Conrads Jahrbüchern, Bd. 9, S. 378.) 


147 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 


| 7 | | ‘ t | 4 C? (2 ‘ N 
s+ |voe+| sgt |o | s+ |erı+ rar siert] vrot | ssr+ | ar+ | rut | Aumaaalıs 
zZ | gl gzz 86ı | 831 | or | 1f £zz | tgi oı | -rr | oo | 
| | (9681 sre) 
zı+ tt + 1 + u+ Sz + a 1S + gt + z£ + gI + oz + sı + d L681 
bE + 6f + £E + lz + ÞE + Lz+| ZL+ 6+ te + LE + SS+ | ott E 8681 
ge+ erp WEF Lz + ti + z + E+) S+ Li+ 1 — € + 1 — E 6681 $ 
zt + Stj te bèz + Sı + t + ti + 9 + lı + 9 + t— | t — “ 0061 = 
Sz + 6z+| 8z+ zz + 91 + € + 91 + 8 + zı + S + L + g + H 1061 
lz + ıe + I£ + Sz + 5 9 + gz + iz + 11+ 11 + 1 + Z + X 8061 
Lz + SEE J gı+ €r + S1 + 11+ 91I + 6z + Sı + 9 + + + S + “səp  g06T 
Ez + of + bz + 91 + 6z + ot + zt + €z + zz + 9i + oz + gı + |— 1əp0 + 061 
6&6 + t8 + SE + S8 + ot + S+) +| P+ +t z + LI + 61 + 96ST STE 
! | | | ayauı EO6T 
FI 0702 8 OFT eI GSE |; 8GTE | 8A T6T ol IT 9 ezt Go6T 
goı tzi 1fr £I Ibi , 691 Sı ogi oti oti 891 bzi +061 
zıı | 6zı Szı z£ 4zi f1 6tı gg1 ee ofı zSı IQI E061 
zıı Szı eeı | tti x 921 191 glı 6z1 Seı 651 £91 Z061 
ou , Ezri | ofi Ibi gzı tzı 6b | Sgr | ofi 621 5Sı tgi TOGT 
Zıı 611 | ofi | Eh dzı bzi ¿bı £91 | Sfr ofi tbi zSı 0061 
121 er 68ı gtı 9.1 | zzı olı zgı Sfr tzı 151 SSi 6681 
611 tEı oti gtı gtı zti oiz goz zSı 191 £gı 981 8681 
16 gz1 gıı : tgi Soz 0$ı zbi 891 bi L681 
e8 76 LOT OZI gel ST sm rel sr 9er 9681 
£g 8&8 | zu toir Szı $ı to goi opi er co8T 
£g 101 Zoi £6 Szı 951 96 goi Lzı ge1 +681 
gor tıı ozI er Ibi 691 Zıı bzi £pi zSı E687 
ee tfr 891 6€1 991 881 €ti zbı bgi 941 3681 
| =e = — 
amwa | ur. a aayu amwa pmu |301 Bu | T'A '3 dag 
ay, E l d3 nu da] vsspo a 19 -sdunı | neuogq it 1470,77 3 ‘pupu 
un g pai | geUL “unq “på «gag nd ayer 
wsp -3J 190 Gl wep J101 ualA “al | adios wy Jıaq rig 
N ggg eSa rag] way swg | say [uopuoT|.suon| "I — 


(34 0007 od yW) 


UOoA ƏZ} Id OUAPIIYISIGA INJ 
uo33oy A AEA Ks EE E "= o]lOquL 


148 H. Ruesch, 


letztem Jahr vor dem Börsengesetz, in Berlin und Königsberg 
33 M. per Tonne höher, in Paris 34 M. und in Amsterdam sogar 
39 M. Für Weizen lassen sich bei der Weltbedeutung dieser Ge- 
treideart weit mehr Plätze zum Vergleich heranziehen. In derselben 
Zeit von 1896—1905 stieg hier der Preis in Berlin 19 M. und in 
Königsberg 17 M., dagegen in London 22 M., in Antwerpen 24 M., 
in Paris 34 M., in Wien 35 M., in New York 33 M. und in Amster- 
dam sogar 40 M. Nun konnte das Jahr 1905 allerdings zufällig 
ein derartiges Ergebnis zeitigen, aber man wird zu demselben 
Resultat kommen, wenn man ein anderes Jahr mit 1896 vergleicht. 
Durchweg sieht man ganz deutlich, daß Deutschland in der Preis- 
entwickelung hinter dem Auslande zurückgeblieben ist. Im Durch- 
schnitt der in Betracht kommenden 9 Jahre beträgt die Steigerung 
der Weizenpreise nämlich in Berlin 11,1 M. und in Königsberg 
12.6 M. gegenüber 13,3 M. in London, 17,5 M. in New York, 20,+ M. 
in Antwerpen, 23,5 M. in Amsterdam, 24,8 M. in Paris und 35,! M. 
in Wien. Bei Roggen beträgt die durchschnittliche Preissteigerung 
in Berlin 22 M. und in Königsberg 25,3 M.. dagegen in Amsterdam 
28,3 M. und in Paris 30,7 M. 

Den Grund für diese merkwürdige Tatsache wird man mit Recht 
in dem deutschen Börsengesetz zu suchen haben. Durch das Verbot 
des Börsenterminhandels hat sich der Spekulationshandel mit seinem 
Kapital vom Getreidegeschäft zurückgezogen, und bei dem Fehlen 
einer gesunden Arbitrage ist es unmöglich geworden, die örtlichen 
Preisunterschiede schnell zum Ausgleich zu bringen. Berlin vermag 
den jeweiligen Bewegungen des Weltmarktes nicht mehr rasch genug 
zu. folgen, das sah man schon gleich in den ersten Jahren 1897 
und 18981), wo z. B. 1897 der Weizenpreis im monatlichen Durch- 
schnitt vom Januar bis Dezember stieg: 


in Berlin um II, M} in Antwerpen um 31,6 M. 

» New York „ 158 » » Chicago » 3239 s» 

„ Amsterdam , 16,8 „ » Paris „598 » 
London m 109° s » Wien » 756 


E Liverpool „ 27,0 » n Budapest » 75,0 f (vgl. Tab. 3), 


und ebenso 1898, als infolge der amerikanischen Hausse der Weizen- 
preis vom Januar bis zum Mai in Chicago um 94 M., in New York 
um 80,5 M., in Liverpool um 65,2 M., in London um 61,8 M. bei 
californischer und 60,7 M. bei englischer Ware emporschnellte, 
während Berlin nur eine Steigerung von 45.9 aufzuweisen hatte, 
trotz des Zurückbleibens schon im Jahre vorher, so daß im Mai 
1898 die Preise von Berlin sogar um 8 M. hinter Londoner Notiz 
zurückblieben (vgl. Tabelle 9). 


1) Die Berliner Preise für die Jahre 1897—1899 allerdings sind nichtamtliche, 
sondern dem statistischen Amt der Stadt Berlin von den Aeltesten der Kaufmannschaft 
mitgereilte. Da die Preise aber von denselben Personen wie vorher an der offiziellen 
Produktenbörse ermittelt wurden, so wird man sie für die betr. 3 Jahre wohl ohne 
Bedenken zum Vergleich heranziehen können. 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 149 


Tabelle 3. Preissteigerung des Weizens im Jahre 1897. 
(Mark pro 1000 kg.) 


T | | 3 | 
Berlin) New | Amster- |Lon- Liver-| Ant- |Chi- Paris 


Mo- ER k 5 R Wien| Pest 
755 ork) dam don | pool |werpen| cago | Lief.- 9 k 
nat | g, p. 1. | Lief.- | Odessa |engl. | Cali- | Donau- | Lief.- | ware Theiß | Mittel 


Ware | | weiß | fornien | mittel | ware 


Jan. | 177,3 | 135,9| 133,8 147,9, 160,2 139,1 ` 118,9) 181,6] 154,1) 146,5 
Febr. | 171,6 | 127,3| 131,7 138,6) 148,8 137,9 | 113,7) 179,9| 150,2) 141,8 
März | 165,3 | 125,4 128,8 133,2| 143,8 131,7 112,2| 174,3] 149,0| 140,1 
April | 160,6 | 122,8) 124,0 132,1) 139,2 127,9 108,5) 176,4| 143,5, 135,4 
Mai 161,6 | 122,3| 125,3 | 130,7| 144,6 130,1 | 110,8) 186,8] 146,2, 138,1 
Juni | 160,0 | 115,9| 121,9 127,8| 142,2 129,5 107,2) 189,5) 155,8 147,5 
Juli 163,7 | 124,1) 121,2 133,5| 149,0 136,2 | 113,1] 195,1] 179,0| 173,3 
Aug. | 180,6 144,7 149,2 152,6) 173,2 175,5 132,6] 229,7| 224,5, 213,7 


Sept. | 184,7 | 153,6) 155,9 162,5) 189,1 | 175,8 | 143,9| 234,8! 223,8 212,5 


Okt. 182,3 | 148,01 150,4 159,2) 180,9 172,3 141,0) 234,7| 224,7) 217,7 

Nov. | 187,5 | 149,4 156,5 162,72) 186,1 172,0 | 146,0| 240,9| 227,4, 223,1 

Dez. | 188,7 | 151,7) 150,6 164,8| 187,2 |, 170,1 151,8) 241,4| 225,7| 221,5 
l -A Li = l- > 

Dez. 7 

mehr 


als [t Ina |+ 158 + 16,8 |+ 16,9|+ 27,0 | +31,0 + 32,9|+ 59,8| + 71,6|+ 75,0 
5 | 


Jan. | | | | 
| | | | | 


Bei Roggen lagen die Verhältnisse ähnlich, in Berlin vom Januar 
bis Dezember 1897 Steigen um 15,6 M., dagegen in Amsterdam um 
21,2 M., in Paris um 27,2 M., in Wien um 31,2 M. und in Pest um 
30,9 M. Vom Januar bis Mai 1898 stiegen dann die Roggenpreise 
in Odessa um 22,3 M., in Amsterdam um 32,1 M., in Paris um 
811 M., in Wien um 21,5 M. und in Pest um 25 M., dagegen in 
Berlin nur um 18,6 M. (vergl. Tabelle 4). Aus alledem wird schon ° 
ersichtlich, daß Berlin eine gleichmäßigere Preisbewegung aufzuweisen 
hat, und dies wird ganz besonders deutlich, wenn man die täglichen 
Preisschwankungen graphisch in einer Kurve beobachtet, wie Mancke 
es in seinen Tabellen von 1897—1902 getan hat!). Die Agrarier 
preisen es daher auch immer als Erfolg des Börsengesetzes, daß die 
Preisschwankungen in Deutschland seit 1897 bedeutend geringer 
gewesen sind als auf dem Weltmarkt, da die Landwirte so mit 
größerer Sicherheit auf eine gleichmäßige Verwertung ihrer Ernte 
rechnen können. Aber es ist doch sicher ein eigenartiger Vorteil 
für die Landwirtschaft, wenn dies auf Kosten der Preishöhe geschieht, 
wie soeben gezeigt wurde. 

Dazu kommt aber noch, daß infolge der verhältnismäßig ge- 
ringen Preissteigerung in Deutschland Berlin in den letzten Jahren 
auch vielfach der paritätisch niedrigst stehende Markt der Erde sein 
mußte. Es ergibt sich nämlich schon aus den Jahresdurchschnitts- 
zahlen, daß der Preisunterschied gegenüber dem Ausland, wie er 
durch den Zoll bedingt wäre, nicht mehr so zum Ausdruck kommt, 


1) Mancke, Die Bewertung des Weizens und Roggens. Berlin 1398, 1900/1901, 
1901,02. 


150 H. Ruesch, 


Tabelle 4. Preissteigerung von Roggen 1897 und 1898. 
(Mark pro 1000 kg.) 


` Amster- P . l Odessa 
Berlin Paris Wien Pest | > 
Manat f g. p. L| ARM Liefer. WarelPest. Boden Mittel A 
| 
1897 | | | 
Januar 129,0 93,1 121,1 | 124,8 | 113,9 
Februar 124,4 91,4 119,0 122,1 111,0 — 
März 121,6 | 86,9 110,8 119,2 109,0 -— 
April 118,9 | 87,3 IIIT | 114,6 | 104,8 — 
Mai 117,9 90,3 | 115,0 117,6 | 107,4 
Juni 115,7 84,5 | 117,0 122,6 110,4 = 
Juli 123,9 86,6 118,5 135,8 126,0 
August 138,2 | 100,5 144,1 159,5 147,4 _ 
September 142,5 106,2 145,9 155,7 144,3 = 
Oktober 140,9 109,7 143,0 157,4 142,6 — 
November 144,1 111,4 145,0 157,0 144,5 
Dezember 144,6 114,3 148,3 156,0 144,8 | — 
Steigerung| + 15.6 + 21,8 + 27,2 + 31,2 + 30,9 
1598 
Januar 143,9 115,1 142,1 156,7 146,1 |! 94,0 
Februar 145,6 116,8 140,6 161,1 148,0 | 98,0 
März 147,1 116,6 143,2 162,0 149,7 | 101% 
April 159,5 128,9 155,6 | 171,5 155,9 | 107,6 
Mai 162,5 | 147,2 | 173,8 | 178,2 171,1 | 116,3 
Steigerung| + 18,6 + 321 | + 311 | + 21,5 | + 25,0 |+ 22,3 


wie vor dem Inkrafttreten des Börsengesetzes. In Vergleich gezogen 
werden können dabei natürlich nur Plätze wie Amsterdam, Antwerpen, 
Liverpool und London. deren Preise nicht durch Zölle beeinflußt 
werden und die zugleich nicht soweit von Deutschland entfernt sind, 
als daß die Veränderung in den Frachtraten hier eine erhebliche 
Rolle spielen könnte. Die Qualitätsunterschiede bedingen allerdings 
für jeden Platz ein anderes Ergebnis, aber es kommt auch weniger 
auf die tatsächliche Höhe der Differenz zwischen Berlin und einem 
der genannten Märkte an, als auf das Steigen oder Fallen dieses 
Preisunterschiedes bei jedem einzelnen Platz gegenüber Berlin im 
Lauf der letzten 12 Jahre. Da ergibt sich denn, daß der Weizen- 
preis im Jahresdurchschnitt von 1894—1896 in Berlin 44,7 M. höher 
stand als in Amsterdam gegenüber dem Betrage von 32,1 M. im 
Durchschnitt der Jahre 1897 --1905. Bei Antwerpen ergeben sich 
vor dem Börsengesetz (1894—96) durchschnittlich 39,3 M. Differenz 
gegenüber Berlin, unter dem Börsengesetz von 1897- 1905 nur 
28,7 M., bei Liverpool sind es 32,3 M. vor und nur 24,4 M. nach 
1897, und gegenüber London sinkt die Höhe der Differenz von 
31,7 M. auf 29,8 M. bei englischem und von 26M. auf 20,7 M. bei 
amerikanischem Weizen (vergl. Tabelle 5). 

Für Roggen läßt sich nur Amsterdam mit Berlin vergleichen, 
und wir erhalten auch hier dasselbe Bild. Während von 1894—96 
der 35-Markzoll fast ganz zur Geltung kommt, durchschnittlich waren 
es 34.8 M., die Berlin höher notierte als Amsterdam, beträgt diese 


Der Berliner Getreidebandel unter dem deutschen Börsengesetz. 151 
Tabelle 5. Jahresdurchschnittspreise von Weizen in 
Berlin, verglichen mit denen von Amsterdam, Ant- 
werpen, Liverpool und London von 1894/1905. 
(Mark pro 1000 kg.) 


|1894|1895|/1896|1897|1898/1899|1900|1901|1902|1903|1904|1905 
Berlin (755 g. p. 1.) 136 143 | ı56| 174 | 186 155 |152 164 | 163 | 161 | 174 | 175 
Amsterdam (Odessa) 91 98 | ı112[137 | 146| 126 | ı27 |ı28 . |127| 141,152 
Antwerpen (Donau | N 
mittel) 96 103 | 118 | 150 | 152 | 135 | 135 | 130 | 129 | 133 | 140 | 142 
Liverpool (La Plata) ļ|102|111|125ļf . . |130| 134 | 134 | 140 | 140 | 147 | 148 
Lóni (engl. rot) 108 | 108 | 124 | 142 | 161 | 123 | 130 | 129 | 135 | 130 | 140 | 146 
Ron | (kaliforn.) |110| 115 |132| 157 | 167 | 137 | 137 | 132| 136 | 144|. |. 
Berlin mehr als: | le a Kerle i 
Amsterdam 45| 45| 44| 37 40| 29| 25| 36| . | 34| 33| 23 
Antwerpen 40| 40| 38| 24, 34| 20| 17| 34| 34 28| -34| 33 
Liverpool 34| 32| 31].  . 25| ı8| 30| 23| 2ı| 27| 27 
Doido engl. 28| 35| 32| 32 ag 32' 22| 35| 28| 31| 34| 29 
kaliforn. 26| 28| 24| 17| 19| ı8 15| 32| 27| ı7| . ; 
SFE A le > LE 
Berlin durchschnittlich 
mehr als: 
Amsterdam 44,7 32,1 
Antwerpen 39,3 28,7 
Liverpool 32,3 24,4 
englisch 31,7 29,8 
London! kaliforn, 26.0 20,7 


Zifer in der Zeit des deutschen Börsengesetzes nur noch 27,6 M. 
Nicht in einem einzigen Jahr ist seit 1897 wieder ein Preisunter- 
schied von 34,3, 36,6, 33,5 M. erreicht, wie er in den 3 Jahren von 
1894—96 zum Ausdruck kam (vergl. Tabelle 6). 


Tabelle 6. Roggenpreise von Berlin und Amsterdam 
von 1894/1905. 
(Mark pro 1000 kg.) 


Faks Berlin Amstérdam Berlin mehr als Amster- 
(712 g. p. 1.) (Asow) dam 

1894 117,8 83,5 34,3 

1895 119,8 83,2 36,6 34,8 
1896 118,8 85,3 33,5 

1897 130,1 96,9 33,2 | 

1898 146,3 119,0 27,3 

1899 146,0 121,8 24,7 

1900 142 6 117,2 25,4 

1901 140,7 110,2 30,5 27,6 
1902 144,2 112,1 32,1 | 

1903 132,3 111,9 20,4 

1904 135,1 108,1 27,0 

1905 151,9 123,7 28,2 | 


Diese Resultate sind aber um so merkwürdiger, als man aus 
einem anderen Grund viel eher hätte erwarten sollen, daß die deutschen 


152 H. Ruesch, 


Preise sich ziemlich genau um den Zollbetrag über dem Weltmarkt- 
preis bewegen würden. Durch Gesetz vom 14. April 1894 wurde 
nämlich der Identitätsnachweis für Getreide aufgehoben, und zwar 
in der ausgesprochenen Absicht, dadurch den Inlandspreis im öst- 
lichen Deutschland dem Weltmarktpreis plus Zoll zu nähern. Die 
Getreideproduktion übersteigt im Osten den Verbrauch, und es wurde 
daher früher lebhaft nach Skandinavien und England exportiert. 
Durch die immer mehr steigenden Zollsätze wurde das deutsche 
Getreide jedoch konkurrenzunfähig, so daß sich nun der Ueberschuß, 
der natürlich auch für die übrige Menge den Preis mitbestimmte, 
wegen der teureren Transportkosten nach dem deutschen Westen 
nur zu niedrigeren Preisen absetzen ließ. Der Zoll kam also dem 
Teile Deutschlands, für den er hauptsächlich bestimmt war, nicht 
voll zugute, während andererseits der industrielle Westen mit seinem 
Importbedürfnis oft über die Zollsätze hinaus belastet war. Mit 
dem Abschluß des deutsch-russischen Handelsvertrages wollte man 
nun der Landwirtschaft der östlichen Provinzen einige Entschädigung 
für die Erleichterung der Konkurrenz des russischen Getreides geben, 
und es wurde in dem oben genannten Gesetz bestimmt, daß bei 
Ausfuhr von Weizen, Roggen, Hafer, Gerste, Hülsenfrüchten, Raps 
und Rübsaat auf Antrag des Warenführers Einfuhrscheine erteilt 
werden können, die innerhalb 6 Monaten zur zollfreien Einfuhr einer 
gleichen Menge dieser Waren berechtigen. Da die Einfuhrscheine 
auch noch zur Zollzahlung für eine Reihe anderer Waren als der 
ausgeführten Getreidearten, so namentlich von Kolonialwaren in An- 
rechnung gebracht werden können, so entspricht der Preis derselben 
fast vollständig dem Zollbetrag, denn wir sahen schon, daß Deutsch- 
land mehr Getreide importiert als exportiert. Der deutsche Händler 
im Osten konnte jetzt wieder auf dem Weltmarkt konkurrieren, da 
der Erlös aus den Einfuhrscheinen, die vom importbedürftigen Westen 
gerne gekauft wurden, ihn in Stand setzte, das Getreide wieder wie 
früher nach England oder Skandinavien zu exportieren, ohne daß die 
Ware durch den Zoll verteuert war!). 

Rein theoretisch betrachtet, mußten also jetzt auch die Preise 
in den östlichen Provinzen auf den Weltmarktpreis plus Zoll steigen, 
denn es wird sicher so lange exportiert, bis dieser Stand erreicht 
ist. In der Praxis bestätigte sich diese Annahme. Während der 
Export fast ganz aufgehört hatte, stiegen diese Zahlen jetzt bald, 
und auch die Preise entwickelten sich in der vorausgesagten Weise. 
Wir sahen oben, wie von 1894 bis 1896 der Zoll in den deutschen 
Preisen ziemlich voll zur Geltung kam, wenn auch die Qualitäts- 
unterschiede die Höhe der Differenz bei den verschiedenen Plätzen 
nach oben oder unten verschoben. 

Dagegen ging aus den Jahresdurchschnittszahlen von 1897 bis 
1905, d. h. in der Zeit des Börsengesetzes, deutlich hervor, daß sich 


1) Vergl. hierüber auch die Artikel im Handwörterbuch der Staatswissenschaften 
und im Wörterbuch der Volkswirtschaft von Lexis und Rathgen. 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 153 


diese Differenz bedeutend verringert hat (vergl. Tabelle 5 und 6). 
Sollten nämlich die deutschen Preise mit dem Weltmarkt paritätisch 
stehen, so mußte auch eine Organisation vorhanden sein, die einen 
engen Konnex mit ausländischen Getreidemärkten ermöglichte. Da 
nun eine Terminbörse durch die Arbitrage die örtlichen und zeit- 
lichen Preisunterschiede schon so wie so auszugleichen sucht, so 
konnte sie dies in einem Lande mit hohen Schutzzöllen nur dann 
mit Erfolg erreichen, wenn bei zu niedrigem Inlandpreis eventuell 
effektive Ware hinausgeschafft werden konnte, und diese Möglich- 
keit war seit 1894 durch die Aufhebung des Identitätsnachweises 
gegeben. Durch das Verbot des Terminhandels machte man aber 
bald darauf diesen Erfolg wieder zu nichte, indem man die Ver- 
bindung mit dem Weltmarkt mit plumper Hand zerstörte, so daß 
sich jetzt wieder eine mehr oder minder starke Disparität gegen- 
über den Auslandspreisen zeigt). 

Unter solchen Verhältnissen ist die Wirkung des Gesetzes von 
1894 eine ganz andere, die niedrigeren Inlandspreise wirken jetzt 
wie eine Art Exportprämie. Wenn früher der Terminhandel zu 
Zeiten des Ueberflusses das Warenangebot aufnahm und es dann 
nach Bedarf allmählich in den Konsum überführte, kann heute die 
volkswirtschaftlich günstige Verteilung über Raum und Zeit bei dem 
Fehlen einer starken Terminbörse nicht mehr in dem Maße vom 
Handel geleistet werden, und so kommt es, daß bei der geringen 
Beteiligung des Kapitals und überhaupt bei der herrschenden Ge- 
schäftsunlust vielfach Getreide zum Export kommt, welches unter 
normalen Verhältnissen für den Inlandsbedarf hätte verwandt werden 
müssen. Nachher wird dann wieder zu vielfach höheren Preisen 
importiert, und es ergeben sich allein durch die unnötigen Trans- 
portkosten und Handelsspesen schon beträchtliche Verluste für 
unsere Volkswirtschaft, wozu aber vor allem die Schädigung der 
Landwirtschaft durch die zu niedrigen Preise hinzukommt. 

Es werden sich im folgenden noch mehrfach Beispiele dieser 
Disparität zeigen lassen, da hier die Gelegenheit genommen werden 
soll, einmal die Preisentwickelung der verschiedenen Jahre mit dem 
Getreideimport und -Export zu vergleichen, und zwar sind in den 
Tabellen 8—25 die monatlichen Ein- und Ausfuhrzahlen dem 
jeweiligen Preisunterschied Berlins mit dem Weltmarkt gegenüber- 
gestellt worden. Ausgegangen ist dabei von der Erwägung, daß 


1) Um diese Disparität der deutschen Getreidepreise zu erkennen, genügt es, 
Berlin mit dem Weltmarkt zu vergleichen, da jetzt fast ausschließlich deutsche Ware 
im Berliner Lieferungsgeschäft gehandelt wird. Gerade dieser Umstand bedeutet aber 
auch wieder einen Nachteil für die deutschen Getreideproduzenten, denn anerkannter- 
maßen steht die Qualität der heimischen Ernte derjenigen ausländischer Sorten nach. 
Wenn früher in den Berliner Terminnotierungen Abschlüsse in ausländischer Ware 
zahlreicb zum Ausdruck kamen, so mnßte damit auch ein günstiger Einfluß auf die 
Bewertung des deutschen Getreides ausgeübt werden, da man sich allgemein nach 
der Berliner Notiz richten. Heute fällt diese Einwirkung der besseren, ausländischen 
Qualitäten auf die Berliner Lieferungspreise weg. Die Hauptursache der Disparität 
bleibt allerdings doch der Mangel einer Arbitrage im Terminhandel. 


154 H. Ruesch, 


bei verhältnismäßig zu niedrigem Inlandpreis exportiert und um- 
gekehrt importiert werden wird. Beim Export wird man mit ziem- 
licher Sicherheit annehmen können, daß alsbald nach dem Ver- 
kaufsabschluß, spätestens wohl im nächsten Monat, die entsprechende 
Getreidemenge in der Ausfuhrstatistik erscheint, wie auch tatsäch- 
lich aus der folgenden Untersuchung diese Wechselwirkung zwischen 
Disparität und Export hervorgeht. Beim Import ist es jedoch un- 
möglich, einen Anhaltspunkt zu gewinnen, zu welchem Preise und 
wann die Ware eingekauft ist, zwischen Kaufabschluß und Ankunft 
der Ware werden oft mehrere Monate liegen, so daß es unstatthaft 
wäre, hier aus der Vergleichung der Preisdifferenz und dem zu- 
fällig in einem Monat angekommenen Getreideposten irgendwelche 
Schlüsse zu ziehen. Man muß hier schon längere Zeiträume be- 
trachten und wird auch dann nur ein bedingt richtiges Urteil fällen 
können. Jedenfalls kann man die Beobachtung machen, daß in 
Jahren mit ungewöhnlich starker Disparität auch der Import nach- 
zulassen pflegt. 

Gleich das Jahr 1897 hat den Einfluß des Terminhandelsverbots 
in unerfreulichem Maße gezeigt, indem die deutsche Landwirtschaft 
von der äußerst günstigen Konjunktur des Jahres sicher nicht den 
ihr sonst zugefallenen Vorteil gezogen hat. In den meisten Staaten 
Mitteleuropas, besonders in Oesterreich-Ungarn und Frankreich, war 
der Ernteausfall sehr gering, die Weltproduktion in Weizen betrug 
in diesem Jahr nur 571883000 dz gegenüber dem Durchschnitt der 
Jahre 1893/97 von 642690000 dz!). An der sich hieraus ergeben- 
den Preissteigerung nahm Deutschland aber nicht im vollen Maße 
teil, wie schon oben in Tabelle 3 und 4 gezeigt wurde. Besonders 
nach der Ernte trat eine starke Disparität ein, gegenüber London 
sank die Differenz auf 26 bis 28 M. bei sonst durchschnitt- 
lich 31,7 und gegenüber Antwerpen auf 5 bis 19 M. bei 39,3 M. 
vor dem Börsengesetz, während Liverpool im September sogar 4,4 M. 
höher als Berlin notierte (vergl. Tabelle 8). Die Folge war natür- 
lich ein steigender Export in diesen Monaten. Die deutsche Weizen- 
ernte war mit ihren 3263235 t allerdings nicht erheblich hinter dem 
Vorjahr zurückgeblieben, aber ein Export von 171380 t (etwa 100000 t 
mehr wie im Durchschnitt der 3 letzten Jahre) hätte bei normalerem 
Preisstand sicher nicht stattgefunden, zumal die Einfuhr ganz wesent- 
lich hinter den Vorjahren zurückblieb (vergl. Tabelle 7). So kam es, 
daß die verfügbaren Vorräte im Erntejahr 1897/98 auch ganz be- 
sonders gering waren (etwa 500000 t weniger als im Vorjahre) und 
auf den Kopf der Bevölkerung nur 73,4 kg kamen gegenüber 74,1, 
80,7, 82,3 und 83,5 kg in den Vorjahren (vergl. Tabelle 1). 

Dies Defizit mußte natürlich wieder gedeckt werden, und so 
weist das Jahr 1898 einen erheblich größeren Importüberschuß auf. 
Diese Einfuhren konnten aber bei der Hausse des Jahres nur zu 
bedeutend höheren Preisen bewerkstelligt werden, denn man wird 
annehmen können, daß ein großer Teil des eingeführten Weizens 


1) Getreide im Weltverkehr, S. 803. 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 


Tabelle 7. 


155 


Ein- und Ausfuhr von Weizen und Roggen 
in den freien Verkehr des deutschen Zollgebietes, 
nebst den Ernteergebnissen von 1894/1905. 


7 Import- 
Jahr Einfuhr Ausfuhr e ehui Ernte 
Weizen 
1894 1 153 837 79 191 1.074 646 3 336 369 
1895 1338 178 69911 1 268 267 3 171 844 
1896 1 652 705 75 214 1 577 491 3 419 928 
1897 1 179 521 171 380 1008 141 3 203 235 
1898 1477455 134 820 I 342 635 3 607 610 
1899 1 370 851 197 402 1 173 449 3 847 447 
1900 1 293 864 295 080 998 784 3 841 165 
1901 2 134 200 92 832 2 041 368 2 498 851 
1902 2 074 530 82 179 1992 351 3 900 396 
1903 1929 109 180 333 1748 776 3 555 064 
1904 2 02I 129 159 599 1 861 530 3 804 828 
1905 2 287 587 164 657 2 122 930 3 699 882 
Roggen 

1894 653 625 49712 603 913 8 343 033 
1895 964 802 35 992 928 810 7 724 902 
1896 1 030 670 38 322 992 348 8 534 037 
1897 856 832 106 435 750397 8 170511 
1898 914072 129 706 784 366 9032 175 
1899 561 251 123 458 437 793 8 675 792 
1900 893 333 76 092 817 241 8 550 659 
1901 863 706 92 063 771643 8 162 660 
1902 976 042 104 601 871 441 9 494 150 
1903 813 763 209 032 604 731 9 904 493 
1904 472435 356 710 115 725 10 060 762 
1905 572 186 319 942 252 244 9 606 827 


Tabelle 8/16. Einfuhr und Ausfuhr von Weizen nebst 
Preisen von Berlin, London, Antwerpen und Liverpool 
in den einzelnen Monaten von 1897/1905. 


Tabelle 8. 1897. 
(Tonnen A 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.) 
f Lon- | Ant- |Liver-| i s: 
Mo- Ein- | Aus- Poris don |werpen| pool BEE 
nat fuhr | fuhr ( L) (engl. | (Donau | (Kali- |Lon- | Ant- |Liver- 
| pee rot) mittel) forn.) | don werpen, pool 
Jan. 122628 3709 177,3 | 144,3 139,1 160,2 || 33,0 38,2 | 17, 
Febr. 48 991 | 3085| 171,6 | 134,0 | 137,9 148,8 || 37,6 33,7 22,8 
März 65 505 4814 165,3 | 130,9 131,7 143,8 34,4 | 33,6 | 21,5 
April Jı12 882 | ıroıı, 160,6 | 129,1 127,9 139,2 | 31,5 32,7 21,4 
Mai 88 367 | 12031 | 161,6 | 127,7 130,2 144.68 || 33,9 31,4 17,0 
Juni 87794 | 7695 160,0 | 123,4 129,5 142,2 | 36,6 30,5 17,8 
Juli 161 811 | 6402 | 163,7 | 130,8 136,2 149,0 | 33,4 27,5 14,7 
Aug. | 88616 | 9099| 180,5 | 148,2 | 175,5 | 173,2 | 32,4 5,1 7,4 
Septbr.| 65 429 15544 | 184,7 | 157,6 | 175,8 | 189,1 | 27,1 8,9 0— 44 
Oktbr. | 172456 | 2ı 126 | 182,8 | 156,2 172,3 180,9 | 26,1 10,0 1,4 
Novbr. | 87 380 37 037 | 187,5 | 159,5 172,0 186,1 28,0 15,5 1,4 
Dezbr. | 77 130 | 39 229 | 188,7 | 161,0 170,1 187,2 | 27,7 186 | 15 


156 H. Ruesch, 


den enormen Preis der ersten Monate hat zahlen müssen. Das leb- 
hafte Importbedürfnis bewirkte auch bessere Paritätsverhältnisse, 
wenn man den Ausnahmezustand im Mai und die Nachwirkung der 
Hausse auf kalifornischen Weizen außer Betracht läßt (vgl. Tabelle 9). 


Tabelle 9. Weizen. 


1898. 
(Tonnen à 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.) 
: | á PIE 
) ‚et |Liver- P 
Monat| Fin- | Aus- Berlin erdo” = 2 | pool*) Berlin melro BL 
fuhr fuhr (Kali- | > € (La London! Ant- |Liver- 
fornien) % | Plata) werpen pool 
Jan. 133 058 | 15924 | 186,3 179,0 | 167,2 — | 7,3 19,1 - 
Febr. | 54037 | 19344 191,2 181,7 | 167,8 — 95| 23,9 | — 
März | 52778/ 18243 | 195,5 | 177,4 | 160,8 | 173,3 18,1 | 34,7 | 22: 
April |133057| 6780 | 217,7 189,9 | 172,7 | 182,5 27,8 | 45,0 352 
Mai 109015 | 6018 | 232,2 240,2 | 203,7 | 232,0 |— 80 | 28,5 0,2 
Juni |117549) 9237 | 193,7 — 149,4 | 168,3 = 44,3 25,4 
Juli 196 904| 10662 | 186,2 158,9 | 128,7 | 142,5 27,3| 57,5 43.1 
Aug. [146781 | 748 | 157,0 146,3 | 124,8 — | 107| 32,2 = 
Sept. [115 914 | 7640 | 165,2 140,0 | 133,8 | — | 252| 31,4 _ 
Okt. 195 722| 13 343 | 170,1 150,5 | 142,8 - 19,6 27.3 = 
Nov. [126709| 16114 165,7 155,6 | 135,770 — 9,2 | 30,0 = 
Dez. 95 932 | 19768 | 164,8 — 137,1 — j — 27,7 — 


*) Von 1898 an für London kalifornischer Weizen und für Liverpool La Plata, 
d. h. dieselben Qualitäten wie in Tabelle 5, um einen Vergleich mit den Jahresdurch- 
schnittszahlen zu ermöglichen. Wegen der geringen Bedeutung der englischen Produktion 
schien ein Vergleich mit englischem Weizen unpraktisch. 
Dagegen ist im Jahre 1899 die Preisentwickelung für Deutschland 
wieder keine günstige. Der Weizenpreis sinkt in Berlin vom Januar 
bis Dezember um 18,7 M. gegenüber nur 13,6 in Antwerpen, 13,4 M. 
in London, 11,6 M. in New York und 7,4 in Liverpool (von März 
bis Dezember, in Berlin 11,4 M. in der gleichen Zeit, vgl. Tabelle 10). 


Tabelle 10. Weizen. 


1899. 
(Tonnen A 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.) 
Monat] Kia» Aus In london A TER. ie Ki 
i Fehr] fhr ia pool ILond Ant- |Liver- 
London 

| | Ss] werpen pool 
Jan. 138428 | ıı oll 162,9 152,9 | 142,5 — || 10,0 | 20,4 — 
Febr. | 76374| 6960| 159,5 | 149,6 | 137,9 — | 90 y 2,6 | — 
März 76565 | 16517 |; 155,6 | 147,4 134,6 | 131,7 ! 82 | 21,0 | 23,9 
April [160756 | 16756 156,3 143,1 137,3 | 131,1 | 13,2 I 25,0 25,2 
Mai 103 783 | 13 672) 159,1 141,7 134,5 | 131,6 || 17,4 24,6 | 27,5 
Juni 117 376| 10743 161,8 143,2 137,3 | 132,1 || 18,6 24,5 29,7 
Juli 189 791 | 11794 | 159,0 | 139,4 136,3 | 127,1 || 19,5 | 22,7 31,9 
Aug. 110 656 4886| 154,4 137,3 134,8 | 127,3 | 17,1 | 190 27,1 
Sept. 81409) 21210 | 151,8 137,2 136,3 130,0 14,6 15,5 21,8 
Okt. [166625 | 33 342) 152,6 | 141,8 139,8 | 134,2 || 10,8 12,8 | 18,4 
Nov. 75318! 27545" 145,8 | 139,8 | 131,1 | 127,3 | 65 14,7 17,9 


Dez. 73769, 22707, 144,2 | 139,5 | 128,9 | 124,3 ı 4,7 | 15,3 | 199 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 157 


So ergab sich denn auch am Ende des Jahres eine sehr starke 
Disparität Berlins, und der Export wies steigende Zahlen auf. Die 
Exportziffer von 197402 Tonnen wurde nur noch im folgenden Jahr 
übertroffen, denn schon vor der Ernte waren beträchtliche Mengen 
exportiert bei Differenzen von 20—25 M. gegenüber Antwerpen, 
24—30 M. gegenüber Liverpool und 8—19 M. gegenüber London. 
Der Hauptexport fand allerdings in den letzten 3 Monaten statt, 
wo Berlin nur 5—15 M. höher als London, 13—15 M. höher als 
Antwerpen und 18—20 M. höher als Liverpool notierte. Das ganze 
Jahr 1900 weist eine ähnliche Konstellation auf. Wir sahen schon 
aus der Tabelle 5, daß der Jahresdurchschnittspreis von Berlin ganz 
beträchtlich hinter dem Weltmarktpreis plus Zoll zurückblieb, indem 
die Differenz gegenüber Antwerpen nur 17 M., Liverpool 18 M., 
London 15 und 22 M. und Amsterdam 25 M. betrug, also noch 
stark hinter dem an und für sich schon niedrigen Durchschnitt der 
Jahre 1897—1905 von entsprechend 28,7, 24,4, 20,7, 29,8 und 32,1 M. 
zurückblieb. So wird denn 1900 die höchste Exportziffer von 295 080 t 
Weizen erreicht. Besonders in den ersten und dann wieder den 
letzten Monaten wird lebhaft ausgeführt, gerade in der Zeit, wo die 
Disparität auch am größten war (vgl. Tabelle 11). Bei den außer- 


Tabelle 11. Weizen. 


1900. 
(Tonnen A 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.) 


Ein- Aus-| 
fuhr fuhr | 


| | Berlin mehr als: 


Monat BerlinLondon 


pool! Ant- Liver- 


S 
© N 

a ‚Liver- 
ba 

kg London l 
= werpen poo 


| 
Jan. |153 708| 24 182 || 145,8 | 136,6 | 130,2 | 125,9 9,2 15,6 | 19,9 
Febr. 55 560| 22215 | 149,1 — 137,8 | 130,8 — 11,3 18,3 
März 58193 | 30905 | 148,0 137,6 | 136,0 | 129,2 10,4 12,0 18,8 
April |145 484 | 29255 || 148,9 | 136,7 | 134,6 | 129,5 12,2 14,3 | 19,4 


Mai 95 866| 26208 | 152,5 | 136,6 | 131,4 | 127.4 15,9 21,1 25,1 
Juni 116904 | ı1 158 | 156,8 134,5 136,0 | 133,5 22,3 | 20,8 23,3 
Juli 168 505 | 12586 || 156,8 138,6 | 139,0 | 137,2 | 18,2 17,8 19,6 


Aug. | 95414 | 5629| 155,7 | 139,9 | 132,9 | 137,4 15,8 22,8 | 18,3 


Sept. 82638 | 27855|| 155,6 143,7 | 138,5 | 140,3 11,9 17,1 15,3 
Okt. [153069 | 43 901 || 153,5 | 135,2 | 134,3 | 139,5 || 18,3 19,2 14,0 
Nov. 80725 | 32041, 149,5 136,3 | 133,6 | 137,6 | 13,2 | 15,9 11,9 
Dez. 87799, 29 146|| 149,5 135,3 | 132,7 | 136,0 14,2 16,8 13,5 


ordentlich niedrigen Preisen in Deutschland sahen wir diesmal auch 
wieder wie 1897 einen Rückgang des Imports, der Importüberschuß 
sinkt auf unter 1 Million Tonnen herab, wie es sonst von 1894 bis 
1905 nicht wieder vorgekommen ist (vgl. Tabelle 7). 

Im folgenden Jahr schien die Sache so ihren Fortgang nehmen 
zu wollen, bei Differenzen von nur 17—25 M. gegenüber dem Aus- 
land wurden noch ansehnliche Mengen exportiert, bis im Frühjahr 
aus den Saatenstandsberichten hervorging. daß infolge von Aus- 
winterung ein recht erhebliches Defizit der heimischen Ernte zu er- 
warten war. Der Berliner Preis stieg bis auf 45 M. höher als Ant- 


158 H. Ruesch, 


werpen und 37—-38 M. höher als Liverpool und London (vgl. Tab. 12). 
Das Importbedürfnis war um so stärker, als man vorher zu viel ex- 
portiert hatte. Der Importüberschuß betrug daher 2041 368 t. eine 
Zahl, die erst 1905 wieder erreicht ist. Bei besseren Preisen im 
Vorjahr wäre sicher mancher unwirtschaftliche Transport verhindert 
worden, besonders wenn der Terminhandel den Ueberschnß der Ernte 
für den künftigen Bedarf hätte in der Schwebe halten können. 


Tabelle 12. Weizen. 
1901. 
(Tonnen à 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.) 


Berlin mehr als: 


Mo- | Ein- | Aus- nor1in London 2 
nat | fuhr fuhr | < pool | Ant- |Liver- 


London 
|werpen| pool 


Jan. 131299 | 19834 | 154,5 136,3 | 134,6 | 138,0 | 18,2 19,9 16,5 
Febr. 65 350| 15421 | 158,3 133,1 131,9 | 139,0 || 25,2 26,4 19,3 
März 91 867 | 15 817 || 159,3 134,0 | 134,6 | 137,8 25,3 24,7 21,5 
April |162445 | 23 704 || 167,4 133,8 137,7 | 135,3 | 34,1 29.7 32,1 
Mai 146656 | 6099 | 174,3 135,9 | 137,2 | 137,0 | 38,4 371 | 378 


Juni ]203 042 932 | 169,5 |, 133,8 | 134,5 | 135,2 35,7 35,0 34,8 
Juli 266 487 579 || 164,0 131,5 | 132,7 | 129,0 | 32,5 31,3 35,0 
Aug. |207 322 900 N 166,3 | 131,7 | 129,5 | 129,9 34,6 36,8 | 36,4 
Sept. |223 988 848 | 159,8 128,2 | 122,2 | 128,4 31,6 37,6 31,4 
Okt. 273675] 1550 || 155,8 125,7 | 118,4 — 30,1 | 37,4 | ra 
Nov. 188 365 | 4441 || 163,3 129,4 | 122,4 — | 33759 | 40,9 | = 
Dez. |173705| 2706 || 171,3 134,3 |ı2549| - || 37,0 454 | 


Auch 1902 blieben die Paritätsverhältnisse im allgemeinen besser, 
bis nach der Ernte wieder ein Preisstand einsetzte, der einen Export 
lohnend machte (vgl. Tabelle 13). 


Tabelle 13. Weizen. 


1902. 
(Tonnen A 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.) 
a ® 
Mo- | Ein- | Aus- ? > à |Liver- Beriin miehr als; 
Berlin London) a2 

nat | fuhr fuhr er pool wani Ant- | Liver- 
SP VER Re >| [0n SM werpen| pool. 
Jan. 150 391 | 3009 | 171,5 135,7 | 129,7 35,8 41,8 
Febr. [115 447| 13517 || 170,8 135,2 | 131,9 i 35,6 38,9 . 
März |121849| 2257 169,0 135,8 | 132,0 | 139,8 33,2 37,0 29,7 
April |167071 1716 | 167,0 134,2 | 131,6 | 140,5 32,8 35,4 26,5 
Mai 178709 1549 170,3 138,8 | 132,3 | 142,7 31,5 38,0 27,6 
Juni [205 516 877 || 166,8 | 135,7 | 129,4 | 137,9 31,1 | 37,4 28,9 
Juli 222 220 381 , 167,3 137,2 | ı28,7| 138,7 | 30,1 38,6 28,6 
Aug. 180 449 471 || 158,8 134,8 | 126,6 É 23,5 Ia Ser 
Sept. [165 598. 5054| 155,0 135,8 | 124,6 — 19,2 30,4 = 
Okt. 236 009 20 132 | 151,5 137,8 | 124,3| 141,4 13,7 27,2 10,1. 
Nov. [204511 24329 | 152,8 137,4 | 126,6 | 137,5 15,4 26,2 15,3 


Dez. 126 760 20289 |, 157,2 139,2 | 125,9 ` 18,0 31,3 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 159 
Tabelle 14. Weizen. 
1903. 
(Tonnen à 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.) 
- - e - — 
i | i A Berlin mehr als: 
Mo) ‚Ein Aus: In. iin Landon me Liper- ; 
nat | fuhr | fuhr 4o pool Ant- |Liver- 
Me #2: ae = erden werpen| pool 
— =L m nr en 
Jan. [174518 | 13 294 — 143,7 | 130,2 | — — — = 
Febr. | 95 803| 14343 | 156,2 143,3 | 134,2 | 148,4 12,9 22,0 7,8 
März 82 651| 15524 | 155,6 140,9 | 133,9 | 142,6 | 14,7 21,7 13,0 
April |124 154, 14.005 158,2 141,9 | 133,2 | 139,6 16,3 25,0 18,6 
Mai |169574| 16734 | 165,5 | 142,4 | 135,5 | 139,8 | 23,1 30,0 25,7 
Juni |180075 | 9560 || 166,2 145,0 | 133,8 | 139,9 21,2 32,4 26,3 
Juli |208834 | 4607 | 169,1 _ 133,1 | 139,5 — 36,0 29,6 
Aug. [147 718| 3959 || 163,9 151,5 | 134,6 | 140,3 12,4 29,3 23,6 
Sept. |134 864 | 17 660 || 158,8 — 132,3 | 138,2 — 26,5 20,8 
Okt. [217491 | 26060 || 157,0 — 131,6 | 136,7 — 25,4 20,3 
Nov. f21181r1| 18414 | 159,3 145,2 | 131,6 | 134,7 14,1 27,1 24,6 
Dez. [181617 | 26174 || 162,7 — 131,7 | 135,1 — 31,0 | 27,6 
Diese ungünstigen Preise setzten sich 1903 fort, so daß die 


Ausfuhr diesmal wieder auf 180333 t stieg, obgleich die Ernte um 
ca. 350000 t hinter der vorjährigen zurückblieb. Wenn hier zu 
Preisen, die sich in London auf 132—137 M. für englischen und 
143—145 M. für kalifornischen Weizen, in Liverpool auf 135—148 M. 
und in Antwerpen auf 131—134 M. stellten, expotiert wurde, so 
war der Weltmarktpreis im folgenden Jahre 1904 bedeutend höher; 
der Jahresdurchschnittspreis war gegenüber dem Vorjahre höher in 
Amsterdam um 14 M., in London um 10 M., in Liverpool und 
Antwerpen um 7 M. und in New York sogar um 38 M., so daß 
sich der notwendig gewordenen Mehrimport nur zu relativ hohen 
Preisen bewerkstelligen ließ. Die Parität war daher besser, dieselbe 
verschwand aber sofort wieder nach der Ernte, um damit auch 
gleich den Export neu aufleben zu lassen (vgl. Tabelle 15). 


Tabelle 15. Weizen. 


1904. 


(Tonnen à 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.) 


= : 
Mist Bis a . Er Berlin mehr als: 
nat fuhr jahr Berlin London je 5 pool Anto DEivar 
K = London serpen] pool 
N | 

Jan. 118639, 8152 | 163,8 — 132,8 | 135,7 — 30,4 27,5 
Febr. | 130 172 | 14 591 | 169,6 146,7 | 138,9 | 138,5 22,9 30,7 31,1 
März |132590| 14685 | 173,6 145,3 | 140,6 | 144,9 28,3 | 33,0 28,7 
April |167 508| 8286 | 174,4 | 140,8 | 135,9 | 143,2 33,6 38,5 31,2 
Mai 146 267 | 5937 | 175,7 _ 133,9 | 139,8 | — | 418 36,4 
Juni [218677 | 3286 \ 173,8 | 133,7 | 133,7 | 137,1 39,6 39,6 36,2 
Juli 228488| 1480 | 173,3 —_ 135,71 1428 | — 37,6 31,0 
Aug. [182785 | 4834 | 178,9 = 143,5 | 154,3 — 35,4 24,6 
Sept 136 808 | 20065 178,5 — | 147,0 | 159,7 _ 31,3 18,6 
Okt. }173515 24462 | 177,7 — 145,6 | 15938 I — 32,1 18,4 
Nov. [187 = 25 849 | 176,3 | || r551 | — 30,9 | 21,2 
Dez. [198 397 | 27973 | 178,5 | 152,6 | 145,4 | 155,0 || 25,9 33,1 23,5 


160 H. Ruesch, 


Im Anfang des Jahres 1905 lagen die Verhältnisse noch ähnlich. 
Berlins Weizenpreis stand etwa 18—25 M. höher als der von London !), 
30—33 M. als der von Antwerpen und 20—26 M. als der von Liverpool, 
ein Preisstand, bei dem noch über 80000 t in den ersten Monaten 
exportiert wurden (vgl. Tabelle 16). Die Parität wurde aber bald her- 
gestellt, als nach Bekanntwerden des Termins für das Inkrafttreten 
des neuen Zolltarifs eine rasch wachsende Einfuhr einsetzte. Gegen- 
über London!) stieg die Differenz auf 28—39 M. gegenüber Ant- 
werpen auf 29—43 M. und bei Liverpool auf 28—33 M., also 
wesentlich höher als am Anfang des Jahres. 


Tabelle 16. Weizen. 


1905. 
(Tonnen A 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.) 
| | T | I Berlin mehr als: 
Mo-| Ein- Aus- Berlialtondon! za |Liver- 5 
nat f fuhr fuhr <5 | pool |L,ondon Ant- |Liver- 
| e ‚werpen| pool 
I | 
Jan. 141401 | 12751 | 177,0 = 144,0 | 153,2 | — 33,0 | 23,8 
Febr. | 110953 | 17 273 176,5 — 146,2 | 150,1 — 30,3 20,4 
März |106574 | 22233' 173,7 149,5 | 145,0 | 151,3 | 24,2 28,7 22,4 
April | 164 336 | 15044 171,9 | 143,9 | 142,2 | 145,9 | 28,0 29,7 | 26,0 
Mai 202 059 | 16 193 175,0 145,4 143,9 | 143,7 | 29.6 TU H GEN 31,8 
Juni 176 848| 9292 | 173,9 145,5 | 144,1 | 146,4 | 284 29,5 | 27,5 
Juli 219000| 6398 | 173,1 = 142,3 | 147,9 | — 30,8 25,2 
Aug. |201320| b104 | 1696 |! — 140,0 | 144,2 | — 29,6 | 25,4 
Sept. | 186 629 | 17 381 || 170,0 Ike» ] 137,8 | 142,2 | — j| 322 27,8 
Okt. 270 589 | 18 329 || 174,3 — 139,6 | 146,3 — 34,7 28,0 
Nov. |260 195 | ı2 269 | 1798 | — 143,1 | 1523 | — 36,2 27,0 
Dez. 247 083 | 11 390 | 183,1 I 140,2 | 150,1 | — 42,9 33,0 


Zieht man das Resultat aus den ganzen Beobachtungen, so er- 
gibt sich im Laufe der letzten 9 Jahre durchweg eine mehr oder 
minder starke Disparität des deutschen Weizens gegenüber dem 
ausländischen, die sich durch schlechtere Qualität keineswegs allein 
erklären läßt, da von 1894—1896 die Differenz, wie wir aus Tabelle 5 
sahen, eine dem Zoll bedeutend mehr entsprechende war. Und selbst 
ein größerer Export, der regelmäßig in Zeiten besonders niedriger 
Preise einsetzte, konnte die früher behauptete Parität nicht wieder- 
herstellen. Dieser Export war vielmehr oft im höchsten Grade 
unwirtschaftlich, es mußte dafür nachher wieder desto mehr importiert 
werden und zwar dann natürlich zu vollen Weltmarktpreisen. Das 
Ergebnis ist also geringe Aufnahmefähigkeit des Marktes in den 
Monaten des Ueberflusses nach der Ernte und daher andauernd niedrige 
Bewertung der heimischen Ware. Es soll nur beiläufig erwähnt 
werden, daß sich ohne die Möglichkeit einer Ausfuhr durch die 
Aufhebung des Identitätsnachweises die deutschen Preise vielleicht 
noch ungünstiger gestaltet hätten. 


1) Bei London ist hier englischer Weizen berücksichtigt, da Notizen für kali- 
fornische Ware nur in 4 Monaten vorliegen. 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 161 


Die Sache liegt aber nicht nur beim Weizen in der eben ange- 
führten Weise, sondern man kommt auch bei einer Betrachtung der 
Roggenpreise zu einem ähnlichen Ergebnis. Auch hier setzt gleich 
mit dem Jahre 1897 eine Verschlechterung der Paritätsverhältnisse 
ein, wie schon bei Vergleichung der Jahresdurchschnittszahlen vor- 
her näher erörtert wurde, so daß zum ersten Male mehr als 100000 t 
Roggen exportiert wurden, d. h. fast 3mal soviel wie im Durch- 
schnitt der Vorjahre, trotz des Ausfalls von fast 400 000 t bei der 
Ernte (vgl. Tabelle 7). Bei der durch die allgemeine mitteleuro- 
päische Mißernte veranlaßten Preissteigerung konnte Deutschland 
nicht genügend folgen, von der letzten Hälfte des Jahres bis zur 
Mitte des folgenden standen die Budapester und Pariser Roggen- 
preise sogar höher als Berlin (vgl. Tabelle 4 und 17), während 


Tabelle 17/25. Monatliche Einfuhr und Ausfuhr von 
Roggen in den freien Verkehr des deutschen 
Zollgebiets, nebst Durchschnittspreisen verschiedener 

Plätze von 1897/1905. 


Tabelle 17. 1897. 


(Tonnen à 1000 kg. (Mark pro 1000 kg.) 
N rI a | | i ehr als: 
Mo-| Ein- Aus: Berlino g$ Budae Paris e g ils 
nat | fuhr | fuhr |0128 |222, pest | (Lief.- Buda- Y 
p- 1.) (852| (Mittel) | Ware) || ster- | pest FU 
Ser Ei sc dam | Mar m 
ji | | 
Jan. [49456 2039| 129,0 | 93,1 | 113,9 | r211 | 35,9 15,1 7,9 
Febr. | 30696 | 2806 | 124,4 | 91,4 | 111,0 | 119,0 33,0 13,4 5,4 
März | 65106 | 4171 | 121,6 86,9 | 109,0 110,8 34,7 12,6 10,8 
April | 65 425 6770 | 118,9 87,3 | 104,8 111,7 31,6 14,1 73 
Mai 80017 | 5812 || 117,9 90,3 | 107,4 | 115,0 27,6 10,5 2,9 
Juni | 93210 | 6013 | 115,7 | 84,5 | 110,4 | 117,0 31,2 53| — 183 
Juli | 95560 | 11387 | 123,9 | 86,6 | 126,0 118,5 37,5 |— 21 5,4 
Aug. | 77222 | 12 732 | 138,2 100,5 147,4 144,1 37,7 — 92|— 5,9 
Sept. | 81929 | 12 883 | 142,5 | 106,2 | 144,3 145,9 36,3 |— 18| — 3,4 
Okt. | 79629 | 10795 | 140,9 | 109,7 | 142,8 | 143,0 31,2 |— 117|— 21 
Nov. | 70662 | 13524 | 144,1 | 111,4 | 144,5 | 1450 | 32,3 |— 04 |— 0,9 
Dez. | 68270 | 17503 | 144,6 | 114.3 | 144,8 148,3 308 |— 02|— 3,7 


Berlin sonst stets bedeutend höher notiert als die beiden genannten 
Plätze. Auch Roggen mußte daher im Frühjahr 1898 zu be- 
deutend gestiegenen Preisen wieder eingekauft werden, ganz ebenso, 
wie es beim Weizen der Fall war. Während exportiert war bei 
Preisen von 87—114 M. in Amsterdam, stellte sich jetzt der Preis 
dort auf 106—147 M., und in Budapest herrschten während der 
hauptsächlichsten Importmonate Preise ven 146—171 M. gegenüber 
126—145 M. vom Juli bis Dezember 1897. Die Disparität gegen- 
über Amsterdam hatte sich übrigens noch verschärft. Abgesehen 
davon, daß Berlin in der Aufwärtsbewegung der Preise bis zum 
Mai nicht genügend hatte folgen können, die Differenz sank auf 
15,3 M. gegenüber Amsterdam, verschlechterten sich die Verhältnisse 
Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII). 11 


162 H. Ruesch, 


besonders nach der Ernte um 2—3 M., und so erreichten wir auch 
einen Export von 129 706 t, die höchste Zahl bis 1903. 


Tabelle 18. Roggen. 


1898. 
(Tonnen à 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.) 
l F, I Fa m | g | $ Berlin mehr als: 
Mo- | Ein- Aus- H = E Buda- x Am- | 
nat | fuhr | fuhr [berlin 5° pest EEES sten: Pu ce | Paris 
ed I = lles2.0 | dam | P | 
= 2 ES ; = | = 
Jan. 62 607 7654) 143,9 | 115,1 | 146,1 | 142,1 | 28,8 — 2,2 1,8 
Febr. 42 247 | 10729 | 145,6 | 116,8 | 148,9 140,6 | 28,8 — 3,3 5,0 
März 45 269 11326 | 147,3 116,6 | 149,7 | 143,2 30,5 — 2,6 3,2 
April 72487, 11063 | 159,5 | 128,9 | 155,9 | 155,6 30,6 3,6 3,9 
Mai 71491 9 597 | 162,5 | 147,2 | 171,1 | 173,2 15,3 — 36 — 10,7 
Juni 125318) 2381 137,5 | 108,0 | 147,5 149,5 29,5 — 10,0: — 12,0 
Juli 169 691 2215; 138,3 | 107,9 | 130,0 129,3 | 30,4 8,3 9,0 
Aug. 98 296 7973|, 133,5 | 106,2 | 119,6 97,8 27,3 13,9 | 35,9 
Sept. 54756| 15199 139,9 | 110,3 | 120,6 109,8 | 29,6 | 19,3 30,1 
Okt. 67 185' 15100) 148,4 | 121,7 | 1325 117,4 26,7 | 15,9 31,0 
Nov. 60317 | 18600 | 148,9 | 122,7 | 139,7 117,8 || 26,2 9,2 31,1 
Dez. 44409 | 17869 | 150,5 | 126,4 | 140,4 | 118,2 | 24,1 | 10,1 32,3 


Einen sehr starken Rückgang des Importüberschusses um etwa 
350 000 t trotz seines Ernteausfalls von ungefähr der gleichen Menge 
hat das Jahr 1899 aufzuweisen, was sicher seinen Grund hat in den 
außerordentlich niedrigen Roggenpreisen des Jahres, besonders in 
der ersten Hälfte. Im Durchschnitt war der Berliner Roggenpreis 
nur 24,7 M. höher als der in Amsterdam, eine Differenz die nur 
noch 1903 mit 20,4 M. an Niedrigkeit übertroffen wurde (vgl. Tab. 6). 
So sind in den ersten Monaten die Ausfuhrzahlen auch am höchsten 


Tabelle 19. Roggen. 


1899. 
(Tonnen à 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.) 
| Be N li, Berlin mehr als: 
Mo- | Ein- | Aus- Berlin! ŻE Riga |Odessa| m- | 
nat | fuhr | fuhr go (71/72 kg per hl) | ster- | Riga |Odessa 
I es SS KESMA | dam | 


'i | [i 5 I 
Jan, 43474 | 14984 | 149,3 | 126,8, 112,7 104,7 22,5 36,6 44,6 


Febr. | 25 361 8941 | 145,7 | 126,1 | 113,4 104,6 19,6 32,3 41,1 
März 29553 | 14011 141,4 | 124,9 | 109,7 | 104,4 || 16,5 31,7 37,0 
Aprıl | 22677 | 17037 | 144,5 | 124,8 | 110,1 | 104,6 19,7 34,4 39,9 
Mai 44673 | 12584 147,2 | 125,9 | 109,2 | 105,5 22,2 | 38,0 41,7 


Juni 65815 | 8636 148,7 | 117,0 | 109,5 | 106,3 | 31,7 | 392 | 42,4 
Juli 74414 6381 | 145,8 | 116,8 | 109,2 103,6 ' 29,0 | 30, 42,2 
Aug. | 44405 | 6265 | 144,0 | 116,4 | 104,7 98,7 27,6 39,3 45,3 
Sept. | 43407 | 9656 | 148,8 | 105,2 101,0 28,7 43,6 47,8 
Okt. 50 817 8000 | 149,9 | 122,1 | 103,2 102,1 || 27,8 46,7 47,8 
Nov. 61215 9 262 142,9 | 117,5 | 102,8 97,4 || 25,4 40,6 45,5 
Dez. 55 441 7 702 | 143,5 | 117,6 98,0 96,6 | 25,9 45,5 46,9 


- 
N 
o 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 163 


bei äußerst schleppendem Import, im April bleibt der Export mit 
17037 t nur wenig hinter den importierten 22677 t zurück. Daß 
der Export nicht weit größere Dimensionen annahm, liegt wohl 
einzig und allein an den schon an und für sich geringen inländischen 
Vorräten, denn pro Kopf waren im Erntejahr 1899/1900 nur 144,6 kg 
verfügbar gegenüber 149,9 kg im Durchschnitt der letzten 12 Jahre. 
Konkurrenzfähig mußte die deutsche Ware sonst sicher sein bei 
zeitweise 32 M. Differenz gegen Riga und 37—40 M. gegenüber 
Odessa. Sank dieselbe im März bei Amsterdam doch sogar auf 
16,5 M. herab (vgl. Tabelle 19). 

Bei den erschöpften Beständen war im folgenden Jahr natürlich 
ein erhebliches Importbedürfnis vorhanden, der Export blieb mit 
16092 t weit hinter den Vorjahren zurück. Trotzdem erhielt auch 
diesmal der deutsche Roggen nicht einen dem Weltmarkt paritätischen 
Preis, obschon sich die Sachlage gegen Ende des Jahres infolge 
des stark hervortretenden Bedarfs etwas besserte. Im April ge- 
langten bei nur 17 M. Differenz gegenüber Amsterdam noch immer 
15220 t zum Export (vgl. Tabelle 20). 


Tabelle 20. Roggen. 


T 
Jan. | 47573) 4788 | 141,2 117,3 | 95,3 | 945 | 23,9 45,9 | 46,7 
Febr. | 30662 4267 | 140,1 | 118,6 98,7 98,4 | 21,5 | 414 41,7 
März | 37531) 5676 | 139,8 123,0 99,6 96,8 16,6 49,0 42,8 
April | 38080 15 220 | 143,0 | 126,0 | 101,1 | 98,9 | 17,0 41,9 44,1 
Mai 54427 | 8883 151,3 | 127,4 | 101,9 100,1 | 23,9 49,4 | 51,2 
Juni 88 329) 4540 148,8 | 119,5 102,7 | 100,7 29,3 ' 461 |, 481 


1900. 
(Tonnen à 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.) 
x | = 5 | Berlin mehr als: 
o- | Ein- Aus- | < r Am- | 
Berlin «= Riga [Odessa m | 
nat | fuhr fuhr N Eo 3 | ster- | Riga | Odessa 
= 2j| | Sy | dam | 
| 


Juli [104333 | 1559 || 144,8 | 117,9) 97,4 | 955 | 268 | 46,9 48,8 

Aug. [120011 | 3405 | 142,1 111,5 | 94,7 | 90,8 || 30,6 474 | 518 

Sept. | 92881 | 5195 | 144,2 | 112,4 |" 99,4 95,2 | 31,8 | 44,8 | 49,0 

Okt. |117024 | 5331 141,3 | 110,5 | 92,7 88,7 | 30,8 48,6 | 52,6 

Nov. | 8100| 7826 | 137,5 | 109,6 | 90,3 | 89,7 || 27,9 | 47,2 | 478 

Der. 76382| 9402 | 137,5 | 112,6 | 92,1 | 92,2 24,9. 45,4 | 45,3 
I 


l 


Das Jahr 1901 steht beim Roggen ebenso wie beim Weizen 
unter dem Einfluß der Auswinterung, wenn auch der tatsächliche 
Fehlbetrag in der Ernte nur 400000 t beträgt. Berlin notiert durch- 
schnittlich 30,5 M. höher als Amsterdam, was aber gegenüber 
34. M. vor dem Börsengesetz immer noch niedrig ist. Da das 
Defizit durch die Einfuhr noch nicht gedeckt ist, steht auch das 
Jabr 1902 durchaus unter dem Zeichen eines starken Imports, und 
di: Differenz gegenüber Amsterdam steigt sogar auf 32,1 M., so 
daß der Export naturgemäß zurücktrat. 

11* 


164 H. Ruesch, 


Tabelle 21. Roggen. 
1901. 
er a 1000 sn mE pro 1000 kg.) 


Berlin mehr als: 


| | 
3 | Riga Odessa, Am- 
TS 


` 
Berlin £ 
| £ 
g l | 2. 


Mo- Ein- | Aus- 


nat | fuhr | fuhr ster- | Riga Odessa 


dam 


Jan. 49278, 6449 141,8 | 112,7 | 93,5 93,0 29,1 48,3 48,8 
Febr. 36 887| 5211 142,8 | 112,7 | 93,7 98,8 30,1 49,1 44,0 


März | 55465 | 10137 143,3 | 113,4 | 95,8 | 100,3 29.9 47,5 43,0 


Nov. 83 603 | 9249 


138,5 | 107,2 | 96,6 84,7 31,8 41,9 53,8 
Dez. 83 131 7916 


143,3 | 109,4 | 101,0 88.8 33,9 42,3 54,5 


April 56294 | 15704 144,1 | 113,7 95,7 | 95,9 | 30, | 48,4 48,2 
Mai 74085| 7970| 144,0 | 112,0! 96,8 | 95,4 32,0 | 47,2 48,6 
Juni 101 161 1755 | 140,1 | 109,1 | 93,8 | 91, || 31,0 46,8 | 48,7 
Juli 116536| 3209 | 140,0 | 109,9 94w | 89,4 || 30,1 46,0 50,6 
Aug. | 65984 | 5026 | 141,3 |1111 959 | 87,7 1 302 | 754 | 53,6 
Sept. 7908| 8236 | 135,0 | 106,9 | Mm 87,9 | 281 | 379 47,1 
Okt. 83 376, tı 201 || 134,5 | 104,0 96,1 84,1 | 30,5 38,4 50,4 
[j 


Tabelle 22. Roggen. 


1902. 
(Tonnen à 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.) 
j An I il 5 ig | E | Berlin mehr als: 
Mo- | Ein- | Aus- Berlin) 23 Riga Odessa Am- 
nat | fuhr | fuhr | Eo | | ster- | Riga Odessa 
a | | dam | _ __| 


| 
Jan. 75539) 5109 | 144,3 | 111,8 | 101,8 ‚92,1 | 32,5 42,5 | 52,2 
Febr. | 53375| 4020 | 148,5 | 114,2 | 105,1 | 95,7 | 343 | 43,4 | 52,8 


März 49582| 6025 | 147,0 | 116,3 | 107,8 | 95,4 30,7 39,2 | 51,6 
April | 48645 | 8324 145,5 = 106,8 | 96,3 — j| 387 | 49,2 
Mai 65 941| 7530| 149,5 P 106,6 | 98,1 š | 42,9 | 514 
Juni 85450| 3897 | 146,3 | 115,3 | 107,1 | 98,4 || 31,0 39,2 47,9 
Juli 93389| 2445 | 150,8 | 112,2 | 103,0 | 94,4 38,6 47,8 56,4 
Aug. 74955| 2971 . 140,8 5 102,7°.| SE I = 38,1 52,7 
Sept. 77 263 | 13894 | 140,9 _ foı,s | 87,1 _ 39,3 53,8 
Okt. 132539 | 14 917 140,0 | 109,6 | 100,1 | 87,2 30,4 39,9 52,8 
Nov. 141 502| 19359 138,8 | 107,2 | 101,8 | 87,9: | 36 | 370 50,9 
Dez. 77863 | 16.110 137,9 | 110,4 | 100,8 | 89,6 | 27,5 7,1 48,3 


Erst im Jahre 1903 trat wieder eine außerordentlich starke 
Disparität zu Ungunsten Deutschlands ein. Berlin notierte nur 
mehr 20,4 M. im Durchschnitt höher als Amsterdam, im November 
und Dezember waren es sogar nur noch 13 und 14 M., gegenüber 
Riga und Odessa betrug die Differenz am Anfang des Jahres 28 
und 42 M. (vgl. Tabelle 23). Der Export nahm daher auch am 
Anfang und Ende des Jahres erhebliche Dimensionen an, zum ersten- 
mal wurden über 200000 t exportiert. Bei der schon ungewöhnlich 
hohen Ernte von 1902 mit 9494 150 t, die diesmal auf 9904493 t 
stiegen, war dieser Export allerdings durchaus nicht mehr wunderbar, 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 165 


Tabelle 23. Roggen. 


1903. 
(Tonnen A 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.) 
u | = a | | i 4 Berlin mehr ale: 
Ho: ne | ar |Berlin == | Riga Odessa) Am- | 
nat | fuhr fuhr g5 | ster- | Riga Odessa 
IL — | | dam | Er 
. ] per Eee N F 27 q 
Jan. | 84966 | 12550| — |1120 | 1021 | 918 | — | Sa N 
Febr. | 52 233 | 13089 | 134,6 | 113,1 | 105,2 | 92,4 21,5 29,4 42,2 
März | 46096 17984 | 131,7 | 112,0' 104,1 | 90,3 | 19,7 27,6 41,4 
| 


April | 60515 | 22797 132,35 | 111,9 | 102,6 92,5 | 20,4 | 29,7 | 39,8 
Mai 93 148 | 15386 | 134,0 | III,4 | IOL,6 89,7 i| 22,6 | 32,4 44,3 
Juni | 92851 | 8933 | 135,8 | 106,8 | 100,1 87,4 | 29,0 35,7 48,4 
Juli 88 495 7640 | 132,9 | 105,2 | 96,8 82,9 27,7 36,1 50,0 
Aug. | 78394 | 10512 || 132,1 | 109,2 | 98,6 87, | | 33,5 44,7 
Sept. | 40989 21499 | 130,6 | 111,4 | 99,7 85,0 || 19,2 | 30,9 45," 
Okt. 55507 | 25520 | 129,2 | 114,1 | 97,1 | 83,2 | r51 | 321 46,0 
Nov. | 57 692 | 30625 | 130,5 | 117,8 95,8 | 80,4 | 12,7 | 39,7 50,1 
Dez. | 62877 | 22499 | 131,7 | 117,8 | 97,4 | 83,3 | 13,9 | 34,3 48,4 


das Bemerkenswerte ist in diesem Jahre vielmehr die schlechte Be- 
wertung des deutschen Roggens im Vergleich mit den Auslands- 
preisen, woran hauptsächlich der Mangel einer wirksamen Arbitrage 
schuld sein wird. 

Im Jahre 1904 wurde dann mit 10060762 t die höchste bisher 
dagewesene Ernteziffer erreicht, und der Importüberschuß ging auf 
die äußerst niedrige Zahl von 115725 t zurück, was aber sicher 
auch mit ein Ergebnis des niedrigen Preisstandes in Deutschland 
war, der sich in Berlin durchschnittlich 27 M. höher als in Amster- 
dam bewegte‘). Im Januar betrug die Differenz sogar nur 10,3 M., 
gegenüber Riga im Februar auch nur 26,9 M. und gegenüber Odessa 
7,7 und 39,5 M. im März und Februar. Es waren daher in den 
ersten Monaten auch recht hohe Exportziffern zu verzeichnen, im 
April kamen sich Einfuhr und Ausfuhr mit 33144 und 33093 t 
Sogar annähernd gleich (vgl. Tabelle 24). Der starke Export von 
5000 t in den beiden letzten Jahren 1904 und 1905 ist um so 
merkwürdiger, als man vielmehr bei der bevorstehenden Zollerhöhung 
ein Zurückhalten der Ware im Inland hätte erwarten sollen. Wenn 
auch die letzten Ernten hervorragend gut waren, so wurde doch 
keineswegs das durch den verminderten Importüberschuß entstandene 
Defizit durch die heimische Produktion gedeckt. Das Erntejahr 1904 
il. Juli 1904 bis 30. Juni 1905: weist zum erstenmal seit mehr 
als 40 Jahren sogar einen Exportüberschuß von 58406 t auf (inkl. 
Mehl sind es über 230000 t nach Tabelle 1) und läßt die pro Kopf 
der Bevölkerung verfügbare Menge Roggens von 158,3 kg und 


1) Nach der Tabelle scheint allerdings die Disparität am Schluß des Jahres mit 
26—30 M. Differenz gegenüber Amsterdam nicht mehr so bedeutend. Zieht man aber 
die außerordentlich gute Qualität des 1904er Roggens in Betracht, so mußte bei einem 
derartigen Preisverhältnis sich auch ein lebhafterer Export entwickeln. 


166 H. Ruesch, 


Tabelle 24. Roggen. 


1904. 
(Tonnen à 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.) 
| 5 A | Belin mehr als: 
Mo- | Ein- | Aus- \norjim z9 Riga |[Odessa| Am- 
nat | fuhr | fuhr 50 | | ster- | Riga Odessa 
pa | dam | | 


Jan. 40006 | 13 177 || 128,6 | 118,3 97,8 83,7 | 10,8 31,8 44,9 
Febr. | 34 930 | 20409 | 131,0 | 118,1 | 104,1 91,5 || 12,8 20,9 | 39,5 
März 41078 | 30539 || 130,0 | 113,2 | 100,6 92,3 | 16,8 29,4 | 3737 
April | 33 144 | 33093 | 130,1 | 106,4 | 101,8 894 | 23,7 28,3 40,7 
Mai 32 928 | 20930 | 133,0 95,8 | 102,5 85,5 | 37,2 39,5 47,5 
Juni 43711 | 18135 | 131,5 95,6 | 103,2 | 83,1 | 35,9 28,3 48,4 


Juli 55 311 | 13 220 i 137,2 105,9 89,3 | 35,2 31.3 47,9 


æ 
[e] 

N 
< 


Aug. 58554 | 20539 | 139,5 | 104,4 | 103,7 90,2 | 351 | 35,8 49,3 
Sept. 30566 | 41981 i| 139,6 | 106,3 | 102,8 92,5 33:35 | 37,3 47,1 
Okt. 28 967 | 46940 | 138,6 | 109,2 | 101,2 94,1 | 29,4 37,4 44,5 


Nov. 36663 | 45129 139,1 111,0 | 102,3 96,2 | 28,1 | 36,8 42,9 
Dez. 36578 | 52618 | 142,5 | 116,7 | 102,8 97,4 | 25,8 39,7 45.1 


154,8 kg in den beiden Vorjahren anf 147 kg herabsinken, trotzdem 
schon bald darauf die Zollerhöhung in Kraft treten mußte. Da 
auch für Weizen und Hafer die Preise zu niedrig standen, so waren 
die Bestände stark verringert, und in der Bedarfsversorgung trat 
eine außerordentliche Stockung ein, so daß einige Mühlen ihren 
Betrieb sogar zeitweilig einstellen mußten !), ähnlich wie im Frührjahr 
1901, wo die Müllerei auch nicht im stande war, sich für ihre Mehl- 
abschlüsse und umgekehrt zu decken ?). Da der Roggen des Ernte- 
jahres 1904 eine besonders schöne Qualität aufzuweisen hat, ist es 
umso bedauerlicher, wenn nach dem Bericht der Aeltesten der 
Berliner Kaufmannschaft die deutsche Roggenware zum Preise von 
etwa 95 M. plus Einfuhrschein exportiert wurde und zwar so viel, 
daß für die Befriedigung des eigenen Bedarfs nicht einmal genügend 
im Lande blieb. Es mußte nachher bei der Entblößung des Marktes 
vom Ausland Ersatz geschafft werden zu Preisen, die sich unter 
Hinzurechnung der Transportkosten etwa 20—30 M. per Tonne 
höher stellen 3). 

Exportiert wurde besonders viel von Oktober 1904 bis April 1905, 
gerade in den Monaten, wo Berlin gegenüber Amsterdam nur 22 bis 
29 M. und gegenüber Odessa 36—45 M. höher notierte (vgl. Tabelle 
24 und 25), eine Preislage, wie sie sicher durch die besonders gute 
Qualität des deutschen Roggens nicht gerechtfertigt war. Gegen 
Odessa wären vielmehr unter Berücksichtigung der Fracht, Spesen, 
Assekuranz und des Zolles mindestens 50—60 M. Differenz begründet 
gewesen, und bei Amsterdam wenigstens der Zoll von 35 M., wie 


1) Berliner Jahrbuch, 1905, I, S. 277. 
2) Gutachten des Börsen-Ausschusses vom 11. und 12. Juni 1901. 
3) Berliner Jahrbuch, 1905, I, 8. 276. . 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz, 167 


Tabelle 25. Roggen. 


: 1095. 
(Tonnen & 1000 kg.) (Mark pro 1000 kg.) 
r | | Sg | Berlin mehr als: 
o-| Fin- | Aus- FO ar“ Am- 
Berlin ù Riga Od m 
nat | fuhr tuhri 9z ao ; CAEN stor- Riga Odessa 
ee Ar l Lam | |, 


Jan. ala 140,9 | 116,9 | 103,1 98,6 24,0 | 37,8 42,3 


Febr. | 13073 | 38764 || 140,9 | 117,9 | 105,6 99,7 23,9 35,3 41,2 
März | 16465 | 61634 || 139,8 117,9 | 108,1 103,1 21,9 31,7 36,7 
April | 18679 | 41 190 | 141,9 117,8 | 113,0 102,2 24,1 28,9 39,7 
Mai 28006 | 39671 | 151,8 | 119,5 | 111,8 104,4 32,3 40,0 47,4 


Juni 38686 18589 | 152,1 | 122,4 | 109,9 105,2 29,7 | 42,2 | 46,9 
Juli 63 970 | 13 877 | 153,8 | 123,7 | 109,2 102,0 30,1 44,6 | 51,8 


Aug. | 60212 | 13715 | 150,0 | 120,4 | 106,8 101,7 29,6 43,2 48,3 
Sept. | 54462 | 18764 | 152,6 | 121,1 | 113,3 105,7 31,5 39,3 46,9 
Okt. 84083 18152 | 161,6 128,6 | 120,9 109,9 33,0 40,7 51,7 
Nov. | 79733 | 11 104 || 166,8 | 140,7 | 131,1 | 115,8 26,1 35,72 | 515 
Dez. 79179 | 9165 | 170,5 | 138,5 = È 32,0 H 5 


er vor 1897 zum Ausdruck kam. Wie sehr Disparität und Export 
zusammenhängen, sieht man, wenn im März 1905 bei der tiefsten 
Differenz von 21,9 M. gegen Amsterdam, 31,7 M. gegen Riga und 
36,7 M. gegenüber Odessa auch die höchste Exportziffer von 61 634 t 
in einem Monat erreicht wurde. Als nachher bei der Erschöpfung 
der Vorräte mehr importiert werden mußte und überhaupt schon ein 
stärkerer Import geboten war, um möglichst viel noch zu den alten 
Zollsätzen hereinzuschaffen, war die Parität wiederhergestellt und 
der Preis an allen Plätzen gestiegen, so daß sich rechnerisch sicher 
ein großer Verlust für unsere Volkswirtschaft feststellen ließe. 

Es bleibt abzuwarten, wie da bei den jetzt oft herrschenden 
Preisverhältnissen der erhöhte Zoll wirken wird. Aller Voraussicht 
nach wird er eine weitere Begünstigung des Exports herbeiführen, 
denn bei der Vergütung eines Einfuhrscheins von 50—55 M. beim 
Export wird es sehr lohnend sein, das paritätisch zu billige Getreide 
Deutschlands zu exportieren und erfolgreich mit der teureren aus- 
ländischen Ware zu konkurrieren. Mehr wie je wird sich da das 
Fehlen von kapitalkräftigen Spekulanten fühlbar machen, die das in- 
ländische Angebot erst aufnehmen, um dasselbe später in den 
Konsum überzuführen. Der Handel wird große Gewinne machen, 
indem er im Herbst den Ueberfluß der heimischen Ernte exportiert, 
und im Frühjahr und Sommer wird sich dann ein lebhaftes Bedürfnis 
nach ausländischer Ware geltend machen, die sich natürlich, ohne 
Berücksichtigung der vielen Spesen, nur zu vollem Weltmarktpreis 
beschaffen lassen wird, während die deutsche Landwirtschaft, wie 
schon während der ganzen letzten Jahre, nicht die dem Weltmarkt 
entprechenden Preise erhalten wird. 

Nicht ernst genug können aber die volkswirtschaftlichen und 
nationalen Gefahren genommen werden, die uns aus einer mangelhaften 


168 : H. Ruesch, 


Bedarfsversorgung erwachsen können. Die Armee kann in kritischen 
Zeiten nicht ernährt werden ohne eine kräftige Produktenbörse und 
einen kapitalkräftigen Getreidehandel!). Und so soll denn auch die 
Anregung zur Wiederherstellung der Produktenbörse mit von der 
Kriegsverwaltung ausgegangen sein ?). Gerade im vorigen Jahr waren 
wir wieder, wie schon oben erwähnt, in gefährlicher Weise von Vor- 
räten entblößt. Da bei der Verwickelung der politischen Konstellation 
eine Absperrung unserer Küste durchaus nicht ausgeschlossen schien 
und unsere heimische Ernte sich infolge der ungünstigen Witterung 
ziemlich verspätete, so lag ganz offenbar die allergrößte Gefahr vor, 
daß die Versorgung unseres Vaterlandes und vor allen Dingen des 
Heeres mit dem nötigsten Brot- und Futtergetreide nicht hätte be- 
werkstelligt werden können). Dieser Umstand allein sollte schon 
genügen, die Unhaltbarkeit des jetzigen Zustandes zu erweisen. 

Die Wirkungen des Börsengesetzes haben sich überhaupt noch 
nicht in vollem Maße zeigen können, da das letzte Jahrzehnt in 
Bezug auf die Ernteergebnisse ziemlich normal verlaufen ist, aber 
doch haben sich schon Verhältnisse ergeben, die vom volkswirtschaft- 
lichen Standpunkt als gefährlich angesehen werden müssen, und eine 
Revision des Börsengesetzes sollte daher auch dem Getreidehandel 
wieder die Stelle in der Volkswirtschaft zuweisen, die er vermöge 
seiner wichtigen Aufgabe zu beanspruchen hat. 


VII. Börsenreform. 


Seitens der Regierung hatte man bald eingesehen, daß die durch 
das Börsengesetz geschaffenen Zustände auf die Dauer nicht haltbar 
seien, wenn sie auch immer mit den politischen Machtfaktoren im 
Parlament rechnen mußte und so nur einen vermittelnden Stand- 
punkt einnehmen konnte. Wir sahen schon, wie sehr sich das Inter- 
esse der Regierung an der Wiederherstellung der Berliner Pro- 
duktenbörse zeigte und hier tatsächlich ein kleiner Erfolg errungen 
wurde. Aber doch mußte man erleben, daß das mühsam wieder 
aufgebaute Werk durch die Rechtsprechung bald aufs gefährlichste 
bedroht wurde. 

Das Bestreben, sich durch Erhebung des Registereinwands aus 
x 66 BG., des Einwands der verbotenen Termingeschäfte aus $ 50 
und 51 BG. und des Differenzeinwands aus $ 764 BGB. einge- 
gangenen Verpflichtungen zu entziehen, erfaßte immer weitere Kreise, 
und die Einwände wurden von Personen ausgenutzt, die eines be- 
sonderen Schutzes sicher nicht bedürfen und für die er überhaupt 
nicht bestimmt war 4). Der Gesetzgeber konnte kein größeres Fiasko 
erleiden, als mit dem Abschnitt IV des Börsengesetzes über den 


1) Vgl. Gutachten des Börsenausschusses vom 11. und 12. Juni 1901. 

2) Ebenda. 

3) Vgl. Berliner Jahrbuch 1905, I, S. 276 ff. 

4) Begründung zur Börsennovelle (Drucksachen des Reichstags No. 244, Anlagen 
Rd. 2, 11. Leg.-Per. 1. Session). 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 169 


Terminhandel. So durfte man sich denn auch den Gründen einer 
durchgreifenden Börsenreform nicht länger verschließen, und am 
20. Februar 1901 erklärte der preußische Handelsminister im Land- 
tage, die Bestimmungen des Börsengesetzes hätten in der Tat zu 
Uebelständen geführt, deren Beseitigung erwünscht wäre, und er 
hätte daher die Anregung zur Berufung einer Kommission gegeben, 
die sich mit der Besprechung einiger wichtiger Punkte der Börsen- 
reform befassen sollte. 

Bevor diese jedoch zusammentrat, hatte sick schon der. Börsen- 
ausschuß am 11. und 12. Juni 1901 mit der Frage zu beschäftigen. 
Kennzeichnend war es, daß die agrarischen Vertreter erklärten, die 
Sache wäre noch nicht spruchreif, man müsse noch mehr Erfahrungen 
sammeln, und einen dementsprechenden Antrag stellten. der aller- 
dings mit 24 gegen 11 Stimmen abgelehnt wurde. An Erfahrungen 
hatte es aber doch wahrlich nicht gefehlt! Das alte Mißtrauen gegen 
die Börse war eben noch nicht geschwunden, und die Aussicht auf 
einen Meinungsumschwung im Reichstag blieb so sehr gering. Es 
wurde von dieser Seite die Ansicht vertreten, die Judikatur werde 
sich schon allmählich zu voller Klarheit durcharbeiten, und mit der 
Zeit würden sich auf diese Weise feste Gesichtspunkte und Begriffe 
in der Rechtsprechung bilden, während mit Recht von der Gegen- 
seite geltend gemacht wird, der Handel könne nicht warten, bis 
dieser Zeitpunkt eingetreten sei. Es kämen vermögensrechtliche 
Fragen von allergrößtem Umfang in Betracht. Auch wird den Ge- 
treidehändlern immer wieder geraten, einen Rechtsfall bis zum Reichs- 
gericht durchzufechten. Bei dem jetzt in Berlin organisierten Pro- 
duktenhandel lägen so wesentliche Abweichungen vor, daß es durchaus 
nicht unwahrscheinlich sei, daß das Reichsgericht diesen letzteren 
Handel nicht als börsenmäßigen Terminhandel betrachten werde. 
Wir sahen aber schon oben, wie unvorhersehbar hier der endgültige 
Ausgang sein würde und der Getreidehandel sich so vielleicht selbst 
den letzten Todesstoß versetzen könnte. 

Trotz der vielen Meinungsverschiedenheiten wurde doch in 
einigen Punkten, wo sich die größten Unzuträglichkeiten heraus- 
gestellt hatten, Stimmeneinhelligkeit erzielt. Für die Produktenbörse 
kommen dabei folgende Erleichterungen in Betracht: Das aus $ 50 
BG. und $ 764 BGB. hergeleitete Recht, die Erfüllung einer Ver- 
bindlichkeit zu verweigern, wird zeitlich auf 6 Monate beschränkt, 
und bei den untersagten Termingeschäften soll ebenso wie bei den 
Differenz- und Spielgeschäften die Rückforderung des einmal Ge- 
leisteten ausgeschlossen sein. Auch soll der Anfechtende ver- 
pflichtet sein, sich seine Gewinne aus Börsentermingeschäften auf- 
rechnen zu lassen. 

Am 18. und 19. September fand dann unter dem Vorsitz des 
Handelsministers Möller die angekündigte Besprechung betreffend 
Abänderung einiger Vorschriften des Börsengesetzes mit hervor- 
ragenden Vertretern der beteiligten Kreise statt. deren Ergebnisse 
von der preußischen Regierung einem Antrag auf Abänderung des 


170 H. Rueseh, 


Gesetzes im Bundesrat zu Grunde gelegt wurden. Aus den Ver- 
handlungen ging hervor!), daß auch die Regierung den durch die 
Rechtssprechung des Reichsgerichts eingetretenen Zustand für sehr 
unerwünscht hielt und der Auffassung war, daß sich an das Verbot 
des Börsenterminhandels keine zivilrechtlichen Folgen für die gleich- 
wohl noch vorkommenden Börsentermingeschäfte knüpfen sollten. 
Auch erklärte sie es für unumgänglich notwendig, die volkswirt- 
schaftlich nnentbehrlichen Lieferungsgeschäfte der Produktenbörse 
sicherzustellen, es- wäre ganz besonders bedauerlich, wenn die 
Rechtsprechung in der Folge auch etwa dahin gelangen sollte, die 
an der Berliner Produktenbörse üblichen sogenannten handelsrecht- 
lichen Lieferungsgeschäfte auf Grund des $ 50 BG. für nichtig zu 
erklären. Um nun hier ein Entgegenkommen zu zeigen, wurde von 
seiten der Händler ein diesbezüglicher Antrag Pincus gestellt, der 
dann auch vom Abgeordneten Gamp aufgenommen wurde und 
folgendermaßen lautete: „Nicht als börsenmäßige Termingeschäfte 
gelten Zeit- oder Lieferungsgeschäfte. welche zwischen Erzeugern 
und Verarbeitern, oder in das Handelsregister eingetragenen ge- 
werbsmäßigen Händlern solcher Waren auf Grund von Bedingungen 
abgeschlossen werden, die von den Staatsaufsichtsbehörden mit Zu- 
stimmung des Bundesrats für Lieferungsgeschäfte festgesetzt oder 
genehmigt sind.“ 

Es konnte dies nichts anderes bedeuten, als die rechtliche Sicher- 
stellung der jetzt geübten handelsrechtlichen Lieferungsgeschäfte, 
outsiders wären von der Produktenbörse durch die obige Formulie- 
rung ausgeschlossen und somit die Gefahren beseitigt, die man aus 
der Teilnahme derselben für die Preisbildung zu befürchten glaubte. 
Den Händlern, des langen Kampfes müde, lag es nur daran, eine 
sichere Basis für ihre soliden Geschäftsoperationen zu gewinnen, 
und sie begnügten sich mit der recht schwerfälligen Technik des 
handelsrechtlichen Lieferungsgeschäfts, um wenigstens erst einmal 
das Mögliche zu erreichen. Man konnte um so mehr auf eine 
günstige Aufnahme im Parlament hoffen, als der dem Verkehr zu 
Grunde liegende Schlußschein aus der Vereinbarung mit Regierung 
und Landwirten hervorgegangen war und niemand bisher einen An- 
stoß an dem heutigen Lieferungshandel genommen hatte. Die Hoff- 
nung sollte allerdings bitter enttäuscht werden. 

Erst am 30. April 1904 wurde dem Reichstag die schon lange 
in Aussicht genommene Börsennovelle vorgelegt. Ein Absatz 2 des 
$ 452) brachte die gesetzliche Anerkennung der Lieferungsgeschäfte 


1) Vergl. Registratur über die am 18. und 19. September 1901 im Handels- 
ministerium abgehaltene Besprechung betr. Abänderung einiger Vorschriften des Börsen- 
gesetzes v. 22. Juni 1896. 

2) Als Börsentermingeschäft gilt nicht der Kauf oder die sonstige Anschaffung 
von Waren, wenn der Abschluß nach Geschäftsbedingungen erfolgt, die der Bundesrat 
genehmigt hat, und als Vertragschließende nur Erzeuger oder Verarheiter von Waren 
derselben Art wie die, welche den (Gegenstand des Geschäfts bilden, oder solche in das 
Handelsregister eingetragene Kaufleute oder eingetragene Genossenschaften beteiligt sind, 
zu deren Geschäftsbetrieb der Ankauf oder Verkauf von Waren der bezeichneten Art 
gehört. 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 171 


an der Produktenbörse. Die Vorschriften über den Börsentermin- 
handel finden keine Anwendung auf dieselben, und sie unterstehen 
somit nicht dem Registerzwang. Dagegen kann der Differenz- und 
Spieleinwand erhoben werden. 

Wenn es in der Begründung heißt, die Zulassung des Differenz- 
einwandes erscheine unbedenklich, weil es sich nach der Vorschrift 
des Entwurfs lediglich um Geschäfte zwischen berufsmäßigen, mit 
Umsatz der Waren befaßten Personen handele, die dem Differenz- 
einvand nur in Ausnahmefällen ausgesetzt sein dürften, so wäre 
vielmehr aus diesem Umstande die Beseitigung des Einwands mehr 
denn je zu fordern, zumal es auch an einer anderen Stelle heißt, 
es sei bedenklich, handelsgerichtlich eingetragenen Kaufleuten eine 
Handhabe zu gewähren, um sich eingegangenen Verpflichtungen zu 
entziehen. Allein die Möglichkeit eines Differenzeinwandes muß 
schon lähmend auf den Handel wirken. Sind doch überhaupt der- 
artige Differenzgeschäfte, wie sie im $ 764 BGB. vorausgesetzt 
werden, an der Börse praktisch unmöglich, da jeder Geschäftsabschluß 
durch effektive Lieferung realisiert wird. Daß bei einer verfeinerten 
Börsentechnik dann der erste an den letzten liefert und die Zwischen- 
glieder ihre Verbindlichkeiten durch Differenzzahlungen lösen, ist 
nur eine praktische Erleichterung und macht solche Geschäfte noch 
nicht zu Differenzgeschäften, denn jeder Kontrahent hat den An- 
spruch auf konkrete Warenlieferung. Da wird dann immer vom 
Handel mit nicht vorhandenen Werten, von Papierweizen u. s. w. 
geredet, während in Wirklichkeit jedem Schlußschein ein bestimmter 
Posten Getreide zu Grunde liegt, der aber im Laufe der Zeit mehr- 
fach seinen Besitzer wechselt und dann am Termin nicht effektiv 
von Speicher zu Speicher geht, sondern innerhalb weniger Minuten 
in Form des Kündigungsscheins in abstracto die Kette durchläuft. 
Ebenso ist es nur eine Zeitersparnis, wenn anstatt der vollen Geld- 
summen immer nur die Differenz beglichen wird, was praktisch den- 
selben Erfolg hat, als wenn die vollen Summen gezahlt würden. 
Der heute an der Berliner Produktenbörse übliche Dispositions- 
schein bietet hier ein treffliches Beispiel. A schickt dem B den 
Schein mit der Rechnung für vielleicht 1000 t Weizen à 182 M., 
B hat an C zu 184 M. weiter verkauft und übermittelt diesem den 
Dispositionsschein mit einer neuen Rechnung, C liefert dann viel- 
leicht dem D weiter zu 183 u. s. w. Jeder zahlt seinem Vormann 
die ganze Summe und erhält von seinem Nachmann den verab- 
redeten Kaufpreis, so daß z.B. B dem A 182000 M. zahlt und von 
C 184000 M. erhält, was auf dasselbe hinauskommt, wenn durch 
ein Kündigungsbureau durch Skontration die Beträge miteinander 
ausgeglichen würden und jeder die Differenz zu zahlen oder zu em- 
pfangen hätte, d. h. B in unserem Falle 2000 M. erhalten würde. 

Der $ 764 beruht auf einer völligen Verkennung des Handels- 
verkehrs und wäre je eher desto besser gänzlich zu beseitigen. An- 
statt allerlei unmoralischen und ehrlosen Elementen gesetzlich eine 
Unterstützung angedeihen zu lassen, sollte man vielmehr die Klag- 


172 H. Ruesch, 


barkeit aller Differenzgeschäfte einführen. Wer sein Vermögen ver- 
spielt, soll auch die Folgen tragen und sich nicht durch Einwände 
seinen Verpflichtungen entziehen dürfen, nachdem er vorher viel- 
leicht ohne Gewissenbisse beträchtliche Gewinne eingeheimst hat. 
Ueberhaupt würde sicher mancher vom sogenannten Börsenspiel 
zurückgehalten, wenn er auf jeden Fall zur Erfüllung seiner Ver- 
bindlichkeiten gezwungen wäre. Um das große Publikum zu schützen, 
besitzen wir schon ein genügendes Mittel zum Einschreiten in S 78 
BG., der folgendermaßen lautet: „Wer gewohnheitsmäßig in gewinn- 
süchtiger Absicht andere unter Ausbeutung ihrer Unerfahrenheit 
oder ihres Leichtsinns zu Börsenspekulationsgeschäften verleitet, 
welche nicht zu ihrem Gewerbebetriebe gehören, wird mit Gefängnis 
und zugleich mit Geldstrafe bis zu 15000 M. bestraft. Auch kann 
auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“ Von 
einem Einschreiten der Staatsanwaltschaft auf Grund dieses Paragra- 
phen hört man allerdings leider nur selten. 

Bei den Warenlieferungsgeschäften handelt es sich nun über- 
haupt nur um Erzeuger, Verarbeiter und in das Handelsregister 
eingetragene Händler. Da kann die Möglichkeit, den Differenz- 
und Spieleinwand zu erheben, nur dahin führen, mit der Zeit auch 
im Getreidehandel Treu und Glauben immer mehr zu untergraben. 
Und dabei soll der Differenzeinwand nicht einmal durch Ablauf der 
Weigerungsfrist, Anerkenntnis und Sicherheitsstellung erlöschen, 
wie dies sogar für die verbotenen Börsentermingeschäfte vorgesehen 
war. Eine kräftige Produktenbörse hätte sich unter diesen Bestim- 
mungen kaum wieder entwickeln können, es war nur ein Notbehelf, 
und der Handel ist bei der heute herrschenden Strömung zufrieden, 
wenn ihm sein Dasein nur ein wenig erleichtert wird. Aber auch 
hiermit sollte es vorläufig nichts werden, man nahm den Entwurf 
im Reichstag sehr kühl auf, und in der Kommissionsberatung wurde 
der $ 48 Abs. 2 wieder gestrichen. Obgleich an der Vereinbarung 
des jetzigen Schlußscheins die Führer der konservativen Parteien 
wie Graf Kanitz, Graf Schwerin-Löwitz und Oberregierungsrat Gamp 
mitgewirkt, ja letzterer sogar bei den Beratungen im September 
1901 den im $ 48 Abs. 2 verwirklichten Antrag gestellt hatte, scheute 
man sich doch jetzt auch die Konsequenzen zu ziehen und die so- 
liden Lieferungsgeschäfte rechtlich sicherzustellen; denn an eine 
Wiederherstellung des Börsenterminhandels war durchaus nicht ge- 
dacht, wie es auch der Vertreter der Regierung, Geheimer Ober- 
regierungsrat Wendelstadt, ausdrücklich betonte. Man äußerte auf 
‚seiten der Agrarier noch immer ein lebhaftes Mißtrauen gegen den 
neuen Schlußschein. Schon bei den Verhandlungen zur Wiederher- 
stellung der Produktenbörse hatten die drei Vertreter der Land- 
wirtschaft der Einführung des Schlußscheins nur unter dem Vor- 
behalt beigestimmt, daß sich nicht auf Grund desselben ein börsen- 
mäßiger Terminhandel entwickele, was sehr wohl möglich sei, und 
diese Ansicht herrschte auch in der Kommission trotz der gegen- 
teiligen Erfahrungen noch vor. 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 173 


Ferner wollte man nicht dem Bundesrat die Aufstellung der 
Geschäftsbedingungen überlassen, da es nach der bisherigen Haltung 
der preußischen Regierung auch der Bundesrat an dem weitesten 
Entgegenkommen gegen die Börse nicht fehlen lassen werde !). Es 
sei Sache der Judikatur, in praxi von Fall zu Fall zu entscheiden, 
ob ein verbotenes Börsentermingeschäft vorliegt oder nicht. 

Auch die weiteren Erleichterungen, welche die Novelle gewährte, 
wurden für die Produktenbörse in einem $ 68d des Kommissions- 
entwurfs völlig beseitigt. 

In der Regierungsvorlage war nämlich in $51 Abs. 3 ein neuer 
Einwand geschaffen, der die Nichtigkeit der verbotenen Termin- 
geschäfte geltend machen kann. Durch Ablauf von 6 Monaten, An- 
erkenntnis, Sicherheitsstellung und Aufrechnung sollte dieser Einwand 
beseitigt werden, ähnlich wie der Registereinwand bei den erlaubten 
Termingeschäften. Die Regierung hatte sich so, entgegen ihrer son- 
stigen Haltung?), auf den Standpunkt des Reichsgerichts gestellt 
und suchte in der Novelle nur die Folgen der Rechtsprechung auf 
den Verkehr zu mildern. Das Ganze war eben nur ein Kompromiß, 
mehr konnte man bei der wirtschaftlich reaktionären Strömung sicher 
nicht erreichen, und der Erfolg bestätigte auch diese Auffassung, 
indem überhaupt nichts erreicht wurde. 

Für die Produktenbörse ergibt sich aus den Kommissionsbe- 
schlüssen jedenfalls keine Veränderung der augenblicklichen unleid- 
lichen Verhältnisse. Allerdings soll nach § 68b eine Rückforderung 
des einmal Geleisteten nicht mehr stattfinden, während dies bisher 
nach $ 134 BGB. noch auf 30 Jahre hinaus geschehen konnte, aber 
sonst bleibt alles beim alten. Börsentermingeschäfte in Getreide 
und Mühlenfabrikaten sollen weder durch Ablauf von 6 Monaten 
nach erfolgter Abwickelung noch durch Anerkenntnis wirksam werden, 
Lieferung und Zahlung auf Grund solcher Geschäfte nicht verlangt, 
geleistete Sicherheiten sollen zurückgefordert werden dürfen °). 


So wird auch in Zukunft über den Lieferungshandel der Berliner 
Produktenbörse das Damoklesschwert des Reichsgerichts schweben, 
daß es diese handelsrechtlichen Lieferungsgeschäfte mit einer den 
Umständen nach angemessenen Nachfrist für Börsentermingeschäfte 
erklärt und dann die oben erwähnten Folgen eintreten. Was aber 
ganz besonders betont werden muß, ist, daß im Fall einer solchen 
Entscheidung noch der Ausschluß dieser Geschäfte von der Börse 
hinzutreten müßte und ein Zustand eintreten würde, den man volks- 
wirtschaftlich aufs tiefste beklagen müßte. Haben doch schon die 
Jahre 1897--1900 bewiesen, wie wenig die Landwirtschaft und be- 
sonders auch die Regierung eine zuverlässige Berliner Notiz ent- 
behren können. 


1) Graf Kanitz in der 76. Sitzung vom 26. April 1904. 
2) Wir sahen oben, wie sich die Regierung bisher entschieden gegen die Nich- 
tigkeit der untersagten Termingeschäfte wandte. 

3) Eingabe der Aeltesten an den Reichskanzler vom 21. Januar 1906. 


174 H. Ruesch, 


Wenn auch die damaligen Kommissionsbeschlüsse im Plenum 
nicht mehr zur Beratung gelangt sind, so ist doch in der Thronrede 
vom 23. November 1905 von der Erwägung gesprochen, die Börsen- 
novelle nach den Beschlüssen der Kommission in der eingeschränkten 
Form wieder einzubringen. Die Regierung hat damit ihren Stand- 
punkt keineswegs aufgegeben, daß ein Lieferungshandel absolut not- 
wendig ist. Da sie aber sieht, daß unter den obwaltenden Verhält- 
nissen doch keine Aussicht auf irgend einen Erfolg da ist !), so sucht sie 
wenigstens erst einmal für die Fondsbörse das Mögliche zu erreichen, 
trotzdem auch gerade an der Produktenbörse der jetzige Zustand 
ganz bedeutende Gefahren in sich birgt, wie schon vorher zu zeigen 
versucht ist. Es ist überhaupt nicht einzusehen, weshalb man einen 
Unterschied machen will zwischen dem Verkehr an der Fondsbörse 
und dem an der Produktenbörse, indem man nur jener einige Er- 
leichterungen gewährt. Von der Einschränkung der Spekulation kann 
nicht mehr die Rede sein, wenn man handelsrechtlichen Lieferungs- 
geschäften, die einem elementaren Bedürfnis des reellen Handels 
dienen und bei denen eine Beteiligung von Outsiders direkt aus- 
geschlossen ist, die rechtliche Grundlage versagt, während an der 
Fondsbörse die Heranziehung der weitesten Kreise zum Börsenspiel 
durch die rapide Vermehrung der Depositenkassen ins Unermeß- 
liche gesteigert wird. Die Produktenbörse ist schließlich der Prügel- 
knabe, der die Vergehen der Fondsbörse büßen muß und zugleich 
für die ungünstige Lage der Agrikultur verantwortlich gemacht wird. 

Auch spielt noch ein rein machtpolitischer Grund für die Be- 
nachteiligung der Produktenbörse mit. Man will nicht zugeben, 
daß man damals mit dem ex irato beschlossenen Terminhandels- 
verbot einen großen Fehler begangen hat, ja man gibt sich teilweise 
noch großen Illusionen über den vermeintlichen Erfolg desselben 
hin. Bis sich in diesen Kreisen eine mehr volkswirtschaftliche Ein- 
sicht Bahn bricht, wird man wohl erst Jahre abwarten müssen, in 
denen sich die Folgen der agrarischen Gesetzgebungskunst etwas 
deutlicher bemerkbar machen. Heute weiß man im Gegenteil noch 
gar nicht, ob dem Handel nicht noch weitere Schwierigkeiten in 
den Weg gelegt werden. Der jetzige Schlußschein wird nämlich 
von den Landwirten nur als eine Art Interimistikum angesehen. 
Das Ziel ist noch immer trotz der vielen Mißerfolge der Kornhaus- 
genossenschaften eine möglichste Beiseitedrängung des Handels, 
dessen Tätigkeit aber im Artikel Getreide wohl am allerwenigsten 
zu entbehren ist. ganz abgesehen von dem Importbedürfnis, das 
allein der Handel ausreichend zu befriedigen vermag. 

Gute Informationen durch tägliche Preisberichte über die Lage 
des Weltmarkts und Stärkung ihrer wirtschaftlichen Position durch 
(Genossenschaften u.s. w. wird den Landwirten am besten gegenüber 
den Händlern zu einer gleichen Macht bei den Verkaufsabschlüssen 


1) Es ist wohl kaum anzunehmen, daß der neue Reichstag sich einer durch- 
greifenden Bürsenreform geneigter zeigen wird. 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 175 


verhelfen, denn zu einer großen Absatzorganisation scheint es nach 
den bisherigen Erfahrungen an den nötigen Vorbedingungen durch- 
aus zu fehlen. Der Landwirt ist nun einmal auf den Kaufmann als 
seinen hauptsächlichsten Abnehmer angewiesen, und es wäre auf die 
Dauer ein unnatürlicher Zustand, daß diejenigen, die gezwungen sind 
miteinander zu kontrahieren, sich infolge der politischen Agitation 
immer mehr und mehr entfremdeten. Dadurch wird ein durchaus 
unwahres Bild von der Sachlage entrollt. Im großen und ganzen 
herrscht auch heute noch zwischen Tausenden von Landwirten und 
Händlern das beste Einvernehmen, aber im Kampf der Interessen 
hat man dann die Fälle, wo der Bauer allerdings in den Händen von 
Wucherern oft der schlimmsten Art lag, verallgemeinert und einen 
künstlichen Gegensatz zwischen den Produzenten und dem Handel 
überhaupt geschaffen, der nur durch Vernichtung des letzteren zum 
Wohle des Ganzen beseitigt werden könnte. Und damit verbinden 
sich dann Anschauungen über die Aufgaben und die Bedeutung des 
Handels, die auf eine völlige Verkennung seiner Tätigkeit schließen 
lassen. 

Es ist recht kennzeichnend, wenn z. B. nach dem Bund der 
Landwirte solide Lieferungsgeschäfte solche Zeitgeschäfte sind, bei 
denen einerseits der Verkäufer im Augenblick des Abschlusses be- 
reits das Verfügungsrecht über den angebotenen konkreten Waren- 
posten besitzt, andererseits der Käufer die Befriedigung eines in 
Einzelheiten bestimmten, wirklich vorliegenden Bedarfs in Aussicht 
hat. Als ob irgend etwas Unreelles darin läge, wenn ein Kaufmann 
die Konjunktur ausnutzt und eine Ware in blanco verkauft oder 
andererseits einen ihm günstigen Kauf abschließt, wenn er auch 
vorläufig noch keine spezielle Verwendung dafür hat. Gerade in 
dieser Ausnutzung des günstigen Augenblicks beruht ja die Haupt- 
tätigkeit des Großhandels und zwar in allen Artikeln, so daß es 
unerfindlich ist, weshalb hier bei Getreide eine Ausnahme gemacht 
werden sollte. Soll der Handel wirklich seine Aufgabe voll und 
ganz erfüllen, so muß er eben mehr wie jeder andere Beruf größte 
Bewegungsfreiheit haben. Der Handel läßt sich nicht schablonisieren, 
und es ist unmöglich, vom grünen Tisch aus Vorschriften zu erlassen, 
wie die einzelnen Geschäfte abgeschlossen werden sollen. Heute ist 
es allmählich Mode geworden, den Handel als notwendiges Uebel, 
als den dienenden Stand zu betrachten, während in Wirklichkeit 
die Handelstätigkeit für die Versorgung des Bedarfs einer Volks- 
wirtschaft ebenso notwendig und daher produktiv ist, wie diejenige 
der Landwirtschaft, Industrie u. s. w. 

So herrscht in der Wissenschaft auch kein Zweifel darüber, daß 
ein Land, welches mit seinen Interessen aufs engste mit der ganzen 
Welt verknüpft ist, eines kapitalkräftigen Handelsstandes und somit 
einer aktionsfähigen Börse bedarf. und der Terminhandel wird all- 
gemein als notwendiges technisches Hilfsmittel für den Großhandel 
anerkannt, soweit er sich eben in den ihm gezogenen Grenzen 
bewegt. 


176 H. Ruesch, 


Um unserem deutschen Getreidehandel seine frühere Stellung 
wieder zu verschaffen, bedarf es daher vor allem einer Aufhebung 
des Terminhandelverbots in Getreide und Mühlenfabrikaten. Natür- 
lich müßte einer Beteiligung ungeeigneter Elemente an der Preis- 
bildung vorgebeugt werden, und hier bietet der Vorschlag der 
Regierung, die handelsrechtlichen Lieferungsgeschäfte auf Erzeuger, 
Verbraucher und Händler der betreffenden Waren zu beschränken, 
wahrscheinlich eine bessere Handhabe, als das nach den Erfahrungen 
im Effektenhandel praktisch bedeutungslose Terminregister. Es liegt 
aber unseres Ermessens unter diesen Kautelen dann durchaus kein 
Grund mehr vor, dem Handel noch die Benutzung der Börseneinrich- 
tungen wie z. B. Kündigungsbureau, Schiedsgerichte oder ähnliches 
zu versagen. Auch die heute geübten handelsrechtlichen Lieferungs- 
geschäfte, obschon sie bei rechtlicher Sicherstellung den Bedürf- 
nissen des Handels vielleicht genügen würden, waren nur eine Aus- 
hilfe infolge des Verbots des Börsenterminhandels und können be- 
sonders mit der Forderung einer den Umständen nach angemessenen 
Nachfrist einer schnellen Erledigung der Geschäfte bisweilen nur 
hinderlich sein. Im Interesse einer kräftigen Produktenbörse muß 
man aber fordern, daß der Handel auch die technisch vollkommensten 
Formen zur Anwendung bringen darf. Bei der Beschränkung auf 
die beteiligten Kreise können daher der Wiedereinführung des 
Börsenterminhandels keine stichhaltigen Bedenken mehr entgegen- 
stehen, zumal der jetzige Schlußschein mit seinen Bedingungen, wie 
der Besichtigung vor der Andienung, der Abnahme bei Mehr- oder 
Minderwert, und der Forderung einer für die Müllerei gut verwend- 
baren Qualilät, eine genügende Gewähr für eine befriedigende 
Weiterentwickelung bietet. Geschäfte mit Outsiders könnten dann 
für rechtsunwirksam erklärt oder unter Strafe gestellt werden, 
während für die gültigen Termingeschäfte auch der Differenz- und 
Spieleinwand zu beseitigen wäre. Wenn man der Börse wieder 
mehr Bewegungsfreiheit gibt, wird sie einzelnen Ausschreitungen 
selbst am besten begegnen können, da immer die besseren Elemente 
das Uebergewicht haben. Eine straffe Börsendisziplin und gut 
funktionierende Ehrengerichte werden die unliebsamen Vorkommnisse 
schon auf das geringste Maß zurückführen. Nach den Erfahrungen 
der letzten 10 Jahre würde sich der Handel auch sicher hüten, 
durch irgend welche Ausschreitungen die Augen des Gesetzgebers 
wieder auf sich zu lenken. gar nicht zu reden von der Reinigung 
der Produktenbörse von allen jenen schmarotzenden Elementen, die 
längst den jetzt an den einzelnen gestellten moralischen Anforderungen 
haben weichen müssen. 

Gerade die Landwirtschaft sollte im Interesse einer guten Be- 
wertung ihrer Erzeugnisse am meisten für einen kapitalkräftigen 
Terminhandel eintreten, geben ihnen doch auch die Preise der 
Zentralbörse einen festen Anhalt bei ihren Verkäufen und erleichtern 
ihnen die Kontrolle ihrer Abnehmer. Denn das glauben wir nach- 


Der Berliner Getreidehandel unter dem deutschen Börsengesetz. 177 


gewiesen zu haben, das Terminhandelsverbot hat der Landwirtschaft 
mehr Schaden als irgend einen Vorteil gebracht. 

Volkswirtschaftlich ist es aber noch viel wichtiger, daß eine 
starke Terminbörse einem Lande das wichtige Mitbestimmungsrecht 
an der internationalen Preisbestimmung gewährleistet und schließlich 
die notwendige Befriedigung des durch die heimische Landwirtschaft 
nicht voll gedeckten Bedarfs erst absolut sicherstellt. 

Aus alledem ergibt sich unserer Ansicht nach das unzweideutige 
Resultat, daß eine weise Volksvertretung, die sich berufen fühlt, die 
Interessen der Gesamtheit und nicht allein diejenigen einzelner 
Klassen zu vertreten, an eine gründliche und sachgemäße Revision 
der Bestimmungen über den Börsenterminhandel treten muß. Denn 
auf die Dauer kann unmöglich die handelsfeindliche Strömung, wie 
sie heute in Deutschland vorherrscht, ausschlaggebend bleiben, 
wenn wir überhaupt eine gewichtige Rolle auf dem Weltmarkt spielen 
wollen. Will man Welthandelspolitik treiben, so darf man dabei 
nicht zu gleicher Zeit den Weltmarkt bekämpfen wollen, und schließ- 
lich darf eine Weltmacht nicht vergessen, daß eine kräftige Getreide- 
börse einer der ersten Faktoren ist, der einem großen Staat die 
wirtschaftliche Unabhängigkeit durch Sicherstellung der Volksernäh- 
rung am besten garantiert. 


Dritte Folge Bd. XXXI (LXXXVII). 12 


178 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 


II. 


Frankreichs wirtschaftliche Gesetzgebung im Jahre 1905. 
Von Dr. Hans Gehrig. 


Die gesetzgebenden Körperschaften Frankreichs hatten sich während 
des Jahres 1905 vor allem mit zwei Ereignissen zu beschäftigen: mit 
der „Affaire du Maroc“ und den in Zusammenhang mit dieser Frage 
stehenden internationalen Verwicklungen, sodann mit den Beziehungen 
zwischen Staat und Kirche, für welches Problem das „Gesetz vom 
9. Dezember 1905, betr. die Trennung der Kirchen vom Staat“, eine 
Lösung zu geben versucht. Wenn solchen Arbeiten gegenüber die 
wirtschaftliche Gesetzgebung im engeren Sinne an Tragweite zurück- 
stehen mag, so sind doch auch hier wichtige Maßnahmen als Jahres- 
ergebnis zu verzeichnen; in erster Linie wohl die Weiterbildung der 
Unfallgesetzgebung und die Einführung einer allgemeinen staatlichen 
obligatorischen Altersunterstützung und Armenfürsorge. Die Haupt- 
bestimmungen der beiden großen sich hiermit befassenden Gesetze 
werden daher in der folgenden Uebersicht in einer Uebersetzung wieder- 
gegeben, während im übrigen Inhaltswiedergaben oder Hinweise die in 
Gesetzgebung und Verwaltung hervorgetretenen Tendenzen erkennen 
lassen und weitere Quellenbenutzung erleichtern sollen. 


1. Handelsrecht. 


Gesetz vom 23. Februar 1905 zur Ergänzung des Art. 41 des Code 
rural (Buch III, Abschnitt II) und zur Abänderung des Art. 2 des Ge- 
setzes vom 2. April 1854 über Sanitätspolizeit). J. off., 28. Februar ?). 

Die bisherigen gesetzlichen Bestimmungen (wohl auch Gesetz vom 31. Juli 
1895 betr. sanitätspolizeiliche Vorschriften beim Tierhandel) werden ergänzt durch 
Vorschriften über Mängel, Nichtigkeit und Geltendmachung der Mängel beim 
Kauf von tuberkulösem Rindvieh. 

Gesetz vom 17. März 1905, über Ergänzung von Art. 103 des 
Handelsgesetzbuches. J. off., 23. März. 


1) Ueber Sanitätspolizei vergleiche auch den Erlaß vom 3. Juli 1905, betr. Er- 
richtung und Tätigkeit der kommunalen Verwaltungsstellen für Hygiene. J. off., 
13. Juli. 

2) J. off. bedeutet Journal offieiel, wenn ohne Zusatz, vom Jahre 1905. 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 179 


Die Haftung des Frachtführers für Verlust (Abs. 1) und „für Schäden mit 
Ausnahme derjenigen, welche von irgend einem eigenen Mangel der Sache oder 
von höherer Gewalt herrühren“ (Abs. 2) kann nach dem neuen Gesetz (Abs. 2 des 
Art. 103) nicht durch Privatabkommen beseitigt werden. Entgegenstehende Ver- 
einbarungen sind nichtig. 


Gesetz vom 13. Juli 1905. J. off, 14. Juli. 


Dieses Gesetz ist durch ein neues Gesetz vom 20. Dezember 1906 (J. off., 
22. Dez 1906) teilweise wieder geändert worden. Als Ergebnis besteht nunmehr: 
Wenn die gesetzlichen Festtage auf einen Donnerstag fallen, kann die Zahlung 
kaufmännischer fälliger Papiere nicht am nächsten Tag verlangt und auch kein 
Protest aufgenommen werden; fallen sie auf einen Dienstag, so gilt gleiches für 
den vorhergehenden Tag. Wenn jedoch in diesen Fällen ein Protest für am vorher- 
gehenden Sonnabend oder Montag nicht bezahite käufmännische Papiere erst am 
folgenden Montag oder Mittwoch stattfinden kann, so bleiben alle Rechte gegenüber 
dem Bol oder Dritten erhalten. Vergl. ähnliche Gesetze vom 28. März und 
23. Dezember 1904'). 

Gesetz vom 1. August 1905 betr. die Unterdrückung von Betrug 
beim Warenkauf und Fälschungen von Nahrungsmitteln und landwirt- 
schaftlichen Produkten. J. ott., 5. August. 


Das Gesetz stellt sich dar als ein ergänzendes Strafgesetz zu Art. 423 des 
Strafgesetzbuches. Bestraft wird die Täuschung oder versuchte Täuschung über 
Natur, wesentliche Eigenschaften, Zusammensetzung und Gehalt an nützlichen 
Bestandteilen aller Waren: über ihre Art und ihren Ursprung, wenn diese den 
Kauf veranlassten; über Quantität und Identität der Waren (Art. 1), sowie unter 
bestimmten Bedingungen Fälschung, Ausstellung, Kauf und Verkauf von Lebens- 
und Nahrungsmitteln, Arzneimitteln, Getränken, landwirtschaftlichen Produkten 
und zur Lebensmittelfälschung geeigneten Produkten (Art. 3)°). 


2. Sozialpolitik. 
I. Arbeitsverwaltung und -Gerichtsbarkeit. 


Erlaß vom 2. März 1905 über .die Anwendung des Gesetzes vom 
12. Juni 1893 bezw. 11. Juli 1903 betr. Hygiene und Sicherheit der 
Arbeiter auf die Kriegs- und Marinewerkstätten. B. d. O., S. 2523). 


Der Erlaß regelt das von den Aufsichtsbeamten zu beobachtende Verfahren 
und die Erledigung der von ihnen gemeldeten Zustände seitens der Behörden. (Vergl. 
den in diesen Jahrb. Bd. 32, S. 204 mitgeteilten Erlaß.) 


Gesetz vom 21. März 1905, durch welches den ordentlichen Ge- 
richten die Entscheidung von Streitigkeiten zwischen der Verwaltung 


1) Erwähnt in der Uebersicht über die französische Gesetzgebung für 1904, Bd. 32, 
8. 196 dieser Jahrbücher. 

2) Das Gesetz ist ausführlich erörtert im Annuaire de législation française, 
publié par la société de législation comparée, 25° année, Paris 1906. Insbesondere wird 
für die Fina’nzgesetzgebung und das Budget für 1905 (Finanzgesetz vom 22. April 
1905, J. off., 23. April) welches übersichtlich zahlenmäßig dargestellt ist (S. 29 ff.) auf 
das Jahrbuch verwiesen, da die erlassenen Gesetze nur eine verwaltungsrechtliche oder 
finanzielle Ergänzung der bestehenden bedeuten. Das gilt auch von dem in diesem Jahre 
wichtigsten Gesetz vom 13. April 1905 über die Gewerbesteuer. Im übrigen 
geht die obige Darstellung vielfach über die des Annuaire hinaus. 

3) B. d. PO. bedeutet das Bulletin de l’OÖffice du Traveil, wenn ohne weiteren 
Zusatz Tome XII, Année 1905, Paris. Es ist dieses das amtliche Organ für die fran- 
zösische Sozialpolitik, die seit dem Erlaß vom 26. Oktober 1906 (vergl. Reichs-Arbeits- 

blatt, Jahrg. IV, S. 1099) einen Mittelpunkt in einem besonderen „Ministerium für 
Arbeit und soziale Fürsorge“ hat. 


12* 


180 Nationalökonomische Gesetzgebung 


der Staatseisenbahnen und deren Angestellten aus Anlaß des Arbeits- 
vertrages übertragen wird. J. off, 30. März. 


Das Gesetz bezweckt die Gleichstellung der staatlichen Eisenbahnangestellten 
mit denen der privaten Gesellschaften durch den einzigen Artikel: „Die ordent- 
lichen Gerichte sind zuständig für Entscheidung der Streitigkeiten, welche aus 
Anlaß des Arbeitsvertrages sich zwischen der Verwaltung der Staatseisenbahnen 
und ihren Angestellten ergeben können.“ 


Erlaß vom 17. Mai 1905 betr. den Dienst der Arbeitsinspektoren. 
J. off., 21. Mai. 


Die Zahl der Gewerbeaufsichtsbeamten wird auf 11 Bezirksinspektoren (jeder 
für mehrere Departements), und 111 (männliche und weibliche) Departements- 
inspektoren festgesetzt, deren Tätigkeitsgebiet im einzelnen abgegrenzt wird. Erstere 
beziehen ein Gehalt von 6-80, letztere von 3—5U00 fres. sowie Dienstaufwand- 
gelder und Reisekosten, deren Höhe der Erlaß bestimmt. 


Gesetz vom 15. Juli 1905 betr. die Zusammensetzung der Gewerbe- 
gerichte und die Organisation einer Berufungsinstanz in Gewerbe- 
gerichtssachen !J. J. off., 15. u. 16. Juli. 


Art. 1. Das Gewerbegericht setzt sich aus der stets gleichen Anzahl von 
Unternehmer- und Arbeiterbeisitzern zusammen mit Einschluß der abwechseind 
den Vorsitz führenden Präsidenten und stellvertretenden Präsidenten. Es sind 
mindestens zwei Unternehmer und zwei Arbeiter erforderlich. Fehlt der Präsident 
oder der stellvertretende Präsident, so führt der amtsälteste Beisitzer den Vorsitz, 
bei gleichen Amtsalter der dem Lebensalter nach Aeltere. 

Ausnahmsweise kann, in den Fällen des Gesetzes vom 10. Dezember 1854, 
das Gewerbegericht recht»gültig beraten bei Anwesenheit einer geraden Mitglieder- 
zahl von mindestens vier, auch wenn die Zahl der Arbeiter- und der Unternehmer- 
beisitzer nicht gleich ist. 

Die Eorcheidungen des Gewerbegerichts erfolgen nach absoluter Mehrheit der 
anwesenden Mitglieder. 

Bei Stimmengleichheit wird die Sache unverzüglich dem unter Vorsitz des 
Friedensrichters des Bezirkes oder seines Stellvertreters erkennenden Gewerbegericht 
überwiesen. 

Umfaßt der Gewerbegerichtsbezirk mehrere Kantone oder Arrondissements 
der Friedensgerichtsbarkeit, so ist der zur Mitwirkung beim Gewerbegericht und 
zu seinem Vorsitz berufene Friedensrichter der im Sinne der für den Vorsitz oben 
gegebenen Bestimmungen dem Amtsalter oder der Lebensdauer nach Aelteste. 

Jedoch kann der Vorsitzende des Zivilgerichts für den Bezirk, in dem das 
Gewerbegericht seinen Sitz hat, in den Fällen, in denen er vom Justizminister 
hiermit beauftragt ist, für die Friedensrichter des Gewerbegerichtsbezirkes eine 
Reihenfolge aufstellen, nach welcher sie innerhalb bestimmter Zeit den Dienst 
versehen. 

Friedensrichter der Kantone, in denen nicht der Sitz des Gewerbegerichts 
liegt, werden auf Verlangen hiervon befreit. 

Die Sitzungen des Gewerbegerichts sind Öffentlich. Bei Gefährdung der 
Ordnung kann das Gericht die Oeffentlichkeit ausschließen. 

Der Urteilsspruch hat stets in öffentlicher Sitzung zu erfolgen. 

Art. 2. Die Urteile der Gewerbegerichte sind endgültig und unterliegen keiner 
Berufung, abgesehen vom Fall der Unzuständigkeit, wenn die Streitsumme drei- 
hundert (300) fres. Kapital nıcht übersteigt. 

Die Gewerbegerichte entscheiden über alle Wider- und Kompensationsklagen, 
für die sie zuständig sind. 

Wenn jede Haupt-, Wider- oder Kompensationsklage in letzter Instanz zur 
Zuständigkeit des Gewerbegerichts gehört, so unterliegen die Entscheidungen über 
alle Klagen keiner Berufung. 

1) Zur Entstehungsgeschichte vergleiche den Aufsatz von Raoul Jay im „Ge- 
werbe- und Kaufmannsgericht“, 11. Jahrg., No. 3, wo auch die durch dieses 
Gesetz gegenüber der früheren Rechtslage geschaffenen Veränderungen hervorgehoben sind. 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 181 


Wenn eine dieser Sachen, über die entschieden wird, der Berufung unterliegt, 
so entscheidet das Gewerbegericht über alle Sachen nur in erster Instanz. Jedoch 
entscheidet es in letzter Instanz, wenn nur die ausschließlich auf die Hauptklage 
gestützte Widerklage auf Schadensersatz seine Zuständigkeitsgrenze als erste In- 
stanz überschreitet. 

Die der Berufung unterliegendeu Urteile können für vorläufig vollstreckbar 
erklärt werden ohne Sicherheitsleistung bis zu einem Viertel der Streitsumme, wenn 
dieses Viertel nicht 100 fres. übersteigt. Darüber hinaus kann bei Sicherheits- 
leistung des Antragstellers die vorläufige Vollstreckbarkeit ausgesprochen werden. 

Art. 3. Beträgt der Wert der Klage mehr als 300 frcs., ist gegen das Urteil 
des Gewerbegerichts Berufung beim Zivilgericht zulässig. 

Die Berufung wird nicht vor drei Tagen nach Urteilsverkündung angenommen 
außer bei vorläufiger Vollstreckbarkeit, noch später als zehn Tage nach der Aus- 
fertigung. Die Berufung wird eingeleitet und beurteilt wie eine Handelssache (ohne 
obligatorische Vertretung durch einen avoué). 

Die Parteien können sich einen Beistand wählen und sich bei Abwesenheit 
oder Krankheit durch einen Arbeiter oder Unternehmer desselben Berufes vertreten 
lassen. 

Die Betriebsunternehmer können sich durch den leitenden Direktor oder einen 
Angestellten vertreten lassen. 

Der Bevollmächtigte soll eine stempelfreie schriftliche Vollmachtserklärung 
besitzen, die auch am Fuße des Originals oder der Abschrift der Vorladung aus- 
gestellt sein kann. 

Die Parteien können Schriftsätze einreichen, dürfen dagegen keine Verteidi- 
gungsschriften zustellen lassen. 

Die Parteien können als Vertreter oder Beistand einen zugelassenen avocat 
oder einen beim Zivilgericht des Arrondissements tätigen avoué wählen. Beide 
sind von der Verpflichtung der Vorlage einer Vollmacht befreit. 

Das Zivilgericht sa innerhalb von 3 Monaten nach Einlegung der Be- 
rufung entscheiden. 

Art. 4. Die letztinstanzlichen Urteile des Gewerbegerichts können im Wege 
des Kassationsrekurses wegen Zuständigkeitsüberschreitung oder Gesetzesverletzung 
angefochten werden. 

Die Berufung muß innerhalb dreier Tage nach der Urteilsanzeige durch Er- 
klärung bei der Gewerbegerichtsschreiberei erfolgen und, zwecks Vermeidung der 
Ungültigkeit, innerhalb von 8 Tagen notifiziert werden. 

Innerhalb von 14 Tagen nach der Notifizierung werden die Akten dem 
Kassationshofe zugestellt; keinerlei Gebühren sind zu hinterlegen; der Rechts- 
beistand eines avocat ist nicht obligatorisch. 

Die Berufung wird unmittelbar der Zivilkammer vorgelegt. 

Der Kassationshof wird innerhalb eines Monats nach Eonpfang der Akten 
entscheiden. 

Die Urteile der Zivilgerichte in der Berufungsinstanz können im Wege des 
Kassationsrekurses wegen Unzuständigkeit, Zuständigkeitsüberschreitung oder Ge- 
setzesverletzung angefochten werden. 

Die Kassationsanfechtungen gegen diese Urteile unterliegen den in Abs. 2, 3, 
4 und 5 dieses Artikels aufgestellten Regeln. Die Anfechtung muß jedoch beim 
Zivilgerichtsschreiber erfolgen. 

Art. 5. Die Gewerbegerichte gehören zum Ressort des Justizministers, der 
die Aufsicht über sie führt. 

Die Bestimmungen des Zivilgesetzbuches, der Zivilprozeßordnung und des 
Strafgesetzbuches, die sich auf die Disziplin der Gerichte und Beamten beziehen, 
sind auf Gewerbegerichte und ihre Mitglieder anwendbar. 

Art. 6. Die Bestimmungen dieses Gesetzes finden keine Anwendung auf die 
vor seiner Veröffentlichung eingeleiteten Klagen. 

Art.7. Alle Bestimmungen früherer Gesetze, soweit sie diesem Gesetz wider- 
sprechen, sind aufgehoben. 

Ein Rundschreiben des Justizministers vom 25. August 1905 

(B. d. O., S. 1001) an die Oberstaatsanwälte gemäß Art. 5 d. G. erläutert 
deren praktische Durchführung; ferner ein Rundschreiben des Handels- 
ministers vom 9. September 1905 an die Präfekten (B. d. rO., S. 1008). 


182 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


Erlaß vom 11. August 1905 betr. Abänderung des Erlasses vom 
17. Juli 1900 über die Reorganisation der Pariser Arbeitsbörse. J. off., 
17. August. 


Die Vorschriften über öffentlichen Zutritt, die Befugnisse des Seinepräfckten, 
den Verwaltungsausschuß werden ergänzt. Im B. d. PO., 5.730, ist der vollständige 
Erlaß von 1900/1905 abgedruckt; die neue Geschäftsordnung a. a. O. S. 919. 


Amnestiegesetz vom 2. November 1905. J. off, 23. November. 


Außer für andere Gesetzesübertretungen wird völlire Amnestie gewährt „bei 
Vergehen und Gesetzesübertretungen bezüglich des Versammlungs-, Wahlrechts, 
Streiks, Kundgebungen am 1. Mai durch die Presse, und ähnlicher Art“ und für 
Verurteilung wegen Nichtbeachtung der Arbeiterschutzgesetze und -Verordnungen. 


II. Alters- und Armenfürsorge. 


Gesetz vom 14. Juli 1905 betr. die obligatorische Unterstützung 
von mittellosen Greisen, Siechen und unheilbar Kranken. J. off., 15. und 
16. Juli. 


Titel I. Organisation der Unterstützung. 


Art. l. „Jeder Franzose, welcher der Hilfsmittel beraubt und unfähig ist, 
durch eigene Arbeit sich Lebensunterhalt zu verschaffen, empfängt zu den nach- 
stehend angegebenen Bedingungen die durch dieses (Gesetz eingeführte Unter- 
stützung, wenn er das ‘0. Lebensjahr überschritten hat oder wenn er an einem 
Gebrechen oder an einer als unheilbar erkannten Krankheit leidet. 

Art. 2. Die Unterstützung wird gewährt von der Gemeinde, wo der Unter- 
stützte seinen Unterstützungswohnsitz hat; in Ermangelung eines Gemeindeunter- 
stützungswohnsitzes von dem Departement, wo der Unterstützte seinen Departements- 
unterstützungswohnsitz hat; in Ermangelung jedes Unterstützungswohnsitzes vom 
Staat. 

Die Gemeinde und das Departement erhalten zur Bestreitung der ihnen durch 
dieses Gesctz auierlegten Ausgaben die in Titel IV vorgesehenen Beihilfen. 

Art. 3. Der Unterstützungswohnsitz, sowohl der einer Gemeinde wie der 
eines Departements wird erworben und geht verloren gemäß den Bedingungen der 
Art. 6 und 7 des Gesetzes vom 15. Juli 1803; jedoch wird die zum Erwerb oder 
zum Verlust dieses Wohnsitzes erforderliche Zeit auf 5 Jahre festgelegt. Vom 
75. Lebensjahre an kann niemand einen neuen Unterstützungswohnsitz erwerben 
oder den ihm gehörenden verlieren. 

Gebrechliche oder unheilbarkranke unterstützte Kinder haben nach Er- 
langung der Volljährigkeit ihren Unterstützungswohnsitz im Departement, dessen 
Verwaltungsbezirk sie angehörten, bis zum Erwerb eines anderen Unterstützungs- 
wohnsitzes.“ 

Art. 4. Erstattungsansprüche der nicht zur Unterstützung verpflichteten 
Verwaltungsbehörde, welche die Unterstützung gleichwohl anderswo Unterstützungs- 
berechtigten gewährte, 

Art. 5. Regreßrecht dem Unterstützten gegenüber, falls sich herausstellt, 
daß er genügend Hilfsmittel hat oder erhält, sowie gegenüber bisherigen zur Unter- 
stützung verpflichteten Personen, Angehörigen oder Gesellschaften. 

Art. 6. Der Unterstützungsdienst wird in jedem Departement von dem 
Generalrate organisiert, „gegebenenfalls durch Verwaltungsakt“. 


Titel II. Zulassung zur Unterstützung. 


Art. 7. „Die Armenhilfstelle der Gemeinde!) (Unterstützungsamt) stellt all- 
jährlich einen Monat vor der ersten ordentlichen Sitzung des Gemeinderates ein 


1) Als kommunale Verwaltungsstelle für Armen-Krankenpflege, organisiert durch 
Art. 10 d. G. über die Armen-Krankenpflege vom 15. Juli 1893.  Vergl. über die bis- 
herige Altersfürsorge- und Armengesetzgebung in Frankreich, sowie über die Entstehungs- 
geschichte dieses Gesetzes: Zacher, Die Arbeiterversicherung im A usland, 
Heft 4u (Nachtrag), Berlin 1902, S. 57 ff. 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 183 


Verzeichnis der Greise, Siechen und unheilbar Kranken auf, welche die in Art. 1 
vorgeschriebenen Bedingungen erfüllen und in der Gemeinde wohnhaft sind und 
ihre Berechtigung auf die durch dieses Gesetz eingeführte Unterstützung schriftlich 
geltend gemacht haben. Die Armenhilfsstelle schlägt gleichzeitig die jedem ange- 
messene Unterstützungsart vor und bezeichnet den Betrag der monatlichen Unter- 
stützungssumme, wenn diese Art der Hılfe eine Heimunterstützung ist.“ Innere 
Einrichtung und in der Regel vierteljährliche Revision der Liste Sie zerfällt in 
zwei Teile, der erste umfaßt die Unterstützungsberechtigten, die in ihrer Gemeinde 
ihren Unterstützungswohnsitz haben, und ist dem Gemeinderat zuzusenden; der 
zweite die beim Departement Unterstützungsberechtigten, er ist dem Präfekten zu 
übermitteln. 

Art. 8. Alle eingereichten Gesuche werden vom Gemeinderat, der alo über 
die Zulassung zur Unterstützung entscheidet, beraten, er regelt die Bedingungen 
(monatliche Unterstützungssumme) unter denen die Autragsteller die in der Ge- 
meinde unterstützungsberechtigt sind, in ihrer Wohnung oder in Anstalten unter- 
stützt werden, ob also offene oder geschlossene Armenpflege durch Heim- 
pflege bezw. Anstaltspflege anzuwenden ist. 

Art. 9. Amtliche Auslegung der Liste nach Feststellung der Ansprüche. 
Eine Abschrift erhält der Präfekt. 

Abs. 3: „Während einer Frist von 20 Tagen von der Auslegung an kann 
jeder Greis, Sieche oder unheilbar Kranke, dessen Gesuch vom Gemeinderat abge- 
lehnt ist, Beschwerde beim Bürgermeisteramt einlegen ; innerhalb der gleichen Zeit 
kann jeder Bewohner oder Steuerzahler der Gemeinde die Eintragung oder Löschung 
ausgelassener oder unberechtigt in die Liste aufgenommmener Personen beantragen. 

Präfekt und Unterpräfekt haben das gleiche Recht. 

Art. 10. Gegen die Entscheidungen des Gemeinderates über die Höhe der 
monatlichen Unterstützungssumme ist unter den gleichen Bedingungen Beschwerde 
zulässig.“ 

Art. 11, 12 enthalten Bestimmungen betr. Entscheidung über die Beschwerde 
durch kantonale Ausschüsse und über Befugnisse der Präfekten und der kantonalen 
Ausschüsse. Diese bestehen aus dem Unterpräfekten des Arrondissements, Mit- 
gliedern gewisser Departements- und Kantonbehörden, auch der Armenverwaltung, 
einem Friedensrichter und Delegierten lokaler Wohltätigkeitgesellschaften. 

Art. 13ff. Die Ansprüche der Unterstützungssuchenden mit nur einem 
Departementsunterstützungswohnsitz bestimmen und regeln Departementsausschüsse, 
gegen die innerhalb zweier Monate Beschwerde beim Minister des Innern eingelegt 
werden kann. Der Präfekt benachrichtigt die Gemeinden, Departements bezw. 
den Minister des Innern, damit die dort Unterstützungsberechtigten ebenfalls ver- 
sorgt werden. 

Art. 16 und 17. Die Zulassung zur Unterstützung für Berechtigte, die keinen 
Unterstützungswohnsitz haben, spricht der Minister des Innern aus auf Grund des 
Beschlusses eines Zentralausschlusses, der aus 15 Mitgliedern des „oberen Rates für 
öffentliche Unterstützung“ und 2 Mitgliedern des „oberen Rates für gegenseitige 
Hiltie“ zusammengesetzt ist. Dieser ist zugleich oberste Entscheidungsinstanz für 
alle Streitigkeiten, entscheidet endgültig also sowohl über die Festsetzungen und 
Anordnungen der kantonalen wie der Departementsausschüsse, die etwa ange- 
fochten sind. 

Art 18. „Die Unterstützung muß zurückgezogen werden, wenn die ursäch- 
lichen Bedingungen fortfallen. 

Die Zurückziehung wird je nach den Umständen vom Gemeinderat, dem 
Departementsausschuß oder dem Minister des Innern ausgesprochen. Auch hier ist 
das gleiche Beschwerderecht gegeben.“ 


Titel III. Art und Weise der Unterstützung. 


Art. 19. „Die Greise, Siechen und unheilbar Kranken, die einen Kommunal- 
oder Departementsunterstützungswohnsitz haben, erhalten die Unterstützung in 
ihrem Hause. Die, welche in ihrem Hause nicht wohl unterstützt werden können, 
werden mit ihrer Einwilligung in einem öffentlichen Spital oder einer privaten 
Anstalt oder bei Einzelpersonen untergebracht oder auch in öffentlichen oder 
privaten Anstalten, wo ihnen unabhängig von einer anderen Unterstützungsform, 
nur freie Wohnung zu gewähren ist. 


184 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


Die für jeden individuellen Fall angewandte Art der Unterstützung hat keinen 
endgültigen Charakter. 

Art. 20. Die Heimunterstützung besteht in der Zahlung einer monatlichen 
Geldsumme. 

Der Betrag dieser Geldsumme wird für jede Gemeinde durch den Gemeinderat 
unter Vorbehalt der Genehmigung des Generalrates und des Ministers des Innern 
festgesetzt. 

Er darf nicht kleiner sein als fünf (5) fres. noch — ausgenommen besondere 
Fälle — größer als zwanzig (20) fres. Ist er größer als 20 frcs., unterliegt die 
Entscheidung des Generalrates der Genehmigung des Ministers des Innern, der 
nach dem Gutachten des oberen Rates für Öffentliche Unterstützung entscheidet. 

Wenn er dreißig (30) fres. übersteigt, wird der übersteigende Betrag nicht 
bei Berechnung der nach Art. 4 zulässigen Erstattungsansprüche noch bei Be- 
stimmung der in Titel IV vorgesehenen Subventionen seitens des Departements 
oder des Staates in Rechnung gestellt. 

Im Fall, daß die zur Unterstützung zugelassene Person über gewisse Hilfs- 
mittel bereits verfügt, wird der Betrag der Geldunterstützung diesen Hilfsmitteln 
entsprechend vermindert. Jedoch werden die aus einer Sparkasseneinlage, be- 
sonders aus einer rechtmäßig erworbenen Rente einer Unterstützungsgenossenschaft 
herrührenden Hilfsmittel nicht abgezogen, wenn sie sechsig (60) fres. nicht über- 
steigen. Dieser Betrag wird von sechzig (60) auf hunderzwanzig (120) frcs. erhöht 
für die Berechtigten, die nachweislich wenigstens drei Kinder bis zu 16 Jahren 
erzogen haben. Im Fall, daß die Hilfsmittel diese Ziffern übersteigen, wird der 
übersteigende Betrag nur bis zur Hälfte abgezogen; doch dürfen die von der Spar- 
kasseneinlage herrührenden Hilfsquellen zusammen mit dem Unterstützungsgeld 
die Summe von vierhundertachtzig (480) fres. nicht übersteigen. 

Die festen und beständigen, von privater Wohltätigkeit herrührenden Hilfsmittel 
werden nur bis zum halben Betrag mıt der gleichen Maximalgrenze von 480 fres. 
abgezogen. 

Art. 21. Der Genuß der Geldunterstützung beginnt mit dem Tage, der durch 
Entscheidung über die Zulassung zur Unterstützung festgesetzt ist. 

Die Unterstützungs- und Hilfsstelle beschließt entsprechend den Verhält- 
nissen, ob die Geldunterstützung in einmaliger oder in Teilzahlungen ausgezahlt 
wird; nach ihrem Beschluß kann die Unterstützung ganz oder teilweise in Naturalien 
gewährt werden. 

Die Unterstützung ist nicht abtretbar und unpfändbar.“ Sie wird am Wohn- 
sitz des Unterstützungsempfängers ausgezahlt. Die Arten der Auszahlung werden 
näher geregelt. 

Art. 22—25 regeln die Unterbringung in öffentlichen (z. B. Spitälern) und 
privaten Anstalten oder bei fremden Familien, welche Unterstützungsarten statt 
der monatlichen Geldunterstützung gewährt werden können. Die für die Anstalts- 
pflege geeigneten Anstalten werden vom Generalrat bezeichnet, die Zahl der not- 
wendigen Betten vom Präfekten, der auch den alle 5 Jahre zu revidierenden Tages- 
satz festsetzt. Berechtigte ohne Unterstützungswohnsitz werden in der Regel in 
vom Minister des Innern bezeichneten, öffentlichen Anstalten untergebracht, sofern 
nicht eine Heimunterstützung in Bargeld vorgeschlagen wird. 

Art. 26. Arzt- und Krankentransportkosten werden gleichfalls von Gemeinde, 
bezw. Departement, bezw. Staat getragen. 


Titel IV. Beschaffung der Mittel, 


ordnet in Art. 27—42 die finanzielle Verteilung der durch die obligatorische Unter- 
stützung entstandenen Lasten für Gemeinde, Departement und Staat. 

Neue Geldquellen sind zur Deckung der Ausgaben vom Gesetz nicht einge- 
führt. Die Ausgaben sollen vielmehr zunächst durch die bestehenden Wohltätig- 
keitsfonds und regelmäßigen Einnahmen von Gemeinde und Departement gedeckt 
werden. Die Gemeinden bestreiten z. B. die ihnen entstandenen Ausgaben (nach 
Art. 27) „mit Hilfe 1) der besonderen Hilfsquellen, die herrühren aus Stiftungen 
oder Schenkungen, die zum Zweck der Unterstützung von Greisen, Siechen und 
unheilbaren Kranken gemacht sind, es sei denn, daß die Bedingungen solcher Stif- 
tungen oder Schenkungen dem widersprechen; 2) der eventuellen Beteiligung des 
Wohltätigkeitsamtes und des Hospizes; 3) der ordentlichen Einnahmen“. Im Fall 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 185 


der Unzulänglichkeit dieser Mittel erhalten die Gemeinden jedoch 4) eine Subven- 
tion seitens des Departements entsprechend einer dem Gesetz beigefügten Berech- 
nungstabelle; die Gemeinden haben schließlich Anspruch auf eine ergänzende staat- 
liche Subvention gemäß einer weiteren (dritten) Tabelle. Die Departements erhalten 
andererseits ebenfalls, wenn ihre regelmäßigen Einnahmen nicht reichen, staatliche 
Subventionen gemäß einer zweiten dem Gesetz angefügten Berechnungstabelle. Die 
Höhe der Subventionen von Departement oder Staat richtet sich nach der Steuer- 
kraft der Gemeinden und der Zahl der Unterstützten im Verhältnis zur Größe der 
Bevölkerung. Ferner haben die Wohltätigkeitsanstalten ihren Bestimmungen ent- 
sprechend für die nach dem Gesetz Unterstützungsberechtigten zu sorgen; desgleichen 
öffentliche Krankenhäuser. Art. 33. „Für die 3 Jahre 1907, 1908, 1909 wird das 
jährliche Finanzgesetz die Summe bestimmen, die der Minister des Innern für die 
nach diesem Gesetz den Gemeinden und Departements zu bewilligenden Subventionen 
anweisen darf').“ Das Gesetz enthält ferner 


Titel V. Zuständigkeit und Titel VI. Verschiedenes, 


woraus hier die Stempelfreiheit und unentgeltliche Eintragung aller Zeugnisse und 
anderer Urkunden hervorgehoben wird. Die Gesetze betr. Geisteskranke bleiben un- 
berührt. 


.. „Das Gesetz tritt mit dem 1. Januar 1907 in Kraft. Anordnungen der öffent- 
lichen Verwaltung bestimmen nötigenfalls das zur Durchführung Erforderliche “ 


III Unfallgesetzgebung. 


Die Grundlage für die gegenwärtig gültigen Haftpflicht- 
bestimmungen ist das Gesetz vom 9. April 1898 über „die Haftung 
für Unfälle, von denen Arbeiter bei ihrer Arbeit betroffen werden ?).“ 
Es wurde zunächst in einigen Punkten geändert durch Gesetz vom 
28. März 1902; weitere ergänzende Bestimmungen gibt das nachstehend 
seiner Bedeutung wegen übertragene Gesetz. Der Art. 1, auf den Be- 
zug genommen ist, bestimmt (Abs. 1) „Unfälle, die durch die Arbeit 
oder bei Gelegenheit der Arbeit Arbeitern oder Angestellten zustoßen 
im Baugewerbe, Hüttenwerken, Fabriken, Werften, Land- oder Wasser- 
transportunternehmungen, bei Lade- und Entladungsarbeiten, in öffent- 
lichen Magazinen, in Bergwerken, Gruben, Steinbrüchen und ferner in 
jedem Unternehmen oder einem Teil eines Unternehmens, in dem Spreng- 
stoffe hergestellt oder verwendet, oder in dem von einer anderen als 
Menschen- oder Tierkraft getriebene Maschinen gebraucht werden, geben 
dem. Verletzten oder seinen Vertretern einen Anspruch auf eine Ent- 
schädigung zu Lasten des Unternehmers, für den Fall, daß die Arbeits- 
unterbrechung länger als 4 Tage gedauert hat“. Das ganze Gesetz 
zerfällt in die Titel: „Entschädigung bei Unfällen“ (Art. 1 —10), „Anzeige 
und Untersuchung der Unfälle“ (Art. 11-14), „Gerichtsbarkeit, Ver- 
fahren, Revision“ (Art. 15—22), „Garantien“ (Art. 23—28), „Allgemeine 
Bestimmungen“ (Art. 29—34). 

Gesetz vom 31. März 1905, betr. Abänderung verschiedener Artikel 
des Gesetzes vom 9. April 1898 über Arbeitsunfälle. ‚Journ. off, 2. April. 


1) Vergl. über Bedeutung dieser Bestimmung den Aufsatz von Raoul Jay in der 
Sozialen Praxis, 15. Jg., Sp. 25 und über die finanziellen Anforderungen an die Staats- 
mittel, die über Erwarten groß sind, ebenda Sp. 1185. 

2) Eine systematische Darstellung geben das „Bulletin des Internationalen Arbeits- 
amtes,“ Bd. 4 (1905), S. LXXII u. S. 32 und das „Annuaire de la législation du tra- 
vail“, herausgegeben vom Belgischen Arbeitsamt, Jg. 1905, S. 187 flg. 


186 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


Art. 1. Die Artikel 3, 4, 10, 15, 16, 19, 21, 27 und 30 des Ge- 
setzes vom 8. April 1898 werden, wie folgt, geändert. 


Art. 3. In den von Art. 1 vorgesehenen Fällen hat der Arbeiter oder Ange- 
stellte Anspruch: 

bei vollständiger und dauernder Erwerbsunfähigkeit auf eine Rente in Höhe 
von zwei Drittel des Jahresverdienstes; 

bei teilweiser und dauernder Erwerbsunfähigkeit auf eine Rente in Höhe der 
Hälfte des durch den Unfall verursachten Lohnverlustes ; 

bei vorübergehender Erwerbsunfähigkeit, wenn die Erwerbsunfähigkeit mehr 
als 4 Tage gedauert hat, auf eine Tagesentschädigung ohne Unterschied zwischen 
Werk-, Sonn- und Feiertagen in der Höhe der Hälfte des zur Zeit des Unfalls 
bezogenen Lohnes, wofern dieser Lohn nicht veränderlich ist; in letzterem Falle 
beträgt die Tagesentschädigung die Hälfte des durchschnittlichen Lohnes der Ar- 
beitstage in dem Monat, welcher dem Unfall vorhergegangen ist. Die Entscha- 
digung wird vom 5. Tage nach dem Tage des Unfalls an geschuldet; sie wird jedoch 
vom l. Tage an geschuldet, wenn die Erwerbsunfähigkeit länger als 10 Tage ge- 
dauert hat. Die Tagesentschädigung ist auszuzahlen an den bei dem Unternehmen 
üblichen Zahlungsterminen und Zahlstellen, ohne daß die Zwischenzeit länger als 
16 Tage dauern dürfte. 

Hat der Unfall den Tod zur Folge, so wird eine Pension den nachbenannten 
Personen vom Todestage an unter folgenden Bedingungen gewährt: 

a) Eine lebenslängliche Rente in Höhe von 20 Proz. des Jahresverdienstes des 
Getöteten dem überlebenden, nicht geschiedenen oder nicht von Tisch und Bett 
getrennten Ehegatten, wenn die Ehe vor dem Unfall geschlossen ist. 

Im Fall der Wiederverheiratung verliert der Ehegatte den Anspruch auf die 
obenerwähnte Rente; ihm wird jedoch in diesem Falle das Dreifache der Rente als 
Totalabtindung gewährt. 

b) Den ehelichen oder vor dem Unfall anerkannten natürlichen Kindern, 
vater- oder mutterlosen Waisen unter 16 Jahren eine Rente, die berechnet wird 
nach dem ‚Jahresverdienst des Getöteten in Höhe von 15 Proz. des Jahresver- 
dienstes, wenn nur ein Kind vorhanden ist, von 25 Proz. wenn zwei, von 35 Proz. 
wenn drei, und von 40 Proz. wenn vier und mchr Kinder vorhanden sind. 

Sind die Kinder vater- und mutterlos, so wird die Rente für jedes Kind auf 
20 Proz. des Vertdienstes erhöht. 

Der Gesamtbetrag dieser Renten darf nicht im ersten Fall 40 Proz., im zweiten 
nicht 60 Proz. des Verdienstes übersteigen. 

c) Hat der Getötete weder Ehegatten noch Kinder im Sinne der $$ a und b, 
so erhält jeder der ihm gegenüber unterhaltsberechtigten Aszendenten und Deszen- 
denten eine Rente, die für die Aszendenten lebenslänglich, und für den Deszen- 
den bis zum 16. Jahre zu zahlen ist. Diese Rente ist gleich 10 Proz. des Jahres- 
verdienstes des Getöteten, jedoch darf der Gesamtbetrag der so gewährten Renten 
nicht 30 Proz. übersteigen. 

Jede in $ c vorgesehene Rente wird gegebenen Falls verhältnismäßig herab- 
gesetzt. 

Die auf Grund dieses Gesetzes festgelegten Renten sind zahlbar am Wohnsitze 
des Berechtigten oder in der Hauptstadt des Kantons dieses Wohnsitzes; wenn sie 
durch die nationale Altersversorgungskasse bezahlt werden, sind sie zahlbar bei 
dem Vorgesetzten der durch den Berechtigten bezeichneten Anstalt. 

Sie sind vierteljährlich zahlbar an einem bestimmten Termin. Das Gericht 
kann jedoch die Vorausbezahlung der Hälfte des ersten Rentenbetrages anordnen. 

Diese Renten sind unabtretbar und unpfändbar. 

Ausländische Arbeiter, die von Unfall betroffen werden, welche ihren Wohn- 
sitz auf französischem Boden aufgeben würden, empfangen als Abfindungssumme 
ein Kapital gleich der dreifachen, ihnen zuerkannten Rente. 

Das gleiche gilt für ihre ausländischen Rechtsnachtolger, die den Wohnsitz 
auf französischem Boden aufgeben, ohne daß jedoch das Kapital den gegenwärtigen 
Wert der Rente nach dem in Art. 28 vorgesehenen Tarif übersteigen dürfte, 

Die ausländischen Vertreter eines ausländischen Arbeiters empfangen keine 
Entschädigung, wenn sie zur Zeit des Unfalls nicht ihren Wohnsitz auf französischem 
Boden hatten. 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 187 


Die Bestimmungen der drei vorhergehenden Absätze können jedoch durch 
Verträge in den Grenzen der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen für die 
Ausländer abgeändert werden, deren Heimatland französischen Staatsangehörigen 
entsprechende Vorteile gewährleistet. 

Art. 4. Der Betriebsunternehmer trägt außerdem die Arzt- und Apotheker-, 
sowie die Beerdigungskosten. Die letzteren werden auf höchstens 100 fres. 
veranschlagt. 

Der Verletzte darf immer Arzt und Apotheker selbst wählen. In diesem 

Fall kann der Betriebsunternehmer für die Arzt- und Apothekerkosten nur bis 
zu einem Betrage herangezogen werden, der vom Friedensrichter des Kantons, in 
dem der Unfali erfolgte, entsprechend einem Tarife festgesetzt ist, welcher durch 
Verordnung des Handelsministers nach Gutachten einer besonderen Kommission 
aufgestellt wird, die Vertreter der Aerzte- und Apothekerorganisationen, der Arbeiter- 
und Unternehmerverbände, der Unfallversicherungsgesellschaften und der Gegen- 
seitigkeitsgesellschaften umfaßt, und der nur alle zwei Jahre abgeändert werden 
kann. 

Der Betriebsunternehmer allein hat in allen Fällen außer denin Art.3 enthaltenen 
Verpflichtungen die Krankenhauskosten zu tragen, die jedoch alles in allem den 
für die Anwendung von Art. 24 des Gesetzes vom 15. Juli 1893 aufgestellten um 
50 Proz. erhöhten Tarif nicht übersteigen und niemals 4 fres. pro Tag in Paris 
und 3,50 fres. überall sonst überschreiten dürfen. 

Arzt, Apotheker und Krankenhäuser können unmittelbar den Betriebsunter- 
nehmer in Anspruch nehmen. 

Während der Krankheitsbehandlung kann der Betriebsunternehmer dem 
Friedensrichter einen Arzt bezeichnen, der ihn über den Zustand des Verletzten 
unterrichten soll. Diese vom Friedensrichter ordnungsgemäß vorgenommene Be- 
zeichnung gibt dem genannten Arzt das Recht wöchentlichen Zutrittes beim Ver- 
letzten in (segenwart des behandelnden Arztes, der zwei Tage vorher durch Ein- 
schreibebrief benachrichtigt wird. 

Entzieht sich der Verletzte dieser Untersuchung, so wird die Auszahlung der 
Tagesentschädigung durch Entscheidung des Friedensrichters, der den Verletzten 
durch einfachen Einschreibebrief zu sich entbietet, suspendiert. 

Bescheinigt der Arzt, daß der Verletzte die Arbeit wieder aufnehmen kann, 
und bestreitet der Verletzte dieses, so kann der Betriebsunternehmer bei vorüber- 
gehender Erwerbsunfähigkeit vom Friedensrichter die Vornahme einer ärztlichen 
Sachverständigenuntersuchung verlangen, die innerhalb fünf Tagen stattfinden muß. 

Art. 10. Als Verdienst, der als Grundlage bei Festsetzungen der Renten 
dient, wird verstanden für den Arbeiter, der in der Unternehmung während zwölf 
Monaten vor dem Unfall beschäftigt war, der tatsächliche Lohn, der ihm in dieser 
Zeit an Geld oder in Naturalien gewährt ist. 

Für die Arbeiter, die weniger als zwölf Monate vor dem Unfall beschäftigt 
waren, ist hierfür der tatsächliche Lohn zu verstehen, den sie seit dem Eintritt 
in die Unternehmung erhalten haben, zuzüglich der Bezahlung, die sie während 
des zur Vervollständigung der zwölf Monate notwendigen Zeitraumes empfangen 
hätten, gemäß der durchschnittlichen Bezahlung der Arbeiter derselben Kategorie 
in dem genannten Zeitabschnitt. 

Wird die Arbeit unterbrochen, so wird der Jahresverdienst sowohl nach der 
während der Beschäftigungszeit empfangenen Bezahlung, wie nach dem Verdienst 
des Arbeiters in dem Rest des Jahres berechnet. 

Wenn während der in den vorhergehenden Absätzen vorgesehenen Zeitabschnitte 
der Arbeiter ausnahmsweise und aus Gründen, die von seinem Willen unabhängig 
sind, gefeiert hat, ist der mittlere Verdienst, der diesen Arbeitsaussetzungen ent- 
sprochen hätte, in Rechnung zu bringen. 

Art. 15. In letzter Instanz werden durch den Friedensrichter des Kantons, 
wo der Unfall sich ereignet hat, ohne Rücksicht auf die Höhe der Klagesumme 
und innerhalb von vierzehn Tagen nach Klageerhebung die Streitigkeiten über 
Beerdigungskosten und zeitweiligen Ent-chädigungen entschieden. 

Die zeitweiligen Entschädigungen werden geschuldet bis zum Todestage oder 
bis zur Heilung der Verletzung, d. h. bis zu dem Tage, wo der Verletzte entweder 
völlig geheilt oder endgültig von dauernder Erwerbsunfähigkeit befallen wird; in 
letzterem Falle werden sie weiter gezahlt bis zu der endgültigen Entscheidung, 


188 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


die im folgenden Artikel vorgesehen ist, unter Vorbehalt der Bestimmungen des 
vierten Absatzes dieses Artikels. 

Wenn die eine Partei auf ein ärztliches Zeugnis gestützt geltend macht, daß 
die Erwerbsunfähiskeit dauernd sei, so muß sich der Friedensrichter für unzu- 
ständig erklären Turchi einen Beschluß, von dem er eine Ausfertigung innerhalb 
von drei Tagen dem Vorsitzenden des Zivilgerichts übermittelt. Gleichzeitig setzt 
er, wenn er es nicht schon vorher getan hat, dıe Tagesentschädigung fest. 

Der Friedensrichter entscheidet über Klagen betreffend die Bezahlung der 
Arzt- und Apotbekerkosten bis zum Betrage von 300 frcs. in letzter Instanz, 
und ferner über Klagen ohne Rücksicht auf die Summe, unter Vorbehalt des 
Berufungsrechts iönerhalb von vierzehn Tagen nach der Entscheidung. 

Die Entscheidungen des Friedensrichters über die Tagesentschädigungen sind 
trotz Einspruches vollstreckbar. Die Entscheidungen unterliegen dem Kassations- 
rekurs wegen Gesetzesverletzung. 

Hat sich der Unfall im Ausland ereignet, so ist der im Sinne des Art. 12 
und dieses Artikels zuständige Friedensrichter derjenige des Kantons, wo die Unter- 
nehmungen oder die Niederlassung sich befinden, zu der der Verletzte gehört. 

Hat der Unfall in Frankreich, aber außerhalb des Kantons, wo die Unter- 
nehmungen oder die Niederlassung sich befindet, zu welcher der Verletzte gehört, 
stattgefunden, so wird ausnahmsweise der Friedensrichter des letzteren Kantons 
zuständig auf Grund eines Gesuches des Verletzten oder seiner Rechtsnachfolger, 
das in einem Einschreibebrief an den Friedensrichter des Kantons, wo der Unfall 
stattgefunden hat, zu richten ist, bevor er sich im Sinne des gegenwärtigen Ar- 
tikels mit der Sache befaßt oder er die in Art. 13 vorgesehene Untersuchung 
abgeschlossen hat. Dem Antragsteller wird unmittelbar ein Empfangsschein durch 
den Gerichtschreiber zugesandt, der zugleich den Betriebsunternehmer und den 
zuständig gewordenen Friedensrichter benachrichtigt, und dem letzteren die Unter- 
suchungsakten gleich nach ıhrem Abschluß zur Benachrichtigung der Parteien, 
entsprechend Art. 13, übermittelt. 

Wenn nach Uebermittelung der Untersuchungsakten an den Vorsitzenden 
des Gerichtes des Unfallortes vor Berufung der Parteien der Verletzte oder seine 
Rechtsnachfolger nachweisen, daß sie vor Abschluß der Untersuchung nicht die 
im vorhergehenden Absatze erwähnte Möglichkeit hatten, so kann der Vorsitzende 
nach Anhörung der Parteien die Akten aus seinen Händen geben und dem Vor- 
sitzenden des Gerichts des Arrondissements übermitteln, wo das Unternehmen 
oder die Niederlassung liegt, zu welcher der Verletzte gehört. . 

Art. 16. Betrefts der anderen in diesem Gesetz vorgesehenen Entschädigungen 
ladet der Vorsitzende des Arrondissementgerichts innerhalb von fünf Tagen nach 
Uebersendung der Akten, wenn der Verletzte vor Schluß der Untersuchung gestorben 
ist, andernfalls innerhalb von fünf Tagen nach Vorlegung des Totenscheines oder 
einer schriftlichen Vereinbarung zwischen den Parteien, welche den dauernden 
Charakter der Erwerbsunfähigkeit anerkennt, seitens der eifrigsten Partei, oder auch 
nach Empfang der in Absatz 3 des vorhergehenden Artikels vorgesehenen Ent- 
scheidung des Friedensrichters, oder schließlich, wenn er keine dieser Schriftstücke 
empfängt, innerhalb der letzten fünf Tage vor Ablauf der in Art. 15 vorgesehenen 
Verjährungsfrist, wenn ihm dieser Verjährungstermin bekannt ist, den Verletzten 
oder seine Rechtsnachfolger, den Betriebsunternehmer oder dessen Vertreter und 
den Versicherer, wenn Versicherung vorliegt. Unter Zustimmung der Parteien 
kann er einen Sachverständigen bestellen, dessen Bericht innerhalb acht Tagen 
eingereicht werden muß. 

Im Fall einer Einigung zwischen den Parteien, die den Vorschriften dieses 
Gesetzes entspricht, wird die Entschädigung endgültig durch Verfügung des Vor- 
sitzenden festgestellt, der darüber eine Beurkundung gibt, die zur Vermeidung der 
Nichtigkeit den als Grundlage dienenden Verdienst und die Minderung des Ver- 
dienstes angeben muß, welche der Unfall veranlaßt hat. 

Kommt keine Einigung zwischen den Parteien zu stande, so werden diese zur 
Auseinandersetzung vor das Gericht gewiesen, welches mit der Sache durch die 
eifrigste Partei betaßt wird und welches im summarischen Verfahren verfahrt, ent- 
sprechend Titel 24 des Buches 2 des Code de procedure civile. Sein Urteil ist vor- 
läufig vollstreckbar. 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 189 


. In diesem Falle kann der Vorsitzende durch eine nicht der Berufung unter- 
liegende Verweisungsverfügung an Stelle der Tagesentschädigung eine provisorische 
Entschädigung festsetzen, die geringer ist als der halbe Verdienst, oder er kann in 
denselben Grenzen eine provisorische Entschädigung den Rechtsnachfolgern zuer- 
kennen. Diese provisorischen Entschädigungen können gewährt oder geändert 
werden infolge eines Gesuches um eine nicht der Berufung unterliegende vorläufige 
Entscheidung. Sie sind unübertragbar und unpfändbar, und unter denselben Be- 
dingungen wie die Tagesentschädigung zahlbar. 

Die Rentenrückstände laufen vom Todestage oder der Heilung der Wunde an, 
ohne daß sie sich mit der Tagesentschädigung oder der vorläufigen Entschädigung 
häufen können. 

In den Fällen, wo der Betrag der Entschädigung oder der provisorischen 
Entschädigung die Rentenrückstände übersteigt, die bis zum Tage der Rentenfest- 
setzung geschuldet sind, kann das Gericht anordnen, daß der überschießende Be- 
trag an den späteren Rückständen in einem von ihm bestimmten Verhältnis ab- 
gezogen wird. 

Wenn Versicherung vorliegt, gibt die Verfügung des Vorsitzenden oder das 
die zugesprochene Rente festsetzende Urteil einzeln an, daß der Versicherer an 
Stelle des Betriebsunternehmers zu den Bedingungen des Titel 4 getreten ist, so 
(laß jeder Rückgriff des Verletzten gegen den genannten Betriebsunternehmer aus- 
geschlossen wird. 

Art. 19. Der Antrag auf Revision der Entscheidung auf Grund einer Ver- 
schlimmerung oder Verbesserung im Zustande des Verletzten oder seines Todes infolge 
der Wirkungen des Unfalls ist statthaft während dreier Jahre, sei es von dem Tode 
an gerechnet, an welchem die geschuldete Tagesentschädigung aufhört, wenn eine 
Zusprechung der Rente nicht stattgefunden hat, sei es von der zwischen den Par- 
teien getroffenen Vereinbarung an oder von der rechtskräftigen richterlichen Ent- 
scheidung an, und zwar selbst dann, wenn die Pension durch ein Kapital gemäß 
‚Art. 21 ersetzt worden ist. 

In allen Fallen sind auf die Revision die Bestimmungen über Zuständigkeit 
und Verfahren der Art. 16, 17, 22 anwendbar. Die Sache wird beim Vorsitzenden 
des Gerichts anhängig gemacht durch einfache Erklärung beim Gerichtsschreiber. 

Wenn zwischen den Parteien eine Vereinbarung zu stande kommt gemäß den 
Vorschriften dieses Gesetzes, so wird die Höhe der revidierten Rente durch Ver- 
fügung des Vorsitzenden festgesetzt, der diese Vereinbarung beurkundet, indem er 
bei Gefahr der Nichtigkeit die Verschlimmerung oder Verbesserung der Erwerbs- 
unfähigkeit näher angıbt. 

Kommt keine Einigung zu stande, so wird die Sache vor das Gericht ver- 
wiesen, welches durch die eifrigste Partei damit befaßt wırd und welches summarisch 
im Sinne von Art. 16 darüber beschließt. 

Während der 3 Jahre, in denen die Revision geltend gemacht werden kann, 
kann der Betriebsunternehmer dem Vorsitzenden des Gerichts einen Arzt bezeichnen, 
der ihn über den Zustand des Verletzten unterrichten soll. 

Diese Bezeichnung, die ordnungsgemäß von dem Vorsitzenden visiert ist, gibt 
dem betreffenden Arzte das Recht vierteljährlichen Zutritts bei dem Verletzten. 
Entzieht sich der Verletzte diesen Besuchen, so wird jede Zahlung der Rente 
suspendiert durch Entscheidung des Vorsitzenden, der den Verletzten durch ein- 
fachen Einschreibebrief zu sich entbietet. 

Die in Art. 9 vorgesehenen Anträge müssen dem Gericht eingereicht werden 
spätestens einen Monat nach Ablauf der für das Revisionsverfahren zulässigen Frist. 

Art. 21. Die Parteien können jederzeit nach Festsetzung der Höhe der Ent- 
schädigung, die dem Verletzten geschuldet wird, beschließen, daß die Zahlung der 
Pension suspendiert und, solange sie hierüber einig sınd, durch eine andere Art 
der Entschädigung ersetzt wird. 

Abgesehen von den in Art. 3 vorgesehenen Fällen kann die Pension durch 
eine Kapitalszahlung nur ersetzt werden, wenn sie 100 fres. nicht übersteigt und 
der Berechtigte volljährig ist. Diese Ablösung kann nur nach dem in Art. 28 
näher angegebenen Tarif vorgenommen werden. 

Art. 27. Unfallversicherungsgesellschaften auf Gegenseitigkeit oder auf feste 
Prämien, inländische sowohl wie ausländische, unterstehen der Ueberwachung und 


190 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


der Aufsicht des Staates und sind gehalten, Reserven oder Sicherheiten unter den 
durch eine Verwaltungsverordnung festgesetzten Bedingungen zu bilden. 

Der Betrag der mathematisch ausgerechneten Reserven oder Sicherheiten 
haftet vorzugsrechtlich für die Zahlung der Pension und Entschädigungen. 

Die Garantiesyndikate unterliegen der gleichen Ueberwachung, und eine Ver- 
waltungsvorschrift hat die Bedingungen ihrer Errichtung und ihrer Geschäfts- 
führung festzusetzen. 

Jederzeit kann ein Erlaß des Handelsministers die Geschäfte des Versicherers 
schließen, der die in diesem Gesetze vorgesehenen Bedingungen nicht erfüllt oder 
dessen finanzielle Lage keine genügende Sicherheit für die Erfüllung seiner Verpflich- 
tungen gibt. Dieser Erlaß wırd nach Anhörung des beratenden Ausschusses für 
Arbeitsunfallversicherung erlassen, nachdem der Versicherer in stand gesetzt ist, 
seine schriftlichen Bemerkungen innerhalb 14 Tagen vorzubringen. Der Ausschuß 
hat sich in weiteren 14 Tagen zu erklären. 

Am 10. Tage nach der Veröffentlichung des Erlasses im Journal officiel 
hören alle Verträge gegen die von diesem Gesetze festgestellten Risiken auf, rechts- 
wirksam zu sein, wobei die noch zu zahlenden oder im voraus bezahlten Prämien 
von dem Versicherer nur im Verhältnis der Zeit der verwirklichten Versicherung 
erworben sind, eine entgegenstehende Abrede in der Polize vorbehalten. 

Der beratende Ausschuß für Arbeitsuntallversicherung besteht aus 24 Mit- 
gliedern, nämlich 2 Senatoren, 3 Deputierten, die von ihren Kollegen gewählt 
werden, dem Direktor für soziale Versicherung und Fürsorge, dem Direktor der Arbeits- 
abteilung, dem Generaldirektor der Depositenkasse, 3 Mitgliedern des Instituts der 
französischen Aktuare, die Agreges sind, dem Vorsitzenden des Handelsgerichtes 
der Seine oder einem von ihm abgeordneten Abteilungsvorsitzenden, dem Präsi- 
denten der Pariser Handelskammer oder seinem Vertreter, 2 Arbeitern, die Mit- 
glieder des Oberen Arbeitsrates sind, einem Professor der Pariser Rechtsfakultät, 
2 Direktoren oder Verwaltern von Arbeiterunfallversicherungsgesellschaften auf 
Gegenseitigkeit oder von Garantiesyndikaten, 2 Direktoren oder Verwaltern von, 
Unfallversicherungsgesellschaften, die Aktien- oder Kommanditgesellschaften sind, 
und 4 Personen, die besonders mit der Unfallversicherung vertraut sind. Eine Ver- 
ordnung bestimmt den Modus der Ernennung und der Ergänzung der Mitglieder, 
sowie die Ernennung des Vorsitzenden, des stellvertretenden Vorsitzenden und des 
Schriftführers. 

Alle Kosten, die aus der Ueberwachung und der Aufsicht sich ergeben, sind 
dureh Beiträge nach Verhältnis der Reserven oder Sicherheiten zu decken und all- 
jährlich für jede Gesellschaft oder Vereinigung durch Erlaß des Handelsministers 
festzusetzen.“ 

Art. 30. „Jede Vereinbarung, die diesem Gesetze widerspricht, ist nichtig.“ 
Geltendmachung der Nichtigkeit, Rechtswirksamkeit derselben; Strafen. 

Art. 2—4 des Gesetzes tretfen Bestimmungen über den erwähnten Tarif, über 
Anwendbarkeit und Inkrafttreten. (Im allgemeinen 30 Tage nach Veröffentlichung.) 


Die Neubestimmungen des Gesetzes und die Aenderungen gegen- 
über der früheren Rechtslage werden erläutert in einem 

Rundschreiben des Handelsministers an die Präfekten, betr. An- 
wendung des Arbeitsunfallgesetzes vom 3. Mai 1905. B. d. rO, 
S. 455 ff.. 

Ferner ergingen 

Erlaß vom 20. Mai 1905 über die Zusammensetzung, Wahl und 
Geschäftsführung des beratenden Ausschusses für Versicherungen gegen 
Arbeitsunfälle (entsprechend Art. 27 des Gesetzes). Journ. off., 1. Juni. 

Erlaß des Ministers für Handel und Industrie vom 30. September 
1905, betr. die Aufstellung des durch Art. 4 des Gesetzes vom 9. April 
1898, abgeändert durch Gesetz vom 31. März 1905, vorgesehenen 
Tarifes für Arzt- und Apothekerkosten. Journ. off, 8. Oktober. 

Gesetz vom 29. Dezember 1905 über die Fürsorgekasse für fran- 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 191 


zösische Seeleute (gegen Gefahren und Unfälle ihres Berufes.) Journ. 
of., 80. Dezember. 
Nach dem „Annuaire“ (S. 331) bringt dieses Gesetz in den Bestimmungen des 
für die Unfallversorgung der Seeleute grundlegenden Gesetzes vom 21. April 1898 
folgende Abänderungen: Erstens erweitert es das Tätigkeitsgebiet der nach Art. 1 
errichteten „nationalen Fürsorgekasse zu gunsten französischer Seeleute gegen die 
Gefahren und Unfälle ihres Berufes, die der Marineinvalidenkasse angegliedert, aber 
unabhängig von ihr ist“; nunmehr sind unterstützungsberechtigt alle eingeschrie- 
benen und die nicht eingeschriebenen auf französischen (Handels)chiffen an Bord 
befindlichen Seeleute, die obligatorische Mitglieder der Kasse sind. Unterstützung 
wird gewährt bei Unfällen an Bord, sowie bei im Zusammenhang mit dem Beruf er- 
littenen Unfällen. Zweitens sind «ie Unterstützungspensionen erhöht und die zu 
entrichtenden Beiträge der Seeleute herabgesetzt. Die gewährten Unterstützungs- 
arten bestehen 1) aus lebenslänglichen Renten bei dauernder völliger Erwerbs- 
unfähigkeit von mindestens 600 bis zu 2200 fres. Die Höhe dieser und der anderen 
Renten, nämlich 2) bei dauernder teilweiser Erwerbsunfähigkeit von 330—1430 fres., 
oder 3) Tagesentschädigungen bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit, ist im ein- 
zelnen aus einem beigefügten Tarif ersichtlich ; sie richtet sich nach den Graden und 
Berufen der Berechtigten, deren Witwen und Waisen sowie Aszendenten ebenfalls 
Ansprüche haben. Die Beiträge der Kassenmitglieder sind allgemein herabgesetzt 
und abgestuft nach Art der Seefahrt und wiederum nach Graden 0,10—1 fre. pro %o 
des Gehaltes. Dagegen sind drittens die Beiträge der Reeder erhöht auf 3,50 fres. pro 
100 fres. bezahlte Lohnsumme; zugleich ist ihre Verantwortlichkeit auf Fälle von 
Absicht oder grober Fahrlässigkeit beschränkt, wobei die von der Kasse gezahlten 
Entschädigungen oder Renten abgezogen werden. Schließlich ist zur finanziellen 
Durchführung die Bildung eines Reservefonds neu geregelt. 


IV. Besonderer Arbeiterschutz in einzelnen Berufen. 


a) Baugewerbe. 

Erlaß vom 6. August 1905, betr. Abänderung von Art. 5 des Er- 
lasses vom 29. November 1904 über Hygiene und Sicherheit der Ar- 
beiter. Journ. off., 20. August. 

Der in der vorigen Uebersicht (diese Jahrb., Bd. 32, S. 206) erwähnte Erlaß 
wird dahin ergänzt, daß Arbeitern auf Bauplätzen Unterkunftsräume und im Winter 
Heizvorrichtungen zur Verfügung stehen müssen. 


b) Bergbau). 
Gesetz vom 9. Mai 1905, betr. Abänderung des Gesetzes vom 
8 Juli 1890 über die Delegierten zur Sicherheit der Bergarbeiter. 


Journ. off., 14. Mai. 

Außer verwaltungstechnischen Bestimmungen wird eine Ergänzung des Gesetzes 
von 1500 in zwei Punkten gegeben. Einmal wird der Kreis der zu Delegierten Wähl- 
baren erweitert insofern, als in Zukunft nur noch überhaupt eine 5-jährige Beschäf- 
tigung unter Tage, davon 2 Jahre im Wahlbezirk oder in einem dem gleichen 
Unternehmer gehörenden Nachbarbezirk (der über 25, Jahre alten Wähler) verlangt 
wird. Sodann wird bestimmt. daß die den „Delegierten für ihre regelmäßigen Kon- 
trollbesuche zu gewährende Monatsentschädigung so zu berechnen, daß die Zahl der 
von ihnen für diese Besuche tatsächlich gebrauchten Tage verdoppelt wird, ohne daß 
die doppelte Zahl kleiner als 20 sein dürfte“ ($ 3 des Art. 16). Außerordentliche 
Kontrollbesuche werden besonders berechnet. 


1) Die beiden Gesetze sind ihrer Bedeutung und ihrer Geschichte nach ausführ- 
lich im Bull. d. Intern. Arbeitsamtes, Bd. 4, S. XXXII ff. erörtert Das Reichsarbeits- 
blatt, Jahrg. 1905, S. 388, gibt eine Zusammenstellung der für die Arbeitsverhältnisse im 
französischen Bergbau maßgebenden Gesetze. 


192 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


Gesetz vom 29. Juni 1905, betr. die Arbeitsdauer in Bergwerken. 
Journ. off., 2. Juli. 


Art. 1. „6 Monate nach Veröffentlichung dieses Gesetzes darf der Arbeitstag 
der beim Abbau der unterirdischen Arbeiten in Brennstoffbergwerken verwandten 
Arbeiter die Dauer von 9 Stunden nicht überschreiten, gerechnet von der Einfahrt 
der letzten einfahrenden Arbeiter bis zur Wiederankunft über Tage der ersten 
aufsteigenden Arbeiter; für Bergwerke, die durch Galerien betreten werden, wird 
die Arbeitsdauer von der Ankunft an der Sohle der Eingangsgalerie bis zur Rück- 
kehr an demselben Punkt gerechnet. 

Nach Ablauf von 2 Jahren, von dem vorstehend angegebenen Termin, an wird 
die Dauer des Arbeitstages auf 8'/, Stunden und nach Ablauf von weiteren 2 
Jahren auf 8 Stunden herabgesetzt. 

Unberührt bleiben die in bestimmten Betrieben bestehenden Vereinbarungen 
oder die den Vereinbarungen gleichstehenden Gebräuche, welche den Normalarbeits- 
tag niedriger als nach den vorhergehenden Paragraphen festgesetzt haben. 

Art. 2. Werden durch die Bergwerksorduung Ruhepausen vorgesehen, die 
unter oder über Tage durchgeführt werden, so verlängert sich die im vorher- 
gehenden Artikel angegebene Arbeitsdauer um die Dauer dieser Pausen. 

Art. 3. Ausnahmen von den Vorschriften des Art. 1 können durch den 
Minister der öffentlichen Arbeiten, nach Anhörung des Generalrates für Bergwerke, 
in den Bergwerken gewährt werden, wo die Anwendung dieser Bestimmung ge- 
eignet ist, aus technischen oder wirtschaftlichen Gründen die Aufrechterhaltung 
des Betriebes zu gefährden. Die Zurückziehung dieser Ausnahmeerlaubnis findet 
in gleicher Weise statt. - 

Art. 4. Vorübergehende Ausnahmen, deren Dauer 2 Monate nicht übersteigen 
darf, die aber erneuert werden können, können durch den Chefingenieur des Berg- 
baubezirks gewährt werden infolge von Unfällen, sowie aus Gründen der Sicherheit, 
sowie zulälliger Notwendigkeit, sowie in dem Falle, daß Vereinbarungen zwischen 
Arbeitern und Unternehmern zur Aufrechterhaltung bestimmter örtlicher Gebräuche 
bestehen. Die Delegierten zur Sicherheit der Bergarbeiter sind zu hören, wenn 
Be Ausnahmen infolge von Unfällen oder aus Sicherheitsgründen beansprucht 
werden. 

Der Unternehmer kann auf seine eigene Verantwortung in Fällen drohender 
Gefahr die Dauer des Arbeitstages verlängern, unter Vorbehalt einer Genehmigung, 
die er sofort bei dem Chefingenieur beantragen muß.“ 

Art. 5. Festlegung der Uebertretungen durch Protokolle mit Beweiskraft in 
dreifacher Ausfertigung. 

Art. 6. Uebertretungen werden bei der ersten Zuwiderhandlung durch das 
Polizeigericht mit 5—15 frcs., im Wiederholungsfall durch das Strafgericht mit 
16—100 fres. für jeden dem Gesetz widersprechend beschäftigten Arbeiter bestraft; 
der Gesamtbetrag der Strafe darf jedoch im ersten Falle 500 fres., im zweiten 
2000 fres. nicht übersteigen. 


Allgemeine Vorschriften und Erläuterungen zur Durchführung dieses 
Gesetzes enthält das Rundschreiben des Ministers für öffent- 
liche Arbeiten an die Bergwerks-Chefingenieure vom 
20. Oktober 1905. B. d. PO., S. 1009. 

c) Staatsbetriebe. 

Gesetz vom 14. November 1905, betr. Eröffnung eines Nachtrags- 
kredites im Budget 1905 zum Zweck der Herabsetzung der täglichen 
Arbeitsdauer in staatlichen Betrieben. Journ. off, 15. November. 

Dem Finanzminister wird zum Zweck der finanziellen Durchführung der 
Herabsetzung der täglichen Arbeitszeit in den Staatsbetrieben ein Nachtragskredit 
von insgesamt 508200 fres. eröffnet. 

d) Wäschereien, 

Erlaß vom 4. April 1905, betr. Hygiene der Arbeiter in Wäsche- 
reinigungsanstalten. B. d. rO., S. 354. 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 193 


Er gibt technische Vorschriften, die hauptsächlich eine Schädigung der Arbeiter 
durch die in gebrauchter Wäsche enthaltenen Stoffe durch unmittelbare Berührung 
ohne Desinfektion oder Spülung verhüten sollen. Ergänzend bestimmt der 

Erlaß vom 22. November 1905, betr. das Verbot der Kinder- 
beschäftigung in Wäschereien, wo schmutzige Wäsche weder desinfiziert 
noch ausgelaugt wird. Journ. off., 30. November; B. d. PO., S. 1108., 

daß Kinder unter 18 Jahren in Wäschereinigungsanstalten, in welchen die 
Wäsche nicht im Sinne des obigen Erlasses behandelt wird, nicht beschäftigt 
werden dürfen. — Der Erlaß ist eine Ergänzung zum Erlaß vom 13. Mai 1893 '), 
betr. die Beschäftigung von Kindern und Arbeiterinnen bei gefährlichen Arbeiten. 


V. Arbeitslosigkeit. 


Für den Inhalt der Regierungsmaßnahmen zur Bekämpfung der 
Arbeitslosigkeit wird auf die im Kaiserl. Statistischen Amt bearbeitete 
Denkschrift: „Die bestehenden Einrichtungen zur Versicherung gegen die 
Folgen der Arbeitslosigkeit“ (Berlin 1906, Bd. 1, S. 260) verwiesen. 
In Betracht kommen die Einsetzung einer Position von 110000 fres. in 
das Finanzgesetz vom 22. April 1906 als „Subventionen für unfreiwillige 
Arbeitslosigkeit“; die Einsetzung einer Kommission zur Vorbereitung 
einer im Finanzgesetz vorgesehenen Verordnung (Erlaß vom 20. Mai 
1905); der Erlaß vom 9. September 1905, betr. Subventionierung der 
Arbeitslosenkassen (B. d. O., S. 870). Ferner seitdem der Erlaß des 
Handelsministeriums vom 10. November 1905, betr. die Zusammen- 
setzung der Kommission zur Vorbereitung der Verteilung des durch 
Kap. 25 des Budgets für das Handelsministerium, Rechnungsjahr 1905, 
eröffneten Kredites (Unterstützungen gegen unfreiwillige Arbeitslosig- 
keit), (Journ. off, 13. November); der Erlaß des Handelsministers vom 
28. Februar 1906 über die Festsetzung des Betrages der staatlichen 
Zuschüsse an die Hilfskassen gegen unfreiwillige Arbeitslosigkeit und 
ein Erlaß über Auszahlung der Zuschüsse vom 20. April 1906, wodurch 
teilweise der Erlaß vom 9. September 1905 abgeändert wird (B. d. 
lO., 1906, S. 277 bezw. 505). 


3. Versicherungswesen. 


Gesetz vom 17. März 1905, betr. die Ueberwachung und Beauf- 
sichtigung der Lebensversicherungsgesellschaften und aller Unterneh- 
mungen, in deren Geschäften die Dauer des menschlichen Lebens eine 
Rolle spielt. Journ. off., 20. März. 


Das Gesetz?) zerfällt in 5 Abschnitte: Titel 1 (obligatorische) „Eintragung 
aller der französischen und ausländischen Unternehmungen, die Verträge ab- 
schließen, deren Erfüllung von der Dauer des menschlichen Lebens abhängt.“ Ein- 
tragung kann nur bei Gesetzesverletzung versagt werden. Titel 2. „Sicherheits- 
leistungen“. Gesellschaftskapital u. a. muß für französische Aktien- und Kom- 

1) Abgedruckt mit den seitherigen Ergänzungen in der übersichtlichen, metho- 
dischen Sammlung: „Le code du travail annité“ von André und Guibourg, Paris 
1905 (8. 265 flg.). 

2) Vergl. die Darlegung der früheren und gegenwärtigen Rechtslage in: Zeitschr. 
f. d. ges. Versicherungswissenschaft von Manes, Bd. 5, Berlin 1905, S. 609; efr. auch 
den Aufsatz ebenda S. 399 über den Gesetzentwurf über den Versicherungsvertrag. 


Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII). 13 


194 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


manditgesellschaften mindestens 2 Mill. fres. betragen. Bestimmungen über 
Gründungsfonds, Sicherheitsreserve, Prämienreserve u. a., Aufzählung der Materien, 
für welche der „beratende Ausschuß für Lebensversicherungsanstalten“ Verwal- 
tungsvorschriften zu erlassen hat. Dessen Zusammensetzung ordnet Titel 3: 
„Ueberwachung und Beaufsichtigung“. Revision durch vereidigte staatliche Auf- 
sichtskommissare. Ausländische Gesellschaften haben in Frankreich eine Nieder- 
lassung zu errichten. Die Kosten der Aufsicht tragen die Unternehmungen. 
Titel 4. „Strafbestimmungen“. Titel 5. „Uebergangsbestimmungen“. Ueber den 
„beratenden Ausschuß“ vergl. Erlaß vom 17. März (Journ. off., 20. März); über 
die Kommissare Erlaß vom 7. Mai (Journ. off., 13. Mai). 


4. Landwirtschaft. 


Außer den erwähnten Gesetzen über Sanitätspolizei und Fälschung 
landwirtschaftlicher Produkte sowie einer Bestimmung des Budgetgesetzes 
über Betrag der staatlichen Subventionen an Weinbauern erging das 
Gesetz vom 14. Januar 1905, betr. die Zuerkennung und Höhe einer 
Entschädigung bei Tötung von Tieren infolge Rotz oder Springwurm. 
(Journ. off., 15. Januar.) 


5. Kolonien. 


Ueber die Verwaltungs- und wirtschaftlichen Gesetze und Verord- 
nungen zur Förderung der einzelnen Kolonien vergl. den besonderen 
Teil des angeführten „Annuaire de législation française“. Hier sei nur 
hingewiesen auf den 

Erlaß vom 1. März 1905, betr. die Anwendung der Bestimmungen 
über Hygiene und Sicherheit der Arbeiter und der Maßnahmen zum 
Schutz der Kinder und Frauen in Algerien. (Revue algérienne, 1905, 
3e partie, S. 157; vergl. Bulletin des Internationalen Arbeitsamtes, Bd. 4, 
S. 206.) 

durch den die wesentlichen Bestimmungen der französischen Arbeiterschutz- 
gesetzgebung auf die Gewerbe- und teilweise auch auf die Handelsbetriebe für 
anwendbar erklärt werden. Als Zulassungsalter für gewerbliche Arbeit für euro- 
päische Kinder gilt das 13., für eingeborene das 12. Jahr, die He Arbeitsdauer 
wird für Jugendliche unter 18 Jahren auf höchstens 10 Stunden festgesetzt, die 
Beschäftigung der unter 18, bezw. 16, bezw. 14 Jahre alten für einzelne Arbeiten 


verboten ; ein wöchentlicher Ruhetag für alle unter 18 Jahre alten festgesetzt, die 
Anzeigepflicht für Unfälle und eine Arbeitsinspektion angeordnet. 


Miszellen. 195 


Miszellen. 


IV. 


Die notwendigen Aenderungen unseres Etats-, Kassen- 
und Rechnungswesens. 
Von Regierungsrat Loeffler- Erfurt. 


I. Der Band 27 dieser Jahrbücher enthält auf S. 365 ff. eine sehr 
iesenswerte Abhandlung des früheren Eisenbahndirektionspräsidenten 
Dieck, betitelt: Fiskalität und Bureaukratismus. Dieck führt an der 
Hand treffender Beispiele aus, daß der Vorwurf der Fiskalität und des 
Bureaukratismus, der jetzt häufig den Beamten gemacht würde, nicht 
diese, sondern eigentlich die Gesetzgebung und die Verwaltungsvor- 
schriften träfe. Die Instruktionen über das staatliche Etats-, Kassen- 
und Rechnungswesen seien reformbedürftig. Dieck hält ihre Neurege- 
lung für so wichtig, daß er eine besondere Kommission mit der Auf- 
gabe betrauen will, neue Entwürfe für diese Instruktionen auszuarbeiten. 
In diese Kommission sollen auch Landtagsabgeordnete und kaufmän- 
nische Sachverständige berufen werden. 

Wer, in der Praxis stehend, der Entwickelung des Etats-, Kassen- 
und Rechnungswesens längere Zeit hindurch aufmerksam gefolgt ist, 
der wird ohne weiteres anerkennen müssen, daß auf diesem Gebiete 
manches nachzuholen ist. Nicht nur in der Fach- und sonstigen Presse, 
auch in der Beamtenschaft selbst mehren sich die Klagen über die 
Unzulänglichkeit dieser Materie. Namentlich aber hört man derartige 
Klagen aus den Kreisen der Beamten, denen ihr Beruf nicht nur Hand- 
werk ist, denen vielmehr das hoch anzuerkennende Streben innewohnt, 
in den Geist und das Wesen des Organismus hineinzuschauen, dem 
sie mit dem ganzen Herzen und der angestammten deutschen Pflicht- 
treue dienen. In erster Reihe kommen diese Reformvorschläge aus der 
Beamtenschaft der großen Verkehrs- und Stadtverwaltungen, deren Auf- 
gabe mit jedem Tage eine größere, bedeutungsvollere wird. 

So mannigfach die Klagen über Rückständigkeit sind, so zahlreich 
sind auch die Vorschläge zur Abhilfe. Hier will man Weitschweifig- 
keiten und formelle Umständlichkeiten in der Buchführung und Rech- 
nungslegung beseitigen, dort will man das Kontrollsystem ändern und 
den Technikern mehr Einfluß auf die Entscheidungen der obersten Revi- 
sionsbehörden einräumen. Andere wieder erwarten das Heil von der 

13* 


196 Miszellen. 


Einführung mehr kaufmännischer Gesichtspunkte in Verwaltung und 
Koutrolle. 

Alle diese Vorschläge entspringen, wie es den Anschein hat, mehr 
dem Gefühl der Unzulänglichkeit des Bestehenden, als einer klaren 
Erkenntnis der Sachlage selbst. Nicht mit kleinen und kleinsten Maß- 
nahmen wird man das Ziel erreichen, es wird, wenn Wandel geschaffen 
werden soll, ein neues System aufgestellt und durchgeführt werden 
müssen. 

Daß die Sachlage aber auch bei den Regierungen bekannt ist und 
in neuerer Zeit immer mehr gewürdigt wird, ist zweifellos. So sind, 
ganz abgesehen von der als mustergültig dastehenden, von großen Ge- 
sichtspunkten ausgehenden Finanzorganisation der preußischen Staats- 
eisenbahnverwaltung, neuerdings auch in mehreren anderen Verwaltungs- 
zweigen — z. B. der Justiz cf. den Artikel in No. 19 der Monatsschrift 
für deutsche Beamte vom 1. Oktober 1906, S. 321 — Bestrebungen 
hervorgetreten, die als gute Anfänge zur Besserung bezeichnet werden 
müssen. Namentlich ist, wie ich aus dem mir von der Reichsdruckerei- 
direktion in dankenswerter Weise zur Verfügung gestellten Material 
(Dienstordnungen I bis IV, Anweisung zur Rechnungslegung u. s. w.) 
ersehe, in den letzten Jahren unter Mitwirkung und auch wohl auf 
Anregung des Rechnungshofes des Deutschen Reiches die Buchführung 


und das Rechnungswesen der Reichsdruckerei von Grund aus neu ge- | 


regelt, und zwar meines Erachtens mit einem so günstigen Erfolge, 
daß diese Neuordnung den Ausgangspunkt, das Musterbeispiel für die 
Reorganisation dieser Disziplinen in anderen Verwaltungszweigen bil- 
den wird. 

Es ist, besonders in letzter Zeit nach den Kolonialdebatten, dem 
Rechnungshofe der Vorwurf der Rückständigkeit gemacht worden. Man 
vergleiche insbesondere den Artikel in No. 291 der Frankfurter Zeitung 
vom 21. Oktober 1906: „Oberrechnungskammer und Rechnungshof“, 
der in dem Ausruf gipfelt: „Wichtiger als die Reorganisation des 
Kolonialamts ist die der Oberrechnungskammer und des Rechnungs- 
hofes.“ 

In dieser krassen und allgemeinen Form ist der Vorwurf zweifels- 
ohne ungerechtfertigt. 

Man studiere nur die oben angeführten, vom Rechnungshofe ge- 
schaffenen oder inspirierten Grundsätze für die Neuregelung der Finanz- 
organisation der Reichsdruckerei, und man wird in Zukunft mit seinem 
Urteil vorsichtiger sein. 

Auch der Hinweis, daß eine gründliche, sachliche und materielle 
Etatsprüfung durch die höchste Revisionsbehörde nicht möglich ist, 
wegen ihres rein juristischen Charakters, ist verfehlt. Volle Anerken- 
nung dem Verwaltungstalent der Vertreter anderer Stände, insbesondere 
auch unserer Großkaufmannschaft ; aber das, was der Rechnungshof für 
die Reichsdruckerei durch seine juristischen Mitglieder geschaffen hat, 
spricht deutlich dafür, daß auch die Juristen „moderne“ Anschauungen 
vertreten und wirtschaftliche Fragen mit allem Verständnis behandeln 
und beurteilen können, namentlich, wenn sie vor ihrem Uebertritt zur 


Miszellen. 197 


Revisionsbehörde einige Jahre in großen Reichs- und Betriebsverwal- 
tungen — ich denke hier namentlich an die Militär-, Marine- und 
Eisenbahnverwaltung — praktisch gearbeitet haben. 

Mitglieder einer Behörde, die so „moderne“ „praktische“ Verwal- 
tungsarbeit liefern, sind wohl imstande, auch weiterhin reorganisierend 
bei sich und anderen Verwaltungen einzuwirken. Vielleicht wird es 
nur darauf ankommen, dem Rechnungshofe für seine Tätigkeit gesetzlich 
etwas mehr Bewegungsfreiheit zu verschaffen, wiewohl man auch der 
Ansicht sein kann, daß er schon bei der heutigen Rechtslage die 
Mittel hierzu in der Hand hat. Denn der $ 12 des auch für den 
Rechnungshof gültigen Oberrechnungskammergesetzes vom 27. III. 1872. 
(G.S. S. 278) bestimmt: „Die Revision der Rechnungen ist außer der 
Rechnungsjustifikation noch besonders darauf zu richten: 

b) ob und wo nach den aus den Rechnungen zu beurteilenden 
Ergebnissen der Verwaltung zur Beförderung des Staatszweckes 
Abänderungen nötig und ratsam sind“ — d. h. Abänderungen der Ge- 
setze, Verwaltungsvorschriften und Verwaltungsgrundsätze (cf. Hue de 
Grais: Handbuch d. Verfassung u. Verwaltung 11. Aufl. $ 120). 

Literarisch ist die Frage der Reform unseres staatlichen Etats-, 
Kassen- und Rechnungswesens bis jetzt am eingehendsten meines 
Wissens in einer Schritt von Otto Hoevermann: „Zur Reform des Etats- 
Kassen- und Rechnungswesens“, Verlag von Friedrich Cohen, Bonn 
1905, erörtert und geprüft. 

Der Verfasser, ein in der Praxis stehender Beamter — H. ist 
Rendant und Quästor der Universität Bonn — nennt sein in fach- und 
sachkundigen Kreisen durchweg günstig beurteiltes Buch einen „Ver- 
such einer kritischen Besprechung und einer Entwickelung von Ab- 
änderungsvorschlägen“. 

Mir scheint nicht nur, daß der Versuch in der Hauptsache als 
völlig gelungen angesehen werden muß, sondern daß schon mehr als 
ein Versuch vorliegt. Man braucht nicht mit allen Ausführungen und 
Vorschlägen des Verfassers einverstanden zu sein um die Bedeutung 
der vielseitigen und wertvollen Anregungen rückhaltslos anzuerkennen. 

Auch Hoevermann, der bei seinen Ausführungen hauptsächlich die 
preulischen Verhältnisse berücksichtigt, schlägt — ebenso wie oben 
Dieck — in seinem Schlußwort vor, zur Klarstellung der in Frage 
stehenden notwendigen Verbesserungen zunächst eine „Spezialstudien- 
kommission“ einzusetzen. Diese würde nach seiner Meinung am besten 
vielleicht der ÖOberrechnungskammer angegliedert werden, da diese 
die Technik u. s. w. aller Ressorts am vollständigsten zu übersehen 
imstande ist. Im Reiche liegen die Verhältnisse ähnlich. 

Wer jemals in Kommissionen gearbeitet hat, wird Dieck und 
Hoevermann beipflichten, daß derartige große, organisatorische Fragen 
nur im Schoße einer Sachverständigenkommission beraten und geprüft 
werden können. Nur beim gegenseitigen mündlichen Gedankenaustausch 
kann ein brauchbarer Entwurf für ein neues System, das wie oben aus- 
geführt, in dieser Disziplin nötig ist, entstehen. 

Für die vorliegenden Zwecke würde noch ein unmittelbares, enges 


198 Miszellen. 


Zusammenwirken mit den zuständigen Behörden, der Oberrechnungs- 
kammer und dem Rechnungshofe, den Erfolg der Arbeit beschleunigen 
und fördern. 

Man wende nicht ein, daß das Resultat der Kommissionsberatungen 
nur theoretischen oder gar nur „papierenen“ Wert haben werde, und 
daß finanzielle Erfolge nicht herausspringen würden: Ein derartiges Ur- 
teil wäre kurzsichtig und unbegründet. 

Man vergegenwärtige sich nur den eminenten materiellen Gewinn, 
den die oben erwähnte vorzügliche Finanzorganisatiop der preußischen 
Staatseisenbahnverwaltung dieser Behörde und somit dem gesamten 
Staate Preußen gebracht hat!). Jedem, der bei einer großen Verwal- 
tung tätig ist und die wirtschaftliche Seite ihrer Tätigkeit scharf 
beobachtet, prüft und zusammenfaßt, ist es klar, daß sich in der Durch- 
führung der Verwaltung wieder und immer wieder noch mancher- 
lei sparen läßt, unbeschadet der gründlichen und sachgemäßen Aus- 
führung. Ein scharf durchgearbeitetes und auf der Grundlage der 
„Wirtschaftlichkeit“ aufgebautes Etats-, Kassen- und Rechnungswesen 
ist aber der Kristallisationspunkt für eine ökonomisch geleitete Ver- 
waltung. 

Deshalb muß zur Hebung der einzelnen Ressorts in wirtschaft- 

licher Beziehung der Hebel bei dem Etats-, Kassen- und Rechnungswesen 
dieser Behörde eingesetzt werden. Man muß sach- und fachkundigen 
Rechnungsbeamten die Möglichkeit verschaffen, in das Getriebe der 
einzelnen Behörden hineinzusehen, um durch großzügige Ausgestaltung 
ihrer Wirtschaftsführung den Grundstein zu legen für eine in finanzieller 
Beziehung erfolgreichere Tätigkeit dieser Behörde. 
à Es sei mir gestattet, in folgenden Zeilen einige Gedanken etats- 
rechtlicher und verwaltungs-(finanz-)technischer Natur niederzulegen, 
die nach dieser Richtung hin vielleicht gelegentlich verwertet werden 
können. 

II. Die Entwickelung des Etats-, Kassen- und Rechnungswesens 
ist dem Aufschwunge, den Technik und Verkehr genommen haben, nicht 
ausreichend gefolgt. Dies zeigt sich namentlich auch in der Wirtschafts- 
führung bei den sogenannten Hilfs- und Nebenbetrieben. (Eigene 
Schlosserei, eigene Druckerei, eigene Wäscherei u. s. w.) Diese Er- 
scheinung ist an sich wunderbar, da gerade viele Hilfsbetriebe durch 
diesen Aufschwung überhaupt erst hervorgerufen sind und ferner, weil 
auf anderen Gebieten der Einfluß der vervollständigten Technik und 
des gesteigerten Verkehrs so groß war, daß sich alle Verwaltungs- 
einrichtungen ihm fügen und anpassen mußten. 

Der Hauptgrund dieser nicht ausreichenden Ergänzung des Etats-, 
Kassen- und Rechnungswesens liegt meines Erachtens darin, daß in den 


1) Ein sehr anschauliches Bild über die finanziellen Vorteile dieser Organisation 
— ihre Hauptgrundsätze sind: vereinfachte Formen der Verwaltung, eingreifende 
Umgestaltung des Etats-, Kassen- und Rechnungswesens, und einheitliche Regelung des 
inneren Geschäftsbetriebes — gewinnt man durch das Studium des im Jahre 1901 an 
Se. Majestät vom Arbeitsministerium erstatteten Berichts: Die Verwaltung der öffent- 
lichen Arbeiten in Preußen 1590—1900. Berlin, Julius Springer, 1901. 


Miszellen. 199 


Volksvertretungen nicht immer mit der nötigen Sachkenntnis und Ruhe 
verhandelt wird. Die partei-politische Zersplitterung läßt es in vielen 
Fällen zu einer tieferen Erörterung der etatsrechtlichen und wirtschaft- 
lichen Frage selbst nicht kommen, führt vielmehr nicht selten zu einer 
eingehenden Besprechung minderwertiger Fragen, die aber die breite 
Oeffentlichkeit mehr interessieren. Außerdem sind aber bei der augen- 
blicklichen Zusammensetzung der Parlamente wohl nur wenige ihrer Mit- 
glieder imstande, die wirtschaftliche Seite mancher Fragen, insbesondere 
aber die Etats-, Kassen- und Rechnungstechnik zutreffend zu beurteilen. 
Ein zweiter Grund ist der, daß die Verwaltungsstellen unter sich und mit 
den obersten Kontrollbehörden nicht durchweg die nötige enge Fühlung 
haben, ohne die ein gedeihliches Zusammenwirken nicht denkbar ist. 
Sie stehen sich oft wie feindliche Brüder gegenüber und sollten doch 
Hand in Hand miteinander arbeiten, um das allgemeine Ziel nicht aus 
dem Auge zu lassen. Auch in der nicht leichten Anpassungsfähigkeit 
der derzeitigen staatlichen Buch- und Rechnungsführung sind die be- 
klagten Rückständigkeiten begründet. Neue Verhältnisse, ganz gleich, 
ob staatsrechtlicher oder ökonomischer Natur, erfordern die Aufstellung 
neuer Grundsätze auch auf dem Gebiete des Rechnungswesens. 

Hier gilt es jetzt einen Mangel auszugleichen. Dabei wird man 
nicht streng an den bisherigen Normen und Gepflogenheiten festhalten 
können, wenn Gedeihliches geschaffen werden soll. Man wird z. B. — 
natürlich unter Beobachtung der Rechtslage oder auch nach Aenderung 
der Gesetze — die sachlichen und wirtschaftlichen Momente 
den formalen, äußerlichen gegenüber mehr in den Vordergrund 
rücken müssen, und zwar nicht nur bei den Verwaltungen selbst, son- 
dern auch bei Ausübung der Kontrolle. 

Das neue System des Kassen- und Rechnungswesens muß einerseits 
so beweglich eingerichtet werden, daß es den Aenderungen und Er- 
weiterungen des Betriebes leicht folgen kann. Andererseits muß es 
aber auch Einheitlichkeit in das Rechnungswesen der verschiedenen 
Verwaltungszweige bringen und zugleich eine gleichmäßige und 
zutreffende Beurteilung ihrer Wirtschaftsführung er- 
möglichen und sicherstellen. 

Hierzu ist aber vor allem ein planmäßiges Zusammenfassen und 
eine fortdauernde Aufzeichnung der Wirtschaftsergebnisse erforder- 
lich, weil es nur auf Grund ziffermäßiger Feststellungen möglich ist, 
in den Kern der Sache einzudringen, Wesentliches vom Unwesentlichen 
zu unterscheiden und beides angemessen zu bewerten. Die Rückständig- 
keit des heutigen Rechnungswesens äußert sich weiterhin in einem ge- 
legentlichen Versagen der Rechnungs- und der Verwaltungskontrolle. 
Dies wird dem aufmerksamen Beobachter, besonders dem in der Ver- 
waltungspraxis stehenden, der den Gegenstand in der Tagespresse und 
in den Fachzeitschriften verfolgt, kaum entgehen. Ich will zum Be- 
weise hier auf die Unterschlagungen von Altmaterial bei der Eisenbahn 
hindeuten, und auf die Vorwürfe, die unserer Kolonialverwaltung und 
der sie kontrollierenden Behörde gemacht sind. Der günstigste Fall 
ist noch der, daß die Revisionstätigkeit der obersten Kontrollbehörden 


200 Miszellen, 


nur unnötig erschwert wird. Schlimmer ist es, wenn durch diese Uebel- 
stände ein tatkräftiges Eingreifen der Revisionsbehörden verhindert 
wird, dafür aber ein unsicheres Tasten in der Monitur und in der Ent- 
scheidung eintritt, oder wenn die Verwaltungsbehörden in der Notaten- 
beantwortung nicht viel mehr als allgemeine Redensarten machen. Auch 
hier wird meines Erachtens allein ein planmäliges Zusammenfassen 
und fortlaufendes Aufzeichnen der Rechnungsergbnisse Wandel schaffen 
und dazu führen können, daß die Revisionsbehörden nicht genötigt sind, 
zahlreiche, oft unerhebliche Erinnerungen zu ziehen und viele, meistens 
ergebnislos verlaufende Anfragen zu stellen, deren Beantwortung viele 
Schreibereien und unnötige Kosten verursacht. Die Behörden werden 
sich vielmehr darauf beschränken können, nur bei größeren Differenzen 
Erinnerungen zu ziehen, dann aber auch deren eingehende, auf greit- 
baren Unterlagen beruhende Beantwortung verlangen dürfen. 

Wie jetzt die Verhältnisse liegen, begibt sich die Kontrollbehörde, 
indem sie zuweilen den Faden aus der Hand verliert, ihres Rechts 
der Verwaltungskontrolle in nicht geeigneter Weise. Denn sie 
läßt es vielfach zu, nicht in die Lage versetzt zu werden, die finau- 
ziellen Ergebnisse einer Verwaltungseinrichtung zutreffend beurteilen 
zu können. Und was noch bedeutsamer ist, sie muß es oft mit an- 
sehen, nicht prüfen zu können, ob die bewilligten Mittel auch gerade 
für den vorgeschriebenen Zweck notwendig waren und gebraucht sind. 
Und doch ist für das Finanzwesen eines Staates eine streng durchge- 
führte Verwaltungskontrolle überaus wichtig. Durch sie soll nicht nur 
die Legalität der Geschäftsführung dargetan werden, nicht nur nach- 
gewiesen werden, daß der gesamte Betrieb mit den Gesetzen, den Etats, 
den Erlassen und Reskripten im Einklang steht; auch auf dieZweck- 
mäßigkeit der getroffenen Anordnungen hat sich die Verwaltungs- 
kontrolle zu erstrecken. 

Mit anderen Worten: sie muß sich stets die Frage beantworten, 
ob unter den verschiedensten Möglichkeiten zur Erreichung eines be- 
stimmten Zweckes der gerade eingeschlagene Weg der angemessenste, 
auch in finanzieller Beziehung, gewesen ist. Von einer so weit ausge- 
dehnten Verwaltungskontrolle soll ferner auch die Anregung zu 
zweckmäßigen Aenderungen ausgehen. Die mit ihr betraute 
höchste Revisionsinstanz ist fernerhin sozusagen ein Zwischenglied 
zwischen der ausführenden Gewalt (der Staatsgewalt) und der 
gesetzgebenden Gewalt (Parlament). Diese letztere so eminent 
wichtige‘ Seite der Verwaltungskontrolle scheint sich mehr und mehr 
verwischt zu haben. Das Bedürfnis, sie wieder aufzufrischen, tritt z. Z. 
lebhafter hervor, besonders auch in parlamentarischen Kreisen. Ich 
beziehe mich zum Beweis hierfür auf die Rede des Abgeordneten 
Bachem in der Reichstagssitzung vom 25. April 1906. Hier weist 
Bachem hin auf die unzulängliche Kontrolle des Rechnungswesens durch 
die parlamentarische Rechnungskommission, und er wirft dabei den 
Gedanken auf, ob es nicht in der Zukunft notwendig sein wird, eine 
„selbständige Behörde zur Vorprüfung der etatswidrigen 
Ausgaben“ einzusetzen, sozusagen ein „Nebenparlament“, das 


Miszellen. 201 


dem Reichstage einen Teil seiner Aufgabe abnehmen, oder wenigstens 
sachgemäß vorprüfen könnte. Der Reichstag hat sich schon wiederholt, 
zuletzt im Jahre 1903, mit der schwierigen Stellung beschäftigen müssen, 
welcher die parlamentarische Rechnungskommission bei der Klarstellung 
von Etatsüberschreitungen ausgesetzt ist. Die Rechnungskommission 
des Reichstages erhält bekanntlich bei ihren Anfragen über Etatsüber- 
schreitungen nur Antwort von dem angegriffenen Sachressort selbst, 
und nicht von der eigentlichen Finanzverwaltung, dem Reichsschatzamt 
oder ihrem Chef, dem Reichskanzler. Ganz anders in Preußen. Hier 
vertritt das Finanzministerium bei seiner selbständigen Stellung gegen- 
über den übrigen Ressorts eventuell ohne Bedenken eine von der An- 
sicht des Sachressorts abweichende Auffassung. Hierdurch setzt es die 
Rechnungskommission des Landtags in die Lage, sich ein zutreffendes 
Bild von der Sachlage zu schaffen und geeignete Anträge an das Haus 
zu stellen. Es ist klar, ‘daß infolgedessen die Kontrolle der Rechnungs- 
kommission des Landtags eine erhöhte Bedeutung hat, die Herr Bachem 
für den Reichstag schmerzlich vermißt, und die er durch das vor- 
erwähnte „Nebenparlament“ ersetzen will. Ich glaube, die Reichs- 
regierung wird gut tun, diesen Gedanken des Abgeordneten Bachem 
aufzunehmen und für sich weiter zu verfolgen. Es ist hier in liebens- 
würdiger, aber entschiedener Weise zum Ausdruck gebracht, daß die Parla- 
mentarier befreit sein wollen von dem unsicheren Gefühle, daß die derzeitige 
Rechnungskontrolle den Verhältuissen nicht gewachsen ist. Ich über- 
gehe die Unstimmigkeiten, die sich bei und nach der Erörterung des 
Kolonialetats für 1906 ergeben haben, und die wohl die Veranlassung 
bilden werden, daß die von Herrn Bachem berührte Frage in der 
nächsten Session erneut aufgeworfen und noch höhere Bedeutung ge- 
winnen wird. Auch die Stimme der Presse, die sich gleichfalls mit 
der Frage der Neuregelung unseres Etats-, Kassen- und Rechnungs- 
wesens beschäftigt hat, will ich in diesem kurzen Rahmen nicht an- 
ziehen und einzeln erörtern. Es mag genügen, wenn ich hervorhebe, 
daß es sehr anzuraten ist, die in den oft vorzüglichen Zeitungsartikeln 
niedergelegten Gedanken sachverständig zu sichten und bei der Durch- 
führung der Reform zu benutzen. 

III. Schon oben hob ich hervor, daßsich die mangelnde Entwickelung 
des Etats-, Kassen- und Rechnungswesens besonders bei den Hilfs- und 
Nebenbetrieben der Staatsverwaltungen gezeigt hat. Derartige Betriebe 
entstehen immer mehr und mehr. Fast keine größere Verwaltung 
kann ohne sie auskommen, da die Notwendigkeit der Verhältnisse sie 
geschaffen hat. Diese Hilfsbetriebe sind, um sie kurz zu definieren, 
solche betriebliche Einrichtungen einer Verwaltung, die an sich mit den 
eigentlichen Aufgaben dieser Verwaltung nichts zu tun haben, die aber 
als Teile — rechtlich und wirtschaftlich — der Verwaltung aufgefaßt 
werden müssen, und zwar entweder aus Zweckmäligkeits- und anderen 
Gründen, oder weil sie mit den in Frage stehenden Verwaltungs- oder 
Betriebszweigen so eng zusammenhängen, daß sie notwendigerweise von 
eigenem Personal bedient werden müssen, wenn die Sicherheit und Regel- 
mäligkeitdes Betriebes nicht leiden soll. Hauptsächlich kommen hier in Be- 


202 Miszellen. 


tracht: eigene Druckereien (auch Fahrkartendruckereien), eigene Fuhr- 
haltereien, Wäschereien, eigene Stellmachereien und Tischlereien, eigene 
Schlossereien und Schmieden, eigene Klempnereien, eigene Schriftgießereien 
und Buchbindereien, Papierfabriken, Fahrradwerkstätten u. s. w. Ferner 
werden dazu zu rechnen sein Arbeiten zur Instandhaltung von Gas- und 
Wasserleitungsanlagen, sowie besondere Anlagen maschineller Art zur Er- 
zeugung von Gas, Dampf und elektrischer Kraft zu Beleuchtungs- und 
anderen Zwecken, z. B. Sammelladestellen zur Beleuchtung der Bahnpost- 
wagen, Hebewerke, Schiebebühnenanlagen u.s. w., auch Badeeinrichtungen, 
überhaupt Wohlfahrtseinrichtungen für das Personal. So zweckmäßig und 
wirtschaftlich vorteilhaft die staatlichen Nebenbetriebe bei sachgemäßer 
Verwaltung sein können, und obwohl ihr Kreis von Jahr zu Jahr sich 
erweitert, nur wenige Verwaltungen haben bis jetzt die finanzielle 
Bedeutung dieser Hilfsbetriebe gewürdigt und für eine sachverständige 
Rechnungskontrolle gesorgt. Denn naturgemäß paßt diese Neuerscheinung 
nicht in den Rahmen der alten Rechnungskontrollschemas. So sind 
diese Hilfsbetriebe z. B. nur zum kleinen Teile etatisiert. Infolgedessen 
herrschen über Umfang und Kosten dieser Hilfs- und Nebenbetriebe 
wohl durchweg ganz unrichtige Vorstellungen, auch ist wahrscheinlich 
sowohl innerhalb der Verwaltungen selbst, als auch bei den obersten 
Kontrollbehörden die Revisionstätigkeit bezüglich dieser Betriebe nicht 
unerheblich erschwert; durch diese Mängel werden Unwirtschaftlich- 
keiten, ja sogar Unterschleife begünstigt. Sehr oft wird z. B. zur 
Dotierung dieser Einrichtungen aus verschiedenen Fonds geschöpft, und 
da eine ausreichende Kontrolle über die Notwendigkeit der Aus- 
gaben der Revisionsbehörde wegen der fehlenden gesetzlichen Unterlagen 
nicht gut möglich ist, so sind etatswidrige Ausgaben nicht allzu selten. 
Deshalb sind Einrichtungen nötig, die eine angemessene Kontrolle auch 
dieser neuen Zweige der Staatsverwaltungen sichern. Man wende nicht 
ein, daß der Revisionsbeamte diese Etatsüberschreitung bei genügender 
Sorgfalt finden müsse. Obwohl die Rechnungen innerlich oft zusammen- 
hängen, so ist es doch bei dem Umfange des zu revidierenden Materials 
wohl nicht zu umgehen, daß mehrere Revisoren an derselben Rechnung 
arbeiten müssen. 

Kein Großkaufmann würde in dieser Weise seine Hilfsbetriebe 
hintenansetzen, schon allein aus der Erwägung heraus, daß er ohne 
genaue Kontrolle nicht beurteilen kann, ob er bei diesen Hilfsbetrieben 
mit Gewinn oder Verlust arbeitet. Deshalb wird jeder Leiter eines 
größeren kaufmännischen Geschäfts, namentlich aber jeder Fabrikleiter 
eine seiner Hauptaufgaben darin erblicken, seine Buch- und Rechnungs- 
führung so zu organisieren, daß Abweichungen von seinen Plänen, 
Normen und Grundsätzen baldigst in die Erscheinung treten müssen. 
Dasselbe gilt für den Staat, für den der bedeutende Minister und 
Finanzorganisator v. Thielen den Grundsatz aufstellte, daß er eigentlich 
von jedem Pfennige, den er irgendwo investiere, Erträge verlangen, 
jedenfalls aber Rechenschaft zu geben imstande sein müsse (cf. Reichs- 
tagssitzung vom 25. Februar 1899, Drucksachen, Seite 1130/31). So- 
weit wird man nicht zu gehen brauchen, um auch hier für die staatlichen 


Miszellen. 203 


Hilfs- und Nebenbetriebe eine klare Buch- und Rechnungsführung für 
nötg zu halten. Für den Staat erzeugt diese Verquickung der Ein- 
nahmen und Ausgaben für die Hilfsbetriebe mit dem allgemeinen Ver- 
waltungsetat noch den Uebelstand, daß letzterer unliebsamen Schwankungen 
ausgesetzt ist. Daher haben meines Wissens auch wohl alle Stadt- 
verwaltungen für ihre Nebenbetriebe — Krankenhaus, Elektrizitätswerk, 
Schlachthof u. s. w. — besondere Etats eingerichtet, oder ihnen wenigstens 
im Hauptetat besondere Titel und Positionen gewidmet. Es erscheint 
daher für die Staatsverwaltung der Erwägung wert, zu prüfen, ob es 
nicht notwendig und zweckmäßig sein würde, für alle bei den Staats- 
verwaltungen bestehenden Hilfs- und Nebenbetriebe in dem Etat ge- 
setzliche Unterlagen zu schaffen. Die Regelung dieser Frage ist, so- 
weit mir das Material zur Verfügung stand und ich es zu übersehen 
vermag, bis jetzt am weitesten bei der Reichspostverwaltung gediehen, 
deren früher lange Zeit als vorbildlich angesehenes Kassen- und 
Rechnungswesen in dem letztvergangenen Jahrzehnt der Entwickelung 
des Verkehrs u. s. w. — es sei nur an die erstaunliche Zunahme des 
Telegramm- und Fernsprechverkehrs erinnert — ebenfalls nicht aus- 
reichend gefolgt zu sein scheint. Die Postverwaltung hat sich mindestens 
eine gesetzliche Unterlage für ihre Hilfs- und Nebenbetriebe dadurch 
verschafft, daß sie im Etat für das Rechnungsjahr 1906 das Dispositiv 
entsprechend ergänzte (cf. Bemerkung S. 26/27 zu Titel 62 des Postetats 
für 1906). 

Man wird daher in der Annahme wohl nicht fehl gehen, daß in 
Verbindung damit auch die Buchführung und Rechnungslegung über 
diese Betriebe entsprechend ausgestaltet sind. 

Eine zweite Frage wäre es, zu prüfen, ob es nicht im staatlichen 
Interesse angebracht sei, weitere Hilfs- und Nebenbetriebe zu schaffen, 
ungeachtet der zum Teil entgegenstehenden politischen und verwaltungs- 
technischen Schwierigkeiten (Ausschaltung des Privatbetriebs, schwierige 
Beschaffung des nötigen sachverständigen Personals u. s. w.). 

Ich will hier nicht den alten unentschiedenen Streit über die 
Regiebetriebe überhaupt eingehend erörtern. Aber wenn sie selbst 
teurer arbeiten sollten als die Privatbetriebe, so sind sie doch insofern 
vorteilhaft, als sie ein Gegengewicht gegen die Ausbeutung des Staates 
durch Privatunternehmen bilden, abgesehen davon, daß sie als „Muster- 
betriebe“ auch einen ideellen Nutzen stiften. 

Voraussetzung bei allen Regiebetrieben ist aber, daß sie ständig 
gut überwacht werden und daß sie gut organisiert sind, das letztere 
auch in wirtschaftlicher Beziehung. 

Deshalb ist es notwendig, daß dort, wo Hilfs- und Nebenbetriebe 
eingerichtet sind, für das Gebiet des Kassen- und Rechnungswesens 
dieser Betriebe, sowie für die Wirtschaftskontrolle derselben gut unter- 
richtete Praktiker leitend bestellt werden, die nicht kleinlich, sondern 
nach großen Gesichtspunkten verwalten. Ist aber unter dieser Voraus- 
setzung bei den in Rede stehenden Verwaltungsbetrieben ein Hilis- 
oder Nebenbetrieb überhaupt angebracht, so wird auch ein guter finan- 


204 Miszellen. 


zieller Erfolg und mithin eine günstige Einwirkung auf die gesamte 
Staatsverwaltung nicht ausbleiben. 

IV. So wenig die Bedeutung des Etats-, Kassen- und Rechnungs- 
wesens für das breite Publikum in die Erscheinung tritt, so liegt doch 
in seiner sachgemäßen Ausgestaltung der Hebel zur übersichtlichen, 
sparsamen und zielbewußten Wirtschaftsführung und damit zu einem 
finanziellen Erfolg oder Mißerfolg. Eine genaue, sachverständige Durch- 
arbeitung des Etats-, Kassen- und Rechnungsweseus wird daher auch 
dem Reiche und den Einzelstaaten eine Handhabe bieten, ihre Mittel 
zu erhöhen. Bei dieser Reform müßte eine Besserung des Bestehenden 
angestrebt werden mit folgendem Ziele: 

„Die gesamte Wirtschaftsführung bei den einzelnen Reichs- und 
Staatsverwaltungszweigen ist durch genaues Eindringen in die Einzel- 
heiten des Betriebs klarzulegen und in festere Bahnen zu 
lenken; bei der Ausführung ist sparsamer zu verwalten.“ 

Geeignete Mittel hierzu wären unter anderen folgende: 

a) Zunächst müßte zum Prinzip erhoben werden, daß alle wirt- 
schaftlichen Vorgänge sofort und genauer aufgezeichnet würden !), und 
zwar der Wirklichkeit entsprechend, und an der Stelle, wo sich 
der wirtschaftliche Vorgang abspielt. Erreicht wird hierdurch, daß 
derartige Aufzeichnungen in Verbindung mit den Jahresrechnungen einen 
klaren Ueberblick über die Rentabilität des betreffenden Verwaltungs- 
zweiges und die Geschäftsführung der Verwaltung bieten. 

b) Die Bücher der Kasse müssen ferner so zweckmälig eingerichtet 
sein, daß sie in ihren Schlußresultaten zugleich die Unterlagen bieten 
für Uebersichten, die zu den verschiedenartigsten Verwaltungs- und 
Betriebszwecken nötig sind, insbesondere z. B. auch zur Etatsauf- 
stellung und zu statistischen Zwecken 2). 

c) Unbedingt notwendig ist weiter, ähnlich wie bei der Staats- 
eisenbahnverwaltung und der Reichsdruckerei, die zweckentsprechende 
Ausgestaltung der Kontrolleinrichtungen bei den Verwaltungsbehörden 
selbst und eine Vertiefung der Revisionseinrichtungen. Man wird diese 
Revisionsstellen so organisieren müssen, daß sie, wenn ich mich so aus- 
drücken darf, eine „kleine Oberrechnungskammer für sich“ darstellen. 
Der idealste Zustand wäre der, daß diese Prüfungsstellen schon wäh- 
rend der Ausführung des Geschäftsvorganges selbst in Tätigkeit treten 
würden. Nicht bei allen Verwaltungen wird sich dies einrichten lassen; 
aber auch eine spätere Revision noch im Laufe des Etatsjahres wird 
segensreich wirken. 

d) Doch nicht nur klar und in feste Grundformen gegossen muß 
die gesamte Wirtschaftsführung sein, auch das Prinzip der „verständigen 
Sparsamkeit“ muß in ihr zum Ausdruck kommen. Was man hierunter 
zu verstehen hat, darüber gibt § 5 Abs. 3 im Teil I der Finanzordnung 
der preußischen Staatseisenbahnverwaltung am zutreffendsten Aufschluß, 
welcher bestimmt: „Dabei — d. h. bei einer verständigen Wirtschatts- 


1) Als Muster vgl. Dienstord. I der Reichsdruckerei. 
2) Als Muster vergl. wieder die Dienstord. der Reichsdruckerei I $ 4 Abs. 4. 


u 


Miszellen, 205 


führung — dürfen selbstverständlich nicht kleinliche Rücksichten walten, 
vielmehr soll... durch umsichtige und wohldurchdachte Maßnahmen, 
durch Herstellung von gediegenen Anlagen, durch Vorhaltung eines tüch- 
tigen, allen Anforderungen entsprechenden Personals u. s. w, bei voller 
Aufwendung der erforderlichen Mittel die sichere und zweckmälige Be- 
triebstührung, sowie eine geordnete Verkehrsleitung gewährleistet . . 
werden.“ 

Um aber diesem Grundsatze zum Siege zu verhelfen, ist die Aut- 
stellung von Wirtschaftsplänen und das frühzeitige Einsetzen der 
Revisionstätigkeit dringend nötig. Besonders der letzteren möchte ich 
auch nach dieser Richtung hin große Bedeutung beimessen. Die ver- 
ständig gegebenen Anregungen der Revisionsstelle würden auch stets 
von der ausführenden Stelle richtig aufgefaßt werden, und eine unschätz- 
bare Quelle vernünftiger Sparsamkeit sein. Vorbildlich können — wie 
schon oben erwähnt — auch hier wieder die Eisenbahnverwaltung und 
die Reichsdruckerei genannt werden. Bei der ersteren ist es eine er- 
probte Tatsache, daß durch dieses Verfahren auf das Personal selbst 
erzieherisch eingewirkt ist, indem bei ihm das Verständnis für die 
wirtschaftlichen Aufgaben der Eisenbahnverwaltung erleichtert 
und vertieft, der Sinn für Sparsamkeit geweckt und gefördert, und das 
Verantwortlichkeitsgefühl geschärft wurde. Ohne Zweifel werden die- 
selben günstigen Resultate jetzt auch bei der Reichsdruckerei in Er- 
scheinung treten, nachdem auch bei ihr die Revisionstätigkeit 
zweckentsprechend organisiert ist (vgl. Dienstord. für die 
Reichsdruckerei I 8$ 17, 18 u. 19). 

V. Auf dieser oder einer ähnlichen Grundlage müßte die Wirt- 
Schaftsführung bei Staats- und Reichsbehörden neu gestaltet werden. 
Hand in Hand hiermit werden Vereinfachungen anzustreben und 
erreichbar sein, die aber gleichfalls nach einheitlichen großen Gesichts- 
Punkten vorzunehmen wären. Sie würden sich in der Hauptsache auf 
die Rechnungslegung, die Buchführung, sowie den Geldabrechnungs- 
verkehr der Staats- und Reichsbehörden untereinander beziehen. 

Auch in dieser Beziehung wird als Muster die vom Rechnungshofe 
des Deutschen Reichs im Juni 1906 für die Reichsdruckerei heraus- 

&egebene neue „Anweisung zur Rechnungslegung“ dienen können, die 
kurz und klar bestimmt, wie die Reichsdruckerei über ihren Verkehr 
an Geld, Materialien und Erzeugnissen Rechnung zu legen und sich 
d abei über ihren Vermögensstand und ihren Ertrag auszuweisen hat. 

In dieser Anweisung sind viele von den nach obigen Darlegungen 
a Es zur Vereinfachung der Buchführung und Rechnungslegung geeignet 
erscheinenden Maßnahmen bereits angeordnet, namentlich aber ist der 
we eines Wissens anderweit noch nicht genügend zur Geltung gelangte 
S rundsatz aufgestellt und durchgeführt, daß alle Buchführungseinrich- 

tungen, welche zur Aufrechterhaltung eines geordneten Geschäftsbetriebes 
ohnehin erforderlich sind, in weitestem Umfange auch zur Justifizierung 
der Ausgaben — also für Zwecke der Rechnungslegung — dienen können 
und sollen. Dadurch sind die eigentlichen Rechnungslegungsarbeiten 
auf ein Minimum eingeschränkt. So dient beispielsweise als eigentliche 


206 Miszellen. 


Geldrechnung im wesentlichen eine Ausfertigung des Endabschlusses der 
Reichsdruckereikasse, der die Kassenmanuale in Urschrift beigefügt 
werden ($ 14 d. Anweis. zur Rechnungslegung). Auch zu den in vielen 
Verwaltungen bekanntlich sehr umständlichen Nachweisen über Ver- 
einnahmung jund Verausgabung von Materialien, Geräten u. s. w. wird 
die Betriebsführung in zweckmäßiger Weise mitbenutzt. Ferner 
finden sich in dieser Anweisung bereits Ansätze zur Ausnutzung der 
Buchführung einer Verwaltung für die Beurteilung des Wirtschafts- 
gebahrens anderer Verwaltungszweige. Damit ist meines Erachtens ein 
Weg betreten, dessen Verfolgung und Ausbau dazu führen wird, erheb- 
liche Beträge an vermeidbaren Verwaltungskosten zu ersparen. 

Wie so gar nicht bureaukratisch der Grundton dieser Anweisung 
ist, mag daraus erhellen, daß die als Unterlagen der Rechuungsausweise 
über Einnahmen und Ausgaben dienenden Lager- und sonstigen Betriebs- 
bücher, die aus betrieblichen Rücksichten den Rechnungen nicht beige- 
fügt werden können, durch Beauftragte des Rechnungshofes in den 
Diensträumen der Reichsdruckerei geprüft werden sollen. In dieser 
Anordnung liegt ein weiterer beachtenswerter Fingerzeig, wie der so 
häufig beklagten nutzlosen und kostspieligen Vielschreiberei auf dem 
Gebiete der Rechnungslegung entgegengewirkt werden könnte. Ueber- 
haupt erscheint mir eine durch Beauftragte der obersten Revisions- 
behörden an Ort und Stelle ausgeführte Revision ein geeignetes Mittel, 
sachgemäße und die Bedürfnisse der Praxis berücksichtigende Entschei- 
dungen zu erleichtern und zu beschleunigen, namentlich dann, wenn 
den Mitgliedern dieser Behörden in geeigneten Fällen ganz unabhängige 
Sachverständige — die von den Behörden ganz selbständig auszuwählen 
wären — beigegeben würden. Auf diese Weise ließe sich vielleicht 
auch den neuerdings immer mehr hervortretenden Wünschen der Tech- 
niker, an den Arbeiten der obersten Revisionsbehörden beteiligt zu 
werden, zum Nutzen des Ganzen entgegenkommen. 

Neben Vereinfachungen in der Buchführung und ihrer Ausnutzung 
für die Rechnungslegung müßte ferner Grundsatz sein: was in einem 
Staats- oder Reichsbetriebe sachlich und rechnerisch ordnungsgemäß ge- 
prüft und festgestellt ist, wird als Justifikatorium für alle anderen 
Staatsbetriebe oder Verwaltungszweige ohne weiteres anerkannt. Weiter- 
hin: bei ständiger Leistung einer Behörde für die andere sind mehr 
wie bisher Pauschalvergütungen zu zahlen, die aber nicht etwa wieder 
in kurzen Zwischenräumen durch langwierige Berechnungen und Zäh- 
lungen festzustellen sind, sondern deren Betrag innerhalb größerer Zeit- 
räume in einfachster Form im gegenseitigen Einvernehmen vereinbart 
wird. Wo es irgend angängig ist, muß im Giro-Verkehr abgerechnet 
werden, der Zeit und Arbeitskraft erspart und größere Sicherheit bietet, 
als der Austausch des Bargeldes. Durch diese hier nur flüchtig ange- 
deutete Vereinfachung werden weitere nennenswerte Ersparnisse erzielt 
werden. Sehr wünschenswert wäre es, wenn auch bei diesen Verein- 
tachungs- und Verbesserungsbestrebungen die Oberrechnungskamm?r 
oder der Rechnungshof die Führerschatt ausgiebiger wie heute über- 
nehmen würde. Da bei diesen Behörden alle Fäden zusammenlaufen, 


Miszellen. 207 


alle Vergleichsobjekte vorliegen oder leicht beschafft werden können, 
so sind sie geradezu prädestiniert dazu, Anregung zur Verbesserung 
und Vereinfachung des Kassen- und Rechnungswesens zu geben. Das 
wird auch wohl die Auffassung der gesetzgebenden Faktoren bei Erlaß 
des schon erwähnten Oberrechnungskammergesetzes vom 27. März 1872 
gewesen sein, da in dessen $ 14 Abs. 3 ausdrücklich bestimmt ist, 
daß die Vorschriften über die formelle Einrichtung der Jahresrech- 
nungen und Justifikationen von der Oberrechnungskammer erlassen 
werden sollen. 

VI. Es ist, wie schon oben angegeben, nicht der Zweck dieser Zeilen, 
ins einzelne gehende Verbesserungsvorschläge für die verschiedenen 
Verwaltungen zu machen. Dazu sind deren Einrichtungen zu vielge- 
staltig und zahlreich. Hierzu ist die gemeinsame Arbeitsleistung 
mehrerer nötig. Ich komme daher wieder auf die früheren Vor- 
schläge zur Einsetzung einer Studienkommission zurück, die, wenn sie 
nicht unter Führung der obersten Revisionsbehörde arbeiten könnte, 
so doch wenigstens im unmittelbaren mündlichen Benehmen mit 
ihr sich mit den oben berührten Fragen eingeliend beschäftigen müßte. 

Dieser Kommission, in die auch ihrer Veranlagung nach geeignete, 
auf dem Gebiete des Kassen- und Rechnungswesens gründlich durch- 
gebildete, praktische Beamte aus den verschiedenen der in Betracht 
kommenden Verwaltungszweige zu berufen wären — z. B. ganz zweck- 
mäßig vielleicht der Verfasser des oben erwähnten Buches: „Zur Reform 
des Etats-, Kassen- und Rechnungswesens“ — könnten dann auch noch 
Fragen des Etatsrechts unterbreitet werden. Viele dieser für die 
Praxis doch so wichtigen Fragen harren schon lange der Regelung, 
z. B. die Verlängerung der Etatsperioden. Das Haupthindernis der 
Erledigung dieser letzten Frage liegt ja in dem Moment der Wahrung 
des parlamentarischen Budgetrechts, aber andere Staaten, z. B. Bayern, 
haben doch bereits diese praktische Einrichtung und die Reichsregierung 
hat im Jahre 1880 und 1881 auch beabsichtigt, sie einzuführen. Ich 
will hier nicht auf die bekannten Gründe für und wider die einjährige 
Finanzperiode eingehen, da sie ein Thema für sich bilden. Es sei nur 
darauf hingewiesen, daß die Gründe, soweit sie sich gegen den ein- 
jährigen Etat wenden, in neuester Zeit noch verstärkt sind durch die 
Erwägung, daß der Reichskanzler von der parlamentarischen Arbeit 
etwas entlastet werden müsse (vgl. Zeitung: Der Tag No. 211 vom 
27. April 1906). Nach einer Zeitungsnotiz hat kürzlich der Reichstags- 
abgeordnete Lattmann vorgeschlagen, daß die Etats der Kolonien nur 
alle 21/, Jahre beraten werden sollen, damit die Gouverneure bei den 
Debatten anwesend sein könnten. 

Zeit und Ort wäre in dieser Kommission auch gegeben für die Er- 
örterung der Frage, ob nicht eine einheitliche Umgestaltung und Ver- 
einfachung des Reichs- und Staatsetatsschemas selbst angezeigt wäre. 
Wenn man die Spezialetats größerer Verwaltungen durchsieht, erhält 
man den Eindruck, daß die verschiedenen Einnahme- und Ausgabe- 
gruppen vielfach in sehr engem Zusammenhange miteinander stehen. 

Trotzdem bestehen aber in Wahrheit weitgehende Spezialisierungen der 


208 Miszellen. 


einzelnen Ansätze, wodurch wieder umständliche und kostspielige Buch- 
führungs- und Rechnungslegungseinrichtungen bedingt werden. 

Bahnbrechend ist hier seinerzeit die Eisenbahnverwaltung vor- 
gegangen, die seit 1895 das Etatsschema vereinfacht hat. In ihrem 
neuen Etatsschema sind die Einnahmen und Ausgaben durchweg so wie 
sie erwachsen in einer beschränkten Anzahl von Titeln, Positionen 
und Unterpositionen zusammengefaßt. 

Diesen Weg könnten meines Erachtens auch andere Verwaltungen 
gehen, nicht nur in eigenem Interesse, sondern auch in dem der obersten 
Revisionsbehörden, um hierdurch mancherlei nutzlose und kleinliche 
Formalitäten bei der Verwaltungs- und Kontrollführung auszuschalten. 

Unbedenklich erscheint mir z. B, um noch einmal auf den schon 
erwähnten Postetat zurückzukommen, eine Verschmelzung der Ausgabe- 
titel für Gehälter und Wohnungsgeldzuschüsse (Titel 1—5 und 17—26), 
ähnlich wie bei der Eisenbahn; auch könnten vielleicht die verschie- 
denen Gruppen sächlicher und vermischter Ausgaben, Ausgaben für 
Hilfsleistungen sowie die Ausgaben, welche sich auf die sozialpolitische 
Gesetzgebung gründen, z. B. Titel 11 und 12, 28 und 30, 32 und 33, 
42 und 42a, 50—52 und 60—62 zusammengezogen werden. 

Man sieht, Arbeit würde die Kommission vollauf finden. Und wenn 
es auch eine nach außen hin wenig in die Augen springende Tätigkeit 
sein würde, Reich und Staat und ihren Bürgern würde durch sie großer 
finanzieller Nutzen erwachsen. 


Miszellen. 209 


V. 
Das Postbankwesen '). 


Von G. Krämer in Kirchheim (Württemberg). 


Einer der wichtigsten Zweige des Postbetriebs, nicht zum wenigsten 
in seiner Wirkung auf die Volks- und Staatswirtschaft, ist das Postbank- 
wesen. Es dürfte wohl angebracht sein, die Aufmerksamkeit diesem Gegen- 
stand zuzuwenden in einer Zeit, in der die Verkehrsfragen im Vorder- 
grund der Erörterung stehen, in der man einzusehen beginnt, daß der 
ıweckmäßige Ausbau des Verkehrswesens ebenso wichtig für die Volks- 
wirtschaft ist wie Zoll- und Steuerwesen. Diese intensivere Beschäftigung 
mit den Verkehrsfragen hat dann auch die erfreuliche Nebenwirkung, 
den Grund za legen zu der Verkehrswissenschaft. — 

Das Postbankwesen im weiteren Sinne begreift alle Tätigkeiten, 
der Post in sich, die in Beziehung zum Geld- und Kreditwesen stehen, 
soweit diese Tätigkeit sich nicht in der Beförderung der Sendungen, 
Geld-, Wert- und Einschreibsendungen, erschöpft. Im engeren Sinne 
wird darunter die Vermittelung der Barzahlungen und der Einzug von 
Geldbeträgen für Sendungen oder für Handelspapiere verstanden. In 
Deutschland beschränkt sich die Post auf letztere Tätigkeit, welche 
den Postanweisungs-, Postnachnahme- und Postauftragsdienst umfaßt. 
In anderen Ländern dagegen hat die Post ihre Wirksamkeit auch auf 
die Bankgeschäfte im weiteren Sinne, insbesondere auf die Postspar- 
kassen, auf den Scheck- und Giroverkehr, zum Teil auch auf das Ver- 
sicherungswesen ausgedehnt. 

Vierzig Jahre sind seit der Einführung des Postanweisungsdienstes 
in Deutschland verflossen: am 1. Januar 1865 wurde dieser Dienst von der 
preußischen Postverwaltung eingeführt, der dann die übrigen deutschen 


1) Quellen: Postgesetz, Postordnungen, Weltpostvertrag; Archiv für Post und Tele- 
graphie, Union postale, Deutsche Verkehrszeitung, Statistik des Weltpostvereins, Deutsche 
Poststatistik ; Weber, Postgeschichte von Württemberg; Mittelstein, Beiträge zum Post- 
recht ; Sieblist, Die Post im Auslande; Elster, Postsparkassen ; Seidel, Das Deutsche Spar- 
kassenwesen, Zeitschrift „Die Sparkasse“; Verhandlungen der Württembergischen Abge- 
ordnetenkammern und des Deutschen Reichstags: Conrads Jahrbücher für Nationalökonomie 
und Statistik ; Elster, Wörterbuch der Volkswirtschaft; Sparkassenkalender für 1906; 
Stand der Sparkassenbücher in Württemberg nach dem Beruf der Einleger vom 31. De- 
zember 1899 — Sonderabdruck aus den Württembergischen Jahrbüchern ; Bericht der 
ordentlichen Mitgliederversammlung des deutschen Sparkassenverbandes am 9. Dezember 
1905 u. a. m. 


Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII). 14 


210 Miszellen. 


Postverwaltungen bald nachfolgten. Das äußere Verfahren ist inzwischen 
nicht wesentlich geändert worden. Schon vorher war es möglich, inner- 
halb des deutsch-österreichischen Postvereins bare Einzahlungen bis zu 
50 Talern an bestimmte Empfänger zu machen; zu diesem Zweck multe 
auf die Adresse des beizugebenden Briefes aufgeschrieben werden 
„Hierauf eingezahlt ... .“ Mit dem Brief wurde dann dem Adressaten 
ein Auszahlungsschein ausgehändigt, gegen dessen quittierte Rück- 
gabe das Geld am Postschalter verabfolgt wurde. Doch wurde von 
dieser Einrichtung wenig Gebrauch gemacht, weil die Taxe zu hoch 
war. (Für den Brief wurde das Fahrpostporto und für die Einzahlung 
von je 5 fl. 2 kr. erhoben.) 


Ursprünglich auf den Betrag von 87'/, fl. — 50 Taler beschränkt, wurde der 
Meistbetrag der Postanweisungen im Jahre 1875 auf 300 M., im Jahre 1879 auf 
400 M. und im Jahre 1899 auf 800 M. erhöht. Die beiden letzten Erhöhungen 
waren die Folgen der Abmachungen im Weltpostverkehr. Die Taxe betrug an- 
fänglich 20 Pf. (2 Sgr.) bis 25 Taler und 40 Pf. (4 Sgr.) für höhere Beträge; 
im Jahre 1875 wurde die Taxe für Postanweisungen bis 200 M. auf 30 Pf., für 
die höheren Summen auf 40 Pf. festgesetzt, dieser letztere Betrag wurde auch 
beibehalten als im Jahre 1579 der Meistbetrag erhöht wurde; für die Beträge über 
400 bis 600 M. wurde später die Taxe auf 50 Pf., für solche von 600 bis 800 M. 
auf 60 Pf. bestimmt. Im innern württembergischen Verkehr betrug der Meist- 
betrag einer Postanweisung anfänglich 100 fl., wofür erhoben wurde bis 25 fl. 
3 kr. und über 25 fl. 6 kr.; hierzu kam noch das einfache Briefporto mit 1,2 
und 3 kr. Von 1875 an kostete die Postanweisung bis 100 M. 10 Pf., bis 200 M. 
15 Pf., bis 300 M. 20 Pf. neben dem Briefporto mit 5 und 10 Pf. Die Taxe war mithin 
geringer als im sonstigen Verkehr, auch können, da die Formulare neben Karten 

sin Form von Briefumschlägen ausgegeben werden, im innern württembergischen 
Verkehr heute noch Briefe mitversandt werden. Seit 1. Juli 1892 sind die Taxen 
im inneren württembergischen Verkehr mit denen im übrigen deutschen Verkehr 
übereinstimmend, dagegen hat Bayern im Ortsverkehr noch billigere Taxen bei- 
behalten und zwar bis 400 M. 20 Pf., über 400 bis 800 M. 40 Pf. Seit 1599 
wird im gesamten deutschen Verkehr bei Beträgen bis zu 5 M. 10 Pf. erhoben. 


Bei dem in Deutschland üblichen Verfahren wird von dem Ab- 
sender ein von der Verwaltung geliefertes Formular mit der Ein- 
zahlungssumme in Zahlen und Buchstaben, der Adresse des Empfängers 
und dem Bestimmungsorte ausgefüllt, woneben noch der Abschnitt des 
Formulars zur Angabe der Adresse des Absenders und zu schriftlichen 
Mitteilungen verwendet werden kann. Dieses in der beschriebenen 
Weise ausgefüllte Formular, welches der Träger des Zahlungsauftrags 
der Postverwaltung gegenüber ist, wird bei der Postanstalt mit dem 
Geldbetrag eingeliefert, wofür dann dem Einlieferer eine Bescheinigung 
ausgefolgt wird. Die Postanweisung, welche einen nach Zeit, Ort und 
Empfänger bestimmten und beschiänkten Auftrag darstellt, bleibt in 
den Händen der Post, welche durch die Beförderung des Formulars 
an den Bestiminungsort und durch dessen Zustellung an den Adressaten, 
sei es mit, sei es ohne den zugehörigen Geldbetrag (in letzterem Fall 
ist die angewiesene Summe am Postschalter abzuholen), sich ihres Auf- 
trags entledigt. Dieses Verfahren, das allmählich im internationalen 
Verkehr des Weltpostvereins sich mehr und mehr Eingang verschatft 
hat, hat in seiner Art etwas Starres, Unabänderliches, das für die 
Länder, in denen der Ausgleich der Forderungen vorzugsweise durch 


Miszellen. 211 


bares Geld vermittelt wird, sich vortrefflich eignet, das aber in Ländern 
mit fortgeschritteneren Formen des Ausgleichs nicht zur gleichen 
Geltung kommt. Deshalb ist auch in manchen Ländern, wie in Eng- 
land, Frankreich, Italien, Belgien, noch eine andere Art von Post- 
anweisungen eingebürgert, die in ihrem Wesen mehr der Bankanweisung 
gleicht und welcher der Gedanke zu Grunde liegt, daß derjenige, der 
eine Forderung zu begleichen hat, bei der Post eine Anweisung gegen 
Hergabe des Betrags (Bankanweisung) löst, mit der er dann nach 
Belieben verfährt. Während es in Deutschland den Beamten verboten 
ist, das Postanweisungsformular auszufüllen, liegt hier im Gegensatz 
hierzu den Beamten die Ausfertigung der Postanweisung :ob, welche 
sodann dem Einlieferer ausgefolgt wird. Diesem wird überlassen, die 
Anweisung dem Adressaten oder irgend jemanden (wenn dieselbe auf den 
Inhaber lautet, wie z. B. in England zugelassen ist) zu übersenden, 
der dann die Anweisung selbst abholen oder durch Indossament weiter 
begeben kann. Die Modalitäten hinsichtlich der Benachrichtigung des 
Bestimmungsamts vom Angabeamt, hinsichtlich der Weiterbegebung und 
Abhebung sind zwar in den einzelnen Ländern verschieden, sie unter- 
scheiden sich aber nicht in der Grundidee, die bezweckt, die Anweisung 
zum Ausgleich mehrerer Forderungen ohne Anwendung von barem Geld 
tauglich zu machen. Eine Art von Postanweisungen, die diesem 
Zweck noch besser dient und infolgedessen vielfach an die Stelle des 
kleinen Papiergeldes, der Kassenscheine tritt, sind die Postbons (postal 
orders). Sie leisten in der Beweglichkeit nach Zeit, Ort und Empfänger 
das Möglichste und können, obwohl sie auf feste Beträge lauten, durch 
Hinzukauf von Postwertzeichen, die dann auf die Anweisungen auf- 
geklebt und entwertet werden, auch auf Teilbeträge der Münzeinheit 
(francs und cents, Schilling und Penny) gestellt werden, sie sind infolge- 
dessen in den Ländern, in denen sie eingeführt sind, sehr beliebt. Im 
Jahre 1903 waren in Frankreich unter 451/, Mill. Postanweisungen, 
5l/, Mill. Postbons, in England unter 101 Mill. sogar 90 Mill. postal 
orders. Letzteres Land ist in allerjüngster Zeit dazu übergegangen, 
durch Einführung der postal orders im Verkehr mit seinen Kolonien 
und durch Ausgabe weiterer Sorten den Verkehr in diesem Zahlungs- 
mittel immer weiter auszudehnen. 

Die Postbons (Postzahlscheine, Postgutscheine) sind Anweisungen auf 
feste Beträge bis zur Höhe von 20 fres., 1 £. Sie sind in der Regel fortlaufend 
numeriert und bestehen aus Stamm, Bon, mitunter auch noch Einliefer- 
schein; der Wertbetrag ist vorgedruckt, bei der Ausgabe erhalten sie 
einen Abdruck des Tagesstempels und die Unterschrift des Ausgabe- 
beamten: der Name und Wohnort des Empfängers ist durch den Ab- 
sender einzusetzen, Indossierung zugelassen. Gültigkeit in der Regel 3 
Monate, nach deren Ablauf durch wiederholte Entrichtung der Gebühr die 
Einlösuugsfrist verlängert werden kann. Einlösung bei jedem Amt zu- 
lässig. Gebühr in der Regel sehr niedrig (in England !/, d. bis 
1}, sh., 1 d. bis 101/, sh., beı höheren Beträgen 1'/, d., in Belgien und 
Frankreich bis 10 frcs. 5 cts., über 10 fres. 10 ets.). Durch Einführung 
der Taxe von 10 Pf. für Postanweisungen bis zu 5 M. ist zwar in 

14* 


212 Miszellen. 


Deutschland dem Bedürfnis nach einem billigen Versendungsmittel 
kleinerer Geldbeträge einigermaßen Rechnung getragen worden, was 
sich auch aus der Steigerung dieser Anweisungen im Verhältnis zu der 
Gesamtzahl ergibt. 

Württemberg 1898: 2363 237 Postanweisungen, worunter 333 296 bis zu 5 M. (=14,4 Proz.) 

» 1904 : 3877 324 » » 663737 » » 5M. (S174 „ ) 

Immerhin ist diese Taxermäßigung nicht im stande gewesen, dem 
nicht erwünschten Markenversand an Zahlungstatt in Briefen Einhalt 
zu tun, und es würde sich die Einführung von Postzahlscheinen in 
Deutschland auch aus den weiter unten zu erörternden Gründen empfehlen. 
Solche Postzahlscheine könnten in Beträgen bis zu 20 M. ausgegeben 
werden, die Gebühr könnte bei Beträgen bis zu 5 M. auf 5 Pfg., bei 
höheren Beträgen auf 10 Pfg. festgesetzt werden. 

Es sind da und dort schon Vorschläge aufgetaucht, die dahin gehen, daß die 
Möglichkeit gegeben werden sollte, auf Postkarten kleinere Beträge einzuzahlen. 
Diesen Vorschlägen, welchen als Ziel die möglichst einfache Versendung kleinerer 
Beträge zu billigen Taxen vorschwebt, würde durch Einführung der Postzahlscheine 
Rechnung getragen. 

Der Meistbetrag der Postanweisungen ist in Deutschland — in 
Uebereinstimmung mit dem Weltpostvertrag — auf 800 M. festgesetzt, 
da aber eine Beschränkung der Zahl der von einem Absender an den- 
selben Empfänger zu versendenden Postanweisungen nicht besteht, so 
ist tatsächlich keine Beschränkung in der Versendung von Geldsummen 
mittels Postanweisung vorhanden, es ist deshalb auffallend, daß Deutsch- 
land nur gezwungenermaßen sich zur Erhöhung des Meistbetrags ent- 
schlossen und nicht wie mehrere Länder vorgezogen hat, auf die Fest- 
setzung eines Meistbetrags zu verzichten, denn schon die Taxen wirken 
bei höheren Beträgen prohibitiv, wie die nachstehende Tabelle zeigt. Es 
beträgt die Gebühr für 


| Geldbriefe 


BeiBeträgen| Post- in Württemberg er hgepiet 
bis zu anweisungen en — 
Zone 1a | Zone 1b |weitere Zonen Zone 1 |weitere Zonen 
M. Pig. Pfg. Pig. Pfg. Pfg. Pfg. 
100 20 20 25 35 30 5o 
200 30 25 30 | 40 30 50 
400 40 25 30 40 30 50 
600 50 i 25 30 45 30 50 
800 60 30 35 45 35 55 
900 80 30 35 | 45 h 35 55 
1000 90 35 40 5o | 40 60 
1200 100 35 40 50 40 6o 
1400 110 40 45 55 45 65 
1500 120 40 45 55 45 65 


Aus dieser Gegenüberstellung ergibt sich, daß es allgemein vor- 
teilhafter ist, Beträge bis zu 200 M. als Postanweisung zu versenden 
und daß mit Ausnahme der nahen Entfernungen (bis zu 10 Meilen) die 
Versendung von Beträgen bis zu 600 M. durch Postanweisung sich 


Miszellen. 213 


lohnt, bei der das Verfahren für den Absender sich einfach gestaltet. 
Für die Postverwaltung erwächst aber aus einer Postanweisung mehr 
Geschäft als aus einem Geldbrief, weil bei der ersteren zu der Be- 
handlung am Aufgabe- und Bestimmungsort noch die Verrechnung und 
Kontrolle hinzukommt. Die Versendung der Geldbriefe ist in Deutsch- 
land allerdings etwas umständlicher als die der Postanweisungen, weil 
die Geldbriefe zur Fahrpost zählen. Der Tarif für Postanweisungen über 
100 M. ist zu niedrig und deckt die Selbstkosten kaum, was auch eine 
Vergleichung der Taxen mit anderen Ländern ergibt. 


Betrag bis su Deutschland | Oesterreich | Schweiz | Belgien | Frankreich | Italien 
M | | | 
16 20!) 8 12 12°) 16 16*) 
80 20 | 17 16 16°) 40t) | 32—64 
160 30 | 34 24 32 | 60 80 
240 40 | 34 l 32 40 60 96 
320 40 | 51 40 48 | 80 112 
400 40 | 51 , 48 56 80 128 
480 50 | SI 56 64 80 | 144 
560 50 | 85 64 72 100 160 
640 60 | 85 72 80 100 176 
720 60 | 85 80 88 ' 100 192 
800 60 | 85 88 96 ' 100 | 208 


Mit anderen Worten, in Deutschland wird der Bargeldversand 
durch Postanweisungen gegenüber dem durch Geldbriefe begünstigt, 
was unter anderem auch die Wirkung hat, daß der Umlauf und Ver- 
brauch von Papiergeld hinter anderen Ländern zurückbleibt. (Im 
Jahre 1903 entfielen in Deutschland bei Postanweisungen auf Beträge 
bis 100 M. 83 Proz. bis 200 M. 9 Proz., bis 400 M. 5 Proz., über 
400 M. 3 Proz.) 


Tabelle I. Postanweisungsstatistik. 


Jahrgang 1903. 
(Die Angaben sind in Tausenden gemacht.) 


Auf den Kopf 


Interner Verkehr | Empfang Versand Insgesamt | der Bevölke- 
Land | | rung entfällt 
Stück-| Betrag |Stück-| Betrag | Stück- | Betrag | Stück- | Betrag |; | Betrag 
| Stück | 
zahl | fros. zahl fres. zahl | fres. zahl | fra. | | fres. 


Oesterreich 26 438| 1 225 416| 5224 |321 617| 3772 218093 35434| 1765 126 1,3 
Belgien 3202| 23652ı| 470 | 26794 518 | 27523 4190| 290828) 0,9 
Frankreich 45 563| 1 682 235| 1370 | 71953. 1426 | 63 008, 48 359| 1 817 178| 1,2 
Großbritannien |101 072| 1745 032| 2709 |144 623| 724 | 51 171|104 505| 1940 826| 2,4 


Italien 15716) 1050428 1261 | 84 212| 233 | ı3 112| 17 165; 1147752, 0,5 | 


Schweiz 6896, 710576) 688 | 32591) 1160 44522! 8744 787689) 2,6 | 231,6 


1) Bis 5 M. 10 Pfg., 2) bis 8 M. 8 Pfg., 3) bis 40 M. 16 Pfg., bis 80 M. 24 Pfg., 
4) von 16—40 M. 20 Pig., 5) bis 8 M. 8 Pfg. bis 20 M. 16 Pfg. 


Deutschland 167 316.12 506 730| 4237 |207 277| 3199 156402 174 7532/12870 469 2,9 | 219, 


214 Miszellen. 


Aus Tabelle I ist ersichtlich, daß Deutschland mit seinem Post- 
anweisungsverkehr — 174 Millionen Stück im Gesamtbetrage von an- 
nähernd 13 Milliarden — den übrigen Ländern weit voransteht, wie 
es auch, auf den Kopf der Bevölkerung gerechnet, in der Stückzahl der 
Postanweisungen an erster Stelle steht. In der Höhe des Betrages wird 
Deutschland nur von der Schweiz übertroffen. 

Die Schweiz hat neben den gleich billigen Taxen bis zu 320 M. wie Deutsch- 
land den Vorzug vor letzterem voraus, daß dort sofort die Postanweisungen mit 
den Geldbeträgen nach der Ankunft den Adressaten ohne Erhebung eines Bestell- 
reldes zugestellt werden (einen Vorzug, den mit der Schweiz nur noch Württem- 
Perk teilt) Durch die Erhebung eines Bestellgeldes von 5 bezw. 10 Pfg. für jede 
Postanweisung wird im Reichspostgebiet und in Bayern die Wirkung der niedrigen 
Taxen zum Teil ausgeglichen. 

Diesen enormen Postanweisungsverkehr verdankt Deutschland in 
erster Linie dem blühenden Zustande seines Postwesens, sodann, wie 
schon erwähnt, seinen billigen Taxen und dem Umstand, daß die Volks- 
wirtschaft in Deutschland sich noch vielfach des umständlicheren Aus- 
gleichs von Forderungen durch Barzahlung bedient in Fällen, wo in 
anderen wirtschaftlich fortgeschrittenen Ländern die Ausgleichung 
durch Uebertragung bewirkt wird, was daraus erhellt, daß, wie die Er- 
fahrung zeigt, ein erheblicher Teil bedeutenderer Firmen täglich eine 
große Zahl von Postanweisungen erhält. Sodann ist aber auch noch 
des Umstandes zu gedenken, daß die Ausgleichung der von der Post 
auf Grund von Nachnahmen und Aufträgen eingezogenen Geldbeträge 
in Deutschland durch Postanweisung erfolgt, was in den anderen 
Ländern nicht durchweg der Fall ist. 

In Großbritannien besteht ein Postauftrags- und Postnachnahmedienst über- 
haupt nicht, in Frankreich wird der auf Nachnahmen für Postpakete eingezogene 
Betrag, in der Schweiz und Luxemburg werden die Nachnahmen nicht durch Post- 
anweisung abgeglichen, ebenso werden in Belgien eingezogene Gelder in höheren 
Beträgen durch Giro überwiesen, 

Eine große Rolle im Anweisungsdienst der Post spielt das Betriebs- 
kapital. Die Höhe desselben und damit auch die Inanspruchnahme der 
Staatsfinanzverwaltung (welcher die Post die vorgeschossenen Mitte] zu 
verzinsen hat) ist durch verschiedene Faktoren bedingt. Im Inlands- 
verkehr, wo sich der Betrag der Ein- und Auszahlungen ausgleicht, 
gelangt die Post zwar in den Besitz der Baarmittel, aber sie hat sie 
nicht immer da, wo sie ihrer bedarf, weil mit der Anweisung nicht 
auch der eingezahlte Betrag versandt wird. Es gibt eine große Zahl 
von Stellen, bei denen mehr Geld ein- als ausgezahlt wird, während 
bei vielen anderen das umgekehrte Verhältnis vorhanden ist (dazu ge- 
hören die Industrie- und Handelszentren). Die Postverwaltung hat 
zwar durch ihre Maßregeln dafür gesorgt, daß von den erstgenannten 
Stellen die überschüssigen Gelder in kurzen Zwischenräumen an die 
Distriktskassen oder an ein für allemal bestimmte Aemter abgeführt 
erden, auch wird durch Ueberweisung im Giroverkehr der Reichsbauk 
ein rascher Ausgleich bewirkt, aber bei der großen Zahl der Stellen 
bleiben viele Aemter übrig, bei denen ein solcher Ausgleich nicht mög- 
lich ist und dann ist bei der großen Verteilung und weil die Ver- 


Miszellen. 215 


sendung jedes kleinsten Betrags sich nicht lohnt, doch noch eine erheb- 
liche Summe nicht sofort verfügbar. Die Wirkung wird zwar dadurch 
etwas abgeschwächt, daß die Postverwaltung postordnungsmälig zur 
Auszahlung der vorliegenden Postanweisungen erst dann verpflichtet 
ist, wenn ihr die nötigen Geldmittel zur Verfügung stehen (doch kann 
sie von dieser Einräumung nur bei kleinen Nebenplätzen und ausnahms- 
weise Gebrauch machen), und daß bei denjenigen Verwaltungen, die 
für die Abtragung des Geldes Bestellgebühr erheben, stets eine größere 
Anzahl der Empfänger, insbesondere Firmen, die Postanweisungsbeträge 
abholen lassen, wodurch für die Verwaltung ein Zeitgewinn entsteht. 
Ein nicht unwesentlicher Faktor für die Betriebsmittel im Postan- 
weisungsverkehr ist die Zahlungsbilanz im internationalen Verkehr: 
Das Betriebskapital muß um so höher sein, je günstiger die Zahlungs- 
bilanz ist, weil nach den internationalen Uebereinkommen die Schuld 
seitens des belasteten Landes erst innerhalb einiger Monate zu bezahlen 
ist, doch ist durch Vereinbarung dafür gesorgt, daß solche Länder, die 
regelmäßig an ein anderes Land erhebliche Beträge abzuführen haben, 
dies in kurzen Fristen (8—10 Tagen) regelmäßig in zum voraus be- 
stimmten Summen tun. 

Aus Tabelle I geht hervor, daß im Jahre 1903 Deutschland 51 Millionen aus dem 
Postanweisungsverkehr zu empfangen hatte, in Oesterreich betrug dieser Aktivposten 
148 Millionen, in Großbritannien 93 Millionen, in Italien 73 Millionen. Das kleine 
Württemberg hatte im Jahre 1904 ein Aktiva von 67620000 M. (nicht frances wie 


obengenannte Beträge); da es die Postanweisungen ohne Erhebung von Bestell- 
geld sofort bar auszahlt, so bedarf es eines ziemlich großen Betriebskapitals. 


Hieraus ergibt sich klar, von welcher finanziellen Bedeutung für 
die deutsche Postverwaltung die Einführung von Postzahlscheinen 
(Postbons) wäre, die erst eine gewisse Zeit umlaufen, bevor sie zur 
Einlösung präsentiert werden. Durch diese Einrichtung würde das Be- 
triebskapital für den Postanweisungsdienst erheblich reduziert, wenn 
nicht gar entbehrlich werden. In England betrug die Summe der auf 
Postbons im Jahre 1903 eingezahlten Beträge 852 Mill. fres. In Deutsch- 
land kommt noch hinzu, daß für Rechnung der Versicherungsanstalten 
(Invalidenversicherung) und Berufsgenossenschaften erhebliche Beträge 
in Form von Renten vorschulweise zu bezahlen sind; dieselben haben 
betragen 


im Jahre 1903 204'/, Mill. M. 
„ „1904 223 I wi 
no o 1905 238 FRE 


Fast in allen Ländern, die den Postanweisungsverkehr eingeführt 
haben, ist es zulässig, Geld telegraphisch mittels Postanweisung zu 
überweisen, da jedoch für diesen Zweck hohe Gebühren aufzuwenden 
sind, so hat der Verkehr in dieser Art von Postanweisungen nirgends 
einen größeren Umfang angenommen, z. B. kamen im Jahre 1904 im 
Reichspostgebiet auf 166 Millionen Postanweisungen etwas mehr 1/, Million 
telegraphische Postanweisungen. 

Hinsichtlich der Form der Ein- und Auszahlung der Postanweisungs- 
gelder in Deutschland ist noch der Einrichtung zu gedenken, daß in 


216 Miszellen. 


Orten mit Reichsbankstellen, im Reichspostgebiet Girokunden die Ein- 
und Auszahlung .durch Scheck auf die Reichsbank bewirken können. 
Diese Zulassung hat aber zur Voraussetzung, daß ein Mindestbetrag im 
Monat ausbezahlt und ebenso ein Mindestbetrag in einer Summe ein- 
bezahlt wird. Infolge dieser Beschränkungen sind im Jahre 1903 nur 
18321/, Mill. M. durch Giro ausgeglichen worden (= 19,5 Proz.). 

Auch in Württemberg konnte die Auszahlung der Postanweisungen durch 
Ueberschreiben auf Girokonto der Reichsbank bewirkt werden. Im Jahre 19% 
kamen auf diese Weise zur Auszahlung 942 000 Stück (= 12,3 Proz.) über 6$'/, 
Mill. M. (= 15 Proz.) 

Die Postaufträge und Nachnahmen haben den Einzug von Geld- 
beträgen zum Zweck. Bei den ersteren wird dieser Auftrag an die 
Postverwaltung durch die Ausfüllung eines von der Verwaltung ge- 
lieferten Formulars — dem Postauftrag — erteilt, dem die einzulösenden 
Papiere, denen briefliche Mitteilungen für den Bezogenen nicht beige- 
fügt werden dürfen, offen beizugeben sind; beides — Auftrag und ein- 
zulösende Papiere — sind unter Umschlag an die Postanstalt, welche 
die Einziehung bewirken soll, zu versenden. Die Nachnahme dagegen 
wird auf die Sendung selbst erhoben, die unter der Adresse eines be- 
stimmten Empfängers abgesandt wird. Ist es sonach in die Hand des 
Absenders gegeben, ob er den Geldeinzug für eine gewisse Sendung 
je nach der Form der Einlieferung durch Postauftrag' oder Nachnahme 
bewirken lassen will, so gibt es doch eine Art von Papieren, für die 
sich die Form der Postaufträge besonders eignet, weil nur bei diesen 
die Weitersendung an einen Dritten — ohne den Einzug von Geld — 
oder die Weitergabe zum Proteste (bei Wechseln um die wechselrecht- 
lichen Vorteile zu wahren) zugelassen ist. Bei allen anderen Sen- 
dungen ist es in der Regel für den Versender im Wesen gleichgültig, 
ob er die Einziehung der Forderung in der Form des Auftrages oder 
der Nachnahme bewirken will: die Höhe des Meistbetrags, die Vor- 
zeigung, die Lagerfristen, die Abführung des Geldes sind an die gleichen 
Bedingungen gebunden. Nur darin unterscheidet sich der Postanttrag 
von der Nachnahme, daß für den ersteren, weil er als Einschreibebrief 
behandelt wird, im Falle des Verlustes eine feste Entschädigung von 
42 M. bezahlt wird und daß bei Warensendungen zwar die Entnahme 
von Nachnahme, aber kein Auftrag zulässig ist. Den Nachnahmen 
können, soweit sie in Form von Paketen oder Briefen versandt werden, 
briefliche Mitteilungen beigefügt sein. 

Schon früh war die Erhebung von Nachnahmen für Auslagen (Fracht, Spesen, 
Zoll) auf Postfrachtstücke, insbesondere Reiseeffekten, zugelassen. In manchen 
Ländern, wie in Frankreich, Italien, Schweiz, ist die Erhebung von Nachnahmen 
auch heute noch nur bei Paketen angängig. In Deutschland wurde jedoch schon 
im deutsch-österreichischen Postvertrag vom April 1850 der Nachnahmeverkehr 
auf Briefe ausgedehnt, die als solche zur Fahrpost gerechnet wurden und für 
welche die teurere Taxe für die Fahrpost zu entrichten war. Außer dieser Taxe 
kam für die Nachnahmesendungen (Meistbetrag 50 Taler) eine Nachnahmegebühr 
von '/, Proz. — später sogar eine solche von 2 Proz. — zur Erhebung (dieses 
Taxverfahren besteht noch jetzt in Oesterreich für Pakete, sowie in der Schweiz 
und Luxenburg); Spesen und sonstige Auslagen konnten in höherem Betrage nach- 


genommen werden. Anfänglich wurden kleinere Beträge dem Aufgeber sofort bei 
der Einlieferung ausbezahlt, für die höheren Beträge war die Benachrichtigung 


Miszellen. 217 


von dem Bestimmungsamt über die erfolgte Einlösung der Nachnahme abzuwarten, 
wie dies auch jetzt noch im Eisenbahnverkehr geschieht. Seit Mitte der 70er 
Jahre wird der Betrag für die eingelösten Nachnahmen (bis dahin eine Zeitlan 

„Vorschüsse“ geheißen) mit Postanweisung übermittelt; etwa gleichzeitig entfie 
auch die Vorauszahlung kleinerer Nachnahmebeträge. Eine grundsätzliche Aende- 
rung im System trat in Deutschland ein als im Jahre 1890 an Stelle der Nach- 
nahmegebühr von !/, Proz. eine — gleichzeitig mit dem Porto zu entrichtende — 
Einlösungsgebühr von 10 Pf. trat und als im Jahre 1892 auch Postkarten, Druck- 
sachen und Warenproben gegen Nachnahme versandt werden konnten. Mittlerweile 
war auch wie bei den Postanweisungen der Meistbetrag einer Nachnahme allmäh- 
lich auf 800 M. erhöht worden. 

Das Postauftragsverfahren wurde in Deutschland im Jahre 1871 eingeführt. Für 
einen Postauftrag wird ohne Rücksicht auf Gewicht und Entfernung die Gebühr 
von 30 Pf. erhoben. Der Meistbetrag war anfänglich 150 M.. späterhin wie bei den 
Anweisungen und Nachnahmen 800 M. Das Verfahren ist seit der Einführung nicht 
geändert worden. Im Jahre 1876 wurden die Postaufträge zugelassen, welche lediglich 
die Herbeifübrung des Akzepts des Bezogenen bezwecken; für derartige Aufträge 
besteht eine Grenze des Betrages nicht. Vorübergehend gab es auch sogenannte 
Postaufträge zu Bücherpostsendungen (mithin eine Art Auftrag auf Warensen- 
dungen), sie wurden aber wenig benutzt und bald wieder aufgehoben. 


Tabelle II. Postauftrags- und Postnachnahmeverkehr. 
(Die Angaben verstehen sich in Tausenden.) 


| | Nicht eingelöst | | Nicht eingelöst 
Land Zahl ` Betrag | Zahl Betrag | Zahl | Betrag | Zahl | Betrag 
| fres. fres. | | fres. ! fres: 
Postaufträge | Postnachnahmen 


Deutsch. | Tatern 5645| 851 180 |1 614| 216 993 |40 217 | 838 418 | 7 211 | 256 902 


land Empfang 81 5 598 30 2110| 635 9616 52) 1023 
k Versand — | N EA e | 1685| 32547| 27| 451 
zusammen | 5726 856768 i 644, 219 103 | 42 537 | 880 581 | 7 290 | 258 376 
Oeste Intern 415|} 37529 152| 11626|| 4976| 88905 | 62 1 307 
sied Empfang] 112) 11133 39 4550, 915| 17239| 20 429 
Versand | — | — Sa — k 1786| 32147| 13| _301 
zusammen | 527| 48 662 ı 191] 16 176° 7 677 | 138 291 | 9 2 037 
Intern 11 732| 1079921 | 212) 90291! 449 6 354 | — — 
Belgien Empfang 87 4153| 19 826 58| 1081 77 140 
Versand | — == | — | = arah] 617 Z 44 
zusammen | 11 819| 1084074 | 231| 91077 534 8052 | 29 184 
Frank- Intern 17 358| 404 630 4 657, 101 387 | 2818| 97 321) 34 | 416 
; Empfang 73) 4 382 19) 1017 156 3219 13 246 
reich p 
e | Versand — | — le | 7302 9906| — — 
zusammen | 17 431| 409012 l4 676, 102 404! 3276 110 446) 47 662 
Intern 1379| 107986 407| 30 573 1475| 28240) 89, 1832 
Italien Empfang 31 2.063 9 584, 82! 2573 2 82 
Versand — 2 '—| — 42| 1049, 2 54 


| 
zusammen | I 410| 110049! 416 31157) 1599; 31 862| 93 | 1 968 
Intern 1310| 97697 | 421| 30724| 9406| 63782, 1148 | 0524 
Schweiz \ Empfang 76 4677 17| 1104 325| 6088! 18) 461 
_ \ Versand = — | - — | 2491| 3579| 2ı | 204 
| 
| 


-> _ + -- l) 
zusammen | 1386 102 374| 438, 31827 9972| 73453 |i 187 | 7 189 


218 Miszellen. 


Die Tabelle II enthält eine vergleichende Uebersicht des Postauftrags- 
und Postnachnahmeverkehrs der hauptsächlichsten Staaten vom Jahr 1903. 
Hieraus ergibt sich, daß im Nachnahmeverkehr Deutschland mit 42 Mill. 
Stück in Betrag von 880 Mill. weit voran steht, daß es aber im Post- 
auftragsverkehr von Belgien und Frankreich — von ersterem erheblich — 
übertroffen wird. Die Ursachen dieses Vorwiegens des Nachnahmever- 
kehrs in Deutschland sind auf die Begünstigung dieses Verkehrs im Tax- 
wesen zurückzuführen. Es wird sicher niemand einfallen, zum Einzug einer 
Forderung sich eines Auftrags, der 30 Pfg. kostet, zu bedienen, wenn 
er die Sache mit einer Drucksachenkarte zu !2 und 13 Pfg. abmachen 
kann. In der Tat werden auch Forderungen der verschiedensten Art, 
wie der Einzug von Prämien, Abonnements, Mitgliederbeiträge, wozu 
früher die Form des Postauftrags gewählt wurde, durch Drucksachen- 
karte mit Nachnahme eingezogen, nachdem zugestanden worden ist, daß 
man auf Aufschriftseite der Drucksachen sich auf einen vorausgegangen 
Schriftwechsel beziehen kann. Für die Postanstalten entsteht das gleiche 
Geschäft, ob es sich um einen Postauftrag oder um eine Drucksachen- 
sendung mit Nachnahme handelt. Die Einräumung, daß der Empfänger mit 
der Einlösung 7 Tage warten kann und daß ihm die Nachnahme nach Ab- 
lauf dieser Frist von neuem präsentiert wird, macht das Publikum sich 
ausgiebig zu nutze. Von der Ueberflutung durch Nachnahmen wurden an- 
dere Länder dadurch bewahrt, daß entweder für eine Sendung mit Nach- 
nahme mindestens die Einschreibegebühr oder die Fahrposttaxe gefordert 
wird, oder daß die Nachnahmegebühr höher ist. Geht man davon 
aus, daß für eine Briefsendung mit Nachnahme beim Aufgabeamt und 
bei der Beförderung gegenüber anderen Briefsendungen keine Mehr- 
leistung vorliegt und daß für die Zusendung des eingezogenen Geldes 
an den Absender die Postverwaltung durch die Postanweisungsgebühr 
gedeckt ist und daß ferner für die erste Vorzeigung — mag sie von 
Erfolg sein oder nicht — die Einziehungsgebühr von 10 Pfg. erhoben 
wird, in welcher Gebühr übrigens auch die Entschädigung für die 
Manipulationen beim Bestimmungsamt inbegriffen ist, so erscheint es 
nicht mehr als recht und billig, wenn für die zweite Vorzeigung die 
Einziehungsgebühr wiederholt verrechnet wird und zwar auch für solche 
Nachnahmen, welche schließlich beim Amt eingelöst werden. Diese Ge- 
bühr kann der Absender leicht durch den Vermerk umgehen: „Wenn 
bei der ersten Vorzeigung nicht eingelöst zurück“. Diese zweite Gebühr 
ist reichlich durch die Geschäftslast begründet, welche die Aufbewahrung, 
die fortlaufende Kontrolle, die Ueberweisung von Stelle zu Stelle und 
endlich die wiederholte Zustellung mit sich bringt. Die Taxen für die 
Postaufträge sollten denjenigen für die Nachnahmen nähergebracht werden: 
in Frankreich wird für einen Postauftrag, dem Papiere in unbeschränkter 
Zahl zum Einzug im Bestellbezirk des Bestimmungsamts beigegeben 
werden können, nur 25 cts. erhoben (das Briefporto betrug dort bis 
vor kurzem 15 cts.), während in Belgien, wo ein anderes Verfahren 
hinsichtlich des Einzuges von Forderungen für Handelspapiere, Wechsel, 
Zins- und Dividendenscheine besteht, das nicht ohne weiteres auf 
andere Länder übertragbar ist, nur die (allerdings höhere) Einzugs- 


Miszellen. 219 


gebühr berechnet wird. Es dürfte genügen, wenn für Postaufträge zum 
Geldeinzug das gewöhnliche Briefporto angesetzt wird, daß aber dann 
die Einziehungsgebühr wie bei den Nachnahmen erhoben wird. Auch er- 
scheint erstrebenswert die Vereinigung mehrerer Aufträge unter einer 
Adresse, wenn die Einziehung bei derselben Postanstalt erfolgen soll, wie 
auch die Erweiterung des Meistbetrags. Derjenige, welcher eine besondere 
Sicherheit für die einzuziehenden Papiere beansprucht, kann dann immer 
noch den Auftrag als posteingeschrieben versenden. Mit Rücksicht auf 
die Besonderheiten, die einen Vorzug des Auftrags vor der Nachnahme 
darstellen, insbesondere die Sicherung der Protesterhebung, ist eine 
besondere Behandlung der Aufträge begründet. Mit der fakultativen 
Protesterhebung durch die Postbeamten beschäftigt sich die Handels- 
welt seit längerer Zeit: es ist auch kein Grund vorhanden, der gegen 
diese Erleichterung für die Interessenten, die in Belgien seit längerer 
Zeit gut funktioniert, sprechen würde. Voraussetzung dabei ist, daß 
das ziemlich umständliche Verfahren der Protestaufnahme vereinfacht 
wird. Schon jetzt hat Postpersonal die Zustellungen im gerichlichen 
Verfahren fast ausschließlich zu bewirken. 
Im Jahre 1904 wurden in Belgien bei einer Gesamtzahl von 182000 Protest- 
urkunden 122 000 von Postbeamten, der Rest von Gerichtsvollziehern aufgenommen. 
Zur Einholung von Wechselakzepten wird die Post nur wenig be- 
nutzt, dieser Verkehrszweig scheint eher im Abnehmen begriffen zu sein. 
Die Zahl der Wechselakzepte betrug im Reichspostgebiet im Jahre 1903: 
a 1904: 45861; in Württemberg 1881: 3185, 1882: 3497, 1903: 3392, 
Sind in den vorhergehenden Abschnitten diejenigen Zweige des 
Postbankwesens behandelt worden, die sich auf den Geldeinzug und 
auf die Vermittelung der Barzahlungen erstrecken, so soll in nach- 
folgendem auf diejenige Tätigkeit der Post eingegangen werden, die zu 
dem eigentlichen Bankwesen gehört. Nirgends jedoch hat die Tätig- 
keit der Post sich des Bankwesens im ganzen Umfang bemächtigt, ins- 
besondere ist überall die eigentliche Kreditvermittelung von ihrem Ge- 
schäftsbereich ausgeschlossen gewesen, wenn auch die Anlage der ihr 
anvertrauten Gelder sie mitunter in großem Umfange zwang, Kredit- 
papiere anzukaufen. 
Diejenigen Banktätigkeiten der Post, von welchen nun die Rede sein 
soll, sind die Postsparkassen und der Postscheck- und Giroverkehr. 
Die Postsparkassen haben in einer großen Zahl von Ländern Ein- 
gang gefunden und sind in einzelnen Ländern zu großer Blüte gelangt. 
In Tabelle III ist eine Aufstellung über die Entwickelung der Postspar- 
kassen in den hauptsächlichsten europäischen Ländern, wo diese Ein- 
richtung besteht, nach den amtlichen Veröffentlichungen in der Zeitschrift 
des Weltpostvereins, Union postale, gegeben. Es fehlen darin England 
und Italien, von welchen solche ausführliche Veröffentlichungen über 
den Zustand ihrer Postsparkassen nicht vorliegen. 
Außer den in Tabelle IV über England und Italien gegebenen Zahlen mögen 
noch die folgenden Ziffern über den Sparkassenverkehr in diesen Staaten einen 


Anhalt geben. 
In Großbritannien waren Ende Dezember 1002: 9403852 Postsparbücher mit 


Miszellen. 


20 


2 


Tabelle IIT. 


Entwickelung der Postsparkassen in einigen europäischen Ländern. 


Oester- 
reich ') 


Belgien °) 

Frank- 
reich ®) 

Holland t) 


Schweden ê) 


Ungarn ®) 


1) Währung 1898 u. 1899: Gulden (öster.), von da ab Kronen. 
4) Währung: Gulden (holl.). 


2) Währung: Franken. 
5) Währung: Kronen (schwed.). Angaben über den Reservefonds fehlen. 


keine Angaben vorhanden. 


y| m Zahl der! 38a 
5 & jin S Der Einlagen Der Rückzahlungen Vergütete Gesamtbetrag E £ $| Ver: Kapital 
=: en Zn ij der 2 PE- waltungs-| der 
2531 bücher = Guthaben |5 £ 5| kosten | Sparkasse 
“a >, Zahl | Betrag Zahl Betrag E g0 | 
EAEAN M ABER N SE N 1 ET EEE = Dal ES. Zi, ee 
Tr T eu g ee = ` J = a zen SFr ao T e T. = “7 
1853/18981 318 636|2 269 A 45 254 890| 862 516 "39 863 743| 1540854, 58892914 45,42 | ? — | 
1901/1 547 541|2 669 385/103 824 317|1 062 494, 95 173 017| 3 891 308| 149533 221|115,70 |5 297 235 - 
(1904/1 798 01813 217 775 131 365 766 1454 412 114 769 497| 5 116721) 196737 107 127,80 5 407 255 —- 
| | | N 
18701898, 1 514 810.2 932 050/245 127 916| 769 438,227 566 415/15 185 952 564 829 271|372,87 |I 091 225| 587 820 178| 
1901|1 862 829 3 310 192 305 754 590| 947 6381251 361 166 19431859, 735 333 171 394,74 1627 595 754 544 795' 
11904|2 205 052|3 742 801 339 340 973,1 179 341/330 691 76620 439 190) 764 069 8411346,51 1 608 618, 796 437 493 
1882'1898/3 087 62113 010 1981361 959 469/1 519 486.352 228 370/20 174545 875 021 387 283,39 |3 579 214! 890 310 094 
\1901'3 805 881 3 540 399 448 168 284|1 765 099|403 660 969|24 668 778|1 080 389 845286, 15 |4 276 325|1 107 342 226, 
1904/4 345 446/3 586 418/456 712 543|1 944 780 415 432 082|27 181 829 ı 187 348 660 273,23 |4 591 284 1 227 601 271 
188111898] 693 228/1 057 453) 34 706 280| 421 453| 28013 018| 1672406! 70012 148 100,99 265 300| — | 
‚1801| 896 7611 249 336| 43 774 949| 552 560| 36961 304. 2 261 004| 93 771 063|104,56 | 380 300, — | 
1904/1 111 59011 539 335| 58 011 554| 719648) 50 026 283| 2925 619 120434591 108,34 | 465 168) — | 
| i | | 
1884'1897| 495 383! 539283 19830248) 139949 13 157 191 ? | 58107 483]117,80 181734| 59358 33) 
‚1900 566805) 542713 13 601 291) 178709| 19043635 1984846 56461391) 99,51 228 190° 64 182 568 
1903) 579874 539651) 12033033] 153 199| 13 308 721| 1 863 597) 54482 232, 95,47 | 243478, 56678 840 
1886 1898| 337 936! 730929 11 942 784| 331395. 10 904 546 ? 13 223 606| 39,13 | 876655 — 
|1901| 416328 855 737| 31 929 809| 402 271| 27 265 402| 866008 37338054; 89,68 |2 348 312 — | 
11904| 525 818 1042 130 51 190 693| 515 950| 42 597 077| 1457 219 61368 780.116,71 3 422 743 — | 


3) Währung: Franken. 


bekannt. 6) Währung 1898: Gulden, von 1899 an: Kronen (öster.). 


| 
| 


4 000 000 


IT QII 175 
14 674 364 
18 320 204 


13737 711 
26 952 380 
37 856 280 


1 352 303 
5 373 003 


Ueber das Kapital der Sparkasse sind keine Angaben vorhanden. 
Ueber das Kapital der Sparkasse und den Reservefonds sind 
Die Zahlen von 1904 sind noch nicht 


Miszellen. 221 


einem Guthaben von 146135000 £ vorhanden (auf ein Buch entfallen 15 £ 10 sh); 
es gab 14600 Sammelstellen; die Einzahlungen im Jahre 1903 beliefen sich auf 
40 357 000 £ die Rückzahlungen auf 42756000 £. Die Rückforderungen überstiegen 
die Einzahlungen um annähernd 2 Mill. £. Diese Erscheinung wird auf die Ge- 
legenheit zu sonstiger nutzbringender Kapitalanlage und auf die Besorgnis, es werde 
der Zinsfuß für die Spareinlagen herabgesetzt, zurückgeführt. Im Jahre 1884 be- 
trugen die Einlagen bei der Postsparkasse 44”, Mill. £, bei den Privatsparkassen 
46 Mill. £, im Jahre 1904 bei den letzteren 52,88 Mill. £, bei der ersteren 148,3 
Mill. £. Die Betriebsausgabe der englischen Postsparkasse betrug im Jahre 1904: 
537672 £. 

In Italien betrugen die Einlagen in die Postsparkasse im Jahre 1904: 
99367 Mill. Lire (im Jahre 1903: 879,61 Mill. Lire), die sonstigen Bareinlagen 
182,15 Mill. Lire. Diese Einlagen waren mit 531,50 Mill. Lire in italienischen 
Staatspapieren, mit 119,14 Mill. in Gemeinde- und Provinzialanleihen angelegt, 
448,90 Mill. waren als schwebende Darlehen an Körperschaften und Gemeinden, 
82,64 Mill. als solche Darlehen an den Staat gegeben. 


Die in der Tabelle III niedergelegten Zahlen sprechen für sich. 
Wenn wir sehen, daß in dem kleinen Belgien 800 Mill, in Frankreich 
1200 Mill., in England gar 3700 Mill, in Oesterreich mehr als 200 
Mill. fres. Spareinlagen einheitlich angelegt und der wirtschaftlichen 
Befruchtung zugeführt werden, so vermag auch ein Laie einzusehen, welche 
wirtschaftliche Kräftigung, welchen finanziellen Rückhalt dies für den 
Staat bedeutet. Angesichts dieser großartigen Entwickelung des Post- 
sparwesens in Ländern, wo ein hochentwickeltes Bankwesen, wie in 
England, und kräftig blühende Privatsparkassen, wie in Frankreich und 
Oestereich bestehen, mutet es eigentümlich an, wenn in Deutschland 
von seiten der Sparkassen gegen das Verlangen des preußischen und 
des sächsischen Finanzministers, es solle ein kleiner Teil ihrer Einlagen 
in Staatspapieren angelegt werden, so lebhaft Stellung genommen wird, 
ein Verlangen, das in Ländern mit Postsparkassen in viel weitergehendem 
Maße erfüllt ist. 

Welchen Einfluß die Sparkassen auf den Staatskredit haben, mögen folgende 
Zahlen zeigen. Es betrug der Kurs der Staatsanleihen (verglichen ist: Deutsches 
Reich 3',-proz. Anleihe, Belgien 3-proz. Anleihe, Oesterreich 4-proz. Goldrente, 


Italien 4-proz. Rente, Frankreich 3-proz. Rente, England 2°,,-proz. bezw. 2'/,-proz. 
Konsols): 


im Durchschnitt Deutsches 


der Jühre Reich Oesterreich Italien Belgien Frankreich England 
1880/85 102,50 83,75 — -o — 997/6 
1886;90 100,30 91,40 . . . 99'/16 
1891/95 101,80 98,75 85,68 102,70 105,78 100° /, 
1896/1900 100,68 101,44 92,91 99,26 104,70 106?/ 6 
1901/05 101,28 100,69 103,12 100,12 99,51 gotti 


(Die Kurse sind nach dem Börsenkalender der „Frankfurter Zeitung“ nach den 
Kursen vom 31. Dezember berechnet.) 


_ Wenn ich auch weit davon entfernt bin, behaupten zu wollen, daß der Kurs 
der Staatspapiere von den Einlagen in die Postsparkassen abhängig sei, wie denn 
in den reichen Ländern Frankreich und England ein sichtbares Zurückgehen der 
Kurse bemerkbar ist, was bei dem ersteren hauptsächlich auf die — den Abge- 
ordneten zu Gefallen lebende — Ausgabewirtschaft der republikanischen Regierung 
und auf die Belastung des französischen Volkes mit russischen Papieren, in Eng- 
land auf die imperialistische Politik, auf den Burenkrieg des Toryregiments und 
auf die Herabsetzung des Zinsfußes für die Rente zurückzuführen scin wird, so 
ist doch die Besserung der Kurse in Oesterreich und Italien seit Einführung der 


222 Miszellen. 


Postsparkassen so klar ersichtlich, daß es schwer halten dürfte, den günstigen Ein- 
fluß dieser Einriebtung auf die Kurse der Staatspapiere abzuleugnen. Noch deut- 
licher tritt dies bei na hervor, wo 1884 die 5-proz. Rente einen kurs von 
75,37 hatte, während der Kurs der 4-proz. Goldrente Ende 1904: 99,65, 1905: 96,40 
betrug. Italien, Oesterreich und Ungarn konnten inzwischen den Zinstuß ihrer 
Papiere herabsetzen, ohne daß die Kurse erheblich zurückgewichen sind. Es wird 
nicht zu bestreiten sein, daß in Deutschland die Kurse für die Reichs- (und Staats-) 
Anleihen bei der Begebung vorteilhafter gewesen wären und daß die 3-proz. An- 
leihen sich besser hätten halten können, wenn der Postsparkassen-, Scheck- und 
Giroverkehr wie in Oesterreich ausgebildet gewesen wäre. 


Zur Zeit!) bestehen Post-(oder Staats-)Sparkassen in folgenden Län- 
dern: Oesterreich-Ungarn, Frankreich, Großbritannien, Italien, Belgien, 
Niederlande, Schweden, Finnland (Rußland), Rumänien, Türkei, Kanada, 
Egypten, Kapland, Britisch Indien, Japan, Viktoria, Neusüdwales, Neu- 
seeland und Britisch Guyana. 

Wie ist der Stand des Sparkassenwesens in Deutschland? In einem 
Lande, wo die Sparsamkeit verbunden mit der Arbeitsamkeit eine der 
hervorstechendsten Eigenschaften des Volkscharakters bildet, konnte’ es 
nicht fehlen, daß in allen Ecken und Enden gespart wurde, daß beim 
Uebergang von der Natural- zur Geldwirtschaft überall Sparkassen ge- 
gründet und Volksbanken errichtet wurden. Ursprünglich in manchen 
deutschen Staaten als Privatanstalt unter Staatskontrolle für die ärmeren 
Volksklassen ins Leben gerufen, bemächtigten‘’ sich bald die Ge- 
meinden dieser Einrichtung, die den Gemeindebeamten vermöge ihrer 
engen Verbindung mit der Kasse, für welche die Gemeinde haftete, 
einen Einblick in die finanziellen Verhältnisse der Sparer gewährte und 
Gewinn für die Gemeinden versprach. Nebenbei wurden Kreis- und 
Provinzialsparkassen gegründet, Genossenschaften aller Art, Darlehns- 
kassenvereine nahmen Spareinlagen von ihren Mitgliedern und bisweilen 
auch von Dritten an (Raiffeisensche Organisation Ende 1904 3958 Spar- 
und Darlehnskassenvereine, 465 Betriebsgenossenschaften mit einem 
Jahresumsatz von 591 Mill. M. im Geldverkehr und 62 Mill. M. im 
Warenverkehr), ebenso kleine Banken (Gewerbebanken), daneben gründeten 
Vereine aller Art Privatsparkassen für ihre Mitglieder, insbesondere die 
Beamtenorganisationen, weiterhin traten Fabriksparkassen, Schul- und 
Pfennigsparkassen ins Leben. 

Das Ganze ein buntes Bild größter Mannigfaltigkeit, dem aber die 
Einheitlichkeit fehlt. Wohl strebt der deutsche Sparkassenverband, der 
die trefflich geleitete Zeitschrift „Die Sparkasse“ herausgibt, eine solche 
Einheitlichkeit an, aber bei der Verschiedenheit der Grundlagen, auf 
denen die Sparkassen in den einzelnen Staaten ruhen und bei der Ver- 
schiedenartigkeit der sich geltend machenden Interessen gelingt es nicht 
immer, die als zweckmälig erkannten Fortschritte durchzusetzen. 


Im neuesten deutschen Sparkassenkalender findet sich eine Mustersatzung für die 
Sparkassen, aber in No. 575 vom 15. Februar 1906 läßt sich ein Sparkassenverwalter 
bitter darüber aus, daß nicht an den Mustersatzungen (die doch nur im Interesse 
der Sparkassen und lediglich für deren Zwecke nach Anhörung der Interessenten 
herausgegeben sind), wesentliche Aenderungen vorgenommen werden dürfen ; er sieht 


1) Anfang 1906. 


Miszellen. 223 


das Verlangen der Regierungsbehörde, sich an die Mustersatzungen möglichst zu 
halten, als einen frevelhaften, „durchaus ungesetzlichen“ Eingriff in die Bewegungs- 
freiheit der Sparkassen an. Nun haben die Mustersatzungen ja wohl den Zweck, 
eine gewisse Einheitlichkeit nicht nur der Verwaltung (Kontrolle), sondern auch 
den Sparern gegenüber zu verbürgen, eine Einheitlichkeit, die für diejenigen Sparer, 
welche öfter ihren Wohnsitz wechseln, geradezu von ausschlaggebender Bedeutung ist. 
Unter diesem Gesichtspunkt erscheinen derartige Auslassungen, denen man öfter 
begegnen kann, etwas seltsam. Ein anderer Fall: von den 2772 öffentlichen Spar- 
kassen in Deutschland haben sich bis jetzt nur 481 zur Einführung des Ueber- 
tragungsverkehrs entschlossen. 


In vielen deutschen Staaten fehlt es an einer gesetzlichen Grund- 
lage für den Sparkassenverkehr. Gesetzliche Bestimmungen bestehen 
nur in Preußen, Baden, Hessen, Oldenburg, Reuß j. L. und Elsaß- 
Lothringen. Sonst ist diese Materie meist der ministeriellen Verfügung 
überlassen, bisweilen fehlt es auch an solchen. Ueberall aber sind die 
Sparkassen, soweit sie von den Gemeinden oder öffentlichen Körper- 
schaften verwaltet werden, der Aufsicht der Behörden unterstellt. 
Immerhin ist diese Aufsicht vielfach beschränkt, insbesondere fehlt es 
an Vorschriften über die Höhe des Zinsfußes, über den Meistbetrag der 
Einlagen, über die Anlage der Spargelder, über die Höhe der Reserve- 
fonds, über die Verwendung der Ueberschüsse u. s. f. 


Ip Württemberg bestehen neben der als Wohltätigkeitsinstitut für die 
ärmeren Klassen im Jahr 1817 von der Königin Katharina ins Leben gerufene und 
der Zentralleitung des Wohltätigkeitsvereins unterstellten allgemeinen Sparkasse, 
Oberamtssparkassen in jedem Oberamtsbezirk, außerdem (semeinde-Sparkassen 
in Stuttgart, Langenau und Schwenningen, letztere sind Institute der öffentlichen 
Körperschaften, bezw. der Städte. Regierungseitig unterliegen diese Sparkassen 
der Kontrolle nur insoweit wie die Verwaltung der Körperschaften überhaupt. In 
Bayern sind mehrere Ministerialverfügungen über die Verwaltung der Distrikt- 
und Gemeindesparkassen, insbesondere über die Anlage der Gelder und über die 
Höhe des Reservefonds ergangen. In Sachsen, wo das Sparkassenwesen wohl die 
weiteste Verbreitung gefunden hat, bestehen zwar keine gesetzlichen Vorschiiften, 
aber um so mehr Verordnungen. welche sich auf das Sparkassenwesen beziehen. In 
den übrigen kleineren Staaten ist die Regelung des Sparkassen wesens häufig ledig- 
lich den Statuten der betreffenden Sparkassen überlassen, so in Mecklenburg- 
Schwerin, in Sachsen-Weimar, in Mecklenburg-Strelitz, Sachsen-Coburg-Gotha, 
Schwarzburg-Rudolstadt, Lippe und in den Hansestädten. Von Interesse ist, daß 
das Braunschweigische Ruarkaskengesets von 1542 von der Voraussetzung ausgeht, 
daß Postsparkassen im Reich eingeführt werden. Trotz all dieser Verschieden- 
heiten zeigen die deutschen Sparkassen einen erfreulichen Stand der Entwickelung: 
in den Ende 1903 vorhandenen 2772 Sparkassen betrugen die Einlagen (lie statt- 
liche Summe von 11093 Mill. M. Von den Einlagen entfielen auf Preußen 7230 
Mill., auf Sachsen 1170 Mill., auf Baden 528 Mill., auf Bayern 409 Mill., auf Würt- 
temberg 320 Mill., auf Hessen 230 Mill, auf Hamburg 230 Mill, auf El-aß- 
Lothringen 133 Mill., auf Reuß j. L. 98 Mill., auf Bremen 98 Mill., auf Sachsen- 
Coburg 76 Mill., auf Sachsen-Weimar 68 Mill. Auf 100 Einwohner trafen Spar- 
kassenbücher (1000) in Bremen 76, in Reuß j. L. 65, Sachsen 5b, in Preußen 25, 
in Württemberg 23; von außerdeutschen Ländern seien noch folgende Zahlen, die 
das Jahr 1902 zur Grundlage haben, hierher gesetzt: auf 100 Einwohner entfallen 
Sparbücher in Dänemark 51, Schweden 36, Norwegen 32, Belgien 30, Frankreich 29, 
England 26, Niederlande 25, Italien und Oesterreich 19. In Tabelle IV ist eine 
Uebersicht über den Stand des Sparkassenwesens in verschiedenen europäischen 
Staaten gegeben. 

Die Zahlen in der Tabelle IV sind auf Mark umgerechnet, die Zahlen in 
a Ill sind in der Landeswährung gegeben, woraus sich die Verschiedenheit 
erklärt. 


294 Miszellen. 


Tabelle IV. Uebersicht über den Stand der Sparkassen in 
verschiedenen europäischen Staaten Ende 1902. 


| Zahl der Sparbücher Spargutbaben 
Art der | | 
Staat li ; | pro 
Sparkassen im ganzen auf 100 E.|'™ Bunzen pro Kop! Sparbuch 
(inMill.M.)ı M M 
= a A z I 0 si M. 
Preußen Sämtl. Sparkassen |9 372930 26,28 6 727,71 188,66 | 717,18 
| 
Belgien Staatssparkasse 1 973 480 29,48 591,76 88,41 | 299,86 
Städt. Sparkassen 16 463 0,25 8,09 1,21 i 491,40 
zusammen | 29.73 89,62 7 301,44 
Dänemark Sämtl. Sparkassen | 1254 821 59,91 824,60 | 334,55 657,15 
England Postsparkasse 9 133 161 21,95 2 954,28 71,0 323,47 
Sonst. Sparkassen |1 670 394 4,01 I 072,68 25,78 642,17 
zusammen 25,97 96,78 372,74 
Frankreich Postsparkasse 3 991 412 10,24 806,47 23,01 224,60 
Sonst. Sparkassen |7 307 062 18,75 2659,24 68,25 363 93 
zusammen i 29,0 91,26 314,71 
Italien Postsparkasse 4 648 956 14,10 634,62 19,25 130,51 
Sonst. Sparkassen | 1741799 5,28 1 273,49 | 38,64 731,13 
zusammen 19,39 57,89 | 298,57 
Niederlande [Postsparkasse g66 433 18,07 | 172,70 32,30 178,70 
Sparbanken 369 161 6,90 140,68 26,31 381,08 
zusammen 24,98 ı 5861 234,64 
Oesterreich |Postsparkasse 1610 530 6,03 137,63 5,15 | 85,46 
Sonst. Sparkassen | 3 384 678 12,67 3 531,98 132,22 | 1043,52 
zusammen | 18,70 | | 137,38 734,862 
Schweden Postsparbanken 577 627 111 | 60,46 11,67 105,02 
Sonst. Sparbanken | 1281663, 24,65 558,12 107,36 435,47 
zusammen 35,76 | 119,02 332,80 
Ungarn Postsparkasse 446 695 2,32 53,27 2,77 119,25 
Sonst. Sparkassen 879911 | 4,57 1 234,38 64,11 | 1402,85 
zusammen | 6,89 66,58 920,63 


Immerhin ist die Sparkassenstatistik nur mit großer Vorsicht verwertbar, da 
in den verschiedenen Ländern ganz ungleichartige Elemente unter denselben Be- 
griff fallen. Schon unter dem Wort „Sparkasse“ werden die mannigfaltigsten Ein- 
richtungen in dem einen Lande eingerechnet, die in dem anderen Lande wegge- 
lassen werden. In dem einen Lande darf jeder nur ein Sparkassenbuch (Frank- 
reich u. a. m.) besitzen, im anderen ist hierin völlige Freiheit, im einen Lande ist 
keine Beschränkung in der Höhe der Einlagen, im anderen ist ein Meistbetrag, 
der öfter ziemlich niedrig gegriffen ist, festgesetzt. Es ist deshalb nicht ver- 
wunderlich, daß auch die deutsche Sparkassenstatistik sich manches herbe Urteil 
hat gefallen lassen müssen, wie folgende Veröffentlichung in der „Sparkasse“, Jahr- 
gang 1906, S. 97, zeigt, worin ausgeführt wird, daß die einschlägigen Publikationen 
der Bundesstaaten vielfach veraltet und lückenhaft seien und einen Einblick in das 
Einzelleben der Sparkassen nicht gestatte, dies treffe insbesondere auf Preußen und 
Sachsen zu; die vollendetsten seien die von Bayern und Württemberg. Die im 
Statistischen Jahrbuch des Deutschen Reiches von 1903 gebrachte Tabelle verbinde 
Ungleiches miteinander, was ihren Wert problematisch mache. Diese Tabelle trage 
nur zur Irreführung bei und gebe für Jie internationale Statistik einen minder- 
wertigen Beitrag. Es solle vor allem der Begriff Sparkasse auch für die Statistik 
festgelegt werden. Eine ähnliche eingehende Kritik ist im Jahrgang 1905 auf S. 57 
enthalten, insbesondere hinsichtlich der Höhe der Einlagen und der Zahl der 


Miszellen. 225 


189) 


Sparkassenbücher. Wenn z. B. die österreichische Postsparkasse die nicht uner- 
hebliche Zahl von Sparkassenbüchern mit ganz kleinen Beträgen, auf die seit 
Jahren weder Einzahlungen noch Rückzahlungen geleistet wurden, seit 1901 bei 
der Berechnung des Durchschnittsbetrages eines Guthabens wegläßt, so ist dies 
nicht von unwesentlicher Bedeutung, wie die Tabelle III zeigt. Aus Tabelle IV 
läßt sich deshalb nicht ohne weiteres ein Rückschluß auf die Sparsamkeit der Be- 
volkerung des einzelnen Landes und auf den Einfluß der Postsparkassen auf die 
Spartätigkeit machen. 

Die Frage der Einführung der Postsparkassen ist auch in Deutsch- 
land schon erwogen worden, nachdem die Anerbietung der Reichspost- 
verwaltung, die Postanstalten als Annahmestellen bestehender öffent- 
licher Sparkassen dienen zu lassen, keinen Anklang gefunden hatte. 
Eine solche Einrichtung wurde früher auch in anderen Ländern ohne 
Erfolg versucht, sie ist schon aus dem Grunde als abgetan zu betrachten, 
weil bei der Konkurrenz der Sparkassen eine örtliche Abscheidung viel- 
fach nicht durchzuführen wäre. 

In Württemberg brachte die Regierung im Jahre 1883 einen Ge- 
setzentwurf über die Einrichtung einer Postsparkasse ein, nachdem der 
Wunsch auf deren Einführung in der Ständekammer wiederholt zum 
Ausdruck gekommen war. Der Berichterstatter der Kommission, der 
Kanzler der Universität Tübingen, Rümelin, kam zu einer ablehnenden 
Haltung, weil er die Zahl der Sparkassen für genügend groß hielt, so 
daß für die Postsparkasse kein Feld der Betätigung bleibe, weil die 
Spargelder von der Steuer mißbräuchlich befreit bleiben würden, weil 
durch die Höhe der Spareinlagen dem Staat ein großes Risiko entstehe 
und weil die Durchführung mit großen Schwierigkeiten verbunden wäre. 

Wie sehr auch ein so bedeutender Mann, wie es der berühmte Statistiker 
und Doktor fast aller Fakultäten, Rümelin, es war, sich irren kann, zeigen folgende 
Zahlen: Es waren damals in Württemberg — Anfangs der 80er Jahre — 700 Ein- 
lıgestellen vorhanden, die Einlagen betrugen 90 Mill. M. Im Jahre 1899 waren 
e 1687 Sammelstellen, in welche 473722 Sparer 224 Mill. M. eingelegt hatten (wie 
oben gesehen, sind die Einlagen inzwischen — 1903 — auf 320 M:ll. gestiegen). 
Und dies trotzdem, daß durch die sozialpolitischen Gesetze an die Arbeitgeber und 
Arbeitnehmer in den letzten 20 Jahren hohe Anforderungen gestellt wurden! 

Zudem schließen sich einzelne von Rümelin angeführte Gründe gegenseitig 
aus: denn wenn der Postsparkasse kein Geld zugeführt wird, hat auch der Staat 
kein Risiko zu übernehmen. Hinsichtlich der Steuergefährdung hatte der Staat es 
in der Hand, solche durch Gesetz zu verhindern, wie dies auch neuerdings durch 
die gesetzliche Vorschrift geschehen ist, daß der Gesamtbetrag der Sparkassenein- 
lagen, wenn solche 1000 M. übersteigen, steuerpflichtig ist, wobei die Einlagen der 
einzelnen Familienmitglieder zusammengerechnet werden. 


Es war dem Mitberichterstatter Luz nicht schwer, die Bedenken 
des Berichterstatters zu entkräften, und obwohl sich die Kammer zu 
dem Gesetzentwurf günstig stellte, wurde mit Einwilligung der Re- 
gierung die Weiterberatung des Gesetzentwurfes zurückgestellt, weil in- 
zwischen von seiten des Reiches die Gründung einer Postsparkasse an- 
geregt worden war. Die Kammer beschloß denn auch auf Antrag 
Rümelins mit 82 gegen 5 Stimmen, gegen die Zustimmung der Staats- 
regierung zu diesem letzteren Gesetzentwurfe (unter Vorbehalt der 
Reservatrechte hinsichtlich der reglementarischen und Tarifbestimmungen) 
keine Einwendung zu erheben. 

Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIII). 15 


226 Miszellen. 


Anders war: die Aufnahme des Entwurfes der Reichspostverwaltung 
im Reichstage. Man wird nicht sagen können, daß dieser Gesetzent- 
wurf nicht gründlich genug vorbereitet gewesen sei. In der Sitzung 
vom 22. Januar 1885, in welcher der Entwurf in. erster. Lesung zur 
Beratung stand, kamen fast ausschließlich. die Vertreter der Sparkassen 
und Genossenschaften, insbesondere diejenigen aus Sachsen, zum Wort, 
die schon aus Furcht vor der Konkurrenz der Postsparkassen für ihre 
heimischen : Sparkassen, die sie in ein besonders günstiges Licht stellten, 
eine ablehnende Haltung einnahmen, in zweiter Linie waren es — durch 
das Zentrum vertretene politische Motive, die darauf hinausliefen, sich 
jeder Maßregel entgegenzusetzen, die eine finanzielle Kräftigung des 


Reiches: zur Folge hätten. Dies führte zu einem scharfen Zusammenstoß! 


zwischen dem Staatssekretär Stephan und dem Zentrumsführer Windt- 
horst. Nebenbei wurde noch eingeworfen, daß durch die Portotreibheit 
die Postsparkassen gegenüber den Korporationssparkassen privilegiert 
würden. 

Entsprechend der Aufnahme im Plenum war auch die Stimmung 
in der Kommission eine kühle. Hatte schon der durch die sächsischen 
Sparkassen inszenierte Petitionssturm das Präludium gegeben, so machte 
sich hier besonders das Bestreben geltend, es ja nicht zu einer Kon- 
kurrenz der kommunalen Sparkassen kommen zu lassen, außerdem sollte 
vermieden werden, daß die Spargelder dem Reiche zufließen. Die erste 
Lesung hatte insofern ein positives- Resultat, als die: ersten 29 Para- 


graphen angenommen und nur die folgenden, die: über die Anlage der 


Spargelder handelten, abgelehnt wurden. An: deren Stelle wurde ein 
Paragraph eingeschoben, der den Postanstalten die Aufgabe zuwies, als 
Zahlstelle für bestehende oder neu zu gründende Sparkassen zu dienen. 
In der zweiten Lesung wurde der ganze Gesetzentwurf abgelehnt. Der 
württembergische Bundesratsbevollmächtigte bedauerte, daß der große 
Gedanke der Vorlage jetzt nicht verwirklicht werde, indes werde das 
Gesetz auf keinen Fall immer. tot bleiben 1). 

Die Verhandlungen des Reichstages zeigen ein ziemlich einseitiges 
Bild. Immer ist nur vom Schutz der ‘Sparkassen der Gemeinden und 
Körperschaften, von der Sorge, .daß das Reich nicht zu viel Geld be- 
komme und von dem. damit für es verbundenen Risiko die Rede, 


aber nirgends erhebt sich die Frage, ob auch das Interesse der'Sparer' 


gewahrt werde, ob die Sparkassen keine Lücken und Mängel zeigen. 
In der Tat ist die Regelung des Geldverkehrs, von der die Sparkassen 
nur eine Seite bilden, kaum gestreift worden. Es ist die Frage gar 
nicht beantwortet worden, ob und inwieweit das Reich das Recht und 
die Pflicht habe, nachdem es: durch das. Münz- und: Bankgesetz die 
grundlegenden -Ordnungen für das :Geldwesen und für ‘den Großbank- 
verkehr gegeben, sich auch um den ‚Verkehr des Geldes beim kleinen 
Manne und in den mittleren Schichten, sowie um die Regelung und Aus- 
gestaltung dieses Verkehrs zu kümmern. habe. und ob der regellose 


1) Die Ansicht, daß Bayern am Scheitern des Sparkassengesetzes schuld sei, 
ist irrig. 


— 


1 


Miszellen. 227 


Zustand dieser Zweige des Geldverkehrs für die wirtschaftliche Tätig- 
keit des Volkes fortbestehen solle. Vom Staatssekretär Stephan würde 
diese Seite gestreift, als er die Postsparkassen als ein Korrelat der 
sozialpolitischen Gesetzgebung in positiver Richtung für die arbeitende 
Bevölkerung hinstellte, wie dies durch die Kranken- und Invaliden- 
versicherung in prophylaktischer Beziehung geschehen sei. Es ist der 
Hinweis darauf unterblieben, daß die Postsparkassen den Schlußstein 
und die Krönung des Sparkassengebäudes bilden, daß durch sie erst 
das ganze Volk in diese wohltätige Einrichtung einbezogen, die be- 
stehenden Sparkassen zu einer gedeihlichen und gesunden Entwickelung 
veranlaßt und die Anbahnung internationaler Beziehungen ermöglicht 
wird. Die Schreckgespenster, die fort und fort an die Wand gemalt 
werden, wenn von Einführung der Postsparkassen die Rede ist, wie 
wenig sind sie in den Ländern, die Postsparkassen eingeführt haben 
und die auch Privatsparkassen hatten und noch haben, eingetroffen! 


Ich kann mir nicht versagen, eine Korrespondenz hierherzusetzen, welcher 

die „Sparkasse“ Aufnahme gewahrt hat und die zeigt, daß sie wenigstens für außer- 
deutsche Verhältnisse sich ein objektives Urteil bewahrt hat, weil diese Einsendung 
das Lob der österreichischen Postsparkasse in hohen Tönen singt. Sie lautet im 
Auszug: „Die Ernennung des Direktors des Postsparkassenamts zum Finanz- 
minister hat die allgemeine Aufmerksamkeit auf diese staatliche Institution gelenkt, 
welche eine große einflußreiche Bank mit einem Kapitalskoloß an fremden Spar- 
einlagen iad Rentendepositen darstellt. Diese Bank bietet nicht nur die größte 
Sicherheit, sondern gewährt auch sehr kulante Bedingungen. Insbesondere hat es 
durch die Popularisierung des Scheckverkehrs die großen Massen für sich ge- 
wonnen. Ein Scheckkonto bei der Postsparkasse ist einfach unentbehrlich, für 
denjenigen sowohl, der mit großen Summen operiert, als für denjenigen, der kleine 
Zahlungen zu leisten hat und nicht erst die umständliche Prozedur bei der Auf- 
gabe einer Postanweisung oder eines Geldbriefes machen will. Die Organisation 
des Postsparkassenamts ist eine mustergültige, Es wird wenige dem Spar- und 
Scheckverkehr dienende Institute geben, welche eine ähnliche rapide Entwiekelung 
genommen haben ... Am Sparverkehr beteiligen sich vorwiegend Angehörige 
ininderbemittelter Bevölkerungsklassen, vorwiegend Kinder. Wenig bekannt dürfte 
sein, daß es auch auf den Schiffen der Kriegsmarine Sammelstellen gibt, die Zivil- 
wie die Militärbevölkerung wird durch die Institution der Postsparkasse förmlich 
zur Sparsamkeit erzogen. Ein vollständiger Umschwung ist durch die Etablierung 
der Scheckabteilung des Sparkassenamts erfolgt ,.. Bei dem Postsparkassenamt 
konzentriert sich gegenwärtig der Rentenverkehr, sie vermag eine Art Kontrolle 
über den Rentenmarkt auszuüben. Sie ist in jedem Betrag ein nützliches Glied 
sowohl für die sparende Bevölkerung als auch für die Verwaltung der Staats- 
finanzen.“ 


Wenn eine so ungemein nützliche Einrichtung im polyglotten Staat 
Oesterreich möglich ist, sollte das nicht auch in Deutschland durch- 
führbar sein? Sollte Deutschland in den Verkehrsfragen stets am 
Schlusse marschieren? Die österreichische Postsparkasse hat die Ent- 
wickelung der Privatsparkassen nicht unterbunden, wie die in der 
„Sparkasse“ fortlaufend erscheinenden Korrespondenzen zur Genüge 
beweisen, erst jüngst ist berichtet worden, daß in Wien eine städtische 
Zentralsparkasse gegründet werden soll; auch die Genossenschaften 
sind nicht alteriert worden, was ausdrücklich bei der Beratung der 
Postscheckordnung im deutschen Reichstag festgestellt wurde Von 
Interesse ist, was im letzten deutschen Sparkassentag Oberregierungsrat ` 

15* 


228 Miszellen. 


Evert über die Postsparkassen sagte. Er meinte, daß sich die Frage 
aufdränge, ob wir in Deutschland bei unserer sonstigen Vielseitigkeit 
und Vielgestaltigkeit in der Entwickelung des Sparkassenwesens doch 
vielleicht insofern rückständig seien, als uns die Postsparkassen fehlen. 
Er wolle nicht verhehlen, daß er der Ansicht sei, daß wir in Deutsch- 
land noch eine Beteiligung der Post an den Spareinrichtungen in irgend 
einer Weise bekommen. Er war jedoch vorsichtig genug, hinzuzufügen, 
daß dies sein persönlicher Standpunkt sei und daß er sich die Post 
lediglich als Zubringerin für die Sparkasse denke. Als ein Mann, der 
mit der Entwickelung dieser Frage auch in anderen Ländern bekannt 
ist, wird er wohl wissen, daß die Post diese Rolle nicht übernehmen 
kann, es scheint mithin, daß er die Postsparkassen den Vertretern der 
Sparkassen nur hat mundgerecht machen wollen. Auf diesem Spar- 
kassentag wurde auch das Scherlsche Prämiensparsystem begraben, es 
aber hat nicht viel gefehlt, daß dieses System als Schlußstein in das 
deutsche Sparkassensystem eingefügt worden wäre. Die Reklame, die 
Scherl dafür ins Leben gerufen, die Federn, die er für diese Idee in 
Bewegung gesetzt, die allmähliche Erwärmung für dieses Projekt, die 
sich in den Spalten der „Sparkasse“ vollzog und nicht zum wenigsten 
der mächtige Rückhalt, den Scherl bei dem preußischen Minister des 
Innern gefunden, ließen darauf schließen. Das Scherlsche Lotteriespar- 
system als Krönung des deutschen Sparkassengebäudes — kein so 
übler Gedanke! 

Vergegenwärtigen wir uns die Mängel, die dem deutschen Spar- 
kassenwesen vom Standpunkt des Sparers aus anhaften, so wird nicht 
zu verkennen sein: 

1) dab die Vielgestaltigkeit der Bestimmungen in Bezug auf die 
wichtigsten Grundlagen dem System eine gewisse Unsicherheit und 
Schwerfälligkeit für den Sparer gibt, der gezwungen ist, sich je nach 
seinem Aufenthalt der einen oder der anderen Spargelegenheit zu be- 
dienen. 

Diese Unsicherheit liegt ja wohl auch in einer ungenügenden Begriffsbe- 
stimmung des Wortes Sparkasse, ein Mangel gegen den der Sparkassenverband 
fortgesetzt ankämpft (die Verhandlungen des letzten Sparkassentages hierüber sind 
sehr lehrreich), andererseits kommt diese Unsicherheit dem kleinen Sparer (Arbeiter), 
um den es sich vorwiegend handelt, nicht zum Bewußtsein, dagegen fühlt er die 
Umständlichkeit bei einer Ortsveränderung zur Genüge. 

2) Die ungleiche Verteilung der Sparkassen und die daraus resul- 
tierende geringere Möglichkeit der Benutzung derselben. 


Die Zahl der Sparkassen hat in den letzten 20 Jahren erheblich zugenommen, 
auch sind viele Sparkassen dazu übergegangen, Agenturen und Annahmestellen zu 
schaffen, ebenso sind die Tage und dıe Zeiten, in denen ein Verkehr mit den 
Sparkassen möglich ist, ausgedehnt worden, aber es fehlt noch viel dazu, daß ein 
beiriedigender Zustand erreicht wäre. Jedenfalls halten die bestehenden Sparkassen 
einen Vergleich mit den Postsparkassen, die für Ein- und Auszahlungen überall, 
wo eine Postanstalt besteht, Werktags und Sonntags benützbar sind, nicht aus. 
In Preußen z. B. gab es nach Evert im Jahre 1903 noch 49 575 Gemeinden (unter 
53353 nur 3508 mit Sparkassen) ohne Spargelegenheit. Dabei ist aber zu beachten, 
daß bei den Sparkassen auch die Annahmestellen mit beschränktem Wirkungskreis, 
die vielen ländlichen Zwergsparkassen mit beschränkter Zeit für die Annahme und 
Rückzahlung von Geldern eingerechnet sind, daß es viele Orte gibt mit mehreren 


Miszellen. 229 


Sparkassen und Agenturen anderer Sparkassen, so daß es nicht richtig ist zu sagen, 
auf 100 Gemeinden entfallen, sagen wir, 60 Spargelegenheiten. 


3) Die mangelhafte Ausbildung des Uebertragungsverkehrs. 


Es ist schon oben auf diesen Punkt hingewiesen worden (von 2772 Sparkassen 
haben bis jetzt nur 481 diesen Verkehr eingetührt),. Die Verhandlungen auf dem 
letzten Sparkassentag hierüber sind zu bezeichnend, als daß nicht mit einigen 
Worten darauf eingegangen werden sollte. Einerseits wird die Pflege dieses Ver- 
kehrs als ein Damm empfohlen, die Einführung von Postsparkassen zu verhindern, 
und zwar schon seit mehr als 20 Jahren, andererseits wird diese unbequeme und 
mit Mühe verknüpfte Seite des Sparverkehrs mit dem Hinweis darauf abgetan, 
daß tatsächlich der Uebertragungsverkehr sehr gering sei, wie dies schon in den 
Reichstagsverhandlungen von 18555 behauptet wurde. Mit Recht wurde beim 
Sparkassentag darauf hingewiesen, daß dieser Mangel vielfach in der Unlust der 
Sparkassenbeamten, eine beantragte Uebertragung zu vollziehen, seine Ursache habe. 
Bei der praktischen Durchtührung ergaben sich aber schon in der Diskussion 
solche Meinungsverschiedenheiten, daß man sich veranlaßt sah, sich auf eine all- 
gemein gehaltene Resolution zu einigen und die für die Durchführung wichtigen 
Einzelheiten dem Ausschuß und dem Vorstand zur Weiterberatung zu überlassen. 
Damit aber ist bewiesen, daß der Sparkassenverband nicht im stande ist, etwas, 
was seit 20 Jahren als eine der wesentlichsten Aufgaben der Sparkassen und im 
Interesse der Sparer liegend hingestellt ist, durchzuführen. Angesichts der Tat- 
sache, daß ein großer Prozentsatz «der arbeitenden Bevölkerung heutzutage durch 
Ortsveranderung sein Brot suchen muß, was aus den periodischen Berichten der 
Aemter für Arbeitsnachweis und über den Arbeitsmarkt hervorgeht, ist dieses 
Versagen der Sparkassen bedeutungsvoll. Gerade für diesen großen Bruchteil der 
arbeitenden Bevölkerung wäre die Weckung und Betätigung des Hero am aller- 
fruchtbringendsten: auf diesem wichtigen sozialpolitischen Gebiete werden die 
deutschen Sparkassen ihrer Aufgabe nicht gerecht. In Württenberg fanden im 
Jahre 1904: 1131 Uebertragungen statt, wobei zu bemerken ist, dal mehr als der 
5. Teil der Sparkassen keine Angaben machte. 


4) Im Zusammenhang mit der vorhergehenden Frage steht die 
Pilege des internationalen Verkehrs. 


Em Punkt, der von der „Sparkasse“ selbst als ein wunder bezeichnet wird, 
In der Tat, wer da weiß, welch lebhafter Verkehr an den Grenzen hın und her 
stattfindet, daß in anderen Ländern ein Uebertragsungsverkehr von Land zu Land 
seit längerer Zeit besteht, wird es beklagen, daß in Deutschland, wo so viele fremde 
Arbeiter ihr Brot finden und wo eine von Jahr zu Jahr wachsende Zu- und Ab- 
flutung solcher Elemente stattfindet, eine solche internationale Vereinbarung nicht 
möglich ist, weil eine das ganze Reich umfassende Organisation, die Postspar- 
kassen, fehlen, 


5) Für einen großen Teil der auf Schiffen dienenden Mannschaften 
ist keine oder keine ausreichende Spargelegenheit vorhanden. 


Die Schiffssparkassen haben von seiten der Postsparkassen verschiedener 
Länder (Oesterreich, Italien, Frankreich, Holland) eine große Förderung erfahren, 
und es sind schöne Ergebnisse erzielt worden. Welches Feld der Tätigkeit eröffnet 
sich hier bei der Bedeutung unseres Seehandels und unserer Kriersmarinei An 
dieser Stelle ist auch die Möglichkeit der Ausdehnung des Sparverkehrs auf unsere 
Kolonien zu erwähnen. 


6) Die Verteilung des Ueberschusses. 


Ursprünglich war die Sparkasse als eine wohltätige Einrichtung für die 
minderbemittelten Klassen gedacht, und es sollte deshalb der Nutzen, nach Abzug 
der Verwaltungskosten und der Rücklagen für außerordentlichen Bedarf, den 
Sparern selbst wieder zu gute kommen. Als sich dann die Kommunen dieser Fin- 
nchtung bemächtigten, wurde meist neben der ursprünglichen Zweckbestimmung 
von Aufsichtswegen in die Statuten hinsingeschriehen, dab der Ueberschuß zu 
gemeinnützigen Zwecken verwendet werden dürfe. Zuerst wurden dann als ge- 


230 Miszellen. 


meinnützig alle möglichen Zwecke angesehen und von der Aufsichtsbehörde ge- 
duldet, jetzt aber wird die Sache so ausgelegt, als ob es eine gesetzwidrige Ein- 
mischung der Regierung sei, wenn sie eine „gemeinnützige“ Verwendung der über- 
schüssigen Gelder fordere, daß im Gegenteil die Gemeinden ganz im Recht seien, 
wenn sie die Ueberschüsse ganz für sich in Anspruch nehmen. Mit anderen 
Worten, die Sparkasse wird lediglich als eine Einnahniequelle für die Gemeinde 
angesehen, und es wird der Begriff „gemeinnützig“ dahin erweitert, „daß darunter 
verstanden sei, was nicht nur einzelnen Bevölkerungsklassen zu gute kommt, viel- 
mehr jedermann zugänglich und von jedermann mitbenutzt werden kann; dadurch 
nütze es der Allgemeinheit — sei ihr also von Nutzen“. Auf Grund dieser Inter- 
retation werden dann die Ueberschüsse der Sparkassen für Gas- und Wasserwerke, 
Fir Volksgärten, öffentliche Anlagen und Promenaden, Kirchen- und Schulbauten, 
Grunderwerb für die Eisenbahn, Aufstellung des Stadtplans, Beihilfe für den Ziegen- 
zuchtverein, Maikäfer- und Mäusevertilgung, Pferdestallbau, Feuerlöschgeräte, Unter- 
haltung des Theaters, Straßenpflasterung, zur Bezahlung des Schulgeldes für junge 
Landwirte zum Besuch einer auswärtigen Winterschule u. s. f. verwendet, kurz es 
gibt kaum einen Zweck, für den die Gemeinde autkommen kann oder muß, der nicht 
unter die Bezeichnung gemeinnützig gebracht wird. Die Ueberschüsse der Spar- 
elder der ärmeren Leute werden zu Zwecken verwendet, die den besitzenden 
Klassen oder bestimmten Bevölkerungsschichten zu gute kommen. Diese haben 
davon nicht nur den Nutzen, sondern es wird auch ihr Steuerbeutel um so viel 
weniger in Anspruch genommen, das ist dann im Sinne der Sparkassenvertreter 
gemeinnützige Sparkassenpolitik. Man wendet wohl ein, daß die vermöglicheren 
Bevölkerungsklassen sich an der Sparkasse beteiligen, aber dem ist entgegenzuhalten, 
daß diese Schichten die Kasse vorzugsweise nur für vorübergehende Depositen 
verwenden, wenn dies ıhnen gegenüber sonstigen Anlagen von Nutzen ist, und 
daß die Sparkasse ihren Zweck verfehlt hat, wenn sie ihre Tätigkeit auf diese 
Kreise stützt. 

Ich pflichte der Meinung von Evers vollständig bei, daß den Gemeinden 
eine mäßige Entschädigung von den Ueberschüssen für ihre Mitwirkung zufließen 
solle, aber daß die vorerörterte Verwendung der Gelder einen bedenklichen Ab- 
weg darstellt, darüber dürfte kein Zweifel herrschen. Die hier vertretene Ansicht 
wird auch behördlicherseits geteilt, darauf weist die Begründung einer Vorlage 
hin, betreffs Besteuerung der Sparkassen in Sachsen, worin gesagt ist, daß die 
Heranziehung der Sparkassen dadurch gerechtfertigt sei, daß sie teilweise zu 
Depositenbanken sich ausgewachsen haben und daß sie durchgängig wohl im hohen 
Maße zu Einahmequellen der Sparkassengemeinden geworden seien, die einschränkende 
Bestimmung der Verwendung der Ueberschüsse zu gemeinnützigen Zwecken werde 
durchgehend sehr allgemein ausgelegt, vielfach erhelle ohne weiteres, daß die 
Sparkasse als Finanzquelle angesehen werden. 

Wenn ich im vorstehenden versucht habe, einige Mängel, welche 
unserem deutschen Sparkassensystem noch anhaften, hervorzuheben, so 
will ich nicht unterlassen, auch diejenigen Punkte näher ins Auge zu 
fassen, die unser Sparkassenwesen vor andern Länderen und insbesondere 
vor den Postsparkassen auszeichnen sollen. In erster Linie wird unter 
Anführung gewaltiger Zahlen darauf verwiesen, daß Deutschland in Bezug 
auf die Zahl der Sparbücher und die Höhe der Einlagen mit an der 
Spitze marschiert. 

Es ist schon darauf verwiesen worden, daß die Sparkassenstatistik erhebliche 
Mängel zeigt und daß ihre Zahlen nur mit großer Vorsicht zu Schlüssen ver- 
wertet werden dürfen. Eine bekannte Tatsache ist es, daß die große Zahl der 
Sparkassenbücher daher rührt, daß viele Vereine und Korporationen ihr Sparbuch 
haben, daß in den Familien nicht nur fast jedes Glied sein Sparbuch hat, sondern 
daß auch zugelassen ist, daß mehrere Sparbücher sich in einer Hand befinden, 
wie dies hauptsächlich in den thüringischen Kleinstaaten, in Sachsen, in den 
Hansestädten und in einzelnen preußischen Provinzen vorkommt. Wenn, wie auf 
dem letzten Sparkassentag erzählt wurde, in dem kleinen Städtchen Ratzeburg neben 


Miszellen. 231 


4 


der städtischen Sparkasse-eine Agentur der Sparkasse der Darmstädter 'Bank, eine 
solche der Sparkasse der Ma bee acher ypotheken- und 'Weehselbank und 
eine Spar- und Darlehnskasse sich ‘befinden, ‘wenn in vielen Orten neben der 
der Ortssparkasse eine Annahmestelle der Kreissparkasse vorhanden ist, so erklärt 
sich ohne weiteres, wie die großen -Zahlen der Sparkassenbücher in einzelnen Orten 
und Staaten zusammenkommen, z.'B. gab es bei der städtischen Sparkasse in 
Salzwedel mit 10000 Einwohnern (Zählung von 1400) 15204 Sparbücher, in 
Demmin mit 12000 Einwohnern 11596 Sparbücher nach dem Rechenschafts- 
bericht von 1904. Ebenso verhält es sich mit den Sparguthaben: nicht nur er- 
scheinen viele Millionen als :Depositen von einer Sparkasse an die andere, als 
Einlagen von Korporationen, Mündelgelder, sondern es rind auch dadurch, 
daß bei einer sehr großen Zahl der Sparkassen insbesondere in Sachsen kein 
Höchstbetrag der Einlagen besteht, diese Kassen großenteils zu wahren Depositen- 
banken geworden, worauf schon 'Elster in seinem Werke über die Postsparkassen 
41851) hinweist. In Preußen betrug der zulässige Höchstbetrag der Einlagen 


von 1000— 3000 M. bei 323 Sparkassen 


» 3000 — 10000 ., , 385 » 
„ I0000—60000 „ ,„ 186 m 
unbeschränkt n»n 394 n 


In einem Bericht über die preußischen Sparkassen ist gesagt, daß sich die Konten 
von mehr als 3000 M. am meisten vermehrt haben und daß von den 1'/, Milliarden 
Mark Einlagen nur ein mäßiger Prozentsatz auf die breiten Volksmassen entfällt. 
Nach einer Minısterialverfügung wurde die zulässige Höchsteinlage in den 
städtischen Sparkassen bei zahlreichen Städten Sachsens überschritten, und es ist 
im Anschluß daran vom Ministerium ausgesprochen worden, daß nur Einlagen 
von Stiftungen in unbeschränkter Höhe reihen und von Privaten nur bis zu 
10000 M. von solchen Sparkassen angenommen werden sollen, die durch ihren 
Vermögensfonds eine genügende Sicherheit bieten. In der Tat nimmt es auch 
nicht wunder, daß in Norddeutschland die örtlichen Sparkassen zu dem Hilfsmittel 
der Zulassung von Einlagen in jedem Betrag und auf beliebig viel Sparbücher 
greifen, um überhaupt Geschäfte zu machen, wenn berücksichtigt wird, daß dort 
in vielen kleinen Städtchen mit noch nicht 5000 Einwohnern, ja sogar in Dörfern 
Ortssparkassen bestehen, so gab es in Holstein 74 Flecken- und Landgemeinde- 
sparkassen (außerdem 78 Vereins- und Privatsparkassen), im Bezirk Arnsberg 
deren 17, im Bezirk Düsseldorf 59, im Königreich Sachsen ist eine Ausscheidung 
nicht vorgenommen. Welcher Unterschied zwischen den einzelnen deutschen 
Ländern besteht, zeigt der Vergleich von Sachsen und Württemberg, wo der Spartrieb 
der Bevölkerung sicher nicht oder nicht viel gegen Sachsen zurücksteht. In Sachsen 
besteht fast völlige Freiheit, in Württemberg dagegen Gebundenheit, dort bestehen 
319 meist städtische Sparkassen, hier sind neben der allgemeinen Sparkasse noch 
63 Oberamtsparkassen und 1 städtische Sparkasse (neuerdings 3) mit zum Teil 
sehr niedrigen Höchstbeträgen. Nach der Einwohnerzahl sollte Sachsen etwa das 
Doppelte der Einlagen von Württemberg haben, das Verhältnis ist aber annähernd 
wie 4:1 (1170 Mill. gegen 320 Mill.). 


Andererseits wird darauf verwiesen, von welch wohltätigem Einfluß 
es sei, daß die Ortssparkassen in persönliche Beziehung zu dem Sparer 
kommen und daß auch die Darlehnsanträge durch die persönliche Be- 
kanntschaft besser gewürdigt werden könnten, wie überhaupt durch die 
Kommunalsparkassen dem örtlichen Kreditbedürfnis, insbesondere bei 
Hypothekendarlehen, viel mehr Rechnung getragen werden könne. 


In der Tat erscheinen diese Gründe sehr plausibel und es ist auch nicht ver- 
fehlt worden, bei der Beratung des Postsparkassengesetzes namentlich auf den 
letzteren Grund hinzuweisen. Aber wie verhält es sich damit in der Praxis? 
Schon in mittleren Städten von 10000 und mehr Einwohnern wird die persönliche 
Bekanntschaft ausgeschlossen sein, geschweige denn in größeren Städten, außer- 
dem werden bei den Sparkassen vielfach ortstremde Beamte — genau so wie bei den 


232 Miszellen. 


Postanstalten — tätig sein. Was die Befriedigung des örtlichen Kredits, insbe- 
sondere der Hypotheken anbetrifft, so haben umgekehrt die Sparkassen vielfach 
Mühe, ihre Gelder unterzubringen, weil sie bei der Hergabe von Darlehen auf 
Hypotheken der Konkurrenz «der Hypothekenbanken und Lebensversicherungs- 
anstalten begegnen, die von ihrem mehr als 3 Milliarden betragenden Kapital einen 
erheblichen Teil in Hypotheken angelegt haben, das Gleiche ist der Fall bei den 
Versicherungsanstalten für die Invalidenversicherung, deren Vermögen Ende 1904 
1172 Mill. betrug (zu vergl. auch No. 5 der Verhandlungen des letzten Sparkassen- 
tages). Es haben die Sparkassen deshalb vielfach dazu übergehen müssen, den 
Personalkredit mehr, als für die Sicherheit der Kassen gut ist, zu pflegen und 
zwar nicht nur gegen Wechsel, sondern auch gegen einfachen Schuldschein — 
oder auch Hypotheken auf Häuser in Großstädten zu nehmen, wo sich die Ver- 
hältnisse nicht gut überblicken lassen. In der „Sparkasse“ wird auch darauf hin- 
gewiesen, daß bei dem Aufkommen des Baues von Arbeiterwohnungen durch Ver- 
sicherungsanstalten eine Ueberproduktion von Häusern für Klein- und Mittel- 
wohnungen eintreten könnte, wodurch nicht nur die betreffenden Hausbesitzer, 
sondern auch deren Hypothekengläubiger, d. h. die Sparkassen, sehr geschädigt 
würden. Eine weitere Gefahr für die Hypotheken in Städten, wobei die Sparkassen 
erheblich beteiligt sind (insbesondere in Sachsen, wo die Hypotheken der Spar- 
kassen im Jahre 1903: 1017 Mill. M. betrugen, wovon ein erheblicher Teil auf 
städtische Gebäude entfällt, auch in Preußen entfielen im Jahre 1903 von der 
Gesamtsumme der Hypotheken 35,41 Proz. auf städtische Gebäude, auf ländliche 
Hypotheken nur 22,46 Proz.) bildet die Bauspekulation. 


Wie ersichtlich, muß man sich davor hüten, die Zahlen der Statistik 
als einzigen Maßstab für die Prosperität der deutschen Sparkassen zu 
verwenden und über die Lichtseiten die unleugbaren Schattenseiten zu 
übersehen. Da und dort ist aus den Aeußerungen zu entnehmen, wie 
gerne man die Einführung von Reformen sehen würde, um aus der 
Vielgestaltigkeit allmählich zu größerer Einheitlichkeit zu gelangen, aber 
man wagt dies nicht auszusprechen, ebenso wenig wie man es wagen 
würde zu sagen, daß die Einführung von Postsparkassen von wohltätigem 
Einfluß sein würde. Und doch haben von jeher ernste Männer, Ge- 
lehrte, Theoretiker und Praktiker, diesen Gedanken festgehalten und 
ihn verfochten. In Frankreich wurde der Direktor der Sparkasse 
und die größte Autorität in Sparkassenfragen, Agathon Prévost, nach 
einer Studienreise in England aus einem Feind ein überzeugter Freund 
und Förderer der Postsparkassen; der Nationalökonom und Deputierte 
de Malarce war es, der der Vorlage in der Deputiertenkammer zum 
Durchbruch verhalf, so daß die Senatoren und Deputierten, welche 
Direktoren der Privatsparkassen waren, nicht dagegen aufzukommen 
vermochten, ja daß sie selbst den nationalökonomischen Wert der Post- 
sparkassen anerkennen mußten. In England sprach Gladstone im Jahre 
1888 im Unterhause unter dem Beifall aller Parteien es aus, „daß die 
Postsparkasse die bedeutendste Einrichtung sei, welche im letzten halben 
Jahrhundert im Interesse der Wohlfahrt des Volkes und des Staates 
geschaffen worden sei“. Einem Gladstone wird man aber Sachkenntnis 
auf diesem Gebiet nicht absprechen können. In Deutschland hat ein 
Elster von jeher für die Postsparkassen gewirkt, ein Scheel, ein Conrad, 
ein P. D. Fischer deren Einführung befürwortet. Ich halte die Post- 
sparkassen für eine Notwendigkeit zum Vorteil des Volkes wie des 
Reiches. 

Den Postsparkassen wird zum Vorwurf gemacht 


Miszellen. 233 


1) daß sich zu viel Geld in den Händen des Staates ansammle und 
daß infolge dessen das Kreditbedürfnis in den einzelnen Landesteilen, 
insbesondere dasjenige auf Grund und Boden, nicht befriedigt werden 
könne; 


Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß infolge der Konkurrenz der 
Hypothekenbanken, der Versicherungsgesellschaften aller Art, der Genossenschaften, 
die örtlichen Sparkassen vielfach gezwungen sind, ihre Gelder in Personalkredit 
oder in städtischen Gebäuden anzulegen, auch ist es eine ganz unbewiesene Be- 
hauptung, daß die Postsparkassen das ländliche Kreditbedürfnis vernachlässigen, 
denn wir schen fast in allen Staaten, daß die Postsparkassen diesem Bedürfnis in 
weitgehendem Maße Rechnung tragen (Belgien, Schweden u. s. w.). 


2) Daß in politisch bewegten Zeiten der Staat, dessen Kredit dann 
so wie so aufs äußerste gespannt sei, dem Ansturm auf die Postspar- 
kassen nicht gewachsen und daß dann eine Krise unvermeidlich sei; 


Aus der Rumpelkammer verrosteter Waffen ist dies das beste Schaustück, 
immer wird damit wieder hausieren gegangen, doch allmählich zieht auch dies nicht 
mehr; in der Verlegenheit wird bisweilen wohl auf 1848 zurückgegriffen! In der 
langen Zeit, in der nun in den einzelnen Ländern die Postsparkassen bestehen, ist 
noch nie und nirgends diese Prophezeiung eingetroffen, obwohl die Zeiten bisweilen 
politisch bewegt genug waren; selbst Rußland konnte nach einem verlorenen Krieg 
und in Zeiten schwerster innerer Gefahren, wo sein Kredit aufs alleräußerste ge- 
spannt war, den Anforderungen auf Rückzahlung der Spargelder gerecht werden, 
es genügte in Warschau z. B. eine Bekanntmachung, daß die Spargelder nicht zu 
Staatszwecken verwendet werden, um den Sturm zu beschwichtigen ; andererseits 
liest man da und dort von Katastrophen, die die Privatsparkassen betroffen haben 
(Schweizer Sparkassen). Dem Staat stehen Mittel genug zu Gebote, noch mehr 
als den sonstigen Sparkassen, um auch in Krisenzeiten der Gefahr zu begegnen. 


3) Daß durch die Konkurrenz die Privat- und sonstigen Sparkassen 
geschädigt werden; 


Dies ist in der Tat ein beachtenswerter Einwand, er hat auch in den Reichs- 
tagsverhandlungen über den Postsparkassenentwurf die Hauptrolle gespielt. Nun 
könnte gesagt werden, daß, wenn im höheren Interesse des Staates und des Volks- 
ganzen die Einführung der Postsparkassen geboten ist, die Einzelinteressen zurück- 
zutreten haben, aber zu dieser Erkenntnis schwingt man sich nur selten in Deutsch- 
land empor. Der Einwurf, daß die Vertreter der Sparkassen nicht die Sparer, 
sondern die Sparkasseninteressen, wie offen ausgesprochen wird, die Interessen der 
Gemeinden, die das Versiegen einer reichlich fließenden Einnahmequelle befürchten, 
wahrnehmen, daß die Sparkassen, insbesondere im Norden unseres Vaterlandes, 
ihrem ursprünglichen Zweck, eine Sparbüchse der Armen zu sein, in weiter Aus- 
dehnung sich entfremdet haben, dieser Einwurf könnte mit allem Recht erhoben 
werden. Aber die Befürchtungen sind weit übertrieben. Wir sehen in Frankreich, 
in Oesterreich, in Ungarn, in Schweden ein kräftig blühendes und sich entfaltendes 
Sparkassenwesen, in Schweden ist es seit 1800 den Privatsparbanken sogar gelungen; 
die Postsparkasse zurückzudrängen (Tabelle ITT), ja man scheut sich nicht, es aus- 
zusprechen, daß die Postsparkassen von wohltätigem Einfluß auf die sonstigen 
Sparkassen gewesen sind und daß sie deren Reformeifer angespornt haben. Daß 
in England die Privatsparkassen zu keinem Gedeihen kommen, liegt in den lokalen 
Verhaltnissen und ist keineswegs auf die Konkurrenz der Postsparkasse zurück- 
zuführen. Wenn einige Zwerggebilde fallen, denen die innere Berechtigung fehlt, 
so ist dies überall ein Gesetz wirtschaftlicher Entwickelung, andererseits könnten die 
Sparkassen im Verein mit den Darlehnskassen u. a. sich der Tätigkeit als Depo- 
Sitenbanken mehr zuwenden; die Konkurrenz der Postsparkasse, welche einen so 
hohen Zinsfuß wie die örtlichen und Kreissparkassen nicht gewähren kann und 
aie sich schon wegen des niederen Einlagenmaximums hauptsächlich an die ärmere 
wnd fluktuierende Bevölkerung wendet, hätten sie nicht zu befürchten. 


234 ‘Miszellen. 


4) Daß sie das Privileg der Porto- und Steuerfreiheit genießen. 


Dies ist ein Einwand, aus der Verlegenheit geboren. Der Sparer hat den 
Zinsgenuß von seinen Einlagen, es kann ihm ganz einerlei ‚sein, in welcher Weise 
das weitere sich vollzieht. Wenn er mit der Behörde brietlich in Verkehr tritt, so 
hat er (vielleicht ausgenommen die Einsendung des Sparbuchs — was er auch 
durch Vermittlung der örtlichen Postanstalt bewirken kann) wie jedermann, seinen 
Brief zu frankieren; im übrigen wird die Post für ihren Dienst, worin auch der 
erforderliche Briefwechsel eingeschlossen ist, durch die Entschädigung, die sie er- 
hält, bezahlt. Das sind alles ganz selbstverständliche Dinge und ergeben sich un- 
mittelbar aus der Praxis; ein Privileg für die Sparkasseneinlagen der Post kann 
sicherlich nicht daraus gefolgert werden. Die Steuerfreiheit wird den Postsparein- 
lagen gewiß in keinem Staate in erhöhtem Maße vor anderen Spareinlagen zuge- 
standen, dafür werden die Finanzminister schon sorgen; in Württemberg ist ein 
derartiges Gesetz schon gemacht. 

Hier ist auch noch auf die Frage der Zuständigkeit des Reichs zur 
Einrichtung von Postsparkassen, die schon bei der Beratung des Gesetz- 
entwurfs im Reichstag gestellt wurde, näher einzugehen. In dieser 
Richtung wird auf die Analogie in anderen Staaten, ferner darauf hin- 
gewiesen werden können, daß die Post im Verlauf der Jahre Geschäfts- 
zweige in ihren Wirkungskreis einbezogen oder sich ihrer auch wieder 
entäußert hat (Postaufträge — Postaufträge zur Bücherpostsendungen, 
Estafetten, Extraposten), ohne daß sich jemand darum gekümmert hat; 
indessen wird die Zuständigkeit des Reichs im vorliegenden Fall in 
Zusammenhang mit dem Bank- und Verkehrswesen zu bringen sein. 

Die Vorteile, welche die Postsparkassen vor den übrigen Spar- 
kassen gewähren und die auch überall rückhaltslos anerkannt werden, 
sind zum Teil schon erwähnt worden. Sie bestehen darin, 

daß die Möglichkeit der Einzahlung und Rückforderung von Ein- 
lagen bei ungleich mehr Stellen vorhanden ist als bei den sonstigen 
Sparkassen. 

Im Reichspostgebiet waren im Jahre 1904: 14500 Postanstalten vorhanden, 
bei denen sowohl Einzahlungen als Rückzahlungen möglich sind, dazu treten die 
nach vielen Tausenden zäblenden Landpostboten, die als Annahmestellen fungieren 
können und den täglichen Verkehr mit den entferntesten Wohnstätten vermitteln. 
In Württemberg bestanden im Jahre 1904 in 1900 Gemeinden 800 Postanstalten, 
ferner gab es 1200 Landpostboten ; 

daß die Postanstalten Werktags und Sonntags geöffnet sind, 

daß ohne weitere Förmlichkeiten jederzeit Uebertragungen überall- 
hin vorgenommen werden können, 

daß der Anbahnung internationaler Beziehungen mit den Nachbar- 
"staaten der Weg geöffnet ist. 

Ein Vorwurf, der für alle Staatseinrichtungen in der manchester- 
lichen Periode gang und gäbe war und bei den Debatten, ob Staatsbahn 
oder Privatbahn, einen breiten Raum einnahm, der Vorwurf, daß der 
Staat teuer und schwerfällig arbeite, ist merkwürdigerweise ganz ver- 
stummt. In der Tat wäre ein solcher Vorwurf angesichts der außer- 
ordentlichen Leistungen der Staatsverkehrsanstalten völlig deplaziert, 
gerade im Bankwesen, das auch eine Seite des Verkehrs umfaßt, und 
bei dem die Tendenz auf die Aufsaugung der Kleinbanken durch die 
großen Aktienbanken geht, verbürgt das Eingreifen des Staats eine 
gleichmäßigere Entwickelung. Daß die Postsparkassen nicht nur segens- 


Miszellen. 235 


reich für das Volk ‚wie für die bestehenden Sparkassen, sondern auch 
wichtig in finanzpolitischer Beziehung sind (wozu übrigens auch der 
Giroverkehr wesentlich beiträgt), ist schon zu Beginn dieses Abschnittes’ 
hervorgehoben worden. 

Es ist hier nicht der Ort, auf Einzelheiten über die technische 
Seite des Postsparkassenbetriebs näher einzugehen, dazu sind reichlich 
Erfahrungen in anderen Ländern vorhanden, die eintretendenfalls benutzt 
werden können. Nur auf einiges möchte ich noch besonders hinweisen. Im 
Jahre 1904 sind in Deutschland die Postausweiskarten eingeführt worden: 
diese wären ein geeignetes Mittel für die Sparer, um die sofortige Rück- 
zahlung größerer Beträge (über 100 M.) in solchen Fällen zu verbürgen, 
in denen sonst aus Gründen der Sicherstellung der Sparkasse eine Frist 
für die Rückzahlung eingehalten werden müßte. 

Sodann auf die Einrichtung der Rentenbücher, wie sie in England, 
Belgien, Oesterreich und Ungarn bestehen, die zum Zweck haben, Spar- 
einlagen in Staatsrenten umzuwandeln. 

Es waren im Jahre: 


1903 in Belgien rund 75000 Rentenbücher mit einem Kapital von 293 Mill. fres. 
1902 „ Ungarn js I 100 pe R Pr Ra ji 9 ,„ Kronen 
1904 „ England „ 138000 y en P T » I733 » 

1904 „, Oesterreich „, 20 000 t Ei 1 D » 118 „ Kronen 
vorhanden. 


Werden durch die Sparkasse die Erübrigungen des kleinen Mannes 
der wirtschaftlichen Befruchtung zugeführt, so dient der Scheck- und 
Giroverkehr den weiten Kreisen der mittleren Schichten der Bevölkerung 
zur besseren wirtschaftlichen Ausnutzung ihrer Betriebsmittel. Als ein 
Mittel zur Begleichung der Forderungen ohne Verwendung von Bar- 
geld hat der Scheck- und Giroverkehr in Ländern mit entwickeltem 
Geldverkehr auch im gewöhnlichen Leben längst Eingang gefunden und 
bat in dem Ausgleichverkehr (Clearinghouse) der Großbanken einen 
hohen Grad der Vollkommenheit erreicht. Die hohe wirtschaftliche 
Bedeutung des Scheck- und Giroverkehrs besteht neben dem rascheren 
und einfacheren Ausgleich der Forderungen in der Einschränkung des 
Borgsystems und in der Verminderung der Umlaufsmittel; diese Ein- 
richtung erspart nicht nur dem Staat Prägekosten, sondern sie hat den 
Erfolg, die Goldbestände der Zentralbank zu schonen, was wieder eine 
günstige Rückwirkung auf den Diskontsatz ausübt; auch trägt sie zur 
Verminderung der Schwankungen im Umlauf des Metallgeldes bei. 
Welche Erfolge der in Oesterreich in Anlehnung an die Postsparkasse 
in Jahr 1883, in Ungarn im Jahr 1896 eingeführte Scheckverkehr 
gehabt hat, geht aus der Tabelle V hervor. Noch einen besseren Ein- 
blick in die hervorragende Wichtigkeit dieses Geschäftszweigs gewährt 
die Aufzählung der verschiedenen Zwecke, zu denen er verwendet wird, 
als da sind die Ein- und Auszahlung von Postanweisungen durch Ueber- 
schreiben auf das Konto, Einziehung von Giroscheinen und Urkunden, 
Einkassierung von Anweisungen; ferner für die Unfallversicherungs- 
anstalten: Einziehung der Beiträge und Auszahlung der Renten auf Grund 
von Dauerschecks für die Renten, Steuerzahlung durch Schecks. Durch 
den Beitritt der Finanz-, Gerichts- und anderen Behörden zum Scheck- 


936 Miszellen. 


verkehr können Zahlungen an dieselben durch Einzahlung bei irgend 
einer Postaustalt vermittelt werden. 


Tabelle V. Scheckverkehr. 


Einlagen Rückzahlungen 


Guthaben | Reservetonds 


Zahl der P | Y ar 
Jahr | Teilneh- Zahl | aroe ANE | Betrag (in Tausenden); (Ueberschußi 
Een fl. bez. K. fl. bez. K.| fl. bez. K. R. 
Oesterreich. 
1898 ')| 37489 | 14556 |2 207 577| 3660 2194909| 101567 
1899] 40271 , 15903 2386043 4036 2384 661 102 950 
1900 42658 | 17258 5213085 | 4463 ‚5199845 219 139 196 875 
1901 46 345 | 19 051 |5693 975 | 4873 !5076 110| 236 998 686 736 
1902 51853 | 2ı 386 (0 229 328| 5433 (6208472 257 854 1 137 530 
1903 57 038 | 24 480 6787 364 | 6173 ‚6774685 270533 5 240 268 
1904 62 329 27424 !7 424558; 6751 |7436326| 258766 5.251719 
Ungarn. 
1898 ') b 001 3416 | 529779! 463 528 755 11713 
1599 6643 4081 |1 140066) 523 1138204 | 25 288 
1900 7 222 4379 | 1282016! 602 1273752 33.552 „| 
1901 7920 , 4852 11441823) 712 1438765] 36609 | 
1902 8769 | 5449 | 1608618 851 1002 800 42 428 
1903 10 312 6351 | 1841441 1025 1835679 48 190 
1904 12262 | 7244 2117 246| 1196 |21120933| 52874 


Mit Scheck kann Anweisung zur Zahlung an den Ueberbringer, 
zur Ausfertigung von Zahlungsanweisungen und Postanweisungen, zur 
Einziehung von Urkunden (Rechnungen, Anweisungen, Schuldscheine, 
Wechsel), zur Gutschrift auf ein anderes Konto erteilt werden. Es 
können nicht nur die Forderungen und Zahlungen sämtlicher beim Aus- 
gleich(Clearing-)verkehr Beteiligten durch Gutschrift übertragen werden, 
sondern es können auch von jedermann auf ein Scheckkonto bei irgend 
einem Postamt Barzahlungen geleistet werden. Dadurch ist jedermann 
die Möglichkeit gegeben, seine Steuern, seinen Versicherungs-, seinen Mit- 
gliedbeitrag auf die einfachste Weise zu bezahlen; die Teilnehmer des 
Clearingverkehrs können dadurch, daß sie alle Schuld und Forderung 
zahlbar des Postsparkassenamts stellen, mit geringem Gebührenaul- 
wand ihren gesamten Geldverkehr durch die Sparkasse abwickeln lassen 
und haben noch den Nutzen, daß ihr Guthaben verzinst wird. Der Vor- 
teil dieser Einrichtung springt in die Augen, von den 13!/, Milliarden K. 
Umsatz des Jahres 1903 in Oesterreich kamen mehr als 5 Milliarden 
(5056 Mill.) durch Gutschrift auf die einzelnen Konten, 414 Mill. durch 
Ueberweisungen von und auf die ungarische Sparkasse zum Ansgleich. 
3518 Mill. K. waren bare Einzahlungen, für 74 Mill. K. wurden Post- 
anweisungen, für 1 Mill. wurden Zinsscheine einkassiert; zurückgezahlt 
wurden 17364, Mill. K. auf Grund von Inhaberschecks, 1658 Mill. K 
durch Zahlungsanweisungen des Sparkassenamts, 12 Mill. K. durch Post- 
anweisungen, 50 Mill. K. durch Einziehung von Urkunden und 4!/, Mill. K. 


1) Für Oesterreich sind in den Jahren 1898 und 1899, in Ungarn im Jahre 1895 
die Beträge in der Goldwährung (1 fl. — 2 K.) angegeben. 


Miszellen. 237 


durch Ankauf von Staatspapieren. Der Barversand war bei etwa 5!/, Mil- 
liarden K. ausgeschlossen! Das zur Verfügung der Sparkasse stehende 
Betriebskapital der Teilnehmer am Scheckverkehr betrug 1903: 
2701/, Mill, 1904: 2583/, Mill. K. 

Welchen Vorteil die Volkswirtschaft Oesterreichs von dieser außer- 
ordentlich segensreichen Einrichtung hat, ist deutlich sichtbar. Es gibt 
keine Bank, keine Sparkasse, keine Genossenschaft, keinen Fabrikanten, 
keinen größeren Kaufmann oder Geschäftsmann, der nicht Teilnehmer 
am Scheck- und Ausgleichverkehr wäre, 

Von den 57000 Teilnehmern im Jahre 1903 entfielen 17300 auf Kaufleute, 
6500 auf Fabriken, 3800 auf Gewerbetreibende, 4200 auf Vereine und Korporationen, 
je 150) auf Advokaten und Behörden, 635 Scheckkonten entfielen auf das Ausland, 
worunter 529 auf Deutschland, 23 auf die Schweiz, 16 auf Italien, 14 auf die Türkei 
und auf Frankreich. 

Neben der Sparkasse ist hauptsächlich der Scheck- und Giroverkehr, der einen 
so erheblichen Teil des Geldumsatzes des Wirtschaftslebens vermittelt und infolge- 
dessen dem Staat Verfügung über erhebliche Geidmittel gibt, von günstigem Ein- 
lud auf den Staatskredit in Oesterreich gewesen. Bis zum Jahre 1903 wurden durch 
die Sparkasse, bezw. durch den Scheckverkehr mehr als 150 Mill. K Staatspapiere 
angekauft. 

Auch in Deutschland wurde schon der Versuch gemacht, diese 
höhere Stufe der Geldwirtschaft durch die Post der Allgemeinheit nutzbar 
zu machen. Der Staatssekretär v. Podbielski brachte im Etat für 1900 
die Einrichtung von 9 Postscheckämtern in Antrag, zu welchem Zweck 
eine Denkschrift über die Einrichtung des Postscheckverkehrs ausgearbeitet 
worden war. Die Einrichtung war so gedacht, daß das Verfahren zu- 
wächst im Weg der Verordnung ins Leben treten sollte, und daß die 
spätere gesetzliche Regelung vorbehalten blieb. Aber das ganze Ver- 
Jahren war in bureaukratisch engherziger Weise mit Gebühren bepackt, 
so daß die Vorlage trotz der entgegenkommenden Haltung des Reichstags, 
wiewohl auch hier die Vertreter der Genossenschaften und der Spar- 
kassen als Gegner auftraten, sich nicht als lebensfähig erwies und durch 
<le Kommission sich eine gründliche Umarbeitung gefallen lassen mußte. 
Diese Umarbeitung fiel auch radikal genug aus. Wenn sie einerseits 
wesentliche Vereinfachungen hinsichtlich des Verfahrens im Sinne einer 
zıehr kaufmännischen Handhabung gegenüber der Regierungsvorlage 
eıthielt, so mußte die Bestimmung, daß als Ersatz für die Nichtverzinsung 
<er Einlagen keine Gebühren für die im Scheck- und Giroverkehr vor- 
Zommenden Geschäfte zu erheben seien, die Vorlage in ihrer von der 

Budgetkommission gegebenen und vom Reichstag angenommenen Gestalt 
—ler Regierung unannehmbar machen, wie denn auch der Staatssekretär des 

Reichsschatzamts am 28. März 1900 eine dahin lautende Erklärung abgab. 

In der Tat würde die Durchführung des Scheckverkehrs in der 
Schließlich vom Reichstag angenommenen Fassung die Post zur lohn- 
Josen Magd der Großbanken, Sparkassen und Genossenschaftsbanken 
=zemacht haben und würde zur weiteren Folge gehabt haben, daß der 
täbrige Postbankverkehr völlig unterbunden worden wäre. Andererseits 
war vorauszusehen, daß die mittleren und kleinen Betriebe, die weiten 
Schichten der Bevölkerung, für welche die Einrichtung berechnet war, 
Keinen oder nur einen minimalen Gebrauch davon machten, weil sie im 
"Verhältnis zu der wegfallenden Verzinsung ihres Betriebskapitals nur 


238 Miszellen. 
geringen Nutzen hatten. Die Vorlage hätte wohl auf eine günstigere 
Beurteilung rechnen dürfen, wenn nicht schon die Grundgebühr zu hoch 
berechnet und Nebengebühren auch für im Grund unnötige Formulare 
erhoben worden wären. Man muß es bedauern, daß gerade Podbielski, 
der in Bezug anf Posttarife eine unglückliche Hand hatte (man denke 
nur an den Zeitungstarif), die Vorlage einbringen und vertreten mußte. 
Inzwischen ist in der Schweiz am 1. Januar 1906 der Post- 
scheck- und Giroverkehr eingeführt worden. Kurz und bündig, klar 
und durchsichtig, wie man es von den Gesetzen und Verordnungen 
dieses Landes gewöhnt ist, sind die Bestimmungen darüber. Das Ge- 
setz beschränkt sich darauf, festzusetzen, daß die Aufgaben der Post 
durch die Annahme, Auszahlung und Anweisung von Geldbeträgen im 
Postscheck- und Giroverkehr ausgedehnt werden sollen, daß zu diesem 
Zwecke der Oberpostdirektion eine neue Abteilung angegliedert und daß 
vorbehältlich späterer gesetzlicher Regelung alle Einzelheiten, insbesondere 
die Gebührensätze, durch bundesrätliche Verordnung bestimmt werden 
sollen. Die Gebühren und der den Kontoinhabern zu vergütende Zins 
sollen zwar die Kosten und das Risiko der Verwaltung decken, aber 
keinen Gewinn ergeben. Eine Vergleichung der Gebührensätze im Scheck- 
verkehr ergibt folgendes Bild: 


Gebühren 4 | 


-o uu 


| 
Stamm- | Zins | 
einlage | °/, tin | Aus- Veber- Formular 
zahlungen | zahlungen tragongen 
1 = -x = 
| I 
Schweiz 100 fres. 1,8 | für je | a) beim Scheck- für je unentgeltlich 
100 fres. amt für je 100 fres.|1000fres. 
5 cts. Jets. üb. 5000 fres.| 10 cts. 
| ‚für je 200 fres. | 
| 110 ers. 
| b) heim Postamt! 
außerdem 5 cts.) 
fester Zuschlag 
Inkasso 
Oesterreich |200 K. | 2,0 feste Gebühr: 4 h. Lastschriften|von Postanweisungen, Zins-|Einzahblungsctet 
außerdem '/, °/æ bis 6000 K., '/s°/»w scheinen 2 h. pro St. von 18.2 
bei Beträgen über 6000 K. (bei Gut-)Wechseln, Rechnungen, An-|Scheckhücher mi 
schrift im Clearingverkehr, Post-|weisungen. t/,°,, mindestens 50 St 
anweisungen und bei Ankauf von 40 h. (keine Gebühr wenn| Gebühr: ? K. 
Staatspapieren wegfallend) zahlbar Sparkasse) für Ein-| Stempel: ? K 
holung von Akzepten pro 
St. 40 h., für Einwechselung 
. fremden Geldes '/,°/,, mind. 
20 h., für Einlösung von 
Schuldurkunden 20 h. pro St. 

Deutschland] 100 M. | 1,2 bis 5M. 5 Pfg., über 5 M. 10 Pfg Abholung beim Postamt: Zahlkarte 
(abgelehnter außerdem Rückzahlgebühr !/,®/,, bis|10 Pfg., Widerruf von Scheck) 1 St.: 1,9 Pit. 
Entwurf) 13000 M., 4 ”/oo bei Beträgen über! 50 Pfg. Scheck 

‚3000 M. (Gutsehriften und Postan- 1 St.: 3 Pie 
weisungen ausgeschlossen) Briefumschlag lu‘ 
i Scheck 
| 1 St.: 1,5 Pf. 


Miszellen. 239° 


Noch weit mehr als der Sparkassenbetrieb weist der Scheck- und 
Giroverkehr auf eine Zentralisierung hin, um den größten Nutzen für 
die Allgemeinheit daraus zu zieben, und um auch für die mittleren und 
kleineren Betriebe den Vorteil internationaler Beziehungen im Geldver- 
kehr, wie ihn die Großbanken schon haben, erreichbar zumachen. Wer 
anders könnte die Zentralisierung dieses Verkehrszweigs besser durch- 
führen, als die Postverwaltung, die durch ihre Organisation ein 
weitverzweigtes Netz von Adern und Aederchen darstellt, in deren 
Kanälen auch die kleinsten Zufuhren des Verkehrs für das Ganze be- 
fruchtend wirken können und die durch ihr Personal hierzu besonders 
befähigt ist. 

Auf die technischen Einzelheiten des Scheckverfahrens soll hier 
nicht. weiter eingegangen werden; es erübrigt dies um so mehr, als 
trotz des ausgedehnten Gebrauchs des Schecks im Bankverkehr eine 
gesetzliche Regelung des Wesens eines Schecks in Deutschland noch 
nicht besteht. Auf den Gebrauch, den die Reichspost vom Scheck- und 
Giroverkehr bei der Ein- und Auszahlung von Postanweisungen macht, 
der aber, wenn auch große Summen dabei in Betracht kommen, doch 
in Bezug auf Ort und Person in: beschränkten Grenzen bleiben muß, 
ist schon oben hingewiesen worden. 

Ich möchte diese Besprechung des Postbankwesens nicht abschließen, 
ohne auf Einrichtungen bei der Post in einigen Ländern hingewiesen 
zu haben, die auch im Zusammennang mit dem Bankwesen stehen. Es 
ist dies das Lebensversicherungs- und Leibrentengeschäft der groß- 
britannischen Post und .der Postrenten- und Lebensversicherungsdienst 
in Belgien. Gemeinsam ist den Einrichtungen in beiden Lündern, daß 
sie auf die ärmeren Volksschichten berechnet sind und damit bis zu 
einem gewissen Grad einen Ersatz für die in Deutschland vorhandene 
Invalidenversicherung darstellen; insofern bei der Rentenversicherung 
in England wie in Belgien ein weitgehender Spielraum hinsichtlich der 
Bezahlung der Beiträge nach der Zeit und dem Betrag gelassen ist und 
in England die Einrichtung in einen nahen Zusammenhang mit der 
Sparkasse gebracht ist, kommt diese Einrichtung den Bedürfnissen der 
ärmeren Volksklassen weit entgegen, wie sie auch hinsichtlich der Frei- 
willigkeit und der geringeren Kostspieligkeit der Verwaltung vor der 
deutschen derartigen Einrichtung einen gewissen Vorzug besitzt. In 
Belgien zielt die Bestimmung des Rentenvertrages, daß die Rente vor 
dem im V ertrag vorgesehenen Alter zahlbar sei, wenn der Versicherte in 
Ausübung seines Berufes einen Unfall erlitten and infolgedessen arbeits- 
unfähig geworden sei, vorausgesetzt, daß er der Rentenkasse 5 Jahre 
lang angehört habe, auf eine Unfallversicherung bin. Der Höchstbetrag 
der in einem solchen Fall zahlbaren Rente beträgt 360 fres. jährlich. 

In England kann eine Lebensversicherung bei der Post für Beträge von 
5—100 £ eingegangen werden. Eine ärztliche Untersuchung ist nur bei Versiche- 
rungen von mehr als 25 £ erforderlich. Die Bezahlung der Prämien ist durch Ver- 
mittlung der Postsparkasse zahlbar, sei es, daß sie aus den Zinsen der Einlagen 
oder aus den Zinsen der im Auftrag des Sparers gekauften Staatspapieres bestritten, 


oder den Einlagen selbst entnommen werden. Ueber die Höhe der Leibrenten, auf 
die man sich einkaufen kann, ist zwar nichts Näheres bestimmt, doch ergibt sich schon 


240 Miszellen. 


daraus, daß die Beteiligung an der Sparkasse gefordert ist, daß im allgemeinen die 
Einrichtung nur für die Aermeren berechnet ist. In Belgien sind die Postanstalten 
nur die Zweigstellen der Allgemeinen Spar- und Rentenkasse, in deren Auftrag 
sie sowohl den Einzug der Prämien als die Bezahlung der Renten besorgen. Der 
Höchstbetrag der Rente darf jährlich 1200 fres., derjenige der Lebensversicherung 
5000 fres. nicht übersteigen. 

Für Deutschland könnte die Einrichtung eines solchen Lebens- 
versicherungs- und Leibrentendienstes im Anschluß an eine Postspar- 
kasse erst dann praktisch werden, wenn es sich darum handeln würde, 
für diejenigen ärmeren oder weniger bemittelten Volksschichten, die 
bei der Unfall- und Invalidenversicherung nicht beteiligt sind, wie die 
selbständigen Handwerksmeister, als Ersatz für diese Versicherung eine 
wohlfeile, freiwillige Versicherungsgelegenheit zu schaffen. 

Ich komme zum Schluß. Durch die Erörterung über das Post 
baukwesen hoffe ich gezeigt zu haben, von welcher einschneidenden Be- 
deutung dieser Zweig des Postbetriebs für die gesamte Volks- und 
Staatswirtschaft durch eine zeitgemäße Ausgestaltung werden kann und 
ich glaube mit der Behauptung kaum viel fehlzugehen, daß, wenn Deutsch- 
land bei Zeiten den von Oesterreich mit so großem Erfolg beschrittenen 
Weg gegangen wäre, in den letzten 20 Jahren nicht nur 100 Mill. bei 
der Begebung von Reichs- und Staatsanleihen gespart, sondern dal 
auch die Reichsfinanzreform in ihrem jetzigen Umfang nicht nötig ge- 
worden wäre. 

Deshalb kann ich nur den Wunsch aussprechen, es möchten die 
maßgebenden Faktoren, unbekümmert um den Widerstand einseitiger 
Interessen, an den weiteren Ausbau des Postbankwesens bald herantreten. 


| 
| 
i 
| 


Literatur. 241 


Literatur. 


II. 
Die Jahresberichte der deutschen Gewerbeaufsichtsbeamten. 


Besprochen von W. Kähler in Aachen. 


Zur Besprechung !) liegen vor: 

1) Jahresberichte der kgl. preußischen Regierungs- und Gewerberäte 
und Bergbehörden für 1905. Amtliche Ausgabe. Berlin (R. v. Decker) 
1906. 740 SS. 

2) Jahresberichte der kgl. bayerischen Fabrik- und Gewerbe- 
inspektoren, dann der kgl. bayerischen Bergbehörden für das Jahr 1905. 
Mit einem Anhang betr. Erhebungen über die wirtschaftliche Lage der 
gewerblichen Arbeiter Bayerns: II. Teil. Lohnverhältnisse, Wohnungs- 
und Ernährungswesen. Im Auftrage des kgl. Staatsministeriums des 
Königlichen Hauses und des Aeußeren veröffentlicht. München (Acker- 
mann) 1906. 393, 202 SS. 

3) Jahresberichte der Gewerbeaufsichtsbeamten im Königreich 
Württemberg für 1905. Stuttgart (Lindemann) 226 SS. 

4) Jahresberichte der Großherzogl. badischen Fabrikinspektion für 
das Jahr 1905. Erstattet an großherzogliches Ministerium des Innern. 
Karlsruhe (Thiergarten) 1906. 140 SS. 

5) Die württembergischen Gewerbeinspektion. Ihre Entwickelung 
und ihre Aufgaben. Im Auftrage der Königl. Zentralstelle für Gewerbe 
und Handel bearbeitet von H. Schäffer, Oberamtmann. Stuttgart 
(Wittwer) 1906. 249 SS. 

Wie die vorjäbrige Besprechung der Jahresberichte der deutschen 
Gewerbeaufsichtsbeamten mit dem Hinweis auf die badische Jubiläums- 
schrift eröffnet werden konnte, so gebührt die erste Stelle der dies- 
jährigen Besprechung der württembergischen Jubiläumsschrift 
von Schäffer, welche gleich der Bittmannschen eine wichtige Be- 
reicherung der Literatur über die Gewerbeinspektion darstellt. Die 
Schwierigkeiten einer Darstellung der an Material reichen Periode der 
ersten 25 Jahre württembergischer Gewerbeinspektion sind in ihr ge- 
schickt gelöst. Erleichtert wurde dies durch die Eigenart der Einrichtung 


1) Vergl. Jahrbücher, III. Folge, Bd. 24, S. 679; Bd. 27, S. 211; Bd. 29, S. 78; 
Bd. 30 S. 686. 
Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII). 16 


242 Literatur. 


der wüttembergischen Gewerbeaufsicht: Obwohl auch in Württemberg 
die Ausdehnung der Industrie und der Ausbau der Aufgaben der Ge- 
werbeinspektion in diesen 25 Jahren eine starke Vermehrung der persön- 
lichen Kräfte notwendig machte, ist doch die Einheitlichkeit der Ge- 
werbeinspektion aufrecht erhalten worden, ohne eine Schematisieruny 
heraufzubeschwören; denn die Geschlossenheit des Staatsgebiets und 
die zentrale Lage der Landeshauptstadt gegenüber den wichtigsten 
Industriegebieten ermöglicht die örtliche Zusammenfassung der die ver- 
schiedenen Amtsbezirke verwaltenden Beamten am Sitz der Zentralstelle 
für Gewerbe und Handel. Darin liegt eine in anderen Staaten nicht 
nachahmbare Besonderheit der württembergischen Verhältnisse: An 
Stelle der zwei 1879 nebenamtlich beauftragten Fabrikinspektoren sind 
1905 für die inzwischen gebildeten vier Bezirke je drei hauptamtliche 
Beamte, ein Gewerbeinspektor, ein Gewerbeassessor und ein Gewerbe- 
inspektionsgehilfe getreten, denen sich zwei hauptamtliche Assistentinnen 
und eine nebenamtliche Hilfskraft anschließen. Diese 15 Beamten haben 
alle ihren Amtssitz in Stuttgart, und ohne daß eine Kollegialverfassung 
eingerichtet wurde, ist es gelungen, durch ihre in steter persönlicher 
Fühlung erfolgende Arbeit unter Leitung der Zentralstelle für Gewerbe 
und Handel und durch regelmäßige gemeinsame Besprechungen aller 
Beamten über wichtige dienstliche Angelegenheiten, insbesondere über 
die Ein- und Durchführung neuer gesetzlicher Bestimmungen, sowie 
besonderer Erfahrungen und Vorkommnisse bei der Ausübung der Auf- 
sichtstätigkeit den Zusammenhang so aufrecht zu erhalten, dab die 
Gleichmäligkeit der Geschäftsbehandlung gewahrt blieb. Zudem rühmt 
der Berichterstatter dieser Art der Zusammenarbeit noch gegenüber 
kollegialen Beschlüssen nach, daß die leitenden Gewerbeinspektoren bei 
ihren Entscheidungen in schwierigen Fällen eine gewisse Sicherheit 
gewinnen, ohne daß die Selbständigkeit und Verantwortlichkeit des 
Einzelnen dadurch beeinträchtigt wird. So kann auch der Berichterstatter 
als Ergebnis der 21/, Jahrzehnte langen Tätigkeit der Gewerbeinspektion 
ein einheitliches Bild von den Grundsätzen bei der Durchführung der 
gesetzlichen Vorschriften geben. 

Die Schäffersche Arbeit unterscheidet sich von der badischen 
Jubiläumsschrift zunächst dadurch, daß ihr Verfasser nicht selbst Ge- 
werbeinspektor ist. Bekam die badische Arbeit an manchen Stellen 
durch die Lebhaftigkeit ihres Verfassers, der selbst mitten in der 
praktischen Arbeit der Gewerbeinspektion steht, einen persönlich warmen 
Ton, so steht Schäffer mehr als kühler, sachlicher Berichterstatter und 
wohl auch einmal als Kritiker seinem Gegenstand gegenüber. Aber 
das ist keineswegs ein Mangel der Arbeit: Konnten wir von dem Bitt- 
mannschen Buch sagen, daß es einem Handbuch der Praxis der Ge- 
werbeinspektion ähnle, so gilt dies von manchen Teilen des Schäffer- 
schen Buches in gleichem Maße, der Verfasser hat aus den Erfahrungen 
der württembergischen Gewerbeinspektion die wichtigsten Ergebnisse über- 
sichtlich zusammengestellt, und wie er z. B. die Art und Weise der 
Revisionen gewerblicher Betriebe darstellt (S. 153 ff.), ist sehr lehrreich. 
Aber wenn Bittmann vielleicht in erster Linie für Gewerbeaufsichtsbeamte 


Literatur. 243 


schrieb, so eignet sich die Schäffersche Arbeit ganz vorzüglich dazu, 
Außenstehende mit den Aufgaben und Wirkungen der Gewerbeinspektion 
vertraut zu machen und insbesondere dürften die Beamten der Polizei- 
verwaltung, die so oft mit der Gewerbeinspektion zusammenarbeiten 
müssen, aber auch weitere Kreise das Buch mit Vorteil lesen. 

In uen ersten Jahren (1879—1886) wurden zwei Beamte der 
Zentralstelle für Gewerbe und Handel nebenamtlich mit der Ausübung 
der Gewerbeinspektion betraut. Das hatte zwar den einen Vorteil, daß 
das Institut leichter Boden faßte, indem die auch sonst mit den ge- 
werblichen Verhältnissen vertrauten und den Gerwerbtreibenden persön- 
lich bekannten Beamten nicht von vornherein unter dem Mißtrauen 
und Widerstand der Inhaber der revidierten Betriebe zu leiden hatten 
und eine allmähliche Eingewöhnung stattfinden konnte. Aber die Revisions- 
tätigkeit selbst und damit natürlich auch die Durchführung der gesetz- 
lichen Bestimmungen mußten darunter leiden, daß die Beamten in ihrem 
Hauptamt stark in Anspruch genommen waren. Das änderte sich 1887, 
als der eine bisherige Fabrikinspektor Diefenbach zu hauptamtlicher 
Arbeit berufen wurde, und ihm gleich eine technische Hilfskraft haupt- 
amtlich beigegeben wurde. Allmählich ist dann den wachsenden Aufgaben 
gegenüber einer Vermehrung des Personals eingetreten; diese bot zu- 
gleich die Möglichkeit der Heranziehung eines geeigneten Nachwuchses 
an akademisch gebildeten Beamten, ohne doch für diesen einen genau 
geregelten Bildungsgang (etwa wie in Preußen) vorzuschreiben. Als 
württembergische Besonderheit tritt bei dieser Vermehrung des Personals 
die verhältnismäßig frühzeitige Anstellung einer Assistentin (1899), 
die Gewinnung von Hilfskräften aus dem Arbeiterstand (1903) und endlich 
neuerdings die Beistellung einer ärztlichen Hilfskraft (1905) hervor. 
Bei Anstellung der Assistentinnen ist nicht in Aussicht genommen, ihnen 
einen selbständige Arbeit zuzuweisen; vielmehr treten ihre Revisionen 
nur ergänzend zu den Revisionen der männlichen Beamten in denjenigen 
Betrieben des Landes, welche ausschließlich oder vorwiegend weibliche 
Arbeitskräfte beschäftigen; außerdem ist ihnen neuerdings besonders 
die Ueberwachung der Bestimmungen des Kinderschutzgesetzes über- 
tragen. — Die Hilfskräfte aus dem Arbeiterstand sind vor allem zur 
Revision kleiner Betriebe herangezogen, also nicht, wie es die weiter- 
gehenden ursprünglichen Forderungen beabsichtigten, allgemein zu den 
Aufgaben der Gewerbeinspektion; auf diesem beschränkten Gebiet haben 
sie sich bewährt und namentlich auch zur Entlastung der akademisch 
gebildeten Beamten beigetragen, die sich nun um so eingehender 
um die größeren und schwierigeren Betriebe kümmern konnten. — Die 
Heranziehung eines besonders in hygienischen Fragen bewanderten 
Arztes zu Arbeiten der Gewerbeinspektion, die sich auf dem Gebiet der 
Fabrikhygiene bewegen, entsprach einem lebhaft empfundenen Bedürfnis, 
dem die schon vorher mögliche Fühlung mit den beamteten Aerzten 
im Lande nicht gerecht werden konnte. Daher ist ein Mitglied des 
Medizinalkollegiums dauernd nebenamtlich bei der (rewerbeinspektion 
tätig, um die Beratung der Gewerbeinspektoren schnell und ohne Um- 
stände sowie von einheitlichen Gesichtspunkten aus sicherzustellen. 

16* 


244 Literatur. 


Als besondere Eigentümlichkeit ist auch die Ausgestaltung eines 
Systems von Vertrauenspersonen an den verschiedensten Orten zu be- 
zeichnen. Seit Beginn der 1890er Jahre ist man damit vorgegangen, 
um den als Mangel empfundenen geringen persönlichen Verkehr der 
Arbeiter mit den Gewerbeinspektoren durch geeignete Maßnahmen zu 
heben oder zu ersetzen. Die Anregung zu dieser Einrichtung ging von 
den Gewerkschaften aus und wurde dann von der Gewerbeinspektion 
planvoll ausgestaltet, so daß an den wichtigsten Orten männliche und 
weibliche Vertrauensleute verschiedenster Stellung zur Verfügung stehen. 
Der Verkehr ist teils ein persönlicher an Ort und Stelle, teils erfolgt 
er schriftlich, teils gelegentlich von Konferenzen, die alle 2 Jahre ver- 
anstaltet wurden. Während die männlichen Vertrauensleute dazu ge- 
dient haben, ein Vertrauensverhältnis zwischen Gewerbeinspektion und 
Arbeiterschaft anzubahnen, ist die Wirksamkeit der weiblichen noch 
gering und wird eine Aenderung in dieser Hinsicht auch nicht erwartet. 

Aus dem Buch mit seinen klaren und übersichtlichen Ausführungen 
klingt überall als Grundton heraus, daß es der württembergischen Ge- 
werbeinspektion gelungen ist, die schwere Aufgabe, die ihr vom Gesetz 
gestellt wurde, innerhalb der großen Schwierigkeiten, die ihr wie überall 
so auch hier entgegenstelien, mit ehrenvollem Ertolg der Lösung näher- 
zubringen. Es ist eine bemerkenswerte Feststellung, wenn gesagt 
werden kann: „In neuerer Zeit gilt der jedes Jahr zu erwartende Be- 
such des Gewerbeinspektors als kein besonderes Ereignis mehr, und 
die Aufsichtsbeamten gewinnen, wenigstens in den größeren Betrieben, 
immer den Eindruck, daß der Betrieb bei ihrem Besuch ganz normal 
weiter geht, ohne daß etwa besondere Vorbereitungen getroffen werden 
und ohne daß, wie es früher öfter der Fall war, eine gewisse Aufregung 
im Betrieb sich zeigt“ (S. 154). 

Ohne auf die Fälle des in dem Buch niedergelegten Materials über 
die Auslegung und Durchführung der gesetzlichen Vorschriften, die Orga- 
nisation und Praxis des Aufsichtsdienstes näher einzugehen, will ich 
nur darauf hinweisen, daß neben der in der Einleitung gegebenen Ueber- 
sicht über die Entwickelung der gewerblichen Verhältnisse in Württem- 
berg auch Zusammenstellungen über Streiks und Aussperrungen, über 
die Gewerbegerichte und die Arbeitsvermittlung, sowie die Ergebnisse 
der von den Gewerbeinspektoren veranstalteten statistischen Erhebungen 
über die Zahl und Größe der Betriebe und der beschäftigten Arbeiter 
nach Industriezweigen geordnet ausführlich mitgeteilt werden. 

Wird in Württemberg das Verständnis für die Gewerbeinspektion 
schon dadurch wesentlich gefördert, daß die Jahresberichte in erheb- 
licher Anzahl unentgeltlich an weiteste Kreise abgegeben werden, so 
wird auch dies Buch dazu beizutragen vermögen, diese für die Wirk- 
samkeit der Gewerbeinspektion so bedeutsame Voraussetzung in den 
beteiligten Kreisen mitzuschaften. 

Hinsichtlich der Form der Jahresberichte sind wesentliche 
Veränderungen gegen das Vorjahr nicht zu verzeichnen. Die süddeut- 
schen Berichte zeichnen sich nach wie vor durch größere Lebhaftigkeit 


Literatur. 245 


und Ausführlichkeit der Schilderung vor dem preußischen Bericht aus; 
bei diesen müssen aber die steigende Zahl der Berichterstatter und die 
Schwierigkeit der daraus sich ergebenden Fülle des zuströmenden Ma- 
terials als Erklärung für einen gewissen Schematismus der Darstellung 
anerkannt werden. Noch ist es möglich, diese Berichte wirklich durch- 
zulesen. Würde eine von manchen Seiten befürwortete größere Aus- 
führlichkeit auch für die preußischen Berichte vorgeschrieben werden, 
so würde die an sich sicherlich schon nicht sehr große Zahl der Leser 
der Berichts roch mehr zusammenschrumpfen und sich auf einige wenige 
Parlamentarier und literarische Berichterstatter beschränken. Auch in 
Württemberg hat sich mit der im Berichtsjahr vollzogenen Vermehrung 
der Bezirke und des Personals der Gewerbeinspektion eine andersartige 
Berichterstattung als notwendig herausgestellt: die Berichte der Be- 
amten werden nicht mehr nacbeinander geschlossen mitgeteilt, sondern 
sind nach Gegenständen geordnet, zusammengefaßt, aber derart, daß 
der Ursprung der Einzelschilderung kenntlich bleibt. Auch in dieser 
Form merkt ınan die von früher bekannte Eigenart der Berichterstatter 
deutlich heraus, selbst wenn die Einzelschilderungen nicht die genaue 
Bezeichnung ihres Ursprungs trügen. Die Redaktion der einzelnen 
sachlich angeordneten Abschnitte soll aber unter den Gewerbeinspek- 
toren in regelmäßiger Zeitfolge wechseln. Die endgültige Fassung des 
Gesamtberichts wird von allen Inspektoren gemeinschaftlich fest- 
gestellt werden. 

Dem bayerischen Bericht ist in diesem Jahre als Anhang eine 
Darstellung der Erzeugnisse von Erhebungen über die wirt- 
schaftliche Lage der gewerblichen Arbeiter beigefügt. 
Bisher bezogen sich diese Erhebungen auf bestimmte Gewerbe, nämlich 
der Schmiede, der Maurer, der Müller, der Bierbrauer, der Textilarbeiter ; 
einmal (1903) waren Arbeitsgelegenheit, Arbeitsnachweis, Arbeitslosen- 
fürsorge Gegenstand der zusammenfassenden Darstellung. Als Fort- 
setzung dieser Arbeit stellen sich die diesjährigen Erhebungen dar, 
welche sich beziehen sollten auf die Lohnverhältnisse, das Wohnungs- 
wesen und die Ernährung oder Lebensweise der Arbeiter. Bezüglich 
der Lohnverhältnisse war von vornherein eine Beschränkung auf be- 
stimmte Industriezweige vorgesehen, um die Arbeitsbelastung der ein- 
zelnen Beamten nicht zu sehr anschwellen zu lassen. Als solche wurden 
gewählt für Oberbayern die Maschinenindustrie, für Niederbayern die 
Papier- und Pappenindustrie, für die Pfalz die chemische Industrie, für 
die Oberpfalz die Glasindustrie, für Oberfranken die Porzellanindustrie, 
für Mittelfranken die Möbelindustrie, für Unterfranken die Steinindustrie, 
für Schwaben die Brauerei. Auch für die Untersuchung der Wohnungs- 
verhältnisse war das Arbeitsgebiet eingeschränkt; es sollten lediglich 
Berücksichtigung finden diejenigen Arbeiterwohnungen, welche nicht 
von Arbeitern in Privathäusern gemietet werden, sondern von Arbeit- 
gebern, von Staat und Gemeinde, oder von Baugenossenschaften und 
dergleichen zur Verfügung gestellt werden. Bezüglich der Ernährungsver- 
hältnisse war eine solche allgemeine Beschränkung nicht angeordnet; 
doch ergab sich vielfach die Berücksichtigung der besonders untersuchten 


246 Literatur. 


Arbeitergruppe auch bei dieser Frage ganz ungesucht, so daß gerade 
für sie genauere Ergebnisse geboten werden konnten. Bei dieser Er- 
hebung sind nun zum Teil sehr beachtenswerte Darstellungen geliefert 
worden. Neben den Arbeiten über die Verhältnisse in der Pfalz, in 
Oberfranken und der Oberpfalz ist ganz besonders der Unterfranken 
betreffende Bericht anerkennend hervorzuheben. Sind die für die Ober- 
pfalz gegebenen Schilderungen einer schlecht gehenden Industrie mit 
den allerungünstigsten Arbeits- und Lebensbedingungen wegen der 
Aufdeckung dieser traurigen Zustände beachtenswert, so sind die Er- 
hebungen über die unterfränkische Steinhauerei nicht nur durch ihren 
interessanten Inhalt, sondern auch durch ihre gute und übersichtliche 
Darstellungsweise ausgezeichnet. 

Die Lohnstatistiken bieten zum Teil ein umfangreiches und inter- 


essantes, gut gegliedertes Material. Das ergibt schon folgende Ueber- 
sicht. Es sind mitgeteilt die Lohnstatistiken für 


Arbeiter 
Bezirk Industrie von der Gesamt- sind in der Stati- 
zahl in Höhe von stik berücksichtigt 
Oberbayern Maschinen ? 3 592 
Niederbayern Papier 2 I 532 
Pfalz Chemische goi 3 495 
Oberpfalz Glas 3385 2 951 
Oberfranken Porzellan 9000 2 151 
Mittelfranken Möbel 3814 1 051 
Unterfranken Stein 7000 1 983 
Schwaben Brauerei 2307 73 


Zusammen 17541 


Es sollten bei den Lohnerhebungen nur wirklich bezahlte Löhne 
aus den Lohnlisten ermittelt werden; dazu wurde übereinstimmend das 
Jahr 1904 gewählt, welches nach Ausweis der Gewerbeinspektions- 
berichte für 1904 als ein normales bezeichnet werden kann, indem in 
fast allen Industriezweigen normale Beschäftigung und Arbeitsdauer 
erreicht wurden. Für die Gruppierung wurde im wesentlichen die von 
Wörishoffer für die badischen Erhebungen ausgearbeitete Form ange- 
wendet. Indes ist die Durchführung der Arbeit in den einzelnen Be- 
zirken und Berichten keineswegs gleichmälig erfolgt. 

Der Bericht für Oberbayern teilt die Art der Materialgewinnung 
und die Ergebnisse der Erhebung, getrennt für 13 Münchener Fabriken 
und außerhalb Münchens gelegene Betriebe, in einwandsfreier Dar- 
stellung mit: es werden die Wochen- und Stundenverdienste in Ab- 
stufungen von je 3 M. und je 5 Pfg. für 15 und 13 nach der Be- 
schättigung unterschiedene Arbeitergruppen, die in sich wieder nach 
dem Alter in 4 Klassen eingeteilt werden, zusammengestellt. Das 
Material ist dadurch gewonnen, daß aus den Lohnlisten eine Woche 
mit normalem Beschäftigungsgrad ausgewählt wurde und für alle in 
dieser Woche beschäftigten Arbeiter für das Jahr 1904 die Beschäf- 
tigungsdauer in Wochen und Stunden, sowie die tatsächlich verdienten 
Löhne ermittelt wurden. Es kann hier nur bemängelt werden, dab 
nicht die durchschnittliche Beschäftigungsdauer mitgeteilt ist (die An- 


Literatur. 247 


gaben auf S. 16 können als Ersatz dafür nicht gelten): immerhin geht 
aus der ganzen Arbeit hervor, daß ein hinreichend langer Zeitraum den 
Beobachtungen zu Grunde liegt. — Für Niederbayern wird bemerkt: 
„Die Grundlage der Lohnerhebung bilden wirklich gezahlte Löhne aus 
dem Betriebsjahre 1904, aus je zwei Lohnzeitabschnitten von Sommer- 
und Wintermonaten gewonnen, unter Berücksichtigung des durchschnitt- 
lichen Zuschlages aus Akkord-, Prämien- und Ueberarbeitsverdienst.“ 
Freilich kann der Verfasser dieses Berichts sich hinsichtlich der Methode 
auch auf Wörishoffer berufen, der die Verdienste von zwei Winter- und - 
zwei Sommerwochen zusammenrechnete und den vierten Teil als Durch- 
schnittslohn ansah. Aber diese summarische Methode Wörishoffers hat 
lebhaften Widerspruch gefunden und führt leicht zu falschen Schlüssen, 
weil keine Möglichkeit bei ihr besteht, die Dauer der Beschäftigung 
und der täglichen Arbeitszeit zu berücksichtigen. Zudem hätte dann 
wenigstens der Charakter der Berichtswochen angegeben werden müssen, 
während man jetzt nicht weiß, ob sie den durchschnittlichen Verhält- 
nissen schätzungsweise nahekommen. Wenn der Verfasser in der Lage 
war, den „durchschnittlichen Zuschlag aus Akkord- u. s. w. Verdienst“ 
zu berücksichtigen, so mußte er über die absolute Höhe und die Art 
der Berechnung genauere Angaben machen, als nachher auf S. 34 ge- 
schieht. — Der Bericht für die Pfalz zeichnet sich durch Anschaulich- 
keit, Klarheit und Reichhaltigkeit des gebotenen Materials aus. Leider 
aber fehlt auch hier eine wichtige grundlegende Angabe: es ist nicht 
angegeben worden, auf welche Weise die durchschnittlichen Wochen- 
löhne ermittelt sind. Aus den übrigen Bemerkungen über die Material- 
gewinnung spricht ein gutes Verständnis für diese Art statistischer 
Arbeiten, so daß dieser Mangel besonders auffällt; aus den übrigen An- 
gaben möchte man herauslesen, daß die Jahresverdienste aus Lohnlisten 
ermittelt sind. — Aehnliches ist für die Arbeit über die Oberpfalz zu 
sagen. Hier sind die Angaben interessant und eigenartig durch die 
ganz besonderen Zustände, welche die Glasindustrie in diesem Bezirk 
aufweist. Das äußert sich z. B. auch darin, daß neben dem Lohn häufig 
Wohnung und Verpflegung geboten werden. Deshalb müßten die Tabellen 
je mit Rücksicht auf diese Verhältnisse in drei Teile zerlegt werden. 
Aber es fehlt jede Angabe über die Art der Beschaffung des Materials. 
— Der Berichterstatter für Oberfranken schreibt: „Die Grundlagen für 
die folgenden Lohnerhebungen bilden die Lohnlisten von einer Anzahl 
Fabriken zum Zwecke der Gewinnung eines Durchschnittsbildes. Hierbei 
wurden die Verdienstunterschiede in den verschiedenen Jahreszeiten 
berücksichtigt.“ Es ist selbstverständlich, daß man sich daraus über 
die Tragweite des beigebrachten Materials gar kein Bild machen kann. 
Auch hier ist dieser Mangel um so bedauerlicher, weil viel Material 
mit Verständnis behandelt wird. Jede Angabe über die Gewinnung 
des Materials für die Lohntabellen fehlt in dem dürftigen Bericht über 
Mittelfranken. — Demgegenüber ist die Materialgewinnung vorzüglich 
behandelt in dem unterfränkischen Bericht, in dem auf die Schwierig- 
keiten sachgemäße Rücksicht genommen wird und die notwendig werden- 
den Ergänzungen zur Ermittelung der Jahresverdienste sich finden. — 


248 Literatur. 


Dagegen entspricht die Zusammenstellung für Schwaben auch den be- 
scheidensten Anforderungen nicht. 

Wollten wir in der gleichen Ausführlichkeit die in dem letzten 
Abschnitt mitgeteilten Angaben über Haushalt und Ernährung kritisch 
beleuchten, so würde sich eine noch viel reichlichere Blütenlese von 
Anständen ergeben. Neben sehr brauchbaren Materialien finden sich 
Angaben, die jede praktische Bedeutung verlieren, wenn man ihnen 
etwas näher zu Leibe geht. Es genügt, darauf hinzuweisen, daß Haus- 
haltungsanschreibungen für einen Monat mitgeteilt werden, ohne An- 
gabe darüber, in welcher Jahreszeit dieser Monat lag, ob außergewöhn- 
liche Aufwendungen oder Zahlungen, die in längeren als monatlichen 
Fristen wiederkehren, gemacht worden sind; u. dergl. m. 

Es ist Zufall und nicht Absicht, daß wie in dem vorjährigen Be- 
richt, so auch heuer wieder die bayerischen Arbeiten dazu dienen 
müssen, auf methodische Fehler der Arbeit der Gewerbeinspektoren hin- 
zuweisen. Obwohl es die gleichen Punkte sind, an die ich im vor- 
jährigen Bericht anknüpfte, so möchte ich doch einmal die Frage von 
ihrer grundsätzlichen Seite beleuchten. Es handelt sich dabei ebenso- 
wohl um eine praktische Frage des Gewerbeauisichtsdienstes, wie um 
eine wissenschaftliche Angelegenheit. 

Die Autgabe, welche die Gewerbeinspektion in der Ueberwachung 
der Ausführung des Arbeiterschutzes hat, setzt von den Gewerbeautsichts- 
beamten neben der technischen Durchbildung und Gesetzeskenntnis die 
Kenntnis der wirtschaftlichen Verhältnisse der Industrie und insbe- 
sondere der Arbeiter voraus. Von jeher haben es die Aufsichtsbeamten 
für ihre Aufgabe gehalten, sich in dieser Hinsicht auf dem Laufenden 
zu erhalten und ihre besonderen, gelegentlich oder planmäßig angestellten 
Beobachtungen in ihren Jahresberichten zu verwerten. Die Wissen- 
schaft ist dadurch um eine Reihe schöner Arbeiten und viel wertvollen 
Stoff bereichert worden: Die Gewerbeinspektion ist so heut schon grund- 
sätzlich und zum Teil auch wirklich eines der wichtigsten Beobachtungs- 
organe der nationalöükonomischen Wissenschaft im Gebiet des gewerb- 
lichen Lebens und könnte es noch in stärkerem Maße werden, wenn 
die einschlägigen Arbeiten die wissenschaftlich ausgearbeiteten Methoden 
zur Anwendung brächten. Die Wissenschaft hat um der Ergebnisse 
für die wissenschaftliche Erkenntnis willen den Wunsch, daß die von 
den Gewerbeinspektoren geleistete Arbeit auch methodologisch einwand- 
frei erfolgt; denn nur dann sind die Ergebnisse der Arbeit allgemein 
gültig und weiter verwendbar. Aber auch die Gewerbeinspektion hat 
ein Bedürfnis, daß das Material, das sie produziert, einwandsfrei sei 
und allen Ansprüchen genüge. Die Anwendung der von der Wissen- 
schaft ausgebildeten Methoden soll doch zu nichts anderem dienen, als 
den tatsächlichen Verhältnissen so nahe wie möglich zu kommen und 
die Wahrheit zu erforschen, vor Fehlern in der Auffassung und Dar- 
stellung zu bewahren und falsche Schlüsse aus dem Material, nament- 
lich falsche Verallgemeinerungen zu verhindern, gleichzeitig aber auch 
die Arbeit selbst zu erleichtern. Die Gewerbeinspektion selbst mul 
auf eine der Wahrheit möglichst nahekommende Erfassung der von 


Literatur, 249 


ihr bearbeiteten Verhältnisse selbst größten Wert legen, um auf 
ihrem Arbeitsgebiet genau unterrichtet zu bleiben: die einzelnen Be- 
amten sollen sich auf ihrem Gebiet gründlich umsehen, dazu dienen 
solche Erhebungen, wie sie in Bayern veranstaltet werden, in beson- 
derem Maße; sie sollen aber auch ihren Kollegen die Ergebnisse ihrer 
Arbeit mitteilen; dazu dient die Veröffentlichung dieser Arbeiten. Die 
Gewerbeinspektion muß aber außerdem damit rechnen, daß das von ihr 
zusammengestellte Material allgemein auch als Grundlage wirtschafts- 
politischer Erwägungen und Maßnahmen benutzt wird, was durch die 
Veröffentlichung wieder veranlaßt und weiteren Kreisen ermöglicht 
wird. Falsche Methoden führen aber zu falschen Ergebnissen: damit 
ist eine Lohnstatistik, die auf falschem Wege gewonnen wird, trotzdem 
aber unter der behördlichen Flagge der Gewerbeinspektion segelt, ge- 
richtet: mit Durchschnittswochenlöhnen, die aus zwei beliebigen Ab- 
schnitten entnommen sind, ist nicht nur nichts genützt, sondern kann 
sogar Verwirrung angerichtet werden. 

Daneben aber bedeutet die Nichtanwendung ausgebildeter Methoden 
auch eine Verschwendung von Arbeitskraft und Zeit, die zu vermeiden 
gerade bei der Gewerbeinspektion mit ihren an sich schon reichlich 
mit Arbeit belasteten Beamten im dienstlichen Interesse der Inspektion 
liegt. Ganz absehen möchte ich dabei von der nur nebenher ge- 
streiften Frage der Hausbaltungsrechnungen. Ich weiß ganz genau, 
daß die Gewinnung des Materials für solche ganz außerordentlichen 
Schwierigkeiten unterliegt und daß es sehr unangenehm ist, wenn der 
Beamte trotz sachgemäßer Bemühung kein entsprechendes Material für 
seine Berichte bekommt. Aber das darf natürlich nicht dazu führen, 
daß unrichtige oder unzutreffende, weil ganz unvollständige Tabellen 
aufgenommen und abgedruckt werden. \Väelmehr möchte ich die 
Frage der Lohnstatistik hervorheben. Augenscheinlich ist das Vor- 
gehen Wörishoffers den Beamten als Muster vorgehalten worden. Indes 
die einschlägigen Arbeiten Wörishoffers liegen doch jetzt um andert- 
halb Jahrzehnte zurück und die Methode der Lohnstatistik hat, wie 
Sich schon aus dem einschlägigen Artikel Böhmerts im Handwörterbuch 
der Staatswissenschaften (2. Aufl. Bd. 1) erkennen läßt, inzwischen eine 
entsprechende Fortbildung erfahren. Die einzelnen Beamten können 
nach der Art ihrer heutigen Vorbildung in diesen Fragen kaum auf dem 
Laufenden sein; sie müssen sich also mit der Aufgabe abfinden und 
haben sichs augenscheinlich durchaus nicht leicht gemacht. Zudem 
haben sie die Mithilfe von Unternehmern, Berufsgenossenschaften u. s. w. 
in ausgiebigem Maße in Anspruch genommen und erhalten. Trotzdem 
ist das Ergebnis im Verhältnis zu der aufgewendeten Mühe gering, 
teils weil augenscheinlich schon in der Anlage der Untersuchungen 
Fehler vorliegen, teils weil sie die für die Verarbeitung und Veröffent- 
lichung statistischer Arbeiten maßgebenden Grundsätze nicht kennen. 
Diese Fehler ließen sich vermeiden. Den einen Weg habe ich schon 
im vorjährigen Bericht angedeutet und muß als Ceterum censeo, wenig- 
stens für die Zukunft, wiederholen: man mache Ernst mit einer neben 
der technischen verlangten staatswissenschaftlichen Ausbildung der Ge- 


250 Literatur. 


werbeaufsichtsbeamten. — Bei den im Amt befindlichen Inspektoren 
läßt sich daskaum nachholen, obwohl sich bei den jährlich im Ministerium 
stattfindenden Konferenzen eine Besprechung der methodischen Grund- 
sätze sozialwissenschaftlicher, insbesondere sozialstatistischer Methoden 
doch wohl ohne besondere Schwierigkeiten herbeiführen ließe. Aber das 
eine wäre doch wohl möglich, daß vor der Veranstaltung von ähnlichen 
Erhebungen ein unter Mitwirkung von sacherfahrenen Beamten des stati- 
stischen Dienstes aufgestellter Arbeits- und Veröffentlichungsplan den 
Inspektoren zugestellt würde, der ihnen für den besonderen Zweck die 
allgemeinen Grundsätze darbietet und eine sachgemäße Arbeit ermög- 
licht und erleichtert. Da es sich dabei nur um methodologische Erwä- 
gungen und Fragen der Materialverarbeitung und Veröffentlichung han- 
delt, so würde die Selbständigkeit der Beamten dadurch nicht beein- 
trächtigt werden. Hätte man den Beamten eine solche Hilfe geboten, 
würde zweifellos die Wissenschaft und die allgemeine Erkenntnis um 
eine gute Lohnstatistik für 17!/, Tausend bayerischer Arbeiter bereichert 
sein, während nach dem jetzigen Stand der Dinge diese schöne Gelegen- 
heit mit geringem Nutzen vorüber gegangen ist; besonders bedauerlich 
ist dies deshalb, weil ganz augenscheinlich mit wenigen Bemerkungen 
der Fehler hätte vermieden werden können. 

Zum Schluß möchte ich aber noch einmal darauf hinweisen, daß 
trotz der gerügten Mängel vielerlei wichtiges Beobachtungsmaterial in 
den Berichten zusammengetragen ist; ebenso möchte ich ausdrücklich 
betonen, daß die bayerische Gepflogenheit solcher Sonderberichte mir nicht 
nurim dienstlichen Interesse der Gewerbeinspektion zu liegen scheint, son- 
dern auch für die Wissenschaft von Wert ist; meine Kritik soll nur 
auf die bessere Ausgestaltung dieser wertvollen Arbeiten hinarbeiten. 

Die Einzelberichte der Gewerbeaufsichtsbeamten werden begleitet 
und ergänzt durch statistische Zusammenstellungen, die nach 
einheitlichem Formular die wichtigsten Gebiete der Arbeit der Gewerbe- 
inspektion darstellen sollen. In den Tabellen Iab, IIab (Preußen S. 628 ff.) 
wird für die Fabriken und die ihnen gleichgestellten Anlagen die Zahl 
der Anlagen, der beschäftigten Arbeiter nach den für den Arbeiterschutz 
wichtigen Gruppen, und die Zahl der Revisionen mitgeteilt. Damit ist 
aber die Gesamttätigkeit der Gewerbeinspektion und das Gesamtgebiet 
des Arbeiterschutzes noch nicht umschrieben. Die Gewerbeinspektion 
hat außerdem überall noch Revisionen in Betrieben vorzunehmen, für 
die der Bundesrat besondere Bestimmungen gemäß $ 120e GO. erlassen 
hat, unter denen besonders ins Gewicht fallen die Steinhauereien, 
Zigarrenmachereien, Bäckereien und Buchdruckereien. Ferner aber 
kommen hinzu die von den Bergpolizeibehörden vorgenommenen 
Revisionen der Bergbaubetriebe und die von den Polizeibehörden durch- 
zuführenden Revisionen der Gast- und Schankwirtschaften. Dazu sind 
dann noch die Unfalluntersuchungen und teilweis die Dampfkessel- 
revisionen in Betracht zu ziehen. 

Mit der Zeit gewinnen die in den Berichten festgestellten Zahlen 
an Genauigkeit. Die von den Gewerbeaufsichtsbeamten geführten Listen 


Literatur. 251 


werden immer vollständiger für die einzelnen Betriebsarten und Bezirke 
und deshalb werden die auf ihrer Grundlage vorgenommenen Zählungen 
— unter Berücksichtigung des gesetzlich festgelegten Wirkungskreises 
der Gewerbeinspektion und dessen Veränderungen — mehr und mehr 
auch zur Verfolgung der Veränderungen in den Gewerben brauchbar. 
In diesem Zusammenhang kommen sie aber nur als Grundlage für die 
Beurteilung der Tätigkeit der Gewerbeinspektion in Betracht. Selbst- 
verständlich genügt die Zahl der vorgenommenen Revisionen allein nicht, 
um diese Tätigkeit zu beurteilen. Es muß vielmehr in Rechnung ge- 
zogen werden, daß die Arbeit der Beamten sich zwar hauptsächlich 
oder doch nicht allein in der Vornahme von Betriebsbesichtigungen 
erschöpft, und daß die einzelne Revision eine sehr verschiedene Arbeits- 
leistung bedeutet, je nachem die Betriebe zerstreut liegen oder zusam- 
mengedrängt auf engem Raum sich finden, je nachdem es sich um 
Großbetriebe oder kleinere Betriebe handelt, je nachdem besonders große 
Schwierigkeiten der Durchführung der Schutzbestimmungen in einem 
Betriebe sich entgegenstellen oder nicht, endlich je nach der Zahl der 
besonders schutzbedürftigen Arbeiter in den Betrieben. Dazu ist nicht 
auber acht zu lassen die Zeit der Geltung der Vorschriften, weil bei 
der Neueinführung von Vorschriften die Revisionen erheblich mehr Zeit 
und Anstrengung erfordern, als dies bei längerem Bestehen der Fall 
ist. Daraus ergibt sich, daß alle Zahlangaben immer nur einen unge- 
tähren Anhalt tür die Beurteilung der Tätigkeit der Gewerbeinspektion 
bieten und für deren Wirkungen nur in Verbindung mit den ausführ- 
lichen Berichten einen Maßstab abzugeben vermögen. 

Unter diesem Vorbehalt können also auch diese Zahlen zu einem 
Bilde von der Arbeitsleistung der Gewerbeinspektion beitragen. Er- 
leichtert würde ihre Benutzung, wenn auch in den tabellarischen Zu- 
sammenstellungen mehr Verhältniszahlen mitgeteilt würden. Insbesondere 
scheint es erforderlich, in den Tabellen IIb nicht nur bei den zwei 
Endzahlen der Spalten 17 und 24, sondern auch bei den Spalten 18, 
19, 20 +21, 22 + 23 die Beziehung zu den entsprechenden vorher- 
gehenden Spalten herzustellen, wobei nicht nur die Gesamtzahlen, son- 
dern auch die Zahlen für die einzelnen Bezirke zu berücksichtigen 
wären. Würde dies das Tabellenwerk zu sehr anschwellen lassen, dann 
könnte wohl die entsprechende Berechnung entweder im Reichsarbeits- 
blatt oder in den Viertelsjahrsheften zur Statistik des Deutschen Reichs 
aufgenommen werden. Aus der offiziellen Tabelle ist zu entnehmen, daß 
in Preußen von den revisionspflichtigen 129823 Betrieben mit 2838925 
Arbeitern 1905 besucht sind 64352 Betriebe (50 Proz.) mit 2318161 
Arbeitern (82 Proz.), demnach werden besonders die großen Betriebe 
besucht. 

Berechnet man auch die anderen Zahlen, so ergibt sich folgende 
Tabelle: Es waren beschäftigt: 


in allen Betrieben in revidierten Betrieben 
erwachsene Arbeiter 2 124 960 I 752 726 = 83 Proz. der Gesamtzahl 
iy Arbeiterinnen 509 9062 403957 =20 u 5 j 
junge Leute von 14—16 Jahren 201 651 SOSO O a x 


Kinder unter 14 Jahren 2352 rors B0 ai %; 5 


252 Literatur. 


Wenn auch der Unterschied gering ist zwischen der Verhältniszahl für 
die Gesamtarbeiterschaft und für die einzelnen Gruppen, so steht doch 
fest, daß die besonders schutzbedürftigen Gruppen in den revidierten 
Betrieben unter dem Gesamtdurchschnitt bleiben, während das Ziel doch 
dies sein müßte, daß die Betriebe mit besonders schutzbedürftigen Ar- 
beitern jährlich einmal revidiert werden, also die Verhältniszahl für 
diese Gruppen sich 100 nähern müßte. Noch deutlicher tritt die Wich- 
tigkeit solcher Verhältniszahlen hervor, wenn man noch mehr ins ein- 
zelne geht: Ich habe die in jeder Hinsicht sich voneinander stark unter- 
scheidenden Bezirke Königsberg-Allenstein und Düsseldorf heraus- 
gegriffen. In Königsberg sind revidiert worden von allen Betrieben 
59 Proz. mit 70 Proz. der Arbeiter, von den Anlagen mit schutzbe- 
dürftigen Arbeitern 78 Proz. Aber von allen schutzbedürftigen Ar- 
beitern waren in diesen revidierten Betrieben beschäftigt: von den 
Arbeiterinnen 67 Proz, von den jungen Leuten 62 Proz., von den 
Kindern 53 Proz. — Für Düsseldorf ist folgendes berechnet: Es wurden 
revidiert von allen Betrieben 35 Proz. mit 76 Proz. der Arbeiter. In 
den revidierten Betrieben waren beschäftigt 73 Proz. der Arbeiterinnen, 
71 Proz. der jungen Leute, 72 Proz. der Kinder. Für beide Bezirke 
ist also die Revisionstätigkeit bezüglich der besonders schutzbedürftigen 
Arbeitergruppen unter dem Durchschnitt zurückgeblieben. Man kann 
daraus nur die Folgerung ziehen, daß der Personalbestand der Gewerbe- 
inspektion, trotz der regelmäßigen Vermehrung, nicht ausreicht und eine 
stetige weitere Verstärkung notwendig ist. Daß dieselbe nicht mit 
einem Male vorgenommen werden kann, ist der Ausbildungsverhältnisse 
wegen erklärlich; aber sie muß ständig im Auge behalten werden. Als 
Maßstab für diesen Mehrbedarf an Beamten mag man etwa die Ver- 
mehrung der Arbeiterzahl nehmen. Danach würde er etwa 5 Proz. der 
in der Lokalverwaltung beschäftigten Beamten betragen; das würde bei 
einem Bestand von 215 beschäftigten Beamten eine jährliche Vermehrung 
um etwa 10 Beamte bedeuten. Das ungefähr gleiche Verhältnis ergibt 
sich, wenn man nicht die Vermehrung der Arbeiter, sondern die Ge 
samtzahl der Betriebe (4 Proz.) oder der Betriebe mit weiblichen Ar- 
beitern (6 Proz.) zu Grunde legt. Doch können diese auf das Berichts- 
jahr gestützten Berechnungen natürlich nur annäherungsweise und für 
die nächste Zeit Geltung beanspruchen und bedürfen der Ergänzung 
aus früheren Jahren. 

Die anderen statistischen Zusammenstellungen geben je nach In- 
dustriegruppen und nach Aufsichtsbezirken geordnet, wieder die Zu- 
widerhandlungen gegen die Schutzbestimmungen für jugendliche Arbeiter, 
sowie die von den Behörden bewilligten Ausnahmen von den Bestim- 
mungen betreffend Arbeitszeit und Sonntagsarbeit. Es wird in Zukunft 
erwünscht sein, auch über die Bestrafungen auf Grund des Kinder- 
schutzgesetzes ähnliche Zusammenstellungen zu erhalten; so schwierig 
dessen Durchführung ist, so sehr wird man ihr dauernd Aufmerksamkeit 
schenken müssen, und einen Gradmesser für die Ergebnisse dieser Ar- 
beit werden solche Zusammenstellungen bieten können. 


nn in 


-=m 


Literatur. 253 


In dem bayerischen Bericht sind diesen Tabellen angefügt genaue 
Uebersichten über Ausstände und Aussperrungen nach Bezirken, in dem 
württembergischen wird außerdem eine Uebersicht über die Tätigkeit 
der Gewerbegerichte und der Arbeitsämter gegeben. 

Der badische Bericht bringt die Zusammenstellung der Ausstände 
S. 74 ff. und enthält wiederum Beiträge zur Lohnstatistik, wobei die 
oben für die bayerischen Arbeiten festgestellten Mängel nur insofern 
wiederkehren, als bei einer der Statistiken die Wörrishofersche Durch- 
schnittsberechnung aus 2 Sommer- und 2 Winterwochen wiederkehrt. 
Für die Wiederholung der 1897 zum ersten Male veranstalteten Lohn- 
statistik der Zigarrenfabriken fehlt die Angabe der Art der Lohnfest- 
stellung. Im übrigen kann aber dieser Abschnitt über die Lohnstatistik 
‘8. 115 ff.) als mustergültig hingestellt werden. Zunächst wird eine 
berufsgenossenschaftliche Lohnstatistik für die Pforzheimer Bijouterie- 
industrie für 1896, 1900 und 1903 wiedergegeben und besprochen; 
dabei ist die Vergleichung dieser Zahlen mit den von dem Metall- 
arbeiterverband veröffentlichten Angaben interessant. Ferner werden 
die Löhne von 4 Kartonnagefabriken mit 237 Arbeitern und von 11 Zi- 
garrenfabriken mit 3741 Arbeitern wiedergegeben. 

Die grundlegende Bedingung für eine gedeihliche Entwieckelung 
der Gewerbeinspektion ist das Vertrauen von Arbeitgebern und Arbeit- 
nehmern zu den ausführenden Beamten. Eine rein polizeiliche Auf- 
fassung der Stellung der Gewerbeinspektion ist von Anfang abgelehnt 
worden, und stets haben die Beamten danach gestrebt, daß sie in ihrer 
amtlichen Wirksamkeit das Vertrauen beider Teile gewinnen und da- 
durch ihre schwierige Stellung zwischen zwei sich einander oft ohne 
Verständnis in diesen Dingen gegenüberstehenden Parteien erleichterten. 
Im großen und ganzen haben ihre Anstrengungen in dieser Richtung 
einen dauernden Erfolg zu verzeichnen. Die meisten Beamten haben 
von besonderen Verschlechterungen des Verhältnisses zu den Är- 
beitgebern nicht zu berichten; insbesondere ist die Befürchtung, 
daß die Zunahme der Arbeitgeberverbände auf die Wirksamkeit der 
Gewerbeinspektoren ungünstig einwirken könne (Bd. 30, S. 689), im 
Berichtsjabre nicht erfüllt. Vielmehr berichtet der Cölner Beamte von 
einem Vorfall, der zeigt, wie auch diese Bewegung gegebenenfalls den 
Aufgaben der Gewerbeinspektion dienen kann: eine weitverzweigte 
Unternehmerorganisation, deren Angehörige in der vorjährigen Straf- 
liste stark vertreten waren, ersuchte den Gewerbeinspektor, die Unter- 
nehmer in einer von ihnen einberufenen Versammlung durch einen Vor- 
trag, dem sich eine Besprechung anschloß, über ihre gesetzlichen Ver- 
pflichtungen aufzuklären (Preußen, S. 395). Trotzdem bleibt immerhin 
noch oft Gelegenheit, in Einzelfällen polizeilichen Zwang und gericht- 
liche Bestrafungen gegen widerstrebende Arbeitgeber in Anwendung zu 
bringen. Aber solche energische Mittel verfehlen dann ihre Wirkung 
auch nicht, wie der eben angezogene Cölner Bericht bemerkt, daß die 
Gewerbetreibenden aus dem nachdrücklichen Vorgehen der Behörden 
die Nutzanwendung ziehen, und dadurch ein beschleunigteres Maß der 


254 Literatur, 


Herbeiführung ordnungsmäßiger Zustände erzielt wird. Derselbe Be- 
richt macht dann noch aut einen günstigen Umstand aufmerksam: daß 
nämlich mit dem allmählich sich vollziehenden Ersatze der älteren Be- 
triebsleiter durch jüngere Kräfte das Verständnis für die staatlichen 
Aufgaben des Arbeiterschutzes wächst. Es wäre ganz außerordentlich 
erfreulich, wenn diese Beobachtung allgemeiner bestätigt würde. — Be- 
merkenswert ist die Mitteilung des Stettiner Gewerberats, daß das Ent- 
gegenkommen der Arbeitgeber größer war, soweit es sich um Abwen- 
dung von Unfallgefahren handelte, als gegenüber den Anforderungen, 
die auf Abwehr gesundheitsschädlicher Einflüsse gerichtet waren. Die 
Gefahren für die Gesundheit fielen vielfach nicht unmittelbar in die 
Augen, so daß der Unternehmer sich von der Notwendigkeit, sie zu be- 
seitigen, oft nicht so leicht überzeugen ließe (Preußen, S. 95). Hinzu- 
fügen läßt sich, daß außerdem diese Einrichtungen vielfach den ganzen 
Betrieb oder einen großen Teil desselben betreffen und täglich oder 
wöchentlich neue Arbeiten, wie Reinigung u.s. w., verursachen, während 
jene nur einmal und an einer einzelnen Stelle mit dauernder Wirkung 
angebracht werden müssen. 

Die Ausdehnung der Aufgaben der Gewerbeaufsicht und die durch 
die Personalvermehrung ermöglichte schärfere Beautsichtigung führen 
die Gewerbeaufsichtsbeamten mehr als früher mit mittleren und kleinen 
Unternehmern zusammen und stellen sie damit vor eine besonders 
schwierige Aufgabe, die vielfach in den Berichten erwähnt wird (z. B. 
Preußen, S. 324, Baden, S. 16). Der badische Bericht äußert sich darüber 
folgendermaßen: „Sehr oft tehlt bei mittleren und kleineren Arbeit- 
gebern noch das richtige Verständnis für Stellung und Aufgaben der 
Fabrikinspektion, und manche Unternehmer zeigen diesen Mangel mit 
einer gewissen Absichtlichkeit. In vielen Fällen treten sie dem Be- 
amten schon mit einer gewissen Gereiztheit entgegen. Der kleine Ge- 
werbetreibende erwartet besondere Rücksichten und glaubt, oder gibt 
vor zu glauben, daß strenge Auflagen nur für die Großbetriebe gälten. 
Häufigen Gegenstand beweglicher Klagen bildeten die eingeschränkte 
Arbeitszeit und die Pausen der jugendlichen Arbeiter, sowie deren Be- 
such gewerblichen Unterrichts. Mag auch die Lage mancher kleinen 
Betriebe — z. B. Mühlen, mechanische Werkstätten, Schlossereien. 
Schreinereien — eine recht schwierige sein, die Fabrikinspektion ist 
nicht befugt, Gesetzesübertretungen und Zustandsmängel mit milderen 
Augen anzusehen. Uebrigens findet stets eine eingehende Prüfung dar- 
über statt, ob eine zu stellende Anforderung ohne unverhältnismäßige 
Aufwendungen ausführbar erscheint.“ Im württembergischen Bericht 
ist an das gleiche Thema folgende Bemerkung angeknüpft (S. 10): 
„Jede Einführung neuer gesetzlicher Bestimmungen erfordert in den 
Schichten, die davon berührt werden, eine soziale Erziehungsarbeit, die 
nicht immer leicht ist. Jede Bundesratsverordnung bewirkt in der 
ersten Zeit ihrer Durchführung Spannungen zwischen Unternehmern und 
Arbeitern. Die ersteren fühlen sich in ihren seitherigen Rechten beein- 
trächtigt und der Beamte ist oft genötigt, den Arbeitern zur Erlangung 
ihrer Rechte zu verhelfen. Da wird im Vorstellungskreis kleiner Leute 


Literatur. 255 


manches durcheinander geworfen, und der Aufsichtsbeamte darf sich die 
Mühe nicht verdrießen lassen, dem kleinen Unternehmer bei dem sozialen 
Umdenkungsprozeß, den auch er durchzumachen hat, durch Aufklärung 
zu helfen. Dem Gewerbeaufsichtsbeamten, dem diese Arbeit zufällt, 
weiß man wohl in der ersten Zeit keinen Dank; ja er muß bei kleinen 
Leuten oft damit rechnen, daß seine Person für die Unannehmlichkeiten, 
die eine Verordnnng in persönlicher und sachlicher Hinsicht mit sich 
bringt, verantwortlich gemacht wird.“ Nach alledem ist noch auf 
geraume Zeit mit Schwierigkeiten auf diesem besonderen Gebiet zu 
rechnen. 

Das Verhältnis zu den Arbeitern wird allgemein als zu- 
friedenstellend bezeichnet. Es wird darauf nicht ohne Einfluß sein, daß 
jetzt nicht mehr vereinzelt, sondern fast überall Vorträge in Arbeiter- 
vereinen, Gewerkschaften u. s. w. seitens der Beamten gern übernommen 
werden. (Für Preußen wird in 11 Berichten eine zum Teil ausgiebige 
Betätigung in dieser Richtung erwähnt.) Die Art des Verkehrs hat 
sich gegen früher wesentlich verändert. Die Sprechstunden freilich 
werden nach wie vor von Arbeitern kaum aufgesucht. Auch bei den 
Revisionen in den Betrieben sind die Arbeiter sehr zurückhaltend und 
selten dazu zu bewegen, auf unmittelbare Befragung Auskunft zu geben, 
aus Furcht, vom Arbeitgeber dafür gemaßregelt zu werden. Und leider 
werden immer wieder Fälle bekannt, in denen sich zeigt, daß diese 
Furcht nicht unbegründet ist (z. B. Württemberg, S. 12, Preußen, S. 426), 
Am unangenehmsten für die Wirksamkeit der Gewerbeinspektoren ist 
es jedoch, wenn die Arbeiter in einem später anhängig gemachten Ver- 
fahren ihre zweifellos begründeten Beschwerden plötzlich nicht mehr 
wahrhaben wollen und ihr Zeugnis verweigern oder abschwächen. An 
sich werden die Namen der Beschwerdeführer natürlich geheim gehalten, 
um ihnen Unannehmlichkeiten zu ersparen (Preußen, S. 286). Aber wenn 
es auf den Nachweis der behaupteten Gesetzwidrigkeiten ankommt, dann 
kann auf das Zeugnis nicht verzichtet werden. Mehr und mehr geht 
der Verkehr der Arbeiter mit dem Gewerbeinspektor durch die Ver- 
mittelung der Organisationen: das Urteil über diese ändert sich allmälich. 
Während die süddeutschen Berichte, wie früher schon so auch diesmal, 
sich im allgemeinen über diese Art der Beschwerdeübermittelung zu- 
frieden aussprechen (Württemberg, S. 11, Baden, S. 87), ist die Meinungs- 
änderung z. B. des Berliner Berichts bemerkenswert. 1901 noch wurde 
hier der Vermittelung wirklicher Wert abgesprochen, für 1904 dagegen 
wird bezeugt, daß der Verkehr mit den Organisationen für die Fühlung 
mit der Arbeiterschaft von größerer Bedeutung sei, als die schriftlichen 
Einzelbeschwerden; die Mehrzahl der eingegangenen Beschwerden sei 
begründet, sie behandelten meist Mißstände in Fabriken und Werkstätten 
und berücksichtigten eingehend alle Verhältnisse des Betriebes. Doch 
wurden öfter auch unzutreffende Dinge vorgetragen, wird dann 
einschränkend hinzugefügt (Preußen, S. 67). In anderen Berichten wird 
diese Tätigkeit der Gewerkschaften und Arbeitersekretariate aber noch 
viel Jebhafter anerkannt, so für Frankfurt a. O.: Die Beschwerden seien 
anscheinend vorher sorgfältig auf ihre Berechtigung geprüft (Preußen, 


256 Literatur. 


S. 56, ähnlich für Erfurt, S. 206, Minden, S. 271, Wiesbaden, S. 341). 
Natürlich ist dieser Umschwung nicht nur in den Köpfen der Gewerbe- 
aufsichtsbeamten vor sich gegangen, sondern ihm entspricht eine ver- 
ständigere Behandlung der einschlägigen Fragen durch die ihrer Ver- 
antwortung sich bewußt werdenden Beamten der Arbeitersekretariate, 
Organisationen u. s. w. Der württembergische Bericht befaßt sich aus- 
führlich mit der Geschichte der Arbeiterorganisation in Württemberg 
(S. 76 ff.), wobei dann auch die Entwickelung der Arbeitgeberverbände 
dargestellt wird. Die günstige Lage der Industrie, die mit wenigen 
Ausnahmen in den Berichten festgestellt werden kann, äußerte sich in 
einer allgemeinen Aufwärtsbewegung der Löhne, die durch zahlreiche 
Einzelangaben belegt wird, durch die lebhafte Streikbewegung, sowie 
durch einen verschiedentlich fühlbaren Mangel an Arbeitern. Diese 
günstige Lage der Arbeiter führt natürlich im Gegensatz zu den früheren 
Depressionsjahren dazu, daß die Arbeiter leichter mit Beschwerden über 
Betriebsmängel u. s. w. hervortreten, da sie nicht so leicht eine un- 
günstige Behandlung seitens des Unternehmers zu befürchten haben. 
Wenn also die Gewerbeinspektion häufiger als früher von ihnen ange- 
gangen wird, so kann daraus noch kein unbedingter Rückschluß auf 
eine Verschlechterung in der Durchführung der Schutzbestimmungen 
gezogen werden. 


Unter den neuen Aufgaben der Gewerbeinspektion nimmt die 
Durchführung des Kinderschutzgesetzes von 1903 eine besondere 
Stellung ein. Die diesjährigen Berichte, von denen die für den Bezirk 
Oppeln (S. 156) und Aachen (S. 440) hervorgehoben werden müssen, 
lassen allenthalben erkennen, daß erst der Anfang der Durchführung 
der Vorschriften die außerordentlich weite Verbreitung der Kinderarbeit 
völlig aufgedeckt hat und daß es geraumer Zeit bedürfen wird, um 
einen den Absichten des Gesetzgebers auch nur einigermaßen ent- 
sprechenden Zustand herbeizuführen (Preußen, S. 36 u. 274). Die enge 
Verquickung der Kinderarbeit mit der schwer kontrollierbaren Haus- 
industrie erschwert die Arbeit auf diesem Gebiet außerordentlich (Preußen, 
S. 440, Bayern, S. 39, 116, 176, Württemberg, 8. 31). Es fehlt den 
Beamten ein Anhaltspunkt für ihre Revisionstätigkeit; denn die Haus- 
industrie kennt keine gewerbepolizeiliche Betriebsanmeldung und die 
Verzeichnisse der ausgestellten Arbeitskarten sind nicht zuverlässig und 
umfassend, da absichtlich oder wnabsichtlich die Ausstellung dieser 
Karten von den Arbeitgebern nicht beantragt wird, und da zudem die 
Beschäftigung eigener Kinder nicht von der Lösung einer Arbeitskarte 
abhängig ist. Neben dem bewußten Widerstand der Eltern, die auf das 


Mitverdienen der Kinder nicht verzichten können oder wollen — für 
letzteres werden interessante und beachtenswerte Gründe angeführt 
(Bayern, S. 206, Württemberg, S. 33) — kommt eine weitverbreitete 


Unkenntnis der gesetzlichen Bestimmungen in Betracht, zunächst und 
hauptsächlich wieder bei den Eltern. Ueber das dieserhalb einzuschlagende 
Verfahren gehen die Ansichten und Grundsätze der Aufsichtsbeamten 
auseinander: die einen Beamten (Preußen, S. 275, 289) versprechen sich 


Literatur. 257 


nur von strafendem Einschreiten eine Verbreitung der entsprechenden 
Gesetzeskenntnis und zum Teil sind denn auch schon zahlreiche Be- 
strafungen erfolgt; andere dagegen (Württemberg, S. 34) vertreten vor- 
läufig noch ein besonders schonendes Vorgehen bei der Durchführung 
des Gesetzes. Ist die Unkenntnis des Gesetzes bei Eltern und Arbeit- 
gebern entschuldbar, so sollten die Behörden doch nunmehr dessen Be- 
stimmungen kennen und richtig anwenden; tatsächlich finden sich aber 
Beispiele dafür, daß auch in dieser Hinsicht noch erhebliche Mängel 
bestehen (Preußen, S. 35, Bayern, S. 92, 116). Und doch ist gerade bei 
der Durchführung des Kinderschutzgesetzes die Aufsichtsbehörde ganz 
besonders auf die Mithilfe der Polizeibehörden angewiesen. Denn die 
Beschäftigung „fremder“ Kinder besteht — abgesehen von den haus- 
industriellen Verhältnissen — hauptsächlich im Austragen von Waren 
und Botengängen; daher werden die Kinder von den Gewerbeinspek- 
tionsbeamten meistens weder zu Hause noch beim Arbeitgeber ange- 
troffen. Und doch sind wichtige Angaben über die Art und die Dauer 
der Beschäftigung nur durch Befragen der Kinder selbst zu erlangen 
(Preußen, S. 69, 218, Württemberg, S. 34). Hier müssen also die aus- 
übenden Organe der örtlichen Polizeiverwaltung in erster Linie heran- 
gezogen werden, die auf den Straßen u. s. w. die Kinder beobachten 
und befragen können. — Die Beschäftigung eigener Kinder läßt sich 
nur durch Besuche, insbesondere bei den Hausindustriellen, unmittelbar 
feststellen. Mittelbar aber wird hier die Schule, und zwar noch viel 
mehr als bei der Beschäftigung fremder Kinder, zur Erreichung der 
Absichten des Gesetzes herangezogen werden müssen. Zwar wird über 
die Art des Vorgehens dabei Einheitlichkeit kaum erzielt werden. So 
wird berichtet, daß in Württemberg die Schulverwaltung dem Wunsch 
der Gewerbeinspektion, allgemein durch die Lehrerschaft Erhebungen 
über die gewerblich beschäftigten Kinder in den Schulen zu veranstalten, 
mit Rücksicht auf die Interessen der Schule nicht entsprochen habe 
(5. 31), während an einzelnen Orten die Lehrer die Durchfährung des 
Gesetzes dadurch sehr gefördert haben, daß sie Eltern und Kinder über 
die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen belehrten (S. 34). Aber 
es ist doch nicht von der Hand zu weisen, daß die Schule um die Er- 
reichung ihres Zweckes willen ein eigenes Interesse daran hat, die 
Kinder frisch und aufmerksam im Unterricht zu haben und daher einer 
großen Maßnahme, die so auch ihren eigenen Zwecken dient, mit ihrer 
Organisation zur Durchführung verhelfen muß. Sind doch bei der Vor- 
bereitung des Gesetzes die Lehrer mit ihren Aufnahmen und Beobach- 
tungen wirksam tätig gewesen, um so mehr sollten sie sich nun auch 
der Durchführung des von ihnen allgemein freudig begrüßten Gesetzes 
widmen. Natürlich muß dann aber diese Mitwirkung in geordneten 
Bahnen und unter Berücksichtigung der eigenartigen Verhältnisse der 
Schule und der Lehrer erfolgen. So wird z. B. darauf aufmerksam ge- 
macht (Preußen, S. 275), daß die Lehrer sich bei Konferenzen darüber 
beklagt haben, wenn sie in dem Strafverfahren als Zeugen benannt 
wurden; denn ihre Vertrauensstellung zu den Eltern der Schulkinder 
müsse dadurch leiden, wenn sie als Aufpasser gekennzeichnet würden: 
Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII). 17 


258 Literatur. 


sicherlich mit Recht sind diese Wünsche berücksichtigt und der Ur- 
sprung der Anzeige soll verschwiegen werden. Der mehrfach ausge- 
sprochene Wunsch (Bayern, S. 209), es möchten von der Schule all- 
jährlich Listen der gewerblich tätigen Kinder angefertigt und den 
Iuspektoren zugänglich gemacht werden, ist durch einzelne Regierungen, 
z. B. Minden, Düsseldorf (Preußen, S. 274, 370) durch entsprechende 
Anweisung der Schulbehörden erfüllt worden. Es wird abzuwarten sein, 
welche besonderen Schwierigkeiten sich bei der Durchführung ergeben, 
und unter Berücksichtigung der dabei gemachten Erfahrungen wird 
man dann die Ausdehnung auf die anderen Bezirke fordern dürfen. 
In Süddeutschland hat man die Arbeit auf dem Gebiet des Kinder- 
schutzes mit gutem Erfolg in erster Linie den weiblichen Hilfskräften 
übertragen (Bayern, S. III, Württemberg, S. 29). 


Fast alle Berichte gehen in diesem Jahre mehr oder minder aus- 
führlich auf die Arbeiterausschüsse ein. lm allgemeinen ergibt 
sich dabei, daß diese durch die Gewerbeordnungsnovelle von 1891 in 
den $ 134a ff. mittelbar eingeführte und damals mit großen Erwartungen 
begrüßte Einrichtung nicht zu einer erheblichen Wirksamkeit, geschweige 
denn zu allgemeiner Einführung gekommen ist. Das allgemeine Bild 
ist: Nur wo der Arbeiterausschuß zugleich Vorstand der Krankenkasse 
ist, entfaltet er überhaupt eine regelmäßige Tätigkeit. Ohne diese An- 
regung führt er meist nur eine Scheinexistenz; in der Regel wırd er 
zur Begutachtung der Arbeitsordnung ins Leben gerufen und nach 
dieser seiner einzigen Tat versinkt er in Bedeutungslosigkeit (Preußen 
S. 5, 11, 27, 182, 195, 265, 300, 316, 407, 431; Bayern V. 74, 128); 
ja wenn er für wichtigere Aufgaben berufen wird, wie zur Vermittelung 
bei Streiks und Lohnstreitigkeiten, versagt er auch dann, wenn er bei 
Erledigung untergeordneter Angelegenheiten erfolgreich gearbeitet hatte 
(Peußen, S. 182). Trotzdem wird mehrfach berichtet, daß da, wo die 
Fabrikleitungen es sich haben angelegen sein lassen, ihnen besondere 
Aufgaben zu überweisen und sie zu gemeinsamer Tätigkeit heranzuziehen, 
durch die Ausschüsse das gute Einvernehmen zwischen Arbeitgebern 
und Arbeitern wesentlich gefördert ist (Preußen, S. 42). Voraussetzung 
dafür aber ist, daß der Unternehmer ihnen Verständnis und Unter- 
stützung entgegenbringt (Preußen, S. 147, 377), daß er den Ausschüssen 
Interesse und Selbstvertrauen einzuflößen versteht (Preußen, S. 266) und 
ihnen nicht nur in einem schönen in der Arbeitsordnung festgelegten 
Programm alle möglichen Aufgaben auf dem Papier überweist, sondern 
sie zu deren Durchführung mit Rechten und Pflichten ausstattet, sie regel- 
mäßig unter seinem Vorsitz zusammenruft u. s. w. (Preußen, S. 444). 
Im ganzen wird über die Stellung der Arbeitgeber den Ausschüssen 
gegenüber die Schilderung des Berliner Gewerberates zutreffen, in 
dessen Bericht es heißt (Preußen, S. 77): „Die einen erblicken darin 
nur ein ihnen von der Arbeiterschaft abgerungenes Zugeständnis und 
ein lediglich im Dienste der bei ihnen wenig beliebten Arbeiterorgani- 
sation stehendes Agitationsinstitut, mit dem sie so wenig wie möglich 
zu schaffen haben wollen. Die anderen erkennen darin ein willkommenes 


Literatur. 259 


Mittelglied zwischen Betriebsinhaber und Arbeiterschaft, das ihnen die 
Erkennung und Beseitigung berechtigter Klagen erleichtert und manches 
Mißverständnis aufklärt, das sonst zu ernsteren Folgen hätte führen 
können. Zwischen diesen beiden von verhältnismäßig wenigen ver- 
tretenen Extremen steht die weitaus größte Zahl der Gleichgültigen, 
die die Arbeiterausschüsse lediglich zu einem bestimmten Zwecke er- 
‘ richtet haben und sich für die Folge kaum noch darum kümmern. Im 
groben und ganzen ist also die Sympathie für diese Einrichtung bei 
den Arbeitgebern verhältnismäßig recht selten, und es ist unverkennbar, 
daß sie immer mehr zurückgeht, und daß dıe Klasse der Gegner auch 
aus den Reihen der Gleichgültigen immer mehr Zuzug erhält, je mehr 
auf beiden Seiten die Organisationen ausgebildet werden.“ Demgegen- 
über ist bemerkenswert, daß Arbeiterorganisationen neuerdings mehr- 
fach auf die Errichtung von Arbeiterausschüssen hingewirkt haben 
(Preußen, S. 279, 444), wie es scheint, vor allem in den westlichen 
Gebieten die christlichen Gewerkschaften, während im allgemeinen die 
Arbeiter ibnen nur geringen Wert beilegen und die Vertretung ihrer 
Wünsche und Forderungen unmittelbar bei ihrer Organisation suchen 
(Preußen, S. 277). Das Urteil der Gewerbeinspektoren selbst über die 
Ausschüsse ist nicht ganz einheitlich. Ueberwiegend ist aus den Be- 
richten zu erkennen, daß sie ihre Einrichtung für möglich halten und 
von ihnen bei richtiger Handhabung günstige Wirkungen erwarten. 
Die Ansicht des Breslauer Berichts, welcher besagt: „Die Erfahrungen 
bis in die jüngste Zeit hinein haben die völlige Bedeutungslosigkeit 
der Arbeiterausschüsse und ihre Unvereinbarkeit mit dem modernen 
Wirtschaftsbetrieb durchaus bestätigt“ (Preußen, S. 35), steht wohl eben- 
80 vereinzelt da wie die Ansicht des Berichterstatters für den III. württem- 
bergischen Bezirk (S. 63), der meint: „Die Institution der Arbeiter- 
ausschüsse gewinnt allmählich doch größere Bedeutung. Diese Wand- 
lung ist auf die Kräftigung der Arbeiterorganisationen und auf das 
wachsende soziale Verständnis der Arbeitgeber zurückzuführen.“ Im 
einzelnen enthalten die Berichte dann genauere Angaben über Wirkungs- 
kreis und tatsächliche Wirkungen einzelner Ausschüsse, die für weitere 
Bestrebungen in dieser Richtung als Anregung dienen sollen. 


17* 


260 Literatur. 


3 III. 
Zur neueren finanzwissenschaftlichen Literatur 
(1904—1906). 


Besprochen von Max von Heckel. 


Die letzten drei Jahre haben unsere finanzwissenschaftliche Fachlite- 
ratur durch eine stattliche Reihe von neuen Veröffentlichungen in er- 
freulicher Weise bereichert. Von systematischen Arbeiten sind in neuen, 
wesentlich erweiterten und durch mancherlei Zusätze bereicherten Auf- 
lagen erschienen v. Eheberg, Finanzwissenschaft (8. Aufl, Leipzig 
1906) und Conrad, Grundriß der Finanzwissenschaft (4. Aufl, 1906). 
Beides sind alte Bekannte, die sich vornehmlich an die akademische 
Jugend wenden und sich als Einführung in das Fach neben Vorlesungen 
und zum Selbststudium stets trefflich bewährt haben. Neue systema- 
tische Werke sind nicht zu verzeichnen. 

Der Schwerpunkt der literarischen Produktion liegt auf Seite der 
finanzwissenschaftlichen Einzelschriften. Und in der Tat ist hier eine 
erhebliche Zahl von Arbeiten namhaft zu machen, die die verschiedensten 
Fragen zum Gegenstand ihrer Untersuchungen machen. 

Es ist natürlich, daß die seit Jahren immer dringender gewordene 
Reichsfinanzreform auch die literarische und publizistische Arbeit 
befruchten mußte. Man kann von einer ganzen Flut von meist broschüren- 
artigen Schriften sprechen und es wäre unrecht, ihnen wissenschatftlichen 
Wert abzusprechen, da auch sie sich als beachtenswerte Niederschläge 
der Zeit und ihrer Bedürfnisse darstellen. Jedenfalls aber geben sie 
schätzenswertes Material und der Geschichtsschreiber der deutschen 
Finanzpolitik und der Finanzwissenschaft wird an diesen Tageserzeug- 
nissen nicht achtlos vorübergehen dürfen. Diese Schriften können wir 
füglich in zwei Gruppen einteilen: die einen sind vor der letzten Reichs- 
finanzreform erschienen und behandeln die Grundlagen, die Entwicke- 
lung und die wünschenswerte, künftige Gestaltung der Reichsfinanzen 
— die anderen begleiten die neuen Reichsfinanzgesetzentwürfe, die 
schließlich zu den Gesetzen vom 3. Juni 1906 erhoben wurden, wie der 
Chor die Handlung in der antiken Tragödie, und geben dann den 
wesentlichen Inhalt der neuen Finanzgesetze wieder. Unter jenen sind 
besonders hervorzuheben Rheinboldt, Das Reichsfinanzwesen !), der 
in 4 Kapiteln ein gedrängtes Bild der Reichsfinanzen gibt und über die 


1) Rheinboldt, Das Reichsfinanzwesen. Burschenschaftliche Bücherei, Bd. , 


Heft 8, Berlin 1904. 


Literatur. 261 


wichtigen Fragen ein weiteres Publikum zu orientieren sucht, und 
v. Jagemann, Die Reichsfinanzreform !), der auf Grund der geschicht- 
lichen Entwickelung die Grundzüge einer künftigen Reform zu entwerfen 
sucht. Zu diesen zählen Linschmann, Die Reichsfinanzreform von 
1906 ?), der die Reformentwürfe ausführlich bespricht, deren Kritik in 
der Oeffentlichkeit darlegt und die Ersatzvorschläge aus den Kreisen des 
Reichstages schildert, sowie Jäger, Die Reichsfinanzreform von 1906 
und ihre Steuern 3), der neben einer summarischen Uebersicht auch den 
Hauptinhalt der Reichsgesetze vom 3. Juni 1906 anführt. 

Seitdem Adolf Wagner in seiner großen Finanzwissenschaft 4. Bd. 
in knappen Uebersichten auch die Steuergesetzgebung der deutschen 
Staaten bearbeitet hat, ist es erfreulich, daß nunmehr auch einzelne 
jüngere Autoren sich die Aufgabe gestellt haben, den Finanzhaushalt 
deutscher Mittel- und Kleinstaaten im einzelnen zu beschreiben. 

Boelcke, Die Entwickelung der Finanzen im Großherzogtum 
Sachsen-Weimar von 1851 bis zur Gegenwart?) gibt uns ein anschau- 
liches Bild dieses mittelstaatlichen Finanzwesens, das in mancher Hin- 
sicht vielfaches Interesse darbietet und dessen Bearbeitung schon des- 
wegen sehr wünschenswert war, weil es durch mancherlei Eigentümlich- 
keiten dem Fremden undurchsichtig war. Der Verfasser behandelt in 
einer Einleitung den ordentlichen und den außerordentlichen Etat und 
den Wirtschaftsfonds (Verlagskapital) und teilt dann seinen Stoff in zwei 
große Abschnitte, von denen der eine die Staatsausgaben und der andere 
die Staatseinnahmen des Großherzogtums darstellt. Ueberall werden 
nicht nur die tatsächlichen Rechtsverhältnisse geschildert, sondern der 
Vertasser verfolgt auch stets den Entwickelungsgang der letzten 50 
Jahre, der zu den heutigen Zuständen geführt hat. Den Schluß bildet 
dann eine Finanzstatistik, die sich auf die Etatsperioden von 1851—1904 
erstreckt. Dagegen bietet uns Trescher, Die Entwickelung des Steuer- 
wesens im Herzogtum Sachsen-Gotha 5). Die Methode ist im ganzen die 
gleiche, nur geht hier der Verfasser noch weiter zurück und beschäftigt 
sich auch mit der Entwickelung vor dem 19. Jahrhundert, die in den 
beiden ersten Abschnitten behandelt wird. Dann folgt die Schilderung 
der Steuerverhältnisse im 19. Jahrhundert zuerst in den ersten Jahr- 
zehnten und sodann von 1840--1902 und endlich wird die jüngste Re- 
form der direkten Steuern im Jahre 1902, die Einführung einer allge- 
meinen Einkommensteuer nach modernem Muster mit sichtbarer Anleh- 
nung an das preußische ‚Recht, einer ergänzenden Vermögenssteuer und 


1) v. Jagemann, Zur Reichsfinanzreform. Heidelberg 1905. 

2) Linschmann, Die Reichsfinanzreform von 1906. Bibliothek der Rechts- und 
Staatskunde, Bd. 21a, Stuttgart 1906. 

3) Jäger, Die Reichsfinanzreform von 1906 und ihre neuen Steuern. M.-Glad- 
bach 1906. 

4) Boelcke, Die Entwickelung der Finanzen im Großherzogtum Sachsen-Weimar 
von 1851 bis zur Gegenwart. Finanzwissenschaftliche Studie. Abhandlungen des staats- 
wissenschaftlichen Seminars zu Jena, herausg. von Pierstorff, Bd. 3, Heft 1, Jena 1906. 

5) Trescher, Die Entwickelung des Steuerwesens im Herzogtum Sachsen-Gotha. 
Abhandlungen des staatswissenschaftlichen Seminars zu Jena. herausg. von Pierstorff, 
Bd. 2, Heft 3, Jena 1906. 


262 Literatur. 


einer Erbschafts- und Schenkungsabgabe. Diese letztere ist nunmehr 
durch die Reichserbschaftssteuer abgelöst worden. Auch diese Schrift 
verdient Anerkennung und führt den Leser gut in die deutschen, klein- 
staatlichen Finanzverhältnisse ein. Beide Arbeiten sind aus dem staats- 
wissenschaftlichen Seminar zu Jena unter Pierstorffs Leitung hervor- 
gegangen. Wir würden es begrüßen, wenn sich auch anderwärts an 
diese beiden Veröffentlichungen weitere Darstellungen einzelstaatlicher 
Finanzverhältnisse anschließen würden. Material hierzu wäre in genü- 
gender Menge vorhanden. . 
Die Grenzgebiete zwischen Finanzpolitik und Verwaltungsrecht sind 
wenig abgebaute Grubenfelder. Insonderheit mangelt es uns noch an 
einer systematischen Bearbeitung des Finanzrechts, zumal in Deutsch- 
land. Als Pfadfinder auf diesem Gebiete hat sich für unseren Nachbar- 
staat Oesterreich v. Myrbach-Rheinfeld, mit seinem Grundriß des 
(österreichischen) Finanzrechts!) erwiesen. Mit dieser juristisch-staats- 
wissenschaftlichen Bearbeitung hat sich der Verfasser ein erhebliches 
Verdienst über die Grenzen seiner Heimat hinaus erworben. Denn er 
hat gezeigt, wie diese Materie methodisch anzugreifen ist, um aus diesem 
spröden Material ein abgerundetes Ganzes und ein anschauliches Bild 
des Finanzrechts herauszuarbeiten. Den ganzen Stoff zerlegt der Ver- 
fasser in zwei Bücher, von denen das erste das Finanzrecht im allge- 
meinen und das zweite das Finanzverwaltungsrecht zur Darstellung 
bringt. In jenem werden die allgemeinen Grundlagen des österreichischen 
Finanzwesens erörtert, in diesem folgt dann die weitere Detailausführung. 
Das Finanzverwaltungsrecht setzt mit einer Abhandlung über die Organe 
der Finanzverwaltung, ihre Funktionen, ihre Wirksamkeit und ihre 
Gliederung ein, dann folgt ein Abschnitt über die Staatsmonopole und 
endlich beschäftigt sich das dritte Hauptstück mit den öffentlichen Ab- 
gaben, vor allem mit den Steuern. Auf diese Weise gewinnt der Leser 
in dem systematischen Gange einen klaren Einblick in die oft ver- 
wickelten Gänge und Windungen der österreichischen Finanzpraxis. 
Fuisting will in seinen finanzpolitischen Zeit- und Streitfragen ?), 
von denen zwei Hefte bereits vorliegen, beitragen zu einem besseren 
Verständnis des Finanz- und besonders des Steuerwesens in Reich, 
Bundesstaaten und Gemeinden. Durch eine Reihe solcher in zwangloser 
Folge erscheinenden Einzelschriften auf wissenschaftlicher Grundlage und 
gemeinfaßlicher Vorstellung will er dem Bedürfnis rascher Orientierung 
entgegenkummen. Das erste Heft behandelt die Novelle zum preußischen 
Einkommensteuergesetz, die mittlerweile zum Gesetz vom 19. Juni 1906 
erhoben worden ist und das zweite das Gesamtsteuersystem in Reich, 
Staat und Gemeinde in Verbindung mit der Reichssteuerreform, eine 
Abhandlung, die in Kürze eine „allgemeine Stenerlehre* mit Anlehnung 
und Anwendung auf die geltenden Steuerverhältnisse wiedergibt. Am 
Schlusse wird dann noch die Reichsfinanzreform einer Betrachtung 
unterzogen und die Frage der Matrikularbeiträge erörtert. Der Verfasser 


1) Freiherr v. Myrbach-Rheinfeld, Grundriß der des Finanzrechts. Grund- 
riB des österreichischen Rechts, Bd. 3, Abt. 7, Leipzig 1906. 
2) Fuisting, Finanzpolitische Zeit- und Streitfragen. Heft 1 u. 2, Berlin 1906. 


Literatur. 263 


gibt hier, wenn auch von einem sehr subjektiven und einseitigen Stand- 
punkt, seine Anschauungen in leicht lesbarer, allgemein verständlicher 
Form. Seine Arbeit, deren Fortsetzung man mit großem Interesse ent- 
gegensehen darf, ist zweifellos eine sehr beachtenswerte Bereicherung 
unserer Fachliteratur, da sie aus vielseitigen, amtlichen Erfahrungen 
eines hervorragenden Praktikers geschöpttes Material darbietet. Der 
Forscher auf diesem Gebiet wird diese Veröffentlichungen mit großem 
Nutzen auswerten können. Ob aber der Verfasser das Ziel, daß er sich 
gesteckt hat tatsächlich erreichen wird, scheint mir trotzdem fraglich. 
Denn für den gebildeten Laien und Mann der Praxis sind die „Zeit- 
und Streitfragen“ doch zu weitläufig und entbehren der systematischen 
Konzentration, die einmal zur Orientierung unentbehrlich ist. Es will 
mir daher wahrscheinlicher erscheinen, daß solche Leser doch die vom 
Verfasser nicht wohlgelittenen Lehr- und Handbücher oder sonstige 
Nachschlagwerke der Finanzwissenschaft vorziehen werden. An neue- 
ren Werken, die auf die jüngste Entwickelung Rücksicht nehmen, 
fehlt es ja entschieden nicht! 

Von neuen Gesichtspunkten aus hat neuerdings Sardemann die 
Frage des sogenannten „steuerfreien Existenzminimums“ 1) zu behandeln 
und zu begründen gesucht: einmal unter dem zivilrechtlichen Gesichts- 
punkt des Beneficium competentiae und dessen dem Konkursverfahren 
entlehnten Rechtsvorzügen und sodann unter dem Standpunkt der 
„Armutsprophylaxe“. Seine Ausführungen, die eine neue Theorie in 
dieser Frage begründen wollen und die ganze Einrichtung auf eine feste 
Grundlage stellen, bringen zwar materiell nichts Neues, eröffnen aber 
neues Gesichtsfeld und sind vor allem um deswillen willkommen, weil 
sie ein reiches rechtshistorisches, literarisches und rechtsvergleichendes 
Material beibringen, das zur Beurteilung der ganzen Frage sehr wert- 
voll ist. Ein anderes modernes Problem der direkten Besteuerung be- 
handelt Kiesel in seiner Schrift über die Heranziehung der Gesell- 
schaften m. b. H. zur Staatseinkommensteuer in Preußen 2). Die Schrift 
steht im engsten Zusammenhang mit der jüngsten Novelle zur preußi- 
schen Einkommensteuer, geht von dieser aus und will auf die Ge- 
staltung des zu begründenden Rechtsstandes einwirken. Sie will in- 
dessen keine erschöpfende Darstellung geben, sondern das Material 
zusammenstellen für die Beurteilung der preußischen Gesetzesvorlage, 
sie will also eine Gelegenheitsschrift sein. Immerhin aber geht ihre 
Bedeutung über dieses Maß hinaus, da sie in übersichtlicher Weise alle 
einschlägigen Punkte berührt. Sie wird auch jetzt noch ihren Wert 
behalten, nachdem die Novelle verabschiedet ist. Denn das letzte Wort 
ist in dieser Frage noch nicht gesprochen. 

Die Einkommensteuer in Frankreich ist nach wie vor trotz aller 
Anläufe ein noch ungelöstes Problem. Alle Projekte dieser Art sind 
immer wieder ins Stocken geraten. Diese Tatsache ist nicbt nur finanz- 


1) Sardemann, Das streuerfreie Existenzminimum als Beneficium competentiae 
und Armutsprophylaxe. Leipzig 1905. 

2) Kiesel, Die Gesellschaften mit besehränkter Haftung und ihre Heranziehung 
zur Staatseinkommensteuer in Preußen. Berlin 1906. 


264 Literatur, 


und steuerpolitisch wichtig, sondern auch psychologisch interessant. Sie 
zeigt einerseits die vollständige Stagnation der Gesetzgebung über die 
direkten Steuern und sodann die tiefwurzelnde Abneigung der Franzosen 
gegen eine schärfere, auf die Erfassung der tatsächlichen Leistungs- 
fähigkeit basierte Erwerbs- und Personalbesteuerung. Es dringt eben 
auch hier noch die alte demokratische Abneigung gegen das „Eindringen 
in die Privatverhältnisse“ durch, und trotzdem war die „allgemeine, pro- 
gressive Einkommensteuer“ seit jeher eine der Forderungen des poli- 
tischen Radikalismus zu allen Zeiten. Es liegt also bier ein ungelöster 
Widerspruch vor. Für den deutschen Beschauer ist dieses Schauspiel 
vielfach unverständlich, da wir uns an die Einkommensteuern lüngst 
gewöhnt haben und dies Eindringen in die Privatverhältnisse ruhig zu 
ertragen gelernt haben. Aber selbst die preußischen Erfahrungen haben 
ja gezeigt, wie schwer gerade die Deklaration im Volksbewußtsein Boden 
faßt. Unter diesen Umständen ist es wünschenswert, das Material näher 
kennen zu lernen und die Versuche der Einkommensteuerprojekte im 
Zusammenhang zu überblicken. Wir können heute zwei Schriften 
darüber namhaft machen, die eine von Retz de Servies!), die andere 
von H. Meyer?). Die Arbeit des französischen Autors geht von 
allgemeinen Gesichtspunkten aus und erörtert, wie schon ihr Titel sagt, 
vor allem die Frage der Progression der Besteuerung. Neben der 
theoretischen Begründung verfolgt der Verfasser das Problem auch in 
der Geschichte der Theorien, allerdings unter Beschränkung auf die 
französischen Schriftsteller. Im zweiten darstellenden Teile zeigt der 
Verfasser die Versuche, die progressive Einkommensteuer in Frankreich 
von 1789—1870 einzuführen. Auf Grund seiner Untersuchungen giptelt 
dann sein positiver Vorschlag in der Schaffung einer degressiven Zu- 
schlagssteuer, die auf dem Mietwert und anderen Merkmalen veranlagt 
werden soll und zum Ersatz der Tür- und Fenstersteuer, sowie der 
Personal- und Mobiliarsteuer bestimmt ist. H. Meyers Schrift ist da- 
gegen mehr historischen Charakters. Er beginnt mit einer einläßlichen 
Kritik der direkten Besteuerung in Frankreich als System und in ihren 
einzelnen Gliedern. Im ersten Teil werden dann zuerst die Vermögens- 
und Einkommensteuer im Mittelalter und in den Zeiten des Ancien 
Régime bis zur französischen Revolution im einzelnen geschildert. Wir 
haben es hier mit mehr primitiven Formen dieser Steuerart zu tun, 
auch dürfen wir dabei nicht denken an Vermögens- und Einkommen- 
steuern in unserem heutigen Sinn, sondern an die älteren, einfachen 
Formen der direkten und Erwerbsbesteuerung überhaupt. In den nun 
folgenden 5 Kapiteln des zweiten Teils werden nun mit voller Aus- 
führlichkeit die von 1789—1887 gemachten Versuche, eine allgemeine 
Einkommensteuer in Frankreich einzuführen, beschrieben: Revolutions- 
ära, 1848—1870, 1871—1874, 1876—1887. Der Verfasser kommt in 
diesen Ausführungen zu dem Ergebnis, daß nach den mannigfaltigen 


1) André de Retz de Serviès, De l’impöt progressif dans l’histoire en France 
de 1789—1870. Paris 1904. 

2) Hermann Meyer, Die Einkommensteuerprojekte in Frankreich bis 1887. 
Berlin 1905. 


Literatur. 265 


Wandlungen und den verschiedenen Anlehnungsversuchen bald an das 
englische, bald an das italienische Muster, bald an andere Vorbilder 
die prinzipielle Entscheidung in der Resolution Perin und Ge- 
nossen vom 10. Februar 1887, in der ein impöt sur le revenu, unique 
et progressif liegt, also in der Forderung der allgemeinen und pro- 
gressiven Einkommensteuer. Damit war ein fester Boden gewonnen, 
die Ziele der Zukunft hatten eine feste Gestalt angenommen und die 
Idee der Einkommensteuer war damit in Frankreich legitimiert. Die 
Finanz- und Steuerpolitik in den letzten 20 Jahren .hat aber gezeigt, 
daß trotz des „festen Bodens“ es der Regierung bis heute nicht ge- 
lungen ist, für die legitimierte Idee die „richtige Form“ zu finden. 

Einen Epilog zu seiner Schrift gibt Meyer in einem Aufsatz „Ein 
Veberblick über die französischen Einkommensteuerprojekte nach An- 
nahme der Resolution vom 10. Februar 1887 (Finanzarchiv 23 S. 13 
—41), in dem dann die Projekte Dauphin (1887), Doumer (1896), Peytral 
(1898), Caillaux (1900), Rouvier (1903) u. a. m. geschildert werden. 

Das moderne, in unserer Zeit allseitig in Wissenschaft, Politik 
und Oeffentlichkeit behandelte Problem der Wertzuwachssteuer hat der 
Handelsredakteur der „Köln. Ztg.“, Brunhuber, in einer kleinen 
Monographie zum Gegenstand weiterer Erörterungen gemacht !). 

Der schon durch verschiedene Veröffentlichungen bestbekannte 
Erich Trautvetter bietet uns eine systematische Darstellung des 
neuen deutschen Zollrechts?) unter Zugrundelegung des Zolltarifs vom 
25. Dez. 1902 und der mit 7 europäischen Staaten abgeschlossenen 
Handelsverträge. Wir haben auf diese Weise wenigstens für einen 
Teil des Finanzrechts eine zusammenfassende Darstellung erhalten. Die 
Schrift von Busuiocescu über das Tabakmonopol in Rumänien 3) 
gibt nach einer Einleitung über die Entdeckung und Verbreitung des 
Tabaks und einer Uebersicht über die Erhebungsformen der Tabak- 
steuer die Geschichte der Tabakbesteuerung und des Tabakmonopols 
in Rumänien. Der zweite Teil der Abhandlung macht dann in 
4 Kapiteln den Leser bekannt mit der heutigen Gestaltung der Regie 
und ihrer ökonomisch-technischen Betriebsweise, mit der Tabakverarbei- 
tung und dem Tabakverschleiß, und endlich werden die finanziellen Er- 
gebnisse des Monopols erörtert. Zur weiteren Erläuterung des Textes 
sind am Schlusse mehrere graphische Tabellen angehängt, die den 
Tabakkonsum, den Tabakanbau, dessen Zusammensetzung nach Quali- 
tätsklassen und die fiskalischen Erfolge gut veranschaulichen. Das 
Problem des Tabakmonopols und der Biersteuer in der Schweiz be- 
handelt Naeft) in einer Monographie, die beide als Bundesteuern ge- 
dachte Abgabeformen nicht nur steuertechnisch würdigt, sondern auch 


1) Brunhuber, Die Wertzuwachssteuer. Zur Praxis und Theorie. Jena 1906. 

2) Trautvetter, Dds neue deutsche Zolltarifrecht. Ein Leitfaden. Berlin 1905. 

3) Busuioceseu, Das Tabakmonopol in Rumänien. Volkswirtschaftliche und 
wirtschaftsgeschichtliche Abhandlungen, hrsg. von Stieda, Neue Folge, Heft 4, Jena 1905. 

4) Naef, Tabakmonopol und Biersteuer. Ein Beitrag zur schweizerischen Wirt- 
schafts- und Finanzpolitik. Züricher volkswirtschaftliche Studien, hrsg. von Herkner, 
3. Heft, Zürich 1903. 


266 Literatur. 


der rein technischen und steuerpolitischen Seite der Frage eingehende 
Beachtung schenkt. 

Das Gebiet: der Staatsschulden berühren drei neuere Schriften. 
Mehr populärwissenschaftlicher Art ist die kleine Schrift Zeitlins, 
der Staat als Schuldner 1), in der 5 Volkshochschulvorträge, gehalten 
im Januar und Februar 1906, vereinigt sind. Sie sind dem Zwecke 
entsprechend in orientierend-lehrhaftem Ton gehalten. Hier wird zu- 
erst die Stellung des öffentlichen Kredits im Staatshaushalt besprochen, 
dann folgt eine Darstellung der Formen der Staatsschulden, der Emis- 
sionstechnik, der Verzinsung, Konversion, Konsolidierung u. s. w., während 
die beiden letzten Vorträge die Tilgungsfrage und den Staatsbankerott so- 
wie Geschichte und Verwaltung des Staatsschuldenwesens vorführen. 
Die Schrift kann für weitere Kreise als brauchbare Einführung em- 
pfohlen werden. In einer längeren Abhandlung widmet Zorn der 
Tilgung der Staatsschulden eine eingehende Darstellung ?). Sie bietet 
in erster Linie eine zusammenfassende Uebersicht über die verschiedenen 
Formen der Tilgung der Staatsschulden, deren Einzelheiten er durch 
geschichtliche und kritische Ausführungen erläutert. Er weist auf die 
‘Notwendigkeit der Tilgung hin sowohl für die unproduktiven als auch 
für die produktiven Anleihen. Wenn auch die Heimzahlung jener 
wichtiger ist als dieser, so können doch auch produktive Schulden in 
Kriegs- und Notzeiten drückend werden. Er behandelt dann die beiden 
Grundformen der Tilgung, die Zwangstilgung und die freie Tilgung, 
und zeigt, daß mit dem Uebergang zur letzteren die Staaten mit der 
Tilgungsfreiheit auch die regelmäßigen Tilgungsquoten herabzusetzen 
pflegten. In einem „besonderen Teil“ werden dann die einzelnen Mo- 
dalitäten der Tilgung besprochen: die verschiedenen Arten der Tilgungs- 
fondssysteme, die Schuldentilgung durch Lotterieanleihen, durch Zeitrenten 
(Annuitäten, Leibrenten, Tontinen) und durch Auswerfung einer bestimmten 
Summe zur Tilgung durch Prozentualtilgung. Seine Ergebnisse verdichten 
sich zur Grundanschauung, daß die Voraussetzung jeder Tilgung nur wirk- 
liche Ueberschüsse sein können und andererseits ein Tilgungsverfahren ohne 
Zwang tatsächlich durch die Macht der Verhältnisse zu keinem be- 
friedigenden Resultate führen könne. Als beste Methoden empfiehlt 
der Verfasser die Zeitrenten und die Prozentualtilgung durch die ge- 
setzlich festgelegte Pflicht zur Einstellung einer Summe in den 
Etat, die in einem gewissen prozentualen Verhältnis der Staatsschuld 
steht. Die Zwangstilgung soll durch die Verwendung von Ueberschüssen 
ergänzt werden. Endlich behandelt in einer Abhandlung Collas den 
Staatsbankrott und seine Abwickelung®). Im ersten Teil führt uns 
der Verfasser die verschiedenen Erscheinungsformen des Staatsbankrotts 
vor, nachdem er zuerst in großen Zügen Wesen und Beurteilung dieser 
finanziellen Erscheinung vorausgeschickt hat. Er unterscheidet hier 


1) Zeitlin, Der Staat als Schuldner. Fünf Volkshochschulvorträge. Tübingen 1906. 

2) Zorn, Ueber die Tilgung von Staatsschulden. Abhandlungen aus dem Staats-, 
Verwaltungs- und Völkerrecht, hrsg. v. Zorn und Stier-Somlo, Bd. I, 3. Tübingen 1905. 

3) Collas, Der Staatsbankrott und seine Abwickelung. Münchener volkswirt- 
schaftliche Studien, hrsg. v. Brentano und Lotz, 68. Stück, Stuttgart 1904. 


Literatur, 267 


Nichterfüllung der Kapitalverbindlichkeit (Verschiebung der Rückzahlung, 
Zwangskonversion, Kapitalverminderung), Verletzung der Zinszahlungs- 
pflicht (Suspension, Zwangsreduktion, einseitige Couponsteuern), und 
Nichterfüllung der Kapitalrückzahlungs- und der Verzinsungspflicht. Im 
Anschlusse daran werden dann noch der Staatspapiergeldbankrott und 
die Münzverschlechterung behandelt. Nachdem der Verfasser die Wir- 
kungen des Staatsbankrotts auf Gläubiger, Staat und Volkswirtschaft 
auseinandergesetzt hat, werden dann die Methoden seiner Abwickelung 
dargestellt. Dem Verfasser ist insbesondere das Verdienst zuzusprechen, 
daß er in unseren Darstellungen dieser Materie eine Lücke ausfüllt: er 
bescheidet sich nicht mit einem theoretisch-systematischen Aufbau, son- 
dern stützt ihn fortwährend durch geschichtliches Material und die tat- 
sächlichen Vorgänge der neueren Finanzgeschichte, so daß wir stets 
neben der Kategorie auch den praktischen Beleg vor Augen haben. 

Die zunehmende Bedeutung des kommunalen Finanzwesens 
für alle stadtwirtschaftlichen Verhältnisse sowie für Staatsleben und 
Verwaltung überhaupt kann nicht ohne Spuren auf die literarische Pro- 
duktion bleiben. Die neu erschienenen Schriften, die in dieser Richtung 
zu wirken suchen, sind teils der Orientierung und Anregung gewidmet, 
teils wollen sie in historischer und beschreibender Form einzelne städtische 
Gemeinwesen und ihre finanzielle Entwickelung dem Leser vor Augen 
führen. Sie bieten alle treffliches Material für die Beurteilung der ein- 
schlägigen Fragen und können als Beiträge zur Lösung künftiger Reformen 
dienen, 

An erster Stelle erwähne ich zwei Referate über kommunale Steuer- 
fragen, die von Adolf Wagner und Preuss in der Ortsgruppe 
Berlin der Gesellschaft für soziale Reform erstattet wurden !). Beide 
haben Berliner Verhältnisse im Auge. Wagners Gedankengang bewegt 
sich im ganzen in denjenigen Bahnen, die er bereits in einer anderen 
Schrift über die finanzielle Mitbeteiligung der Gemeinden an kulturellen 
Staatsaufgaben (Jena 1904) betreten hat. Doch steht hier die Er- 
schließung neuer Einnahmequellen für die Gemeindefinanzen im Vorder- 
grund. Die Ausgabewirtschaft der Gemeinden lag ohnehin außerhalb 
des Betrachtungskreises. Als neue Steuerquellen für die Stadt Berlin 
empfiehlt Wagner eine Steuer auf Wagen und Pferde, auf Fahrräder, 
Automobile und sonstige Fahrgelegenheiten, Besteuerung des Tabaks 
und der alkoholhaltigen Getränke in Form von Lizenzen und anderer- 
seits Lustbarkeitssteuern, Besitzwechselabgaben und eine weitere Aus- 
gestaltung der Grund-, Gebäude- und Gewerbesteuer. Die Ausführungen 
von Preuss, dem bezüglıch der Berliner Kommunalfinanzen auch prak- 
tische Erfahrungen aus seiner Tätigkeit als Stadtverordneter zur Seite 
standen, bemühen sich, die vielfach allzu temperamentvollen Vorschläge 
Wagners auf das richtige Maß der Durchführbarkeit zurückzuführen, 
zumal da, wo die Bestimmungen des KAG. v. 14 Juli 1893 und ander- 
weite verwaltungsrechtliche Normen der freien Entfaltung der städti- 


1) Adolf Wagner und Preuss, Kommunale Steuerfragen. Zwei Referate er- 
stattet der Ortsgruppe Berlin der Gesellschaft für soziale Reform. Mit einer Vorbe- 
merkung von M. v. Schulz. Jena 1904. 


268 Literatur. 


schen Steuerpolitik hindernd im Wege stehen. Jedenfalls aber verr 
dienen auch seine selbständigen Ideen weitgehende Beachtung. 

Unter dem Titel: Gemeindesteuerrecht bringt uns Gerlach!) 
einen in der Gehestiftung zu Dresden gehaltenen Vortrag, der in zu- 
sammenfassender Form das Problem der Gemeindebesteuerung vorführt. 
Nach einer kurzen Einleitung über die Lage der Gemeindesteuern in 
den einzelnen deutschen Staaten werden die verschiedenen Steuerarten 
auf ihre Verwertbarkeit für Gemeindesteuerzwecke geprüft. Zuerst 
werden die Aufwandsteuern erwähnt, dann die direkten Steuern, wobei 
vor allem die Grundsteuer nach dem gemeinen Wert und die Wertzu- 
wachssteuer eingehender untersucht werden, und schließlich erörtert der 
Verfasser die Besitzwechselabgaben und Umsatzsteuern. Indessen er- 
blickt er in diesen neuen Steuerformen keineswegs ein Mittel, um die 
älteren Objekte und Ertragssteuern im städtischen Finanzhaushalt über- 
haupt abzulösen und bekämpft damit wenigstens funktionell die ufer- 
losen Schwärmereien der Bodenreformer für Umsatz- und Wertzuwachs- 
steuern, sondern er weiß den richtigen Kern aus der ganzen Bewegung 
herauszuschälen, indem er diesen neuen Auflagen eine ergänzende Stel- 
lung anweist, auf ihre je nach dem Grundstückshandel sprunghafte Ent- 
wickelung aufmerksam macht und in ihnen ein Mittel sieht, die Erhö- 
hung der Objektsteuern zu vermeiden, die immer ungleichmäßig wirken 
werden, und an Stelle einer solchen die gerechtere Ausgleichung „nach 
dem Vorteil“ des Wertzuwachses zu setzen. 

Endlich müssen wir noch vier Einzelschriften gedenken, die alle 
aus dem staatswissenschaftlichen Seminar in Halle hervorgegangen sind 
und in Conrads Sammlung nationalökonomischer und statistischer Ab- 
handlungen erschienen sind. Sie stellen sich die Aufgabe an konkreten 
Gemeinwesen die Entwickelung der Stadtwirtschaft und des städtischen 
Finanzwesens zu erweisen. Dadurch wird es möglich, im Zusammen- 
hang das Gebiet der Stadtwirtschatt, dem die literarische Produktion 
noch immer zu wenig Interesse entgegenbringt, besser zu überschauen, 
das Gleichartige zu erfassen und die allgemeinen Entwickelungstendenzen 
abzuleiten. Sunder, Das Finanzwesen der Stadt Osnabrück ?), hat 
sich der mühevollen Arbeit unterzogen, die zerstreuten Unterlagen der 
geschichtlichen Entwickelung und der Statistik zu sammeln und zu 
einem abgerundeten Bilde zu verarbeiten. Er greift bis 1648 zurück 
und führt seine Darstellung bis 1900 fort. Er beschränkt sich aber 
nicht auf eine Finanzgeschichte dieses Gemeinwesens, sondern er er- 
läutert diese auf Grund der geschichtlichen und verwaltungsrechtlichen 
Wandlungen, die Osnabrück im Laufe der Zeiten unter den verschie- 
denen Herrschaften und Machthabern durchgemacht hat. Erfurts Stadt- 
verfassung und Stadtwirtschaft schildert uns Horn 3), gleichfalls aut 


1) Gerlach, Gemeindesteuerrecht. Neue Zeit- und Streitfragen, hrsg. von der 
Gehestiftung zu Dresden, Jahrg. II, 7—8. Dresden 1905. 

2) Sunder, Das Finanzwesen der Stadt Osnabrück von 1648—1900. Sammlung 
nationalökonomischer und statistischer Abhandlungen des staatswissenschaftlichen Seminars 
zu Halle a. S., hrsg. v. J. Conrad, Bd. 47, Jena 1904. 

3) Horn, Erfurts Stadtverfassung und Stadtwirtschaft. Sammlung) nat.-ökon. 
und statistischer Abhandlungen des steatswissenschaftlichen Seminars zu Halle a. S. 
hrsg. v. J. Conrad, Bd. 45, Jena 1904. 


Literatur. 269 


dem Fundament der allgemeinen und verwaltungsrechtlichen Entwicke- 
lung. Er betritt damit ein Feld, das leider noch immer zu wenig an- 
gebaut wird, das Grenzgebiet, wo sich Verwaltungsrecht und Volks- 
wirtschaft berühren. Die Entwickelung der wirtschaftlichen Verhält- 
nisse, der Stadtverfassung und des Finanzwesens werden hier stets im 
Zusammenhang mit der allgemeinen Entwickelung des Städtewesens 
und des Stadtrechts in Preußen dargestellt, wodurch die gegenseitige 
Abhängigkeit von Staats- und Stadtfinanzen ins rechte Licht treten. 
Ein Anhang ist steuerpolitischer Natur: er erörtert die Frage, wie und 
in welcher Richtung die Kommunalsteuern in Erfurt weiter entwickelt 
werden können. Eine mehr zusammenfassende Studie über die Ge- 
meinden und ihr Finanzwesen in Serbien bietet Bogdan St. Marko- 
witsch?). Er behandelt in den beiden ersten Abschnitten die historische 
Entwickelung des Gemeindewesens sowie die Rechtsgeschichte und 
das geltende Recht der Gemeindegesetzgebung und Gemeindeorgani- 
sation. Der zweite Teil behandelt dann das (femeindefinanzwesen in 
Serbien: die Aufgaben der Gemeinden und ihre anf geschichtlicher Ent- 
wickelung beruhenden Gestaltung, die Ausgaben, die Einnahmen und 
das Schuldenwesen. In weitgehender Weise schöpft der Verfasser aus 
serbischen Originalquellen und macht damit dem deutschen Leser ein 
Material verständlich, das ihm sonst so gut wie unzugänglich ist. Auf 
einem engeren Gebiete der städtischen Finanzwirtschaft versucht sich 
Schröter), der die Steuern der Stadt Nordhausen zum Gegenstand 
einer Untersuchung gemacht hat. Wie er im Vorwort angibt, setzt er 
sich zum das Ziel darzulegen, wie in der Gemeinde Nordhausen die Kommu- 
nalsteuerlast verteilt und wie sich hier die Anwendung des KAG. v. 14. Juli 
1893 mit seiner selbständigen Ausgestaltung des Abgabewesees nach 
lokalen Verhältnissen wirksam erwiesen hat. Der Verfasser gibt zuerst 
einen kurzen Ueberblick über die allgemeinen Verhältnisse von Nord- 
hausen und führt dann die Grundzüge des städtischen Finanzhaushalts 
vor, zuerst die Ausgaben und die einzelnen Aufwandszwecke und so- 
dann die Einnahmen, womit er vor allem eine kurze historische Rück- 
schau der Entwickelung verbindet. Der zweite Teil behandelt die 
Steuern Nordhausens im 19. Jahrhundert in vier Perioden: Ausgang 
der reichsfreien Zeit, die Perioden von 1820—51, 1851—95 und die 
Zeit seit 1895. Im Anschluß daran werden die einzelnen Steuerarten 
des geltenden Rechts erörtert, die Wirkungen der Miquelschen Reform 
geschildert und kritisch beleuchtet und endlich folgt im Schlußkapitel 
eine Zusammenfassung des Tatsächlichen mit einem Vergleich der land- 
städtischen, mittel- und großstädtischen Gemeindesteuern in Preußen. 
Ein paar Worte über die Zukunft der Steuern in Nordhausen, die der 
künftig unausbleiblichen Steigerung der städtischeu Ausgaben durch 


1) Bogdan St. Markowitsch, Die Gemeinden und ihr Finanzwesen in Serbien. 
Sammlung nat.-ökon. und statistischer Abhandlungen des staatswissenschaftlichen Semi- 
nars zu Halle a. S., hrsg. v. J. Conrad, Bd. 46, Jena 1904, 

2) Schröter, Die Steuern der Stadt Nordhausen und ihre Bedeutung für das 
Gemeindefinanzwesen historisch dargestellt. Sammlung nat.-ökon. und statistischer Ab- 
handlungen des staatswissenschaftlichen Seminars zu Halle a. S., hrsg. v. J. Conrad, 
Bd. 48, Jena 1904. 


270 Literatur. 


steigende Entwickelung Rechnung tragen müssen, schließen die Abhand- 
lung. 

Von den neueren Erscheinungen mögen an dieser Stelle noch einige 
kleinere Monographien erwähnt sein. Bajonski behandelt von neuem 
die Frage der deutschen Staatslotterien 1). Er schildert die Technik der 
Klassenlotterien, ihre Geschichte und ihre rechtlichen Normen, und so- 
dann folgt die Beschreibung der in den deutschen Staaten bestehenden 
Klassenlotterien und ihrer Gewinnchancen. Im zweiten Teil beschäftigt 
sich der Verf. mit der kritischen Würdigung der Staatslotterien von 
den verschiedenen Seiten aus, ‘prüft ihre Stellung zum Staatshaushalt 
und erörtert die Reformfragen. In letzterer Hinsicht redet er in 
richtiger Würdigung der Schäden der vielen partikulären Staatslotterien 
einer stärkeren Konzentration der Lotteriebetriebe das Wort, da die 
völlige (wünschenswerte) Beseitigung der staatlichen Lotterie-Unter- 
nehmungen aus fiskalischen Gründen in absehbarer Zeit nicht zu erwarten 
ist. Bekanntlich ist Preußen auf dem Wege einer solchen Konzentration 
in den letzten Jahren vorgegangen und hat mit einer Reihe von Staaten 
Verträge zur Herstellung einer Lotteriegemeinschaft geschlossen. 

Ein Mann der Praxis, Rechnungsrat Hövermann?), gibt eine 
anschauliche Darstellung der technischen Einrichtungen des Etats, des 
Kassen- und Rechnungswesens. Die fleißıge, umsichtig geschriebene 
Arbeit wird nicht; nur den Verwaltungsbeamten großen Nutzen schaffen, 
sondern wird sich für jeden empfehlen, der die Technik der Finanz- 
verwaltung studieren will. Auch das richtige Lesen eines Haushaltungs- 
etats des Staates oder eines Kommunalkörpers ist ohne sachkundige 
Führung sehr erschwert. Eine finanzgeschichtliche Untersuchung ist 
Bittners Geschichte der direkten Steuern im Erzstifte Salzburg). 
Für den Finanz- und Steuerthbeoretiker ist es hier beachtenswert, daß 
der Verf. sich für die Entstehung der Steuer der Auffassung Lamprechts 
und Schultes nähert und sie aus grundherrlichen Verhältnissen herleitet. 
Niedner erörtert in einer umfassenden Einzelschrift die Ausgaben 
des preußischen Staats für die evangelische Landeskirche in den älteren 
Provinzen und Emminghaus hat sich der verdienstlichen Aufgabe 
unterzogen, die in den deutschen Bundesstaaten geltenden Steuern und 
Abgaben zusammenzustellen, denen die privatwirtschaftlichen Ver- 
sicherungsbetriebe unterliegen. 


1) Bajonski, Kritik und Reformen der deutschen Staatslotterien als Finanz 
regalien. Berlin 1904. 

2) Hövermann, Zur Reform des Etats-, Kassen- und Rechnungswesens eins 
schließlich der Verhältnisse der Rechnungs- und Kassenbeamten. Bonn 1905. 

3) Bittner, Die Geschichte der direkten Staatssteuern im Erzstifte Salzburg bis 
zur Aufhebung der Landschaft unter Wolf Dietrich. I. Die ordentlichen Steuern. 
Wien 1903. 

Niedener, Die Ausgaben des preußischen Staats für die evangelische Landes- 
kirche in den älteren Provinzen. Kirchenrechtliche Abhandlungen, hrsg. von Stutz. 
13.—14. Heft. Stuttgart 1904. 

Emminghaus, Die Steuergesetzgebung der deutschen Bundesstaaten über 
das Versicherungswesen. Veröffentlichungen des Vereins für Versicherungswissenschaft, 
hrss. von Manes. Heft 6. Berlin 1905. 


Literatur. 271 


Alessandro Garelli zählt zu den fruchtbarsten Schriftstellern 
der italienischen Nationalökonomie, deren Literatur er auf fast allen 
Gebieten bereichert hat. Das vorliegende Werk bildet den 6. Band 
seines großen Systems der Finanzwissenschaft und behandelt die Personal- 
stenern!). Der 1. Band beschäftigt sich mit der Personalbesteuerung 
in der Steuergesetzgebung und wird ausgefülllt vom 1. Titel, der die 
subjektiven Grundlagen der Besteuerung zur Darstellung bringt. Die 
ganze Materie wird nun in 2 Hauptabschnitte zerlegt, von denen es 
der eine sich mit den Subjekten, der andere mit den Objekten der 
Personal- und Einkommensteuer zu tun hat. Dort werden alle ein- 
schlägigen Prinzipienfragen der Steuerpolitik erörtert, die auf die 
Steuertähigkeit der Pflichtigen von Einfluß sind, wie Alter, Gesundheit, 
Familienstand, Erwerb und Beruf u. a m. Neben den physischen 
Personen werden noch die nichtphysischen Personen eingehend behandelt. 
Hier wird die Unterscheidung der Einkommensquellen, der Abzug der 
Schulden, Lasten, Werbungskosten und sonstiger Posten, die Frage 
des steuerfreien Existenzminimums u. ä. m. einer systematischen Be- 
handlung unterzogen. Den Schluß bilden dann Betrachtungen über die 
Proportionalität, die Degression und die Progression der Steuersätze, 
sowie über die Lösung des Steuerproblems durch eine Kombination 
verschiedener Steuerformen. 

Der 2. Titel, der den I. Band abschließen soll, wird die Anwendung 
der hier geschilderten Steuerprinzipien auf die Personalbesteuerung 
bringen. Der II. (Schluß-)Band soll literar- und dogmengeschichtlichen 
Charakters sein und die Personalbesteuerung im Lichte der finanz- 
wissenschaftlichen Literatur zeigen. 

Gleichfalls Darlegungen der allgemeinen Steuerlehre ist das Buch 
von Stephen F. Weston gewidmet, das den Titel führt „Grund- 
lagen der Gerechtigkeit im Steuerwesen“ 2). Es bildet den 17. Band, 
2. Abt. der Studies in History, Economics and Public Law, die von 
der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Columbia-Universität 
herausgegeben werden. Der Inhalt bietet aber mehr denn die Aufschrift 
besagt; denn der Verf. entrollt uns tatsächlich ein Bild des ganzen 
Steuerwesens in seinen prinzipiellen Wurzeln. Das Werk, in 8 Kapitel 
gegliedert, bringt allgemeine Betrachtungen über die Stellung der Steuer 
zu Staat, Recht, Wirtschaft, Sitte und Politik, schildert die Steuer als 
ökonomische und ethische Erscheinung und entwickelt dann die „all- 
gemeinen Grundsätze der Besteuerung nach den verschiedenen Richtungen 
hin. Das letzte Kapitel beschäftigt sich dann mit der Veranlagung 
der Steuern und gibt in knapper Uebersicht eine Darstellung der 
einzelnen Steuerarten. Das Ganze ist wohl als Teil einer größeren 
Publikation gedacht. Jedenfalls verdient sie vom Standpunkt syste- 
matischer Behandlung Anerkennung. 


Münster i. W., im Oktober 1906. 
1) Alessandro Garelli, Le imposte nello Stato moderno. Vol. 1: L’impo- 


sizione personale segondo il diritto finanziario positivo. Milano 1903. 
2) Stephen F. Weston, Principles of Justice in Taxation. New York 1903. 


272 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands 
und des Auslandes, 


1. Geschichte der Wissenschaft. Encyklopädisches. Lehrbücher. Spezielle 
theoretische Untersuchungen. 


Dienstag, Paul, Führer durch die sozialwissenschaftliche Zeitschriftenliteratur. 
Dresden, O. V. Böhmert, 1907. 8. M. 5.—. 

Hahn, Georg, Ernst Abbe als Sozialpolitiker. Leipzig, Fel. Dietrich, 1906. 8. 
32 SS. M. 0,50. (Sozialer Fortschritt. 85. 86.) 

Huth, Hermann, Die Bedeutung der Gesellschaft bei Adam Smith und Adam 
Ferguson im Lichte der historischen Entwickelung des Gesellschaftsgedankens. Leipzig, 
Duncker & Humblot, 1907. gr. 8. M. 4,40. 

Most, Otto (Direktor), Friedrich List, der Bismarck des deutschen Wirtschafts- 
lebens (f 30. XI. 1846). Leipzig, Fel. Dietrich, 1906. 8. 16 SS. M. 0,25. (Sozialer 
Fortschritt. 87.) 

Neumann-Hofer, Adolf, Einführung in die Volkswirtschaftslehre. Berlin, 
H. Hillger (1906). kl. 8. 100 SS. M. 0,30. (Hillger’s illustrierte Volksbücher. 66.) 

Ogilvie, William, Das Recht auf Grundeigentum. Aus dem Englischen über- 
setzt von Adolf M. Freund. Mit einer einleitenden Abhandlung: „Bodenreformer früherer 
Zeiten“ von Georg Adler. Leipzig, C. L. Hirschfeld, 1906. gr. 8. 120 SS. M. 2,20. 
(Hauptwerke des Sozialismus und der Sozialpolitik. Heft 7.) 

Schwechler, K. (Chefredakteur), Die österreichische Sozialdemokratie. Graz, 
Styria, 1907. 8. VI—208 SS. M. 1,30. 

Wagner, Adolph, Theoretische Sozialökonomik oder Allgemeine und theore- 
tische Volkswirtschaftslehre. 1. Abteilung. Leipzig, C. F. Winter, 1907. 8. M. 12.—. 


Descamps, Paul, L’humanit& &volue-t-elle vers le socialisme? Étude et classi- 
fication des diverses applications du Socialisme. Paris, F. Didot, 1906. 12. fr. 2.—. 

Levasseur, E., Aperçu de l’&volution des doctrines économiques et socialistes en 
France sous la troisième République. Paris 1906. 8. 109 pag. fr. 3.—. 

Marshall, Alfred, Principes d’&eonomie politique. Traduit par F. Sauvaire- 
Jourdan. Tome 1. Paris, Giard et Brière, 1906. 8. fr. 10.—. 

Callie, J. W. S., Socialism not the best remedy. Being a reprint of John Smith’s 
reply to „Merrie England“. London, Simpkin, 1906. 8. 106 pp. 1/.—. 

Giddings, Franklin H. (Prof.), Readings in descriptive and historial sociology. 
New York, Macmillan Company, 1906. 8. XXIV—553 pp. 7/.—. 

Parsons, Elsie Clews, The family. An ethnographical and historical outline. 
New York and London, G. P. Putnam’s Sons, 1906. 8. XXV—389 pp. 12/.6. 


2. Geschichte und Darstellung der wirtschaftlichen Kultur. 
George, Paul, Das heutige Mexiko und seine Kulturfortschritte. 
Von Paul George, Jena liegt eine Arbeit unter dieser Ueberschrift 

vor, die als Beiheft zu den „Mitteilungen der geographischen Gesell- 
schaft für Thüringen“ zu Jena 1906 im Verlag von Gustav Fischer, 
Jena erschienen ist. Das Buch gibt eine ganz ausgezeichnete, viel- 
seitige und zugleich gründliche Uebersicht über die hauptsächlichen 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 273 


Kulturfortschritte, welche das heutige Mexiko gegenüber dem früheren 
zu verzeichnen hat und kann für jeden Volkswirtschaftler, der sich mit 
mexikanischen Verhältnissen bekannt machen will oder bekannt zu machen 
hat, als sehr brauchbarer Wegweiser dienen. 

Bei den Vorzügen, welche das Buch aufzuweisen hat, möchte ich einen 
Umstand.nicht unerwähnt lassen, der mir der Kritik zu bedürfen scheint, 
nämlich den, daß das Buch für denjenigen, welcher neben den guten 
auch die Schattenseiten dargestellt sehen will, in mancher Hinsicht ver- 
sagt, weil es zu offiziell geschrieben ist. Das geht schon daraus her- 
vor, daß mit den diplomatischen Beziehungen Mexikos zu Deutschland 
und den anderen Staaten begonnen wird, wobei der Verfasser speziell 
der guten Beziehungen zwischen Mexiko und Deutschland gedenkt und 
dabei wörtlich die zum 74. Namenstag des Präsidenten Porfirio Diaz 
gewechselten offiziellen Reden anführt, als Kaiser Wilhelm sein von 
Prof. Koner gemaltes Bild dem Präsidenten von Mexiko zum Geschenk 
machte. Dieser offizielle Ton, der sicher seine Gründe hat, wird manchem 
Volkswirtschaftler nicht als geeignete Einführung zu einem rein wissen- 
schaftlichen Buche erscheinen. Dann fiel mir besonders das vorsichtige 
Hinweggleiten über die traurige Episode auf, die für immer mit dem 
Namen des Kaisers Maximilian verknüpft ist. Wenn sich das anfangs 
sehr erregte Urteil der gesamten Kulturwelt über die Erschießung des 
Kaisers Maximilian im Jahre 1867 auch bedeutend geändert hat, so ist 
doch vielleicht die Vorsicht zu weit gegangen, wenn in einem Buch, 
in dem auch die historischen und politischen Verhältnisse berührt werden, 
über dieses traurige Ereignis flüchtig, ohne nähere Berührung der sehr 
verwickelten Umstände, die es herbeiführten, hinweggegangen und dem 
Kaiser Maximilian kein Wort der Anerkennung gewidmet wird, wäh- 
rend über seinen Gegner, Benito Juarez, der ihn erschießen ließ, die 
überschwenglichen Lobreden zweier offizieller Kundgebungen der Mexi- 
kanischen Republik Platz finden. Da die geschichtlichen Verhältnisse 
besonders eingehend berührt werden, so kann man diesem Verhalten 
kaum beistimmen. Ich finde jedenfalls das Vorgehen von Ms. Alec 
Tweedie über diesen Punkt in ihrem Buche „Porfirio Diaz, der Schöpfer 
des heutigen Mexiko“, deutsche Uebersetzung von B. Saworra, Verlag 
W. Behr, Berlin W. 35, ansprechender, indem in diesem Werk, das 
dem Präsidenten Porfirio Diaz gewidmet ist, das Drama vom Jahre 
1867 weit unparteiischer behandelt wird, obwohl die Verfasserin zu 
dem Präsidenten, dem Freund, Nachfolger und Bewunderer des Exekutors 
Juarez, demjenigen, der schon 1867 im republikanischen Lager eine 
einflußreiche Stellung inne hatte, in freundschaftlichen Beziehungen 
steht. Hier bekommt man wenigstens eine gute Aufklärung über den 
Tod Maximilians. Wenn auch der unheilvolle Erlaß Maximilians vom 
3. Oktober 1865 strenge Verurteilung findet, so wird doch hervorge- 
hoben, daß der Kaiser falsch berichtet war, einerseits über die angeb- 
lich allgemeine Anerkennung der Monarchie, andererseits über die 
tatsächliche Lage der republikanischen Partei, die weder die Grenzen 
Mexikos verlassen hatte — Benito Juarez hatte die Regierung nach 

Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIII). 18 


974 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslande. 


dem nördlichen Grenzort Paso del Norte verlegt — noch in undiszi- 
plinierte Raubbanden aufgelöst war. 

Auch die guten Eigenschaften des Kaisers und der Kaiserin sowie 
die Treue der Generäle Mejia und Miramon werden von der Verfasserin 
vorurteilsfrei gewürdigt und es fehlt nicht an herzlicher Klage über 
das traurige Schicksal des Kaisers. Von dem allem findet sich in Georges 
Buch auch nicht eine Andeutung. Paul Krische- Göttingen. 


Baumgartner, Andreas, Erinnerungen aus Amerika. Zürich, Orell Füssli, 
1907. 8. M. 3,50. 

Mygind, Eduard, Syrien und die türkische Mekkapilgerbahn. Ein Beitrag zur 
Kenntnis des Landes und der Bedeutung der Bahn. Halle, Gebauer-Schwetschke, 1906. 
gr. 8. IV—76 SS. mit 1 Karte. M. 1,50. (Angewandte Geographie. II. Serie. Heft 11.) 


Blackman, William Fremont (Prof.), The making of Hawaii. A study 
in social evolution. New York, Macmillan Company, 1906. 8. XII—266 pp. 10,6. 

Jebb, Eglantyne, Cambridge. A brief study in social questions. Cambridge, 
Macmillan & Bowes, 1906. 8. X—272 pp. 4/.6. 


3. Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik. Answanderung 
und Kolonisation. 


Abhandlungen, Koloniale. Berlin, Wilhelm Süsserott. gr. 8. Pro Heft M. 0,40. 
Heft 2: Lattmann (Amtsgerichts-R.), Die Schulen in unseren Kolonien. (1906.) 24 SS. 
Heft 3: Most, Karl, Die wirtschaftliche Entwicklung Deutsch-Ostafrikas 1885— 
1905. 1906. 31 SS. 

Heft 4: Scholze, J., Die Wahrheit über die Heidenmission und ihre Gegner. 4. Aufl. 
(1907.) 22 SS. 

Heft 5: Schultz, Die Schafwolle in Hinblick auf die Schaf- und Ziegenzucht in 
Deutsch-Südwestafrika. Ein Beitrag zur Kenntnis unserer Kolonien. 2. Aufl. 
(1907.) 24 SS. 

Heft 6: Axenfeld, Karl (Missionsinspektor), Der Aethiopismus in Süd-Afrika. (1907.) 
13 SS. 

Heft 7: Halle, Ernst von (Prof.), Die großen Epochen der neuzeitlichen Kolonial- 

geschichte. (1907.) 38 SS. 

Dernburg, Bernhard (Wirkl. GeheimerR.), Zielpunkte des Deutschen Kolonial- 
wesens. Zwei Vorträge. Berlin, Ernst Siegfried Mittler, 1907. 8. 88 SS. M. 0,75. 

Führer, Kolonialpolitischer. Herausgeg. vom Kolonialpolitischen Aktionskomite. 
Berlin, Wedekind & C°, 1907. 8. 48 SS. M. 0,30. 

Fülleborn, Friedrich, Das deutsche Nyassa- und Ruwuma-Gebiet. Land und 
Leute. Text und Atlas. Berlin, D. Reimer, 1907. M. 125.—. 

Ilgenstein, Heinrich, Deutsches Volk, wahre deine heiligsten Güter! Ein 
Weckruf. Berlin, Concordia Deutsche Verlags-Anstalt, Hermann Ehbock, 1907. 8. 
32 SS. M. 0,50. 

Leyds, W. J., Die erste Annexion Transvaals. Mit einer Karte, einem Facsi- 
mile und einer Tabelle. Berlin, Emil Felber, 1907. gr. 8. XX-—384 SS. M. 9.—. 

Mombert, Paul, Studien zur Bevölkerungsbewegung in Deutschland in den 
letzten Jahrzehnten, mit besonderer Berücksichtigung der ehelichen Fruchtbarkeit. Karls- 
ruhe, G. Braunsche Hofbuchdruckerei, 1907. 8. M. 8.—. 

Schmoller, Dernburg, Delbrück, Schäfer, Sering, Schillings, 
Brunner, Jastrow, Penck, Kahl über Reichstagsauflösung und Kolonialpolitik. 
Offizieller stenographischer Bericht über die Versammlung in der Berliner Hochschule 
für Musik am 8. Januar 1907. Herausgeg. vom Kolonialpolitischen Aktionskomite. 
Berlin, Wedekind & C°, 1907. 8. 47 SS. M. 0,50. 

Wahrheit, Die, über die deutschen Kolonien. Berlin, G. Nauck, 1907. 8. 
M. 0,50. 

Pierpont, Le Cocq et van Austen, Au Congo et aux Indes. Tours, Cattier, 
1906. 8. fr. 6.—. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.. 275 


Theodore-Vibert, Paul, La concurrence étrangère. La philosophie de la 
colonisation. Les questions brûlantes. Exemples d’hier et d’aujourd’hui. Tome II. 
Paris, Édouard Cornély et C', 1906. 8. 375 pag. fr. 8.—. 

Beak, G. B., The aftermath of war. An account of the repatriation of Boers 
and Natives in the Orange River Colony 1902—1904. London, E. Arnold, 1906. 8, 
306 pp. with illustr. and map. 12/.6. 

Duff, H. L., Nyasaland under the Foreign Office. 2”! edition, with new intro- 
duction. London, Bell, 1906. 8. 454 pp. 7/.6. 

Dutt, Romesh, The economie history of India under the early British rule. 
2» edition. London, Trübner & C°, 1906. 8. 460 pp. 6/.—. 

Dutt, Romesh, The economic history of India in the Victorian age. 2°? edition. 
London, Trübner & C°, 1906. 8. 650 pp. 6/.—. 

Grieve, S8., Notes upon the Island of Dominica, British West Indies. London, 
Black, 1906. 8. 2/.6. 

Kirkpatrick, F. A., Lectures on British colonization and empire. First series 
(1600—1783). With an introduction by H. E. Egerton. London, Jobn Murray, 1906. 
8%. XVI—115 pp. 2/.6. 

Mountmorres, Viscount, The Congo Independent State. A report on a 
voyage of inquiry. London, Williams & Norgate, 1906. 8. 166 pp. 6/.—. 

Rhodesia, Southern. An account of its past history, present development, &e. 
Edited by F. W. Ferguson. London, Collingridge, 1906. 4. 25/.—. 


4. Bergbau. Land- und Forstwirtschaft. Fischereiwesen. 

Arbeiten der landwirtschaftlichen Akademie Bonn-Poppelsdorf. II. Mit 8 Tafeln. 
Berlin, Paul Parey, 1906. gr. 8. 402 SS. M. 12.—. (Inhalt: Remy (Prof.), Arbeiten 
aus dem Institut für Bodenlehre und Pflanzenbau an der Kgl. Landw. Akademie in 
Poppelsdorf. — Hansen, J. (Prof.), Leistungsprüfungen mit Schwyzer, Simmentaler und 
ostfriesischen Kühen. — Hansen, J. (Prof.), Fütterungsversuche mit Milchkühen., — 
Hagemann, O. (Prof.) und M. S$. Karpow, Frische und getrocknete Kartoffeln im 
Stoffwechsel der Wiederkäuer.) (Landwirtschaftliche Jahrbücher. Bd. XXXV. Er- 
gänzungsbd. 1V.) 

Aussel, H., und A. Burg, Betriebsverhältnisse der deutschen Landwirtschaft. 
Herausgeg. von der Betriebs- Abteilung der deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft. Stück II 
der Sammlung. Berlin, P. Parey, 1906. Lex.-8. VII—171 SS. mit 6 Tabellen. M. 4.—. 
(Arbeiten der deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft. Heft 123.) 

Barthel, Chr., Die Methoden zur Untersuchung von Milch und Molkerei- 
produkten. Leipzig, M. Heinsius Nachf., 1907. 8. M. 7.—. 

Hermes, A., Der Teilbau in Frankreich. Jena, Gustav Fischer, 1907. gr. 8. 
IX—262 SS. M. 7.—. (Abhandlungen des staatswissensdhaftlichen Seminars zu Jena. 
Bd. II. Heft 4.) 

Landwirtschaft und Landwirtschaftskammer in der Provinz Sachsen. 1896— 
1905. Halle a. S., Otto Thiele, 1906. gr. 8. 441 SS. 

Niess, Hermann, Die Bekämpfung der Wassersand- (Schwimmsand-)Gefahr beim 
Braunkohlenbergbau. Mit 19 Skizzen. Freiberg i. S., Craz & Gerlach (Joh. Stettner), 
1807. gr. 8. 104 SS. M. 3,60. 

Schneidewind, W. (Prof.), und D.. Meyer, Die Futterrationen vom wissen- 
schaftlichen und praktischen Standpunkte. Leipzig, R. C. Schmidt & C°, 1907. gr. 8. 
IV-36 SS. M. 1,50. (Arbeiten der Landwirtschaftskammer für die Provinz Sachsen. 
Heft 10.) 


$ Girola, Car. D. (Ing.), L’Argentina agricola. Milano, tip. agraria, 1906. 8. 
8 pp- 
5. Gewerbe und Industrie. 

Stieda, Wilhelm, Die keramische Industrie in Bayern wäh- 
rend des 18. Jahrhunderts, Bd. 14, No. 4 der Abhandl. der phil.-histor. 
Klasse der kgl. sächs. Gesellsch. d. Wissensch. Leipzig (B. G. Teubner) 
1906, VI und 256 SS. 8 M. 

Das Werk bietet die Geschichte und Wirksamkeit von 17 kera- 

18* 


276 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


mischen Fabriken (für Steinzeug, Fayence und Porzellan) und Nachrichten 
über die vergeblichen Bemühungen des J. A. Hannong auf diesem Ge- 
biet. 4 weitere Etablissements sind teils schon früher monographisch 
behandelt, teils hat Material nicht zur Verfügung gestanden. „Studien, 
wie die hier zur Veröffentlichung gebrachten, die sich auf einem bei- 
nahe völlig unangebauten Boden bewegen“, sagt Stieda im Vorwort, 
„Können nicht hotten, etwas Abschließendes oder Vollständiges zu bieten“. 
Das zeigt sich ja zur Genüge in der Arbeit, deren einzelne Abschnitte im 
Stoff sehr ungleichmäßig sind. Aber die Schwierigkeit der Beschaffung 
aus den Archiven und die Sprödigkeit des so wenig bearbeiteten Gegen- 
standes ist zu würdigen. St. weist mit vollem Recht darauf hin, dal 
jeder Beitrag zur Industriegeschichte um so wichtiger (und dankens- 
werter) ist, als die Geschichte des Handwerks und des Handels einer 
intensiven Bearbeitung genossen hat und noch genießt. St. behandelt 
nun jedes einzelne Etablissement nach seiner Geschichte, seiner tech- 
nischen Arbeit und seinem Absatz und gibt zur Illustration möglichst 
zahlreiche Aktenstücke. Am weitaus ausführlichsten ist die Porzellan- 
fabrik Bruckberg besprochen, natürlich weil hier das Material es ge- 
stattet. Besonders interessant ist die Geschichte dieses Etablissements 
auch deshalb, weil es die Fürsorge A. v. Humboldts erfahren hat und 
nach dem Uebergang des Ansbachschen Gebiets in preußische Verwal- 
tung das Projekts einer Vereinigung mit der Berliner Porzellanmanu- 
faktur schwebte. In einer Schlußbetrachtung faßt St. die Grundzüge 
der Geschichte der keramischen Industrie in Bayern des 18. Jahrhun- 
derts zusammen. Während die ältere Hafnertätigkeit Kleinbetrieb war, 
strebte die aus ihr hervorwachsende Fayence- und Porzellanindustrie 
von vornherein instinktiv zum Großbetrieb. Wohl alle diese Fabriken 
eiferten dem Vorbilde Meißens nach, das echte Hartporzellan herzu- 
stellen, aber nur wenige erreichten das Ziel; zu nennen sind hier in 
erster Linie Bruckberg, Frankenthal und Nymphenburg. Elf Fabriken 
sind bekannt genug geworden, um über ihre Produkte und Marken 
Zweifel auszuschließen, die anderen harren noch der klärenden Forschung. 
Der Rückblick auf die Geschichte der keramischen Fabriken zeigt vor 
allem, welcher unendlichen Mühen, Kosten, Mißertolge und welchen 
Aufwands von Intelligenz es bedurfte, um unsere heutige, hochstehende 
Porzellanindustrie zu schaffen. Der Absatz war erheblich schwieriger, 
als vorauszusehen war, die Fabrikation war viel teurer als kalkuliert, 
die Ware konnte trotz unausgesetzter Mühe nicht zu der gewünschten 
technischen Güte gelangen. Um so mehr ist anzuerkennen, daß die 


Unternehmer — meist regierende Fürsten — nicht ermatteten und 
einige Werke auch zu großem Rufe gelangten. 
Sorau N.-L. Fritz Schneider. 


Best, Davis und Perks, Berlin und seine Arbeiter in englischer Beleuchtung. 
Ein vergleichender Bericht. Deutsch herausgeg. von Waldemar Zimmermann. Mit 
einem Vorwort von Hans Delbrück. Berlin, Wedekind & C°, 1907. gr. 8. 78 8. 
M. 1.—. 

Calwer, Richard, Kartelle und Trusts. Berlin, Verlag für Sprach- und 
Handelswissenschaft (1906). 8. 74 SS. M. 1.—. (Handel, Industrie und Verkehr in 
Einzeldarstellungen. 8.) 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 277 


Epstein, Jacob H. (Fabrikant), Die autonome Fabrik. Ein Versuch zur Lösung 
des Problems der Gewinnbeteiligung industrieller Arbeiter. Dresden, O. V. Böhmert, 
1907. gr. 8. 120 SS, M. 2.—. 

Handwerksblatt, Das Deutsche. Mitteilungen des Deutschen Handwerks- und 
Gewerbekammertages. Herausgeg. von Friedrich Fasolt. Jahrg. 1, Heft 1, Januar 1907, 
Berlin, J. Guttentag, 1907. 4. 20 SS. Pro Jahr M. 6.—. 

Katscher, Leopold, Sozialsekretäre und Fabrikpfleger. Unter Mitwirkung von 
Budgett Meakin, Maud Nathan und Georg Hahn herausgegeben. Leipzig, Fel. Dietrich, 
1907. 8. 16 SS. M. 0,25. (Sozialer Fortschritt. 91.) 

Kley, W., Die Arbeit. Lesebuch für gewerbliche Fortbildungs- und Fachschulen. 
Hannover, C. Meyer, 1907. 8. M. 2,50. 

Koch, Heinrich (S. J.), Arbeiterausschüsse. Herausgeg. von „Arbeiterwohl, 
Verband für soziale Kultur- und Wohlfahrtspflege“. M.-Gladbach, Zentralstelle des 
Volksvereins für das katholische Deutschland, 1907. gr. 8. XV—160 SS. M. 2.—. 

Lehmann-Felskowski, G., Der deutsche Schiffbau. 1900—1906. Berlin, 
Boll & Pickardt (1907). Imp.-4. XIII—250 SS. mit zahlreichen Abbildungen. M. 12.—. 

Lindheim, Alfred von, Die Friedensaufgaben der Tarifverträge zwischen 
Arbeitgeber und Arbeitnehmer. 2. Aufl. Wien, Manz, 1907. gr. 8. V—80 SS. 
M. 1,70. 

Precht, H. (Prof.), Die norddeutsche Kaliindustrie. 7. verm. Aufl., herausgeg. 
von R. Ehrhardt. Mit 2 Karten. Staßfurt, R. Weicke, 1907. gr. 8. III—-63 SS. 
M. 2,25. 

Pribram, Karl, Geschichte der österreichischen Gewerbepolitik von 1740—1860. 
Auf Grund der Akten. 1. Bd. 1740—1798. Leipzig, Duncker & Humblot, 1907. gr. 8. 
XIX—614 SS. M. 14.—. 

Strecker, Karl, Hilfsbuch für die Elektrotechnik. Unter Mitwirkung namhafter 
Fachgenossen bearbeitet und herausgegeben. 7. umgearb. u. verm. Aufl. Berlin, 
J. Springer, 1907. 8. XII—966—57 SS. mit 675 Figuren. M. 14.—. 

Süvern, Karl (Regierungs-R.), Die künstliche Seide. Ihre Herstellung, Eigen- 
schaften und Verwendung. Unter besonderer Berücksichtigung der Patent-Literatur 
bearbeitet. 2., verm. Aufl. Berlin, J. Springer, 1907. gr. 8. VII—247 SS. mit 
61 Textfiguren und 4 Musterbeilagen. M. 10.—. 


Dumesny, P., et J. Noyer, Industrie chimique des bois. Leurs dérivés et 
extraits industriels. Préface de Fleurant. Paris, Tignot, 1906. 8. fr. 12.—. (Biblio- 
thèque des actualités industrielles. N° 110.) 

Recueil de documents relatifs à Phistoire de l’industrie drapière en Flandre publié 
par Georges Espinas et Henri Pirenne. Tome I. (Académie royale de Belgique. Com- 
mision royale d’histoire.) Bruxelles, Kiessling et C', 1906. 4. XX—694 pag. 

Foster, Frank, Engineering in the United States. London, Sherratt & Hughes, 
1906. 8. 128 pp. 1/.—. 

Hummell, J. J., Textile fabries, eolouring matters, and mordants, methods, &e. 
New and revised edition. London, Cassell, 1906. 8. 5/.—. 

Morison, Theodore, The industrial organisation of an Indian province. London, 
John Murray, 1906. 8. 338 pp. 10/.6. 

Popplewell, Frank, Some modern conditions and recent developments in iron 
and steel production in America. A report. London, Sherratt & Hughes, 1906. 8. 
1/.—. 

Leone, Enr., Il sindacalismo. Palermo, R. Sandron, 1907. 16. 222 pp. 1. 2,50. 
(Biblioteca di scienze sociali e politiche, n° 61.) 

Rossi, Rosario, La solidarietà professionale e la libertà del lavoro. Caltanissetta, 
tip. Ospizio Umberto I, 1906. 8. 174 pp. 1. 3.—. 


6. Handel und Verkehr. 


Acworth, W. M., Grundzüge der Eisenbahnwirtschaftslehre. Aus dem Englischen 
übersetzt nebst einleitendem Vorworte von (Geh. R.) Heinr. Ritter v. Wittek. Wien, 
Manz, 1907. 8. XI—167 SS. M. 2,30. 

Bückling, Gerhard, Die Bozener Märkte bis zum 30jährigen Kriege. Leipzig, 
Duncker & Humblot, 1907. gr. 8. M. 3.—. 

Haass, Fr. (Postinspektor), Die Geschichte des Postwesens vom Altertum bis in 


278 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


die Neuzeit. Volkstümlich dargestellt. Mit 7 Abbildungen. Berlin, Postbuchhandlung 
Kamossa & Remmers (1906). 8. VIII—192 SS. M. 2.—. (Deutsche Postbücherei. 
Bd. 2—4.) 

Terra, Otto de (Eisenbahndirektor a. D.), Alkohol und Verkehrswesen. 4. um- 
gearb. u. erweiterte Aufl. (11. bis 15. Tausend.) Berlin, Mäßigkeits-Verlag, 1906. & 
53 SS. M. 0,60. he 

Foster, William, The English factories in India 1618—1621. A calendar of 
documents in the India Office, British Museum and Public Record Office. Oxford, at 
the Clarendon Press, 1906. 8. XLVII—379 pp. 12/.6. 

Viglezzi, Luciano, Nozioni commerciali. Lodi-Milano, tip. succ. Wilmant, 
1907. 16. 174 pp. l. 2.—. 

7. Finanzwesen. 


Egner, H. (Zollinspektor), und (Rechnungs-R.) K. Schuemacher, Unser Zoll- 
und Steuerwesen. Mit 9 Abbildungen. Stuttgart, E. H. Moritz, 1907. kl. 8. 215 8. 
M. 1,50. (Illustrierte Bibliothek der Rechts- und Staatskunde. Bd. 21.) 

Engel, Moritz v., Die Freihafengebiete in Oesterreich-Ungarn mit anschließender 
Behandlung der Freihafen des Deutschen Reiches und anderer Staaten. Auf Grund 
statistischer Materialien, offizieller Mitteilungen und Berichte. Wien, Manz, 1906. gr. 8. 
VI—140 SS. mit 3 Tafeln und 1 Tabelle. M. 4,70. 

Peters, Max, Schiffahrtsabgaben auf natürlichen Wasserstraßen nach deutschem 
Reichsrecht. Eine Erwiderung auf die Kritik des Professors der Rechte Dr. Otto Mayer 
in Leipzig. Leipzig, Duncker & Humblot, 1907. 8. M. 1,20. 


Barre, André, Les finances bosniaques. Paris, Michaud, 1906. 12. fr. 3,50. 


8. Geld-, Bank-, Kredit- und Versicherungswesen. 

Hainisch, Michael, Die Entstehung des Kapitalzinses, Leipzig und Wien, 
Franz Deuticke, 1907. 8. 112 SS. M. 2,50. 

Hasenkamp, A., Die Geldverfassung und das Notenbankwesen in den Vereinigten 
Staaten. Jena, Gustav Fischer, 1907. 8. IV—213 SS. M. 4.—. 

Heller, Marie, Das Submissionswesen in Deutschland. Jena, Gustav Fischer, 
1907. gr. 8. 97 SS. M. 2,40. 

Jahrbuch für das Versicherungswesen im Deutschen Reiche. 1907. Herausgeg. 
von C. Neumann. Berlin, E. S. Mittler & Sohn, 1907. kl. 8. VII—718 SS. mit 1 Tabelle. 
M. 10.—. 

Katscher, Leopold, Das Problem einer allgemeinen Mutterschaftsversicherung. 
Prag (J. G. Calve) 1906. gr. 8. S. 195—209. M. 0,40. (Sammlung gemeinnütziger 
Vorträge. Herausgeg. vom deutschen Vereine zur Verbreitung gemeinnütziger Kennt- 
nisse in Prag. N’ 339.) 

Kuefstein, Franz Graf, Grundrente und städtische Bodenreform. Eine grund- 
sätzliche Erörterung. Wien, Mayer & Co., 1906. gr. 8. 47 SS. M. 0,80. (Vorträge 
und Abhandlungen, herausgeg. von der Leo-Gesellschaft. 25.) 

Ortloff, Hermann, Die Bekämpfung der Konsumvereine. Der Wahrheit die 
Ehre! Leipzig, Fel. Dietrich, 1907. 8. 55 SS. M. 0,75. (Sozialer Fortschritt. 88—90.) 

Shaw, Bernard, Sozialismus für Millionäre. Deutsch von Gustav Landauer. 
Berlin, Concordia Deutsche Verlags-Anstalt (1907). kl. 8. 63 SS. M. 1.—. 

Siefart, H. (Regierungs-R.), Der Begriff der Erwerbsunfähigkeit auf dem Gebiete 
des Versicherungswesens. 2. unveränderte Aufl. Berlin, Behrend & Co., 1906. gr. 8. 
XXIV—166 SS. M. 3.—. 

Versicherungsschutz. Internationales Informationsblatt für Versicherte. Heraus- 
geber: Hermann Fischer. Redakteur: (Prof.) Karl Rausch. 1. Jahrg. Dezember 1906 
bis November 1907. (Nr. 1. 12 SS.) Wien, J. Eisenstein & Co. 4. M. 10.—. 

Weymann, Konrat (Regierungs-R.), Arbeiterversicherung und Alkoholismus. 
Vortrag. Berlin, Mäßigkeits-Verlag, 1906. 8. 31 SS. M. 0,30. 

Wie kann die Börse mehr der Allgemeinheit dienstbar gemacht werden? Von 
einem Praktiker. Leipzig, Duncker & Humblot, 1907. 8. M. 0,60. 


sociale. La monnaie. Paris, Victor Lecoffre, 1907. 8. V—242 pag. fr. 2.—. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 279 


Tillyard, Frank (barrister-at-Jaw), Banking and negotiable instruments. A 
manual of practical law. Second edition, revised and enlarged. London, Adam and 


Charles Black, 1906. 8. XV—336 pp. 5/.—. 
Paolini, Lu., Manuale per le casse di risparmio ordinarie, Seconda edizione. 
Bologna, N. Zanichelli, 1907. 8. XI—365 pp. 1l 5.—. 


9. Soziale Frage. 

Ortloff, Hermann, Deutsche Konsumgenossenschaften im neuen 
Zentralverband und die Hamburger Großeinkaufsgesellschaft. Leipzig 
(Jäh und Schunke) 1906. 78 SS. 

Der Zweck der vorliegenden Broschüre ist, wie der Verfasser im 
Vorwort bemerkt, die zahlreichen Irrtüner über das Wesen und die 
Zwecke der Konsumvereine aufzuklären. 

In einer im Verhältnis zur Gesamtstärke der Broschüre ziemlich 
umfangreichen Einleitung behandelt Ortloff das Wesen der Erwerbs- 
und Wirtschaftsgenossenschaften. 3 

Nachdem Ortloff weiter die Entstehung und Wirkung der Konsum- 
vereine auf den Kleinhandel geschildert hat, stellt er die Grundzüge 
der statutarischen Konsumvereinsorganisation dar, eine meines Erachtens 
ziemlich überflüssige Arbeit, da die Organisation der Konsumvereine aus 
dem Gesetz sowohl wie aus zahlreichen Darstellungen, wie insbesondere 
aus dem Handbuch für Konsumvereine von Hänschke und Oppermann 
allgemein bekannt ist. 

Im zweiten Abschnitt beschäftigt Ortloff sich mit den Konsum- 
genossenschaftsverbänden. 

Eine kaufmännische Zentrale haben sich die Konsumvereine in der 
Hamburger Engroseinkaufsgesellschaft geschaffen, die bereits mehr als 
20 Mill. M. umsetzt, während die konsumgenossenschaftliche Produktion 
in Deutschland noch vollkommen in den Kinderschuhen steckt. 

In diesem Zusammenhange setzt Ortloff wieder die Grundsätze 
der Konsumvereine auseinander, so den Grundsatz der Barzahlung, des 
Verkaufs zu Tagespreisen, des Bareinkaufs, der politischen Neutralität, 
die aber weit eher in den ersten Abschnitt hineinpassen als an diese 
Stelle. 

Weiter bespricht Ortloff S. 46 ff. unter der Ueberschrift „Konsum- 
genossenschaftsverbände“ die wichtigeren Aenderungen und Neuerungen 
in der Reichsgenossenschaftsgesetzgebung, die ebenfalls nicht in diesem 
Zusammenhang, sondern an eine frühere Stelle gehören. 

Dann endlich auf S. 51 kommt Ortloff auf die Herausdrängung 
der Konsumvereine aus dem Allgemeinen Verband der deutschen Er- 
werbs-- und Wirtschaftsgenossenschaften durch den Verbandsanwalt 
Dr. Crüger zu sprechen. 

Im großen und ganzen teilt die vorliegende Broschüre nur schon 
allgemein bekannte Tatsachen mit, ordnet den Stoff nicht genügend und 
geht auf den heute sehr heftig hin und her wogenden Streit um die 
Konsumvereine nur mit wenigen Bemerkungen ein. Sie erhebt sich bei 
weitem nicht auf diejenige Höhe, auf der sich Reinhold Riehn in seiner 
trefflichen Studie „Das Konsumvereinswesen in Deutschland“, Stuttgart 
und Berlin, 1902, bewegt. 


380 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslande. 


So geht Ortloff nicht ein auf die wichtige Frage der Weiterent- 
wickelung des Konsumvereinswesens und auf die Aufgaben, die ihm nach 
Riehn in der Zukunft bevorstehen, nämlich das Gegengewicht zu bilden 
gegen die Produzentenringe, namentlich auch durch eigene Produktion, 
die in England schon viel weiter fortgeschritten ist. 


J. Wernicke-Berlin. 


Herkner, H. (Prof.), Alkoholismus und Arbeiterfrage. 3. verm. Aufl. Berlin, 
Mäßigkeits-Verlag, 1906. 8. 20 SS. M. 0,20. 

Organisation, Die, der Wohlfahrtspflege. 15. Konferenz der Centralstelle für 
Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen am 7, und 8. Juni 1906 in Nürnberg und Fürth Berlin, 
Car) Heymanns Verlag, 1907. gr. 8. III—75 SS. M. 1,60. 

Siebert (Pfarrer), Leitsätze zur Beantwortung der Frage: „Was kann seitens der 
kirchlichen Organe zur Bekämpfung der Alkoholgefahr in der Gemeinde geschehen?“ 
Berlin, Mäßigkeits-Verlag, 1906. 8. 18 SS. M. 0,30. 

Temme, Gustav (Lehrer), Die Säuglingssterblichkeit in Nordhausen. Ein Beitrag 
zu ihrer Bekämpfung. (Mit einem Vor- und Nachwort von Dr. Kolosser.) Nordhausen 

"(G. Wimmer, 1906). gr. 8. 22 SS. M. 0,30. 

Ursachen, Die, Erscheinungsformen und die Ausbreitung der Verwahrlosung von 
Kindern und Jugendlichen in Oesterreich. Einzeldarstellungen ans allen Teilen Oester- 
reichs, gesammelt von dem vorbereitenden Komitee des Ersten Oesterreichischen Kinder- 
schutzkongresses in Wien, 1907, mit Vorwort und Einleitung von Joseph M. Baer- 
reither. Wien, Manz, 1906. 4. XVI--533 SS. M. 6,80. (Schriften des Ersten Oester- 
reichischen Kınderschutzkongresses in Wien, 1907. Bd. I.) 


Zollinger, F., Probleme der Jugendfürsorge. Zürich, Zürcher & Furrer, 1907. 3. 
M. 2,40. 


Gibb, Spencer J., The problem of boy-work. With preface by the Rev. H. Scott 
Holland. London, Gardner, Darton, 1906. 8. 96 pp. 1/.6. 

Milani, Luciano, Pensieri sulla questione sociale. Bologna, tip. A. Garagnani, 
1906. 16. 29 pp. 

Wattel, H. M. J., Sociologische wandelingen. 2. Wat de vrouwenquaestie is en 
wat ze moet zijn. 73 blz. fl. 0,75. 


10. Gesetzgebung. 


Broecker, Rud. v., Schadenersatz-Ansprüche aus dem Lohnkampf mit beson- 
derer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Reichsgerichts. Hamburg, Schröder & Jeve, 
1906. 8. VI—64 SS. M. 1,50. 

Fuisting, B. (Wirkl. Geh. Ober-Regierungs-R.), Die Preußischen direkten Steuern. 
1. Bd. Kommentar zum Einkommensteuergesetze in der Fassung vom 19. Juni 1906. 
7., vollständig umgearb. Aufl. Berlin, Carl Heymanns Verlag, 1907. gr. 8. XX— 
993 SS. M. 20.—. 

Jacusiel, Kurt (Rechtsanwalt), Kauf und Verkauf. Die wichtigsten Rechts- 
regeln, für den Kaufmannsstand bearbeitet. Berlin, A. W. Hayn’s Erben (1906). 3. 
42 SS. M. 0,90. 

Langgard-Menezes, Rodrigo Octavio de (Prof.), Das Handelsrecht, Wechsel- 
recht, Seerecht und Konkursrecht Brasiliens. Uebersetzt von (Amtsgerichts-R.) Richard 
Bartolomäus. Berlin, R. v. Decker, 1906. Lex.-8. 41 Doppelss. und S. 42. M. 2,50. 
(Die Handelsgesetze des Erdballs. 33.) 

Merzbacher, Sigmund (Justiz-R.), Das Reichsgesetz, betr. die Erwerbs- und 
Wirtschaftsgenossenschaften in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. V. 1898, mit 
Anhang, enthaltend die Ausführungsverordnungen, Musterstatuten ete. 2. gänzlich um- 
gearb. Aufl. München, C. H. Beck, 1907. kl. 8. VIII—366 SS. M. 3.—. 

Olep, Heinrich, Ein neues Weingesetz. Betrachtungen und Vorschläge, nebst 
Anhang: Die Reichs-Weinsteuer, Neustadt a. d. Haardt, D. Meininger, 1907. gr. 8. 
39 SS. M. 1.—. 

Schlegelberger, Franz (Landrichter), Das Landarbeiterrecht. Darstellung des 
privaten und öffentlichen Rechts der Landarbeiter in Preußen. Berlin, Carl Heymanns 
Verlag, 1907. gr. 8. XII—240 SS. M. 5.—. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 281 


Schwarz, Otto Georg (Landrichter), Zivilprozeß-Recht. Ein Hilfsbuch für 
junge Juristen. 4. und 5. Aufl. Berlin, Carl Heymanns Verlag. 1907. gr. 8. X— 
254 SS. M.5.—. 

Silbernagel, Arnold F., Das Verhältnis des bayerischen Landes-Versicherungs- 
rechts zum Reichs-Privatrecht, unter besonderer Berücksichtigung der Immobiliar-Ver- 
sicherung. Heidelberg, vorm. Weiss’sche Universitäts-Buchhandlung, 1907. gr. 8. VII 
—69 SS. M. 1.—. 

Stein, Friedrich (Prof.), Zur Justizreform. Sechs Vorträge. Tübingen, J. C. 
B. Mohr, 1907. 8. 109 SS. M. 2.—. 

Zeitschrift, Leipziger, für Handels-, Konkurs- und Versicherungsrecht, herausgeg. 
von (Reichsgerichts-R.) A. Düringer, (Prof.) E. Jaeger und (Reichsgerichts-R.) H. Könige. 
1. Jahrg. 1907. Nr. 1. München, J. Schweitzers Verlag, 1907. Lex.-8. 80 Sp. M. 2.—. 

Zeitschrift für Jagdrecht, Jagdschutz und Jagdwirtschaft, herausgeg. von A. 
Ebner (Berlin). Jahrg. 1, Heft 1, den 5. Januar 1907. Berlin, Carl Heymanns Ver- 
lag, 1907. Lex.-8. 16 SS. Monatlich zweimal, M. 2,50. A 
: Frost, R., Treatise on the law and practice relating to letters patent for inventions. 

3“ edition. 2 voll. London, Stevens, 1906. 8. 36/.—. 


11. Staats- und Verwaltungsrecht. 


Clauss, Wilhelm, Der Staatsbeamte als Abgeordneter in der Verfassungsent- 
wicklung der deutschen Staaten. Karlsruhe i. B., C. Braunsche Hofbuchdruckerei, 1906. 
8. IX—200 SS. M. 2,80. (Freiburger Abhandlungen aus dem Gebiete des öffent- 
lichen Rechts. Heft IX.) 


Hoffmann, H. Edler v. (Privatdozent), Deutsches Kolonialrecht. Leipzig, 


G. J. Göschen’sche Verlagshandlung, 1907. 8. 150 SS. M. 0,80. (Sammlung Göschen. 
318.) 

Kappelmann (Stadt-R.), Streiflichter aus den Jahresausgaben deutscher Städte. 
Ein Beitrag zur Frage der Belastung der Gemeinden durch die Folgen des Alkoholis- 
mus. Berlin, Mäßigkeits-Verlag, 1906. 8. 24 SS. M. 0,50. (Aus: Alkoholismus.) 

Palus, Pasc., Der Parlamentarismus und seine Zukunft. Berlin, Hermann 
Walther, 1907. gr. 8. 36 SS. M. 0,80. 


Goodnow, Frank G., Les principes du droit administratif aux États-Unis. Tra- 
duction française par A. et Gaston Jèze. Paris, Giard et Brière, 1906. 8. fr. 12.—. 

Lois, Les, organiques des colonies. Tomes I A III. Bruxelles 1906. 8. fr. 60.—. 
(Publications de l’Institut colonial international de Bruxelles. Serie 8.) 

Recouly, Raymond, Le Tsar et la Douma. Paris, Juven, 1906. 12. fr. 3,50. 

Fortoul, José Gil, Historia constitucional de Venezuela. Tomo 1. Berlin, Carl 
Heymann, 1907. 8. XI—570 pp. M. 12.—. 


12. Statistik. 
Deutsches Reich. 
Statistisches Jahrbuch deutscher Städte. Breslau 1906. 
Wir haben bereits vor einem Jahre auf die große Reichhaltigkeit 
dieses Jahrbuchs hingewiesen, welches immer noch zu wenig Beachtung 
findet und in diesem Jahre wieder eine Ergänzung und Erweiterung 


erfahren hat. Wir greifen wieder einzelne Punkte von besonderem 
Interesse heraus. 


So ist es dankenswert, daß für 44 Stadtgemeinden die Größe des 
Grundeigentums innerhalb wie außerhalb des Stadtbezirkes angegeben 
ist und in welcher Weise eine Vereinigung seit dem Vorjahre stattgefunden 
hat. Aus dem Verfolg einer längeren Zeit ist man infolgedessen in der 
Lage festzustellen, wieweit das Bestreben vorliegt, eine Erweiterung des 
Grundbesitzes durchzuführen, um damit ev. dem Bodenwucher entgegen- 
zutreten und der städtischen Verwaltung für ihre Zwecke Grund und 


982 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Boden zu reservieren, um nicht zu sehr durch die Preisentwickelung 
beeinträchtigt zu sein. Die Verschiedenheit der Ausdehnung des Be- 
sitzes ist vielfach sehr auffallend. Wenn eine große Stadt wie Berlin 
innerhalb des Stadtbezirks (stets exkl. der Straßenflächen) nur 485 Hektar 
besitzt, so ist das außerordentlich wenig, besonders wenn man dem 
gegenüberstellt, daß für Frankfurt a/M. 4189 notiert sind, für Mannheim 
3026, Straßburg 3803, Darmstadt 1735, Freiburg i/B. dagegen nur 53, 
Potsdam 73 u. s. w. Außerhalb. des Stadtbezirks besitzt Görlitz nicht 
weniger als 30911 Hektar, Berlin 14173; dort sind es wohl hauptsächlich 
Waldungen, hier Rieselfelder. Die übrigen in Betracht kommenden 
Städte stehen erheblich nach, Breslau und Stettin mit über 4000, Frei- 
burg mit 3200, Danzig 2800, bis herab auf Duisburg, welches gar 
keinen Grundbesitz außerhalb des Stadtbezirks aufzuweisen hat. 

Von Interesse ist die Untersuchung über die Ausdehnung der Pro- 
duktivgenossenschaften im Jahre 1902 in den betreffenden Städten von 
dem Direktor des Statistischen Amts der Stadt München, Pröbst. Es 
sind 143 konstatiert, wobei allerdings der Begriff etwas weit gefaßt ist 
und vor allem Konsumvereine mit eigenem Gewerbebetriebe, dann 
Genossenschaftsmolkereien mit einbegriffen sind; ebenso Ein- und Ver- 
kaufsgenossenschaften, Milchverwertungsgenossenschaften etc., welche 
nicht eine vollständige Produktion umfassen, sondern nur eine bestimmte 
Tätigkeit, 42 Genossenschaften betreffen allein die Molkerei, Meierei 
und Milchhandel. Die Zahlen ergeben, daß sich hier noch eine ganze 
Anzahl Genossenschaften mit Handwerksbetrieb vorfinden, wie 13 Bäckereien 
11 Tischlereien, ebensoviel Druckereien, 6 Schneiderassociationen, während 
Schuhmachereien nur zweimal vertreten sind, eine Tabakfarik, eine Buch- 
binderei, eine Uhrmachergenossenschaft u. s. w. Die meisten sind’neuesten 
Datums, doch findet sich eine genossenschaftliche Bäckermühle von 1875, 
eine niederrheinische Webeunion aus dem Jahre 1874; die Hamburger 
allgemeine deutsche Schiffszimmergenossenschaft stammt ebenso wie die 
Vereinsbuchdruckerei zu Hannover noch aus den siebziger Jahren und 
bei einer Anzahl sind die angegebenen Geschäftsergebnisse durchaus 
zufriedenstellende. 

Beachtung verdient der Abschnitt „Arbeitsnachweis und Arbeits- 
losigkeit* von Dr. Feig in Düsseldorf. Es sind für 2 Jahre, getrennt 
für männliche und weibliche Individuen, pro Monat die Stellenbesetzung 
und die offenen Stellen den Stellenbewerbern gegenüberstellt, so daß man 
hier eine gute Uebersicht über den Grad der Arbeitslosigkeit in den 
verschiedenen Städten erhält. Auffallend ist es, wie in einzelnen Städten 
die Frauen gegenüber den Männern eine nur untergeordnete Rolle 
spielen, während wiederum in einzelnen, z. B. in Breslau, die Zahl 
der berücksichtigten Frauen weit größer ist als die der Männer. Wir 
bedauern, daß man nicht den Versuch gemacht hat, Durchschnittszahlen 
aus den ganzen Summen zu ziehen, was manche brauchbare Ergebnisse 
geliefert haben würde. 

Versuche mit Arbeitslosenversicherung sind in Köln schon seit 
1896 gemacht, wo die Stadt sie selbst in die Hand genommen hat, 
während in Leipzig sich 1903 ein Arbeitslosen-Versicherungs-Verein 
bildete, der von der Stadt keine finanzielle Beihilfe erhält, sondern ihm nur 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 283 


Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt sind. Nach seiner Auflösung 
im Jahre 1904 ist eine neue Arbeitslosenversicherungskasse aufgetaucht, 
die ihre Tätigkeit am 1. Januar 1905 begonnen hat. In München ist 
eine entsprechende Gemeindekasse zu gründen geplant. 

Sehr wichtig sind die Zusammenstellungen der Gemeindesteuern vom 
Direktor des Statistischen Amts in Chemnitz, H. Schöbel, und über 
das städtische Schuldenwesen vom Direktor des Statistischen Amts in 
Essen, Dr. Wiedfeld. 

Nach der Steueıleistung sind 6 Gruppen geschieden: in 2 Städten, 
Frankfurt a/M. und Wiesbaden, beträgt sie mehr als 40 M. pro Kopf, 
iu 4 Städten zwischen 35 und 40 M. (Charlottenburg, Elberfeld, Stutt- 
gart, Mainz), in 10 Städten, darunter Berlin, zahlt man zwischen 30 und 
35, in 16 zwischen 25 und 30, in 13 zwischen 20 und 25; bei den 
übrigen blieb die Steuerleistung unter 20 M. Nur bei 3 elsaß-loth- 
ringischen Städten wird ein sehr bedeutender Teil (18—20 M.) durch 
Verbrauchssteuern aufgebracht, die übrigen bleiben unter 8M. und die 
Städte, welche nur eine Verbrauchsabgabe von Bier erheben, und das 
sind die meisten, weniger als 1 M. 

Die Verschuldung hat auch in dem letzten Jahre nicht unbedeutend 


zugenommen, doch findet sich eine Verminderung bei 9 Städten. 
J. C. 


Statistik des Deutschen Reichs. Herausgeg. vom Kaiserlichen Statistischen Amt. 
169. Bd. Kriminalstatistik für das Jahr 1904. Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht, 
1806. Imp.-4. IV—16—129—423 SS. mit 7 farbigen Tafeln. M. 10.—. 

Statistik der landwirtschaftlichen und zweckverwandten Unterrichts-Anstalten 
Preußens für die Jahre 1903, 1904 und 1905. Bearb. im Kgl. Preuß. Ministerium für 
Landwirtschaft, Domänen und Forsten. Berlin, Paul Parey, 1906. gr. 8. XXII—485 SS. 
M. 12.—.  (Landwirtschaftliche Jahrbücher. Bd. XXXV. Ergänzungsbd. V.) 

Beiträge zur Statistik des Großherzogtums Hessen. Herausgeg. von der Groß- 
herzoglichen Zentralstelle für die Landesstatistik. 54. Bd. 3. Heft. Mitteilungen aus 
der Forst- und Kameralverwaltung des Großherzogtums Hessen für die Jahre 1900,01 
und 1901/02. Darmstadt, G. Jonghaus, 1906. Lex.-8. VIII—70 SS. mit Figuren. 
M. 1,40. 

Oesterreich-Ungarn. 

Nachrichten über Industrie, Handel und Verkehr aus dem k. k. Handels- 
ministerium. 87. Bd. I. u. II. Heft. Statistik des österreichischen Post- und Tele- 
graphenwesens im Jahre 1905. Wien, Hof- und Staatsdruckerei, 1906. Lex.-8. X— 
123 SS. M. 5.—. 

Statistik, Oesterreichische. Herausgeg. von der k. k. Statistischen Zentral- 
kommission. LXXX. Bd. 1. Heft. Statistik der Sparkassen in den im Reichsrate ver- 
tretenen Königreichen und Ländern für das Jahr 1904. Wien, Karl Gerold’s Sohn, 
1906. gr. 4. I—LIV—75 SS. M. 4.—. 


Schweiz. 


Statistik, Schweizerische. Herausgeg. vom Statistischen Bureau des eidg. De- 
partements des Innern. 154. Lieferung. Ergebnisse der eidg. Betriebszählung vom 
9. August 1905. Bd. 1. Die Betriebe und die Zahl der darin beschäftigten Personen. 
Heft 1. Kanton Zürich. Bern, A. Francke, 1906. 4. XX—246 SS. fr. 2,50. 


13. Verschiedenes. 

Pometta, Daniele, Sanitäre Einrichtungen und ärztliche Er- 
fabrungen beim Bau des Simplontunnels 1898—1906. Nordseite Brig. 
Winterthur 1906. Diss. von Lausanne. 8%. 94 SS. 4 Tafeln. 

Verf. gibt erst allgemeine Nachrichten über den Tunnel, schildert 


284 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


dann die Arbeiter selbst, macht uns mit den Wohnungsverhältnissen 
bekannt, fügt eine kurze Beschreibung der sozial-wirtschaftlichen Ver- 
hältnisse hinzu und gibt einen Bericht über das Leben im Tunnel, die 
sanitären Einrichtungen, die aufgetretenen Krankheiten, Unfälle u. s. w. 

Wenn auch außerordentlich viel zur Sicherung der Gesundheit der 
Arbeiter getan wurde und sowohl in der Verteilung der Arbeit wie 
auch in der Anlage sanitärer Anstalten die Unternehmung alles, was 
bis jetzt in dieser Beziehung geleistet wurde, übertroffen hat, so zwingt 
doch die Erfahrung zur Aufstellung einiger Thesen allgemeiner Natur 
für Einrichtungen, welche Verf. für zukünftige große Unternehmungen 
für notwendig hält. 

Die Behörden einer Ortschaft, wo derartige Unternehmungen aus- 
geführt werden, sollten bereits vor Beginn der Arbeit gesetzliche Vor- 
schriften über Bau und Anlage der Arbeiterbaracken erlassen. 

Keine Baubaracke darf bewohnt werden, bevor die Untersuchung 
ergeben hat, daß dieselbe in hygienischer Beziehung als zulässig erklärt 
werden kann. Dabei sollen die Abtritteinrichtungen besonders berück- 
sichtigt werden, und die Entleerung derselben polizeilichen Vorschriften 
unterstehen. 

Notwendig ist eine Kontrolle, ob die Zahl der Pensionäre in den 
Pensionen nicht diejenige der Betten übersteigt, damit jeder Arbeiter 
sein eigenes Schlaflager hat. 

Ferner richte man das Augenmerk auf einwandfreies Trinkwasser, 
auf die öffentlichen Waschhäuser und sorge für die Beschränkung der 
Zahl der Wirtschaften. 

Dagegen ist eine Einrichtung von Versammlungslokalen für die 
Arbeiter zur Unterhaltung, zum Lesen u. s. w. ohne Trinkgelegenheit 
zu treffen. 

Ertordert muß die Anzeige bez. auch Spitalaufenthalt bei jeder 
tieberhaften oder infektiösen Erkrankung werden; in ähnlicher Weise 
müssen Krankenbetten für Frauen und Räume für Geburten geschaffen 
werden. 

Neben diesen Bestimmungen allgemeiner Natur müssen natürlich 
die besonderen, durch die Art der Arbeit selbst bedingten Einrich- 
tungen eingeführt werden, und zwar sind dieselben bereits mit der 
Projektaufstellung in Aufsicht zu nehmen. 

Da neben solchen großen Unternehmungen stets kleinere entstehen, 
so soll man nicht unterlassen, die Lage der Arbeiter bei Krankheits- 
fällen auch diesen gegenüber festzustellen. 

Ausführliche Statistiken finden sich vor. 

Die Tafeln enthalten Pläne und Risse vom Krankenhaus, von Ar- 
beiterwohnhäusern, Arbeiterherbergen und Kantinen. 


E. Roth, Halle a. S. 


Bedeutung, Die soziale, des Rettungswesens. Im Auftrage des Aerztevereins 
der Berliner Rettungsgesellschaft herausgeg. von (Sanitäts-R.) S. Alexander und (Prof.) 
George Meyer. Berlin, A. Hirschwald, 1906. gr. 8 XI—218 SS. M. 5.—. 

Friedrich III., des Kaisers und Königs, Briefe, Reden und Erlasse. Gesammelt 
und erläutert von (Ilausarehivar) G. Schuster. Berlin, Vossische Buchh., 1907. gr. 8. 
IX—386 SS. mit Bildnis. M. 4,50. 

Martin, Rudolf, Berlin—Bagdad. Das deutsche Weltreich im Zeitalter der 


Die periodische Presse des Auslandes. 285 


Luftschiffahrt 1910—1931. Erstes bis zehntes Tausend. Stuttgart und Leipzig, Deutsche 
Verlags-Anstalt, 1907. gr. 8. 160 SS. M. 2,50. 

Wolf, Gustav, Bismarcks Lehrjahre. Leipzig, Dieterich, 1907. gr. 8. 376 SS. 
M. 8.—. 


Mackenzie, W. Leslie, The health of the school child. London, Methuen, 
1606. 8. 128 pp. 2/.6. : 

Giuffrè, L. (Prof.), La medicina sociale e le malattie del lavoro. Palermo, 
R. Sandron, 1906. 16. 26 pp. 


Die periodische Presse des Auslandes. 


A. Frankreich. 

Journal de la Société de Statistique de Paris. 47° année, 1906, N° 12, Décembre: 
Rapport au Ministre du travail et de la prévoyance sociale sur le mouvement de la 
population de la France en 1905, par Arthur Fontaine. — Résultats statistiques du 
recensement de la population effectué le 24 mars 1901, par E. Levasseur. [Suite 
et fin.] — Chronique des questions ouvrières et des assurances sur la vie, par Maurice 


Bellom. — ete. 
Revue internationale de Sociologie. 14° Année, 1906, N° 7, Juillet: L’&volution 


de la dot, par A. Wechsler. — La famille et la patrie devant la philosophie, par 
Gabriel Prévost. [Suite et fin.] — ete. — N° 8—9, Aoüt—September: Portugal: Les 
femmes portugaises, par Anna de Castro Osorio. — ete. — N° 10, Octobre: La con- 
science sociologique, par A. Chide. — Portugal: Les femmes portugaises, par Anna de 
Castro Osorio. [Suite et fin.] — ete. — N° 11, Novembre: Les Niam-Niam, par Enrico 
Craffen et Edoardo Colombo. — Allemagne: Le socialisme en Allemagne, par Robert 
Michels. — etc. 


B. England. 


Century, The Nineteenth, and after. N° 359, January 1907: The evolution of 
the income-tax, by (Member of the Select Committee) George McCrae. — ‘A temperance 
town’, by E. N. Bennett. — Agricultural education in the United Kingdom, by John 
C. Medd. — ‘Window dressing’ in the money market, by Hartley Withers. — ete. 

Journal, The Economic. N° 64, December, 1906: The “Beef Trust” and the 
United States Government, by Francis Walker. — Industrial organisation in the worsted 
and woollen industries of Yorkshire, by (Prof.) J. H. Clapham. — The remuneration 
of employers, by (Prof.) S. J. Chapman. — The theory of incipient taxes, by C. F. 
Bickerdike. — Cheap railway tickets for workmen in Belgium, by (Prof.) Ernest Ma- 
haim. — etc. 

Journal of the Royal Statistical Society. Vol. LXIX, Part 4, 31* December, 
1906: The electoral “Swing of the pendulum”, presidential address by Sir Richard 
Biddulph Martin. — Estimates of the renlisable wealth of the United Kingdom, based 
mostly on the estate duty returns, by William J. Harris and Kenneth A. Lake. — etc. 

Review, The Contemporary. N° 493, January, 1907: Christian missions and the 
eivil power in China, by P. J. Maclagan. — Peasant insurrections, 1381 and 1525, by 
Richard Heath. — The Education Bill and after, by T. J. Macnamara. — etc. 

Review, The National. N° 287, January 1907: The risks of the Channel Tun- 
nel, by Ignotus. — Mr. Alfred Deakin, Premier of the Australian Commonwealth, by 
Maxwell H. H. Macartney. — Rural education, by Algernon Turnor. — German finance 
in Turkey, by Constantinople. — Practical temperance reform, by Thos. P. Whittaker. 
— ete. — Special Supplement: The Separatist conspiracy in Ireland, by Pactum Serva. 


C. Oesterreich. 

Handels-Museum, Das. Herausgeg. vom k. k. österr. Handels-Museum. Bd. 21, 
1906, N" 52: Internationale Verhältnisse in der Textilindustrie, von S. — ete. — Bd. 22, 
1907, N! 1: Ungünstige Wirkung des spanischen Schutzzollsystemes. — Kanadische 
Handelspolitik. — ete. — N’ 2: Das österreichisch-ungarische Settlement in Tientsin. 


— etc. 


286 Die periodische Presse des Auslandes. 


Mitteilungen des k. k. Finanzministerinms. Redigiert im Präsidialbureau des 
k. k. Finanzministeriums. Jahrg. XII, 1906, Heft 2, ausgegeb. im November 1906: Die 
Kosten des Umlaufes von Goldmünzen und von Noten. — Die Stempelwertzeichenmaterial- 
und Stempelsignatursgebarung im Jahre 1904. — Statistik für die Rentensteuer für das 
Jahr 1904. — Die Ergebnisse der Veranlagung der Personaleinkommensteuer und Be- 
soldungssteuer für das Jahr 1905. — ete. 

Monatschrift, Statistische. Herausgeg. von der k. k. Statistischen Zentral- 
Kommission. Neue Folge. XI. Jahrg. Ergänzungsheft zum Juli-August-Heft: Die Ver- 
mögenssteuer in Vorarlberg, von Raoul Braun v. Fernwald. — Oesterreichs Banken 
i. J. 1905, von A. K. Löwe. — Rußlands Ernte i. J. 1905, von v. Prüger. — ete. 


F. Italien. 
Giornale degli Economisti. Settembre 1906: Curve piane di offerta dei prodotti, 


di Umberto Ricci. — Protezionismo marittimo e credito navale in Italia, di Vincenzo 
Giuffrida. [Continuazione.] — Statistiche agrarie. Studio di metodologia statistica, di E. 
Fornasari di Verce. — La dottrina dell’ egoismo di H. Spencer come interpretazione 


dell’ economia politica e delle forme storiche degli istituti industriali, di Emilio Cossa. 
[Continuazione.] — ete. 


G. Holland. 

Economist, De, opgericht door J. L. de Bruyn Kops. LV* jaarg., 1906, October: 
De economische en sociale beteekenis van het collectief arbeidscontract, door H. J. Tas- 
man, — De drinkwatervoorziening voor Amsterdam, door Reinier D. Verbeek. — ete. 
November: De invloed van bouwverordeningen op de prijzen van woningen en van 
bouwterreinen, door Ant. van Gijn. — Post-cheque- en girobank, door G. de Bosch 
Kemper. — ete. — December: Ministerpensioenen, door (Prof.) P. van Geer. — De 
herziening der bankwet in de Vereenigde Staten, door G. M. Boisseyain. — ete. 


H. Schweiz. 


Monatsschrift für christliche Sozialreform. Jahrg. 28, Dezember 1906: Streiks, 
Schiedsgerichte und Berufsgenossenschaften, von A. Joos (Basel). — Die soziale Käufer- 


liga der Schweiz, von (Prof.) Speiser (Freiburg, Schweiz). — Die Organisation des Klein- 
gewerbes in Oesterreich, von Friedrich St. Guschlbauer (Wien). — Die Streikversiche- 
rungen der Arbeitgeber in Deutschland, von Verus (Berlin). — Ans einem Arbeiterhaus- 


halt, von Jakob Lorenz (Rorschach). — ete. 

Zeitschrift für Schweizerische Statistik. Jahrg. 42, 1906, Lieferung 2: Die Ver- 
breitung der Tuberkulose in der Stadt Basel, mit besonderer Berücksichtigung der Woh- 
nungsverhältnisse, von M. Burckhardt (Basel). — Die Wohnbevölkerung des Kantons Grau- 
bünden, der Bezirke, Kreise und Gemeinden desselben bei den eidgenössischen Volks- 
zählungen 1850—1900, von (Kantonsarchivar) S. Meisser (Chur). — ete. — Lieferung 3: 
Ein kleiner Beitrag zur Statistik von Krankenunterstützungskassen, von Rud. Morf (Zürich). 
— Die appenzellischen Krankenversicherungsverbände, von (Spitalarzt) P. Wiesmann 


(Herisau). — Die Industrie- und Arbeitsverhältnisse Japans, von Gustav Lippert. — etc. 
— Lieferung 4: Beitrag zur Kenntnis der schweizerischen Eisenproduktion, von Oskar 
Hedinger (Aurau). — Die Intensität der Sterblichkeit und die Intensitätsfunktion, von 


(Prof.) Chr. Moser (Bern). — Der Einfluß der Lungentuberkulose auf die Absterbeord- 
nung der schweizerischen Bevölkerung, 1881 bis 1558, von H. Steiner-Stooss (Bern). — 
Zur mathematischen Theorie der Invaliditätsversicherung, von G. Schaertlin (Zürich). — 
ete. — Lieferung 5: Die kantonale Besteuerung der Aktiengesellschaften in der Schweiz, 
von Wilhelm Gerloff. — Die Wirkung der Zinsfußermäßigung auf Rentensätze, von Carl 
Dizler (Stuttgart). — ete. 


J. Belgien. 

Revue Économique internationale. 3° Année, 1906, Vol. IV, N. 3, Décembre: 
Les relations franco-allemandes, par René Millet. — La Banque de l’Empire allemand, 
par Louis Katzenstein. — De l’ame&lioration du crédit espagnol de 1898 à 1906, par 
François Lefort. — Le développement des voies de communication en Australie, par 
E. Cammaerts. — Le système monétaire des colonies françaises et des pays soumis au 
protectorat francais, par le Comte Pierre de Köratry. — Le transfert de Ja souveraineté 
congolaise, par René Vauthier. — ete. 


En nenn 


—on 


Die periodische Presse Deutschlands. 287 


M. Amerika. 

Bulletin of the Bureau of Labor. (Washington.) N° 65, July, 1906: Wages and 
hours of labor in manufacturing industries, 1890 to 1905. — Retail prices of food, 
1590 to 1905. — Digest of recent reports of State bureaus of labor statistics: Penn- 
sylvania, Rhode Island. — ete. — N° 66, September, 1906: Third report of the Com- 


missioner of Labor on Hawaii. — The Chinese question. — The board of immigration. 
— Resident labor. — Small farming. — The field of employment. — The cost of 
living. — Benefit societies. — Trade unions. — Strikes. — Japanese immigration. — etc, 


Political Science Quarterly. Edited by the faculty of political science of 
Columbia University. Vol. XXI, Number 4, December, 1906: The Russian peasant 
and autocracy by Vladimir G. Simkhovitch. — The housing problem in San Francisco, 
by Edward T. Devine. — A gold standard for the Straits Settlements, II, by E. W. 
Kemmerer. — ete. . 

Publications, Quarterly, of the American Statistical Association. New series, 
N° 75, September, 1906: Death-rate of the United States in 1900, by Walter F. Willcox. 
— Methods of dealing with birth-rate statistics, edited by Carroll W. Doten. 


Die periodische Presse Deutschlands. 


Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirt- 
schaft, Jahrg. 39, 1906, N" 12: Die Entstehung eines Riesenvermögens, von Oskar 
Stillich. — Die Bestimmungen des § 126b der Reichsgewerbeordnung in Rücksicht 
auf das Lehrverhältnis zwischen Haussohn und dem die elterliche Gewalt ausübenden 
Vater, von (Handelskammersekretär) Julius Werkmeister. — etc. 

Blätter, Volkswirtschaftliche. Jahrg. VI, 1907, N’ 1: Die volkswirtschaftliche 
Wissenschaft in ihrer Stellung zur Praxis, von Flechtner und (Prof.) Wagner. — Ueber 
Beamtenvorbildung und Wirtschaftsleben von (Prof.) von Halle. — Das landwirtschaft- 
liche Unterrichtswesen in Deutschland, von Jenne. — ete. — N" 2: Der Städtestatistiker, 
von (Direktor des Statist. Amtes) Sigmund Schott (Mannheim). — Der räumliche Ausbau 
der Kommunalstatistik, von (Adjunkt des Statist. Amtes) Hellmuth Wolff (Zürich). — 
Aufgaben der Lohnstatistik von (Direktor des Statist. Amts) Otto Landsberg (Magde- 
burg). — Die Bezeichnung des Viebbesatzes durch Großviehzablen, von G. Stieger 
(Berlin). — ete. 

Export. Jahrg. XXIX, 1907, N" 1: Die Lage in Deutschland. — Die Bedeutung 
der amerikanischen Wahlen, von Carl Mencke. — Die Kapitalienflucht aus Brasilien, 
von Carl Bolle. — ete. — N’2 und 3: Die Geschichte der französischen Kolonisation in 
Algier, von Henri Froidevaux. — Die Bedeutung der amerikanischen Wahlen, von Carl 
Mencke. [Schluß.] — Kinderarbeit in den Glashütten. — Das Wirtschaftsjahr 1906. 
— ete. 

Handels-Museum, Deutsches. Organ des Bundes der Kaufleute, herausgeg. 
von Vosberg-Rekow. Jahrg. 3, 1906, N" 12: Kartell und Kleinhandel, von J. H. Hei- 
derich. [Schluß.] — Schwindelausverkäufe. — ete. 

Jahrbücher, Landwirtschaftliche. Bd. XXXV, 1906, Heft 6: Untersuchungen 
über das Auswintern des Getreides, von (Landesökonomie-R.) Buhlert (Oldenburg). — 
Arbeiten der agrikultur-chemischen Versuchsstation Halle a. S. — Ueber den Einfluß 
verschieden hohen Wassergehalts des Bodens in den einzelnen Vegetationsstadien bei 
Teac Nährstoffreichtum auf die Entwicklung der Haferpflanze, von Heinrich 
ünger. — 

Jahrbücher, Preußische. Bd. 127, Heft 1, Januar 1907: Die soziale Unruhe 
der modernen Juden, von Kurt Alexander (Berlin). — Das britische Reich und die 
Kolonialfrage, von Charles Sarolea (Edinburg). — Ein Botschafter und Professor, von 
Emil Daniels (Berlin). — etc. 

Industrie-Zeitung, Deutsche. Jahrg. XXVI, 1907, N’ 1: Bestrebungen zur 
Förderung des franko-britischen Handelsverkehrs. — Einfuhr von Metallen und Metall- 
waren über Schanghai 1905. — ete. — N' 2: Der Tarifvertrag, von Arnold Steinmann- 
Bucher. — Rheinisch-westfälisches Kohlen-Syndikat in Essen. -— ete. — N' 3: Der 
Kanaltunnel zwischen England und Frankreich, von Otto Ballerstedt. — Fünfzig Jahre 
deutschen Industrielebens. — etc. 


288 Die periodische Presse Deutschlands. 


Mitteilungen des Handelsvertragsvereins. (Jahrg. 6.) 1907, N" 1: Zur Fleischnot. 
— Die Novelle zum Börsengesetz, von Max Nitzsche. — ete. — N'’2: Der Schutz der 
„nationalen Arbeit“ in Deutschland, von Max Nitzsche. — Deutschland, England, Amerika, 
von Borgius. — etc. 

Monats-Hefte, Sozialistische. Jahrg. XIII, 1907, Heft 1, Januar: Der sozial- 
politische Kurs und die Reichstagswahl, von Adolph von Elm. — Arbeiterausschüsse 
als Arbeitervertretungen, von Otto Hue. — Städtische Lebensmittelverteuerer, von Max 
Schippel. — Die Vertragspolitik der Gewerkschaften, von Robert Schmidt. — Ueber 
den Menschen Elisée Reclus, von Louis de Brouckère. — Der Sozialismus in Argen- 
tinien, von Manuel Ugarte. — etc, 

Oekonomist, Der Deutsche. Jahrg. XXV, 1907, N’ 1254: Zum heutigen Stande 
der Kartellbewegung. — Deutschlands Außenhandel im Lichte der Handelskammer- 
berichte von Hamburg und Bremen. — Die Sparkassen in Preußen. — ete. — N" 1255: 
Die Reform des Börsengesetzes. — Die Gründungen von Aktiengesellschaften im Jahre 
1906. — ete. — N" 1256: Die deutschen Emissionen im Jahre 1906. — etc. 

Plutus. Jahrg. 4, 1907, Heft 1: Ein Statistiker der Reformationszeit, von H. Friede- 
mann (Berlin). — Wie liest man eine Versicherungsbilanz? Von Louis Leopold (Berlin). 
— ete. — Heft 2: 1906, von F. S. Omar (Wien). — Wie liest man eine Versicherungs- 
bilanz? Von Louis Leopold (Berlin). [Fortsetzung.] — ete. — Heft 3: Wie liest man 
eine Versicherungsbilanz? Von Louis Leopold (Berlin). — Wissenschaft und Praxis, 
von Alfons Goldschmidt (Charlottenburg). — etc. 

tevue, Deutsche. Jahrg. 32, 1907, Januar: Der Aufstand in Deutsch-Südwest- 
afrika und die Schutzverträge, von (Generalmajor a. D.) Leutwein. — ete. 

Wirtschafts-Zeitung, Deutsche. Jahrg. III, 1907, N’ 1 und 2: Recht und 
Volkswirtschaft im Bildungsgange der höheren Verwaltungsbeamten, von (Prof.) Stier- 
Somlo (Bonn). — Der Entwurf eines Reichsgesetzes betreffend die Sieherung der Bau- 
forderungen, von (Justiz-R.) Felix Kaufmann (Berlin). — Die Bücherproduktion in 
Deutschland und ihre wirtschaftliche Bedeutung, von A. Elster (Jena). — ete. 

Zeit, Die Neue. Jahrg. 25, N' 13: Zur Lage der Postbeamten, von Robert Zieme. 
— Die Mißwirtschaft der Vertrauensärzte, von Ludwig Radloff. — ete. — N” 14: Zur 
Reform der Arbeiterversicherung, von Otto Braun. — Der erste internationale Kongreß 
zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, von Robert Michels. — ete. — N’ 15: Das Zwei- 
parteiensystem in den Vereinigten Staaten, von Robert Saltiel (Chicago). — ete. — 
N’ 16: Mathematische Formeln gegen Karl Marx, von L. B. Boudin (New York). — 
Ueber britischen Imperialismus, von Otto Bauer. — ete. 

Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Koionialwirtschaft. Herausgeg. 
von der Deutschen Kolonialgesellschaft. Jahrg. VIII, Heft 12, Dezember 1906: Die 
Unternehmungen des Kolonial-Wirtschaftlichen Komitees zur Nutzbarmachung unserer 
Kolonien, von Moritz Schanz. — Die Sozialpolitik der Niederländer in Ostindien, von 
Erich Prager. — Russische Kolonialpolitik, van (Oberregierungs-R.) W. Jacobi (Königs- 
berg). — Die Lastenbeförderungsmittel in Afrika, von D. Kürchhoff. — Landwirtschaft 
und Viehzucht am Kongo, von J. Wiese. — Koloniale Erfolge, ihre Ursachen und Wir- 
kungen , von R. Hennings. — Die Produktionsfühigkeit der Böden trockener Gebiete, 
von (Oekonomie-R.) Oetken (Oldenburg). — etc. 


Bemerkung der Redaktion. 


Auf unsere Bitte hat Herr Prof. Dr. Andreas Voigt eine uns 
eingereichte ausführliche Entgegnung auf den Literaturbericht des Herrn 
Prof. Fuchs S. 806 ff. des vorigen Bandes, deren Abdruck uns zu 
weit zu führen schien, zurückgezogen. Seinem Wunsche gemäß machen 
wir aber darauf aufmerksam, daß eine eingehende Erwiderung von ihm 
in dem Februarheft der „Kritischen Blätter“ erscheinen wird. 


Frommannsche Buchdruckerei (Hermann Pohle) in Jena. 


ne e 


KarlSeutemann, Statistik der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reiche. 289 


IV 


Der Stand der Statistik der Bevölkerungs- 

bewegung im Deutschen Reiche und die 

Hauptzüge der Bevölkerungsentwickelung 
in den letzten 15 Jahren. 


Von 


Dr. Karl Seutemann. 


Seit dem Jahre 1901 hat das Statistische Amt des Deut- 
schen Reichs laut Bundesratsbeschluß vom 6. Dezember 1900 
seine Statistik der Bevölkerungsbewegung durch Heranziehung wei- 
terer statistischer Materialien aus den Bundesstaaten bedeutend 
erweitert. Während bis dahin lediglich Nachweise über die Gesamt- 
zahl der Eheschließungen, über die Geborenen nach Geschlecht, 
Vitalität und Legitimität und über die Gesamtzahl der männlichen 
und weiblichen Gestorbenen zu liefern waren, sind jetzt auch die 
Altersverhältnisse, die bisherigen Familienstands- und die Religions- 
verhältnisse der Eheschließenden, die Mehrlingsgeburten in mehr- 
facher Unterscheidung und namentlich auch die Altersverhältnisse 
der Gestorbenen an das Reichsamt mitzuteilen. Eine Gliederung 
nach Kalendermonaten wird für die schon früher üblichen Hauptnach- 
weise verlangt; für diese ist auch die territoriale Gliederung am 
weitgehendsten, sie geht bis auf die preußischen und bayerischen 
Regierungsbezirke, die sächsischen Kreishauptmannschaften u. s. w. 
hinunter. Bei den neueren Nachweisen findet nur eine Gliederung 
nach Provinzen statt. Diese geographische Beschränkung würde 
man bei der Alterstabelle der Gestorbenen (Kindersterblichkeit!) 
kaum verstehen und billigen können. wenn nicht im Jahre 1904 für 
die deutsche Sterblichkeits- und Todesursachenstatistik im Reichs- 
gesundheitsamte neue Grundlagen geschaffen worden wären. 
Es ist nämlich von diesem Reichsamte nach eingehenden Beratungen 
ein einheitliches deutsches Todesursachenverzeichnis ausgearbeitet 
worden, dessen richtige Anwendung durch ein sehr ausführliches 
alphabetisches Verzeichnis der vorkommenden Krankheits- und Todes- 
ursachenbenennungen gesichert ist. Während das Kaiserliche Ge- 
sundheitsamt bisher nur Nachrichten über einige wichtige Todes- 

Dritte Folge Bd. XXXII (XXXVIII). 19 


290 Karl Seutemann, 


ursachen in den Städten mit über 15000 Einwohnern publizieren 
konnte, verfügt es jetzt über regelmäßige Nachweise über die Ge- 
storbenen nach Alter und Todesursachen unter weitgehendster terri- 
torialer Gliederung. 

Man findet jetzt also die Ergebnisse der Statistik der Bevölke- 
rungsbewegung für das Deutsche Reich bequem an zwei Stellen 
beisammen. Die vom Kaiserlichen Statistischen Amt bearbeitete 
Statistik wird regelmäßig jährlich in Verbindung mit internationalen 
Uebersichten publiziert in den Vierteljahresheften zur Statistik des 
Deutschen Reichs (zuletzt für 1904 im 1. Heft des 15. Jahrg. 1906) 
und auszugsweise im Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich. 
Die Resultate bis 1890 sind zusammengefaßt im 150. Bande der 
Statistik des Deutschen Reichs (Volkszählungsband) !). Die genauere 
Sterblichkeits- und Todesursachenstatistik muß man in den Ver- 
öffentlichungen des Kaiserlichen Statistischen Amts suchen; viel- 
leicht wird sie aber auch in den Bänden des Kaiserlichen Stati- 
stischen Amts veröffentlicht. Bisher ist noch nichts davon erschienen. 
Welcher Fortschritt ist das gegenüber früheren Jahren, wo man 
sich mühsam alles aus landesstatistischen Veröffentlichungen zu- 
sammensuchen mußte und doch zu keinem vollständigen Ergebnis 
kam, weil nicht alle Bundesstaaten das Material in ausführlicher 
Weise publizierten! 

So notwendig diese Ausdehnung des Tätigkeitsbereichs der reichs- 
statistischen Behörden auf statistische Zweige ist, die gleichmäßig in 
allen Bundesstaaten behandelt werden müssen, weil hier Interessen 
des Reichs und allgemeine Interessen ebensosehr wie bundesstaat- 
liche in Frage kommen, so nachteilig wird sie doch für Wirksamkeit, 
Bedeutung und Ansehen der statistischen Landesämter em- 
pfunden?). Die statistischen Materialien, die die Landesämter auf 
dem Gebiete der Bevölkerungsbewegung, der Volkszählungen, der 
Berufs- und Gewerbezählungen u. s. w. veröffentlichen, sind jetzt 
im wesentlichen nur noch Ergänzungen zu dem reichssta- 
tistisch publizierten Material, namentlich Ergänzungen weiterer 
geographischer Art. Diese Materialien sind zwar für örtliche Detail- 
studien und für die nähere Ergründung statistischer Zusammen- 
hänge sehr wichtig, sie werden aber begreiflicherweise in weiteren 
Kreisen nicht mehr wie früher beachtet, weil die wichtigsten all- 
gemeinen Gesichtspunkte am besten und leichtesten in den reichs- 
statistischen Veröffentlichungen gefunden und die im Zahlendetail 
verborgenen Erscheinungen nur durch sehr gehaltvolle Bearbeitungen 


1) In dem betreffenden Abschnitt sind aber mehrere Tabellenköpfe verwechselt 
worden (wenigstens in dem mir vorliegenden Exemplar). Der ganze Abschnitt ist unter 
dem Titel: „Die Bevölkerung des Deutschen Reichs im 19. Jahrhundert auf grund der 
deutschen und der internationalen Bevölkerungsstatistik; Referent Zahn“, auch in den 
Vierteljahrsheften z. Stat. des Deutschen Reichs, Jahrg. 11, 1902 veröffentlicht worden. 
Es empfiehlt sich, diese Veröffentlichung zu benutzen. 

2) Vergl. zum Folgenden auch die Ausführungen bei Losch, Die Bewegung der Be- 
völkerung Württembergs im Jahre 1903 in den Württemb. Jahrb. für Statistik und 
Landeskunde, Jahrg. 1905, Heft 2. 


Der Stand der Statistik der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reiche. 291 


gewonnen werden. Mit anderen Worten: früher schätzte man die 
statistischen Publikationen der Landesämter auf diesen Gebieten 
schon um deswillen, weil sie den Stoff für die Erforschung all- 
gemeiner statistischer Erscheinungen boten; mit den Jahren wird 
man sie hierzu immer weniger brauchen, und man wird sie haupt- 
sächlich nur aufschlagen, soweit sie Bedeutendes in der Einzel- 
forschung leisten. 

Bei Einzelforschung ist indes nicht so sehr an die Behandlung 
neuer, der Reichsstatistik fremder bevölkerungsstatistischer Fragen 
und Probleme oder an neue methodische Lösungsversuche zu denken. 
Denn hier hat die Landesstatistik in der rasch emporgeblühten 
Städtestatistik einen in vieler Hinsicht überlegenen Mitwerber. 
Die eigentümlichen Bevölkerungserscheinungen der Städte, wie z. B. 
die Wanderungsvorgänge, veranlassen von selbst entsprechende Unter- 
suchungen. Aber auch bei Fragen allgemeineren Charakters, wie 
z. B. Einfluß der Ernährungsweise auf die Säuglingssterblichkeit, 
Einfluß von Beruf, sozialer Stellung und Wohnung auf Sterblichkeit 
und Todesursachen, örtliche und soziale Beziehungen der Verlobten, 
Ehedauer, Fruchtbarkeit der Ehen u. s. w., ist die Städtestatistik 
die in erster Linie Berufene. Bei vielen dieser Probleme müssen 
geeignete Lösungsversuche erst gesucht werden; sie werden daher 
— solange sie inhaltlich, methodisch und technisch mehr Probleme, 
als wissenschaftliche Besitztümer der Statistik sind — am besten 
zunächst an kleinem, leichter übersehbarem und beschaffbarem Ma- 
terial erörtert. Zum Teil ist diese räumliche Beschränkung auch 
<lurch den Umfang der Arbeiten ohne weiteres geboten: man denke 

=. B. an die Ausbildung der Berliner Bevölkerungsstatistik durch 
Böckh. Die Städtestatistik braucht auch nicht so ängstlich wie die 
Wandesstatistik die Kontinuität ihre statistischen Nachweise zu 
wahren, sie kann eine Untersuchung einmal oder einige Male an- 
Stellen und dann wieder fallen lassen; das geht bei der staatlichen 
Statistik sehr schlecht. Wie viele Jahre schon schleppt nun die 
Preußische Bevölkerungsstatistik ihre unglückliche beruflich-soziale 
Gliederung fort, die eine Verwertung bisher eigentlich nur bei der 
Kindersterblichkeit !) erfahren hat und eine weitere Verwertung mangels 
entsprechender sozialer Gliederung der Bevölkerung überhaupt nur in 
ganz beschränkter Weise finden kann! 

Die Einzelforschung der Landesstatistik kann bei dieser 
Stellung zwischen Reichs- und Städtestatistik nur in der Vertiefung 
in die geographischen Details des bevölkerungsstatistischen 
Materials bestehen. Damit ist der Landesstatistik aber auch der 
beste Teil zugefallen. Denn kann es für die Teile der Staatsver- 
waltung, die es mit der Wohlfahrt der Bevölkerung zu tun 
haben, und für den aufmerksamen Beobachter etwas Belehren- 


1) Seutemann,, Kindersterblichkeit sozialer Bevölkerungsgruppen, insbesondere im 
Preußischen Staate und seinen Provinzen (Neumànns Beiträge zur Geschichte der Be- 
rölkesung in Deutschland, Bd. 5). Tübingen 1894. 

19* 


292 Karl Seutemann, 


deres geben als die Kenntnis der geographischen Bevölkerungs- 
teile in allen ihren natürlichen und ’sozialen Beziehungen, die 
verständnisvolle Auffassung aller lokalen Besonderheiten in ihren 
Ursachen und Zusammenhängen? Zwar ist die Statistik der Be- 
völkerungsbewegung nur ein Teil der Volksbeschreibung, auch 
andere statistische Zweige, wiedie Statistik des Bevölkerungs- 
standes, die beruflich-gewerbliche Statistik u. s. w., müssen das 
Ihrige beisteuern, und auch die Sammlung vielerlei typisch- 
konkreten Materials ist nötig. Denn wie will man Dinge in 
ihren statistischen Maßen auffassen, von denen man keine konkrete An- 
schauung hat? Aber die Bevölkerungsvorgänge sind doch als 
Symptome des allgemeinen physischen und sozialen Zustandes 
der Bevölkerung besonders wichtig, wie es uns schon Süßmilch 
in seinem denkwürdigen Werke über die „Göttliche Ordnung“ so 
vielseitig, so beredt und erhaben dargelegt hat. Jede preußische 
Provinz (und wir denken nicht an Preußen allein) sollte etwas 
dem Aehnliches besitzen, was Bleicher für Frankfurt in seiner 
statistischen Beschreibung der Stadt und ihrer Bevölkerung, was 
Kollmann für Oldenburg, Zimmermann für Braun- 
schweig in schönen Detailzeichnungen geschaffen haben. Zwar 
liegt auch für Preußen in Meitzens bändereichen Werke über den 
Boden des preußischen Staates eine umfassende Landesbeschreibung 
vor. Aber die großen bevölkerungsstatistischen Materialien sind 
darin nur wenig verwertet. Sie allmählich zu bewältigen ist das 
Landesamt mit seinem großen Stabe von Mitarbeitern berufen. 

Schr mit Unrecht werden solche Aufgaben der privaten 
wissenschaftlichen Arbeit überlassen. Fr. J. Neumann 
hat es mit großem Kostenaufwand und unermüdlichem Fleiß ver- 
sucht, Materialien für die statistische Beschreibung einzelner Landes- 
teile zu sammeln. In den von ihm herausgegebenen Beiträgen zur 
Geschichte der Bevölkerung in Deutschland seit dem Beginne des 
19. Jahrhunderts sind auch einige gute Vorbilder für die Lösung solcher 
Aufgaben vorhanden. Aber trotz der Fülle der Unterlagen, die 
man so leicht in privaten Händen nicht wiederfindet. gerät der Fort- 
gang des Werkes immer wieder ins Stocken. Es fehlen die bezahlten 
Hilfskräfte, die sich jahrelang in die Details der Zahlen und die 
Aufsuchung ihrer Zusammenhänge vertiefen können. es fehlt der un- 
entbehrliche große Hilfsapparat, den die statistischen Aemter in 
ihren Bureaus haben, die leichte Inanspruchname der Behörden, die 
bequeme Einsicht in Akten und handschriftliche Materialien. Durch 
das alles werden den wissenschaftlichen Arbeitern der statistischen 
Aemter ihre Aufgaben so außerordentlich erleichtert, daß jeder private 
Mitbewerb im Grunde unmöglich ist. Die statistischen Landesämter 
müssen diese Detailarbeiten selbst übernehmen oder doch aus- 
gestalten, wenn sie nicht auf dem Gebiete der Bevölkerungsstatistik 
ihre alte, durch Reichs- und Städtestatistik bedrängte Stellung auf- 
geben wollen. . 

Die reichsstatistischen Veröffentlichungen über die 


Der Stand der Statistik der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reiche. 293 


Bevölkerungsbewegung können demgegenüber nur eine Schilderung 
ihres allgemeinen Zustands in Deutschland und der allgemeinen Züge 
der Entwickelung zum Ziel haben. Das schließt eine — wenn 
auch nur breite — Schilderung der geographischen Variabilität der 
Bevölkerungserscheinungen in Deutschland mit ein. Findet die 
Reichsstatistik nun in den landesstatistischen Veröffentlichungen nicht 
gehaltvolle Erläuterungen über die Ursachen solcher Erscheinungen 
vor, $0 werden ihr viele Gesichtspunkte zur Bewertung der Zahlen 
fehlen. In der Tat sind die den jährlichen Veröffentlichungen, des 
bevölkerungsstatistischen Materials beigegebenen Erläuterungen noch 
wenig tiefgreifend; sie belehren über sehr vieles, das im Berichts- 
Jahr gar keine charakteristische Eigentümlichkeit aufweist, und das 
daher Jahr für Jahr mit denselben Worten wiederholt werden kann. 
Recht wertvoll sind aber die jeder Veröffentlichung beigegebenen 
zeitlichen Vergleichsreihen, die man nur noch vermehrt sehen möchte. 
Prüfen wir sie, so werden bestimmte Entwickelungszüge 
bei den Bevölkerungsvorgängen der letzten 15 Jahre in Deutschland 
erkennbar. 

Die allgemeine Geburtsziffer des Deutschen Reichs ist 
seit 1890 beträchtlich zurückgegangen. Es kamen auf 1000 
Einwohner Geborene (einschl. Totgeborene): 
1891 1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904 
382 36,9 38,0 37,1 37,3 37,5 37,2 37,3 37,0 36,8 36,9 36,2 34,9 35,2 

Die rückläufige Bewegung setzt schon mit den 70er Jahren ein, 
während in früheren Jahrzehnten Geburtsziffern, den neueren ähnlich, 
beobachtet wurden. Auf 1000 Einwohner kamen Geborene (einschl. 
Totgeborene) im Gebiete des heutigen Deutschen Reichs: 

1841/50 1851/60 1861/70 1871/80 1881/90 1891/1900 
37,6 36,8 38,8 40,7 38,2 37,3 

In den Jahren 1872 bis 1579 betrug die Geburtsziffer niemals 
Weniger als 40,5 Proz.; ihr höchster Stand war im Jahre 1876 mit 
42,6 Proz. So niedrige Geburtenziffern wie in den Jahren 1902 bis 
1904 wurden, nur in den Jahren 1853 bis 1856 festgestellt, wo sie 
36,0 Proz., 35,4 Proz., 33,5 Proz. und 34,9 Proz. betrugen. Diese 
Zahlen standen aber nicht wie unsere neuesten am Ende einer ab- 
nehmenden Reihe, sondern waren die Folge einer Teuerung; es 
kosteten in Preußen durchschnittlich 2): 


| isas | 1846/50 | 1851/55 | 1856/60 | 1861,65 
Bu X | nn 
| 


1000 kg Weizen Mark 154 | a8 214 | 209 188 
1000 kg Roggen Mark 114 | 131 177 145 138 

Die Geburtenziffer in Preußen betrug: 
I 404 | 391 | 388 | 40,3 | 406 


1) Festschrift des Kgl. Preuß. Statist. Bur. zur Jahrhundertfeier seines Bestehens, 
1905, 2. Teil, S. 13. ; 


294 Karl Seutemann, 


Noch 1890 ist in den Veröffentlichungen des Kaiserlichen 
Statistischen Amts ein dauernder Rückgang der deutschen Ge- 
burtsziffer bezweifelt worden. Bei der neuesten Entwickelung der 
Zahlen wird man ihn doch zugeben müssen. Er wird nämlich in den 
verschiedensten Gebieten Deutschlands gleichmäßig be- 
obachtet. Zunächst ist die Geburtsziffer der östlichen Pro- 
vinzen der preußischen Monarchie bedeutend gefallen. Nur Posen 
hat seine hohe Geburtsziffer ganz, 1891 43,1 pro Mille — 1904 42,5 
pro Mille, Schlesien so ziemlich, 1891 41,4 pro Mille — 1904 39,1 
pro Mille behauptet. Wie die Geburtsziffer Posens einzuschätzen ist, 
zeigt die folgende Uebersicht deutlich'): 


Kreise Auf 1000 Einwohner kamen Von 100 Einwohnern 
Pla durchschnittlich jährlich im BA 
mit höchster Jahrfünft 1896 bis 1900 hatten 1900 polnische 
Geburtsziffer G ia a Apa Muttersprache 
eburten (mit Totgeborenen) 
| 
Posen-Ost 56 72 
Inowrazlaw 53 64 
Strelno 53 83 
Schroda 49 88 
Schildberg 49 90 
Bromberg-Land 48 39 
Mogilno 48 75 
Posen- West 48 87 
Samter 48 73 
Kreise Anf 2000 y Pinwhner kamen Von 100 Einwohnern 
fie. biedrigster durchschnittlich jährlich im | katten 1900 polnische 
Geburtsziffer Jahrfünft 1896 bis 1900 Muttersprache 
z e Geburten (mit Totgeborenen) ji °P 
Krotoschin 40 65 
Kawitsch 37 55 
Schwerin 36 
Lissa 36 36 
Meseritz 34 20 
Fraustadt 34 28 


Auch in Schlesien hat der überwiegend polnische Regierungs- 
bezirk Oppeln weitaus die höchste Geburtsziffer. Sie betrug pro 
Mille der Bevölkerung: 


im Regierungsbezirk | 1895/1900 | 1904 


Breslau 39,8 36,9 
Liegnitz 37,1 34,4 
Oppeln 45,0 44,3 


1) Nach der Festschrift des Kgl. Preuß. Statist. Bur. Ausführliches über diese 
wichtigen Vorgänge bei E. v. Bergmann, Zur Entwickelung deutscher, polnischer und 
jüdischer Bevölkerung in Posen. (Bd. I der Beiträge zur Geschichte der Bevölkerung 
in Deutschland. Herausg. von Fr. J. Neumann.) Vgl. auch M. Brösike, Rückblick 
auf die Entwickelung der preußischen Bevölkerung von 1875 bis 1900 (Preußische 
Statistik, Bd. 188, 1904) S. 21. 


Der Stand der Statistik der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reiche. 295 


Wenn also Posen und Schlesien an dem starken Geburtsrück- 
gange der östlichen Provinzen nicht teilhaben, so ist das lediglich 
auf das Konto der polnischen Bevölkerung zu setzen. Wie in 
den östlichen Landesteilen, so verringert sich auch in Schleswig- 
Holstein, in Hannover, der Provinz Sachsen, dem 
Königreich Sachsen und in sämtlichen Kleinstaaten 
außer Oldenburg und Bremen die Geburtsziffer beharrlich. Da- 
gegen hat der ganze Süden und Westen Deutschlands an der 
Abnahme der Geburtsziffer keinen Teil. Weder in Bayern, 
Württemberg, Hohenzollern, Baden, Großherzogtum Hessen, Elsaß- 
Lothringen, noch in Hessen-Nassau, Rheinland, Westfalen ist ein be- 
merkenswerter oder überhaupt ein Rückgang vorhanden. 

So geographisch geschlossen nun aber auch die Gebiete mit 
und ohne Verringerung der Geburtsziffer sind, so ist doch der 
wirtschaftliche Charakter der zu dem einen und dem anderen Ge- 
biet gehörenden Landesteile unter sich so verschieden, daß man un- 
möglich daraus irgendwelche Einsicht in die Ursachen der Er- 
scheinung schöpfen kann. In dem Volkszählungsbande der Deutschen 
Reichsstatistik für 1900 wird auf S. 204* die Abnahme der 
summarischen Geburtsziffer zum Teil daraus erklärt, daß infolge ab- 
nehmender Sterblichkeit der Anteil der jüngeren und höheren, nicht 
zeugungsfähigen Altersklassen an der Bevölkerung größer 
geworden sei. Derselbe Volkszählungsband ergibt aber gerade das 
Gegenteil. Von 1000 der Gesamtbevölkerung des Deutschen Reichs 
standen im Alter von Jahren: 


Volkszählungsjahr | O bis 15 | 15 bis 20 | 20 bis 30 | 30 bis 40 | 40 bis 60 | 60 und mehr 
A ie Na A EE Sr Eea we a 


1371 345 91 | 165 | 133 | 190 | 76 
1880 356 | 93 159 130 183 | 79 
1890 35m 1 97: 1, oz, | n28 | 182 | 80 
1900 348° |. gar O 270% „| 181 179 | 78 


Gerade die Bevölkerung der zeugungskräftigsten Altersjahre 
hat sich vermehrt; bezöge man also die Geborenen nur auf die 
Angehörigen dieser Altersgruppen, so würde der Abfall der Geburts- 
ziffer noch etwas stärker sein. 

Auch die Bewegung der Eheschließungen gibt keine 
Erklärung. Auf 1000 Einwohner kamen im Deutschen Reich Ehe- 
schließungen: 


1891 1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 71903 1904 
84 81 8ı Bı 70 82 8a 84 86. 785.807 7,8 8,0 


Auch in den Landesteilen hat sich die Eheschließungsziffer fast nir- 
gends verändert. Nur im Königreich Sachsen ist sie in der Tat 
seit 1901 von ihrer beträchtlichen Höhe herabgegangen, jedenfalls 
unter dem Einfluß der dort sehr fühlbaren gewerbliclien Depression, 
und der rapide Abfall der Geburtsziffer in Sachsen ist hierauf 
zum Teil mit zurückzuführen. Es kamen nämlich im Königreich 
Sachsen auf 1000 Einwohner 


296 Karl Seutemann, 


|1s91|1892|1893|1894|1895 1897|1898|1899]1900]1901 1902]1903|19%% 
_— h pil 
Ehe- | I 
schließungen | 8,9 | 8,6 | 8,6 | 8,8 9,2 9,7 9,1 | 8,4 | 8,1 | 8,2] 8,5 
Geborene 43,2 |41,1 |41,5 e 7 1a: x e ‚ı os ,6 140,6 on Pi 38, 2 36 ‚9 135,0 pe 


Bei der im übrigen Deutschland BR Konstanz der Heirats- 
ziffer können sich auch Heiratsalter und Ehedauer nicht 
merklich verändert haben. Auf 10000 Einwohner kamen in Deutsch- 
land bestehende Ehen 1871: 1677; 1880: 1700; 1890: 1697 und 1900: 
1738. Das Durchschnittsalter der Eheschließenden betrug in Preußen ') 
nse JADTE: 


-Xi 1875 | 1880 | 1885 I: 1590 | 1895 |: 1900 c] 1904 


T 


28,9 
25,7 


29,5 | 
26,2 


bei den Männern 
bei den Frauen 


29,7 
26,6 


29,6 
26,4 


29,4 
26,8 
I 


209,5 
27,0 


Seit 1901 wird das Heiratsalter auch in der deutschen Statistik 
mitgeteilt. Von 100 im Deutschen Reich eheschließenden Männern 
bezw. Frauen standen im Alter von... Jahren 


Emm nn 


Jahr bis |25 bis | 30 bis | 35 bis | 40 bis | | 45 bis | 50 bis | 55 bis ‚60 und 

unt. ‚20 unt. 30 unt. 35 unt. 40 unt. 45) unt. Pojani 55,unt. 60| mehr: 
1901 | männlich 30,0 42,6 | 14,3 | 5,7 2,9 | 1,7 1,2 0,8 0,8 
weiblich 56,5 | 27,9 IE 8,1 | 3,5 1,9 F! 0,6 0,2 0,2 
1904 männlich 28,7 | 44,0 | 14,5 | 5,6 29 | ı, 1,1 0,7 0,8 
j weiblich 56,0 | 28,5 81 | 3,4 19 |1, 05 | os a3 


Die durchschnittliche Dauer der Ehen in Preußen betrug im 
Jahre 


beim Ableben | 1891/95 |1896/1900] 1901 | 1$ 
des Mannes 25,1 25,4 25,3 | 25,8 
der Frau 23,6 24,1 23,9 | 24,1 


Ueberhaupt handelt es sich ja nicht bloß um eine Abnahme der 

ehelichen Fruchtbarkeit, auch die unehelichen Geburten sind 
relativ zurückgegangen, und zwar sogar noch etwas stärker als die 
ehelichen, denn der Prozentualanteil der Unehelichen an allen Ge- 
borenen des Deutschen Reichs stellt sich so: 
1891 1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1809 1900 1901 1902 1903 19% 
9,06 9,14 9,15 9,36 9,08 9,36 9,24 912 8,97 872 857 848 8,35 dal 
Auch dies Bild kehrt in den Landesteilen mit großer Regelmäßigkeit 
wieder. ; 

In großen Teilen Deutschlands müssen sich also die Hemmnisse 
des natürlichen Umfangs der Fruchtbarkeit vermehrt haben. Hängen 


1) Statist. Handbuch und Statist. Jahrbuch f. d. Preuß. Staat. 


Der Stand der Statistik der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reiche. 297 


sie etwamitderzunehmenden Verstadtlichungder Reichs- 
bevölkerung zusammen? Die in den Uebersichten des Statisti- 
schen Jahrbuchs deutscher Städte berücksichtigten deutschen Groß- 
und Mittelstädte hatten zusammen: 


1902 eine allgemeine Geburtsziffer von 32,15 Prom. gegen 36,2 Prom. im Reich, 
1903 » » ” n 30,98 » »” 34,9 » » » 


In Preußen berechnete sich 1903 die allgemeine Geburtsziffer ') 


in den Stadtgemeinden auf 32,0 Prom., 
in den Landgemeinden auf 38,3 Prom. 


Diese Zahlenunterschiede sind aber noch nicht recht beweiskräftig, 
denn da sich die Städte nicht gleichmäßig über das Staats- 
gebiet verteilen, so trägt ihre Geburtsziffer hauptsächlich das 
Gepräge der städtereichen Landesteile. Oder — um dasselbe in 
theoretischer Einkleidung auszudrücken — die Grundgesamten der 
Stadtbevölkerung und der Landbevölkerung sind in geographischer 
Hinsicht nicht gleichartig, da aber die Vorgangsgesamtheit der Ge- 
burten — wie wir annehmen müssen — durch die geographische 
Lage der Grundgesamtheit beeinflußt wird ?), so müssen jene ver- 
glichenen Grundgesamtheiten (Stadt- und Landbevölkerung) erst 
durch geographische Differenzierung gleichartig gemacht werden. 

Aber auch innerhalb der preußischen Kreise, deren Ver- 
hältnisse auf S. 24 ff. der „Festschrift des Kgl. Preuß. Statist. 
Bureaus“ mitgeteilt sind, sind meist die Stadtkreise durch eine 
niedrigere Geburtsziffer neben den mehr ländlichen Kreisen ihres 
Regierungsbezirks kenntlich. Freilich ragen auch, namentlich im 
Westen viele Städte mit hohen Geburtsziffern aus ihrer Umgebung 
hervor. Nach dem Statistischen Jahrbuch deutscher Städte hatten 1903 
die höchsten Geburtsziffern (40 bis 45 Proz.): Dortmund, Bochum, 
Duisburg, Essen, Nürnberg und Mannheim, die niedrigsten (20 bis 
25 Proz.): Potsdam, Charlottenburg, Schöneberg, Wiesbaden, Berlin. 
Die eigentlichen Industriestädte zeichnen sich daher nicht so sehr 
durch niedrige Geburtsziffern aus wie viele als Handels-, Beamten-, 
Garnisonstädte bekannte Orte. 

Da in den Städten die mittleren, zeugungskräftigen 
Altersklassen infolge des Zuzugs gewöhnlich übermäßig besetzt, 
sind ®): 

1) 1903 sind in den preußischen Stadtgemeinden 508 427, in den Landgemeinden 
166239 Kinder geboren (Preußische Statistik, Bd. 190). 

2) Auch Bleicher, Ueber die Eigentümlichkeiten der städtischen Natalitäts- und 
Mortalitätsverhältnisse (Beilage zu den Beiträgen zur Statistik der Stadt Frankfurt 
1897), legt dar, daß die Gegensätze von Stadt und Lund nicht von solcher Bedeutung 
seien, daß darüber die besonderen Kennzeichen der Bevölkerungsvorgänge, die durch 
die geographische Lage eines Ortes oder Landstriches bedingt würden, ‚verloren 
gingen. — Am überraschendsten tritt der vorherrschende Einfluß der geographischen 
Lage bei beruflich-sozial differenzierten Bevölkerungsvorgüngen hervor. S. darüber des 
Verfassers oben zitierte „Kindersterblichkeit‘‘, S. 154 ff. 

3) Volkszählungsband der Reichsstatistik. 


298 Karl Seutemann, 


Von 1000 Einwohnern standen 
Gebiet 1900 im Alter von 


unter 16 | 16 bis 50 | über 50 


33 Großstädte 305 | 565 130 


Uebriges Reichsgebiet 380 460 160 
Deutsches Reich im 
ganzen 368 477 155 


so würde sich die im ganzen niedrigere Geburtsziffer der Städte noch 
wesentlich niedriger herausstellen, wenn man die Geborenen nur auf 
die Bevölkerungsteile bezöge, innerhalb deren die Kindererzeugung 
physisch möglich ist. Der Grund kann entweder in der ausge- 
dehnteren Ehelosigkeit der Stadtbevölkerung oder in 
einer geringeren Fruchtbarkeit ihrer Ehen liegen. Es 
gab in Preußen 1900!) 


Frauen im Alter In = Sy: f Auf dem en . 
Yon NE RN avon ver heiratet | üb austi davon verheiratet 
un u k en ae absolut | Proz. | eraaupt| absolut | Proz. 
- - n ee ea BR 
über 18 bis 20 295 273 11046 | 3,7 330 628 14729 | 45 
„20.21 149936 | 16626 11,5 || 160257 20 166 12,6 
»„ 21 „25 612089 195489) 31,9 629437 | 225694 | 35,8 
BR me U) 655 532 405 290| 61,8 || 697 309 | 476 200 68,4 
» 30 „ 35 571197 | 429084 | 75,0 637651 | 524227 | 82,0 
» 35 „ 40 494928 | 382088| 77,1 576864 | 487659 | 84,5 
m 40 „45 441 113 | 329899 75,9 | 527980 | 438907 | 83,0 
alle Altersklassen | 7558877 |2556176| 33,8 | 9942 207 |3 422 666 344 


Die Quote der Verheirateten unter den Frauen ist also in allen 
gebärfähigen Altersklassen auf dem Lande bedeutend größer als in 
der Stadt. Wie weit hier die verschiedene Heiratshäufigkeit in 
Stadt und Land mitspielt, kann nur durch Berechnung der Heirats- 
ziffern für die einzelnen Altersjahre dargelegt werden; ganz unab- 
hängig davon aber muß die städtische Bevölkerung schon infolge 
des Zuzugs und je nach der Größe desselben in allen Altersklassen 
einen stärkeren Anteil unverheirateter Personen haben, weil die 
Zuzugsgesamtheiten aus vorzugsweise unverheirate- 
ten Personen bestehen, die selbst bei einer der einheimischen 
Bevölkerung vollständig gleichen oder selbst größeren Heiratschance 
die günstigere Familienstandsgliederung der einheimischen Bevölke- 
rung nicht erreichen können. Nach der Berliner Nuptialıtätstafel °) 
haben z. B. von 1000 über 15 Jahre alten ledigen Mädchen bis zum 
25. Jahre 416° geheiratet. Unter 1000 mit 25 Jahren nach Berlin 
zuziehenden weiblichen Personen pflegen aber nur etwa 100 Ver- 
heiratete zu sein. Diese Zuzugsgesamtheit kann den Verehelichungs- 
stand der Berlinerinnen bei gleicher Heiratschance erst etwa mit dem 
28. Lebensjahre erreichen. Zum Teil wenigstens erklärt sich also 


1) Preußische Statistik, Bd. 177. 
2) Statist. Jahrb. der Stadt Berlin, Jahrg. 26 und frühere, herausgeg. von Böckh. 


Der Stand der Statistik der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reiche. 299 


die höhere Quote der Unverheirateten in den mittleren Altersklassen 
der Stadtbevölkerung nur dadurch, daß das Land seinen Ueberschuß 
an Unverheirateten an die Städte abgibt. 


Indem so die Städte zwar in den zeugungsfähigen Altersklassen 
eine geringere Quote Verheirateter aufweisen, auf der anderen Seite 
aber einen geringeren Bestand an Kindern und alten Leuten haben, 
so ist der Anteil der Verheirateten an der Gesamtbevölkerung in 
der Stadt schließlich nicht so viel niedriger als auf dem 
Lande. Und die Differenzen der allgemeinen Geburtsziffer zum 
Nachteil der Städte können wir daher als ungefähr gleichbedeutend 
mit einem entsprechenden Unterschiede der ehelichen Frucht- 
barkeit zu Ungunsten der Stadt auffassen. In Preußen wurden 
1900 gezählt: 


Verheiratete Ehelich Geborene |Unverh. weibl.| Unehelich Geborene 
weibl. Personen | mit Totgeborenen | Personen im | mit Totgeborenen 

im Alter von auf 1000 ‚Alter von 18 lauf 1690 un- 
18 bis 45 Jahren absolut Ehefrauen bis 45 Jahren absolut, |verh. Frauen 


3 


57 4.36 25,8 
4858 


anf dem Lande 2 187 528 33,1 


in der Stadt I 769 528 I: 45 
|72 1372484 


1450 540 las 
| 


Die viel geringere eheliche Fruchtbarkeit der Städte wird hierdurch 
bestätigt; dagegen ist die außereheliche Fruchtbarkeit eher auf dem 
Lande größer als in der Stadt. Doch ist dabei wieder die fehlende 
geographische Gleichartigkeit der Stadt- und Landbevölkerung zu 
berücksichtigen. In dem städtereichen Westen der preußischen Mon- 
archie ist nämlich die Zahl der unehelichen Geburten ganz außer- 
ordentlich gering. Im Deutschen Reich fielen 1895 bis 1904 auf 
100 Geburten 8,82 uneheliche, in Preußen 7,45, in Rheinland aber 
nur 3,75 und in Westfalen nur 2,58. 


Freilich ist die Berechnung des Umfangs der Fruchtbarkeit durch 
Beziehung der ehelichen bezw. unehelichen Geburten auf alle ge- 
bärfähigen verheirateten bezw. unverheirateten Frauen in Stadt und 
Land insofern noch unvollkommen, als die Fruchtbarkeit in den ein- 
zelnen Altersgruppen der gebärfähigen Frauen sehr verschie- 
den ist. Für Berlin ist die Altersfruchtbarkeit -von Böckh be- 
rechnet, es wurden in Berlin 1895—96 im Mittel gezählt): 


Alter .. Taire 
bis 30/3 30% bis 35 


15 bis Su bis 2 525 
| 
| 


Gebärende TE | 

in °/, aller Ehefrauen | 45,9 | 452 Re 156. j- TOE iR EL I Fi 
Unehel. Geborene in °/, i | 

aller unverh. Frauen f HPE uy KPEE 3,6 2 | rim | Prj 


1) Vergl. Ballod, Die mittlere Lebensdauer in Stadt und Land (Schmollers Forsch- 
ungen, Bd. 16, Heft 5) 1899, S. 71. 


300 Karl Seutemann, 


Prüfen wir nun hiernach die Altersverteilung der von uns als gebär- 
fähig betrachteten weiblichen Bevölkerung von 18 bis 45 Jahren in 
Preußen, so ergibt sich folgendes: 


Stadt | Von 100 weiblichen Personen im Alter von 18 bis 45 Jahren 


en bezw. standen 1900 in Preußen im folgenden Alter 
stan 
Iand 18 bis 20 20 bis 2 130 bis  35|35 bis 40|40 bis bis us Zus. 
Verheiratete | [Stadt | 0,6 11,9 23,0 24,8 | 21,6 18,7 100 
Frauen Land | 0,7 11,2 21,8 | 23,9 | 22,3 20,1 100 
Unverheiratete | [Stadt | 19,5 38,0 17,3 Ga | | 78 | 100 
100 


Frauen \Land , 23,0 39,4 16,1 | 8,31 6,5 | 6,5 


Die verheirateten Stadtfrauen sind also gerade in den Altersklassen 
stärker vertreten, in denen die eheliche Fruchtbarkeit am größten ist, ein 
Beweis, daß die allgemeinen ehelichen Fruchtbarkeitsziffern für Stadt 
und Land den Unterschied zu Ungunsten der Stadt noch nicht ein- 
mal mit voller Schärfe ausdrücken. 

Hat nun diese niedrige Fruchtbarkeit in der Stadt bereits immer 
bestanden, oder hat sie sich erst in den letzten Jahrzehnten heraus- 
gebildet? Die allgemeine Geburtsziffer betrug in Preußen im 
Jahresmittel !): 


- — 
1876 | 1886 | 1800 | 1806 
| 


6 | Vene] 
My 8B0/bis 1885/bis 1890/bis 1895 bis 1900 1901 | 1902 | u. 
m - i -— 
in den Städten 40,2 | 37,5 ab 35,6 j 34,9 pi 34,4 | 33,1 | 32,0 
auf dem Lande 41,4 | 39,7 40,4 40,1 | 49,1 39,8 | 39,5 | 38.3 


Nach einer älteren Uebersicht v. Fircks (Rückblick auf die Be- 
wegung der Bevölkerung im preußischen Staate 1816 bis 1874 — 
Preußische Statistik, Bd. 48) war die allgemeine Geburtsziffer im 
Jahresmittel: 


| 1849 bis 55 | 1856 bis 61 5 1862 bis 81 | 1868 bis 71 |1872 bis 74 7 


380 | 38a jr 39,0 En, Ga 
40,6 | 41,0 | 41,2 | 38,8 | 41,5 


in den Städten 
auf dem Lande 


Von einer mäßigen Differenz der Geburtsziffer zu Ungunsten der 
Städte hat man — mit Ausnahme der Zeit industrieller Hoch- 
konjunktur, Anfang der 70er Jahre — wohl immer sprechen können; 
der Unterschied ist aber in den letzten Jahrzehnten viel größer ge- 
worden, da die Abnahme der Geburtsziffer in der Stadt 
früher und nachhaltiger aufgetreten ist als auf dem Lande. 

Nach dem Statistischen Jahrbuch deutscher Städte ist die Ab- 


1) Statistisches Handbuch für den preußischen Staat, bezw. preußische Statistik, 
Bd. 178, 183 und 190. 


Der Stand der Statistik der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reiche. 301 


nahme der Geburtsziffer namentlich groß in den brandenburgischen, 
hannoverschen (und angrenzenden) und den sächsischen (Provinz 
und Königreich) Groß- und Mittelstädten, wohingegen sich 
die Geburtsziffer der westlichen und südlichen Großstädte nur wenig 
oder gar nicht vermindert hat. Ein stärkerer Rückgang findet sich 
hier nur in dem stillstehenden Krefeld (1393 36,0 pro Mille, 1904 26,2 
pro Mille), in Aachen (1893 36,1 pro Mille, 1904 32,2 pro Mille), 
ferner in München (1893 37,2 pro Mille, 1904 33,1 pro Mille) und 
Augsburg (1893 34,6 pro Mille, 1904 29,7 pro Mille). 

Aber auch die östlichen Städte Königsberg, Danzig und Stettin 
sind bei der Minderung wenig beteiligt. Als eine schlechthin 
städtische Erscheinung kann man also den Abfall der Geburtsziffer 
doch wohl nicht bezeichnen; vielmehr erweist sich auf der einen 
Seite die geographische Lage als ausschlaggebend, auf der anderen 
Seite ist die ja ganz und gar verschiedene soziale Zusammensetzung 
der städtischen Bevölkerungen entscheidend. Näher erläutert wird 
das durch die städtischen und ländlichen Geburtssziffern der preußi- 
schen Provinzen !). 


Zunächst ist in Posen und Schlesien, deren Geburtsziffer 
sich im ganzen nicht viel verändert hat, zwar die Geburtenhäufig- 
keit in den städtischen Gemeinden zurückgegangen: 


Allge meine Geburtsziffer 


Jahr Posen | Schlesien 


Stadt JE Land | Rindt; it Tand 


1891 37,5 45,6 | 37,1 
1901 37,8 | 46,2 | 35,1 | 43,4 
1903 36,5 | 45,2 | 32,5 


aber wohl nur deshalb, weil die polnische Bevölkerung in den Stadt- 
gemeinden im ganzen schwächer vertreten ist als in den Land- 
gemeinden. Im übrigen ist im Osten der Monarchie das Land 
bei der Abnahme der Geburtsziffer zum Teil noch stärker beteiligt 
als die Stadt: 


Allgemei ine Ge burtsziffe r 


. Brandenburg 
(ohne Berlin) 


Land | Stadt 


Jahr Ostpreußen | Westpreußen | Pommern 


Sta adt |: Land | Stadt | | ana Stadt 


La und 


3087 34,4 | 49 ne | 72 | 36: | 40,1 | 37,0 | 39,4 
1901 31,8 | 39,6 | 38,5 | 46,5 ‚4 | 38,0 | 30,8 | 34,1 
1903 | 29,7 | 37,8 | 35,9 | 43,° | 32,7 | 35.6 | 26,4 | 32,2 


1) Preußische Statistik, Bd. 221, 123, 177, 178 und 199. Für 1903 ist die Be- 
ölkerung der Stadt- und Landgemeinden ungefähr berechnet auf Grund der Zunahme 


von 1900 bis 1905 unter Berücksichtigung der Zunahmeunterschiede in Stadt und Land 
bei früheren Zählungen. 


302 Karl Seutemann, 


Dagegen ist die Abnahme der Geburtsziffer in den mittleren 
Provinzen hauptsächlich durch die Städte verursacht: 


Allgemeine Geburtsziffer 


Jahr _ Sehleswig-Holst. Hannover Sachsen 
Stadt | Land | Stadt | Land | Stadt | Land 
1891 | 36,7 | 338 | 357 | 336 | 400 | 40» 
1901 33,7 32,7 33,2 34.1 34,8 37,6 
1903 31,5 31,9 30,1 | 32,8 31,9 36,1 


Die Geburtsziffern der ländlichen Gemeinden in Schleswig-Holstein 
und Hannover waren aber auch von vornherein relativ recht niedrig. 
Im Westen der Monarchie mit seiner im wesentlichen still- 
stehenden Geburtsziffer weist Stadt und Land keine charakteristischen 
Unterschiede auf: 


Allgemeine Geburtsziffer 


Jahr Hessen-Nassau Rheinland Westfalen 

Stadt | Land | Stadt | Land | Stadt | Land 
1891 | 30,8 | 35,6 | 400 | 395 | 41,2 | 414 
1901 | 30,8 35,4 39,7 40,4 41,8 44,7 
1903 | 28,8 | 33,9 36,1 38,8 44,0 39,8 


Wenn wir also im Anfang dieser Erörterung die Frage auf- 
werfen, ob durch die zunehmende Verstadtlichung der 
Reichsbevölkerung die Abnahme der Geburtsziffer zu erklären 
sei, so lautet die Antwort, daß dieser Vorgang wegen der im ganzen 
niedrigeren Geburtsziffer der Städte etwas mitgewirkt haben mag. 
Da wir aber den Abfall der Geburtsziffer auch in Stadt- und 
Landgemeinden gesondert feststellen können, so reicht doch 
diese Erklärung nicht aus. Wir finden auf der Seite der Geburten 
keine ausreichenden Gründe für die Minderung der Geburtszifter. 
Und von weiteren Darlegungen prüfen wir deshalb zunächst den 
Einfluß der zurückgehenden Geburtsziffer auf die Entfaltungskraft 
der Reichsbevölkerung. 

Die Entfaltungskraft der Reichsbevölkerung ist nicht 
beeinträchtigt worden, denn der Geburtenrückgang ist so vollständig 
durch den Sterblichkeitsrückgang ausgeglichen worden, daß der Ge- 
burtenüberschuß die alte Höhe bewahrt, ja sich gegen früher 
sogar noch vergrößert hat. Es betrug im Deutschen Reich auf 
1000 Bewohner 


| iss | 1892 | 1893 | 1804 | 1805 | 1896 | 1897 


die Zahl der Sterbefälle | 
(mit Totgeb.) 24,7 | 25,3 | 25,8 | 23,5 | 23,4 | 22,1 | 22,5 
der Geburtenüberschuß 13,6 | 11,6 | 12,2 | 13,6 | 14,0 | 15,5 | 14,6 


Der Stand der Statistik der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reiche. 303 


| 1898 | 1899 | 1900 | 1901 | 1902 | 1903 | 1904 


die Zahl der Sterbefälle 
(mit Totgeb.) 
der Geburtenüberschuß 


20,7 
14,5 


21,7 
15,6 


22,6 
14,4 


23,2 
13,6 


21,8 
15,1 


20,6 
15,6 


21,1 
13,9 


In früheren Jahrzehnten war der Geburtenüberschuß trotz höherer 
oder gleich hoher Geburtsziffern noch beträchtlich niedriger. Er 
betrug in Deutschland auf 1000 Bewohner: 
1841/50 1851/60 1861/70 1871/80 1881/90 1891/1900 
9,4 9,0 10,3 11,9 11,7 13,9 

Die Würdigung dieses Geburtenüberschusses ergibt sich am besten 
aus der internationalen Vergleichung, wie sie die Reichsstatistik 
in ausführlicher Weise anstellt. 1903 oder in einem nahe vorher- 
gehenden Jahre betrug der Geburtenüberschuß auf 1000 Bewohner in 


Deutschland 13,9 Spanien 9,5 Norwegen 13,9 
Oesterreich 11,3 Frankreich 1,9 England 13,0 
Ungarn 10,6 Belgien 10,5 Schottland 12,6 
Europ. Rußland 15,5— 18,0?) Niederlande 16,0 Irland 5,5 
Italien 9,2 Dänemark 14,0 Japan 11,8 
Schweiz 11,5 Schweden 10,6 


Schon jetzt wird Deutschland an innerer Entfaltungskraft eigentlich 
nur von dem schwach besiedelten Rußland übertroffen. Wäre die 
abnehmende Sterblichkeit in Deutschland nicht schließlich von einer 
Minderung der Geburtsziffer begleitet worden, so würden wir jetzt 
eine Volksvermehrung haben, deren Tempo in staatlicher und volks- 
ico Hinsicht als zu sehr beschleunigt empfunden werden 
önnte. 

Dieser Ausgleich zwischen der Häufigkeit der Geburten und 
Sterbefälle vollzieht sich nun im Deutschen Reiche nicht zu- 
sammenhanglos; vielmehr haben im großen und ganzen auch 
die Landesteile mit der größten Minderung der Geburtsziffer auch 
die größere Sterblichkeitsverminderung, so daß in fast allen Teilen 
des Reiches ein schönes Gleichgewicht gehalten wird. Hierüber be- 
lehrt die Tabelle auf der nächsten Seite. 

In den Landesteilen mit besonders starker Abnahme der Ge- 
burtsziffer ist vorläufig, da die Sterblichkeit zwar in schnellem, aber 
nicht ganz gleichem Tempo gefallen ist, der Geburtenüberschuß 
etwas zurückgegangen. Umgekehrt ist in allen Landesteilen ohne 
fallende Geburtsziffer der Geburtenüberschuß etwas größer geworden, 
da auch hier durchweg die Sterblichkeit gesunken ist. 

Nicht so überzeugend tritt der parallele Verlauf der Geburts- 
und Sterblichkeitsziffer in den Landgemeinden Preußens hervor. 
Die Sterbeziffer des Landes ist bei weitem nicht so stark herab- 
gegangen wie die der Städte. Wenn das nun auch mit dem im 
ganzen größeren Rückgang der städtischen Geburtsziffer zu har- 


1) 1898 bezw. 1899. 


304 


Allgemeine Geborenenziffer (a), 


Karl Seutemann, 


allgemeine Sterbe- 


ziffer (b) und Ziffer des Geburtenüberschusses (ec) 
in den Landesteilen: 


Auf 1000 Bewohner. 


PETER 1891 1895 1900 1904 
n teile Er a AN] er eg 
a jb |o a|bjeja|pjejalp|e 
Landesteile mit starker Minderung der Geburtsziffer. 
Caproni 41,5 26,2] 15,3] 40,4| 25,8 140 37,0 26,4| 10,5| 35.8] 22,1) 13,7 
erlin 33,8 22,0 11,8] 29,3] 21,2] 8,1] 27,6 19,9 7,7] 25.31 17,6, 7,7 
Brandenburg 38,0| 25,0 13,0 36,0| 23,5) 12,51 32,3 22,6| 9,7] 30,8! 20,0 10,5 
Provinz Sachsen 39,9| 24,0) 15,9] 37,5| 23,2] 14,3| 36,0, 22,9| 13,1] 33,9, 21,2 12,7 
emere Sachsen pe 26,8| 16,4] 40,3) 25,5| 14,8] 39,4. zin 15,3] 34,6 son 13,9 
amburg 37,6! 24,5| 13,1] 35,1| 20,1| 15,0] 30,2 18,4 I1,8] 27,5 »6,x| 10,7 
Braunschweig 37,2| 22,5 14,7] 35,2) 21,8 13.4 338l 21.2 12,5 30,6) 18.5 12,1 
Anhalt 38,7| 21,9 16,8] 36,6) 21,2) 15,4] 34,3. 20,6| 13,7] 27,0| 18,5) 8,1 
Reuß ä. L. 45,%| 25,8| 19,9] 41,5! 23,7| 17,8] 40,2| 24,6! 15,6 33,2, 20,0 13,2 
Reuß j. L. 43,3) 25,8| 17,5[40,8 26,0) 14,8[40,6| 25,6| 15,0 33,3| 20,8! 12,5 
Landesteile mit mäßiger Minderung der Geburtsziffer. 
Westpreußen 44,2 24.6) 19,6 4,1) 26,0| 18,1] 42,7| 26,8 15,9 41,4. 22,0 19,5 
rad 38,5 23,2. 15,3] 38,0 23,5, 14,5] 36,11 24,8 11,3[ 34,4) 20,6 13,8 
annover 54,1: 22,6 11,5] 34,11 19,9) 14,2] 33,4| 19,3 14,1] 31,8 17,6 14,3 
Schleswig-Holstein 34,7 22,7 12,0| 34,8! 19.6 15,2] 33,0| 18,7. 14,4] 32,6 16.9) 157 
Schlesien 41,4 28,8 12,6|41,6] 27,7 13,9|40,7| 27,3 13,3|39,1| 20,2] 13,8 
Mecklenburg-Schwerin 31,1 20,6 IO,4| 31,0) 19,5 11,5| 29,2) 20,5 8,7] 28,9: 18,4) 10,4 
Mecklenburg-Strelitz 32,3 21,9 10,4 31,6| 20,1. 11,5] 30,2| 22,8 7,3] 29,5| 20,8! 8,7 
Sachsen-Weimar 35,5 21,9 13,6] 32,8| 20,9 11,9] 34,2 20,4 13,8| 32,4| 19,4 12,9 
Sachsen-Altenburg 41,4 26,8 14,6] 40,6| 25.8 14,8|40,3| 25,2 15,1] 37,5 23,2) 14,8 
Coburg-Gotha 35,6 21,7) 13,4] 33,6) 20,8. 12,8] 34,4| 20,7| 13,7 32,9 18,9| 14,0 
Schwarzburg-Sondersh. 35,2, 19,9 15,3] 34,1| 19,9 14,2] 33,3| 19,5 13,8 32,3! 18,0 13,5 
Schwarzburg-Rudolstadt 36,4 20,9 15,5] 34,6) 21,0 13,6] 35,6' 19,0 16,6| 33,9 18,8! 15,7 
Waldeck 33,0! 20,1| 12,9 31,1| 18,1| 13,0f 30,4| 19,2 11,2 28,5| 17,2 11,8 
Schaumburg-Lippe 33,0| 21,8| 11,2| 31,8) 16,6! 15,2[ 28,9; 14,7, 14,2] 29,3| 15,4 13,8 
Lippe 38,2| 20,2! 18,0] 37,2) 18,3 18,9 35,8) 18,1. 17,7] 35,6) 18,8 16,7 
Lübeck 33,8, 22,1] 11,7| 32,5 18,3 14,2] 32,1} 19,2) 13,0] 30,3, 16,5 13,8 
Landesteile mit keiner oder geringfügiger Minderung 
der Geburtsziffer. 
Posen 43,1 23,5! 19,6 44,6) 24,0! 20,1] 43,8 24,8! 18,5] 42,5: 21,3) 21,3 
Westfalen 41,0, 21,9| 19,1] 40,9) 20,9 20,0| 42,6 21,3 21,3[ 41,6 19,8 21,8 
Rheinland 39,4, 23,4| 16,0] 38,1) 21,8 16,3] 39,0, 22,6, 17,1 37,7 19,5, 18,4 
a ER 20y 12,01 32,6 19,1, 13,5] 32,9) ER 14,0| 32,3, eu 14,9 
à „1| 21,4| 10,7] 31,2| 19,1! 12,1 31,7 19,0| 12,7] 32,4 18,6| 13,8 
Oldenburg 34,2 23,1 111 35,2! 20,1| 15,1 36,0 20,8 15,2 ip 18,3) h 
Bayern r. d. Rh. 37,7| 29,4| 8,53] 37,31 27,0! 10,3] 37,71 27,4| 10,4] 36,5' 24,0| 12,5 
Bayern l. d. Rh. 38,2) 23,1] 15,1] 36,7, 22,0: 14,7 39,0) 21,3) 17,7| 37,8 20,0) 17,9 
Württemberg 355| 25,6! 9,9] 35,4! 24,5] 10,0] 35,4) 24,5 10,4[ 35,0| 21,8| 13,2 
Hohenzollern 31,91 26,5] 5,41 32,8) 23,81 9,2] 33,93) 24,2) 9,1|31,8 22,4| 9,5 
er Hessen In > 11,:133,1| 20,8 12,3 34,4 20,3! 13,7] 33,31 18,6] 14,7 
Bade . 4,1) 24,2) 9,9] 33,»| 22,8| 11,1] 35,2) 23,3| 11,8f 34,7' 21,3) 13.4 
Elsaß-Lothringen 31,4] 23,1| 8,3 31,2 22.3] 8,9 31,1|22,3| 8,5] 30,6] 20,7| 9,9 


Der Stand der Statistik der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reiche. 305 


monieren scheint, so ist doch auch in den östlichen Provinzen, in 
welchen auf dem Lande ein beträchtlicher Geburtenrückgang bemerkt 
wurde, die ländliche Sterblichkeit nur verhältnismäßig schwach ge- 
sunken. Dagegen besteht eine gute Harmonie der beiden Erscheinungen 
in den Städten. 

Die Sterbefälle (a) und der Geburtenüberschuß (b), reduziert auf 
1000 Einwohner, betrugen: 


b 
Ostpreußen | Westpreußen Braden urg | Pommern Posen Schlesien 
Jahr ohne Berlin 
HEISE ACHEBEUFIRIELFI SER 
Landgemeinden 
1891 | 26,2 | 17,9 | 24,3 | 22,9 | 24,8 | 14,8 | 20,4 | 19,7 | 23,0 | 22,6 | 29,0 | 14,7 
1901 | 25,1 | 14,5 | 25,7 | 20,8 | 22,0 | 12,1 | 20,7 | 17,3 23,2 | 23,0 | 26,1 | 17,3 
1903 | 24,9 | 12,9 23,0 | 20,7 | 20,6 | 11,6 | 20,1 | 15,5 | 22,6 | 22,6 | 26,2 | 15,9 
G Stadtgemeinden 
1891 | 26,8 | 17,6 | 25,3 | 11,9 | 26,1 | 10,9 | 26,5| 9,7] 25,2| 12,3 | 29,0 | 8,1 
1901 | 24,6 | 16,7 | 26,9 | 11,6 | 20,9 9,7 | 26,0 | 10,4 | 25,2| 12,6 | 25,9} 9,2 
1903 | 23,6 | 16,1 | 23,6 | 12,3 | 18,2 8,2 | 23,7! 9,0| 24,3 | 12,3 | 24,2} 8,3 
S vig- ssen- . 
Sachsen chiesi 8 Hannover Westfalen Heesen Rheinland 
Jahr Holstein Nassau 
ZEBEIEUEDERETREETEUTN ZA 
ren 
1891 | 21,5 | 18,7 | 21,3 | 12,5 | 22,3 | sı,3 | 21,7 | 19,7 | 21,2| 14,4 | 23,4 | 16,1 
1901 | 21,3 | 16,3 | 16,8 | 15,0 | 18,5 | 15,6 | 20,4 | 24,8 | 18,4 | 17,0 | 20,5 | 20,1 
1903 | 21,1 | 15,0 | 16,3 | 15,6 | 184 | 14,4 | 18,1 | 21,7 | 18,7 | 15,2 | 20,2 | 18,6 
Stadtgemeinden 
1891 | 24,9 | 15,5 | 25,3 | 11,4 | 23,5 | 12,2 | 23,0! 18,0 29,1] 10,7 | 23,8 | 16,2 
1901 | 22,1 | 12,7 | 20,4 | 13,3 | 19,3 | 13,9 | 21,8 | 20,0| 18,0! ı2,8| 20,9 | 18,8 
1803 | 20,8 | 11,1 18,7 | 12,8 | 18,1 | 12,0 | 21,8 | 22,2 | 18,0 | 10,8] 19,4 | 16,7 


Eine Durchsicht der Spalte b bestätigt das Gesagte: in den 
Landgemeinden überwiegen die Unregelmäßigkeiten; in den Städten 
hingegen wird trotz stark zurückgehender Sterblichkeit überwiegend 
keine wesentliche Veränderung des Geburtenüberschusses beobachtet. 
Wie weit ein gleichmäßiger "Verlauf der Geburts- und Sterbeziffer 
in einzelnen Groß- und Mittelstädten nachweisbar ist, ergibt 
sich aus der folgenden Tabelle, die an der Hand der betreffenden 
Bände des Statistischen Jahrbuchs deutscher Städte zusammenge- 
stellt ist: 

(Siehe Tabelle auf S. 306.) 

Ein ziemlicher Ausgleich in der Bewegung der Geburten und 
Sterbefälle liegt auch hier vor. Freilich bleiben viele Abweichungen, 
für die nicht ohne weiteres Erklärungen gegeben werden können. 
Gerade Groß- und Mittelstädte verändern ja aber auch ihre popula- 

Dritte Folge Bd. XXX II (LXXXVIII). 20 


306 Karl Seutemann, 


Allgemeine Geburtsziffer (a), allgemeine Sterbe- 
ziffer (b), Geburtenüberschuß (c) in den Groß- und 
Mittelstädten. 

Auf 1000 Bewohner. 


1893 1904 | 1893 1904 

Stadt = | Stadt - 
a|ļb|efajbj|ce a|lbje a|bje 

Oestliche Städte | Westliche Städte 
Königsberg 32,1|29,5| 2,7] 30,9|23,1| 7,8) Dortmund 43,3|24,2|19,1] 41,8 20,5|21,3 
Danzig 34,2|27,8, 6,3] 34,5/22,7 11,8) Essen 45,824,5|21,3] 42,9 18,9|24,1 
Stettin 37,0|28,1| 9,0 35,1/24,4|10,8| Barmen 35,9/19,4|16,5f 32,0 15,4)16,6 
Posen 31,6/28,2| 3,4] 39,5|25,0|14,6. Elberfeld 35,8|20,1/15,*| 32,7 17,6,15,1 
Breslau 36,1/30,3| 5,7] 32,8 24,5| 8,3) Düsseldorf 39,7|23,1 16,5} 36,8 19,1|17,7 
Görlitz 32,928,5| 4,4| 27,2|21,9| 5,3) Duisburg 45,5/28,6 16,4] 42,2 20,1122,3 
Frankfurt a. O. | 32,0 26,1) 6,0f 26,8/20,8| 6, | Krefeld 36,0 |21,8/14,2 26,2|15,7 10,5 
Berlin 31,4|23,0| 8,4] 25,9|18,0| 7,6 Köln 39,6|26,8|12,*| 36,8j20,4|16,5 
Charlottenburg | 34,7 21,4|13,3{ 22,4 14,4| 8,0 Aachen 36,1126,7| 9,5] 32,2) 19,1]13,1 
Potsdam 27,0/24,0| 3,0] 20,5|18,2| 2,2! Kassel 29,3/18,2 11,2] 27,5|16,6|10,9 
. \ Frankfurta.M.| 28,1119,3, 8,#| 29,5 16,8|12,9 
Mittlere Städte | Wiesbaden 28,6|22,1| 6,5| 26,0117,7| 8,5 

Lübeck 32,8 21,7, 11,1] 30,4)17,0113,5, Südliche Städte 
Hamburg 37,2|21,4/16,4| 26,1)16,2| 9,0| München 37,2 27,9| 9,4] 33,1 21,711, 
Altona 37,2/22,4 15,2] 28,6)17,8/ 10,8! Augsburg 34,6 29,6| 5,1] 29,7 24,8! 5,4 
Kiel 41,2 23,4 17,8] 33,4)16,0|17,4| Nürnberg 37,4 24.8/12,#| 37,8 23,3 14,5 
Bremen 31,0|19,2,11,8| 31,6/17,7/13,9!| Würzburg 30,1 27,1) 3,0| 32,3 23,4] 8,9 
Hannover 34,9|20,5,14,5| 27,2|17,1)10, 1) Stuttgart 30,0 22,4| 7,6] 29,5, 18,2]11,8 
Braunschweig [37,7 23,4|14,4] 28,2|18,6) 9,7) Karlsruhe 28,1 20,4| 7,2] 30,0\18,7/11,4 
Magdeburg 38,7125,7 13,1] 27,7124,4) 3,4 Mannheim 40,6 23,8/16,7]| 41,6|21,8)19,7 
Halle 36,3,25,2,11,3| 30,0|21,7| 9,2) Freiburg i. B. | 28,1 24.5) 3,#| 31,9|22,3| 9,7 
Erfurt 35,1/23,1/12,0| 30,7j18,6) 12,2) Darmstadt 26,2 22,9| 3,4] 27,6|17,6)10,0 
Leipzig 38,5 24,2/14,5| 31,319,5/11,8| Mainz 32,0 23,9| 8,1] 29,0/20,1| 8,9 
Dresden 33,2\24,5| 8,7] 31,5/18,9 12,5, Straßburg 32,0 25.6) 6,1] 30,1|20,7| 9,4 
Chemnitz 44,132,2|12,u 37,0123,2 13,7, Metz 26,0 20,2| 5,8] 26,5/23,0| 3,5 


tionistisches Aussehen oft sprunghaft durch Eingemeindungen und 
häufig auch durch eine allmähliche Veränderung der Zuzugsver- 
hältnisse. 

Wo territoriale Sondereinflüsse so vorwalten, sind allgemeine 
Tendenzen nicht mit Sicherheit festzustellen. Tatsächlich werden 
aber im großen und ganzen doch die Wirkungen der Geburten- und 
Sterbehäufigkeit auf die deutsche Bevölkerungsentwickelung aus- 
geglichen. Wäre dieser Ausgleich ein zufälliger, so hätten doch 
irgendwelche Gründe für den Rückgang der Geburtsziffer gefunden 
werden müssen, wie sie ja für den Rückgang der Sterblichkeit in 
den sanitären Verbesserungen, namentlich der Städte, überzeugend 
nachgewiesen sind. Also liegt wehrscheinlich eine Art mecha- 
nischer Selbstregulierung der Bevölkerungsentfaltung vor: 
die Sterblichkeitsminderung hat den Rückgang der Geburtenhäufig- 
keit verursacht. 

In der Tat kann man sich den Zusammenhang so denken. 
Das Maß der Kindererzeugung bleibt hinter der natürlichen Mög- 
lichkeit bedeutend zurück infolge gesellschaftlicher Willensgründe, 
die durch die Zukunftshoffnungen für die Kinder im Rahmen der 


Der Stand der Statistik der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reiche. 307 


gegebenen Lebenshaltung bestimmt werden. Sobald also die Ver- 
mehrung der Bevölkerung, z. B. infolge Verringerung der Sterb- 
lichkeit, zu sehr beschleunigt wird, kann die hierdurch bewirkte 
Verengerung des Nahrungsspielraums auf gegebener Kul- 
turstufe der Anlaß sein, die Kindererzeugung weiter einzuschränken. 
Eine zurückgehende Sterblichkeit muß diese Wirkung nicht haben, 
sie kann sie aber haben, wenn eben für einen ergiebigeren Bevölke- 
rungsstrom das wirtschaftliche Flußbett nicht breit genug ist. Wenn 
wir also im Westen und Süden des Reichs diese Hemmung des 
Geburtenstroms nicht antreffen, so wollen wir doch beachten — ohne 
gleich etwas „beweisen“ zu wollen — daß der Westen seinen Bedarf 
an Arbeitskräften nicht einmal aus seinen eigenen Bevölkerungs- 
quellen zu decken vermag, und daß fast der ganze Süden nament- 
lich infolge hoher Sterblichkeit bisher einen verhältnismäßig sehr 
geringen Geburtenüberschuß hatte: 1891 standen hierin sowohl Bayern 
r. d. Rh. (8,3 pro Mille), wie Württemberg 9,9 pro Mille, Hohenzollern 
(5,4 pro Mille), Großh. Hessen (11,9 pro Mille), Baden (9,9 pro Mille) 
und Elsaß-Lothringen (8,3 pro Mille) bedeutend hinter dem Reich 
(13,6 pro Mille) zurück. 

Am unmittelbarsten wird sich in der geschilderten Weise die 
Verringerung des Sterbens der kleinen Kinder in den Erwä- 
gungen der Erzeuger fühlbar machen, denn die Kinderzahl, die das 
einzelne Elternpaar nicht gern überschreitet, wird eben, wenn ein 
Kind mehr am Leben bleibt, bereits durch eine um 1 verringerte 
Geburtenzahl erreicht. Ja, bei der Verringerung der Säuglings- 
sterblichkeit kommt noch die rein physiologische Folge hinzu, 
daß beim Lebenbleiben eines Kindes eine neue Empfängnis durch die 
Laktation um ein Jahr und länger hinausgeschoben wird. Das schließt 
aber in vielen Fällen ein weiteres Hinausschieben einer erneuten 
Kindererzeugung oder auch das gänzliche Einstellen derselben in sich. 

Die Wirkung dieses letzten Umstands hängt freilich von der 
Verbreitung der Brusternährung im Deutschen Reich ab. 
Obwohl nun jährlich über die Kindersterblichkeit zahlreiche Arbeiten 
erscheinen, wissen wir über diesen wichtigsten Punkt eigentlich nichts. 
Freilich hat Böckh schon vor 20 Jahren für Berlin gelegentlich 
der Volkszählung die Ernährungsverhältnisse der Säuglinge metho- 
disch ermittelt und auch für die Sterblichkeitsberechnung benutzt). 
Berliner Verhältnisse können aber nicht ohne weiteres verallgemei- 
nert werden, und da der Anteil der brusternährten Kinder von Volks- 
zählung zu Volkszählung schließlich bis auf 38 Proz. herabgegangen 
ist, müssen begründete Zweifel laut werden, ob überhaupt der all- 
gemeine Volkszählungsapparat technisch geeignet ist, so intime 
Familienfragen zu tragen. In Barmen hat man sich deshalb bei 
einer neueren Erhebung über die Ernährungsverhältnisse der Säug- 
linge auf die Geburtsregister gestützt und die ganze Aufnahme durch 


1) Vergl. die Berliner Volkszählungsbände und das Berliner Statist. Jahrbuch. 
20* 


308 Karl Seutemann, 


die Hebammen ausführen lassen !)., Von 100 Säuglingen wurden 
1904 in Barmen 78 Proz. an der Brust und zwar 77,8 Proz. von 
der Mutter genährt. Bis zur 8. Lebenswoche beträgt die Quote der 
Brustkinder noch 90 Proz. und sinkt allmählich bis zum 12. Monat 
auf 61 Proz. Nun sind in Barmen freilich verschiedene Umstände 
zur Beförderung des Selbststillens wirksam: der große Umfang der 
Arbeiterbevölkerung, der aus ökonomischen Gründen auf die Brust- 
ernährung hingewiesen ist, die Art der Barmer Industrie, die ver- 
heiratete Frauen wenig in der Fabrik beschäftigt, aber statt dessen 
manche Hausarbeit bietet, die sehr geringe Zahl der unehelichen 
(Geburten und die geringe Zahl der weiblichen Dienstboten, die ja 
fast niemals ein uneheliches Kind selbst nähren können. Immerhin 
wird man doch vielleicht im Deutschen Reich eine größere Ver- 
breitung der Brusternährung annehmen dürfen, als man bisher zu- 
zugeben geneigt war. Und dann ist auch jener direkte Einfluß der 
verminderten Kindersterblichkeit auf die Geburtenhäufigkeit nicht 
zu unterschätzen. 


Ueber die Alterssterblichkeit haben wir für das Deutsche 
teich Nachrichten erst seit 1901. Nur die Totgeburten sind 
seit alters in den reichsstatistischen Nachrichten enthalten. Die 
fötale Sterblichkeit ist in beständiger Abnahme begriffen; unter 
100 Geburten waren im Deutschen Reich Totgeburten 
1861/70 1871/80 1881/90 1891 1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898 
4,1 4,0 3,7 3,3 3,3 3,2 3,3 3,3 3,3 32 32 

1899 1900 1901 1902 1903 1904 
‚2 3.1 3,1 Y re: 3,1 3,0 
Der Anteil der Totgeburten ist bei den unehelichen Geburten größer 
(1904 4,1 Proz.) als bei den ehelichen (2,9). Die Quote der unehe- 
lich Geborenen ist etwas zurückgegangen. Aber das hat nur 
unmerklich mitgewirkt. Tatsächlich sind 1000 Geburten im Laufe 
der Jahre schon infolge der Abnahme der fötalen Sterblichkeit um 
etwa 7 bis 10 ergiebiger geworden. 

Die Säuglingssterbefälle betrugen im Deutschen Reich, 

auf 100 Lebendgeborene berechnet ?): 


1901 1902 1903 1904 
20,7 18,3 20,4 19,6 


1) Methode und Technik der Erhebung und die Ergebnisse sind genau dargelegt 
bei Kriege und Seutemann, Ernährungsverhältnisse und Sterblichkeit der Säugliuge in 
Barmen. Eine statistische Untersuchung. (Centralblatt für allgemeine Gesundheitspflege, 
Jahrg. 25, 1906.) 

2) Bezieht man die gestorbenen Säuglinge eines Jahres, z. B. 1903, auf die Lebend- 
geborenen desselben Kalenderjahres, so ist diese Beziehung inkorrekt, weil sich die 
Säuglingssterblichkeit des Geburtenstammes 1903 im Jahre 1904 fortsetzt und weil die 
gestorbenen Säuglinge 1903 zum Teil aus dem Geburtenstamme 1902 hervorgegangen 
sind. Man unterstellt also bei jener inkorrekten Beziehung, daß unter den Säuglings- 
sterbefällen 1903 ebensoviele aus dem Geburtenstamme 1902 sind, wie unter den Säug- 
lingssterbefällen 1904 aus dem Geburtenstamme 1903, so daß jene Sterbegesamtheit für 
diese eingesetzt werden kann. Aus praktischen Gründen ist es ganz allgemein üblich, 
so zu verfahren. Bei zeitlichen Reihen gleichen sich die Ungenauigkeiten überdies voll- 
ständig aus. 


Der Stand der Statistik der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reiche. 309 


.. Das Schwanken der Zahlen darf uns nicht irre machen, da die 
Säuglingssterblichkeit der einzelnen Jahre sehr von der Sommer- 
temperatur der Jahre abhängig ist. Die Gliederung der Säuglings- 
sterbefälle im Deutschen Reiche nach Kalendermonaten wird erst 
die Statistik des Reichsgesundheitsamtes bringen. Einen Anhalt 
kann uns aber schon die Häufigkeit der Sterbefälle überhaupt in den 
Kalendermonaten geben. Es wurden auf einen Tag der folgenden 
Monate gezählt . . . Sterbefälle: 


Jahr | Jan. | Febr. | März | April | Mai | Juni | Juli | Aug. | Sept. | Okt. | Nov. | Dez. 


] | 12 | aa az 128% 
1901 | 3385 | 3385 | 3422 | 3362 | 3181 |3047 | 3460 | 3807 | 3058 | 2773 2835 | 2895 
1902 | 2888 |3220 | 3271 |3172 |3324 | 3073 | 2844 | 2954 | 2919 | 2848 2915 | 3483 
1903 | 3345 |3687 | 3531 |3465 |3330 p e | 3572 


| 3520 | 3201 | 3003 | 3155 
1904 | 3405 |3333 | 3445 |3339 |3236 |3080 |3610 |4112 |3336 | 2989 | 3022 | 3291 


Die geringe Kindersterblichkeit des Jahres 1902 ist offenbar durch 
die überaus geringe Kindersterblichkeit im Juli und August dieses 
Jahres bewirkt. Diese Monate hatten im Jahre 1902 eine so niedrige 
Temperatur (16,4° C und 15,3° C im Durchschnitt), wie sie seit 
1893 1) niemals beobachtet ist. 

In Preußen ergibt sich folgende längere Reihe der Säuglings- 
sterblichkeit ?): 


332 336 336 | 334 287 | 332 | 306 


Familienstand Von 1000 Lebendgeborenen starben im 1. Lebensjahr 
Stadt—Land 1881/85 | 1886/90 | 1891/95 (1896/1900 | 1901 |1902 | 1903 |1904 
=== M M = mn 
| j | 
Bei den f Stadt | 211 210 203 195 | 195 | 162 | 183 | 179 
Ehelichen | Land 186 | 187 187 185 | 183 | 162 | 184 | 172 
Bei den f Stadt | 398 | 395 | 385 374 |377 |305 |342 |333 
Unehelichen | Land 319 | 
| 


Die Säuglingssterblichkeit der Städte ist also schon seit längerer 
Zeit beträchtlich gesunken, dagegen ist auf dem Lande eine an- 
haltende Minderung der Sterblichkeit der Neugeborenen kaum zu 
verzeichnen ë). Deshalb mag wohl auf dem Lande die Minderung der 
Geburtsziffer erst später eingesetzt haben, viel unregelmäßiger als in 
den Städten verlaufen sein und weniger ersichtliche Beziehungen zu 
den Sterblichkeitsvorgängen haben. Immerhin kann auch in den 
Städten die Minderung der Säuglingssterblichkeit nicht als aus- 
reichender Antrieb zur Einschränkung der Kinderzahl gelten. 
Denn der Mehrertrag an Lebenden, der durch den Abfall der fötalen 
und Säuglingssterblichkeit in den preußischen Städten entsteht, be- 
trägt nur etwa 30 auf 1000 Geburten im Verhältnis zum Jahre 1891, 
während der Ausfall an Geburten fast 90 auf 1000 Geburten ausmacht. 

Also müssen sich auch noch die Wandlungen der Sterblichkeit 


1) Soweit reichen die Nachweise im Statist. Jahrb. f. d. Deutsche Reich zurück. 
2) Statist. Jahrb. f. d. Preuß. Staat, 3. Jahrg., 1905, S. 20 ff. 
_ 3) Ballod a. a. O. stellt, indem er sich auf die Ergebnisse einzelner Kalenderjahre 
stützt, eine geringe Zunahme der Säuglingssterblichkeit auf dem Lande fest. Eine solche 
liegt nicht vor. 


310 Karl Seutemann, 


der übereinjährigen Kinder als wirkungsvoll erweisen. Ueber 
die Entwickelung der Alterssterblichkeit in Deutschland haben wir 
in Ballods Arbeit über die mittlere Lebensdauer in Stadt und 
Land eine neuere, auf zuverlässiger Methode fußende schöne Unter- 
suchung. DBallod berechnet für Preußen folgende Zunahme der 
mittleren Lebensdauer !): 


Für Peischen Großstädte | Mittelstidte | Kleinstädte Land 


` Zeitraum 
im Alter von = í A | r 
Männer|Frauen|Männer|Frauen{Männer Frauen Männer Frauen 


0 Jahren | 1880/81 30,2 | 35,1 34,3 | 38,6 35,7 | 39,3 39,1 41,7 
(Neuge- || 1595/96 | 37,8 | 43,6 | 39,2 | 44,6 | 40,3 | 44,8 | 43,2 | 45,8 
borene) \ 1900/01 39,2 | 44,8 40,0 | 44,9 40,5 | 45,1 43,7 46,5 

| 1880/81 36,6 | 42,0 | 35,5 | 40,7 36,9 | 40,6 | 40,1 42,0 

20 Jahren | 1895/96 39,0 | 44,3 38,9 | 43,4 39,8 | 43,8 43,3 44,2 

| 1900/01 39,3 | 446 | 39,3 | 44,0 | 39,8 | 43,6 | 43,12 | 44,4 


Die Sterblichkeit der Kinder ist hiernach ungleich viel stärker als 
die der Erwachsenen zurückgegangen, und zwar am stärksten in 
den Städten. Namentlich hat sich auch die Sterblichkeit der Kinder 
von 2 bis 5 Jahren vermindert. Nach Ballod starben von 1000 Lebend- 
geborenen in Preußen im 1. Lebensjahr (a), bis zum 5. Lebensjahre (b): 


Großstädte Mittelstädte Kleinstädtie Landgemeinden 


Mädchen Knaben| Mädchen| Knaben! Mädchen 
ale albia| b ajb] a|b 


Knaben] Mi ädchen Knaben 
alb/ja| bfa | b 


S 

1880/1881 306/428, 269. 395 Tiela 208 328 |229 BEE 306 206 1305| 179| 280 
1890/1891 267/362 231 331 235| 1331) 199. 295|. |. | » j212|303)181| 273 
1805/1896 248| 330 211,295 2221305 189) 268 |221) 295 189, 265 |211) 285179] 253 


Die Sterblichkeit Hex 1. Dekana Nkras ist ganz ausschlaggebend von 
dem Stande der Ernährungsverhältnisse abhängig. Darum kommen 
die sänitären Verbesserungen ungehemmter bei den älteren Kindern 
zur Geltung. 

Das sollte bewiesen werden, daß der Rückgang der Sterbe- 
ziffer in besonders starkem Maße durch den Rückgang der Sterb- 
lichkeit der Kinder bewirkt sei. Denn so wird der Einfluß zurück- 
gehender Sterblichkeit auf die Geburtsziffer am leichtesten verständ- 
lich. Im letzten Resultat ist in Preußen, obwohl auch die 
Sterblichkeit der Erwachsenen gesunken ist, der Anteil der gestor- 
benen Kinder bis zu 15 Jahren an 1000 Gestorbenen überhaupt so 
herabgegangen: 1886/90: 531, 1891/95: 523, 1896/1900: 513, 1901: 
517, 1902: 479, 1903: 502, 1904: 487 2). Bis in die letzten Jahre war 
also der Rückgang der Sterbeziffer am meisten den Kindern zu danken. 


1) d. h. die durchschnittliche weitere Lebensdauer in Jahren, Summe der Jahre, 
die die Personen eines bestimmten Lebensalters zusammen noch weiter leben, dividiert 
durch die Anzahl dieser Personen. Die Zahlen für 1900/01 nach dem Statist. Jahrb. 
f. d. Preuß. Staat, 3. Jahrg., 1905, S. 24. 

2) Statist, Jahrb. f. d. Preuß, Staat, 3. Jahrg, 1905, S. 20. Vgl. auch Brösike 
88.0.8558; 


Der Stand der Statistik der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reiche. 311 


Die Auffassung der geschilderten Zusammenhänge läßt den 
Rückgang der Geburtsziffer im Deutschen Reiche in einer Beleuch- 
tung erscheinen, bei der alles Ungünstige verschwindet. Wir brauchen 
nicht mehr anzunehmen, daß er die Folge einer allzu verfeinerten 
Kultur ist. Bei dem Anschauen dieses sich von selbst wiederher- 
stellenden Gleichgewichtes verlieren auch sonstige populatio- 
nistische Befürchtungen, zumal die wegen des volksver- 
zehrenden Einflusses der Städte an Bedeutung. Zwar sind 
die übertriebenen Vorstellungen, die über die Lebensfähigkeit der 
städtischen Bevölkerung eine Zeit lang namentlich infolge des Buches 
von G. Hansen herrschten, an der Hand der wertvollen Arbeiten 
Bleicherst), Ballods!) und Kuczynskis?) wohl überall be- 
richtigt. Unzweifelhaft haben aber die Städte im ganzen — wie 
auch aus den oben gegebenen Darlegungen hervorgeht — infolge 
einer bedeutend geringeren ehelichen Fruchtbarkeit und einer 
größeren Sterblichkeit: gegenwärtig eine schwächere Regenerations- 
und Entfaltungskraft als das Land. Der tatsächliche Geburten- 
überschuß der Städte läßt diese Lebenskraft viel zu günstig 
erscheinen, weil die städtische allgemeine Geburts- und Sterbeziffer 
durch den Zuzug in den besten Altersjahren günstig 
beeinflußt wird. Ballod hat es deshalb versucht, den städtischen 
Geburtenüberschuß unabhängig vom Einflusse der Wanderungen 
auf den Altersaufbau zu berechnen. 

Bei der Sterblichkeitsberechnung weiß man dem stö- 
renden Einfluß der Wanderungen auf die Altersverteilung dadurch 
zu begegnen, daß die allgemeine Sterbeziffer nicht auf Grund der 
tatsächlichen Altersverteilung, sondern nach der Altersgliederung der 
Lebenden der Sterbetafel berechnet wird. Da die Alters- 
gliederung der Lebenden der Sterbetafel entsteht, indem man die 
Sterbehäufigkeit der einzelnen Altersabschnitte in einem bestimmten 
Zeitraum als konstant unterstellt und sie auf eine Geborenengesamt- 
heit anwendet, die nun vom 0. bis zum 100. Altersjahre je nach dem 
Sterbemaße stufenweise abgeschrieben wird, so ist die allgemeine 
Sterbeziffer der Sterbetafel ein genauer Ausdruck für die Ge- 
samtwirkungen der Sterblichkeit eines bestimmten Zeitraumes. 
Es werden zunächst die Wirkungen der Sterblichkeit auf die Alters- 
verteilung der Bevölkerung ermittelt und schließlich die Wirkungen 
dieser Altersgliederung auf die allgemeine Häufigkeit der Sterbefälle 
festgestellt. Sofern es sich also um die Gewinnung eines abstrakten 
allgemeinen Sterbemaßes für eine Bevölkerung handelt, unter Aus- 
schluß des Einflusses sonstiger Bevölkerungsvorgänge, die wie 
Wanderungen, Geburtenhöhe und bisherige Sterblichkeit die Alters- 
gliederung und damit die Sterbehäufigkeit der Bevölkerung beein- 
tlussen, ist die Sterbetafel der korrekte Weg dazu. 

Böckh und nach ihm Ballod haben es nun versucht, auch 
die Geburten in den einzelnen Altersklassen auf die Lebenden 


1) a. a. O. 
2) Der Zug nach der Stadt. Münchener volkswirtsch. Studien, No. 24, 1897. 


312 Karl Seutemann, 


der Sterbetafel zu reduzieren und danach die allgemeine 
Geburtsziffer zu korrigieren. Ballod vergleicht dann diese korri- 
gierte Geburtsziffern der preußischen Städte mit ihren aus der 
Sterbetafel abgeleiteten Sterbeziffern und kommt zu dem Resultat, 
daß in den östlichen Großstädten sogar ein Sterbeüberschuß zu kon- 
statieren sei, sobald eben der günstige Einfluß der Wanderungen 
ausgeschaltet werde. 


Die ganze Berechnung und Beweisführung Ballods ist aber un- 
haltbar. Für die Frage des Geburtsüberschusses können wir das 
Sterblichkeitsmaß der Sterbetafel nicht gebrauchen, sondern wir 
brauchen dafür die Sterbehäufigkeit der städtischen Bevölkerung 
unter der Annahme eines nur durch die Wanderungen nicht alte- 
rierten Altersaufbaus. Wir dürfen keineswegs auch den etwaigen Eintluß 
zunehmender Geburtengesamtheiten auf den Altersaufbau 
der Bevölkerung ausschalten. Und ebensowenig dürfen wir das bei der 
Berechnung der allgemeinen Geburtsziffer tun. Denn der Alters- 
aufbau der vom Zuzug abgeschnittenen städtischen Bevölkerung wird 
doch nicht etwa bloß durch die Höhe der Sterblichkeit bestimmt, 
sondern ebenso durch das Verhältnis der Zahl der Ge- 
burten zur Zahl der Sterbefälle. 


Ballod unterstellt das, was allenfalls zu beweisen war, daß 
die sich selbst überlassene städtische Bevölkerung stationär sei. 
Er kommt dann aber im Verlauf der Rechnung zu dem Resultat, 
daß sie zum Teil einen Geburten-, zum Teil einen Sterbeüberschuß 
hat, daß sie also nicht stationär ist. Wenn sie aber nicht stationär 
ist und durchweg oder überwiegend einen Geburtenüberschuß hat, so 
hat sie auf alle Fälle eine günstigere Sterbehäufigkeit, vielleicht 
auch eine günstigere Geburtenhäufigkeit, mithin unbedingt einen 
günstigeren Geburtenüberschuß, als wie Ballod berechnet. 

Wie sich die Altersgliederung einer Bevölkerung mit Geburten- 
überschuß (ohne erhebliche Wanderungseinflüsse) zu der Alters- 
gliederung der Lebenden der Sterbetafel verhält, können wir bei 
der preußischen Bevölkerung sehen. Von 100 der männlichen 
bezw. weiblichen preußischen Bevölkerung standen 1900 im Alter 
von... Jahren !) 


bis 5 | über | über | über | über | über | über | über dar- 
| 5—10 10—15 15— 20 120—30/30—40 40—50/50—60| über 
u Á Männer 6 
Fakt. Bevölkerung 13,7 11,8 10,8 9,6 16,8 13,2 | 10,0 7,2 6,9 
Lebende d. Sterbetafel| 9,5 8,8 8,2 8,0 15,4 | 14,4 13,1 10,8 $ 12,5 
Frauen 

Fakt. Bevölkerung 13,1 | ı1,a | 10,4 | 9,2 16,6 | 13,1 10,2 7,9 8,1 
Lebende d. Sterbetafel] 9,3 80 | 80 | 7,9 15,8 | 14,4 | 13,2 | ı1,6 | 121 


1) Nach dem Volkszählungsband der Reichsstatistik und dem Statist. Jahrbuch 
für den Preußischen Staat, Jahrgang 1903. 


Der Stand der Statistik der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reiche. 313 


Zwar haben die Lebenden der Sterbetafel verhältnismäßig weniger 
Kinder in den am meisten gefährdeten Jahren; dafür sind sie aber 
auch in den Altersklassen von 5 bis 30 Jahren, in denen die Sterb- 
lichkeit die weitaus niedrigste ist, bedeutend schwächer und in 
den höheren Altersklassen mit ihrer rasch zunehmenden Sterblich- 
keit in ungleich höherem Maße beteiligt. Auch die für die Gebär- 
tätigkeit besonders in Betracht kommende Altersklasse von 20 bis 
30 Jahren ist bei den Lebenden der Sterbetafel schwächer besetzt, 
doch wird das zum Teil wenigstens durch die Verhältnisse der 
nächsten Altersklasse wieder ausgeglichen. 

Es gibt keine Möglichkeit, den Altersaufbau der städtischen Be- 
völkerung lediglich unter dem Einfluß der Sterblich- 
keit und Geburtenhäufigkeit, unter Ausschluß der 
Wanderungen zu berechnen. Denn dazu muß schon vorher 
das bekannt sein, was das Ziel der Berechnung ist, nämlich die 
Höhe des Geburtenüberschusses in der sich selbst überlassenen 
städtischen Bevölkerung. Das Problem, an das sich Ballod heran- 
gewagt hat, ist also in exakter Weise nicht zu lösen. Jedenfalls 
ist aber der tatsächliche Geburtenüberschuß der Städte zu groß, 
die eheliche Fruchtbarkeit der Stadtfrauen nicht stark genug dem 
Lande gegenüber herabgesetzt, um die Annahme rechtfertigen zu 
können, die Städte hätten nicht auch ohne Zuwanderung einen be- 
trächtlichen Geburtenüberschuß. 

Im Verlauf unserer Darstellung glaubten wir Tendenzen wahr- 
nehmen und nachweisen zu können, die auf die Erhaltung des Gleich- 
gewichts der wichtigsten Bevölkerungserscheinungen im Deutschen 
Reich hinzielen. Die sinkende Geburtsziffer verliert dadurch ihr un- 
günstiges Aussehen: sie ist nicht mehr ein Zeichen verweichlichter 
Kraft, einer Begleiterscheinung steigenden Wohlstandes. Freilich, 
wenn man die Zahlen nicht meistern, sondern ihnen lernend folgen 
will, so kann man noch kein unbedingt sicheres Urteil fällen; denn 
die Tatsachen sind zu kompliziert, sie widerstreben der Regel, weil 
die Ursachen des Abweichenden nicht zu finden sind. Es werden 
deshalb die Einzelheiten der weiteren deutschen Bevölkerungsent- 
wiekelung fortlaufender Prüfung unterzogen werden müssen, und 
zwar nach dem hier vorangestellten Gesichtspunkt, ob der Abfall der 
Geburtsziffer eine selbständige oder nur eine Ausgleichserscheinung 
ist. So wie sich jetzt die Statistik der Bevölkerungsbewegung im 
Deutschen Reich gestaltet hat, fällt diese Aufgabe in das Arbeits- 
gebiet der reichsstatistischen Aemter. Sie wird um so er- 
folgreicher erfüllt werden können, je gründlicher sich die landes- 
statistischen Aemter der Ursachenerforschung der Bevölkerungs- 
erscheinungen der Landesteile widmen. 


314 F. Lifschitz, 


V 


Zur Methode der Wirtschaftswissenschaft 
bei D. Ricardo. 


Von 
Dr. F. Lifschitz, Bern. 


In den letzten Jahren hat die Theorie auf dem Gebiete der 
Wirtschaftswissenschaft einige Werke aufzuweisen, die wirklich un- 
sere Wissenschaft zu bereichern im stande sind. Ich meine folgende 
Schriften: Cannans „History of the theories of Production and 
Distribution“, Marx’s „Theorien über den Mehrwert“ und Diehls 
„Erläuterungen“, Werke, welche Gemeinsames darin haben, dab 
sie sich auf die klassische Nationalökonomie beziehen, dogmen- 
geschichtlich und dogmenkritisch zugleich verfahren. Was 
das letztere anbelangt, d. h. das Verfahren dogmenkritisch, so muß 
es hoch angeschlagen werden, zumal die Dogmenhistoriker die 
Dogmenkritik fast immer zu vernachlässigen geneigt sind, so daß die 
Theorie in einer Geschichte der Theorien aufgelöst wird und auf 
diese Weise in den Historismus verfallen, der unbedingt bekämpft 
werden muß. Denn er ändert an der Sache nichts, ob der „Histo- 
rismus“ auf dem Gebiete der Wirtschafts- oder auf dem der Dogmen- 
geschichte getrieben wird. Die Dogmengeschichte wie die Wirt- 
schaftsgeschichte kann nur als Hilfsdisziplin der Wirtschafts- 
wissenschaft, niemals als die Wirtschaftswissenschaft selbst betrachtet 
werden. Es ist klar, wie wichtig die oben genannten Werke da- 
durch sind, daß sie auch zugleich dogmenkritisch sind. Von den 
drei genannten Werken kommt für diese Abhandlung hauptsächlich 
das Werk von Diehl in Betracht, weil es sich mit Ricardo befaßt, 
will sagen: ausschließlich der Ricardoforschung ist das Werk von 
Diehl gewidmet. r 

Die Methode Ricardos zu untersuchen bietet vielerlei Schwierig- 
keiten. Ricardo selbst hat weder eine Methodenlehre geschrieben, 
noch hat er Stellung zu der Methodologie genommen, so daß man 
bei der Untersuchung über seine Methode Gefahr läuft, ihm nicht 
gerecht zu bleiben, zumal das Feststellen der Methode eines Denkers 


Zur Methode der Wirtschaftswissenschaft bei D. Ricardo. 315 


nicht besonders leicht ist. Fügt man noch hinzu, daß unsere heutige 
methodologische Terminologie sehr verschieden ist von der des 
Rieardoschen Zeitalters und ferner, daß es hier sehr viel auf die 
Genauigkeit des Ausdruckes ankommt, so liegt auf der Hand, wie 
diese Untersuchung schwierig sein muß. Diese Schwierigkeiten 
werden noch dadurch vergrößert, daß man bei der Behandlung der 
Methode von Ricardo mit einer Reihe von Ansichten sich auseinander- 
zusetzen hat, die die wissenschaftliche Literatur über die Methode 
Ricardos besitzt. Die Forschungsweise Ricardos ist von mehreren 
Wirtschaftstheoretikern getadelt worden. Jede Kritik einer Methode 
aber setzt bekanntlich eine gewisse Auffassung von derselben voraus. 
Demgemäß ist es auch geboten, zu der Kritik der Ricardoschen 
Methode hier Stellung zu nehmen. Es wird ferner hier zu prüfen 
sein, ob diejenigen Vorwürfe, die man Ricardo in methodischer 
Beziehung gemacht hat, gerechtfertigt sind. Dies wird uns einen 
tieferen Einblick gewähren in das Wesen der Methode der klassischen 
Wirtschaftswissenschaft. Ich habe bereits mit Bezug auf die Methode 
von Smith !), Say?) und Thünen ë) die irrtümlichen Ansichten zu 
widerlegen gesucht. Nun soll im folgenden mit Bezug auf die 
Methode Ricardo’s dasselbe geschehen. 

Die Forschungsweise von Ricardo, wie bereits betont wurde, 
ist von mehreren Wirtschaftstheoretikern getadelt worden. So meint 
K. Bücher 4): 

„Ricardo behandelt an verschiedenen Stellen den Jäger und 
Fischer der Urzeit wie zwei kapitalistische Unternehmer.“ Und 
K. Marx5) sagt unter anderem: 

„Im übrigen betrachtet Ricardo die bürgerliche Form der Arbeit 
als die ewige Naturform der gesellschaftlichen Arbeit. Den Urfischer 
und den Urjäger läßt er sofort als Warenbesitzer Fisch und Wild 
austauschen, im Verhältnis der in diesen Tauschwerten vergegen- 
ständlichten Arbeitszeit. Bei dieser Gelegenheit fällt er in den 
Anachronismus, daß Urfischer und Urjäger zur Berechnung ihrer 
Arbeitsinstrumente die 1817 auf der Londoner Börse gangbaren 
Annuitätentabellen zu Rate ziehen.“ Marx‘) spricht an einer anderen 
Stelle von einer „wissenschaftlichen Mangelhaftigkeit“ des Ricardo’schen 
Verfahrens. Auch sagt er’): 

„Ricardo dagegen abstrahiert im Bewußtsein von der Form der 
Konkurrenz, von dew Scheine der Konkurrenz, um die Gesetze 
als solche aufzufassen. Einerseits ist ihm vorgeworfen, daß er 
nicht weit genug geht, nicht vollständig genug in der Abstraktion 


1) Vgl. meine Schrift Ad. Smiths Methode, Bern 1906. 

2) Siehe meine Abh. in Conrads Jahrbüchern, 1904, 

3) Vgl. meine Abh. in Conrads Jahrbüchern, 1903. 

4) Die Entstehung der Volkswirtschaft, 3 Auf., 1901, S. 106. 

5) Zur Kritik der polit. Oekonomie, Stuttgart 1903, S. 43; auch „Das Kapital“, 
5. Auf., 1903. Bd. 1. S. 43, Note, 

6) Theorie über den Mehrwert, II, 1. Teil, S. 5, 1905. 

7) Ibidem, S. 72. 


316 F. Lifschitz, 


ist, andererseits, daß er die Erscheinungsform nur unmittelbar, 
direkt, als Bewähr oder Darstellung der allgemeinen Gesetze auf- 
faßt, keineswegs sie entwickelt. In Bezug auf das erstere ist 
seine Abstraktion zu vollständig, in Bezug auf das zweite ist sie 
formale Abstraktion, die an und für sich falsch ist. Und in einem 
anderen Zusammenhange meint Marx !): 

„Ferner behält Ricardo in einem anderen Punkte recht, nur 
daß er ein historisches Phänomen in der Weise der Oekonomen in 
ein ewiges Gesetz verwandelt.“ Nicht günstiger hat J. B. Say?) 
über die Methode von Ricardo geurteilt. Am heftigsten ist die 
Methode Ricardos seitens der „historischen Schule“ *) und neuer- 
dings von Kleinwächter‘) bekämpft worden. Charakteristisch ist es 
für die Kritiker der Ricardoschen Methode, daß selbst die Verehrer 
von Ricardo seine Methode doch scharf kritisiert, so z. B. Marx. 
Es ist ferner charakteristisch, daß gerade ein großer Verehrer von 
Ricardo vieles dazu beigetragen hat, daß man die Ricardosche 
Methode tadeln zu sollen glaubte. Ricardo’s großer Verehrer und 
Uebersetzer Baumstark sagt folgendes °): 

„Allein Ricardo forscht überall nach den unwandelbaren Grund- 
gesetzen des Verkehrs, gerade so wie der Naturforscher nach den 
unabänderlichen Grundgesetzen der Natur.“ Diese Worte schrieb 
Baumstark in der Vorrede zu seiner Uebersetzung der „Principles“ 
von Ricardo, und man kann sich wohl leicht vorstellen, was sie für 
einen großen Einfluß auf jeden Leser der Uebersetzung ausüben 
mußte, zumal man durch die historische Methode mehr und 
mehr Abneigung gegen die Ricardosche Methode empfunden hat. 
Was Baumstark von Ricardo behauptete (allenfalls mit guter Ab- 
sicht), wurde als die Ansicht von Ricardo selbst betrachtet und in 
folgedessen gegen dieselbe losgezogen. Ob mit Recht — das werden 
die folgenden Blätter zeigen. 

Hat die „historische Schule“ die Ricardosche Methode deswegen 
getadelt, weil sie das induktive Verfahren all zu sehr vernachlässige, 
so meint hingegen Hasbach‘), daß Ricardo auch induktiv geforscht 
habe, indem er den Nachweis zu liefern sucht, daß die Gesetze der 
sog. theoretischen Nationalökonomie auch durch das induktive Ver- 
fahren entstanden seien. Zu bemerken ist, daß Hasbach in den- 
selben Irrtum verfällt, wie Mill”). welcher Einzelfall mit Induk- 
tion verwechselt hat. So weit gehen die Ansichten über die Methode 
Ricardos in der Literatur der Wirtschaftswissenschaft auseinander, 


1) Theorie über den Mehrwert, II, 1. Teil, S. 171, 1905. 

2) Vgl. darüber meine Abhandlung über Say in Conrads Jahrbüchern, 1904. 

3) Vgl. R. Schüller, Die klass. Nationalökonomie und ihre Gegner, 1895. 

4) Vgl. dessen Lehrbuch der Nationalökonomie und Hasbachs Kritik in Conrads 
Jahrbüchern, 1903. 

5) S. II—IV der „Grundgesetze, 1877, 

6) Vgl. dessen Abhandlung in Conrads Jahrbüchern, 1904: „Mit welcher Methode 
wurden die Gesetze der theoretischen Nationalök. gefunden“? 

7) Vgl. meine Abhandlung über Thünen in Conrads Jahrbüchern, 1903. 


Zur Methode der Wirtschaftswissenschaft bei D. Ricardo. 317 


sie sind zum Teil gerade entgegengesetzt. Und dies ist auch be- 
greiflich. Man ist über das Problem der Methodologie der Wirt- 
schaftswissenschaft uneinig, jeder spricht sogar seine Sprache, und 
daher sind die Auffassungen von der Methode Ricardos auch ver- 
schieden. Bei einer Darstellung der Methode Ricardos gilt es mit 
diesen verschiedenen Meinungen sich auseinanderzusetzen. 

Und wenn man unternehmen will, mit den Ansichten über 
Ricardos Methode sich auseinanderzusetzen, so muß es hauptsächlich 
mit den Ansichten von Diehl geschehen, weil der letztere!) ein- 
gehend sich mit Ricardo befaßt hat. Es ist daher geboten, die Auf- 
fassung Diehls von der Ricardoschen Methode vorzuführen, wie 
auch dessen diesbezügliche Kritik. Es kann sich hier nur um die 
Kritik der Ansichten Diehls über die Methode von Ricardo, keines- 
wegs aber um die Methodologie Diehls im allgemeinen handeln. 
Dies soll an einer anderen Stelle geschehen. 

„Wenn Ricardo“ — meint Diehl?) — „die Unterscheidung 
zwischen den verschiedenen Stufen der volkswirtschaftlichen Ent- 
wickelung bei seiner Werttheorie nicht berücksichtigt, ihr vielmehr 
einen „allgemeinen“, keinen „historischen“ Charakter zuweist, so 
hat dies seinen Grund in seiner Auffassung der Volkswirtschaft. 
Für ihn ist der schlechthin „natürliche“ und „ewige“ Zustand der 
Volkswirtschaft. der, wobei Privateigentümer unter einander im freien 
Wettbewerb ihre Güter austauschen.“ Auch sagt Diehl?) bei einem 
anderen Zusammenhang: „Im Gegensatze zu Ricardo hat Marx sein 
Wertgesetz nur für eine bestimmte Phase des Wirtschaftslebens 
aufgestellt, oder anders ausgedrückt: bei Marx hat das Wertgesetz 
nur historische, beiRicardo allgemeine Bedeutung: wo immer 
Menschen wirtschaften, tauschen sie auch — meint Ricardo — nach 
dem Arbeitswerte. Demnach war das Wertgesetz für Ricardo ein 
allgemeines, „ewiges“ Gesetz für alle Formen und Epochen des 
Wirtschaftslebens. Ganz anders bei Marx: Marx kennt allgemeine 
„ewige“ Wirtschaftsgesetze überhaupt nicht, sondern nur Gesetze 
für bestimmte Produktionsverhältnisse.“  Wiederholt behauptet 
Diehl’) von Ricardo, der letztere habe „Naturgesetze*, „ewige“ 
und „allgemeine“ aufgestellt. Der Ausgangspunkt Diehls in seiner 
Kritik der Methode von Ricardo läßt sich in kurzem etwa so zu- 
sammenfassen: man müsse unterscheiden zwischen „Natur“ und 
„Kultur“; auf dem Gebiete der „Kulturwissenschaften“ kann von 
„Naturgesetzen“ keine Rede sein. Ricardo betrachte aber die Wirt- 
schaftswissenschaft als eine Naturwissenschaft, bezw. er stelle „Natur- 
gesetze“ auf, was nach Diehl unzulässig sei. 

Wie bereits betont wurde, so werden wir hier mit der allge- 


1) Vgl. dessen „Sozialwissenschaftliche Erläuterungen zu D. Ricardos Grund- 
gesetzen“ ete., 2 Bde., Leipzig, 1905. 

2) Erläuterungen, Bd. 1, S. 20—21. 

3) Ibidem, S. 97. 

4) Ibidem, Bd. 2, S. 486—493. 


318 F. Lifschitz, 


meinen Methodologie!) der Wirtschaftswissenschaft uns nicht be- 
schäftigen, sondern lediglich mit der Methode von Ricardo zu tun 
haben. Die Auseinandersetzung mit Diehl mit Bezug auf die 
Methodologie soll bei einem anderen Zusammenhang geschehen. 
Hier fragt sich nun folgendes: Sind wirklich die Vorwürfe, die Diehl 
Ricardo in methodischer Beziehung macht, berechtigt? Hat wirklich 
Ricardo „allgemeine“, „ewige“, „absolute“ Gesetze, „Naturgesetze‘ 
aufgestellt? Wie hat Ricardo das Geltungsbereich seiner „Gesetze“ 
sich vorgestellt und vollends: hat Ricardo in der Tat geglaubt, daß 
man auf dem Gebiete der Wirtschaftswissenschaft von „festen” 
Prinzipien, von „ewigen Gesetzen“ reden darf, oder mit anderen 
Worten: wie hat sich Ricardo zu der Vollkommenheit oder Unvoll- 
kommenheit der Wirtschaftswissenschaft gestellt? Das sind Fragen 
von eminenter Wichtigkeit, zumal man gegen den „Dogmatismus 
von Ricardo von jeher loszuziehen zu sollen glaubte. Im allge- 
meinen hat man Ricardo entweder sehr gelobt oder viel geschimpft. 
aber am wenigsten studiert. Und in der Tat ist es sehr schwierig, 
in dem Ricardoschen Gedankengang sich einzuleben. Er ist sehr 
abstrakt; dem Flachkopf zu „metaphysisch“, so daß er es nicht 
recht verdauen "kann und mit dem Wort „Metaphysik“ abtut. Es 
ist wirklich höchst zu begrüßen, daß Diehl unternommen hat, Ricardos 
Lehren eingehend zu untersuchen. Dementsprechend muß die 
folgende Kritik der Diehlschen Auffassung von der Methode Ricardos 
um so ausführlicher gehalten werden. Mit ernsten Arbeiten mub 
man wohl ernst rechnen. 

Wir wissen nun, daß Diehl, wie mehrere andere, die „Natur- 
gesetze“, die Ricardo aufgestellt haben soll, bekämpft, er weist also 
den „Absolutismus“ der Dogmen entschieden zurück. Bekanntlich 
besteht der „Absolutismus* der Dogmen eigentlich darin, daß man 
bei der Aufstellung eines Gesetzes oder eines Dogmas demselben 
ein Geltungsbereich einräumt ohne Rücksicht auf Ort und Zeit. 
Z. B. habe ich ein Wertgesetz aufgestellt im „absoluten“ Sinne, 
so heißt es, daß dies Wertgesetz seine Geltung überall und 
immer hat ohne Rücksicht auf die Verschiedenheit der Länder 
und der historischen Epochen. Diese Verschiedenheit ist sehr 
mannigfaltig und daher ist es auch klar, daß das Unberücksichtigen 
der Zeit- und Örtsverschiedenheit, das bei dem „absoluten“ Gesetz 
stattfindet, das Ignorieren auch von anderen Bedingungen mit sich 
bringt. Dies muß mit Bezug auf Ricardo nun einer Prüfung unter- 
worfen werden. Es liegt Schreiber dieser Zeilen fern. Ricardos 
Methode zu „modernisieren“, obwohl es andere mehrmals getan 
haben?), sondern lediglich objektiv zu prüfen. Unsere Prüfung soll 


1) Vgl. diesbezüglich meine Abhandlung „Zur Methodologie der Wirtschafts- 
wissenschaft im Archiv für system. Philosophie, 1905. 

2) Ad. Held in „Zwei Bücher zur soz. Gesch. Englands“, S. 161 meint, dab 
Smith bereits erkannt habe, Eigentum und Kapital seien „historische Kategorien“, in- 
dem Smith sagt, daß ein Urzustand weder Kapitalansammlung noch Privatgrundbesitz 
vorhanden gewesen wären. Von dieser Auffassung der „historischen Kategorie‘ könnte 


Zur Methode der Wirtschaftswissenschaft bei D. Ricardo. 319 


mit folgender Frage sich befassen: nimmt Ricardo Rücksicht auf die 
psychischen Eigenschaften der Menschen und deren Einfluß auf die 
Volkswirtschaft? oder ignoriert er diese Eigenschaften vollständig bei 
seinem Suchen nach „ewigen Gesetzen“? Bekanntlich ist die Anwen- 
dung der Psychologie von vielen befürwortet worden mit Bezug auf die 
Wirtschaftswissenschaft und das Fehlen derselben den Klassikern 
mehrmals zum Vorwurf gemacht worden. Von der Frage der Be- 
rechtigung der Psychologie auf dem Gebiete der Wirtschaftswissen- 
schaft ist hier abzusehen, da es sich um das Problem der „Natur- 
gesetze* bei Ricardo handelt, nicht aber um das psychologische 
Problem auf dem Gebiete unserer Wissenschaft. Selbstverständlich 
darf man nicht in dem Sinne verstehen, wenn davon die Rede sein 
soll, daß Ricardo auch das Psychologische berücksichtigt, als ob 
Ricardo im modernen Sinne des Wortes psychologisch verfahren 
hätte. Es soll lediglich nur das gemeint sein, daß bereits Ricardo 
zu seiner Zeit mit den psychischen Eigenschaften der Menschen 
wohl gerechnet hat, daß: er bereits die dadurch entstehende Kom- 
pliziertheit der wirtschaftlichen Erscheinungen geahnt hat und zwar 
ohne dabei sich mit psychologischen Phrasen zu schmücken, wie es 
heutzutage überall mode ist. Dies wird zur Genüge das Folgende 
zeigen. 

Ricardo !) betont, daß die Gestaltung des Preises von solchem 
Faktor abhängig ist wie „the caprice of taste“. Ferner, daß bei der 
Wahl einer Beschäftigung der Kapitalist?) mit solchen Bedingungen 
rechnet, wie „cleanliness, ease, or any other real or fancied advantage 
which one employment may possess over another“. Er zieht auch 
in Betracht die Wirkung der Mode ë). Und mit Bezug auf den 
natürlichen Preis der Arbeit meint er) unter anderem: „it essentially 
depends on the habits and customs of the people“. Er betont’) auch 
den Einfluß der Mode auf die Profitgestaltung. Charakteristisch ist 
dieser Passus 6); „Experience, however, shews, that the fancied or 
real insecurity of capital, wher not under the immediate control of 


man ebenfalls Ricardo zu denjenigen zählen, die das Grundeigentum und Kapital als 
„historische Kategorien‘ betrachten, denn in seinen „Principles“ führt er den Smithschen 
Satz zusiimmend an. Vgl. Principles, S. 3—4, 3. Aufl., London 1821. Allein die 
Heldsche Auffassung der „hist. Kategorie‘ ist nicht zutreffend. Denn daß man erkannt 
hat, im Urzustand sei kein Privateigentum vorhanden gewesen, sagt nichts für eine 
historische Auffassung. Allerdings ist Smith der Meinung, daß Grundbesitz und 
Kapital hist. Kategorien seien, weil sie nach ihm je nach den historischen Bedin- 
gungen wechseln. Vgl. darüber meine Schrift „Smiths Methode“, 1906. In der deut- 
schen Literatur ist meines Wissens J. Schön der erste gewesen, welcher gesagt hat: 
„Das Grundeigentum ist eine historische Erscheinung, die: von tausend Umständen ab- 
hängig ist“. Vgl. dessen „Neue Untersuchung der Nationalökonomie“, S. 143, 1835. 

1) Principles, 3. Aufl., S. 82, London 1821; ich zitiere im folgenden immer nach 
dieser Auflage. 

2) Ibidem. 

3) Ibidem, S. 83; auch S. 277, 290. 

4) Ibidem, 8. 91. 

5) Ibidem, 8. 120. 

6) Ibidem, S. 143. 


320 F. Lifschitz, 


its owner, together with the natural disinclination which every man 
has not quit the country of his birth and connexions, and intrust 
himself with all his habits fixed, to a strenge government and new 
laws, check the emigration of capital.“ Die Nachfrage hängt nach 
Ricardo auch von psychischen Faktoren ab 1). 

Die angeführten Stellen zeigen zur Genüge, daß Ricardo mit 
den psychischen Faktoren gerechnet hat. Da die psychischen Eigen- 
schaften dem Wechsel unterworfen sind, so wird es klar, daß es 
demnach schwer ist, anzunehmen, daß Ricardo „ewige“ Gesetze 
aufgestellt hat. Trotzdem wird es von Ricardo behauptet. Es bleibt 
nun übrig, zu untersuchen, was für ein Geltungsbereich hat Ricardo 
seinen „Gesetzen“ eingeräumt. 

Daß Ricardo fern davon war, „Naturgesetze“ für alle Ewigkeit 
aufzustellen, geht aus mehreren Ansichten hervor, die er selbst dar- 
gestellt hat. Bekanntlich war Ricardo Freihändler, und doch macht 
er Konzessionen auch dem Schutzzoll und zwar nicht nur in seiner 
Schrift „Zum Schutz des Ackerbaues*, sondern auch in den früheren 
Schriften ?). Er selbst macht Malthus zum Vorwurf, er „verall- 
gemeinere“, indem er von Malthus sagt: 

„Are there no circumstances under which the fertility of the 
land, and the plenty of its produce may be diminished, without 
occasioning a diminished excess of its price above the cost of pro- 
duetion, that is to say, a diminished rent? If there are, Mr. Mal- 
thus’s proposition is much too universal; for he appears to me to 
state it as a general principle true under all circumstances, that 
rent will rise with the increased fertility of the land, and will fall 
with its diminished fertility“ ®). Hier ist klar gesagt, wie weit Ri- 
cardo selbst gegen „ewige“ Gesetze war. Das werden wir noch 
mehrmals bei ihm finden. Wir müssen aber vor allem noch unter- 
suchen die Form, in welcher Ricardo seine „Gesetze“ zum Aus- 
druck bringt. Denn die Form, in welcher ein „Gesetz“ zum Ausdruck 
gelangt, kann manchmal darüber Aufschluß geben, inwiefern und 
wieweit der Urheber des „Gesetzes dogmatisch-absolut ge- 
dacht hat und umgekehrt. Gerade bei Ricardo werden wir es erfahren, 
daß er durchaus eine höchst reservierte Sprache führt mit Bezug 
auf seine „Gesetze“. Wunder muß es doch uns nehmen, daß trotz- 
dem Ricardo zum Vorwurf gemacht wurde, er hätte „allgemeine“. 
„ewige“ Naturgesetze aufgestellt! 

Die Form, in welche Ricardo seine „Gesetze“ *) kleidet, ist 

1) Principles, S$. 307, 

2) „Wenn auch das Land, selbst bei einem nur vorübergehend hohen Getreide- 
preis, mehr verliert, als die Pächter gewinnen, so ist es doch vielleicht billig, für drei 
oder vier Jahre die Einfuhr einschränkende Zölle aufzulegen und zu erklären, daß 
nach dieser Zeit der Getreidehandel frei sein soll, und eingeführtes Getreide keiner 
anderen Abgabe unterliegt als einer solchen, womit wir etwa geeignet finden unser 
inländisches Getreide zu belasten“. Ricardo: „Ein Versuch über den Einfluß“ ete., 1815, 
deutsch vor Leser, 1905, S. 33—34; auch „Prineiples“, S. 312—313. 

3) Principles, S. 489. 

4) Vergl. Principles, S. V, preface und S. 9, 25, 35, 53, 55, 77, 80, 81, 85. 
86, 101, 107, 132, 138, 231, 244, 421. 


Zur Methode der Wirtschaftswissenschaft bei D. Ricardo. 321 


á 


eine durchaus verschiedene. So gebraucht er z. B. „Laws“, „general 
Laws“, „rule“ und auch „general rule“, „principle“, „tends“ und 
„has tendency“. Vergleicht man diese verschiedenen Ausdrücke mit 
Bezug auf den Begriff des Absolutismus der „Dogmen“, so 
leuchtet jedem ein, daß der Begriff „principle“ im dogmatischen 
Sinne der weitgehendste ist. Denn wir wissen jetzt, wie J. Bonar’) 
hervorgehoben hat, daß bei den englischen ökonomischen Schrift- 
stellern noch vor kurzem das Wort „Law“ willkürlich für beinahe 
jede Gleichförmigkeit im Gebrauche war. Also, wie man sieht, hatte 
das Wort „Law“ beinahe dieselbe Bedeutung wie „Regel“. Ferner 
ist noch das in Betracht zu ziehen, daß der Ausdruck „principle“ 
in der englischen Wirtschaftswissenschaft ?) älter ist als der Aus- 
druck „Law“. Nach Bonar’) wäre Ricardo der erste gewesen, 
welcher in der englischen Wirtschaftswissenschaft das Wort „Law“ 
für „Principien“ gebracht hat. 

Zwar hat Ricardo sein Buch mit dem Namen „Principles“ be- 
titelt, allein der Ausdruck .„prineiple* kommt am allerwenigsten in 
diesem Buche vor, indem Ricardo von „Law“, „Rule“ und „has a ten- 
dency“ spricht. Nur ein paarmal finden wir den Ausdruck „prin- 
ciple“ in seinen „Principles“. Man sieht hier klar, daß Ricardo an 
der Stelle von „principle“ einen anderen Ausdruck suchen zu sollen 
glaubte. Daß er doch sein Buch mit „Principles“ betitelt, wird 
wohl darauf zurückzuführen sein, daß der Ausdruck „principle“ 
älter ist als „Law“. Zieht man alles dies in Betracht, d. h. daß 
Ricardo von „Law“ und „Rule“, „has a tendency“ spricht und „Law“ 
zu seiner Zeit für jede Gleichförmigkeit gebraucht wurde, so muß 
ohne weiteres zugegeben werden, daß es unzulässig ist, Ricardo zum 
Vorwurf zu machen, er hätte „Naturgesetze“, „ewige“ Wirtschafts- 
gesetze aufgestellt, zumal wir den Ausdruck „Naturgesetze* bei ihm 
überhaupt nicht‘) finden. Allein mit den oben angeführten Be- 
weisen gegen die angeblichen „Naturgesetze“ Ricardo’s ist noch 
lange nicht erschöpft, was man gegen diese Behauptung noch an- 
führen kann. Ricardo macht noch größere Vorbehalte mit Bezug 
auf seine Theorien und Lehren, welche er aufzustellen sucht. Es 
istin der Tat unbegreiflich, wie man Ricardo zum Vorwurf macht, 
er habe „Naturgesetze“ für „alle Ewigkeit“ aufgestellt, wenn man 
seine Ausdrucksweise sorgfältig verfolgt. Denn die reservierten Aus- 
drücke, wie „almost“, „probably“, „perhaps“ und „nearly“ kommen 


1) Vergl. dessen: „Der Gebrauch des Ausdruckes „Gesetz“ in der Nationalök.“ in 
Zeitschr. f. Volksw., Sozialp. u. Verw., 1892, 8. 201. 

2) Ibidem, S. 204. 

3) Ibidem, S. 205. 

4) Wenn Aug. Oncken in seiner Besprechung über Diehl (Krit. Blätter, 1905) 
sagt, daß man bei Ricardo keine „Naturgesetze‘ finde, so hat er recht. Andererseits 
beruht es auf einem Mißverständnis, wenn er glaubt, Diehl wäre nicht konsequent ge- 
blieben, indem er „Naturgesetze‘‘ verwirft und steht doch auf dem Standpunkt des 
Gesetzes des abnehmenden Bodenertrages! Nicht ‚„Naturgesetze‘“ auf dem Gebiete der 
Natarwissenschaften, sondern auf dem der Geisteswissenschaften sucht Diehl zu be- 
streiten, 


Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVII), 21 


322 F. Lifschitz, 


bei Ricardo mehrmals vor!) und zwar in Zusammenhang mit seinen 
wichtigen Lehren, was gegen den angeblichen Absolutismus 
seiner „Dogmen“ deutlich genug spricht. So viel kann man schließen 
aus der Form des Ausdruckes Ricardos mit Bezug auf das Geltungs 
bereich seiner „Gesetze“. Es bleibt nun übrig, zu untersuchen, wie hat 
Ricardo selbst die Ausdehnung seiner „Gesetze“ sich vorgestellt, 
ob er mit Zeit- und Ortsverhältnissen rechnen zu müssen geglaubt 
hat. Daß selbst Ricardo seine „Gesetze“ noch nicht als „abge- 
schlossen“ und „feststehend“ hält, geht aus dem Passus hervor ?): 
„If the principles which he deems correct, should be found to be 
so, it will be for others, more able than himself, to trace them to 
all their important consequences.“ 

Die Bedeutung der Zeit- und Ortsverhältnisse für die Wirt- 
schaftswissenschaft hat Ricardo niemals unterschätzt. Er sagt aus- 
drücklich ë): „But in different stages of society, the proportions of 
the whole produce of the earth which will be allotted to each of 
these classes, under the names of rent, profit, and wages, will be 
essentially different.“ Nun ist es doch klar, daß wenn Ricardo selbst 
die Verschiedenheit der Bedingungen betont, er doch nicht ein 
„ewiges“ Gesetz aufstellen wird, zumal er diese Verschiedenheit 
der Verhältnisse wiederholt betont mit Bezug auf das Aufstellen 
von „Gesetzen“. So z. B. bei dem Feststellen des Verhältnisses 
zwischen zwei verschiedenen Arbeitsquantitäten %). Sehr charakteri- 
stisch für seinen methodischen Standpunkt sind seine Ausführungen 
mit Bezug auf seine Lohntheorie. Er sagt nämlich 5): 

„It is not to be understood that the natural price of labour, 
estimated even in food and necessaries, is absolutely fixed and con- 
stant. it varies at different times in the same country, and very 
materielly differs in different countries.“ Hier fügt Ricardo ê) folgende 
Note bei, welche sehr charakteristisch ist: „The shelter and the clothing 
which are indispensable in done country may be no way necessary 
in another; and a labourer in Hindostan may continue to work with 
perfect vigour, though receiving, as his natural wages, only such a 
supply of covering as would be insufficient to preserve a labourer 
in Russia from perishing. Even in countries situated in the same 
climate, different habits of living will often occasion variations in 
the natural price of labour, as considerable as those which are 
produced by natural causes. — p. 68. An Essay on the external 
Corn Trade, by Torrens, Esq. The whole of this subject in most 
ably illustrated by Colonel Torrens.“ ; 

Diese angeführten Stellen sprechen klipp und klar, daß es Ri- 
cardo fern lag, sein „Lohngesetz“ für alle Ewigkeit und alle Zeiten 
zu konstruieren, wie es ihm immer zum Vorwurf gemacht wird. 
Noch mehr: aus der Hervorhebung der Vorzüge des Torrensschen 


1) Vergl. Principles, S. 3. 7, 8, 9, 13, 40, 44, 81, 140, 148, 269, 277, 310. 
2) Ibidem, preface, p. VII. 3) Ibidem, preface, p. V. 

4) Ibidem, p. 13, Note. 5) Principles, p. 91. 

6) Ibidem, Note. 


Zur Methode der Wirtschaftswissenschaft bei D. Ricardo. 323 


Werkes kann man entnehmen, daß Ricardo keineswegs gegen die 
empirische Forschungsweise abgeneigt war, sondern vielmehr ihre 
Vorzüge anerkennt, obzwar er selbst dieser Methode sich fast nicht 
bedient. Begreiflich ist es daher, daß!) Ricardo mehrmals die Ver- 
schiedenheit der Bedingungen mit allem Nachdruck betont, wie es 
aus verschiedenen Stellen seiner „Principles“ deutlich hervorgeht. 
Demgemäß kann von „ewigen Gesetzen“ bei Ricardo keine Rede 
sein. Dies wird auch durch sein „Wertgesetz“ bestätigt. Er unter- 
sucht „the relative value“ und nicht „absolute value“. Ferner das 
„Wertgesetz“ hat seine Geltung nicht für alle Waren ?) und vollends, 
wo das Wertgesetz seine Geltung hat, spricht auch Ricardo >) von 
„almost“! Mit anderen Worten: von Ricardos „Wertgesetz“ als von 
einem „ewigen“ Gesetz zu sprechen, ist durchaus unzulässig. Sehr 
charakteristisch ist Diehls Stellung zum Wertgesetz Ricardo wie auch 
seine Kritik. Einerseits meint Diehl‘): „Das Gebiet, für welches 
die Ricardosche Wertlehre gelten soll, ist sachlich zu eng be- 
grenzt.“ Mit anderen Worten wird es heißen, sie ist nicht allge- 
mein genug. Und andererseits sagt auch Diehl°): „Ist somit die 
Ricardosche Werttheorie — wenn man alle die Güter ausnimmt, die 
nach dem Gesagten ausscheiden müssen, eine sachlich sehr be- 
grenzte, so ist sie andererseits zeitlich so umfassend, daß sie die 
allerverschiedensten Produktionsverhältnisse gleichmäßig umfaßt.“ 
Hier ist Ricardo, Diehl nach, zu allgemein in seiner Werttheorie. 
Diehl scheint aber vergessen zu haben, daß wir bei Ricardo den 
Ausdruck „almost“ finden, und daher kann kaum von einer zu weit- 
gehenden Verallgemeinerung die Rede sein. Ferner, vergleicht man 
diese zwei Vorwürfe Diehls miteinander, so wird man wohl schließen 
dürfen, daß Ricardo keineswegs „Naturgesetze“ habe aufstellen wollen. 
Denn das Weitgehende und das Einschränkende gleichen sich gegen- 
seitig aus. Man sieht, daß das Ricardosche Wertgesetz keineswegs 
im Sinne eines „ewigen“ Gesetzes zu verstehen ist. Dies wird noch 
mehr bekräftigt, wenn man das in Betracht zieht, was Ricardo mit 
Bezug auf „on an invariable measure of value“ 6) geschrieben hat. 
Nicht uninteressant ist es zu erfahren, daß Diehl’), welcher gegen 
den „Absolutismus“ der Dogmen Ricardos kämpft, doch am nächsten 
Ricardo in einer Theorie steht, welche die weitaus dogmatischte ist 
mit Bezug auf die übrigen Lehren Ricardos, nämlich die Renten- 
theorie! Es soll damit keineswegs Ricardo zum Vorwurf gemacht 
werden, Ricardo sei zu absolut in seiner Rententheorie, sondern 


1) Principles, S. preface V, 3, 5, 13, 14, 15, 25, 40, 42, 43, 44, 80, 91, 94, 113, 
114, 119, 121, 122, 136, 139, 140, 152, 153, 176, 217, 228, 236, 279, 290, 305, 312, 
393, 449, 489. 

2) Principles, p. 15. 3) Ibidem, p. 2. 

4) Erläuterungen, Bd. 1, S. 15. 

5) Ibidem 8. 19. 

6) Principles, p. 41. 

7) Die diesbezügliche Auseinandersetzung mit Diehl geschieht in einem auderen 
Zusammenhang. 


21* 


en en nn 


324 F. Lifschitz, Zur Methode der Wirtschaftswissenschaft bei D. Ricardo. 


lediglich gemeint sein: bei seiner Rententheorie ist Ricardo viel 
„dogmatischer“ als sonst. 

Faßt man das zusammen, was über die Methode Ricardos hier 
gesagt worden ist, so muß man zum Resultat gelangen: weder „Natur- 
gesetze“ im Sinne der Naturwissenschaften, noch „ewige“ Gesetze 
hat Ricardo aufstellen wollen. Die Vorwürfe, welche man Ricardo 
methodisch in dieser Beziehung gemacht hat, sind durchaus unbe- 
rechtigt. Ricardo forscht „deduktiv“, aber keineswegs nach „un 
wandelbaren, ewigen“ Gesetzen der Volkswirtschaft !). 


Bern 1906. 


1) Bei dieser Gelegenheit sei auf einen Widerspruch bei Ricardo hier aufmerksam 
gemacht. In den „Principles“ ist er gegen die sogenannte Cyklentheorie, ibidem 
p- 310, während er bei einem anderen Zusammenhange, nämlich in einer Parlament- 
rede (zitiert bei Diehl, Bd. 1, S. 339) sich auf den Standpunkt der soge nannten Cyklen- 
theorie stellt. Auf die übrigen Widersprüche Ricardos komme in bei einem anderen 
Zusammenhang noch zurück. 


Robert Liefmann, Die heutige amerikanische Trustform. 325 


VI. 


Die heutige amerikanische Trustform und 
ihre Anwendbarkeit in Deutschland. 


Von 
Prof. Dr. Robert Liefmann, Freiburg ijB. 


Inhalt. I. Die populäre Gegenüberstellung von „Kartellen“ und „Trusts“ ist 
unklar und wertlos. II. Wesen der heutigen amerikanischen Trustform, der Holding 
Company, Kontrollgesellschaft. III. Was haben wir in Deutschland derselben gegenüber- 
zustellen? Fusionen und Kombinationen, Interessengemeinschaften, Beteiligungen. 
IV. Warum begnügte man sich in Amerika nicht mit diesen, sondern schuf besondere 
Kontrollgesellschaften? V. Warum haben andererseits wir die amerikanische Trustform 
nicht akzeptiert, und hat sie Aussicht auf Verbreitung in Deutschland? 


I. 


Nachdem die Trustbewegung in den Vereinigten Staaten von 
Amerika und die Kartellbewegung bei uns die allgemeine Aufmerk- 
samkeit auf sich gezogen hat, sind Vergleiche dieser beiden Ent- 
wickelungserscheinungen an der Tagesordnung. Sehr häufig wird 
dabei, namentlich in der Presse, aber auch in der wissenschaftlichen 
Literatur!) die Anschauung vertreten, daß die Kartelle eigentlich 
schon eine rückständige Entwickelungsstufe seien und wir aus Gründen 
internationaler Konkurrenzfähigkeit möglichst schnell zu den ameri- 
kanischen Trusts gelangen müßten. Aber diese Vergleiche sind zu- 
meist sehr oberflächlich und führen nicht zu wissenschaftlich 
brauchbaren Resultaten, weil die Begriffe, die man mit den Worten 
Kartell und Trust verbindet, so durchaus unklar und unbestimmt 
sind. Faßt man nämlich den Begriff des Trust so weit, wie der ge- 
wöhnliche Sprachgebrauch es leider oft tut, daß jede größere aus 
einer Verschmelzung oder Angliederung von Betrieben entstandene 
Unternehmung als Trust bezeichnet wird, so ist klar, daß diese 
„Irusts* mit den Kartellen überhaupt nicht zu vergleichen sind, 
ebensowenig wie man etwa Kartell und Aktiengesellschaft vergleichen 
kann. Denn ein solcher „Trust“ in diesem weitesten Sinne ist 


1) So namentlich H. Schacht in seinem Aufsatze Trust oder Kartelle: Preußische 
Jahrbücher, Bd. 110, ihm folgend Alfred Weber in seinem Referat für den 7. Ver- 
tretertag des nationalsozialen Vereins in Hannover. 


326 Robert Liefmann, 


immer eine Unternehmung, das Kartell ist aber eine vertrags- 
mäßige Vereinigung zwischen mehreren Unternehmungen nit 
monopolistischem Zweck!). Ein tertium comparationis zwischen 
Kartell und Trust gibt es also nur, wenn man den letzteren auch 
als monopolistische Organisation auffaßt; das ist der Begriff des 
Trust im engeren Sinne. Der Monopolzweck ist das Gemeinsame, 
die Art, wie derselbe erreicht wird, also die Organisation und ihre 
Wirkungen, das zu Vergleichende. 

Ein solcher Vergleich der Kartelle mit den (monopeolistischen) 
Trusts soll hier nun nicht durchgeführt werden, denn er hat wenig 
Zweck. Erstens weil es von vornherein klar ist, daß eine einheit- 
liche Unternehmung, wie der Trust sie darstellt, eine für den Mono- 
polzweck vollkommenere Organisation ist, als die auf bloß vertrags- 
mäßiger Grundlage beruhende Konkurrenzbeseitigung der Kartelle. 
Zweitens deswegen, weil es solche monopolistische Trusts selbst in 
ihrem Heimatlande, den Vereinigten Staaten, nur in verhältnis- 
mäßig geringer Zahl gibt, vielmehr auch dort der größte Teil der 
eine monopolistische Stellung einnehmenden wirtschaftlichen Organi- 
sationen in, freilich losen Kartellen, pools, agreements besteht. 
Endlich drittens ist ein Vergleich dieser beiden Organisationen des- 
halb von geringem Wert, weil es dabei den meisten, die derartiges 
versuchten, ohne daß sie sich dessen freilich immer bewußt wurden, 
weniger darauf ankam, theoretisch zwei verschiedene volkswirtschaft- 
liche Organisationsprinzipien einander gegenüberzustellen, als darauf 
überhaupt die neueste großindustrielle Organisation der beiden in der 
schnellsten Entwickelung befindlichen Industriestaaten miteinander 
auf ihren Wert hin zu vergleichen. Dieser Vergleich, der bei der 
immer schärfer werdenden Rivalität der beiden Länder das größte 
wirtschaftliche Interesse besitzt — was eben die vielfache Behand- 
lung des Gegenstands erklärt, — ist aber gar nicht durchzuführen mit 
einer bloßen Gegenüberstellung von Kartellen und Trusts. Denn 
einmal sind die Kartelle — das hat man stets verkannt — nicht die 
einzige großindustrielle Organisation, die den Trusts gegenüberzu- 
stellen ist, und dann darf man, wenn man die Verhältnisse beider 


1) Wohl kann auf Grund dieses Vertrages bei den höchsten Kartellformen eine 
besondere Gesellschaft gebildet werden, die die Form einer Handelsunternehmung an 
nehmen kann, aber dieselbe ist nie eine Zusammenfassung der kartellierten Unter- 
nehmungen selbst, sondern nur ein Organ derselben, die einzelnen Unternehmungen 
bleiben stets selbständig. — Nach dem Gesagten ist es daher auch z. B. durchaus falsch, 
wenn Georg Bernhard in den Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik (S. 324) 
gegen Schmoller meint: „In der Tat ist der Trust denn auch (im Vergleich zum 
Kartell) das wirtschaftlich höher stehende Konlitionsgebilde“. Der Trust ist überhaupt 
keine Koalition, keine vertragsmäßige Vereinigung, kein „Verband“, sondern er ist, wie 
insbesondere Tschierschky (Kartell und Trust) gut dargelegt hat, eine Unter- 
nehmung, eine Organisation auf Grund von Besitz, und als Koalitionsgebilde, 
das die Konkurrenz beseitigen soll, steht das Kartell weit höher als die große Masse 
der nur einen beschränkten Teil der Unternehmungen eines Gewerbes zusammenfassen- 
den sog. Trusts. Mit Recht hat zweifellos Vogelstein in den Verhandlungen des 
Vereins für Sozialpolitik (S. 392) die Anschauung vertreten, „die Monopole haben in 
den Vereinigten Staaten eine viel geringere Bedeutung als in Deutschland“. 


Die heutige amerikanische Trustform und ihre Anwendbarkeit in Deutschland. 327 


Länder vergleichen will, auch in Amerika nicht nur die Trusts in 
Betracht ziehen, sondern müßte die Gesamtheit der industriellen 
Entwickelungstendenzen in beiden Ländern einander gegenüberstellen. 

Das ist nun heute nicht möglich, weil diese anderen Entwicke- 
lungstendenzen außer den Kartellen und Trusts, die bisher allein das 
allgemeine Interesse aufsich gezogen haben, noch so gut wie gar nicht 
wissenschaftlich untersucht sind!). Wenn daher ein Vergleich der 
Trusts im engeren Sinne mit den Kartellen keinen Wert hat, ein 
Vergleich der gesamten Entwickelungstendenzen in beiden Ländern 
aber noch nicht möglich ist, so muß aber eine andere Fragestellung 
gefunden werden, und da ergibt sich als das Nächstliegende, ein- 
mal die Frage aufzuwerfen, ob diejenige Erscheinung, die heute dem, 
was man in Amerika Trust nennt, in den meisten Fällen zu Grunde 
liegt, in Deutschland schon besteht und Aussicht auf Entwickelung 
hat. Diese Frage ist deshalb leichter zu beantworten, weil sich aus 
dem im allgemeinen so unklaren Begriffe des Trust doch in Amerika 
eine spezifische, klar abzugrenzende Unternehmungsform aus- 
scheiden läßt und es also nur darauf ankommt, die deutschen wirt- 
schaftlichen Zustände auf das Vorkommen dieser Organisationsform 
hin zu untersuchen und die Anwendbarkeit derselben bei uns zu 
erörtern. 

Das ist der Zweck des vorliegenden Aufsatzes. 


II. 


Jedermann weiß, daß die sogenannten Trusts in den Ver- 
einigten Staaten von Amerika unter dem Einfluß der Gesetzgebung 
ihre Rechtsform mehrfach geändert haben. Die ursprüngliche Form 
war die der Treuhandgesellschaft. des eigentlichen Trust im englischen 
und amerikanischen Rechtssinne, bei welchem die Aktien mehrerer 
Gesellschaften einem Komitee von Treuhändern in Verwahrung ge- 
geben werden und dadurch die gewünschte einheitliche Leitung der 
Unternehmungen herbeigeführt wird. Nur wenige Trusts im heutigen 
populären Sinne des Wortes, die ältesten, sind in dieser Form 
entstanden. Während einzelne derselben unter dem Einfluß der 
Antitrustgesetze sich im Wege der Fusion zu einheitlichen Unter- 
nehmungen umwandelten, nahmen andere. und fast alle neueren 
Trusts, die Form der Holding Company an. Jetzt „hält“ eine 
Gesellschaft die Aktien derjenigen Unternehmungen, die sie unter 
einheitliche Verwaltung bringen will, in ihrem Besitz und „kontrolliert“ 


1) Es ist merkwürdig genug, daß zwar zahlreiche Nationalökonomen sich historisch 
mit den Anfängen des Kapitalismus beschäftigen, es aber kaum einen gibt, der die 
Erscheinungen des „modernen Kapitalismus“ im wahren Sinne des Wortes andauernd 
und systematisch verfolgt. Es liegt leider offenbar so, daß eine moderne Erscheinung, 
um wissenschaftlich behandelt zu werden, erst zu einem aktuellen Problem der Wirt- 
schaftspolitik gediehen sein muß. So hat z. B. wegen des Interesses an der Börsen- 
gesetzgebung die Fusionsbewegung oder, wie man es mögliehst unbestimmt zu nennen 
pflegt, die „Konzentrationstendenz“ im Bankwesen plötzlich die allgemeine Aufmerk- 
samkeit und eine Menge von Schriften hervorgerufen, aber niemandem ist es eingefallen, 
daß diese Bewegung eine viel allgemeinere Erscheinung ist. 


328 Robert Liefmann, 


dadurch die letzteren. Die kontrollierten Unternehmungen müssen 
daher, wie auch schon beim eigentlichen Trust, Gesellschaftsunter- 
nehmungen sein. 

Es ist schon oben darauf hingewiesen worden, daß diese soge- 
nannten Trusts in der Regel keine monopolistischen Organisationen 
sind und daher mit unseren Kartellen, die stets Monopolzwecke 
verfolgen, nicht allgemein verglichen werden können. Sie kontrol- 
lieren also meist nicht den größeren Teil der Unternehmungen in 
einer Industrie, sondern verfolgen eigentlich nur denselben Zweck, 
der bei uns durch Fusionen, Beteiligungen und neuerdings nament- 
lich auch durch Bildung von Interessengemeinschaften erreicht wird: 
nämlich die Konkurrenz, wenn auch nicht zu beseitigen, so doch 
innerhalb der verbundenen Unternehmungen zu beschränken und 
ein Zusammengehen derselben herbeizuführen. Jedoch schafft die 
Holding Company durch die finanzielle Beherrschung aller Unter- 
nehmungen, deren Aktien sie besitzt, eine größere Einheitlichkeit, 
als das bei unseren Interessengemeinschaften der Fall ist. 

Der Name Trust ist bei uns, wie in Amerika, auf alle diese 
Organisationen ausgedehnt worden und wird gern für jeden durch 
Fusion oder Aktienkontrolle verbundenen Unternehmungskomplex 
gebraucht. Wissenschaftlich empfiehlt sich aber diese weite Aus- 
legung des Begriffes nicht, weil man doch gewöhnlich dem Trust 
Wirkungen zuschreibt und unter diesem Begriffe erörtert, die nur 
bei monopolistischen Organisationen vorhanden sind. Man 
wird also den Begriff Trust wissenschaftlich auf solche Unterneh- 
mungen beschränken, die durch Fusion oder Kontrolle anderer Ge- 
sellschaften eine monopolistische Stellung einnehmen). 

Für die in Amerika als Holding Company bezeichnete Unter- 
nehmungsform könnte man. wofern man diesen Namen nicht 
beibehalten will, vielleicht in wörtlicher und ihrer Wirksamkeit 
entsprechender Uebersetzung die Bezeichnung (Effekten-)Hal- 
tungsgesellschaft wählen. Denn das „Halten“, Festhalten und 
Festlegen der Aktien der Untergesellschaften ist das charakteristische 
Moment derselben. Man kann sie aber auch als Kontrollgesell- 
schaften?) bezeichnen, da der Ausdruck „kontrollieren“, der auch 
bei uns immer mehr üblich wird, nichts anderes bedeutet, als daß 
durch das Festhalten des größten Teils der Aktien anderer Gesell- 
schaften eine Herrschaft über diese ausgeübt werden soll. Der Name 
Beteiligungsgesellschaften, den ich in meiner Schrift Kar- 


1) Die Definition Trust = monopolistische Fusion, die ich in meinen Unternehmer- 
verbänden aufstellte, ist zu eng. Seit dem Aufkommen der Holding Company, die mir 
damals noch unbekannt war, ist vielmehr die Errichtung einer Unternehmung mit mono- 
polistischer Stellung aus mehreren früher selbständigen auch im Wege des Erwerbs und der 
Festlegung ihrer Aktien in einer Kontrollgesellschaft möglich. Als Fusion kann diese 
Maßnahme aber nicht bezeichnet werden. 

2) Jörgens, Finanzielle Trustgesellschaften, Münchener volkswirtschaftliche Studien I, 
u. 54. Stück, spricht S. 8 von „Aktienkontrolltrustgesellschaften‘“ in einem etwas engeren 
Sinne, als das hier geschieht. Auf die von Jörgens verwendete Bezeichnung werde ich 
bei anderer Gelegenheit näher eingehen. 


Die heutige amerikanische Trustform und ihre Anwendbarkeit in Deutschland. 329 


telle und Trusts vorgeschlagen habe empfiehlt sich für die Holding 
Companies allein nicht, weil er, wie ich in einer späteren Arbeit 
zeigen werde, einem viel allgemeineren Kreise von Unternehmungs- 
formen zukommt, von dem die Kontrollgesellschaft nur ein Teil ist. — 

Eine Holding Company stellt eine eigentümliche Form der Zu- 
sammenfassung mehrerer Unternehmungen in einer einzigen dar. 
Die Zusammenfassung ist durchaus nicht nur'eine finanzielle. Viel- 
mehr wird in weitgehendem Maße eine Einheitlichkeit der Leitung, 
werden Arbeitsteilung und Kooperation durchgeführt. Aber anderer- 
seits ist die Selbständigkeit der in eine Holding Company eintre- 
tenden Unternehmungen durchaus nicht voll beseitigt. Gerade bei 
den größten derartigen Gesellschaften, deren Einzelunternehmungen 
selbst wieder große fusionierte und kombinierte Gesellschaften sind, 
wie bei der United States Steel Company, ist die Selbständigkeit der 
Untergesellschaften weitgehend. Sie können gegenseitig Forderungen 
und Schulden haben, können selbst Dividenden erklären, können 
auch, allerdings mit Zustimmung der gemeinsamen Verwaltung, selbst 
Obligationen ausgeben, die Holding Company braucht die Zinsen 
auf die Bonds der Untergesellschaften nicht zu garantieren, jede 
derselben hat ihre eigene Verkaufsorganisation u. s. w.!). Es ist 
klar, daß die Intensität und überhaupt die Art der Vereinigung in 
den einzelnen Industrien sehr verschieden sein kann. Die Holding 
Company gibt nur den allgemeinen und sehr dehnbaren Rahmen 
ab, der erst durch die inneren Einrichtungen der gemeinsamen Ge- 
sellschaft und ihr Verhältnis zu den Untergesellschaften seinen be- 
stimmten Inhalt empfängt. Dieser kann sehr verschieden sein, und 
hier findet das Organisationstalent der leitenden Männer, die diese 
großen „Combinations“ zusammenbringen, ein weites Feld seiner 
Betätigung. Es kommt dabei darauf an, diejenige Art der Zusam- 
menfassung und der gegenseitigen Beziehungen zu finden, die für 
die betreffende Industrie am passendsten ist. Diese wird anders 
sein bei Exportindustrien als bei solchen, die hauptsächlich für den 
inneren Markt produzieren, wieder anders bei solchen, wo die Trans- 
portkosten der Rohstoffen oder diejenigen des fertigen Produktes 
stark ins Gewicht fallen als bei Industrien, bei denen dies nicht zutrifft. 
Ob die Untergesellschaften sich alle auf eine und dieselbe Pro- 
duktionstätigkeit beschränken, oder ob sie sich auf verschiedene 
erstrecken und sich dann gegenseitig in die Hände arbeiten können, 
ob sie Produkte herstellen, die von den Konjunkturen stark betroffen 
werden oder solche mit ziemlich stabilem Konsum, das alles beein- 
flußt das Verhältnis der Untergesellschaften zueinander und zu der 


1) Ueber die inneren Verhältnisse des amerikanischen „Stahltrust‘“ orientiert jetzt 
die unter meiner Anleitung verfaßte Schrift von Dr. J. Gutmann, Ueber den amerika- 
nischen Stahltrust, mit besonderer Berücksichtigung des deutschen Stahlwerksverbandes. 
Essen 1906 G. D. Bädeker. — Es ist aber darauf hinzuweisen, daß die Organisation 
dieser Kontrollgesellschaft und ihrer Beziehungen zu den Untergellschaften durchaus 
nicht ohne weiteres für die Holding Companies anderer Industrien Geltung hat; s. dar- 
über unten. 


330 Robert Liefmann, 


Kontrollgesellschaft, das Maß der Einheitlichkeit in der Verwaltung 
und den Grad der Selbständigkeit der einzelnen und muß berück- 
sichtigt werden, wenn es gilt, die zweckmäßigste Organisation zu 
finden. 

Auf diese Verschiedenheiten und Einzelheiten der Organisation 
näher einzugehen, ist hier nicht der Ort. Allgemein, kann man 
sagen, hat die Zusammenfassung mehrerer Unternehmungen unter 
einer Kontrollgesellschaft den Vorteilder größeren Einheitlichkeit. Sie 
schafft eine Gemeinsamkeit der Interessen zwischen sonst konkurrie- 
renden Unternehmungen. Der Konkurrenzkampf wird so gut wie 
ausgeschaltet, mindestens verschwindet das Bestreben, auf Kosten 
der anderen Mitglieder Gewinne zu erzielen. Statt dessen bleibt nur 
eine gewisse Rivalität der einzelnen Unternehmungen, möglichst rationell 
zu wirtschaften, möglichst hohe Ueberschüsse zu erzielen, mit den 
besten Einrichtungen versehen zu sein. Geht die Zusammenfassung 
so weit, daß der größte Teil der Unternehmungen einer Industrie 
in einer Holding Company vereinigt ist, so können natürlich auch 
die monopolistischen Wirkungen der Kartelle, Einfluß auf die Preis- 
gestaltung, erzielt werden. Und dieselben können über die der 
Kartelle insofern erheblich hinausgehen, als der Trust als kapitali- 
stische Unternehmung außenstehende Konkurrenz zumeist mit größerer 
Energie bekämpfen kann. Aber auch wenn die Kontrollgesellschaft 
keine monopolistische Stellung hat, erleichtert sie doch die Bildung 
monopolistischer Vereinigungen durch Verträge mit den übrigen 
Angehörigen des Gewerbes. Dies dadurch, daß sie die Zahl der 
erforderlichen Kontrahenten vermindert, ferner dadurch, daß sie in 
vielen Fällen eine gewisse Uebermacht den übrigen Unternehmungen 
gegenüber besitzt und daher oft einen Druck auf sie ausüben kann. 

Von größter Bedeutung sind die produktions- und arbeitstech- 
nischen Vorteile, die mit der Unterstellung mehrerer Unternehmungen 
unter eine Kontrollgesellschaft erzielt werden können. Sie traten 
wohl am meisten in der Eisenindustrie zu Tage. Die dort erzielten 
Vorteile: weitgehende Spezialisierung, zweckmäßigstes Einander-in- 
-die-Hände-arbeiten, billigste Versorgung mit Rohstoffen beste Aus- 
nutzung der Produktionseinrichtungen, günstigste Verteilung des 
Absatzes dürfen aber, wie gesagt, nicht ohne weiteres für andere 
Industrien verallgemeinert werden. (Uebrigens ist die Kombinations- 
tendenz schon bei den Untergesellschaften, die jetzt den Stahltrust 
bilden, in weitestem Maße zur Durchführung gelangt.) In anderen 
Industrien, in welchen die Zusammenfassung verschiedener Produk- 
tionsstadien nicht in dem Grade möglich ist wie in der Eisenindu- 
strie, wird aber auch die Angliederung von Rohstoff liefernden und 
weiterverarbeitenden Betrieben, von Nebengewerben, die Ausschal- 
tung veralteter Betriebe gefördert, und es können technische Erspar- 
nisse mancherlei Art erzielt werden. Im allgemeinen aber werden 
hier die kaufmännischen und finanziellen Vorteile der 
Zusammenfassung überwiegen. Die Kontrollgesellschaft kann die 
Versorgung der Konsumenten zweckmäßig unter die einzelnen Werke 


Die heutige amerikanische Trustform und ihre Anwendbarkeit in Deutschland. 331 


verteilen und dadurch Transportkosten sparen. Sie kann ebenso 
bei der Versorgung mit Rohstoffen vorgehen. Es können durch die 
Vereinheitlichung der Reklame, durch Verminderung der Zahl der 
Agenten und Reisenden große Ersparnisse erzielt werden. Eine 
solche große Unternehmung kann sich leichter neues Kapital be- 
schaffen als dies kleineren möglich ist, ihre Aktien bilden eine mark- 
gängigere Ware. 

Wie diese Vorteile der „Trusts“, so sind auch die mit ihnen 
verbundenen Gefahren oft genug geschildert worden. Sie treten zu 
Tage 1) schon bei der Gründung der Kontrollgesellschaften: die 
bekannte Ueberkapitalisation und die Gefahr, daß das große Publi- 
kum, das die Aktien übernimmt, dadurch geschädigt wird. Ferner 
die Gefahr, daß diese großen Unternehmungen in die Hände von 
Finanzleuten kamen, welche nur Gründungs- und Spekulationsge- 
winne erzielen wollen, aber an einer stetigen Entwickelung der 
Werke kein Interesse haben. Diese Gefahren zeigen sich auch 2) 
bei der Verwaltung: Kapitalkräftige Leute können so Einfluß auf 
ganze Industrien bekommen, ohne daß sie etwas davon verstehen, 
sie können ihren Besitz zu Spekulationen benutzen und dadurch 
die ganze Volkswirtschaft schädigen. Aber auch wenn das vermieden 
wird, ist doch bei einer solchen Kontrollgesellschaft für die große 
Masse der Aktionäre der Nachteil vorhanden, daß sie die Verhält- 
nisse der Gesellschaft gar nicht übersehen können. 

Um einen klaren Einblick zu gewähren, müßte die Bilanz einer 
solchen Holding Company die Verhältnisse aller Einzelunternehmungen 
genau anführen. Das geschieht aber nur selten, vielmehr ist Un- 
klarheiten in der Vermögensaufstellung, Bilanzverschleierungen, 
Schiebungen aller Art Tür und Tor geöffnet. Den Nachteil davon 
pflegen die kleinen Aktionäre zu haben, die sich keinen Einblick 
verschaffen können. Im Gegensatz dazu können die Hauptaktionäre 
und Leiter der Kontrollgesellschaften so mit verhältnismäßig wenig 
eigenem Kapital ganze Industriezweige beherrschen, und durch diese 
Organisation wird daher die Herrschaft über einen großen Teil der 
Kapitalkraft des Landes seitens einer verhältnismäßig kleinen Zahl 
von Leuten gefördert. 


III. 


Wir haben nun hier, wie schon gesagt, nicht die ganze 
Trustfrage in der üblichen Weise zu behandeln, sondern hatten 
nur die Besonderheiten der Kontrollgesellschaften als Unterneh- 
mungsform zu erörtern, und nachdem dies kurz geschehen ist, 
können wir uns der Hauptfrage zuwenden, ob sie sich auch in 
Deutschland einbürgern wird. Da ergibt sich zunächst als Aufgabe, 
festzustellen, ob es nicht schon Organisationen in Deutschland gibt, 
die eben solche oder ähnliche Zwecke verfolgen. Wenn nämlich 
von einigen gewünscht wird, daß wir im Interesse unserer Kon- 
kurrenzfähigkeit gegenüber dem Auslande sobald wie möglich die 
amerikanische Trustform statt unserer Kartelle akzeptieren, wenn von 


332 Robert Liefmann, 


anderen dagegen behauptet wird, wir seien in der Epoche der Trusts 
schon mitten darin!), wenn endlich die meisten es als unbedingt 
sicher annehmen, daß jedenfalls die Entwickelung zum Trust uns 
unvermeidbar bevorsteht und wir damit in die letzte Stufe der 
kapitalistischen Wirtschaftsordnung vor Einbruch der sozialistischen 
eintreten, so leiden alle diese populären Wünsche, Anschauungen 
und Prophezeiungen an dem Mangel, daß sie, einer bekannten 
deutschen Angewohnheit folgend, zwar mit Bewunderung ins Aus- 
land blicken, aber die Betrachtung unserer eigenen Verhältnisse 
vernachlässigt haben; und wie ich des öfteren habe feststellen können, 
daß Leute zwar nicht von unseren einheimischen Kartellen, wohl 
aber von den amerikanischen Trusts Kenntnis hatten, so geht es 
auch hier: das Ausländische wird kritiklos bewundert, was wir selbst 
haben, aber keiner näheren Betrachtung gewürdigt. Deshalb muß 
unsere nächste Frage lauten: Was haben wir in Deutschland der 
heutigen amerikanischen Trustform, der Holding Company, gegenüber- 
zustellen? Gibt es bei uns keine Organisationen, die dieselben oder 
ähnliche Zwecke verfolgen und erreichen ? 

Wer auf Grund dieser Fragestellung unsere heutige Volkswirt- 
schaft etwas näher durchforscht, wird bald auf drei oder, wenn man 
will, vier Erscheinungen stoßen, die jede zu einem Teile bei uns die 
Organisation der Holding Company in gewissem Sinne ersetzt und 
deren Zwecke erfüllt. Es sind Fusionen und Kombinationen, Inter- 
essengemeinschaften und Beteiligungen. Wenn ich auch auf alle 
diese Erscheinungen seit Jahren in meinen Schriften häufig hin- 
gewiesen habe), so sind sie doch noch nie zusammenfassend und 


1) So z. B. Bergrat Gothein in den Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik 
(S. 321). Diese Verschiedenheit der Ansichten ist nur möglich wegen der Unklar- 
heit über den Begriff des Trust und beweist die Notwendigkeit, sich wissenschaftlich 
darüber zu einigen. 

2) Auf die Fusionen als besondere Entwickelungserscheinung neben den Kartellen 
schon in meinen Unternehmerverbänden (1897), auf die Kombinationen und die 
für den Vergleich mit den Trusts wichtigste hierher gehörige Erscheinung, die Be- 
teiligung unter anderen in meiner Schrift Schutzzoll und Kartelle, auf alle 
diese Dinge, kurz zusammenfassend, wie es einer kleinen populären Schrift entspricht, 
in Kartelle und Trusts (S. 37—41, 103—114) und an manchen anderen Stellen, 
wo ich auch überall die Notwendigkeit betont habe, die verschiedenen Organisations- 
formen auseinanderzuhalten (S. 41). Gegenüber der Tatsache, daß dies fast alles 
ganz neuartige Erscheinungen sind, auf deren Bedeutung für die weitere industrielle 
Entwickelung ich größtenteils zum ersten Male hingewiesen habe, ist es bemerkenswert 
und vielleicht charakteristisch, daß Plenge, von dessen Arbeiten auf diesem Gebiete 
noch niemand das geringste gesehen hat, in seiner Kritik meiner „sämtlichen Kartell- 
schriften“ (Zeitschrift f. d. ges. Staatswissenschaft, 1906, Heft 2) schlankweg behauptet, 
daß ich nur die Kartelle im Auge habe und als „Kartellspezialist“ und ein „zu sehr 
der Wirklichkeit fernstehender Gelehrter“ (!) die „Entwickelungsvorgänge neben den 
Kartellen nieht in der richtigen Perspektive sehe“. Welches nun aber die richtige 
Perspektive ist, darüber sagt Plenge leider kein Wort, er macht hier, wie an anderen 
Stellen seiner Kritik, nicht den geringsten Versuch einer Begründung seiner Behaup- 
tungen, sondern hält offenbar die eigene Autorität in allen diesen Fragen so über jeden 
Zweifel erhaben, daß er, der sich, wie seine Kritik mit ihren zahlreichen Irrtümern, 
leider nur zu deutlich zeigt, niemals näher mit ihnen beschäftigt hat, sich dennoch für 
berechtigt hält, die Fachgenossen vor den unwissenschaftlichen Schriften des Kartell- 
spezialisten zu warnen! 


Die heutige amerikanische Trustform und ihre Anwendbarkeit in Deutschland. 333 


systematisch behandelt worden. und es knüpfen sich daher an diese 
Bezeichnungen noch nicht allgemein bekannte, klare Vorstellungen. 
An dieser Stelle kann natürlich nur eine ganz kurze Skizze ge- 
geben werden. 

1) Die Zusammenfassung mehrerer Unternehmungen in einer 
Kontrollgesellschaft ist juristisch nicht als eine Fusion derselben 
aufzufassen und daher auch der Ausdruck monopolistischer 
Fusion für Trust in formaler Hinsicht zu eng. Es gibt aber, wie 
bekannt, auch in Amerika Trusts, welche durch vollständige Ver- 
schmelzung der Unternehmungen zu einer einzigen entstanden sind. 
Wo derartiges vorliegt, wo also eine völlige Verschmelzung von 
Unternehmungen einen solchen Umfang annimmt, wie in Amerika 
die Zusammenfassung in Kontrollgesellschaften, da werden diese 
Fusionen die letzteren in ihren Wirkungen nicht nur erreichen, son- 
dern übertreffen. Denn die Fusion ist als solche natürlich eine viel 
engere Vereinigungsform als die Zusammenfassung unter einer Kon- 
trollgesellschaft. Nur ist bei uns die Fusionstendenz noch nicht so 
stark entwickelt wie in Amerika die Bildung von Kontrollgesellschaften. 
Immerhin haben wir, und zwar zum Teil schon seit langem, Unter- 
nehmungen, die durch Fusionierung aus einer so großen Zahl 
anderer entstanden sind, daß sie, wenn sie auch keine monopo- 
listische Stellung haben, doch eine so bedeutende Macht in ihrem 
Gewerbe darstellen, daß sie darin der Mehrzahl der amerikanischen 
Trusts vollkommen gleichstehen. Ich nenne z. B. die Vereinigten 
Pinselfabriken, die Vereinigten Cöln-Rottweiler Pulverfabriken, Ver- 
einigte Strohstofffabriken, Vereinigte Hanfschlauchfabriken, Ver- 
einigte Ultramarinfabriken, Verein deutscher Oelmühlen, Rheinische 
Kalkwerke; Hagener Akkumulatorenwerke u. a. m. Uebrigens sind 
auch unsere größten Kohlenwerke, Gelsenkirchen, Harpen u. s. w., 
und unsere größten Banken auf Grund so zahlreicher Fusionen mit 
anderen Unternehmungen derselben Art zu ihrem heutigen Umfang 
geliehen, daß sie darin manchen der sogenannten Trusts in Amerika 
gleichwertig sind. 

2) Wir haben gesehen, daß durch Bildung von Kontrollgesell- 
schaften auch die Zusammenfassung aufeinanderangewiesener 
Produktionsstadien, die sogenannte Kombinationsten- 
denz gefördert wird. Auch sie läßt sich aber bei uns konstatieren. 
Ebenso aber wie vor Bildung des Stahltrusts ein großer Teil der in 
ihn eintretenden Gesellschaften schon kombinierte Unternehmungen 
waren, die Kombination dann aber durch ihn immer mehr ausge- 
dehnt wurde, ebenso ist es unter dem Einfluß der Kartelle auch bei 
uns gewesen. Die Dortmunder Union, der Hörder Verein, die Gute 
Hoffnungshütte, Krupp u. a. sind fast von Anfang an kombinierte 
Unternehmungen gewesen. Aber neuerdings haben unter dem Ein- 
fluß der Kartelle diese Kombinationen bei uns ebenso weitere Fort- 
schritte gemacht wie in Amerika durch die Kontrollgesellschaften. 
Im allgemeinen ist die Kombination, wenigstens in der Eisenindustrie, 

ei uns mindestens ebensoweit vorgeschritten, wie in den Ver- 


334 Robert Liefmann, 


einigten Staaten !), und unsere großen Werke, wie Krupp, die 
Thyssenschen Unternehmungen, Phönix-Hörde, Laurahütte u. a. sind 
ebenso „Vertikale Trusts“ wie die entsprechenden Organisationen 
Amerikas. Richtig ist allerdings, daß bei uns zwar die ganze Be- 
wegung wenigstens in der Eisenindustrie wohl den gleichen Umfang 
angenommen hat, wie in Amerika, daß aber der Umfang der 
einzelnen Trusts noch kein so riesenhafter ist wie dort. Das 
hat jedoch, wie wir noch zeigen werden, teils in dem Bestehen 
unserer Kartelle ihren Grund, welche zwischen den großen kombi- 
nierten Unternehmungen den Konkurrenzkampf beseitigten und 
einen engeren Zusammenschluß, der technisch keine weiteren Vor- 
teile gebracht hätte, unnötig machten, teils sehen wir neuerdings 
diesen Unterschied immer mehr zurücktreten durch das Aufkommen 
der dritten Organisationsform, welche uns die Holding Company 
zum Teil ersetzt: 

3) Es sind die Interessengemeinschaften. Wir finden 
neuerdings häufiger, daß, wo wenige große Unternehmungen oder 
Unternehmungskomplexe vorhanden sind, diese in engere Verbindung 
zu treten versuchen und die Konkurrenz untereinander ausschalten. 
Namentlich zeigt sich das, wo das gewöhnliche Mittel der Kartell- 
bildung nicht anwendbar ist wegen der Verschiedenheit oder Viel- 
seitigkeit der Produkte (Eisenindustrie, chemische Industrie) oder 
aus anderen Gründen (Bankwesen). Die Ausschaltung des Wettbe- 
werbs geschieht dabei weder im Wege der Fusion, noch in dem der 
Kontrollgesellschaft, sondern durch Bildung der sogenannten Interessen- 
gemeinschaften, welche, im einzelnen oft verschiedenartig organisiert, 
doch stets darauf hinauslaufen, die Gewinne zusammenzuwerfen 
und nach einem bestimmten Verhältnis zu verteilen, dadurch ein ge- 
meinsames Interesse zu schaffen und die gemeinsame Durchfühurng 
größerer Geschäfte zu ermöglichen. 

Ich habe solche Interessengemeinschaften aus älterer Zeit schon 
in meinen „Unternehmerverbänden“ erwähnt. Neuerdings haben 
derartige Verbindungen zwischen zwei großen Bankgruppen, zwischen 
großen Eisen- und Kohlenwerken, zwischen Elektrizitätsgesellschaften, 
zwischen drei der größten chemischen Fabriken besondere Bedeutung 
erlangt. Diese Interessengemeinschaften können ihrem Inhalt nach 
ebenso vielseitig sein wie die Holding Companies. Es kann bei einer 
bloß äußerlichen Beseitigung des Wettbewerbs bleiben, es können 
aber auch die inneren Produktions- und Absatzverhältnisse der ver- 
bundenen Unternehmungen weitgehend einander angepaßt und diese 
dadurch technisch und kommerziell zu einem organischen Ganzen 
vereinigt werden. So können die Wirkungen der Holding Company 
rein vertragsmäßig erzielt werden, ohne daß es zur Bildung einer 
besonderen, den einzelnen Unternehmungen übergeordneten Gesell- 
schaft kommt. 


1) Die neuesten damit in Verbindung stehenden technischen Errungenschaften, 
namentlich Verwendung der Hochofengase als Triebkraft, sind sogar bei uns schon 
weiter durchgeführt als in Amerika; s. Gutmann, a. a. O., S. 62. 


Die heutige amerikanische Trustform und ihre Anwendbarkeit in Deutschland. 335 


4) Endlich ist noch auf eine Erscheinung in Deutschland auf- 
merksam zu machen, die ihrem Wesen nach den Kontrollgesell- 
schaften am nächsten kommt. Wenn wir nämlich das Wesen der 
heutigen amerikanischen Trustform, der Holding Company, näher 
ins Auge fassen, so erkennen wir, daß dieses Kontrollieren von äußer- 
lich selbständig bleibenden Unternehmungen durch eine Gesellschaft, 
die deren Aktien besitzt, nur die höchste Stufe einer im modernen 
Wirtschaftsleben sehr allgemeinen und sehr bedeutsamen Erscheinung 
ist, nämlich der Beteiligung einer Unternehmung an anderen über- 
haupt. Diese bisher in ihrer Allgemeinheit noch nicht untersuchte 
wirtschaftliche Erscheinung!) konnte sich ebenso wie der Trust erst ent- 
wickeln seit der heutigen Ausdehnung des Aktienwesens. Solange das- 
selbenoch in den Anfängen stand, war Beteiligung einer Unternehmung 
ananderen nur im Wege der Kommanditierung möglich, und diese Form 
wurde und wird noch heute von Einzelunternehmen nicht selten ange- 
wandt. Erst mit der Ausbreitung des Aktienwesens wurde es in viel ein- 
facherer Form möglich, daß eine Unternehmung an einer anderen 
ein finanzielles Interesse nahm durch Erwerb von Aktien der- 
selben. Dies ist heute so allgemein üblich, daß man geradezu sagen 
kann, es gibt wenige große Unternehmungen, die nicht Aktien von 
solchen derselben oder verwandten Art in Besitz haben. Man braucht 
nur unsere Börsenhandbücher durchzublättern, um unzählige Bei- 
spiele dafür zu finden. So figurieren z. B. in der Bilanz von Lud- 
wig Löwe u. Co. Grundstücke, Gebäude, Betriebsanlagen, Materialien, 
und Fabrikate mit noch nicht 10 Mill. M., Beteiligungen mit über 
13 Mill. M. bei 71), Mill. M. Aktienkapital nnd 10Mill. M. Obligationen. 
Die Stettiner Chamottefabrik hat in der eigenen Fabrikation, inkl. 
Waren, 4,2 Mill. M. investiert, über 5 Mill. M. Fabrikenbeteiligungskonto, 
außerdem noch 2,4 Mill. M. sonstige Effekten. Die Diskontogesell- 
schaft ist bei 170 Mill. M. Aktienkapital mit 50 Mill. M. bei der 
Norddeutschen Bank, mit 17,7 Mill. M. bei anderen Banken beteiligt 
(Allgemeine Deutsche Kreditanstalt 7,8 Mill. M., Brasilianische Bank 
etc.) und hat außerdem noch Konsortialbeteiligungen für 75 Mill.M. 
ausgewiesen, unter denen zwar der größte Teil nicht realisierte 
Emissionen sein werden, unter dem aber auch viele dauernde Be- 
teililgungen enthalten sind: Compagnie parisienne de lair comprimé 
(Popp), Große Venezuela-Eisenbahn, Dortmunder Union, Terrains, 
einige Kolonial- und Petroleumgesellschaften. Diese Beispiele 
ließen sich noch zahlreich vermehren. Es gibt in Deutschland eine 
große Zahl von Unternehmungen, die ebenso Kontrollgesellschaften 
wie Fabrikationsgesellschaften sind. 

Dieses sind, in kurzen . Zügen dargestellt, die Organisationen, 
die bei uns den amerikanischen Trusts gegenüberstehen. Von ihnen 
können die eben geschilderten Beteiligungen so weit gehen, daß die 


1) Viel Material darüber enthält die ausgezeichnete Schrift von Jeidels, Das Ver- 
hältnis der deutschen Großbanken zur Industrie. Staats- und sozialwissenschaftliche 
Forschungen, Bd. 24, Heft 2. 


336 Robert Liefmann, 


betreffenden Gesellschaften vollständig die Wirkungen einer Holding 
Company auf die Unternehmungen haben, deren Aktien sie besitzen. 
Die amerikanische Holding Company unterscheidet sich aber von 
den oben als Beispiel angeführten Gesellschaften dadurch, daß sie 
nur Effektenhaltungsgesellschaft ist, eine Unternehmung, deren Be- 
sitz in nichts anderem als den Wertpapieren der Untergesellschaften 
besteht, die also gar keine eigene Wirtschaftstätigkeit ausübt. 


IV. 


Warum — das ist jetzt die nächste Frage — begnügte man 
sich nun in Amerika nicht wie bei uns mit solchen direkten Beteili- 
gungen oder mit Interessengemeinschaften oder Fusionen? Warum 
ging man dort dazu über, besondere Gesellschaften zu er- 
richten, welche die Aktien der Unternehmungen, die man kontrollieren 
wollte, erwarben ? 

1) Daß die Verminderung des Wettbewerbes zwischen einzelnen 
Unternehmungen und die Herbeiführung einer größeren Einheitlich- 
keit nicht durch Fusionen erfolgt ist, hat in den amerikanischen 
Rechtsverhältnissen seinen Grund, da die Gesetze zahlreicher Staaten 
den in ihnen inkorporierten Unternehmungen die Aufsaugung anderer 
verbieten. Ebenso ist die Bildung von Interessengemeinschaften 
durch die Gesetzgebung mindestens sehr erschwert. Denn die Ver- 
teilung der Gewinne und dadurch herbeigeführte Beseitigung des 
Wettbewerbes ist ja gerade das, was in den ältesten amerikanischen 
Kartellen, den Eisenbahnpools, das Charakteristische war — der ur- 
sprüngliche Begriff des pool entspricht unserer Interessengemein- 
schaft — und was durch die Gesetzgebung im Interesse der Auf- 
rechterhaltung eines gesunden Wettbewerbs verboten wurde. So blieb 
denn nur die direkte Beteiligung an anderen Unternehmungen übrig. 
Aber auch hier ist es in mehreren Staaten der Union nicht erlaubt, 
den „stock“ anderer Korporationen in Besitz zu haben. Es ist kein 
Zweifel, daß nichtsdestoweniger die direkte Beteiligung in Amerika 
eine ebenso große Rolle spielt wie bei uns. Aber zur Erwerbung 
einer Kontrolle über eine größere Zahl von Unternehmungen 
war dies Mittel offenbar unzureichend. Eine gewisse Einheitlichkeit 
der Leitung und der Interessen war auf diesem Wege höchstens dann 
zu erzielen, wenn eine Gesellschaft so über die andere hervorragte, 
daß sie leicht die Aktien der letzteren übernehmen und ihre eigenen 
dem Publikum an deren Stelle anbieten konnte. Wo eine solche 
Ueberlegenheit nicht vorhanden war, waren Verträge, durch die sich 
die verschiedenen Gesellschaften verpflichteten, alle in einer von ihnen 
aufzugehen, natürlich sehr schwer durchzusetzen. Der Weg des 
langsamen Aufkaufs der Aktien der anderen: Unternehmungen war 
ebenfalls kaum möglich, teils aus Mangel an Kapital, teils weil ein 
derartiges Vorgehen gegen den Willen der betreffenden Besitzer über- 
haupt aussichtslos war. Daher blieb nur die Möglichkeit, besondere 
Gesellschaften zu errichten, welche mit den bestehenden Unterneh- 


Die heutige amerikanische Trustform und ihre Anwendbarkeit in Deutschland. 337 


mungen Verträge abschlossen zwecks Ueberantwortung ihrer Aktien 
an jene, die Kontrollgesellschaft. 

Auch derartige Gesellschaften, eben die Holding Companies, waren 
ursprünglich verboten. In keinem Staate war es erlaubt, Korpora- 
tionen zu gründen, die nur den Zweck hatten, Aktien anderer Kor- 
porationen in Besitz zu halten und zu kontrollieren. Erst durch 
Benutzung des Gesetzes des Staates New Jersey von 1889, welches 
erlaubte, in diesem Staate Gesellschaften zu inkorporieren, die aus- 
schließlich den Zweck hatten, die Anteile anderer Gesellschaften in 
Besitz zu haben, wurde es möglich, eine Kontrolle über eine größere 
Zahl anderer Gesellschaften in dieser Form zu errichten, die über 
das ganze Gebiet der Vereinigten Staaten Gültigkeit hatte. 

2) Es kommt als zweiter Grund hinzu, daß, wenn solche Ver- 
träge abgeschlossen sind, durch welche eine Anzahl von Unterneh- 
mungen ihre Aktien einer Holding Company überantworten, die neue 
Gesellschaft auf Grund der von der Vereinheitlichung erwarteten 
wirtschaftlichen und technischen Vorteile viel leichter sich neues 
Kapital beschaffen konnte, als wenn eine der schon bestehenden 
Unternehmungen die anderen alle hätte übernehmen wollen. Diese 
leichtere Kapitalbeschaffung würde allerdings keine Rolle spielen, 
wenn es sich nur darum handelte, die Aktien der eintretenden Ge- 
sellschaften durch die Kontrollgesellschaft zu ersetzen, wenn also ein 
einfacher Austausch möglich wäre. Das ist natürlich bei sehr vielen 
Trusts der Fall gewesen, aber dennoch war meistens bei ihrer Gründung 
Bedarf für neues Kapital vorhanden, sei es um Vorbesitzer abzu- 
finden, die bares Geld verlangten, sei es — und das ganz besonders — 
weil gewöhnlich mit der Errichtung eines Trusts neue Kapitalinve- 
stitionen erfolgen. In beiden Fällen ist das Kapital viel leichter 
zu beschaffen durch eine große Zentralgesellschaft, als wenn eine 
einzelne Gesellschaft. dies hätte tun wollen. 

3) Wenn es sich bei den amerikanischen Trustgründungen wirk- 
lich nur darum gehandelt hätte, die bisher isolierten Unternehmungen 
unter einen Hut zu bringen, so würde die Bildung der Holding Com- 
pany den großen finanziellen Apparat gar nicht gebraucht haben, der 
tatsächlich in Amerika entfaltet wurde. Dann hätten wie bei unseren 
Fusionen die Vorbesitzer der einzelnen Unternehmungen einfach im 
Verhältnis zum Wert derselben Aktien des Trust erhalten und die 
Leiter der ersteren hätten sich auch in die Leitung des Trust geteilt. 
Es wäre das also der „demokratische Trust“, die Holding Company, 
die nur äußerlich über den einzelnen Unternehmungen steht, in 
Wahrheit aber mit der Gesamtheit der Unternehmer identisch ist. 
Diese demokratische Holding company existiert aber in Amerika 
regelmäßig nicht, und es ist auch leicht erklärlich, daß je größer ein 
solcher Trust ist, um so weniger die Möglichkeit vorliegt, ihn auf 
demokratischer Grundlage zu errichten. Wachsen doch schon in 
unseren Kartellen die Schwierigkeiten rapid mit der Zahl der Mit- 
glieder. Auch bei uns würde, wenn die Holding Company einmal 

Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIII). 22 


338 Robert Liefmann, 


an Stelle der Kartelle treten sollte, das demokratische Prinzip der 
letzteren nicht aufrecht erhalten werden können. Dasselbe wider- 
sprieht schon überhaupt dem Charakter einer kapitalistischen, d.h. 
mit in Effekten verkörpertem Kapital ausgestatteten Unternehmung. 
wie es auch z. B. schon in der Aktiengesellschaft unmöglich ist, daß 
alle Beteiligten Einfluß und Leitung haben. Noch weit mehr aber 
widerspricht es dem Charakter der Kontrollgesellschaft. Denn diese 
setzt voraus, daß schon die von ihr zusammengefaßten Unterneh- 
mungen Gesellschaften sind, ihr Kapital in Effekten verkörpert hatten, 
daß also schon bei ihnen der Zusammenhang zwischen Besitz und 
Leitung gelockert war. Aber selbst wenn, wie es auch vorkommt, 
eine in einen Trust eintretende Unternehmung bis dahin noch Privat- 
eigentum war und vielleicht erst zum Zwecke des Eintritts in eine 
Aktiengesellschaft umgewandelt wurde, so machen, je größer der Zu- 
sammenschluß ist, die einem solchen Vorbesitzer zu gewährenden 
Anteile doch meist nur einen so geringen Teil des Gesamtkapitals 
aus, daß der Einfluß eines derartigen Großaktionärs in der Regel 
hinter dem der Leiter verschwindet. Manchmal sind natürlich die 
Vorbesitzer der in eine Holding Company eintretenden Unternehmungen 
mit den Gründern der letzteren identisch, dann ist die Kontrollgesell- 
schaft eben für sie das Mittel, die Beteiligten unter einen Hut, nämlich 
ihren eigenen Einfluß zu bringen, und sie sorgen dann selbst dafür, 
daß die anderen Aktionäre keinen großen Einfluß haben. 

4) In den meisten Fällen sind aber in Amerika die großen Trust- 
bildungen bekanntlich von Finanzleuten und Kapitalisten ausgegangen, 
die oft selbst in der betreffenden Industrie vorher gar nicht tätig 
waren, und darin liegt ein weiterer Grund, weshalb in den Vereinigten 
Staaten die Bildung besonderer Kontrollgesellschaften statt direkter 
Beteiligung oder Fusionen das Uebliche ist. Den promoters, die aus 
der Errichtung und Gründung von großen Gesellschaftsunternehmungen 
ein Geschäft machen, ist diejenige Gründungsform am liebsten, bei 
welchen sie möglichst wenig eigenes Kapital zu investieren brauchen 
und es schnell wieder herauszuziehen vermögen. Diesen Leuten paßt 
es nicht, wie es unsere Gründungsbanken machen müssen, in einer 
der Unternehmungen, die sie verschmelzen wollte, erst auf längere 
Zeit ihr Kapital festzulegen, und wenn sie dann darin Einfluß haben, 
durch Vergrößerung dieser die anderen aufzukaufen. Für sie ist die 
Gründung einer besonderen Kontrollgesellschaft die gegebene Form. 
Sie schließen zunächst mit den einzelnen Gesellschaften Verträge ab 
behufs Eintritts derselben in die neu zu gründende Gesellschaft, dann 
wird diese errichtet und das Publikum durch die Aussicht auf Fusions- 
vorteile zur Zeichnung herangezogen !). Dies geschieht mit Hilfe der 
underwriting syndicates, deren Häupter gewöhnlich die großen Bank- 
firmen sind. Sie übernehmen die ausgegebenen Aktien in der Ab- 
sicht, sie bei ihrer Klientel und eventuell derjenigen der Unterbe- 
teiligten wieder abzusetzen. Für alle diese Leute kommt es darauf 


1) Ueber die Tätigkeit der Promoters s. insbesondere Meade, Trust Finance, S. 47 if. 


Die heutige amerikanische Trustform und ihre Anwendbarkeit in Deutschland. 339 


an, das große Publikum bei Errichtung einer Kontrollgesellschaft 
möglichst heranzuziehen, was wenigstens anfangs bei der großen 
Spekulationssucht der Amerikaner auch trotz starker Ueberkapitali- 
sation immer gelang. In manchen Fällen vermochte der Promoter 
auch direkt ohne die Mithilfe der underwriting syndicates die Aktien 
ans Publikum abzusetzen !). 

Neben diesen berufsmäßigen Promoters gibt es aber noch eine 
andere Art von Trustgründern, die großen Kapitalisten, die dauernde 
Anlagen ihrer Kapitalien in einer Industrie bezwecken. Die großen 
Petroleum-, Eisenbahn-, Zuckerkönige u. s. w. benutzen die Kontroll- 
gesellschaften, um mit verhältnismäßig wenig Kapital ganze 
Komplexe von Unternehmungen, ja selbst ganze Industriezweige zu 
beherrschen. Sie sind damit auch in der Lage, große Effekten- 
spekulationen in den Werten dieser Unternehmungen in ihrem Sinne 
zu beeinflussen. 

Aus allen diesen Gründen haben in den Vereinigten Staaten 
die Holding Companies mit den gleichen volkswirtschaftlichen 
Wirkungen wie unsere Fusionen, Beteiligungen und Interessenge- 
meinschaften sich entwickelt. Einige von diesen haben auch eine 
monopolistische Stellung erlangt und dann zugleich die Wirkungen 
unserer Kartelle. In manchen Industrien sind auch, regelmäßig 
allerdings sehr lose, Kartellverträge (agreements) zwischen mehreren 
solcher großen Kontrollgesellschaften zu stande gekommen, und die 
vorherige Zusammenfassung eines Teiles der Unternehmungen und 
die dadurch verminderte Zahl der Konkurrenten erleichtert, wie ge- 
sagt, den vertragsmäßigen Ausschluß der Konkurrenz. 


V. 


Nachdem wir so die Gründe der Entwickelung der heutigen 
amerikanischen Trustform gezeichnet haben, können wir zur Beant- 
wortung der Hauptfrage übergehen: Was veranlaßt die weit ausge- 
breitete Anschauung, daß diese Unternehmungsform sich auch bei 
uns werde entwickeln müssen bezw. schon in der Entwickelung be- 
griffen sei? Was zunächst die letztere Meinung betrifft, als beständen 
schon Trusts im Sinne der amerikanischen Kontrollgesellschaften 
bei uns, so ist sie, mit einer gleich zu erwähnenden Ausnahme, un- 
richtig. Es gibt wohl zahlreiche Unternehmungen bei uns, die die 
Aktien oder Obligationen anderer Gesellschaften in ihrem Besitz 
haben: finanzielle Trustgesellschaften ?2), Investment Trusts u. dgl., 
die ich unter dem Namen Beteiligungsgesellschaften zusammenfasse 
und in einer späteren Studie systematisch darzustellen gedenke, aber 


1) S. Meade, a. a. O. S. 111. 

2) Diesem von Jörgens a. a. O. eingeführten Ausdruck habe ich schon in Schutz- 
zoll und Kartelle (S. 69) als unzweckmäßig zurückgewiesen. Lexis im Handwörterbuch 
der Staatswissenschaften, Bd. IV, 976 und Rathgen im Wörterbuch der Volkswirtschaft, 
II. Aufl., Bd. I, S. 828 sprechen von Finanz- bezw. Finanz- und Trustgesellschaften 
in etwas weiterem Sinne. An einer scharfen Unterscheidung der verschiedenen Formen 
fehlt es hisher. 


22* 


340 Robert Liefmann, 


es gibt keine Unternehmungen bei uns, die begründet sind, um die 
Mehrheit der Aktien anderer Unternehmungen zu erwerben, zum 
Zwecke der Beherrschung und Unterwerfung dersel- 
ben unter einer einheitlichen Verwaltung. 

Es gibt meines Wissens nur eine einzige Ausnahme und das 
ist keine deutsche, sondern eine in England inkorporierte Gesell- 
schaft, die allerdings den größten Teil ihres Geschäftsbetriebes in 
Deutschland hat: The Nobel Dynamite Trust Company Ltd. Es ist 
dies eine Holding Company in den Formen eines wirklichen Trust 
im Sinne des englischen Rechts; an der Spitze steht nämlich ein 
Board of Directors, der die Direktoren der Einzelgesellschaften um- 
faßt, aus denen sich der Trust gebildet hat. Aber nicht nur diese, 
sondern auch einige andere Personen, so der Generaldirektor der 
Cöln-Rottweiler Pulverfabriken, die mit dem Trust in Kartell stehen, 
ein Direktor der Norddeutschen Bank in Hamburg gehören zu diesem 
Komitee. Das Unternehmen ist eine Holding Company, weil dieser 
Board of Directors nun nicht von sich aus Trustcertifikate ausge- 
geben hat, sondern es ist, wie schon der Name sagt, eine besondere 
Aktiengesellschaft gegründet worden. Die Gründung ist in keiner 
Weise nach dem Vorbilde der amerikanischen Trusts erfolgt, denn 
bei Errichtung im Jahre 1886 gab es in Amerika überhaupt erst 
2 Trusts. Bei der Gründung wurde eine englische Dynamitfabrik 
und 4 deutsche aufgenommen, die letzteren waren schon vorher 
in einem Kartell vereinigt. Die Gesellschaft hat sich dann auf ver- 
schiedene andere Länder ausgedehnt. In ähnlicher Weise wurden 
die französischen, italienischen, schweizerischen u. s. w. Sprengstof- 
fabriken, die nach den Nobelschen Patenten arbeiten, in der Société 
centrale de la Dynamite vereinigt. 

Der Dynamittrust hat bis heute in Deutschland keine Nachfolge 
gefunden. Wenn mehrere Unternehmungen derselben Art sich in 
Deutschland unter eine einheitliche Organisation bringen wollen, so 
hat sich entweder die größte an den anderen beteiligt, oder sie 
haben sich fusioniert, oder sie haben, wenn ihre Zahl gering ist, 
eine Interessengemeinschaft geschlossen. Der Weg aber, 
sie in einer gemeinsamen Kontrollgesellschaft zusammenzu- 
fassen, ist in Deutschland nicht üblich. 

Es ist auch nach meiner Kenntnis und Auffassung der heutigen 
kapitalistischen Strömungen in der deutschen Volkswirtschaft nicht 
anzunehmen, daß die Kontrollgesellschaften in absehbarer Zeit bei 
uns eine bedeutende Entwickelung nehmen werden. Die Gründe da- 
für finden wir in gewissem Sinne durch Umkehrung der obigen Er- 
örterungen, welche untersuchten, weshalb man in Amerika nicht bei 
den oben geschilderten, uns eigentümlichen Organisationen ge 
blieben ist. 

In Deutschland mit seiner so vielälteren und ruhiger entwickelten 
Kultur, seinen stabileren und einheitlicheren Rechtsverhältnissen, 
seiner weniger heftigen und weniger tiefgreifenden Börsenspekulation, 
mit seinen gemäßigteren und weniger rücksichtslosen Formen des 


Die heutige amerikanische Trustform und ihre Anwendbarkeit in Deutschland. 341 


Wettbewerbs genügten zur Ausschaltung des letzteren rein ver- 
tragsmäßige Vereinigungen, wie Kartell und Interessengemein- 
schaften sie darstellen. In den Vereingten Staaten, wo auch die Rechts- 
ordnung ihnen weniger günstig war, haben derartige komplizierte Ver- 
träge wenig Ausicht auf Erfolg und allgemeine Durchführung. Dort 
mußte, wenn ein Auschluß des Wettbewerbs erfolgen sollte, eine 
Einheitlichkeit des Vermögensbesitzes zur Durchführung 
gelangen. Es genügte nicht, vertragsmäßig die Gewinne zu ver- 
teilen und dadurch den Antrieb zur Konkurrenz auszuschalten, 
sondern es mußte eine Eigentumsgemeinschaft geschaffen werden. 
Dafür war die Holding Company diejenige Form, die den so zu- 
sammengefaßten Unternehmungen den weitesten Spielraum, die größte 
Selbständigkeit ließ. 

Genau derselbe Spielraumaberist beiuns gegeben 
doch die oben charakterisiertte Verschiedenheit der Me- 
thoden, einen Zusammenschluß und eine Verein- 
heitlichung von Unternehmungen herbeizuführen. Wir 
haben also keine besonderen Kartellgesellschaften nötig, weil ihre 
Wirkungen, je nachdem was man bezweckt, mit den verschiedenen 
Mitteln der Fusionen und Kombinationen, der Beteiligungen und 
Bildung von Interessengemeinschaften erreicht werden können. Aller- 
dings ist die Vereinheitlichung einer ganzen Industrie durch direkte 
Beteiligung oder Fusionierung nur in kleineren Industrien möglich. 
Nur in solchen ist es denkbar, daß eine der größten Unternehmungen 
die anderen alle in sich aufnimmt oder sich durch direkte Beteilig- 
ung an allen anderen die Herrschaft über sie sichert. In kleineren 
Industrien werden daher zwar keine besonderen Kontrollgesell- 
schaften, wohl aber möglicherweise Trusts in diesem Sinne, Ver- 
schmelzungen des größten Teils der in Betracht kommenden Unter- 
nehmungen durch Fusion oder Beteiligung zu stande kommen, da 
bei uns nicht die rechtlichen Hindernisse vorhanden sind wie in 
Amerika. Solche gibt es auch schon bei uns und namentlich sind 
sie in Oesterreich nicht selten t). Die meisten Fusionen aber haben 
keine Monopolstellung. Für kleinere Industrien brauchen wir also 
besondere Kontrollgesellschaften nicht, weil, wenn die Kartellbildung 
als ein zu loses Band erscheinen sollte, die direkte Verschmelzung 


1) Den Charakter einer monopolistischen Fusion hat z. B. die Aktiengesellschaft 
österreichischer Fezfabriken, in gewissem Grade auch wohl die Aktiengesellschaft für 
chemische Industrie (österreichischer Leimtrust), neuerdings die Aktiengesellschaft Solo 
(österreichischer Zündwarentrust) und der in Bildung begriffene Trust der- Emaillege- 
schirrfabriken. Wo kein vollständiges Fusionsmonopol erzielt ist, stehen die fusionierten 
Fabriken aber doch mit den außerhalb befindlichen in Kartell. Uebrigens haben, um 
das hier schon zu erwähnen — auf die deutschen Verhältnisse wird unten näher ein- 
gegangen werden — die österreichischen Banken bei der Gründnng dieser Organisationen 
eine viel größere Rolle gespielt als dies in Deutschland seitens der Banken der Fall 
war. Es liegt dies wohl daran, daß überhaupt in Ländern mit geringerem Kapitalreich- 
tum, weniger vorgeschrittener kapitalistischer Entwickelung und weniger abgeschlossenem 
Gründungswesen der Einfluß der Banken auf industrielle Unternehmungen größer zu 
sein pflegt. 


342 Robert Liefmann, 


zur Verfügung steht. Für große Industrien aber hat die Unter- 
werfung unter eine Kontrollgesellschaft keine überwiegenden Vorteile. 
Vielmehr überwiegen die Nachteile und Gefahren, die mit ihnen ver- 
bunden sind. Wenn hier die Kartellbildung nicht genügt — und 
daß sie nicht genügt, zeigt sich immer mehr — dann ist der Weg der, 
daß sich durch engeren Zusammenschluß, Fusionen 
und Beteiligungen einige wenige große Unterneh- 
mungskomplexe bilden und diese schließen dann Kar- 
telle. Das ist die heute erkennbare Entwickelungin 
Deutschland. Für die Bildung einer kleinen Zahl derartiger 
. Unternehmungsgruppen braucht man aber keine Kontrollgesellschaften. 
Hier genügen unsere direkten Beteiligungen, Fusionen und Interessen- 
gemeinschaften, um auf einem lokal- oder technisch enger abge- 
grenzten Gebiete eine Einheitlichkeit herbeizuführen. Den allge- 
meinen Ausschluß der Konkurrenz vermögen dann diese großen 
Unternehmungskomplexe durch Kartelle zu vollziehen, die, je geringer 
die Zahl der Beteiligten ist, um so leichter zu stande kommen und 
um so sicherer Bestand haben. 

Daß dieser Weg heute bei uns beschritten wird, habe ich in 
anderen Arbeiten gezeigt, wo ich die Entwickelungstendenzen, die 
neben den Kartellen in der deutschen Volkswirtschaft zu konstatieren 
sind, schilderte. „Welchen Vorzug hat es — schrieb ich 1903!) — 
wenn alle deutschen Eisenwerke zu einer einzigen Riesengesellschaft 
vereinigt sind; selbst wenn es deren mehrere gibt, ist die umfassendste 
Angliederung vorausgehender und nachfolgender Produktionsstadien 
in größtem Umfang möglich u. s. w.“ „Es ist nicht einzusehen, 
weshalb nicht z. B. das Vorhandensein weniger großer Betriebe, 
die miteinander in Kartell stehen, ebenso zweckmäßig sein kann 
und warum sie gerade eine einzige Gesellschaft bilden müssen.“ 
Daher brauchen wir auch hier keine Kontrollgesellschaften, und 
die Trusts haben, wenn man nicht dem Wort eine ganz unzu- 
lässige Ausdehnung geben will, in absehbarer Zeit bei uns keine 
Zukunft. 

Es ist deshalb meines Erachtens nicht richtig, wenn bei jeder 
größeren Fusion, wie z. B. neuerdings der Gelsenkirchener Berg- 
werksgesellschaft mit dem Schalker Gruben- und Hüttenverein und 
dem Aachener Hüttenverein Rote Erde, oder wie bei der Ver- 
schmelzung der Bergwerksgesellschaft Nordstern mit Phönix-Hörde, 
die Presse davon spricht, daß die Entwickelung „vom Kartell zum 
Trust“ gehe, die Trusts die Kartelle immer mehr verdrängen. Selbst 
wenn man meinetwegen jede sehr große kombinierte Unternehmung 
Trust nennen will — gegen den einmal populär gewordenen Sprach- 
gebrauch ist ja schwer anzukämpfen — ist es doch falsch, von einer 
Beseitigung und Ersetzung der Kartelle durch die Trusts zu reden. 
Natürlich, die heutige Organisation mancher Kartelle, das heutige 


1) Schutzzoll und Kartelle, S. 37. 


Die heutige amerikanische Trustform und ihre Anwendbarkeit in Deutschland. 343 


Kohlensyndikat, das ursprünglich nur für die reinen Kohlenzechen 
gegründet war, der jetzige Stahlwerksverband werden eine große 
Umwandlung erleiden — und unsere Handels- und Börsenpresse 
beschränkt ihr Interesse ja zumeist auf die Verhältnisse des Augen- 
blicks — aber auch die so herbeigeführten Erschütterungen dieser 
Kartelle sind nicht größer als sie z. B. im Kalisyndikat vorhanden 
sind, wo bisher von Trustbildungen nichts zu verzeichnen war. 
Jedenfalls ist nicht anzunehmen, daß die so entstehenden wenigen 
großen Unternehmungskomplexe wie die Gelsenkirchener, die Phönix- 
gruppe, der Thyssen-, Haniel-, Krupp-„Konzern*“ sowie die einst- 
weilen noch isolierten großen Werke sich schließlich alle zu einem 
einzigen wirklichen Trust verschmelzen werden, und ebensowenig 
ist daran zu denken, daß sie sich einmal längere Zeit bekämpfen 
könnten. Daher werden die Kartelle nach wie vor ihre Bedeutung 
behalten. Sie haben die Entwickelung zu großen kombinierten Unter- 
nehmungen gefördert und verändern sich mit ihnen, aber ihr Prinzip 
bleibt bestehen und ebenso ihre volkswirtschaftliche Bedeutung. 
Dies ist, sozusagen, die volkswirtschaftliche Seite der 
Frage, die auf die Entwickelung der für den wirtschaftlichen Fort- 
schritt notwendigen Organisationsformen gerichtet ist. Ihr steht 
gegenüber die privatwirtschaftliche Seite, die von der Möglichkeit 
ausgeht, daß das Aufkommen von Kontrollgesellschaften in Deutsch- 
land vielleicht im Interesse gewisser Erwerbskreise liegen und diese 
auch die Macht haben können, sie durchzusetzen ; die Auffassung also, 
daß wir zwar für den wirtschaftlichen Fortschritt besondere Kontroll- 
gesellschaften nicht brauchen, daß sie aber trotzdem entstehen 
könnten, geschaffen aus dem Interesse gewisser Erwerbskreise. Dies ist 
die populäre Anschauung des Problems. Sie geht auf die sozialistische 
Gedankenwelt zurück, tritt aber in zwei Formen auf. Die einen, un- 
klarsten, meinen, daß „das Großkapital“, wie man sich möglichst 
unbestimmt ausdrückt, die Tendenz habe, alle Unternehmungen an 
sich zu reißen. Der unpersönliche Kapitalismus, ein um so ge- 
heimnisvollerer Moloch, je weniger man sich unter diesem Schlag- 
wort vorstellen kann, werde alles verschlingen. Die anderen fassen 
die Sache mehr individualistisch auf und meinen, daß, wie in den 
Vereinigten Staaten Morgan, Rockefeller u. s. w., so auch bei uns 
die Thyssen, Kirdorf, Rathenau u. A. nur darauf ausgingen, schließ- 
lich die Herrschaft und den Besitz ganzer Industrien an sich zu 
reißen. Aber selbst bürgerliche Nationalökonomen, die die tatsäch- 
lichen Verhältnisse nicht genügend studiert haben und einige wenige 
Fälle unzulässig verallgemeinern, reden gerne davon, daß „das Groß- 
kapital“, „Bank und Börseninteressen* bei den neuen Entwickelungs- 
erscheinungen der Kartelle, Kombinationen, Fusionen, Beteiligungen, 
Interessengemeinschaften eine größere Rolle gespielt haben und 
spielen als die Bedürfnisse des Lebens und die Notwendigkeit des 
wirtschaftlichen Fortschritts, und daß, weil in Amerika die Trusts 
gerade in finanzieller Hinsicht zu großen Mißbräuchen geführt haben, 


344 Robert Liefmann, 


dies auch bei uns eintreten müßte. Man verkennt dabei, daß die 
Voraussetzungen und die ganze Entwickelung bei uns wesentlich 
andere sind als in den Vereinigten Staaten. 

Was zunächst den unpersönlichen Kapitalismus betrifft, so denkt 
man dabei an die großen Banken. Die enorme Ausdehnung der- 
selben, die bekannte „Konzentration“, ist ja eine viel erörterte Er- 
scheinung geworden und weit verbreitet, selbst in der wissenschaft- 
lichen Literatur, ist die auch wieder durch den Sozialismus 
imputierte Anschauung, daß das in den Banken konzentrierte un- 
persönliche Großkapital allmählich die Herrschaft über die Industrie 
an sich reißen und deren Entwickelung und Weiterbildung dann 
nicht mehr durch produktionstechnische Gesichtspunkte, sondern 
weitgehend durch Bank- und Börseninteressen bestimmt und ge 
leitet werden würde. 

Um von der Vertretung derartiger Ansichten in der Tagespresse 
ganz abzusehen, hat namentlich Adolf Wagner in der Kartellenquete 
diese Anschauung betont!), und auch in den Verhandlungen des 
Vereins für Sozialpolitik ist sie mehrfach und zwar regelmäßig unter 
erheblicher Zustimmung aus der Versammlung vertreten worden, 
vor allen von Georg Bernhard, dem zufolge „die übertrieben schnelle 
(industrielle) Konzentration in der Hauptsache auf die Entwickelung 
unseres Bankwesens zurückzuführen ist“ ?2). Das ist nun keinesfalls 
richtig, und wenn auch diesem Autor nicht, wie manchen anderen, 
die ähnliche Anschauungen vertreten haben, eine nähere Kenntnis 


1) Verhandlungen über die Stahlwerksverbände, Bd. 4, S. 409. 

2) Verhandlungen S. 326. — Charakteristisch dafür, wie weit infolge mangelnder 
Detailkenntnisse die Anschauungen über diese Fragen auseinandergehen können, ist, 
daß z. B. Alfred Weber in der letzten seiner Thesen für den nationalsozialen Vertreter- 
tag gerade von den Banken die Führung im Kampfe gegen die Kartelle und zu den von 
ihm gewünschten Trusts erwartet: „Aufgabe unseres Bankwesens — sagt er — wird & 
sein, unseren weiterverarbeitenden Industrien diejenigen Organisationsformen zu geben 
die sie von der Preiserhöhung ihrer Materialien durch die Kartelle befreien, und für des 
internationalen Konkurrenzkampf kräftiger wachen (Finanzierung von Kombinations- 
unternehmungen. die alle Produktionsstufen umfassen)“. Nun ist es ganz richtig, daß die 
Kombinationstendenz, die teils neben den Kartellen sich entwickelt, teils durch sie ge 
fördert wird, hier und da, namentlich unter dem Einfluß der neuesten Reichsgerichts- 
entscheidungen in der Hüttenzechenfrage, den Bestand einiger heutiger Kartelle ge- 
führdet. Aber erstens sind diese Kombinationen mtt einer Ausnahme (s. unten) nicht 
durch die Banken ins Leben gerufen worden, zweitens ist es ganz verkehrt, anzunehmen, 
daß die Kombinationsunternehmungen eine Befreiung von den Kartellen bedeuten, sie 
überflüssig machen würden; und noch verkehrter ist es natürlich drittens, von den Ban- 
ken Förderung in dieser Richtung zu erwarten. Gewiß, die Banken werden stets 
gern Fusionen schaffen, weil dabei etwas zu verdienen ist, aber daß sie berufen sein 
könnten, unserer Industrie die zweckmäßigste Organisation zu geben, davon kann im 
Ernst nicht die Rede sein. Unsere Bankdirektoren als Organisatoren der Industrie 
im Kampf gegen die Kartelle! Das ist sicherlich noch keinem derselben in seinen 
kühnsten Träumen eingefallen, und wer derartiges für möglich hält, muß dies 
Herren, wie unsere Industriellen sehr wenig kennen. — Mit der hier vertretenen An- 
schauung übereinstimmend H. Schuhmacher, Die Ursachen und Wirkungen der Konzen- 
tration im deutschen Bankwesen in Schmollers Jahrbuch, Bd. 38, Heft 3, der auch 
betont, daß die Führung bei der industriellen Weiterbildung jedenfalls die Industrie 
selbst und nicht das Bankgewerbe haben werde. 


Die heutige amerikanische Trustform und ihre Anwendbarkeit in Deutschland. 345 


unserer industriellen Verhältnisse abgesprochen werden kann, so bin 
ich doch der Meinung, daß sie bei ihm ebenso wie bei A. Wagner 
mehr auf vorgefaßte Meinung, d. h. auf die allgemeine Grund- 
anschauung von der Entwickelung zum Sozialismus, als auf tat- 
sächlicher Kenntnis beruht. Die wenigen Fälle, daß wirklich die 
Banken in die Weiterbildung der industriellen Organisationen be- 
stimmend eingegriffen haben, werden unzulässig verallgemeinert. 
In dieser Ansicht stimme ich, wie ich in einer persönlichen Unter- 
haltung vor Erscheinen seines Buches feststellte, mit Dr. Jeidels 
überein, der die Beziehungen zwischen Banken und Industrie am 
eingehendsten untersucht hat !). 

Im allgemeinen hat sicherlich Kirdorf vielmehr recht mit seiner 
scharfen Formulierung), daß „niemals der Einfluß der Großbanken 
in der Großindustrie Rheinlands und Westfalens vorher so gering 
gewesen sei, wie er zur Zeit ist“. Es ist natürlich, daß mit der 
Ausdehnung des Aktienwesens die Bedeutung der Banken für die 
Industrie im allgemeinen wuchs, aber es ist in der Tat kein Zweifel, 
daß sie gerade deshalb in den Zeiten, als die meisten Aktiengesell- 
schaften gegründet wurden, also z. B. in den 70er Jahren, größer 
war als heute, wo doch die Gründungsbewegung ihren Höhepunkt 
schon überschritten hat. Und wenn es auch vielleicht etwas über- 
trieben ist, wenn Kirdorf meinte: „Die Großbanken buhlen um das 
Wohlwollen der Industrie, aber nicht umgekehrt“, so trifft es doch 
sicher das Richtige, wenn mir schon vor einigen Jahren ein Direktor 
der Deutschen Bank sagte: „Wenn Thyssen zu uns kommt, schwindelt 
uns immer der Kopf von all den großen Plänen, die er mit unserem 
Gelde ausführen will“. Und ein anderer meinte nach einer solchen 
Konferenz mit diesem Manne, der bei der Weiterbildung unserer 
industriellen Organisationen mehr die treibende Kraft gewesen ist 
als alle deutschen Bankdirektoren zusammen: „der verfügt ja über 
unsere Millionen, als ob sie ihm gehörten“. 

Eines ist richtig: Wenn die Banken den Versuch machen wollten, 
unsere Industrie zu beherrschen, dann wären die Kontrollgesell- 


1) Ich selbst habe eine dahingehende, schon ziemlich weitgeführte Untersuchung, 
für die ich seit Jahren Material sammelte, eben des negativen Resultats wegen, 
zu dem ich gelangte und das keine befriedigende Darstellung ermöglichte, wieder 
aufgegeben. — Als charakteristisch für die Gründlichkeit Plengescher Kritik sei übrigens 
angeführt, daß er meine diesbezüglichen Anschaunngen einfach mit dem Hinweis auf 
das Buch von Jeidels widerlegen zu können glaubt, welches in keiner Weise etwas 
meinen Anschauungen Widersprechendes enthält. — Daß das negative Resultat hinsicht- 
lich des Einflusses der Banken auf die Weiterbildung der industriellen Organisation bei 
Jeidels nicht so deutlich hervortritt, hat darin seinen Grund, daß er naturgemäß vor 
allem die wenigen Fälle anführt, in denen ein solcher Einfluß vorhanden war. Da- 
durch können Leute, die die Verhältnisse nicht aus eigenen Feststellungen kennen, 
leicht verleitet werden, diese Fälle zu verallgemeinern, zumal wenn sie mit ihrer son- 
stigen allgemeinen wirtschaftspolitischen Ideenrichtung übereinstimmten. 

2) a. a. O. S. 285. Es sei übrigens, namentlich auch den Angriffen Plenges 
gegenüber, darauf hingewiesen, daß ich schon 1905 an dieser Stelle dieselbe Anschauung 
vertreten und näher begründet habe (Zur heutigen Lage der deutschen Gußeisenindustrie 
Bd. 30, S. 676). 


346 Robert Liefmann, 


schaften die gegebene Organisationsform, die eine rein finanzielle 
Beherrschung und damit die Durchführung der größten Einheitlich- 
keit gestattet und doch technisch und kommerziell den einzelnen 
Unternehmungen den weitesten Spielraum läßt. Sicher ist auch und 
bekannt genug, daß sich die Banken bei uns nicht auf die regu- 
lären Bankgeschäfte, die kurzfristigen Kreditgeschäfte und etwa 
den Hypothekarkredit beschränken; sie wollen an Handel und In- 
dustrie nicht nur durch Gewährung von Umlaufskredit verdienen. 
So ergriffen sie zunächst das Gründungsgeschäft als ein geeignetes 
Feld gewinnbringender Betätigung. Nachdem nun aber in Deutsch- 
land nicht mehr genügend zu gründen ist, um ihre großen Kapitalien 
dauernd zu beschäftigen, suchen sie neue Erwerbsgelegenheiten. 
Einerseits wendeten sie sich mehr ausländischen Gründungsgeschäften 
zu. Es ist möglich, daß sie in Zukunft häufiger als bisher besondere 
Beteiligungsgesellschaften gründen, welche die so geschaffenen Werte, 
die schwer ans Publikum zu bringen sind, aufnehmen. Aber das sind 
keine Kontrollgesellschaften, sie werden nicht errichtet, damit die 
Banken mit ihnen eine größere Zahl von Unternehmungen unter ein- 
heitliche Verwaltung bringen und beherrschen, sondern sie stellen 
einen anderen Typus der Beteiligungsgesellschaft dar, den ich als 
Effektenübernahmegesellschaft bezeichne. 

Einen anderen Ersatz für das Gründungswesen haben die Banken 
heute in den Fusionierungen gefunden. Es ist ja möglich, daß 
einmal auf diesem Gebiete zu viel geschieht, daß die Banken in 
erster Linie ihres Gewinnes wegen, nicht um wirtschaftlicher und 
technischer Fortschritte willen, sich bei Fusionen beteiligen, daß wir 
einmal einen „Fusionsschwindel“ erleben, wie es einen Gründungs- 
schwindel gab. Aber bisher sind nicht die geringsten Anfänge dazu 
zu konstatieren. Was an Fusionen großer Unternehmungen zu stande 
gekommen ist, verdankt seine Entstehung fast ausschließlich An- 
regungen aus der Industrie; denn fast immer sind auch die In- 
dustriellen allein und nicht die Bankdirektoren im stande, die 
mutmaßlichen Vorteile von Verschmelzungen und Kombinationen 
vorauszusehen. Es gibt eigentlich nur einen einzigen Fall, daß ein 
Bankinstitut ganz von sich aus eine große Unternehmung aus anderen, 
an denen es zum Teil finanziell stark beteiligt war, zusammenge- 
schweißt und nach amerikanischen Vorbildern finanziert hat. Das 
ist die Bildung und Ausgestaltung der deutsch-luxemburgischen 
Bergwerksgesellschaft, und der Spiritus actor dieses Unternehmens, 
der einzige deutsche Bankdirektor, der versucht hat, amerikanische 
Finanzierungs- und Verschmelzungsmethoden nach Deutschland zu 
verpflanzen, ist inzwischen seiner Wirksamkeit als „Finanzierungs- 
und Sanierungsrat* zur Erfüllung größerer Aufgaben entzogen 
worden!). Etwas Derartiges kann aber gar nicht sehr häufig vor- 


1) Gerade der Fall der deutsch-Juxemburgischen Bergwerksgesellschaft, der zu 
Kurstreibereien und Spekulationen geführt hat, wie sie sonst in Deutschland selten sind, 
zeigt aber, wohin wir kommen würden, wenn (was Alfred Weber wünscht und andere 


| 
| 
] 
Í 


Die heutige amerikanische Trustform und ihre Anwendbarkeit in Deutschland. 347 


kommen. Denn es ist nur dann möglich, wenn Unternehmungen 
notleidend und ganz abhängig von den ihnen kreditierenden Banken 
sind. Das sind aber nur ganz wenige, und die großen Unterneh- 
mungen der Eisen- und Kohlenindustrie sind mit zwei Ausnahmen 
keineswegs in den Händen der Banken. 

Es ist auch richtig, daß die Banken an den umfassendsten 
modernen Organisationen, an den Kartellen, ein Interesse haben. 
Aber dieses Interesse der Banken ist auf den Bestand und möglichste 
Stabilität des Kartells gerichtet. Und es ist nicht deswegen vor- 
handen, weil eine Bank an dem einen oder den anderen kartellierten 
Unternehmen finanziell interessiert ist, sondern weil sie überhaupt 
an der Herbeiführung einer größeren Ruhe und Stetigkeit im Wirt- 
schaftsleben und der damit geschaffenen größeren Sicherheit aller 
Kreditverhältnisse ein Interesse haben. 

Trotzalledem tritt aber nirgends ein Streben der großen Banken 
zu Tage, ganze Industriezweige dauernd zu beherrschen und zu 
diesem Zwecke sich Kontrollgesellschaften anzugliedern. Es wäre 
dies auch nur denkbar, wenn sich die Banken auf bestimmte In- 
dustrien spezialisieren würden. Aber davon ist keine Rede, sie 
machen sich vielmehr auf den meisten Finanzierungsgebieten scharfe 
Konkurrenz. Wenn aber irgendwo eine Bank versuchen wollte, einen 
ganzen Unternehmungszweig kapitalistisch zu beherrschen, würde 
unsere Großindustrie wohl stark genug sein, dem entgegenzutreten. 

Von dem in den Banken verkörperten, unpersönlichen Kapital 
ist also die Errichtung von Kontrollgesellschaften und die Zusammen- 
fassung ganzer Industrien oder größerer Unternehmungskomplexe 
in solchen nicht zu erwarten. Es bleibt daher nur die Möglichkeit, 
daß auch bei uns Kapitalmagnaten als Finanziers großen Stiles auf- 
treten und nach Art eines Rockefeller ganze Industrien zu beherrschen 
trachten. Eine solche Möglichkeit ist aus verschiedenen Gründen 
bei uns gering. Sie ist in Amerika und England in viel größerem 
Umfange vorhanden; denn dort ist das Gründen und Finanzieren 
in der Hauptsache eine Erwerbstätigkeit von Privatleuten und vom 
eigentlichen Bankgeschäft ganz getrennt. Daher ist es dort viel 
eher möglich, daß gelegentlich organisatorische Finanzierungstalente 
ungeheuere Kapitalzusammenballungen in die Wege leiten. Bei uns 
dagegen liegt die Emissions- und Finanzierungstätigkeit zum weitaus 
größten Teil bei den großen Kreditbanken. Private Kapitalmagnaten 


fürchten, aber als schon vorhanden annehmen) wirklich ein Einfluß der Banken auf 
die industriellen Organisationen allgemein und maßgebend sein würde. Es hat fast den 
Anschein, als ob diese Gesellschaft, die die Darmstädter Bank, um nach berühmten 
Mustern Sanierungsgewinne zu erzielen, aus verschiedenen notleidenden Unternehmungen 
zusammengeschweißt hat, auch von allen neueren großen Fusionen und Kombinationen der 
Eisenindustrie die am meisten willkürliche und am wenigsten technisch gelungen wäre. 
Und ohne selbst in den mehrfach gerügten Fehler unzulässiger Verallgemeinerungen zu 
fallen, möchte ich doch behaupten, daß im allgemeinen die Initiative der Banken in 
diesen Dingen sicherlich nicht erwünscht, sondern eher mit Mißtrauen zu betrachten ist, 
und daß diejenigen Verschmelzungen und Kombinationen, die von der Industrie selbst 
ausgehen, mehr Wahrscheinlichkeit haben, von wirtschaftlichen Nutzen zu sein. 


348 Robert Liefmann, 


haben ihr Kapital fast immer in der Industrie stecken, nicht aber 
wie englische und amerikanische Finanziers als Geldkapital zur Ver- 
fügung, und der größte private Geldkapitalbesitzer Deutschlands, die 
Firma Mendelssohn, hält sich überhaupt von allen Finanzierungs- 
und Emissionsgeschäften (abgesehen von der Uebernahme von Staats- 
und Kommunalanleihen) fern. 

Die Verquickung unserer Kreditbanken mit dem Emissionsge- 
schäft bietet also eine gewisse Gewähr, daß private Finanziers in 
Deutschland nicht die Rolle spielen wie in den Vereinigten Staaten 
und in England. Auch sonst sind die Verhältnisse dem Aufkommen 
solcher Leute bei uns nicht günstig. Die öffentliche Meinung, die 
die Ansammlung großer Industriekapitalien in den Händen eines 
Krupp, Borsig, Thyssen und anderer Industriemagnaten ruhig er- 
trägt, würde sich einem Börsen- und Spekulationskönige gegenüber, 
der seine Herrschaft über ein ungeheueres Effektenkapital günstigen 
Börsenspekulationen verdankt!), ganz anders verhalten, während in 
Amerika, bei der urteilslosen, großen Masse wenigstens, nur der 
„Wert“ eines Mannes in Millionenziffern seines Vermögens ausge- 
drückt in Betracht kommt, der erfolgreiche Spieler kaum weniger 
bewundert wird als der erfolgreiche Industrieunternehmer. 

Auch dürfte es bei unserer ja viel zahmeren Börsenspekulation 
gar nicht so leicht möglich sein, durch Spekulationen so große Ver- 
mögen zusammenzubringen, wie sie zur Beherrschung ganzer In- 
dustrien nötig sind. Und wenn auch so große Spekulanten auftreten 
würden, würden sie, sobald sie versuchen sollten, durch Bildung 
von Kontrollgesellschaften das Publikum und dessen Kapital heran- 
zuziehen, sich aber die Herrschaft zu bewahren, sich doch einem viel 
urteilsfähigeren und nicht so spekulationslustigen Publikum gegen- 
übersehen. 

So scheint mir die bisherige Entwickelung des „modernen Kapi- 
talismus“ in Deutschland, die vielfach auftretenden pessimistischen 
Zukunftserwartungen nicht zu rechtfertigen. Es liegen keine An- 
zeichen vor, daß wir amerikanischen Trustmißständen auch bei uns 
entgegengehen, noch weniger, daß wir damit und danach direkt dem 
Sozialismus zusteuern. Nicht als ob die Entwickelung zu Monopolen 
und Riesenunternehmungen keine Gefahren mit sich brächte, aber 
diese liegen meines Erachtens nicht sowohl im Entstehen derselben, 
als in der Art, wie sie gehandhabt werden. Hier kann aber die 
allgemeine kulturelle Erziehung des Volkes der Ausbreitung eines 
brutalen, geschäftlichen Egoismus und rücksichtslosen 
Mammonismus — in dessen Verwerfung jeder mit Schmoller, 
der diese Gefahren besonders betont hat?), übereinstimmen wird — 
wohl erfolgreich entgegenwirken, eine Erziehung, die den rein beruf- 


1) Allerdings ist der Fall, daß solche Spekulanten ihren Besitz längere Zeit 
aufrecht zu erhalten vermochten, bisher nur äußerst selten vorgekommen. 
2) In seinem Referat in den Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik. 


Die heutige amerikanische Trustform und ihre Anwendbarkeit in Deutschland. 349 


lichen Interessen gegenüber dem Sinn für Natur, Kunst und körper- 
liche Ausbildung (Sport u. dergl.) weckt. 

Wenn gleichzeitig in den weitesten Schichten das soziale Em- 
pfinden gestärkt wird und in der Gesetzgebung und in der Verwaltung 
der großen Unternehmungen entsprechenden Ausdruck findet, dann 
dürfte auch die zweite Gefahr, daß die immer zahlreicher werdende 
Schar der Arbeiter und Angestellten bei dieser Entwicke- 
lung geschädigt werde, nicht unvermeidlich sein. Und wenn dann 
trotzalledem noch die dritte und Hauptgefahr auftritt, daß die 
Monopole hie und da ihre Macht im Interesse kleinerer Wirtschafts- 
kreise gegen die letzten Konsumenten auszubeuten versuchen, 
dann dürfte es doch, wie ich in anderen Arbeiten erörtert habe, den 
öffentlichen Gewalten nicht an Mitteln fehlen, sie in ihre Schranken 
zu weisen, auch ohne daß man gleich an das Allheilmittel des 
Sozialismus, die Verstaatlichung, zu denken braucht, die vielmehr 
wohl nur in Ausnahmefällen als Lösung in Betracht käme. 


350 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 


III. 


Die wirtschaftliche Gesetzgebung des Deutschen Reiches 
im Jahre 1906. 


Von Albert Hesse, Halle a. 8. 


Reichsgesetzblatt 1906. 


Uebereinkunft zum Schutze der für die Landwirtschaft nützlichen 
Vögel. Vom 19. März 1902, S. 89. 

Viehseuchenübereinkommen zwischen dem Deutschen Reiche und 
Oesterreich-Ungarn. Vom 25. Januar 1905, S. 287. 

Bekanntmachung, betr. das Gesetz über die Schlachtvieh- und 
Fleischbeschau, vom 3. Juni 1900. Vom 14. Juni 1906, S. 737. 

Kaiserliche Bergverordnung für die afrikanischen und Südseeschutz- 
gebiete, mit Ausnahme von Deutschsüdwestafrika. Vom 27. Februar 1906, 
S. 363. 

I. Allgemeine Vorschriften. a) Edelmineralien. b) Gemeine Mineralien. 
II. Vom Schürfen. A) Im allgemeinen. B) Vom Schürffelde.e III Vom Berg- 
bau. A) Vom Bergwerkseigentum im allgemeinen. B) Von den einzelnen Rechten und 
Pflichten des Bergwerkseigentümers. C) Von der Aufhebung des Bergwerkseigentums. 
IV. Von den Rechtsverhältnissen zwischen den Bergbautreibenden 
und den Eigentümern von Grundstücken sowie den zur Nutzung der 
Grundstücke Berechtigten. A) Von der Grundabtretung. B) Von dem Schadens- 
ersatze für Beschädigungen von Grundstücken. V. Von der Bergpolizei. VI. Straf- 
bestimmungen. VII. Schlußbestimmungen. 

Bekanntmachung, betr. den Schutz von Erfindungen, Mustern und 
Warenzeichen auf den 1906 in Mailand und in Berlin-Schöneberg statt- 
findenden Ausstellungen. Vom 26. Februar 1906, S. 361. 

Bekanntmachung, betr. den Schutz von Erfindungen, Mustern und 
Warenzeichen auf der 1906 in Nürnberg stattfindenden Ausstellung. 
Vom 3. April 1906, S. 460. 

Bekauntmachung, betr. den Schutz von Erfindungen, Mustern und 
Warenzeichen auf der 1906 in Dresden stattfindenden Kunstgewerbe- 
ausstellung. Vom 12. April 1906, S. 461. 

Verordnung zur Ausführung des Gesetzes zum Schutze der Waren- 
bezeichnungen vom 12. Mai 1894. Vom 17. Mai 1906, S. 474. 

Bekanntmachung, betr. Ausnahme von dem Verbote der Sonntags- 
arbeit im Gewerbebetriebe Vom 23. Mai 1906, S. 475. 

Bekanntmachung, betr. die Beschäftigung von Arbeiterinnen und 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 351 


jugendlichen Arbeitern in Walz- und Hammerwerken. Vom 6. Juli 
1906, S. 653. 

Bekanntmachung, betr. die Erweiterung der Rayons für die Festung 
Graudenz. Vom 2. August 1906, S. 857. 

Handels-, Zoll- und Schiffahrtsvertrag zwischen dem Deutschen 
Reiche und Bulgarien. Vom 1. August 1905, S. 1. Dazu Berichtigung 
auf S. 142. 

Notiz, betr. Inkraftsetzung des Tarifs B und der darauf bezüglichen 
Bestimmungen des deutsch-bulgarischen Handels-, Zoll- und Schiffahrts- 
vertrags vom 1. August 1905, S. 102. 

Zusatzvertrag zum Handels- und Zollvertrage zwischen dem Deutschen 
Reiche und Oesterreich-Ungarn vom 6. Dezember 1891. Vom 25. Januar 
1905, S. 143. — Erklärung über die Inkraftsetzung dieses Zusatzver- 
trages. Vom 28. Februar 1905, S. 287. 

Viehseuchenübereinkommen zwischen dem Deutschen Reiche und 
Oesterreich-Ungarn. Vom 25. Januar 1905, S. 287. 

Zusatzvertrag zum Handels- und Zollvertrag zwischen dem Deutschen 
Reiche und Serbien vom 21./9. August 1892, vom 29./16. November 1904, 
S. 319. 

Vertrag zwischen dem Deutschen Reiche und der Schweiz, betr. 
die Errichtung deutscher Zollabfertigungsstellen auf den linksrheinischen 
Bahnhöfen in Basel. Vom 16. August 1905, S. 349. 

Gesetz, betr. die Handelsbeziehungen zu den Vereinigten Staaten 
von Amerika. Vom 26. Februar 1906, S. 355. 

Bekanntmachung, betr. die Handelsbeziehungen zu den Vereinigten 
Staaten von Amerika. Vom 26. Februar 1906, S. 357. 

Deutsch -äthiopischer Freundschafts- und Handelsvertrag. Vom 
7. März 1905, S. 470. 

Handels- und Schiffahrtsvertrag zwischen dem Deutschen Reiche 
und Schweden. Vom 8. Mai 1906, S. 739. 

Niederlassungsvertrag zwischen dem Deutschen Reiche und den 
Niederlanden. Vom 17. Dezember 1904, S. 879. 

Bekanntmachung, betr. die Ratifikation des Niederlassungsvertrags 
zwischen dem Deutschen Reiche und den Niederlanden vom 17. Dezember 
1904 und den Austausch der Ratifikationsurkunden, sowie eine zur 
Ausführung des Vertrags am 29. Oktober 1906 zwischen beiden Teilen 
getroffene Verständigung. Vom 6. Dezember 1906, S. 887. 

Gesetz zur Ausführung der Generalakte der internationalen Konferenz 
von Algeciras vom 7. April 1906. Vom 21. Dezember 1906, S. 889. 

Gesetz wegen Abänderung des Gesetzes, betr. die Statistik des 
Warenverkehrs des deutschen Zollgebiets mit dem Auslande. Vom 
7. Februar 1906, S. 104. 

Bekanntmachung der Fassung des Gesetzes, betr. die Statistik des 
Warenverkehrs mit dem Auslande. Vom 7. Februar 1906, S. 108. 

Gesetz, betr. die Statistik des Warenverkehrs mit dem Auslande. 
Vom 7. Februar 1906, S. 109. 


ch 1. Die Waren, welche über die Grenzen des deutschen Zollgebiets, aber 
einschließlich der Zollausschlüsse, ein-, aus- oder durchgeführt werden, sowie die 


352 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


Versendungen aus diesen Gebieten durch das Ausland nach diesen Gebieten sind den 
mit den Anschreibungen für die Verkehrsstatistik beauftragten Amtsstellen ($$ 3, 4) 
nach Gattung, Menge, Herkunfts- und Bestimmungsland anzumelden. Die 
stimmungen finden keine Anwendung auf die Insel Helgoland und die badischen 
Zollausschlüsse. Abs. 2. Der Bundesrat kann für bestimmte Waren vorschreiben, 
daß auch deren Wert anzumelden ist. Abs. 3. Als Land der Herkunft der Waren 
ist dasjenige Land, aus dessen Gebiet die Versendung erfolgt ist, und als Land 
der Bestimmung der Waren dasjenige Land, wohin die Versendung gerichtet ist, 
anzusehen. Abs. 4. Die Verpflichtung zur Anmeldung erstreckt sich nicht auf: 
1) die Gegenstände der im $ 6 des Zolltarifgesetzes vom 25. Dezember 1902 (Reichs- 
Gesetzbl. 1902, S. 303) unter Ziffer 1, 3 bis 11, 13 und 14 bezeichneten Art, 
2) Sendungen zollfreier Waren im Gewichte von 250 g oder weniger. 

82. In der Regel muß die Gattung jeder Ware nach deren handelsüblicher 
oder sonst sprachgebräuchlicher Benennung und der Art der Beschaffenheit, die 
Menge nach dem (Gewicht angegeben werden. Abs. 2. Bei den nach Gewicht an- 
zumeldenden verpackten Waren ist das Reingewicht anzugeben. Doch genügt für 
Packstücke, welche nur eine Warengattung enthalten, das Rohgewicht unter An- 
gabe der Verpackungsart. Beim Durchfuhrverkehr genügt die Angabe des Roh- 

ewichts. Abs. 3. Bei Zusammenpackung verschiedenartiger Waren können die 
auptzoll- oder Hauptsteuerämter oder andere durch die oberste Landesfinanzbe- 
hörde zu bezeichnende Aemter ausnahmsweise eine allgemeine Bezeichnung des 
Gesamtinhalts des Packstücks und die Angabe des Gesamtrohgewichts nebst Ver- 
Perkungent unter der Bedingung zulassen, daß der Wert angemeldet wird. Abs. 4. 
as Nähere über die Einteilung und Maßstäbe der Waren für die statistischen 
Anmeldungen bestimmt das öffentlich bekannt zu machende statistische Waren- 
verzeichnis. 

§ 3. Die Anmeldung erfolgt nach näherer Bestimmung des Bundesrats ent- 
weder durch den Warenführer oder den Empfänger oder den Versender oder den 
Absender mittels Uebergabe eines Anmeldescheins an die Anmeldestelle. Für jedes 
seewärts beladen ein- oder ausgehende Schiff ist von dem Schiffsführer oder dessen 
Vertreter (Schiffsmakler, Schiffsagenten) ein Ladungsverzeichnis einzureichen, das 
alle geladenen Güter aufführen, mit den Konnossementen (Seefrachtscheinen) über- 
einstimmen und mit der Unterschrift des Schiffsführers oder seines Vertreters 
versehen sein muß. Beim kleinen Grenzverkehre genügt mündliche Anmeldung. 
Abs. 2. Ueber die Anmeldung der im $ 6 Ziffer 2 des Zolltarifgesetzes vom 
25. Dezember 1902 aufgeführten Gegenstände trifft der Bundesrat nähere An- 
ordnung. Abs. 3. Anmeldestellen sind die Zollämter im Grenzbezirke. Außerdem 
werden Anmeldestellen nach Bedürfnis dort errichtet. Die Gemeindebehörden im 
Grenzbezirk, an deren Sitz sich ein Zollamt nicht befindet, sind zur Uebernahme 
der Geschäfte einer Anmeldestelle gegen entsprechende Vergütung verpflichtet. 
Abs. 4. Ausnahmsweise können auch außerhalb des Grenzbezirkes sowie außerhalb 
der Zollgrenze Anmeldestellen errichtet werden. 

$ 4. An Stelle der Anmeldescheine tritt für die Waren, welche nach Maß- 
gabe der Zoll- oder Steuergesetze bei der Ein-, Aus- oder Durchfuhr den Zoll- 
oder Steuerdehörden schriftlich, desgleichen für die zollpflichtigen Waren, welche 
ihnen mündlich angemeldet werden, die Zoll- oder Steueranmeldung. Abs.2. Doch 
ist bei schriftlicher Anmeldung im Anmeldepapiere, bei mündlicher Anmeldung 
mündlich auch die Herkunft und Bestimmung der Waren anzugeben. Ferner 
müssen bei der Abfertigung zum Eingang in den freien Verkehr sowie beim Ver- 
edelungsverkehr in den Anmeldungen die Angaben über die Gattung und Menge 
nach den Vorschriften dieses Gesetzes ergänzt werden. Abs. 3. Hat der Bundes- 
rat für bestimmte Waren die Angabe des Wertes vorgeschrieben, so ist in den An- 
meldungen solcher Waren auch deren Wert anzugeben. Abs. 4. Für die im 
Abs. 1 bis 3 bezeichneten Waren gelten die betreffenden Zoll- oder Steuerstellen 
als Anmeldestellen. 

$5. Die Ausstellung des Anmeldescheines liegt nach näherer Bestimmung 
des Bundesrates dem Empfänger, dem Versender oder dem Absender ob. Dem 
Warenführer ist die Vertretung gestattet, öffentlichen Beförderungsanstalten und 
Güterbeförderung gewerbsmäßig treibenden Personen jedoch nur dann, wenn der 
Empfänger, der Versender oder der Absender weder im deutschen Zollgebiete noch 


— 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 353 


in den Zollausschlüssen wohnt. Abs. 2. Für die Richtigkeit und Vollständigkeit 
der Angaben des Anmeldescheins ist der Aussteller, wenn dieser aber außerhalb 
des deutschen Zollgebiets und der Zollausschlüsse wohnt, der Warenführer verant- 
wortlich. Abs. 3. Die gleiche Verantwortlichkeit trifft diejenigen, welche münd- 
lich anmelden oder nach $ 4 Angaben machen. 

$ 6. Die öffentlichen Beförderungsanstalten und diejenigen Personen, welche 
Güter gewerbsmäßig befördern, dürfen nach dem Zollauslande gerichtete Sendungen 
nur dann befördern oder, falls ihnen die Bestimmung der Waren in das Zollaus- 
land erst während der Beförderung bekannt wird, weiter befördern, nachdem ihnen 
die erforderlichen Anmeldescheine überwiesen worden sind und wenn letztere so- 
wohl in formeller Hinsicht den erteilten Vorschriften entsprechen, als auch ihrem 
Inhalte nach mit den Frachtbriefen übereinstimmen. Abs. 2. Für die Ausfuhr 
kann ausnahmsweise die Nachlieferung des Anmeldescheins binnen längstens acht- 
tägiger Frist, gegen Einreichung eines Zwischenscheins (Interimsscheins), gestattet 
werden. Der Zwischenschein weist die Massengüter nur nach der Gattung, die 
Stückgüter nur nach Zahl und Merkzeichen der Packstücke nach. 

$ 7. Nachdem eine der Anmeldeptlicht unterliegende Sendung am Sitze 
der Anmeldestelle angekommen oder dort zur Beförderung aufgegeben ist, hat nach 
näherer Bestimmung des Bundesrates entweder der Warenführer oder der Em- 
pfänger oder der Versender oder der Absender ohne Verzug die Anmeldung zu be- 
wirken. Für Fälle, in welchen Sendungen den Sitz einer Anmeldestelle nicht be- 
rühren, ist von den Zolldirektivbehörden den örtlichen Verhältnissen entsprechend 
Bestimmung zu treffen. Abs. 2. Die öffentlichen Beförderungsanstalten und die 
Personen, welche Güter gewerbsmäßig befördern, haben bei Vebergabe der An- 
meldescheine oder Zwischenscheine an die Anmeldestelle schriftlich zu erklären, 
daß die Scheine alle der Anmeldepflicht unterliegenden Waren umfassen. Abs. 3. 
Fehlt ein Anmeldeschein ordnungswidrig oder wird ein Zwischenschein nicht recht- 
zeitig durch den Anmeldeschein eingelöst, so kann die Nachreichung innerhalb be- 
stimmter Frist bei Strafe aufgegeben werden. 

$ 8. Die Anmeldestellen sind zur Beschau der Waren durch äußere Besichtigung 
befugt. Ihnen liegt ob, ohne Verzug die Anmeldescheine zu prüfen ; erforderlichen- 
falls haben sie deren Angaben mit den Frachtpapieren und dem Warenbefunde zu 
vergleichen und die Berichtigung oder Vervollständigung zu veranlassen. 

§9. Der Bundesrat kann beim Postverkehr, bei Sendungen vom Zollgebiet, 
einschließlich der Zollausschlüsse, durch das Ausland nach diesen Gebieten, beim 
kleinen Grenzverkehr, bei der Durchfuhr auf kurzen Straßenstrecken, beim Verkehre 
mit den Zollausschlüssen sowie in Rücksicht auf sonstige besondere Verhältnisse 
Erleichterungen bezüglich der Verpflichtung zur Anmeldung eintreten lassen. 

$ 10. Die Anmeldungen, desgleichen die Angaben nach § 4 Abs. 2, 3 dürfen 
nur für die Zwecke der amtlichen Statistik benutzt werden. 

$ 11. Von den schriftlich anzumeldenden Waren ist eine in die Reichskasse 
fließende Gebühr — statistische Gebühr — zu entrichten. Abs. 2. Dieselbe be- 
trägt für die in demselben Anmeldeschein oder derselben Anmeldung aufgeführten 
Waren: 1) Wenn dieselben ganz oder teilweise verpackt sind, für je 500 k 
5 Pfennig, 2) wenn dieselben unverpackt sind, für je 1000 kg 5 Pfennig, 3) bei 
Kohlen, Koks, Torf, Holz, Getreide, Kartofieln, Erzen, Steinen, Salz, Rindsen; 
Zement, Düngungsmitteln, Rohstoffen zum Verspinnen und anderen, vom Bundes- 
rate zu bezeichnenden Massengütern in Wagenladungen, Schiffen oder Flößen ver- 
packt oder unverpackt, für je 10000 kg 10 Pfennig, 4) bei Pferden, Maultieren, 
seln, Rindvieh, Schweinen, Schafen und Ziegen ist zu entrichten für je fünf Stück 
5 Pfennig. Von anderen nicht in Umschließungen verwahrten lebenden Tieren 
wird eine Gebühr nicht erhoben. Für Bruchteile der Mengeneinheiten kommt 
die volle Gebühr in Anrechnung. 

$ 12. Von der statistischen Gebühr sind befreit: 1) die Waren, welche a) 
unter Zollüberwachung versendet, b) auf Niederlagen für unverzollte Gegenstände 
gebracht, ec) nach Entrichtung des Eingangszolls in den freien Verkehr gesetzt, 
oder d) zum Zwecke der Zurückvergütung oder des Erlasses von Abgaben unter 
amtlicher Ueberwachung ausgeführt werden; 2) die Waren, welche auf Grund 
unmittelbarer Begleitpapiere im freien Verkehre a) durch das deutsche Zollgebiet 
durchgeführt, oder b) aus demselben durch das Ausland nach dem Zollgebiet oder 


Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVII). 23 


354 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


nach den Zollausschlüssen befördert werden; 3) die Waren, welche a) in die Zoll- 
ausschlüsse gebracht, von dort nach dem Auslande ausgeführt oder durch sie durch- 
geführt werden, b) aus diesen Gebieten ausgehen mit der Bestimmung, durch das 
Ausland nach diesen Gebieten oder nach dem Zollgebiete befördert zu werden; 
4) Ausstellungsgüter; 5) die im $ 6 Ziffer 2 des Zolltarifgesetzes vom 25. Dezember 
1902 genannten Gegenstände; 6) die Postsendungen; 7) andere Sendungen unter 
20 kg Rohrewicht. Die Befreiung von der statistischen Gebühr erstreckt sich nicht: 
1) auf die einer Zollabfertigung unterworfenen zollfreien Waren, welche nach vor- 
heriger Versendung unter Zollüberwachung bei einem Amte im Innern in den 
freien Verkehr gesetzt; 2) auf Waren, welche aus dem freien Verkehre des Zoll- 
gebiets stammen und von Niederlagen für unverzollte Gegenstände unter Zoll 
überwachung nach dem Auslande verbracht; 3) auf ausländische Waren, die in 
die Zollausschlüsse zum Zwecke des Verbrauchs gebracht werden; 4) auf Waren 
des freien Verkehrs des Zollgebiets, welche in die Zollausschlüsse gebracht werden 
und dort nicht zum Verbrauche bestimmt sind. 

& 13. Die Verpflichtung zur Entrichtung der statistischen Gebühr ($ 11) 
wird durch Verwendung von Reichsstempelmarken in dem erforderlichen Wert- 
betrag auf den Anmeldescheinen oder in den dieselben nach $ 4 vertretenden 
Papieren vor Uebergabe derselben an die Anmeldestellen erfüllt. Abs. 2. Für die 
Entrichtung der statistischen Gebühr haftet dem Reiche gegenüber derjenige, welcher 
zur Zeit, wo die Anmeldung stattzufinden hat, Besitzer der Ware ist. 

$ 14. Für die den Bundesstaaten durch die Statistik des auswärtigen Waren- 
verkehrs erwachsenden Kosten wird aus dem Ertrage der statistischen Gebühr 
eine durch den Bundesrat festzustellende Vergütung gewährt. 

§ 15. Die für die Prüfung der Zölle bestehenden Vorschriften finden auf 
die statistische Gebühr Anwendung. Abs. 2. Auf die Verjährung der statistischen 
Gebühr finden die für die Zollgefälle geltenden Bestimmungen entsprechende An- 
wendung. 

g 16. Die Organe der Zollverwaltung und die mit den statistischen Erhe- 
bungen sonst betrauten Organe haben die Beobachtung der Vorschriften dieses 
eg zu überwachen und Zuwiderhandlungen gegen dieselben zur Anzeige zu 
ringen. 

§ 17. Zuwiderhandlungen gegen die Vorschriften dieses Gesetzes sowie der 
infolge derselben erlassenen und öffentlich bekannt gemachten Ausführungsbestim- 
mungen von seiten der Warenführer und inländischen Empfänger, Versender oder 
Absender sind, unbeschadet der Vorschriften in $$ 275 und 276 des Strafgesetzbuchs, 
mit einer Ordnungsstrafe bis zu einhundert Mark zu bestrafen. Handel und Gewerbe- 
treibende, Eisenbahnverwaltungen und Dampfschiffahrtsgesellschaften sowie andere 
nicht zur handel- und gewerbetreibenden Klasse gehörende Personen haften bezüg- 
lich der von Dritten begangenen Verletzungen der gesetzlichen und Ausführung- 
vorschriften nach Maßgabe des $ 153 des Vereins-Zollgesetzes. Abs. 2. In betreff 
der Feststellung, Untersuchung, Entscheidung und Verjährung der Zuwiderhand- 
lungen gegen die Vorschriften dieses Gesetzes und der dazu erlassenen Ausfüh- 
rungsbestimmungen sowie in betreff der Strafmilderung und des Erlasses der Strafen 
im (Gnadenwege kommen die Vorschriften zur Anwendung, nach welchen sich das 
Verfahren wegen Zuwiderhandlungen gegen die Zollgesetze bestimmt. Abs. 3. Die 
auf Grund dieses Gesetzes erkannten Geldstrafen fallen der Staatskasse desjenigen 
Bundesstaates zu, von dessen Behörden die Strafentscheidung erlassen ist. 

$ 18. Das dem Warenführer nach Artikel 440 des Handelsgesetzbuchs an 
dem Frachtgute zustehende Pfandrecht erstreckt sich auch auf die Ansprüche, 
welche dem Warenführer aus der Erfüllung der ihm nach diesem Gesetz obliegen- 
den Verpflichtungen oder aus der Vertretung des Empfängers, Versenders oder 
Absenders ($ 5) erwachsen. 

§ 19. Dieses Gesetz tritt mit dem 1. März 1906 in Kraft. 

Gesetz, betr. die Wertbestimmung der Einfuhrscheine im Zoll- 
verkehre. Vom 12. Februar 1906, S. 137. 

§ 1. Der Wertbestimmung von Einfuhrscheinen, welche gemäß $ 11 Ziffer 1, 
5 und 6 des Zolltarifgesetzes vom 25. Dezember 1902 (Reichs-Gesetzbl. S. 303) bei 
der in der Zeit vom 1. März 1906 bis einschließlich 28. Februar 1907 stattfinden- 
den Ausfuhr von Roggen, Weizen, Spelz, Hafer, Buchweizen und Speisebohnen zu 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 355 


erteilen sind, werden die auf die Einfuhr derartiger Waren vor dem 1. März 1906 
vertragsmäßig zur Anwendung kommenden Zollsätze zu Grunde gelegt. 

$2. Soweit bei der Ausfuhr während des im $ 1 bestimmten Zeitraums 
durch Vorlegung von Bescheinungen der Zollbehörden nachgewiesen wird, daß 
Waren der vorbezeichneten Art nach dem 28. Februar 1906 unter Entrichtung des 
ER ENAT: nach den vom 1. März 1906 ab geltenden Zollsätzen in den freien 
Verkehr des Zollgebiets eingeführt worden sind, werden der Wertbestimmung der 
Einfuhrscheine bis zur Höhe des Zollwerts der in den Bescheinigungen nachge- 
wiesenen Mengen die vom 1. März 1906 ab geltenden vertragsmäßigen Zollsätze 
zu Grunde geist. 

$ 3. Die Vorschriften der $$ 1 und 2 finden bei der Ausfuhr von Müllerei- 
ee a welche aus den im $ 1 bezeichneten Fruchtarten im freien Verkehre 
des Zollgebiets hergestellt worden sind, nach Maßgabe der Vorschriften im $ 11 
Ziffer 3 des Zolltarifgesetzes vom 25. Dezember 1902 entprechende Anwendung. 

$ 4. Die näheren Anordnungen, insbesondere in Bezug auf die Form der 
im $ 2 vorgesehenen Bescheinigungen, trifft der Bundesrat. Abs. 2. Dieser ist auch 
ermächtigt, die Vorschriften dieses Gesetzes zu einem früheren als den im $ 1 
bestimmten Zeitpunkt außer Kraft zu setzen. 

Bekanntmachung, betr. den Aufruf und die Einziehung der Noten der 
Braunschweigischen Bank zu Braunschweig. Vom 14. April 1906, S. 461. 

Bekanntmachung, betr. den Anteil der Reichsbank an dem Ge- 
samtbetrage des steuerfreien ungedeckten Notenumlaufs. Vom 14. April 
1906, S. 462. 

Verordnung, betr. Ergänzung und Abänderung der Verordnung zur 
Verhütung des Zusammenstoßens der Schiffe auf See vom 9. Mai 1897. 
Vom 5. Februar 1906, S. 115. 

Seestraßenordnung vom 5. Februar 1906, S. 120. 

I. Einleitung. II. Lichter u. s. w. III. Schallsignale bei Nebel u. s. w. IV. 
Mäßigung der Geschwindigkeit bei Nebel u. s. w. V. Ausweichen. VI. Schallsignale 
für Fahrzeuge, welche einander ansichtig sind. VII. Notwendigkeit anderweiter Vor- 
sichtsmaßregeln. VIII. Vorbehalt in betref der Häfen und Binnengewässer. IX. Not- 
signale. X. Verpflichtung der Schiffseigentümer und Schiffsführer. IX. Schlußbestim- 
MUngen. 

Bekanntmachung, betr. Abänderung der Vorschriften über den Be- 
tähigungsnachweis und die Prüfung der Seeschiffer und Seesteuerleute auf 
deutschen Kauffahrteischiffen. Vom 14. März 1906, S. 427. 

Bekanntmachung, betr. Aenderung der Anlage B zur Eisenbahn- 
Verkehrsordnung. Vom 8. Februar 1906, S. 139. Entsprechende Be- 
kanntmachungen vom 7. März 1906, S. 389, vom 19. März 1906, 
S. 431, vom 25. März 1906, S. 433, vom 23. Juni 1906, S. 845, vom 
9. August 1906, S. 859, vom 27. August 1906, S. 861, vom 7. Oktober 1906, 
S. 863, vom 6. November 1906, S. 865, vom 10. November 1906, S. 867. 

Bekanntmachung, betr. eine neue Ausgabe der dem internationalen 
Uebereinkommen über den Eisenbahnfrachtverkehr beigefügten Liste. 
Vom 3. März 1906, S. 403. 

Bekanntmachung, betr. die dem internationalen Uebereinkommen 
über den Eisenbahnfrachtverkehr beigefügte Liste. Vom 9. Juni 1906, 
8. 736. Entsprechende Bekanntmachungen vom 28. Juli 1906, S. 856, 
vom 11. Dezember 1906, S. 877. 

Bekanntmachung, betr. die Vereinbarung leichterer Vorschriften 
für den wechselseitigen Verkehr zwischen den Eisenbahnen Deutschlands 
und Luxemburgs. Vom 12. März 1906, S. 430. 


23* 


356 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


Bekanntmachung, betr. den Umlauf von Scheidemünzen öster- 
reichischer Währung auf preußischen Eisenbahnstationen. Vom 28. Juni 
1906, S. 852. 

Bekanntmachung, betr. Ergänzung des Militärtarifs für Eisenbahnen 
und Aenderung der Anlagen V und VI zur Militärtransportordnung 
für Eisenbahnen. Vom 16. Februar 1906, S. 141. 

Bekanntmachung, betr. Aenderung der Militärtransportordnung. 
Vom 23. Mai 1906, S. 558. 

Bekanntmachung, betr. die Bestimmungen über die Befähigung von 
Eisenbahnbetriebs- und Polizeibeamten. Vom 8. März 1906, S. 391. 

Bekanntmachung, betr. die freie Fahrt der Mitglieder des Reichs- 
tags auf den deutschen Eisenbahnen. Vom 27. Juni 1906, S. 850. 

Gesetz, betr. die Kontrolle des Reichshaushalts, des Landeshaus- 
halts von Elsaß-Lothringen und des Haushalts der Schutzgebiete. Vom 
5. Februar 1906, 5. 103. 

Gesetz, betr. die Feststellung eines dritten Nachtrags zum Reichs- 
haushaltsetat für das Rechnungsjahr 1905. Vom 27. März 1906, S. 435. 


$ 1. Der diesem Gesetz als Anlage beigefügte dritte Nachtrag zum Reichs- 
haushaltsetat für das Rechnungsjahr 1905 tritt dem Reichshaushaltsetat für das 
Rechnungsjahr 1905 hinzu. 

$ 2. Der Reichskanzler wird ermächtigt, zur Bestreitung einmaliger außer- 
ordentlicher Ausgaben die Summe von 1690800 M. im Wege des Kredits flüssig 
zu machen. 

$3. Für alle Ausgaben, welche zu den Verwendungszwecken des im $ 1 
bezeichneten Nachtragsetats bereits geleistet sind, wird dem Reichskanzler Indem- 
nität erteilt. Abs. 2. Die bereits geleisteten Ausgaben kommen auf den im $ 2 
bewilligten Kredit in Anrechnung. 


Gesetz, betr. die Feststellung eines dritten Nachtrags zum Haus- 
haltsetat für die Schutzgebiete auf das Rechnungsjahr 1905. Vom 
27. März 1906, S. 437. 


Der diesem Gesetz als Anlage beigefügte dritte Nachtrag zum Etat der 
Schutzgebiete auf das Rechnungsjahr 1905 wird in Einnahme und Ausgabe für das 
ostafrikanische Schutzgebiet auf 2104925 M. festgestellt und tritt dem Etat der 
Schutzgebiete für 1905 hinzu. 


Gesetz, betr. die Feststellung eines vierten Nachtrags zum Reichs- 
haushaltsetat für das Rechnungsjahr 1905. Vom 27. März 1906, S. 439. 


§ 1. Der diesem Gesetz als Anlage beigefügte vierte Nachtrag zum Reichs- 
haushaltsetat für das Rechnungsjahr 1905 tritt dem Reichshaushaltsetat für das 
Rechnungsjahr 1905 hinzu. 

$ 2. Der Reichskanzler wird ermächtigt, zur Bestreitung einmaliger außer- 
ordentlicher Ausgaben die Summe von 30 600 000 M. im Wege des Kredits flüssig 
zu machen. 


Gesetz, betr. die Feststellung eines vierten Nachtrags zum Haus- 
haltsetat für die Schutzgebiete auf das Rechnungsjahr 1905. Vom 
27. März 1906, S. 440. 

Der diesem Gesetz als Anlage bopeipis vierte Nachtrag zum Etat der 
Schutzgebiete auf das Rechnungsjahr 1905 wird in Einnahme und Ausgabe für das 
südwestafrikanische Schutzgebiet auf 30 600 000 M. festgestellt und tritt dem Etat 
der Schutzgebiete für 1905 hinzu. 

Gesetz, betr. die Feststellung eines fünften Nachtrags zum Reichs- 
haushaltsetat für das Rechnungsjahr 1905. Vom 27. März 1906, S. 441. 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 357 


Gesetz, betr. die vorläufige Regelung des Reichshaushalts für die 
Monate April und Mai 1906. Vom 31. März 1906, S. 443. 

Gesetz, betr. die vorläufige Regelung des Haushalts der Schutzge- 
biete für die Monate April und Mai 1906. Vom 31. März 1906, S. 446. 

Gesetz, betr. die Feststellung des Reichshaushaltsetats für das 
Rechnungsjahr 1906. Vom 31. Mai 1906, S. 477. 


$ 1. Der diesem Gesetz als Anlage beigefü, Reichshaushaltsetat für das 
Rechnungsjahr vom 1. April 1906 bis 31. März 1907 wird in Ausgabe und Ein- 
nahme auf 2397 324105 M. festgestellt und zwar 

im ordentlichen Etat auf 2 153 354 678 M. 
im außerordentlichen Etat auf 243 969427 „ 
Summa 2 397 324 105 M. 

$ 2. Der Reichskanzler wird ermächtigt, zur Bestreitung einmaliger außer- 
a aa Ausgaben die Summe von 239038815 M. im Wege des Kredits flüssig 
zu machen. 

$ 3. Der Reichskanzler wird ermächtigt, zur vorübergehenden Verstärkung 
der ordentlichen Betriebsmittel der Reichshauptkasse nach Bedarf, jedoch nicht 
über den Betrag von 350 Mill. M. hinaus, Schatzanweisungen auszugeben. 

§ 4. Der Reichskanzler wird ermächtigt, die Erhebung der nach $ 4 Abs. 2 
des Gesetzes, betreffend die Feststellung des Reichshaushaltsetats für das Rech- 
nungsjahr 1905 (Reichsgesetzbl. S. 181), vorläufig gestundeten Matrikularbeiträge 
auch für das Rechnungsjahr 1906 auszusetzen, bis der zur Deckung des Bedarfs 
nach den wirklichen Ergebnissen des Reichshaushalts für die Rechnungsjahre 1905 
und 1906 erforderliche Betrag festgestellt ist. Abs. 2. Soweit die n Artikel 70 
der Reichsverfassung von den Bundesstaaten für das Rechnungsjahr 1906 aufzu- 
bringenden Matrikularbeiträge den Sollbetrag der Ueberweisungen um mehr als 
40 Pfg. auf den Kopf der Bevölkerung übersteigen, wird die Erhebung des Mehr- 
betrages für dieses Rechnungsjahr ausgesetzt. Abs. 3. Soweit ein solcher Mehr- 
betrag sich auch nach der Rechnung ergibt, findet dessen Erhebung, sofern nicht 
durch ein Etatsgesetz ein anderes bestimmt wird, im Juli des Rechnungsjahrs 
1909 statt. ? 

§§ 5—7. 

Reichshaushaltsetat für das Rechnungsjahr 1906, S. 479. 


A. Ordentlicher Etat. 


Ausgaben. 
I. Fortdauernde Ausgaben. 


I. Bundesrat — M. 

II. Reichstag 764500 , 
III. Reichskanzler und Reichskanzlei 284 510 ,, 
IV. Auswärtiges Amt 17456795 „ 
V. Reichsamt des Innern 75 562 247 „ 
VI. Verwaltung des Reichsheeres 616 177 342 „ 
VIa. Reichsmilitärgericht 570811 „ 
VII. Verwaltung der Kaiserlichen Marine 112774 183 „, 
VIII. Reichs-Justizverwaltung 2351705 „ 
IX. Reichsschatzamt 254 005 155 „ 
X. RBeichseisenbahnamt 424 700 „ 
XI. Reichsschuld 127 555 500 ,„ 
XII. Rechnungshof 1026 700 , 
XIII. Allgemeiner Pensionsfonds 98 420 307 „, 
XIV. Reichs-Invalidenfonds 36661748 „, 
XV. Reichs-Post- und Telegraphenverwaltung 466 669 048 „, 
XVI. Reichsdruckerei 5983 620 , 
XVII. Reichseisenbahnverwaltung 80 509 900 , 
XVIII. Zu verschiedenen neuen Maßnahmen 10 899 004 „, 


Summe der fortdauernden Ausgaben I 908 097 775 M. 


358 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


U. Einmalige Ausgaben. 


I. Reichstag — M. 
Ia. Reichskanzler und Reichskanzlei 250000 „, 
II. Auswärtiges Amt 20 393479 „ 
III. Reichsamt des Innern 3040050 „ 
IV. Reichs-Post- und Telegraphenverwaltung 14 966 375 „ 
IVa. Reichsdruckerei 87034 „ 
V. Verwaltung des Reichsheeres 87 521672 „ 
Va. Reichsmilitärgericht 13 000 ,„ 
VI. Verwaltung der Kaiserlichen Marine 101 813 150 „ 
VII. Reichsschatzamt 44 700 „ 
VIII. Reichsschuld - a 
IX. Rechnungshof 352000 „, 
X. Reichs-Eisenbahnverwaltung 6722000 „ 
XI. Zur Deckung des Fehlbetrags für das Rechnungs- P 
jahr 1904 8 559339 „ 

XII. Zur Deckung gemeinschaftlicher außerordent- » 
licher Ausgaben 1494954 „ 
Summe der einmaligen Ausgaben 245 256 903 M. 

Hierzu Summe der fortdauernden s5 1908 097 775 „ 


Summe der Ausgabe des ordentlichen Etats 2 153 354 678 M. 


Einnahmen. 

I. Zölle und Verbrauchssteuern 908 682 220 M. 
II. Reichsstempelabgaben 103 311000 „ 
Ila. Einnahmen auf Grund der neuen Steuergesetz- 

entwürfe 61 660 000 „, 
III. Reichs-Post- und Telegraphenverwaltung 551815500 „ 
IV. Reichsdruckerei 8933 000 „ 

V. Reichs-Eisenbahnverwaltung 107 382 700 „ 

VI. Bankwesen 15 691 000 „ 

VII. Verschiedene Verwaltungseinnahmen 407330676 „ 

VIII. Aus dem Reichs-Invalidenfonds 46715 151 „ 

IX. Ueberschüsse aus früheren Jahren i 329400 „ 
X. Zum Ausgleiche für die nicht allen Bundes- 

staaten gemeinsamen Einnahmen 20 356 183 „ 

XI. Matrikularbeiträge 287 744 848 . 


Summe der Einnahmen des ordentlichen Etats 2 153 354 678 M. 
Die Ausgabe des ordentlichen Etats beträgt 2 153 354 678 M. 


B. Außerordentlicher Etat. 


Ausgaben. i 

I. Auswärtiges Amt 1 200 000 M. 
II. Reichsamt des Innern 5 000 000 „, 
II. Verwaltung des Reichsheeres 38752627 „ 
IV. Verwaltung der Kaiserlichen Marine 50815000 „ 
V. Reiehsschatzamt — n 
VI. Reichs-Post- und Telegraphenverwaltung 38 610000 „ 
VII. KReichseisenbahnverwaltung 17 416000 „ 
VIII. Aus Anlaß der Expedition nach Ostasien 8477500 „ 

IX. Aus Anlaß der Expedition in das Südwest- 
afrikanische Schutzgebiet 83 392 900 „ 

X. Aus Anlaß der Expedition in das Östafrikanische 
Schutzgebiet 305 400 „ 


Summe der Ausgabe des außerordentlichen Etats 243 969 427 M. 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 359 


Einnahmen. 


I. Rückzahlungen und Tilgungsraten aus der Ver- 
wendung des Fonds zur Förderung der Her- 
stellung geeigneter Kleinwohnungen für Arbeiter 
und gering besoldete Beamte in Betrieben und 
Verwaltungen des Reichs (Kapitel 2 Titel 1 der 


Ausgabe des außerordentlichen Etats) 158000 M. 

Il. Erlöse aus dem Verkaufe von freiwerdenden 
Festungsgrundstücken und Festungsbaulichkeiten 1940520 ,„ 
III. Aus Anlaß der Expedition nach Ostasien 630 277 „ 

IV. Rückerstattungen auf die aus dem Reichsfestungs- 
baufonds geleisteten Vorschüsse 51761 „ 

V. Kaufpreis für die an den Staat Bremen ver- 
kaufte Batterie Brinkamerhof I, 2. Rate 500 000 „, 

VI. Von dem Schutzgebiete Togo zur Tilgung des 
Reichsdarlehens, 2. Rate 156000 „, 

VII" Aus dem ordentlichen Etat zur Deckung gemein- 
schaftlicher außerordentlicher Ausgaben 1494054 „ 
VIII. Aus der Anleihe 239038815 „ 


Summe der Einnahmen des außerordentlichen Etats 243 909 427 M. 
Die Ausgabe des außerordentlichen Etats beträgt 243 969 427 „ 


Abschluß. 
Summe der Ausgabe des ordentlichen und des 
außerordentlichen Etats 2 397 324 105 M. 
Summe der Einnahme des ordentlichen und des 
außerordentlichen Etats 2397 324 105 „ 


Gesetz, betr. die Feststellung des Haushaltsetats für die Schutz- 
gebiete auf das Rechnungsjahr 1906. Vom 31. Mai 1906, S. 512. 
Der diesem Gesetz als Anlage beigefügte Haushaltsetat der Schutzgebiete auf 


das Rechnungsjahr 1406 wird in Einnahme und Ausgabe auf 128379929 M. fest- 
gesetzt. 


I. Ostafrikanisches Schutzgebiet. 


Ausgaben 10 625 948 M. 
Eigene Einnahmen des Schutzgebiets 4657 881 „ 
Reichszuschuß 5 968 067 M. 

I. Schutzgebiet Kamerun. 
Ausgaben 5458745 M. 
Eigene Einnahmen des Schutzgebiets 2872900 „ 
teichszuschuß 2585845 M. 

III. Schutzgebiet Togo. 
Ausgaben 3 031036 M. 
Eigene Einnahmen des Schutzgebiets 1831036 „ 
Darlehn des Reichs 1200000 M. 
IV. Südwestafrikanisches Schutzgebiet. 

Ausgaben 92 212 915 M. 
Eigene Einnahmen des Schutzgebiets 1823 800 „ 
> Reichszuschuß 90 389 115 M. 

V. Schutzgebiet Neuguinea. 
Ausgaben 1494 240 M. 
Eigene Einnahmen des Schutzgebiets f 335 277 » 


Reichszuschuß = 1158963 M. 


360 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


VI. Verwaltung der Karolinen, Palau, Marianen und Marschallinseln. 


Ausgaben 640 305 M. 

Eigene Einnahmen der Schutzgebiets 132815 „ 
Reichszuschuß 507 550 M. 

VO. Schutzgebiet Samoa. 

Ausgaben 718680 M. 

Eigene Einnahmen des Schutzgebiets 485 949 » 
Reichszuschuß 232731 M. 

VII. Schutzgebiet Kiautschou, 

Ausgaben 14 198 000 M. 

Eigene Einnahmen des Schutzgebiets 1048000 „, 
Reichszuschuß 13 150000 M. 


Gesetz zur Aenderung des Gesetzes, betr. die Ausgabe von Reichs- 
kassenscheinen. Vom 5. Juni 1906, S. 730. 


$ 1. Im§1 Abs. 1 des Gesetzes, betr. die Ausgabe von Reichskassenscheinen, 
vom 30. April 1874 werden die Worte: „20 und 50“ durch die Worte „und zu 10“ 
ersetzt. 


Gesetz, betr. die Entlastung des Reichsinvalidenfonds. Vom 9. Juni 
1906, S. 730. 


$1. Vom 1. April 1906 ab sind aus dem Reichsinvalidenfonds nur zu be 
streiten: 1) die Pensionsgebührnisse für diejenigen Militärpersonen und Beamten 
des Reichsheeres und der Kaiserlichen Marine, welche infolge des Krieges von 
1870/71 Invalide und dienstunfähig geworden sind, soweit diese Gebührnisse auf 
den Militärpensionsgesetzen beruhen, 2) die gesetzlichen Beihilfen für Hinterbliebene 
derjenigen Militärpersonen und Beamten des Reichsheeres und der Kaiserlichen 
Marine, welche im Kriege 1870/71 gefallen oder an den in diesem Kriege erlittenen 
Verwundungen oder Beschädigungen gestorben sind, sowie die auf § 17 des Kriegs- 
invalidengesetzes vom 31. Mai 1901 beruhenden Beihilfen für Witwen von Invaliden 
des Krieges von 1870/71, 3) die Kosten, welche nach Maßgabe des Reichshaus- 
haltsetats durch die Geschäftsführung der Verwaltung des Reichsinvalidenfonds 
entstehen. 

§ 2. Die Bereitstellung der Deckungsmittel für Ausgaben, welche bis zum 
31. März 1906 über die im $ I bezeichneten Zwecke hinaus aus dem Reichsinvaliden- 
fonds zu bestreiten waren, erfolgt vom 1. April 1906 ab nach Maßgabe des Reichs- 
haushaltsetats aus den ordentlichen Mitteln des Reichs. 

§ 3. Dieses Gesetz tritt gleichzeitig mit dem Gesetze, betr. die Ordnung des 
Reichshaushalts und die Tilgung der Reichsschuld, in Kraft. 


Gesetz, betr. Uebernahme einer Garantie des Reichs in Bezug auf 
eine Eisenbahn von Duala nach den Manengubabergen. Vom 4. Mai 
1906, S. 525. 


§ 1. Zum Bau und zum Betrieb einer Eisenbahn von Duala nach den 
Manengubabergen durch die Kamerun-Eisenbahngesellschaft wird den Inhabern der 
Anteile Reihe $ der genannten Gesellschaft nach Maßgabe der vorerwähnten Kon- 
zession eine Garantie des Reiches bewilligt, und zwar: a) für die Verzinsung des 
auf die Anteile Reihe B entfallenden Teiles des Gtesellschaftskapitals in Höhe von 
11 Mill. M. mit 3 Proz. vom Tage der Einzahlung an, b) für die Zahlung des um 
20 Proz. erhöhten Nennbetrags der jeweilig gelosten und als solche abzustempeln- 
den Anteilscheine Reihe B. Abs. 2. Hinsichtlich des auf die Anteile Reihe A 
entfallenden Teiles des Gesellschaftskapitales in Höhe von 5640000 M. wird 
seitens des Reichs eine Garantie weder für die Verzinsung noch für eine Rückzahlung 
übernommen. 

$ 2. Das Privateigentum auf der Halbinsel Bona Beri ist vom Mungo Krick 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 361 


bis Bonpamatumba 2 km landeinwärts alsbald zu enteignen; für dieses Gebiet ist 
ein Bebauungsplan festzustellen. 

$ 3. Die im Verkehrsbezirke der zu erbauenden Eisenbahn tätigen Landge- 
sellschaften und Plantagenbesitzer sind, soweit sie besondere Interessen am Bahn- 
bau haben, zu einer entsprechenden Leistung zu Gunsten des Fiskus des Schutz- 
gebiets Kamerun heranzuziehen. 

$ 4. Der Reichskanzler ist mit der Ausführung dieses Gesetzes beauftragt. 


Bau- und Betriebskonzession für die Kameruneisenbahngesellschaft. 
S. 526. 

Gesetz wegen Aenderung einiger Vorschriften des Reichsstempel- 
gesetzes. Vom 3. Juni 1906, S. 615. 

Gesetz, betr. die Ordnung des Reichshaushalts und die Tilgung der 
Reichsschuld. Vom 3. Juni 1906, S. 620. 

Vergl. Jahrbücher, Bd. 82, S. 29 f., 209 f. 


Bekanntmachung, betr. die Fassung des Brausteuergesetzes.. Vom 
7. Juni 1906, S. 675. 

Bekanntmachung, betr. die Fassung des Reichsstempelgesetzes. Vom 
7. Juni 1906, S. 695. 

Verordnung, betr. die anderweite Regelung der Verwaltung und 
der Rechtsverhältnisse im Schutzgebiet der Marschall-, Brown- und Provi- 
denceinseln.. Vom 18. Januar 1906, S. 138. 

Gesetz, betr. die Ueberleitung von Hypotheken des früheren Rechts. 
Vom 17. März 1906, S. 429. 

Bekanntmachung, betr. den Gerichtsstand für Deutsche, die keinem 
Bundesstaat angehören. Vom 21. April 1906, S. 463. 

Bekanntmachung, betr. den Gerichtsstand für die Reichsbehörden 
in Berlin und Charlottenburg. Vom 21. April 1906, S. 464. 

Bekanntmachung, betr. die Entschädigung der Angehörigen Däne- 
marks, Norwegens und Schwedens für unschuldig erlittene Untersuchungs- 
haft. Vom 3. Mai 1906, S. 465. 

Gesetz, betr. die Abänderung mehrerer Reichstagswahlkreise. Vom 
18. Februar 1906, S. 317. 

Verordnung, betr. die Verrichtungen der Standesbeamten in Bezug 
auf solche Militärpersonen der Kaiserlichen Marine, welche ihr Stand- 
quartier nicht innerhalb des Deutschen Reichs haben oder dasselbe 
nach eingetretener Mobilmachung verlassen haben, sowie in Bezug auf 
alle Militärpersonen, welche sich auf den in Dienst gestellten Schiffen 
oder anderen Fahrzeugen der Kaiserlichen Marine befinden. Vom 20. 
Februar 1906, S. 359. 

Gesetz, betr. Aenderung des Gesetzes über die Angelegenheiten der 
freiwilligen Gerichtsbarkeit. Vom 5. März 1906, S. 387. 

Ausführungsbestimmungen zu den Verordnungen über die Umzugs- 
kosten der Reichsbeamten. Vom 4. März 1906, S. 388. 

Gesetz, betr. die Aenderung des Artikels 32 der Reichsverfassung. 
Vom 21. Mai 1906, S. 467. 


§ 1. An Stelle des Artikels 32 der Reichsverfassung treten folgende Vor- 
schriften: Die Mitglieder des Reichstags dürfen als solche keine Besoldung beziehen. 
Bie erhalten eine Entschädigung nach Maßgabe des Gesetzes. 

$ 2. Dieses Gesetz tritt mit dem Tage seiner Verkündigung in Kraft. 


362 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


Gesetz, betr. die Gewährung einer Entschädigung an die Mitglieder 
des Reichstags. Vom 21. Mai 1906, S. 468. 


$ 1. Die Mitglieder des Reichstags erhalten a) für die Dauer der Sitzung- 
periode, sowie 8 Tage vor deren Beginn und 8 Tage nach deren Schluß freie Fahrt 
auf den deutschen Eisenbahnen, sowie b) vorbehaltlich der Bestimmungen im $ 3 
aus der Reichskasse eine jährliche Aufwandsentschädigung von insgesamt 3000 M., 
die am 1. Dezember mit 200 M., am 1. Januar mit 300 M., am 1. Februar mit 
400 M., am 1. März mit 500 M., am 1. April mit 600 M. und am Tage der Ver- 
tagung (Artikel 26 der Reichsverfassung) oder Schließung des Reichstags mit 1000 M. 
zahlbar wird. Abs. 2. Der Bundesrat ist ermächtigt, Grundsätze für die Aus- 
führung der Bestimmungen unter a aufzustellen. 

$ 2. Für jeden Tag, an dem ein Mitglied des Reichstags der Plenarsitzung 
ferngeblieben ist, wird von der nächstfälligen Entschädigungsrate ein Betrag von 
20 M. in Abzug gebracht. 

$ 3. Ein Mitglied des Reichstags, das neu gewählt wird, während der Reichs- 
tag versammelt ist, erhält an Stelle der nächsten Entschädigungsrate ($ 1 Abs. 1 
unter b) bis zu deren Höhe 20 M. Tagegeld für jeden Tag der Anwesenheit in einer 
Plenarsitzung. Abs. 2. Ein Mitglied des Reichstags, dessen Mandat, während 
der Reichstag versammelt ist, erlischt oder niedergelegt wird, erhält während der 
Zeit seit dem Fälligkeitstage der letzten Entschädigungsrate 20 M. Tagegeld für 
jeden Tag der Anwesenheit in einer Plenarsitzung mit der Maßgabe, daß der Ge 
samtbetrag der Tagegelder den Höchstbetrag der Entschädigung nicht übersteigen 
darf, die nach $ 1 Abs. 1 unter b am nächsten Fälligkeitstage zu zahlen gewesen 
wäre. Das Gleiche gilt, wenn der Reichstag aufgelöst wird, während er ver- 
sammelt ist. 

$ 4. Die Anwesenheit in der Plenarversammlung wird dadurch nachgewiesen, 
daß das Mitglied des Reichstags sich während der Dauer der Sitzung in eine An- 
wesenheitsliste einträgt. Abs. 2. Wer an einer namentlichen Abstimmung nicht 
teilnimmt, gilt im Sinne dieses Gesetzes als abwesend, auch wenn er sich in die 
Liste eingetragen hat. 

$ 5. Die näheren Bestimmungen über die Anwesenheitsliste, insbesondere über 
Ort, Zeit und Form ihrer Auslegung, trifft der Präsident des Reichstags. Von ihm 
wird auch die Entschädigung ($ 1 Abs. 1 unter b, $ 3) für jedes Mitglied des 
Reichstags auf Grund der Anwesenheitsliste sowie der Listen über namenulıche Ab- 
stimmungen festgesetzt und angewiesen. 

$6. Ein Mitglied des Reichstags darf in seiner Eigenschaft als Mitglied 
einer anderen politischen Körperschaft, wenn beide Körperschaften gleichzeitig 
versammelt sind, nur für diejenigen Tage Vergütung beziehen, für welche ihm au 
Grund dieses Gesetzes ein Abzug von der Entschädigung gemacht ist oder in den 
Fällen des $ 3 Tagegeld nicht gewährt wird. Auch darf es in dieser Eigenschaft 
res der Dauer der freien Fahrt auf den Eisenbahnen keine Eisenbahnfuhrkosten 
annehmen, 

§ 7. Der Reichstag gilt im Sinne dieses Gesetzes nicht als versammelt, wenn 
er gemäß Artikel 12 der Reichsverfassung vertagt ist. 

$8. Ein Verzicht auf die Aufwandsentschädigung ist unzulässig. Der An- 
spruch auf Aufwandsentschädigung ist nicht übertragbar. 

$ 9. Ist im Falle des Todes eines Mitgliedes des Reichstags eine Ehefrau 
hinterblieben, so kann die Zahlung an diese erfolgen, ohne daß deren Erbrecht 
nachgewiesen zu werden braucht. 

$ 10. Während der Zeit bis zum 30. November 1906 wird bei der Vertagun 
oder Schließung des Reichstags den Mitgliedern an Stelle der nach § 1 Abs. 
unter b zu zahlenden Entschädigung eine solche von 2500 M. gewährt. Abs. 2. 
Mitglieder des Reichstags, die in der Zeit vom Inkrafttreten des Gesetzes bis zur 
Vertagung oder Schließung des Reichstags neu gewählt werden, erhalten an Stelle 
der in Abs. 1 bezeichneten Entschädigung 20 M. Tagegeld für jeden Tag der An- 
wesenheit in einer Plenarsitzung. Abs. 3. Mitglieder des Reichstags, deren Mandat 
in der Zeit vom Inkrafttreten dieses Gesetzes bis zur Vertagung oder Schließung 
des Reichstags erlischt oder niedergelegt wird, erhalten im Falle des Abs. 1 die 
Entschädigung unter Abzug von 20 M. für jeden Tag von dem Erlöschen oder der 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 363 


Niederlegung des Mandats bis zur Vertagung oder Schließung des Reichstags. 
Abs. 4. Die §§ 2, 4, 5, 6 und 9 finden für die Zeit vom Inkrafttreten des Ge- 
setzes ab entsprechende Anwendung. 

$ 11. Dieses Gesetz tritt mit dem Tage seiner Verkündigung in Kraft. 

Gesetz über die Pensionierung der Offiziere einschließlich Sanitäts- 
offiziere des Reichsheeres, der Kaiserlichen Marine und der Kaiserlichen 
Schutztruppen. Vom 31. Mai 1906, S. 565. ' 

Gesetz über die Versorgung der Personen der Unterklassen des 
Reichsheeres, der Kaiserlichen Marine und der Kaiserlichen Schutz- 
truppen. Vom 31. Mai 1906, S. 593. 

Novelle zum Gesetze, betr. die Deutsche Flotte, vom 14. Juni 1900. 
Vom 5. Juni 1906, S. 729. 

Gesetz, betr. die Aenderung des Gesetzes über die Naturalleistungen 
für die bewaffnete Macht im Frieden. Vom 9. Juni 1906, S. 735. 

Gesetz, betr. Abänderung des Gesetzes über die Bewilligung von 
Wohnungszuschüssen, vom 30. Juni 1873. Vom 9. Juni 1906, S. 731. 

Verordnung über das Telegraphenwesen in den deutschen Schutz- 
gebieten ausschließlich Kiautschou. Vom 15. Juni 1906, S. 843. 


364 Miszellen. 


Miszellen. 


VI. 


Die Entlastung der öffentlichen Armenpflege durch die 
Arbeiterversicherung, 


Von David Grünspecht, 
(Fortsetzung und Schluß.) 


§ 8. 

Einen weit größeren Anteil an der Entlastung der Armenpfleg 
durch die Sozialgesetzgebung müssen wir der Invaliden- und 
Altersversicherung zuschreiben. 

Das Urteil der Armenverbände über den Einfluß dieses Gesetzes 
auf die Armenpflege muß im Gegensatz zu der Beurteilung der Unfall- 
versicherungsgesetze ein viel begründeteres sein, erhalten sie doch fast 
ausnahmslos durch Vermittlung der unteren Verwaltungsbehörde der 
rein staatlichen Organisation dieses Versicherungszweiges Nachricht über 
die erfolgten Bewilligungen, Entziehungen u. s. w. Wenngleich eine 
genaue Kenntnis der Versicherungsleistungen seitens der Armenverbände 
sehr erwünscht ist, so muß doch vom sozialpolitischen Standpunkte aus 
die Vereinigung des gemeindlichen Versicherungsbureaus mit dem Bureau 
der Armenverwaltung als wenig empfehlenswerte Einrichtung bezeichnet 
werden. 

Die Invalidenversicherung ist schon ihres großen Umfangs wegen 
— umfaßt sie doch den größten Kreis von allen drei Versicherungsarten 
— am ersten im stande, eine bedeutende Entlastung der Armenpflegt 
zu bewirken. Sie ist bestrebt, den ärmeren Volksklassen die Sorge für 
die Zeiten langwieriger Krankheit oder dauernder Beschränkung der 
Erwerbsfähigkeit, für das Greisenalter möglichst abzunehmen. 

Untersuchungen über die Gründe der Unterstützungsbedürftigkeit 
bei den Almosenempfängern im Reiche haben statistisch folgendes 
ergeben: 


Krankheit, Verletzung 30,2 Proz. 
Verwaisung 187° 
Körperliche und geistige Gebrechen I24 ,„ 
Altersschwäche 14,8 » 
Große Kinderzahl IE 
Arbeitslosigkeit 60» 


Arbeitsscheu und Trunksucht I. 8 


Miszellen. 365 


Wenn auch die Ergebnisse einer solchen Statistik keinen Anspruch 
auf absolute Genauigkeit machen können, so darf man doch als be- 
wiesen erachten, „daß ein übergroßer Teil der Personen, welche der 
öffentlichen Armenpflege anheimfallen, infolge von Invalidität und Alter 
verdienstlos geworden sind; und die Aussicht, im Alter auf Almosen 
angewiesen zu sein, ist für die unteren Klassen vielfach der Anlaß zu 
tiefgreifender Unzufriedenheit und selbst Erbitterung gegen unsere Zu- 
stände. Deshalb hat die berühmte Botschaft Kaiser Wilhelms I. am 
17. Novernber 1881 auch bereits die Fürsorge für diese Kategorien in 
Aussicht genommen, indem es darin heißt: „Auch diejenigen, welche 
durch Alter und Invalidität erwerbsunfähig werden, haben der Gesammt- 
heit gegenüber einen begründeten Anspruch auf ein höheres Maaß staat- 
licher Fürsorge, als ihnen bisher hat zu Theil werden können t).“ 

Wie oft gerade die Invalidität infolge von Alter „une maladie sans 
remede et cause principale de la misere“ — wie man es daher wohl 
auch genannt — Ursache der Verarmung ist, das beweist die Tatsache, 
daß in den 77 Städten, die Böhmert beobachtet hat, von den zu dauernder 
Unterstützung berechtigten Männern 39,94 Proz. der Altersklasse 60 bis 
65 Jahren angehörten; und beim weiblichen Geschlechte ist Alters- 
schwäche als Unterstützungsursache gewöhnlich noch viel häufiger als 
beim männlichen Geschlechte. Hierfür nur einige typische Beispiele: 

Altersschwäche als Unterstützungsursache?): 


an... A ee er a cA 
Dortmund an G ia? itá io 
paw fe a O a 
Halle Eman M E 
1 0 re Ale A He 


Hierbei darf nicht außer acht gelassen werden, um sich vor einer 
Ueberschätzung einer durch die Invalidenversicherung zu bewirkenden 
Entlastung der Armenpflege zu hüten, daß ein großer Teil der Almosen- 
empfänger entweder gar nicht dem Versicherungszwange unterlag oder 
nicht die ganze Wartezeit im versicherungspflichtigen Berufe tätig ge- 
wesen ist. Das Gesetz konnte auch denjenigen nicht seine Segnungen 
bieten, die zur Zeit seines Erlasses schon invalide waren. Jedoch kann 
dies alles nicht hinderlich sein, daß die Invalidenversicherung doch zu 
großen Hoffnungen auf eine nachhaltige Entlastung der Armenpflege be- 
rechtigt. Vor allem ist dem Einfluß der Invalidenversicherung auf die 
Armenpflege schon der Umstand günstig, daß sie der Zweig der staat- 
lichen Arbeiterversicherung ist, bei dem das weibliche Element relativ 
am meisten vertreten ist. Die Gesamtzahl der Versicherten der In- 


1) Conrad, J., Grundriß der politischen Oekonomie, 2. Teil, 4. Aufl., Jena 1904. 

2) Die Angaben sind Heft 21 der Schriften des Deutschen Vereins für Armen- 
pflege und Wohltätigkeit entnommen und beziehen sich auf die Jahre 1880, 1885, 1890 
und 1893. 


366 Miszellen. 


validenversicherung — sowie das Verhältnis der beiden Geschlechter — 
sind nur schätzungsweise bekannt. Für 1903 nimmt man an, daß sie 
8980600 Männer und 4586600 Frauen umfaßte. 

Und wenn auch nur ein Teil der Almosenempfänger, d. h. ein Teil 
derjenigen, die beim Fehlen der Versicherung der Almosenpflege an- 
heimgefallen wären, in den Genuß einer Rente der Invalidenversicherung 
oder Altersversicherung tritt, so liegt darin schon eine ganz erhebliche 
Entlastung; sind doch die Leistungen der Almosenpflege nicht einmalige, 
sondern regelmäßige und fast durchweg langjährige. Wenn eine Ent- 
lastung, die sich ziffernmäßig nur durch eine genaue Untersuchung der 
wirtschaftlichen Verhältnisse aller im Rentengenuß Stehenden ergeben 
könnte — da doch der Einfluß der Unfallversicherung vor allem ausge 
schaltet werden muß — zur Zeit der Erhebungen noch nicht genügend 
verspürt wurde, so liegt dies hauptsächlich daran, daß das Invaliden- 
versicherungsgesetz noch zu kurze Zeit in Kraft gewesen war. Die in 
den ersten Jahren ausbezahlten Renten waren auch noch verhältnis 
mäßig kleine Beträge, die sehr häufig ein ergänzendes Eingreifen der 
Armenpflege nötig machten; vor allem wohl immer da, wo die Rente 
nicht zum Unterhalte des Empfängers allein, sondern auch zur Er- 
nährung seiner Familie diente. Die Höhe der Rente ist nun abhängig 
von der Zahl der geleisteten Beiträge, also steigend. Ich kann mich 
aber der optimistischen Ansicht Freunds !) nicht anschließen, der den 
Standpunkt vertritt, dal, da die Rente mit jeder verwendeten Beitrags- 
marke wachse, dieser Grund (für das Eingreifen der Armenpflege neben 
der Versicherungsleistung) mit den Jahren hinwegfalle. Die Invaliden- 
rente, die ein Versicherter erlangen kann, wenn er jedes Jahr 52 Wochen 
Beiträge geleistet, würde folgende Höhe erreichen: 


Zahl der 


in Lohnklasse 
peitragsjabte ' I o] o | IV i | = 

5 117,80 | 135,60 ' 150,80 166,00 181,20 
10 125,60 | 151,20 171,60 192,00 212,40 
20 141,20 | 182,40 | 213,20 | 244,90 274.80 
30 156,80 | 213,50 | 254,50 206,00 337,20 
40 172,40 244,80 296,40 348,00 399,60 
50 188,00 | 276,00 | 338,00 400,00 462,00 


Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, daß in Zeiten unver 
schuldeter Arbeitslosigkeit, welche gewöhnlich nicht durch Weiterver 
sicherung gedeckt zu sein pflegen, unbescheinigter Krankheit u.s.w. 
die Rente in ihrem Steigen behindert wird. Ich möchte dabei auch 
nicht unerwähnt lassen, daß nach § 40 L-V.-G. vom 13, Juli 1899 für 
Fälle bescheinigter Krankheit und militärischer Dienstleistungen bei Be 
rechnung der Rente einheitlich die Lohnklasse II zu Grunde gelegt 
wird, so daß für Renten der Versicherten der III., IV. und V. Klasse 
die Zunahme eine geringere ist. Zu dem langsamen Steigen der Rente 
sagt Frankenberg?) folgendes: 


1) Dr. Freund a. a. O. 
2) Brauns „Archiv“, Bd. XII, Berlin 1898. 


Miszellen. 367 


„Es ist ja überhaupt ein Uebelstand, daß die Invalidenrente nur 
ganz langsam für jedes Beitragsjahr sich erhöht, welches in dem Ver- 
sicherengsverhältnis bis zum Eintritte der völligen Erwerbsunfähigkeit 
gebracht ist. Ihr Mindestsatz, wie er frühestens nach Ablauf der 
ersten 47 Wochen seit 1. Januar 1891, also seit dem 17. November 1891, 
zur Anweisung kommen konnte, stellte sich auf jährlich 111 M. oder 
9,25 M. pro Monat. Jeder Wochenbeitrag erhöht die Rente um 2, 6, 9, 
13 Pf. Demnach konnte vom 1. Januar 1898 ab ein Arbeiter, der ununter- 
brochen beschäftigt gewesen, mit mehr als 850 M. Jahresverdienst in 
den Jahren 1891—1897 pro Monat nur 13,15 M. verlangen, Der äußerst 
bescheidene Anfangssatz vergrößert sich also günstigen Falles jährlich 
um etwa 6 M., so daß selbst ein hochgelohnter, ständig beschäftigter 
Arbeiter heute (1898) noch über 20 Jahre sich gedulden muß, bis er 
eine für ihn und allenfalls für seine Frau ausreichende Rente von 
25 M. erwarten kann.“ Diese Berechnungen würden sich nach der 
Novelle zum Invalidenversicherungsgesetz vom 13. Juli 1899 etwas anders 
gestalten, jedoch steht fest, daß der Durchschnittsbetrag der Invaliden- 
rente sich jährlich um 3 M. hebt), so daß diese auch im Beharrungs- 
zustande noch keine für die Bedürfnisse des Empfängers und seiner 
Familie ausreichende Summe darstellen wird. 

Die Altersrente steht im Gegensatz zur Invalidenrente ein für alle- 
mal fest. Der Versicherte erhält sie, wenn er mindestens 1200 Wochen 
Beitrag geleistet hat, nach vollendetem 70. Lebensjahr, selbst wenn er 
noch vollkommen arbeitsfähig ist. Sie beträgt nach $ 37 L-V.-G. vom 
13. Juli 1899 für 


pro Jahr | pro Monat 
nn jr Min he Mi 
Klasse I , 110 | 9,20 
„ H 140 11,70 
w IM 170 14,20 
nr Ay 200 | 16,70 
p W 230 19,20 


Kommen Beiträge in verschiedenen Lohnklassen in Betracht, so 
wird der Durchschnitt der diesen Beiträgen entsprechenden Altersrente 
gewährt. Sind mehr als 1200 Beitragswochen nachgewiesen, so sind 
1200 Beiträge der höchsten Lohnklassen der Berechnung zu Grunde zu 
legen (§ 37). Die geleisteten Beiträge, die die Zahl 1200 der für den 
Versicherten günstigsten Marken überschießen, sind demnach für die Be- 
rechnung der Altersrente ohne jede Bedeutung; sie behalten jedoch 
ihren Wert für die Berechnung einer demselben Versicherten etwa 
später statt der Altersrente zu bewilligenden Invalidenrente. Die Alters- 
rente bietet somit selbst in ihrem Höchstbetrage kein genügendes Aus- 
kommen für das Leben in der Stadt (s. später), wenn auch einen sehr 
nennenswerten Zuschuß für das Budget des Greises. Die Herabsetzung 
der Altersgrenze für die Altersrente, etwa auf das 65. Lebensjahr würde 


1) Durchschnittsbetrag der Invalidenrente 1891: 113,49 M., 1895: 124,73 M., 
1900: 142,04 M., 1903: 152,27 M. 


368 Miszellen. 


sehr berechtigten Anforderungen Rechnung tragen. Allerdings müßte 
einer solch einschneidenden Maßnahme eine gründliche Untersuchung 
der Frage vorausgehen, ob diese Erweiterung auch finanziell durch- 
führbar ist; denn jede finanzielle Ueberspannung würde die gesunde 
Fortentwickelung der Sozialversicherung gefährden. 

In Hinsicht auf die entlastende Einwirkung des Gesetzes auf die 
Armenpflege wird außer den vorher beregten Lücken dem Invaliden- 
versicherungsgesetz vom 13. Juli 1899 noch ein sehr schwerer Vorwurf 
nicht erspart bleiben können. Der $ 46 des Gesetzes lautet nämlich: 
„Die aus der Versicherungspflicht sich ergebende Anwartschaft erlischt, 
wenn während zweier Jahre nach dem auf der Quittungskarte ver- 
zeichneten Ausstellungstage ein die Versicherungspflicht begründendes 
Arbeits- oder Dienstverhältnis, auf Grund dessen Beiträge entrichtet 
sind, oder die Weiterversicherung nicht oder in weniger als insgesamt 
20 Beitragswochen bestanden hat.“ 

Hierzu der $ 146 desselben Gesetzes: 

„Die nachträgliche Entrichtung von Beiträgen für eine versiche- 
rungspflichtige Beschäftigung ist nach Ablauf von zwei Jahren, sotern 
aber die Beitragsleistung wegen verspäteter Feststellung einer bisher 
streitigen Versicherungspflicht oder aus anderen Gründen ohne Ver- 
schulden der Beteiligten unterblieben ist, nach Ablauf von vier Jahren 
seit der Fälligkeit unzulässig.“ 

Das Erlöschen der Anwartschaft, das in der Mehrzahl der Fälle 
eine große Härte bedeutet, macht oft gerade die Möglichkeit einer Ent- 
lastung der Arıenpflege durch die Invalidenversicherung zunichte. 
Weymann!) führt in einer sehr interessanten Arbeit Näheres über das 
Verhängnisvolle dieser Bestimmungen aus. Einige Sätze aus diesen Aus- 
führungen mögen folgen: „.. . aber wer in der Praxis die Wirkungen 
dieser Vorschriften beobachtet, der wird kaum der Erkenntnis aus- 
weichen können, daß $ 46 in Verbindung mit $ 146 des Gesetzes bei 
aller Bescheidenheit seiner Anforderungen doch ganz außerordentliche 
Härten in sich trägt, Härten, die in beklagenswert vielen Fällen den 
vom Gesetz gewollten Erfolg zerstören; Härten, die mit der wachsenden 
wirtschaftlichen Einsicht und Kenntnis des Gesetzes auf seiten der 
Versicherten schwinden zu sehen, nur geringe Aussicht besteht; und vor 
allem Härten, deren es durchaus nicht bedarf, um die Zwecke, die der 
Gesetzgeber mit $ 46 verfolgt, zu erreichen“. Und weiter unten: „Wenn 
ein Arbeiter 40—50 Jahre seines Lebens hindurch Woche für Woche 
seinen Beitrag entrichtet und auf diese Weise Hunderte von Mark der 
Versicherungsanstalt zugeführt hat, dann wird es jedenfalls im Rechtsbe- 
wußtsein des einfachen Mannes als eine schwere Unbilligkeit empfunden 
werden, wenn er die dadurch erworbenen Ansprüche verliert, dadurch, 
daß er versäumt, den Betrag von 2,80 M. — unter Umständen sogar 
nur den Betrag von 14 Pfg., denn der Mangel einer einzigen Marke 
kann das ganze Rentenrecht vernichten — rechtzeitig einzuzahlen; wenn 
er nicht anders als derjenige behandelt wird, der überhaupt nur ein 


1) K. Weymann in „Die Arbeiterversorgung‘, Jg. 21, No. 17. 


Miszellen. 369 


paar Groschen oder Mark eingezahlt hat. Diese Empfindung wird 
doppelt so stark sein, wenn der Versicherte sich sagt, daß diese ver- 
hältnismäßig geringfügige Versäumnis ihm einträgt den Verlust nicht 
etwa irgend eines beliebigen entbehrlichen, wenn auch vielleicht wert- 
vollen Gutes, sondern der unentbehrlichen Sicherheit seines Alters, der 
Sicherheit, welche ihm zu verschaffen der Oeffentlichkeit so wichtig erschien, 
daß er um deswillen gezwungen worden ist, sein ganzes Arbeiterleben 
hindurch dafür zu sparen. Und wenn dieser Verlust sich wenigstens durch 
eine Nachzahlung, sei es selbst mit einem hohen Aufschlag als Säumnis- 
strafe, abwenden ließe, dann würden die üblen Folgen der Säumnis mit 
einem, wenn auch vielleicht sehr empfindlichen Schlage ausgestanden 
sein. Aber daß das Unterlassen der Zahlung von 3 oder 4 M. oder 
gar von wenigen Pfennigen den Verlust des ganzen auf viele Hunderte, 
unter Umständen Tausende von Mark zu bewertenden, für den kleinen 
Mann ein Vermögen darstellenden Rentenrechts bedeutet, daß keine noch 
bedeutende Nachzahlung angenommen wird, daß der Versicherte sich 
so wieder 4 Jahre lang allen Unsicherheiten des Schicksals preisgegeben 
sieht, das ist eine Tatsache, deren wirtschaftlich und psychologisch ver- 
hängnisvolle Bedeutung sich, wie mir scheint, schwer überschätzen läßt. 
Vier Jahre sind eine lange Zeit für den, der mit dem baldigen Eintritte 
der Erwerbsunfähigkeit rechnen muß...“ „Wer sich die Menge der 
Fälle vergegenwärtigt, in denen in der Praxis das Erlöschen der An- 
wartschaft zur Sprache kommt — und sie gehören ja zum täglichen 
Brot der Rechtsprechungsinstanzen — wird mir zustimmen, wenn ich 
sage, daß in der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle das Erlöschen 
nicht als das naturgemäße Ergebnis einer wirtschaftlichen Entwickelung 
sich darstellt, sondern gerade als das Ergebnis entweder besonders 
gedrückter wirtschaftlicher Verhältnisse, die jenen Schutz besonders 
wünschenswert machen, oder aber mangelnder wirtschaftlicher Schulung 
und Einsicht.“ 

Es wäre in unserem Sinne, hinsichtlich einer durch die Arbeiter- 
versicherung zu bewirkenden Entlastung der Armenpflege, sehr zu be- 
grüßen, wenn eine baldige Novelle diese Paragraphen fallen ließe. 

In den Kleinstädten und auf dem Lande, da ist das Feld der 
Wirksamkeit der Altersversicherung. In den Großstädten ist es ge- 
radezu eine Seltenheit, daß ein Arbeiter das 70. Lebensjahr vollendet. 
Manche ältere Arbeiter, die früher in die Großstadt verzogen sind, 
kehren in höherem Alter wieder aufs Land zurück, da ihnen dort noch 
am ersten Gelegenheit zum Unterhalte durch eigene Hände Arbeit ge- 
boten ist. In der Mehrzahl der Fälle, selbst in kleineren Städten und 
sogar auf dem Lande, haben Arbeiter in höherem Alter doch schließlich 
die Hilfe der Armenpflege in Anspruch nehmen müssen. In jüngeren 
Jahren konnten sie keine Rücklagen machen, selbst wenn sie den Trieb 
hierzu — was auch zu den Seltenheiten gehören mag — verspürt hätten. 
Ihre Kinder, zwar oft in größerer Zahl vorhanden, sind in der Mehrzahl 
der Fälle wieder in derselben wirtschaftlichen Lage wie die Eltern und 
können, selbst bei dem besten Willen, nichts für sie tun. Auf dem 

Dritte Folge Bd, XXXIII (LXXXVIII), 24 


370 Miszellen. 


Lande sind alte Leute, die von ihren Söhnen und Töchtern nicht ernährt 
werden können, meistens die einzigen Almosenempfänger gewesen; und 
hier ist es auch relativ am häufigsten, daß Versicherte die Altersgrenze 
erreichen, bei der die Altersversicherung eingreift. Die Armenpflege hat 
nun nıcht mehr nötig, einstweilen einzutreten und den Angehörigen in un- 
erquicklichen, langwierigen Verhandlungen ihre Alimentationspflichten 
zum Bewußtsein zu bringen. Die Altersrenten reichen nicht nur allein 
dazu aus, die Bedürfnisse des Empfängers zu befriedigen, sondern können 
bei den bescheidenen ländlichen Verhältnissen dem Greise ruhige Tage 
seines Alters, einen schönen Lebensabend bereiten. Die Kinder werden 
den im Rentengenuß stehenden Vater gerne aufnehmen und nicht als 
„überflüssigen Esser mit scheelen Blicken betrachten“, da er ihnen jetzt 
nicht mehr zur Last fallen kann, sondern sogar ein garantiertes Ein- 
kommen auf Lebenszeit besitzt. 

Noch bis vor einigen Jahren war es ein ungeheuerer Uebelstand, 
daß die Invalidenversicherung erst dann eingriff, wenn eine zweiund- 
fünfzigwöchentliche Krankheit den Arbeiter „invalide“ gemacht hatte, 
und die Leistungen der Krankenkassen endeten schon nach 13 Wochen — 
den Kranken in den weitaus meisten Fällen der Sorge der Armenpflege 
überantwortend, die keineswegs die so wohlgeordnete Krankenfürsorge 
der Krankenversicherung fortsetzte. In der neuesten Zeit — die Novelle 
datiert vom 25. Mai 1903 — ist darin völlig Wandel geschaffen: die 
Krankenfürsorge der Krankenversicherung und die der Invalidenver- 
sicherung gehen in denjenigen Fällen, in denen eine langwährende 
Krankheit das Eingreifen der letzteren bedingt, in der 27. Woche der 
Krankheit gesetzlich ineinander über. Die Krankenfürsorge wird fort- 
gesetzt und zwar sehr intensiv, da hierdurch oftmals einer schwereren 
Belastung durch dauernde Invalidität vorgebeugt wird. Hierdurch wird 
die Invalidenversicherung dem Prinzip der gesamten Sozialgesetzgebung, 
als Schutzhort für Leben und Gesundheit zu dienen und die möglichst 
lange Erhaltung der Arbeitskraft jedes einzelnen Versicherten anzu- 
streben, zu ihrem Teile gerecht. Die gesetzliche Grundlage der Heil- 
bestrebungen der Invalidenversicherung bilden die $$ 18—23 und 47 
des Invalidenversicherungsgesetzes vom 13. Juli 1899. Im $ 18 dieses 
Gesetzes heißt es: 

„Ist ein Versicherter dergestalt erkrankt, daß als Folge der Krank- 
heit Erwerbsunfähigkeit zu besorgen ist, welche einen Anspruch auf 
reichsgesetzliche Invalidenrente begründet, so ist die Versicherungs- 
anstalt befugt, zur Abwendung dieses Nachteils ein Heilverfahren in 
dem ihr geeignet erscheinenden Umfange eintreten zu lassen. 

Die Versicherungsanstalt kann das Heilverfahren durch Unter- 
bringung des Erkrankten in einem Krankenhause oder in einer Anstalt 
für Genesende gewähren. Ist der Erkrankte verheiratet oder hat er 
eine eigene Haushaltung oder ist er Mitglied der Haushaltung seiner 
Familie, so bedarf es hierzu seiner Zustimmung ....... “ 

Es handelt sich hierbei also nicht um Krankheiten, die vorüber- 
gehend sind, sondern ausnahmslos um solche, die ihrer Natur nach 
geeignet sind, einen Dauerzustand, die Invalidität im Sinne des Ge- 


Miszellen. 371 


setzes herbeizuführen. Wenngleich die Rentenleistung tatsächlich und 
gesetzlich die Hauptaufgabe der Invalidenversicberung ist und es sich 
bei ihrer Tätigkeit der Krankenfürsorge eigentlich nur um Neben- 
leistungen handelt, so sind doch die Träger der Invalidenversicherung 
— da ihr finanzielles Interesse sie auf eine möglichst lange Erhaltung 
der Arbeitskraft jedes einzelnen Versicherten hinweist und infolge ihrer 
pekuniären Leistungsfähigkeit — geradezu die „Grundpfeiler der auf 
die Bekämpfung und Verhütung der Volkskrankheiten gerichteten Be- 
strebungen geworden“. Hierbei spielt der Kampf gegen die Tuber- 
kulose die größte Rolle, und die Invalidenversicherung hat viel dazu 
beigetragen, eine Eindämmung dieser „Geißel des Menschengeschlechts“ 
berbeizuführen. Wie sehr die Tuberkulose verbreitet ist, das zeigten 
bereits des öfteren die im Reichsversicherungsamt bearbeiteten Sta- 
tistiken der Invaliditätsursachen, und die Todesursachenstatistiken des 
Reichsgesundheitsamts konnten nur die traurige Tatsache bestätigen. 
Ein guter Kenner der Verhältnisse, Dr. Rumpf, sagt in einer Abhand- 
lung in der Zeitschrift des Deutschen Vereins für Versicherungswissen- 
schaft, daß von den im versicherungspflichtigen Alter stehenden Per- 
sonen jeder Dritte an Lungentuberkulose stirbt. „Mitten unter uns 
haust ein Feind, frißt heimlich am Marke unseres Volkes, verschont 
nicht hoch noch niedrig und hält jahraus, jahrein eine Ernte von 
180 000 Menschen in unserem Volke: die Lungentuberkulose“ !), Eine 
solche Verbreitung der Tuberkulose und der riesige Anteil derselben 
an der Herbeiführung der Invalidität mußte ja die Organe der Invaliden- 
versicherung darauf hinweisen, daß die erfolgreiche Bekämpfung der 
Tuberkulose ihre Aufgabe — als in ihrem pekuniären Interesse liegend — 
sein müßte. Und so zeigen denn die Ausgaben der Organe der staat- 
lichen Invalidenversicherung eine rapide Zunahme in den Aufwendungen 
für das Heilverfahren, wobei die allergrößte Steigerung, auf der er- 
wähnten Erkenntnis fußend, auf die Heilbehandlung Tuberkulöser entfällt. 


Heilbehandlungskosten 


Im für die Im für die 
Jahr r Behandlung Jahr : Behandlung 
allgemeinen Tuberkulöser allgemeinen Tuberkulöser 
1891 373 — 1898 2 769 330 1548 364 
1892 31 884 — 1899 4056975 2 405 037 
1893 108 339 — 1900 6 210720 3 760 761 
1894 364 576 — 1901 7912219 5038 751 
1895 631 789 — 1902 9 056 240 5 861 166 
1896 I 175 504 — 1903 II 501 205 6781 507 
1897 2011149 1027 096 1904 12 735 080 8 474 281 


Die Aufstellungen des Reichsversicherungsamtes lassen erkennen, daß die 
Behandlung der Tuberkulose hauptsächlich in den zahlreichen Heilstätten 
1) Dr. Weicker in „Die Invaliden- und Altersversorgung‘, Jahrg. 1895/96. 

24* 


372 Miszellen. 


für Lungenkranke sich vollzogen hat. Die Versicherungsanstalten haben 
sogar eigene Heilanstalten errichtet und bis Ende 1903 die sehr be- 
trächtliche Aufwendung von 29068861 M. hierfür gemacht. Der Heil- 
erfolg wird jedenfalls sehr gefördert, indem bei Aufnahme in ein Sana- 
torium die Versicherungsanstalten für die zurückbleibenden Angehörigen 
des Kranken möglichst ausreichend sorgen. Hierdurch wird nicht nur 
eine größere Bereitwilligkeit des Kranken, sich einem geordneten Heil- 
verfahren Zu unterziehen, erreicht, sondern auch durch Beseitigung eines 
psychologischen Hindernisses der Heilung, die Möglichkeit des Erfolges 
bedeutend erhöht. Es ist nicht einmal für die Uebernahme des Heil- 
verfahrens durch eine Versicherungsanstalt nötig, daß die zu behan- 
delnde Person die für die Entstehung eines Rentenanspruchs erforder- 
liche Wartezeit zurückgelegt hat, was insbesondere für die Tuberkulose- 
bekämpfung sehr in Frage kommt. Die Aufstellungen über die Erfolge, 
die die Versicherungsanstalten mit ihren Heilbestrebungen erzielt haben, 
ergeben, daß der Aufwand in einer angemessenen Zahl der Fälle sich 
sehr wohl gelohnt hat. (S. Tabellen 6a und 6b.) 


Tabelle 6a. 


Das ständige Heilverfahren wegen Lungentuberkulose wurde ab- 
geschlossen bei: 


Jahr Männern | Frauen 
1897 2 598 736 
1898 3 806 1104 
1899 6032 1 666 
1900 8 442 2652 
1901 10 812 3844 
1902 12 187 4 302 
1903 14 937 5211 
1904 16 957 6520 


Von 100 Behandelten erlangten — behielten — Erwerbsfähigkeit. 


| 1897 | 1898 | 1899 | 1900 | 1901 | 1902 | 1903 | 1904 
i E Männer 
Am Ende des Behandlungsjahres 61 67 67 66 70 72 3 | 74 
„nnd | 42 | 44 | 48 48 | 53 | 57 | 59 
3 S „» 2. t Jahres nach der 29 37 39 40 45 48 A 
EEE 8. | Behandlung 28.| 31|.33 35,138 | i 
» » „4. 25 28 30 | 30 = 
Frauen 
Am Ende des Behandlungsjahres 64 | 69 67 67 72 76:77 77 
er i 50 | 49 | 5I 52 | 6o | 62 | 65 | 
a PR » 2. X Jahres nach der 35 43 43 46 5I 54 . 
33 » »„ 3 Behandlung 36 39 40 40 | 45 R al 
» mo mk 32 | 38 | 37 | 35 . 


Miszellen. 373 


Tabelle 6b. 


Das ständige Heilverfahren bei anderen Krankheiten (außer Lungen- 
tuberkulose) wurde abgeschlossen bei: 


Jahr | Männern Frauen 

1897 4 082 1 806 

1898 5 025 2489 3 

1899 6 870 3 802 

1900 8755 5 276 

1901 9 176 6 009 

1902 9837 6 196 

1903 11 868 7 761 

1904 12 182 8 426 
Von 100 Behandelten erlangten — behielten — Erwerbsfähigkeit: 

o 1897 | 1898 | 1899 | 1900 | 1901 | 1902 | 1903 | 1904 
=T F = Männer  — 
Am Ende des Behandlungsjahres 60o | 66 | 60 62 | 65 64 , 69 zı 
» » 4 45 | 48 | 47 48 53 52 56 à 
“o » — » 2. \ Jahres nach der 39 | 43 |4 | 42 47 | 46 s 
now mo Behandlung 36 | 40 | 37 | 39 | 43 
ET 34 | 37 | 35 | 35 | 

Frauen 
Am Ende des Behandlungsjahres 58 | 66 | 62 , 66 | 67 | 70 | 72 | 76 
"nd 43 49 | 48 | 51 56 59 62 $ 

w w 2. {| Jahres nach der 39 45 | 43 45 51I 53 . 
„on m 9 Behandlung 35 42 40 43 u er 
no „4 35 40 39 39 A ali 


(Aus: Die deutsche Arbeiterversicherung als soziale Einrichtung. Berlin 1905.) 


Selbst wenn man nur in einer bescheidenen Zahl der Fälle von 
einem Dauererfolg wird reden können — macht doch die Lage der 
Familie es fast immer erforderlich, daß der zurückgekehrte Ernährer 
sofort seine Arbeit, möglichst in vollem Umfange, wieder aufnimmt und 
droht hierdurch bei dem Aufenthalte in engen, dumpfigen Räumen 
manch schöner Heilerfolg wieder verloren zu gehen — so darf man 
aber andererseits nicht aus dem Auge lassen, daß die Rentabilität der 
für den Versicherten aufgewendeten Summen nicht an ihm allein zu 
messen ist, da der Einfluß einer geordneten Heilbehandlung sicherlich 
über seine eigene Person hinausgeht. „Zurückgekehrt in seinen Kreis 
wird er Träger und Apostel der Hygiene werden, weil er in den ge- 
sundheitlichen Mißbräuchen daheim jetzt eine Gefahr für sich selbst 
sieht. So wird der einzelne, der unter dem Dache der Heilstätte seine 
Heilung oder Besserung erlangt hat, außerhalb derselben ein Mitarbeiter 
an der großen Aufgabe der Volksgesundung !)! 


mn 


1) Dr. Weicker a. a. O. 


374 Miszellen. 


Handelt es sich bei der Heilbestrebung der Invalidenversicherung 
also im großen und ganzen um eine rentierliche Anlage der aufgewen- 
deten Summen, so bietet dagegen die Einrichtung von „Invalidenheimen“ 
für den finanziellen Stand der Versicherungsanstalten keine solch ver- 
lockenden Aussichten. Nur reiche Anstalten, solche, die bei ihrem „Sonder- 
vermögen“ nennenswerte Ueberschüsse erzielt haben, sind überhaupt 
im stande, an die Stelle der Rentengewährung ihren Invaliden- und 
Altersrentnern Aufnahme in ein Invalidenheim zu bieten. Anstoß zu 
dieser Art der Leistung der Organe der Invalidenversicherung gab die 
Landesversicherungsanstalt Braunschweig durch die Veranstaltung einer 
Umfrage bei den über 50 Jahre alten Invalidenrentenempfängern ihres 
Bezirkes, ob sie geneigt seien, gegen Ueberlassung ihrer Rente an die 
"Versicherungsanstalt in ein Invalidenheim zu gehen, das die Anstalt zu 
erbauen beabsichtige.e Wohl auf diese Anregung hin nahm die Novelle 
zum Invalidenversicherungsgesetz vom 13. Juli 1899 im $ 25 folgende 
Bestimmung auf: 

„Auf Grund statutarischer Bestimmung der Versicherungsanstalt 
kann der Vorstand einem Rentenempfänger auf seinen Antrag an Stelle 
der Rente Aufnahme in ein Invalidenhaus oder in ähnliche von Dritten 
unterhaltene Anstalten auf Kosten der Versicherungsanstalt gewähren. 
Der Aufgenommene ist auf ein Vierteljahr und, wenn er die Erklärung 
nicht einen Monat vor Ablauf dieses Zeitraumes zurücknimmt, jedesmal 
auf ein weiteres Vierteljahr an den Verzicht auf die Rente gebunden.“ 
Es wird hierdurch vor allen denjenigen Rentnern, die ohne Familien- 
angehörige sind, Gelegenheit geboten, in Ruhe, bei entsprechender Pflege, 
ihre Renten zu genießen. Die zweite Bestimmung des zitierten Paragraphen 
hat wohl den Zweck, eine übereilte Kündigung von seiten des Ver- 
sicherten zu hintertreiben, „sie soll verhindern, daß aus augenblicklichem 
Mißmut oder gar aus leichtfertigen Gründen auf die Benutzung einer 
Einrichtung verzichtet wird, die im wohlverstandenen Interesse aller 
Beteiligten gelegen ist“! 

In einem Punkte berühren sich die beiden vorerwähnten Bestre- 
bungen, wo es sich um die Aufnahme Tuberkulöser in ein Invalidenhaus 
handelt. Gerade für unheilbare Lungenkranke ist diese Einrichtung von 
unschätzbarem Werte, nicht allein deshalb, weil ihnen dort die in erhöhtem 
Maße nötige Pflege vollauf gewährt werden kann, sondern weil sie auch 
immer einen Infektionsherd und damit eine ständige Gefahr für ihre 
Mitmenschen bilden. Somit dürften sich in dieser Hinsicht Armenpflege 
und Invalidenversicherung die Hand reichen, indem in einer Unter- 
drückung der „Geißel der Menschheit“ nicht zuletzt die Quelle einer 
reichen, nachhaltigen Entlastung der Armenpflege liegen muß. 

Die Kette der Maßnahmen des Invalidenversicherungsgesetzes, durch 
welche eine Entlastung der Armenpflege unbedingt herbeigeführt werden 
muß, enthält noch ein sehr wichtiges Glied. Das Gesetz gibt den Ver- 
sicherungsanstalten das Recht, unter gewissen Bedingungen Ueberschüsse, 
ihres „Sondervermögens“ über den zur Deckung ihrer Verpflichtungen 
dauernd erforderlichen Bedarf zu anderen als den im Gesetze vorgesehenen 
Leistungen im wirtschaftlichen Interesse der der Versicherungsanstalt an- 


Miszellen. 375 


gehörenden Rentenempfänger, Versicherten, sowie ihrer Angehörigen zu 
verwenden. Von diesem Rechte haben die Versicherungsanstalten ausge- 
dehnten Gebrauch gemacht. In dem Schaffen gesunder Arbeiterwohnungen 
eine sehr rationelle Fortsetzung ihrer Heilbestrebungen, einen nicht zu 
unterschätzenden Alliierten in dem Kampfe gegen die Tuberkulose er- 
blickend, haben sie die von Vereinen oder Genossenschaften ausgehenden 
Bestrebungen dieser Art stets in entgegenkommendster Weise unterstützt. 
So haben die sämtlichen Träger der Invalidenversicherung bis Ende 1904 
nicht weniger als 133 525 433 M. zu niedrigem Zinstuße und erleich- 
terten Rückzahlungsbedingungen zum Bau von Arbeiterwohnungen aus- 
geliehen. Riesige Kapitalien, bis Ende 1904 284 444 008 M. aus dem 
„Sondervermögen“ der Versicherungsanstalten machten die Anlage von 
Volksbädern, Krankenhäusern und ähnlicher gemeinnütziger Institutionen 
möglich und wirkten somit indirekt auch im Sinne der Sozialgesetzgebung, 
indem sie zur Hinausschiebung der Invalidität der Versicherten beitrugen, 
mitarbeiteten an der Hebung der Volksgesundheit und hierdurch auch Er- 
hebliches für eine Entlastung der öffentlichen Armenpflege leisteten! 

Wenn eine unmittelbare Entlastung der Armenpflege durch die 
Invalidenversicherung zur Zeit da die Erhebungen stattfanden noch 
nicht genügend verspürt wurde, so liegt dies, wie erwähnt, wohl vor 
allem daran, daß das Gesetz noch zu kurze Zeit in Kraft gewesen war. 
Auch konnte, solange die „Uebergangsbestimmungen“ des IVG. vom 
22. Juni 1889 noch in Kraft waren — Nachweise verlangend, die nur eine 
sehr beschränkte Anzahl von Arbeitern zu erbringen vermochte — der 
Einfluß des Gesetzes nicht in seinem ganzen Umfange in die Erscheinung 
treten. Ferner, „bevor nicht der alte Bestand der Almosenempfänger 
durch Tod oder aus anderen Gründen aus der Armenpflege ausgeschieden 
sein wird“, kann das Gesetz nicht seine volle Wirksamkeit entfalten. 

Das neue Geschlecht ist unter der Wirksamkeit dieser Gesetze 
aufgewachsen und wird bestrebt sein, sich deren Segnungen soviel als 
möglich zu eigen zu machen! 


Teil II. 


Unsere Ausführungen ergaben somit, daß schon eine recht beträcht- 
liche Entlastung der Armenpflege durch die Arbeiterversicherung statt- 
gefunden hat. Fürwahr wir können mit Recht stolz sein auf das, was 
wir erreicht haben! Mögen jedoch unsere Erfolge für uns nur der Sporn 
zu weiterer Tätigkeit sein, zum Ausbau unserer Sozialgesetzgebung. 
Große Probleme harren hier noch der Lösung. Es betrifft dies, außer 
anderen bereits oben erwähnten Vorschlägen zur Weiterentwickelung 
unserer Arbeiterversicherung, vor allem die Errichtung einer staatlichen 
Witwen- und Waisenversicherung und die Arbeitslosenfürsorge auf dem 
Wege der Versicherung. 

Zu allen beiden finden sich schon recht erfreuliche Ansätze in der 
bestehenden Gesetzgebung, und zwar in den Unfallversicherungsgesetzen. 
Die Berufsgenossenschaften sind bekanntlich verpflichtet, für die Witwen 
und Waisen ihrer durch Betriebsunfall getöteten Versicherten durch 


376 Miszellen. 


Gewährung von Renten zu sorgen. Was den Ansatz der Sozialversiche- 
rung zu einer Arbeitslosenversicherung betrifft, so ist hiermit die Be- 
stimmung des $ 9 des Gewerbeunfallversicherungsgesetzes gemeint, dahin 
lautend, daß der Genossenschaftsvorstand befugt ist, die Teilrente eines 
Versicherten zur Vollrente zu erhöhen, solange der Verletzte aus Anlaß 
des Unfalls tatsächlich und unverschuldet arbeitslos ist. (S. auch Parallel- 
paragraphen der übrigen Unfallversicherungsgesetze.) 

Kranken- und Invalidenversicherung gewähren ja als eigentliche 
Leistungen den Versicherten und ihren Angehörigen nur Unterstützungen, 
die regelmäßig mit dem Tode des Versicherten enden. Die kleinen Geld- 
beträge, die die Krankenversicherung aus etwaigen Ueberschüssen des 
gesetzlichen Sterbegeldes und die Invalidenversicherung durch Rück- 
gewähr des auf einen verstorbenen Versicherten entfallenden Teils der 
eingezahlten Beiträge — unter gewissen Bedingungen — an dessen Hinter- 
bliebenen, außer ihren gesetzlichen Hauptleistungen ihren Mitgliedern 
zukommen lassen, tragen nicht im mindesten den Charakter einer Witwen- 
und Waisenversorgung. Eine Ausnahmestellung nahm bislang nur der 
Bergbau ein, wozu in letzter Zeit noch die Seeberufsgenossenschaft als 
Trägerin einer Witwen- und Waisenversicherung hinzugekommen ist. 
Der $ 11 IVG. vom 13. Juli 1899 sagt: „Durch Beschluß des Bundes- 
rats kann der auf Grund des Gesetzes vom 13. Juli 1887 errichteten 
Seeberufsgenossenschaft gestattet werden, unter ihrer Haftung eine be- 
sondere Einrichtung zu dem Zwecke zu begründen, die Invalidenver- 
sicherung nach Maßgabe dieses Gesetzes für diejenigen Personen zu 
übernehmen, welche in den zur Genossenschaft gehörenden Betrieben 
oder einzelnen Arten dieser Betriebe beschäftigt werden, sowie für die- 
jenigen Unternehmer, welche gleichzeitig der Unfallversicherung und 
der Invalidenversicherung unterliegen. Eine solche Einrichtung darf 
jedoch nur gestattet werden, wenn für die Hinterbliebenen der darin 
versicherten Personen von der Genossenschaft zugleich eine Witwen- 
und Waisenversorgung begründet wird. Werden solche Einrichtungen 
getroffen, so sind in denselben diejenigen Personen, für welche sie 
bestimmt sind, kraft Gesetzes versichert.“ 

In der allerneuesten Zeit hat die Seeberufsgenossenschaft die In- 
validenversicherung ihrer Mitglieder und für den im Gesetze näher 
umgrenzten weiteren Personenkreis übernommen, wodurch also auch 
für denselben die Witwen- und Waisenversicherung obligatorisch ge- 
worden ist. 

Schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sagte ein Autor: 
„Es gehört ohne allen Widerspruch zur Vorsorge einer weisen Regie- 
rung, soviel als möglich für den Unterhalt der Witwen und Waisen zu 
sorgen und ihre gänzliche Verarmung zu verhindern“! Nun, nach dem 
Erlasse unserer Sozialgesetze, mußte sich die Debatte über die Notwen- 
digkeit einer staatlichen Fürsorge für Witwen und Waisen insofern 
ändern, als sie sich auf den entsprechenden Ausbau unserer Sozialversiche- 
rung konzentrierte. Daß das Fehlen dieser Versicherung im Rahmen 
unserer Arbeiterversicherung eine große Lücke derselben bedeutet, wird 
wohl allgemein anerkannt. „Zur Arbeiterversicherung gehört auch die 


Miszellen. 377 


Versorgung der Hinterbliebenen des Arbeiterstandes. Dieser Zweig der 
Versicherung ist aber auch da, wo die Arbeiterversicherung zu einer 
öffentlich rechtlichen Institution geworden ist, wie in Deutschland, 
noch nicht geregelt. Erst dann aber wird die Arbeiterversicherung als 
abgeschlossen angesehen werden können, wenn auch die Witwen- und 
Waisenversorgung in sie aufgenommen ist“ 1). 

Drängt schon die Anlage unserer Sozialversicherung zu diesem Zweige 
staatlicher Fürsorge hin, so lassen auch die täglichen Beobachtungen 
über die Lage der Witwen keinen Zweifel darüber aufkommen, daß 
eine solche Vorsorge dringend nötig ist. Sehr interessant sind die 
Ausführungen Prinzings ?) über diese Frage. Der Kern seiner Ausfüh- 
rungen: „Mehr als !/, aller Witwen in Deutschland ist also entweder 
auf öffentliche Armenpflege oder private Wohltätigkeit angewiesen oder 
lebt, namentlich in den Städten, wegen des unsicheren und ungenügenden 
Verdienstes, in den ungünstigsten Verhältnissen“, weist wieder mit Schärfe 
auf die unbedingte Notwendigkeit einer staatlichen Vorsorge für Witwen 
und Waisen deutlich hin, welche des öfteren von offizieller Stelle, vom 
Reichskanzler und dem Reichstag, anerkannt worden ist. Einen Schritt 
zur Lösung dieses Problems haben die gesetzgebenden Faktoren bereits 
unternommen, indem sie in das Zolltarifgesetz vom 25. XII. 1903 die 
Bestimmung aufgenommen haben, daß der auf den Kopf der Bevölke- 
rung des Deutschen Reiches entfallende Nettozollertrag der nach den 
Tarifstellen 1, 2 u. s. w. des Zolltarifs zu verzollenden Waren, welcher 
den nach dem Durchschnitt der Rechnungsjahre 1898—1903 auf den 
Kopf der Bevölkerung entfallenden Nettozollertrag derselben Waren 
übersteigt, zur Erleichterung der Durchführung einer Witwen- und 
Waisenversicherung zu verwenden ist. Ueber diese Versicherung ist 
durch ein besonderes Gesetz Bestimmung zu treffen. Bis zum Inkraft- 
treten dieses Gesetzes sind die Mehrbeträge für Rechnung des Reiches 
anzusammeln und zinslich anzulegen ... Die praktische Tragweite dieser 
Bestimmung läßt sich im voraus noch nicht einmal schätzen, viel weniger 
auch nur annähernd bestimmen. Aber es ist schon sehr wichtig, die 
bloße Tatsache zu konstatieren, daß die gesetzgebenden Körperschaften 
hierdurch wieder einmal die unbedingte Notwendigkeit dieser Reform 
anerkannt und gar schon Schritte zu deren Lösung unternommen haben. 

Auch die Versicherung gegen unverschuldete Arbeitslosigkeit sollte 
durch die Organe unserer Arbeiterversicherung mitübernommen werden. 
Dabei handelt es sich gewiß nicht um arbeitsscheues Gesindel, soll der 
Trägheit nicht Vorschub geleistet werden; nein, es betrifft die „Opfer“ 
unserer wirtschaftlichen Entwickelung, Personen, die gerne arbeiten 
möchten, aber keine Gelegenheit finden, ihre Arbeitskraft in lohnendem Er- 
werbe zu verwerten. Nicht bloß einen schweren wirtschaftlichen Verlust für 
unsere nationale Wohlfahrt bedeutet es, wenn Hunderttausende von Arbeits- 
kräften so brach liegen, nein, auch sehr hoch anzuschlagen ist die Einbuße 
an sittlicher Kraft und Zufriedenheit, welche die Gesamtheit erleidet! 


1) Elster, Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 7, Jena 1901. 
2) Prinzing, in Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Jahrg. 3. 


378 Miszellen. 


Erörterungen über die Möglichkeit der praktischen Lösung dieser 
Probleme, vor allem auch die Beleuchtung der Frage, an welchen Zweig 
der bestehenden Arbeiterversicherung diese Versicherungen angeschlossen 
werden sollen, wer die Beiträge leisten soll u. s. w., gehören nicht in 
den Rahmen dieser Untersuchung. Hoffen wir, daß in Bälde sich Mittel 
und Wege finden lassen möchten, um im Wege der Versicherung auch 
diese Verarmungsgründe zu erfassen, um viele Opfer der Verhältnisse 
vor dem traurigen, deprimierenden Schritte zu bewahren, die Hilfe der 
öffentlichen Armenpflege anrufen zu müssen. 

Möchte die Arbeiterversicherung in ihrer Vollendung der Armen- 
pflege immer mehr Boden abgewinnen und ihn durch einen besseren, 
fruchtbareren ersetzen, auf daß wir der Zeit entgegengehen (die Armen- 
pflege wird wohl nie ganz außer Wirksamkeit treten können), in der die- 
jenigen, welche die Hilfe der öffentlichen Armenpflege in Anspruch nehmen 
müssen, auf eine Minimalzahl vom Unglück Verfolgter beschränkt sind! 


Miszellen. 379 


VII. 
Preisaufgaben der Rubenow-Stiftung. 


L Die Stellung des deutschen Richters zu dem Gesetz seit dem 
Ausgang des 18. Jahrhunderts. 


Es ist zu erforschen, wie sich seit dem Einsetzen der Kodifikationen 
bis auf die Jetztzeit die Wissenschaft, die Gesetzgebung und die Ge- 
richtspraxis zu dem Problem gestellt haben, ob der Richter nur zur An- 
wendung der Gesetze oder auch zur Ergänzung von Gesetzeslücken resp. 
sogar zur Abänderung von Gesetzesbestimmungen berufen sei. Für die 
Gerichtspraxis ist zunächst festzustellen, inwieweit sieim tatsächlichen 
Erfolge zu Ergänzungen und Aenderungen der Gesetze gelangt ist: 
des weiteren aber auch, ob sie solche rechtschöpferische Tätigkeit nur 
unbewußt (im Glauben, das Gesetz lediglich auszulegen) oder auch be- 
wult geübt, und welche Methoden sie dabei befolgt hat. 

Als Forschungsgebiet kommen die Verhältnisse in Deutschland (und 
speziell in Preußen) in Frage. Aber Ausblicke auf die französischen 
und englisch-amerikanischen Zustände werden nötig sein. Der Schwer- 
punkt ist auf die Erforschung der Zivilrechtspraxis zu legen. 


IL Entwickelung und Aussichten des deutschen Ausfuhrhandels. 


Die Produktionsbedingungen der wichtigeren Deutschen Ausfuhr- 
gewerbe und die Konkurrenzlage ihrer hauptsächlichen Absatzmärkte 
sind auf Grund der deutschen und ausländischen amtlichen und privaten 
Berichterstattung ohne unnötige Breite darzustellen. Auf die benutzten 
Quellen ist fortlaufend zu verweisen. Die Vorgeschichte des heutigen 
deutschen Ausfuhrbandels kann bis zur Gründung des deutschen Reiches 
Insoweit zurückverfolgt werden, als sie für die Prognose seiner künftigen 


Entwiekelung lehrreich ist. Der Ausblick in die Zukunft soll nicht auf 


die nächsten Jahre beschränkt, sondern auf die dauerhaften Entwickelungs- 
tendenzen gerichtet werden. Neben der quantitativen Ausdehnungsfähig- 
keit des Absatzes sind die spezifischen Vorteile und Nachteile des deutschen 
Konkurrenten zu ermitteln und deren letzte Ursachen zu suchen, um so 
eine Theorie der internationalen Arbeitsteilung vorzubereiten. Ausfuhr- 
gewerbe, die noch unbedeutend, aber entwickelungsfähig sind, sollen 
nitberücksichtigt werden. 


380 Miszellen. 


Praktische Kenntnis des Weltmarktes und Befragung hervorragender 
Exportkaufleute und Exportfabrikanten ist erwünscht, Beherrschung der 
nationalökonomischen Theorie unerläßlich. Wirtschaftspolitische Ten- 
denzen dürfen nicht zum Ausdruck kommen. 


III. Die Wirksamkeit des Oberpräsidenten J. A. Sack von Pommern 

(1818 — 1831) soll mit besonderer Berücksichtigung der Organisation 

der Verwaltung und der Entwickelung der Hilfsquellen der Provinz 
quellenmäßig ergründet und dargestellt werden. 


Die Bewerbungsschriften sind in deutscher Sprache abzufassen. Sie 
dürfen den Namen des Verfassers nicht enthalten, sondern sind mit einem 
Wabhlspruche zu versehen. Der Name des Verfassers ist in einem ver- 
siegelten Zettel zu verzeichnen, der außen denselben Wahlspruch trägt. 

Die Einsendung der Bewerbungsschriften muß spätestens bis zum 
1. März 1911 an uns geschehen. Die Zuerkennung der Preise erfolgt 
am 17. Oktober 1911. 

Als Preis für jede der drei Aufgaben haben wir 1500 Mk. fest- 
gesetzt. 

Greifswald, im Dezember 1906. 

Rektor und Senat 
hiesiger Königlicher Universität. 
Bonnet. 


Miszellen. 381 


VIII. 


Die „Partei der Nichtwähler“, 
Von Dr. Eugen Würzburger. 


1. Bei den Reichstagswahlen von 1903. 


Anläßlich der Reichstagswahlen ist die Tatsache viel besprochen 
worden, daß bei den Hauptwahlen von 1903 fast genau 3 Millionen 
unter den 121/, Millionen Wahlberechtigen, das ist 24 Proz., von ihrem 
Wahlrecht keinen Gebrauch gemacht haben!). Auf vielen Seiten hat 
man die Ursache dieser Erscheinung ausschließlich oder hauptsächlich 
in der Lauheit oder Bequemlichkeit der Nichtwähler gesucht und zu- 
gleich es als eine keines weiteren Beweises bedürftige Tatsache be- 
trachtet, daß jene 3 Millionen durch ihre Teilnahme wesentliche Aende- 
rungen in der Parteizusammensetzung des Reichstages herbeizuführen 
vermocht hätten. 

Gewiß haben beide Annahmen scheinbar etwas Einleuchtendes, und 
es soll auch gar nicht bestritten werden, daß der Vorwurf der Lauheit 
in der Tat vielen Nichtwählern gegenüber berechtigt ist. Aber die 
Zahl derjenigen Personen, deren Wahlenthaltung notwendig oder min- 
destens entschuldbar ist, pflegt doch in ähnlichem Maße unterschätzt zu 
werden, wie der Einfluß der Nichtwähler auf das Wahlergebnis über- 
schätzt wird. 

Aus verschiedenen, überall mehr oder minder wirksamen Gründen 
kann unter normalen Umständen nur auf 90 bis etwa 92 Proz. Wahl- 
beteiligung gerechnet werden ?); und weiter ist nicht zu übersehen, daß 
die Wahlkreise, welche das Hauptkontingent der Nichtwähler stellten, 
zum großen Teile solche sind, in denen auch bei stärkerer Beteiligung 
das Ergebnis sicherlich kein anderes gewesen wäre. 


1) Bei den früheren Wahlen waren es noch erheblich mehr (1898 noch 32 Proz.). 

2) Die Beteiligung erreichte 90 Proz. bei den Hauptwahlen in den 7 Wahlkreisen 
Wirsitz-Schubin (92,9), Bremen (92,2), Hagenau (90.3), Lübeck (90,1), Essen, Wanzleben 
und Waldenburg (je 90,0). Bei den engeren Wahlen kamen hierzu noch 5 Wahlkreise 
(Straßburg-Land, Germersheim, Magdeburg, Graudenz, Zweibrücken). Die stärkste Wahl- 
beteiligung überhaupt wurde bei der engeren Wahl in Hagenau mit 93,2 Proz. erzielt, 
während im Jahre 1898 bei den Hauptwahlen in keinem, bei den engeren Wahlen nur 
in einem Wahlkreis (Ottweiler-Sankt Wendel mit 90,3) die Ziffer von 90 Proz. erreicht 
worden ist. 

Außer den 7 Wahlkreisen mit 90 Proz. oder mehr hatten bei den Hauptwahlen 
von 1903 noch 119 eine Beteiligung von mindestens 80 Proz., 249 standen zwischen 60 
und 80 Proz. und 22 (gegenüber 87 im Jahre 1898) noch unter diesen Ziffern. 


382 Miszellen. 


Versucht man, die Nichtwähler nach den Ursachen ihrer Wahl- 
enthaltung und nach dem Einfluß derselben auf die Wahlergebnisse 
zu unterscheiden, so sind als schuldlos zunächst die Kranken zu nennen, 
deren Zahl in Ermangelung anderer geeigneter Unterlagen an der Hand 
der Statistik der Krankenkassen geschätzt werden soll. Der tägliche 
Krankenbestand beträgt bei diesen Kassen im ganzen durchschnittlich 
2—3, bei einzelnen Kassen aber bis zu 12 oder 14 Proz. der Mitglieder. 
Er muß notwendig günstiger sein als unter den Reichstagswählern, weil 
unter den Kassenmitgliedern zahlreiche junge Leute im widerstands- 
fähigsten Alter, die das Wahlrecht noch nicht besitzen, sich befinden, 
und andererseits die im höheren Alter stehenden, Erkrankungen mehr 
ausgesetzten Personen verhältnismälig weniger zahlreich vertreten sind, 
als unter der Wählerschaft. 

Ein anderer, als berechtigt anzuerkennender Grund des Nichtwählens 
ist die berufliche oder sonst notwendige vorübergehende Abwesenheit 
vom Wohnort am Walltage. Zur Schätzung der Zahl dieser Personen 
fehlte bis jetzt fast jeder Anhalt. Es sind zwar bei Volkszählungen 
bisweilen die vorübergehend Abwesenden gezählt worden, und das Er- 
gebnis einer solchen Ermittelung war z. B. im Hamburgischen Staate 
am 1. Dez. 1900 die Abwesenheit von 1,6 Proz. der männlichen Be- 
völkerung. Abgesehen davon, daß der Volkszählungsbegriff der vorüber- 
gehenden Abwesenheit nicht ganz der für die Ausübung des Wahlrechts 
in Frage kommende ist, und von der notorischen Unvollständigkeit der 
Ermittelung, kann aber jene Ziffer deswegen nur als ein Mindestbetrag 
gelten, weil der Anfang des Monats Dezember diejenige Jahreszeit ist, 
in der die Bevölkerung am seßhaftesten ist (weshalb auch der Volks- 
zählungstag auf den 1. Dezember gelegt zu werden pflegt), während die 
Wahlen von 1903 im Sommer stattfanden; außerdem aber, weil jene 
Ziffer die männliche Gesamtbevölkerung aller Altersklassen betrifft, so 
daß die Abwesenheitsziffer der im beruflichen Leben stehenden und 
darum überdurchschnittlich fluktuanten Erwachsenen bei weitem nicht 
voll zum Ausdruck kommen kann. Die Annahme, daß mindestens 4 Proz. 
der Reichstagswähler durch vorübergehende Abwesenheit von der Wahl 
abgehalten zu sein pflegen, dürfte der Wahrheit näher kommen 3). 

Eine dritte Gruppe entschuldbarer Nichtwähler bilden die in den 
Städten vielleicht nicht häufigen, aber doch auch hier nicht ganz fehlen- 
den Personen, deren geistiger Horizont zur Bıldung einer politischen 
Meinung nicht, oder wegen hohen Alters nicht mehr ausreicht. 

Endlich darf noch ein Zweifel daran ausgesprochen werden, ob die 
festgestellten Verhältnisziffern der Beteiligung richtig und nicht niedriger 


3) In Bezug auf gewisse Wahlkreise mit besonders schwacher Beteiligungsziffer 
liegt die ohne Einblick in die Wahllisten allerdings nicht zu beweisende Vermutung 
nahe, daß die große Zahl der Nichtwähler vielleicht hauptsächlich durch deren Ab- 
wesenheit zu erklären ist. So im Fürstentum Lippe mit seinen im Sommer auswandern- 
den Zieglern, das mit 47,8 Proz. nächst dem bayerischen Zentrumswahlkreis Deggendorf 
die geringste Wählerziffer aufweist; 1898 waren es sogar nur 38,0 Proz. Bei den eben- 
falls sehr niedrigen Ziffern der Küstenwahlkreise Tondern (54,8 Proz.). Jever (57,4 Proz.) 
und Aurich (61,0 Proz.) liegt der Gedanke an die behufs Fischerei ete. auf See befind- 
lichen Wähler nahe. 


Miszellen. 383 


sind als die wirkliche Beteiligung der Wahlberechtigten. Dieser Zweifel 
gilt nicht etwa der rechnerischen Richtigkeit, sondern den Wählerlisten 
selbst. Diese müssen bekanntlich gewöhnlich in großer Eile aufgestellt 
werden, und Personenregister, die so geführt werden, daß sie ohne 
weiteres als zuverlässige Grundlagen der Wählerlisten dienen können, 
sind meines Wissens durchaus nicht überall vorhanden. Es ist daher 
unvermeidlich, daß namentlich in den größeren Städten manche Wahl- 
berechtigte darin fehlen, und andere eingetragen werden, ohne in 
dem betreffenden Bezirk oder überhaupt wahlberechtigt zu sein; außer- 
dem bringt die Zeit zwischen der Anlegung der Listen und der 
Wahl noch manche Veränderungen in der Wählerschaft. Durch die 
Einsichtnahme seitens der Wähler wird nun zwar der Unvollständig- 
keit der Listen zum Teil abgeholfen; wenn aber Fehler, die sich in 
entgegengesetzter Richtung bewegen, in den Listen enthalten, also z. B. 
Personen aufgenommen sind, die in dem Wahlbezirk nicht mehr wohnen 
oder die ausländischer Btaatsangehörigkeit sind, so wird dies wohl in 
der Regel unentdeckt bleiben. Die Wahlbeteiligungsziffer erscheint dann, 
weil auf Grund einer zu hohen Berechtigtenzahl ermittelt, kleiner als 
sie in Wirklichkeit ist. 

Wir kommen daher zu dem Schlusse, daß die Zahl der an der 
Urne erscheinenden Wähler aus ganz natürlichen Gründen allenthalben 
um einen gewissen Prozentsatz kleiner sein muß, als die der in die 
Listen Eingetragenen, und daß dieser Prozentsatz je nach der Art der 
Zusammensetzung der Bevölkerung der verschiedenen Wahlkreise und 
auch nach der Jahreszeit verschieden sein, kaum aber weniger als 8 Proz. 
betragen wird. Er ist, wegen der geringeren Beweglichkeit der Bevölke- 
rung, wahrscheinlich auf dem Lande kleiner als in der Stadt, im 
Winter kleiner als im Sommer. 

Was nun die oft gehörte Annahme betrifft, die Nichtwähler ge- 
hörten alle einer einzigen Richtung an, so ist dies bezüglich der durch 
triftige Gründe abgehaltenen Wähler offenbar durchaus unwahrschein- 
lich. Diese dürften sich vielmehr, soweit sie politische Ueberzeugungen 
haben, ungefähr ebenso auf die verschiedenen Parteien verteilen wie 
die Wähler selbst, so daß ihre Wahlenthaltung einflußlos bleibt. 

Es gibt aber noch eine weitere Klasse von Personen, die, ob- 
wolıl bestimmten politischen Parteien angehörend, dennoch aus anderen 
Gründen als aus bloßer Bequemlichkeit der Wahlhandlung fernbleiben. 
Es sind diejenigen, welche in Walılkreisen wohnen, in denen Kandi- 
daturen ihrer eigenen Partei oder doch einer dieser Partei nahestehenden 
Richtung nicht aufgestellt oder völlig aussichtslos sind. Auch die aus 
diesem Grunde geübte Wahlenthaltung wird bei Personen, für die die 
Sunog mit einem Opfer an Zeit, Mühe oder Verdienst verbunden 

, bis zu einem gewissen Grade als entschuldbar anerkannt werden 
ne — folgen diese Nichtwähler doch zum Teil sogar einer Parole 
ihrer Partei — und das gleiche gilt von den nicht wenigen Wahl- 
berechtigten, die einer in dem Wahlkreis ihres Sieges sicheren Partei 
zugehören und die Stimmabgabe als überflüssig unterlassen. 

Auf Grund vorstehender Ausführungen und der Zahlen der amt- 


384 Miszellen. 


lichen Statistik gelangen wir zu folgender Einteilung der 3 Millionen 
Nichtwähler von 1903: 

Mindestens 1 Million (d. i. 8 Proz. der Wahlberechtigten) ist durch 
Krankheit oder Abwesenheit etc. entschuldigt. Was die absichtliche 
Wablenthaltung angeht, so sind als Wahlkreise, in welchen selbst die 
allerregste Beteiligung am Ergebnis nichts geändert haben würde, die- 
jenigen 178 anzusehen, in denen der gewählte Abgeordnete mehr als 
45 Proz. der Stimmen der Wahlberechtigten auf sich vereinigt hat, 
und ferner die 11, in welchen er zwar eine verhältnismäßig geringere 
Stimmenzahl, aber keinen ernstlich in Frage kommenden Gegner hatte. 
Diesen 189 Wahlkreisen mit 6 Millionen Wahlberechtigten gehörten, 
wie die Statistik ergibt, im ganzen 1250000 Nichtwähler, darunter 
mindestens 8 Proz. = 480000 persönlich Verhinderte, an. Auf die 
übrigen 208 Wahlkreise mit 61/, Millionen Wahlberechtigten entfallen 
1 750 000 Nichtwähler; nach Abzug von 520000 persönlich Verhinderten 
bleiben 1230 000 Niehtwähler, welche demnach als solche zu bezeichnen 
sind, deren Stimmabgabe einen Einfluß auf das Wahlergebnis hätte üben 
können, wenn sie ihr Stimmgewicht einseitig zu Gunsten bestimmter 
Parteien in die Wagschale geworfen hätten. Aber selbst unter dieser 
wenig wahrscheinlichen Voraussetzung ist nicht anzunehmen, daß die 
beiden großen Parteigruppen, die sich bei der entscheidenden Abstin- 
mung am 13. Dez. 1906 zusammenfanden, sich an Stärke verändert haben 
würden. Denn jene 208 Wahlkreise waren nicht etwa hauptsächlich 
durch Gegner, sondern durch 118 Anhänger und 90 Gegner der Kolonial- 
vorlage vertreten. Ihre Rivalen mit der der ihrigen am nächsten kom- 
menden Stimmenzahl waren bei den Wahlen von 1903 in 64 Wahlkreisen 
(bei 42 Anhängern und 22 Gegnern) Angehörige der nämlichen, in 
144 Fällen (bei 76 Anhängern und 68 Gegnern) solche der anderen 
Gruppe. Nur eine allgemeine Beteiligung der Nichtwähler in den letzt- 
genannten 68 Wahlkreisen (mit 23%/, Mill. Wahlberechtigten, darunter 
220.000 wirklich verhinderten und 410000 sonstigen Nichtwählern) im 
Sinne der kolonialfreundlichen Parteien hätte das Ergebnis der Ab- 
stimmung vom 13. Dezember ändern können. Es besteht aber die 
Wahrscheinlichkeit, daß bei allgemeiner Beteiligung der Nichtwähler 
die Gewinne und Verluste auf beiden Seiten sich ungefähr aus- 
geglichen haben würden. Hierbei ist auch daran zu erinnern, daß unter 
den Wahlkreisen mit 90 Proz., also der stärksten Beteiligung, 5 sind, 
in denen die Sozialdemokratie den übrigen Parteien gegenüberstand, 
und daß sie in 4 unter diesen 5 Wahlkreisen das Mandat erlangt hat; 
darf es da etwa als gewiß bezeichnet werden, daß in anderen Wabl- 
kreisen bei gesteigerter Beteiligung die Kolonialfreunde ihre Gegner 
verdrängt haben würden ? 

So erweist sich denn die ausschlaggebende Bedeutung der „Partei 
der Nichtwähler“, was die Wahlen von 1903 betrifft, bei näherem Zu- 
sehen als etwas recht Fragliches. Angesichts des vielfach bestehenden 
Verlangens nach Einführung eines Wahlzwangs dürfte der vor- 
stehende Versuch zur Beleuchtung der Sache von einer anderen Seite 
nicht überflüssig erscheinen. 


Miszellen. 385 


2. Bei den Reichstagswahlen von 1907. 


Die Wahlen zum Reichstag vom 25. Januar 1907 haben die weitere, 
bedeutende Herabminderung der Wahlenthaltungen von 24 Proz. im 
Jahre 1903 auf 15,7 Proz. (2100267 Nichtwähler unter 13382840 
Wahlberechtigten) gebracht. 

In 48 Wahlkreisen, deren im Jahre 1903 gewählte Abgeordnete 
Parteien angehörten, die am 13. Dezember 1906 die Regierungsvorlage 
ablehnten, wurden teils bei den ordentlichen Wahlen vom 25. Januar, 
teils bei den engeren Wahlen von Anfang Februar kolonialfreundliche 
Abgeordnete gewählt, während das Umgekehrte für 11 Wahlkreise gilt. 

Es ist nun von Interesse, festzustellen, inwiefern dieses Ergebnis 
dem Eingreifen bisheriger Nichtwähler, die wir „Neuwähler“ nennen 
wollen, zuzuschreiben ist. Zu dem Behuf wenden wir folgende Me- 
thode an: 

Zunächst wird berechnet, welches im Jahre 1907 die absolute Zahl 
der Nichtwähler in den einzelnen Wahlkreisen gewesen sein würde, 
wenn die Nichtwähler den nämlichen Prozentsatz der Wahlberechtigten 
ausgemacht hätten, wie 1903; der Unterschied zwischen der so er- 
rechneten Zahl und der wirklichen Zahl der Nichtwähler gibt die der 
Neuwähler N von 1907. Sodann ist die im Jahre 1907 gegenüber 1903 
eingetretene Verschiebung V in der für die beiden einander gegenüber- 
stehenden Gruppen G (Gegner) und A (Anhänger) abgegebenen Stimmen- 
zahl zu ermitteln, nachdem die Stimmenzahlen von 1903 ebenfalls einen 
der Vermehrung der Wahlberechtigten entsprechenden Zuschlag er- 
halten haben; und zwar ist V gleich der Summe der Stimmen, die die 
Gruppe @ im Jahre 1903 mehr, und derjenigen, die sie im Jahre 1907 
weniger hatte als A. 

Ist nun N kleiner als V, so würden in den erstgenannten 48 Wahl- 
kreisen die Neuwähler, selbst wenn sie einmütig zu Gunsten von A ein- 
getreten sind, nicht im stande gewesen sein, den Erfolg herbeizuführen, 
wenn nicht gleichzeitig ein mindestens 1, (V—N) betragender Uebertritt 
früherer Gegner ins Lager der A-Gruppe stattgefunden hätte. 

Ist dagegen N größer als V, so hat der Zuwachs an Neuwählern — 
vorausgesetzt, daß diese für A gestimmt haben — zur Herbeiführung 
des Erfolgs genügt; außerdem aber muß ein Teil der Neuwähler, der 
mindestens !/, (N—V) beträgt, für die G-Gruppe gestimmt haben 4). 

Die Art der Berechnung bedarf keiner weiteren Erläuterung für 
die Wahlkreise, in denen die Entscheidung in beiden Jahren entweder 
schon in der ordentlichen oder erst in der engeren Wahl fiel; die Be- 
rechnung ist dann für die entscheidende Wahl angestellt worden. Für 
Wahlkreise, die 1903 in der ordentlichen Wahl Kolonialgegner, 1907 


4) Selbstverständlich entspricht die hier angenommene Identität der übrigen 
Wahlberechtigten und Wähler von 1907 mit jenen von 1903 zum Teil nicht der Wirk- 
lichkeit; denn es gehören zu den Neuwählern nicht bloß die hier so bezeichneten, sondern 
auch die erst seit 1903 ins wahlfähige Alter eingetretenen Personen. Trotzdem dürfte 
unsere Annahme unbedenklich sein, weil die Struktur der Wählerschaft nach Alter, 
sozialer Stellung u. s. w. sich in den 4 Jahren gewiß nicht wesentlich verändert hat. 

Dritte Folge Bd. XXXLUI (LXXXVIII). 25 


386 Miszellen. 


in der engeren Wahl Kolonialfreunde wählten, ist dann, wenn die engere 
Wahl dadurch herbeigeführt worden ist, daß mehrere kolonialfreund- 
liche Kandidaten aufgestellt waren, die zusammen schon in der ordent- 
lichen Wahl die Mehrheit hatten, die engere Wahl außer Betracht ge- 
blieben; wenn aber die Kolonialfreunde bei der ordentlichen Wahl die 
Minderheit bildeten und sie ihre Mehrheit bei der engeren Wahl augen- 
scheinlich der Unterstützung seitens einer der gegnerischen Parteien 
verdanken, so wurde der Wahlkreis als hier nicht in Frage kommend 
weggelassen 5). Aehnlich war da, wo 1903 in der engeren Wahl Gegner, 
1907 aber schon in der ordentlichen Wahl Anhänger gewählt wurden, 
zu unterscheiden, ob bei der ordentlichen Wahl von 1903 die Anhänger 
oder die Gegner die Mehrheit hatten. War ersteres der Fall und also 
der Sieg der Gegner bei der engeren Wahl nur der Uneinigkeit der 
Anhänger zuzuschreiben, so steht von vornherein fest, daß es nur ein- 
mütigen Vorgehens der Kolonialfreunde, aber weder des Eingreifens von 
Neuwählern, noch eines Zuwachses aus dem gegnerischen Lager be- 
durfte; für diese Wahlkreise 6) wurden daher keine Berechnungen 
angestellt. Hatten aber die Gegner bei der ordentlichen Wahl von 
1903 die Mehrheit, so wurden die Veränderungen zwischen den ordent- 
lichen Wahlen der beiden Jahre in Betracht gezogen. 

Endlich war die Berechnung für die 3 Wahlkreise unnötig, in 
denen die Zahl der Nichtwähler nicht ab-, sondern zugenommen hat). 

Was die 11 im Jahre 1903 kolonialfreundlich, 1907 aber gegnerisch 
vertretenen Wahlkreise 8) betrifft, so besalen die Gegner, zusammen- 
genommen, auch überall bereits bei den ordentlichen Wahlen von 1903 
die absolute Mehrheit, die sie bei den engeren Wahlen infolge des 
Eintretens einer der gegnerischen Parteien für den kolonialfreundlichen 
Kandidaten verloren. Auch diese Wahlkreise bleiben daher außer Be- 
tracht; denn der Mandatsübergang ist nicht durch das Eingreifen der 
Neuwähler, sondern durch die veränderte Parteigruppierung herbei- 
geführt worden. 

Es bleiben somit von den 59 Wahlkreisen 38 als Gegenstand unserer 
Berechnung übrig, die folgendes ergibt: 

(Siehe Tabelle auf S. 387.) 

Demnach sind unter den 48 Wahlkreisen, die 1903 Gegner, 1907 
Anhänger der Kolonialvorlage wählten, nur 9, in denen die ver- 
mehrte Teilnahme früherer Nichtwähler allein dieses Er- 
gebnis herbeigeführt haben kann (Spalte 6 der Uebersicht). 

Aber auch diese Zahl bezeichnet nur das Maximum der Möglichkeit, 
und es können auch in den 9 Wahlkreisen Uebertritte aus dem gegne- 


5) Es sind die Wahlkreise Düsseldorf 2 (Elberfeld-Barmen) und Trier 6 (Ottweiler- 
St. Wendel). 

6) Breslau 6 (Stadt, Ost), Sachsen 9 (Freiberg) und 12 (Leipzig), Württemberg 4 
(Böblingen) und 5 (Eßlingen). 

7) Demnach sind bei No. 3 der folgenden Uebersicht Mecklenburg 5 (Rostock) und 
Bremen, bei No, 4 Stettin 4 (Stadt) zuzurechnen. x 

8) Marienwerder 5 (Schwetz), Wiesbaden 2 (Stadt), Kassel 8 (Hanau), Arnsberg í 
(Hamm), Düsseldorf 6 (Duisburg), Pfalz 3 (Germersheim) und 4 (Zweibrücken), Hessen 2 
(Offenbach), Elsaß-Lothringen 2 (Mülhausen), 8 (Straßburg) und 9 (Straßburg-Land). 


Miszellen. 387 


z - 
Zunahme 


So om -ı a e o 


E) 


¿ amt Verschie- \Genügten d. Mindestzahl der 

© pa wire Neu- bung der | Neuwähler |Uebertrittel Neu- 

= Yahlkrei berechti wähler | Stimmen- zur Herbei-| früherer |wähler, die 

Z ER IETECHNB: | (N) | zahl seit führung ‚Gegner zu!für Kolo- 

z er oat | 1907 1903 des Um- , den An- |nialgegner 

< o/o 1". KR schwungs? | hängern | stimniten 
| ' | | 

1 De A 6 A Bu: 


1) Wahlkreise, die in der ordentlichen Wahl 1903 Kolonialgegner, 1907 Kolonial- 
freunde wählten 
Breslau 7 (Stadt, West) 9,19 5353 4209 ja 


| = 572 
Merseburg 4 (Halle) 11,31 | 2625| 4529 nein 952 — 
je 8 (Naumburg) 5.06 4075 7602 ae 1764 — 
Sachsen 2 (Löbau) 2,68 3021 5315 = 1147 — 
= 8 (Pirna) 4,46 | 2523| 7076 r 2277 — 
„ 22 (Reichenbach) 5,80 | 1071 7074 % 3002 — 
Braunschweig 1 (Stadt pp.) 2,10 5627| 4877 ja _ 375 
S.-Meiningen 2 (Sonneberg) 6,79 | 3114, 3183 nein 35 = 
S.-Gotha 2 (Gotha) 3,47 |3278| 2031 ja — 174 
Schwarzburg-Rudolstadt —7,02 | 3514| 3423 3 — 6 
Reuß ä. L. 3,79 | 795| 2366 | nein 786 — 
euB j. L. 4,07 | 4o0or4| 5273 Pa 630 u 
2) Wahlkreise, die 1903 in der engeren Wahl Kolonialgegner, 1907 in der 
ordentlichen Wahl Kolonialfreunde wählten °) 
Königsberg 3 (Stadt) 8,62 6023| 3300 | ja — 1362 
Magdeburg 4 (Stadt) 9,08 5189; 2551 | j — 1319 
Hannover 7 (Nienburg) 3,27 4071, 6964 nein 1447 — 
A 14 (Gifhorn) | 483 3716| 3308 | ja — | 204 
N 3 15 (Uelzen) V 3;8i 4524| 5204 nein 340 — 
S| Württemberg 10 (Gmünd) | ‚25 1250| 544I er 2096 — 


3) Wahlkreise, die 1903 in der ordentlichen Wahl Kolonialgegner, 1907 in der 
engeren Wahl Kolonialfreunde wählten '°) 


Potsdam 8 (Brandenburg) | 1,72 1406! 1737 nein 166 == 
Stettin 3 (Greifenhagen) 213,4 192) 4912 u 360 = 
Schl.-Holstein 6 (Pinneberg) 5,91 | 4440| 6032 is 796 -- 

2] Sachsen 1 (Zittau) 2,36 2040. 2069 r 15 — 
n 5 (Dresden-Altst.) | 2,01 : 3450| 9275 $ 2913 — 

en 7 (Meißen) 4,36 | 2291 5974 A 1842 — 

„ 10 (Döbeln) l- 3528 1829, 3608 r 890 — 

» 21 (Annaberg) | 4,9 2258| 6652 $ | 2197 = 

» 23 (Plauen) | 9,39 4976 10530 á | 77 — 

25] Hessen 4 (Darmstadt) 13,21 | 2408! 6413 sy 2003 = 
29| Sachsen-Altenburg 4,94 3950| 4970 ı A 510 — 


4) Wahlkreise, die in der engeren Wahl 1903 Kolonialgegner, 1907 Kolonialfreunde 
wählten !!) 


Sehl.-Holstein 2 (Flensburg) 2,98 1261 5348 nein 2044 | — 
10 (Lauenburg) 1,92 605 | 4106 ip 1781 | = 

2] Hannover 5 (Diepholz) | 416 2130| 2586 = 288 |; — 
33| Wiesbaden 6 (Frankfurt) 5,37 16431 |» 4762 ja — | 5835 
34| Düsseldorf 1 (Lennep) 6,70 3 247 7 499 nein 2126 — 
35| Oberbayern 1 (München 1) | —1,14 9752| 6229 ja — 1762 
i| Sachsen 11 (Oschatz) 2,08 | 879| 4048 nein 1585 — 
3 14 (Borna) 2,10 1188| 5509 i 2161 — 
S.-Weimar 1 (Weimar) 3,25 2947| 5772 Y 1413 | = 


9) Hierzu noch die 5 in Anmerkung 6 genannten Wahlkreise. 
10) Hierzu je 2 in Anmerkung 5 und 7 genannte Wahlkreise. 
11) Hierzu der in Anmerkung 7 genannte Wahlkreis Stettin. 


25* 


388 Miszellen. 


rischen Lager zum Erfolg mitgewirkt haben; denn für jede Stimme, 
welche von Neuwählern über die in Spalte 8 unserer Uebersicht be- 
rechnete Mindestzahl hinaus für Kolonialgegner etwa wirklich abge- 
geben worden ist, muß den Kolonialfreunden eine früher gegnerische 
Stimme zugefallen sein, — 


| 
| 
| 


$ e Selb- | Ange! , 588 & $ A 

i = kindige: stallte | 2 1? TS IE 5 

Y Gründe der Wahlenthaltung ŽS A 1® È 2 A 5 

£ "3 &jin Handel und' 222823 £ E 

E ŽE| Gewerbe |“ 255 5E f 

a ToN i x nn ER Du ir Nee 

ail 2 EI E ae ae eSa 

z Es aa Ha = = u 

1 ftot ı 35 | l 4 |i—| 28 

2 | nicht wahlberechtigt 1°) 35 gl 2 19 § (=a 2 

3ļim Bezirk nicht aufzufinden č I, 33 1 Za 9 .— |=| i= 

zusammen a+”) | 83 12 | 7 40) 9 |—|;5 10 

4 | Krankheit +) | 345 47 | 29 146 11 |14] 7/91 

5 f Gebrechlichkeit, hohes Alter | 24 2 = 3 — Eae PER IN 

6 | vorübergehende Abwesenheit | 423 76 | 119 | 180 5 [16 gl 12 

7 | Uebersiedelung nach anderen Orten '°)| 266 25 31 181 4 4|10 1l 

zusammen b 1058| 150 179 | 5ı0ol 20 |34]|32 133 

8f hat angeblich anderswo gewählt !®) 19| — 1 16 ı |—|-| 1 
9 | Geschäftliche oder dienstliche Ver- 

hinderung !*) 137 24 iot 8ı ı |18l ı 2 

zusammen e | 156 24° 1m | '97 2: 1718-4 5 

10 [absichtlich nicht gewählt +7) 20 4 2 2 — —— 2 

11 | Säumigkeit, Vergeßlichkeit, Verspätung) 149 23 17 | 102| — jı 3l 3 

12 | Interesselosigkeit, Unkenntnis | 32 5 u y i |= U4 

zusammen d |, 201 32 1 S iSl, pl 2] 4j 9 

13 [nicht nachgefragt 352l 47 63 | 204| ı0 4| 6| 1 

14 |keine Auskunft erhalten | 1900| 14 16 | 135) 5 Jı2) 2] 6 

überhaupt }2040| 279 | 299 i1117) 47 |69 50 I179 

Bei Verteilung der Personen zu No. 13 auf die 4 Gruppen a bis d erhöhen sich die Zahlen 

der letzteren, wie folgt: 

a: nicht wahlberechtigt 103 15 9 | 50, r2 |— 5n 

b: tatsächlich verhindert 1306| 183 | 231 | 644 26 |37 3714 

c: angeblich verhindert t93) 29 | 14 "1233 3- Iga 

d: nicht verhindert 248 38 | 29 | ı65 I a 

keine Auskunft erhalten 190 14 16 | 135 E A N.. 

zusammen 2040| 279 299 'ı1ı7 47 |69 50 179 


12) Nicht reichsangehörig, Militärpersonen, geisteskrank, Wahlrecht entzogen. 

13) Da die Wahllisten in Dresden auf vorhandenen Individualkarten, die stets sul 
dem Laufenden gehalten werden, beruhen und daher einen hohen Grad von Zuver 
lässigkeit besitzen, so dürften unter No. 1, 2, 3 und 7 der „Gründe“ in der Haupt- 
sache nur Personen erscheinen, die in der Zeit zwischen der Anlegung der Listen und 
dem Wahltag verstorben oder verzogen oder des Wahlrechts verlustig gegangen sind. 

14) In 3 Fällen Krankheit von Angehörigen. 

15) Darunter 3 Fälle irrtümlicher Annahme, nicht wahlberechtigt zu sein. 

16) Darunter in 1 Fall ungünstige Lage des Wahllokals. 

17) Darunter in 5 Fällen Nichtaufstellung eines zusagenden Kandidaten. 


Miszellen. 389 


Im Anschluß an die vorausgehende Schätzung der Zahl der tat- 
sächlich an der Ausübung ihres Wahlrechts behinderten 
Wähler mit Unterscheidung der Abhaltungsgründe können nun- 
mehr die Ergebnisse einer Auszäblung in einigen zur Stadt Dresden ge- 
hörenden Teilen des 4. und 6. sächsischen Wahlkreises mitgeteilt werden, 
die unmittelbar nach dem 25. Januar auf Grund persönlicher Erkun- 
digungen veranstaltet worden ist. Sie betraf 25 in verschiedenen 
Gegenden der Neustadt und der Vorstädte gelegene Bezirke mit ins- 
gesamt 17 774 in die Listen eingetragenen Wahlberechtigten, von denen 
2040 nicht abstimmten. Bei 1688 Nichtwählern wurde nach den Ab- 
haltungsgründen gefragt und bei 1498 der gewünschte Aufschluß er- 
langt; bei den übrigen 352 konnte in Ermangelung genügenden Per- 
sonals nicht angefragt werden. 

Danach unterscheiden sich die Nichtwähler nach den Gründen und 
nach dem Beruf folgendermaßen: 

(Siehe Tabelle auf S. 388.) 

Die 1602 Personen, die unter a bis ce fallen, bilden 9 Proz., die 
zu a und b allein 8 Proz. der Wahlberechtigten. Dieses Ergebnis 
spricht für die Richtigkeit unserer Schätzung der Ziffern der unter 
normalen Verhältnissen stets verlinderten Wahlberechtigten auf 8 bis 
10 Proz., und zwar selbst wenn man annimmt, daß die 190 Nichtwähler, 
die keine Auskunft gegeben haben, sämtlich zu den „nicht verhinderten“ 
gehören. 


Dresden, März 1907. 


390 Miszellen. 


IX. 


Sind die Einkommen- und Ergänzungssteuern richtig verteilt? 
Von Bönisch, Kgl. Baurat a. D. 


Wenn man vorstehende Frage beantworten will, muß man die 
Prozentsätze ausrechnen, nach denen die Steuern in den einzelnen 
Stufen gegenwärtig bemessen sind und gezahlt werden. Hierzu ist nötig, 
daß man das Mittel zwischen den Grenzen der Steuerstufen feststellt 
(Spalte 2); den jährlichen Steuerbetrag enthält die bekannte Tabelle 
zu $ 17 des Gesetzes (hier Spalte 3). Aus den beiden Zahlen ergibt 
sich durch eine einfache Rechnung der entsprechende Satz in Spalte 4. 
In der vorliegenden Tabelle ist diese Ermittelung für die ersten 30 
Stufen vorgenommen; weiterhin erscheint sie überflüssig, da bei Stufe 
27, wie aus den letzten Reihen ersichtlich, ein konstanter Prozentsatz, 
nämlich 3, einsetzt; weiterhin erhöht sich auch dieser Satz noch um 
eine Kleinigkeit, indessen hätte an der Fortsetzung der Tabelle nur 
eine schon recht gut situierte Minderheit ein — oder vielleicht auch 
kein — Interesse. 

Es ergibt sich nun aus Spalte 4, daß wir in der ersten Stufe nur 
0,615 Proz., in der 26. Stufe schon 3 Proz. bezahlen müssen. Die Ein- 
kommensteuer ist also in gewissen Grenzen progressiv, d. h. sie wird 
mit dem höheren Einkommen nicht nur absolut, sondern auch relativ 
höher, letzteres aber leider nicht überall. Wären die zu $ 17 des Gesetzes 
gehörigen Sätze richtig bemessen, so müßten die Zahlen von 0,615 bis 3 
in Spalte 4 nach einem bestimmten Gesetze und System größer werden, 
entweder indem die Differenz von 2,385 auf die zwischenliegenden 24 
Steuerstufen gleichmäßig oder wieder allmählich zunehmend verteilt wird. 
Letztere Methode wäre unbedingt vorzuziehen, damit die stärkeren 
Schultern stärker belastet werden, wobei allerdings nicht außer acht 
gelassen werden darf, daß der Staat nicht nur den Steuersatz, sondern 
nebenher auch die Zahl der Steuerzahler im Auge haben muß, weil er 
möglichst viel herausschlagen will. Die Anzahl der Steuerpflichtigen 
wechselt zwar beständig und ist als perpetuum mobile mit Sicherheit 
a priori nicht zu ermitteln, indessen werden einzelne Gruppen als die 
zahlreichsten herausgeschält werden können. Die Statistik gibt hierfür 
genügende Anhaltspunkte. 

Die Spalte 5 zeigt uns wunderliche Erscheinungen; die einzelnen 
Prozentsätze zeigen zwischen je 2 Stufen Unterschiede von 0,011 bis 


‘Miszellen. 391 


0,211, sind also um 0,20 verschieden, denn von der 7. zur 8. Stufe 
erhebt sich der Prozentsatz von 1,589 auf nur 1,600, dagegen von 
der 4. zur 5. Stufe von 1,122 auf 1,833. Wenn jede Ungerechtig- 
keit und Benachteiligung vermieden worden wäre, was durchaus nicht 
zu den Unmöglichkeiten gerechnet werden kann, müßte die Spalte 6b 
ganz verschwinden und in der Spalte 6a dürfen nur Zahlen erscheinen, 
die wenig voneinander verschieden wären. Die Steuertechnik hat nur 
zu berücksichtigen, daß die sich ergebenden Sätze nicht Bruchteile von 
Pfennigen bei der Verteilung auf die einzelnen Quartale ergeben. 


Tabelle. 
1 u u Te N oa 6 | 7 
E R Prozent- | 
== „Mittlerer lst uersatz satz der | Differenz R b | 
E E ; SER | 5 1 Steuer | | Zunahme | Abnahme, Bemerkungen 
Zg M | M | M | 
ae — i = — a = = 
1 975 | 6 GUE | 018% 
; ‚18: 
2: |, A 125 9 0800" || 0,441 ER ans 6 Stufen, 
3 1275 12 rl), Toast ni, 25060 => springend um 
4 | 1425 16 ae) 5, 0,030 _ ! 16) =. 
5 1575) 21 1,333 | _ 0,037 z 
6 1725 26 1,50% Sisi | — 0,092 
T 1950 31 1,589 0.043 | -=+ 0,071 
8 2 250 36 1,600 ER | 0,114 = 
9 2 550 44 1,725 SR — 0,026 
10 | 2850 | 52 1,824 et | = 0,019 9 Stufen, 
11 | 3150 60 1,904 | Eh z | 0,045 — ; springend um 
12 3450 | 70 2,029 olin | — 0,021 | 300 M. 
13 3750 | 80 2,133 Ee se 0,034 — 
14 | 4050 92 2,271 iza i 0,018 | 
15 4350 104 2,391 Eon — | 0,027 
16 4750 118 2,484 0.080 — | .09083 '} 
17 5 250 | 132 2,514 A | — | 0,005 
18 5750 146 2,539 onti _ 0,004 
19 6250 | 160 | 2,560 Sr 0,026 — 10 Stufen, 
20 6750 176 2,607 2 ie — 0,006 springend um 
21 | 7250 ' 192 2,648 ois 0,046 | — 500 M. 
22 | 7750 212 2,735 OOTI == 0,010 
23 8250 , 232 2,812 Ben 5 0,009 
0,068 
24 ; 8750 252 2,880 |  o103 0,035 — 
25 9 250 276 2,983 oa = 0,086 
26 10 000 300 3,000 | San = 0,017 
27 11 000 330 3000 1 0000 o o | 21 Stufen, 
28 ı 12000 360 3,000 | g.pon o o springend um 
29 13000 | 390 goo: ea o o Í 1000 M. 
30 ' 14000 | 420 3,000 ? o o | 


Vorstehende Angaben würden, da die trockenen Zahlen der Tabelle 
noch nicht anschaulich genug sind, mit größerer Klarheit hervortreten, 
wenn man die Zahlen der Spalte 2 als Abscissen und diejenigen der 
Spalte 4 als Ordinaten in beliebigem Maßstabe aufträgt. Ein solches 
Schaubild läßt die Ungerechtigkeiten des $ 17 mit erschreckender 
Deutlichkeit erkennen und zeigt, wie die Zahlen in den Spalten 6a und 


392 Miszellen 


6b ebenfalls beweisen, daß die prozentuale Zunahme ganz unregelmäßig 
gestaltet ist. Diese schwankt in den Grenzen von 0,030 bis 0,114, die 
Abnahme zwischen 0,004 bis 0,092. Solche Differenzen sind vom Ge- 
setzgeber nicht gewollt und offenbar nur versehentlich in den Tarif ge- 
raten. Dieser bedarf daher unbedingt einer Korrektur, um so mehr, 
als er die Grundlage bildet für diverse Kommunalsteuern, Kirchen- 
steuern etc., seine Fehler sich also vermehrfachen. 

Bei der Ergänzungssteuer finden sich ebenfalls auffüllige Erscheinungen 
im Tarif. Auf 9 Stufen, deren Grenzen 2000 M. auseinanderliegen, 
folgen wieder 9 andere mit der doppelten Spannweite, hierauf gleich 
14 Stufen, von 10 zu 10 Tausend springend, dann ungezählte mit 
20000 M. Spannung. Annähernd beträgt die Steuer selbst 0,5 Proz.; 
aber statt progressiv zu sein, nimmt der Prozentsatz nach oben hin 
ab; während er nämlich z. B. in der 4. Stufe 0,494 Proz. beträgt, stellt 
er sich in der 10. Stufe auf nur 0,484 Proz. und bleibt dann in ungefähr 
derselben Höhe. Offenbar ist der Sprung von der 9. zur 10, Stufe, 
ebenso wie derjenige von der 18. zur 19. Stufe zu groß und unver- 
mittel. Auch durften Herabminderungen des Prozentsatzes nicht ein- 
treten, im Gegenteil, es wären kleine, aber fortschreitende Erhöhungen 
zweckmälig und angemessen. 

Graphisch ausgedrückt, müßte die Linie in den Schaubildern, welche 
die Zunahme der Steuerlast nach den höheren Einkommen hin anschau- 
lich macht, eine Kurve sein, deren „Wachstum“ nirgends abnimmt, 
sondern beim Vorschreiten immer größer wird; mathematisch bezeichnet: 
die 2. Ableitung der Funktion muß positiv sein. Dieser Forderung 
entpricht z. B. die Cissoide. Man könnte bei solcher Darstellung den 
jeder Stufe entsprechenden Steuersatz mit dem Zirkel abgreifen. und 
hätte nur nötig, ihn eventuell so weit abzuändern, daß er durch 4 teil- 
bar wird, ohne Bruchteile von Mark oder Pfennigen zu ergeben. 

Dem preußischen Landtage wird die Korrektur der Tarife zur 
Ausgleichung der vorhandenen offenbaren Ungerechtigkeiten dringend 
empfohlen. 


Breslau, Dezember 1906. 


Miszellen. 393 


X. 


Das indische Geldwesen unter besonderer Berücksichtigung 
seiner Reformen seit 1893'), 
Von Reichsbankassessor Dr. A. Arnold. 


Die unserem Gesichtskreis einst ganz entrückten Länder Süd- und 
Ostasiens sind uns im Laufe weniger Jahrzehnte sehr nahe getreten. 
Gemeinsame wirtschaftliche und politische Berührungspunkte zwischen 
ihnen und den Ländern abendländischer Kultur sind immer häufiger 
geworden. Damit ist auch unser Interesse für das Geldwesen jener 
Linder, insbesondere für das indische gewachsen, welches als der inter- 
essanteste und für uns wichtigste Vertreter der Währungen Asiens 
bezeichnet werden darf. Denn auf die indische Rupienwährung ist unter 
anderem das Geldwesen in unserem bedeutendsten und zukunftsreichsten 
Schutzgebiete Deutsch-Ostafrika zurückzuführen. Ganz abgesehen von 
der Wichtigkeit Indiens als eines der gewaltigsten Wirtschaftsgebiete 
der Welt und der hervorragenden Bedeutung, welche dieses Land von 
jeher für die Silberfrage hatte, ist uns die Rupienwährung in ihrer 
neuesten Gestalt bemerkenswert als erster und oberster Typus einer ganz 
neuen Art der Geldverfassung. Eingehende Kenntnisse des indischen 
Geldwesens sind daher aus wirtschaftlichen und mehr noch aus prak- 
tischen Gesichtspunkten wünschenswert. 

Diese Kenntnisse will uns das vorliegende Werk vermitteln, und 
dieser Aufgabe wird es zweifellos auch gerecht. Der Verf. gibt in ihm 
die zusammenhängende Gesamtdarstellung des indischen Geldwesens, 
welche in der deutschen und, soweit ich übersehen kann, auch in der 
Literatur des Auslandes noch fehlte. 

Das Werk gliedert sich in vier Teile. Der erste bietet die Dar- 
stellung der Rupienwährung in ihrem Zustande vor der Einstellung 
der Freisilberprägung im Jahre 1893. Die überaus interessante histo- 
rische Seite, die Vorgeschichte der britisch-indischen Rupie, kommt 
hier zu ihrem vollen Rechte. Durch eine geschichtliche Darstellung 
will der Verf., wie er selbst hervorhebt, den Unterbau schaffen für 
das Verständnis all derjenigen Erscheinungen auf wirtschaftlichem und 
monetärem Gebiete, welche durch die Silberentwertung hervorgerufen 
wurden und schließlich die Reform herbeigeführt haben. Der Verf. 


1) Verlag von Gustav Fischer, Jena. 


394 Miszellen. 


gibt die Geschichte der britisch-indischen Rupie und ihres Münz- 
systems, die er uns als treuestes Spiegelbild der Begründung und 
des Wachstums der englischen Herrschaft in Indien darstellt, ab 
ovo. So wie sich die Engländer einst als harmlose Handelsherren 
in Indien einschlichen, so begannen sie die Begründung ihres Münz- 
wesens damit, daß sie das Geld der eingeborenen Herrscher ver- 
stohlen nachprägten. Aus dieser Praxis wurden mit der wachsenden 
Macht Albions in Indien legitime Rechte, die mit der Zeit in immer 
weiteren Gebieten ausgeübt werden konnten, bis endlich bei Beginn 
des vorigen Jahrhunderts die Dinge so weit gediehen waren, daß man 
an die Beseitigung der verschiedensten Rupiensysteme und an die Ver- 
einheitlichung des Geldwesens in den britisch-indischen Territorien denken 
konnte. Diese große Reform ist indes erst im Jahre 1835 zum Abschluß 
gebracht worden. 

Der Darstellung des in jenem Jahre begründeten einheitlichen 
Münzsystems, das heute noch in Kraft ist, ist ein besonderes Kapitel 
„Das indische Geldwesen in den Jahren 1885—1893“ gewidmet. Daran 
schließt sich das Kapitel „Geldumlaut, Valuta und indischer Geldmarkt“. 
Insbesondere der letztere weist ganz andere Züge auf als das, was wir 
unter dem Begriff Geldmarkt zu verstehen gewohnt sind. Auch die 
Gestaltung des indischen Geldmarktes ist zum Teil durch wesentlich 
anders geartete Faktoren bedingt als diejenigen, welche bei uns mal- 
gebend sind. P 

Diesem ersten Teil des Buches lege ich um so größere Bedeutung bei, 
als das in ihm Gebotene in den Werken „Die indische Währungsreform“ 
von Dr. Otto Heyn und „Die indische Währungsreform seit 1893“ von 
Dr. M. Bothe, die sich noch am eingehendsten mit dem indischen Geld- 
wesen befassen, kaum gestreift ist. Daher bringt dieser Teil besonders 
viel Neues. Er stellt manche veraltete und unhaltbare Ansicht richtig. 
Der zweite bringt den dem grundstürzenden Ereignis von 1893 voraus- 
gegangenen Meinungsstreit über die Vorteile und Nachteile des früheren 
Zustandes und die Notwendigkeit und Ziele einer Reform zur Dar- 
stellung. Es handelt sich in ihm um die Wirkungen einer sich ent- 
wertenden Valuta auf Staatshaushalt und Volkswirtschaft. 

Der Verf. behandelt diese Frage im wesentlichen in concreto, wo- 
mit ich sagen will, an der Hand der Erscheinungen, so wie sie in der 
Volkswirtschaft und dem Geldwesen Indiens in der Zeit der Rupien- 
entwertung auftraten. Er konnte sich hierbei auf eine Reihe tüchtiger 
Vorarbeiten stützen. Vieles war deshalb vorher schon geklärt. Indes 
blieb noch manches, das, wie in dem vorliegenden Werke geschehen, 
vertieft und aufgehellt werden konnte, und es will mir scheinen, 
daß gerade auf diesem Gebiet für die Bearbeitung auch heute noch 
Stoff in Fülle vorhanden ist. 

Auch in diesem Teil setzt der Verf. bei den Anfangsgründen ein. 
Die in Frage kommenden — im allgemeinen längst feststehenden — 
Theorien werden im engsten Rahmen vorgeführt, so daß bei der Er- 
örterung des spezifisch Indischen jeder folgen kann, auch wenn er sich 
das Geldwesen nicht zum Spezialstudium erwählt hat. Gleichwohl hält 


Miszellen. 395 


sich die Erörterung in diesem wie in den übrigen Teilen des Werkes 
durchaus auf dem Niveau des Wissenschaftlichen. 

Dıe Behandlung des Stoffes erfolgte vorzugsweise vom Standpunkt 
der Statistik aus. Von hier aus entdeckt der Verf. in der — wie man 
bisher allgemein annahm — ganz regellosen Gestaltung der indischen 
Warenpreise eine ganz bestimmte Ordnung. Und zwar findet er, daß 
die gesamten für den indischen Markt in Frage kommenden Güter sich 
in zwei Hauptgruppen einteilen lassen, die sich hinsichtlich der Preis- 
gestaltung völlig verschieden verhalten, während die Preise der Waren 
innerhalb dieser beiden Gruppen gleiche Entwickelungstendenzen er- 
kennen lassen. Zu der einen Gruppe gehören diejenigen Waren, die 
nur für das indische Inland Bedeutung haben, weil sie nur in Indien 
gewonnen und verbraucht werden, wie die spezifisch indischen Getreide- 
arten, z. B. Jawar und Ragi; sodann auch diejenigen Waren, in denen 
Indien am Weltmarkt keine oder doch nur geringfügige Konkurrenz zu 
bestehen hat, wie z. B. Jute. Deshalb ist die Preisbildung bei diesen 
Waren ausschließlich oder doch überwiegend von Faktoren der in- 
dischen Volkswirtschaft abhängig. Zur zweiten Gruppe gehören die- 
jenigen indischen Erzeugnisse, aut welche der Weltmarkt nicht unbe- 
dingt angewiesen ist, und welche ihm die indische Volkswirtschaft auch 
nicht in solcher Menge zuführt, daß hier das indische Angebot für die 
Preisbildung ausschlaggebend sein könnte, wie z. B. Weizen und Baum- 
wolle. Die Preise dieser Produkte sind daher von denjenigen des Welt- 
marktes abhängig. Die Preisbildung vollzieht sich hier im wesent- 
lichen unter der Einwirkung anderer Faktoren als bei der ersten Gruppe 
von Waren. Selbstverständlich folgen ihr auch die Preise derjenigen 
Waren, bei deren Bezug Indien in der Hauptsache auf das Ausland 
angewiesen ist, wie z. B. des Eisens. Ich möchte im Nachweis dieser 
zwei Gruppen von Warenpreisen die Generalwiderlegung des Irrtums 
erblicken, ein Land mit entwerteter Valuta könne der Produktion in 
den Ländern mit intakter Valuta eine ruinöse Konkurrenz bereiten. 

Das Wesen und die Durchführung der Reform selbst, sowie ihre 
Rückwirkung auf die Währungen der übrigen Welt sind in den 
beiden letzten Teilen geschildert. Dieselben erscheinen mir namentlich 
wichtig für die Praktiker der Volkswirtschaft. Sie veranschaulichen 
den Mechanismus, welcher die indische Währung an die britische an- 
gliedert, und rücken die hohe Bedeutung, welche das indische Münz- 
wesen in Zeiten der Krisis für England erlangen kann, in das rechte 
Licht. Wohl nicht mit Unrecht ist in einer Besprechung des vor- 
liegenden Werkes die Meinung ausgesprochen worden, der verhältnis- 
mäßig niedrige Diskont, mit welchem die Bank von England im vorigen 
Winter auskam, sei zum Teil auf den starken Rückhalt zurückzuführen 
gewesen, den das englische Geldwesen an der Goldwährung Indiens 
findet. Hier herrschte damals bis in den Dezember hinein leichter 
Geldstand. In diesem Winter besteht in Indien selbst eine empfind- 
liche Geldknappheit, so daß jetzt ein Zurückgreifen auf die indischen 
Goldvorräte seitens Englands nicht in Frage kommen kann. 

Die nach indischem Muster und im wesentlichen als Folge der 


396 Miszellen. 


indischen Geldreform in Ceylon, Britisch- und Deutsch-Ostafrika, auf den 
Philippinen, in den Straits, Siam, Französisch-Indo-China, Mexiko und 
Panama geschaffenen oder projektierten Währungen sind in knappen 
Zügen charakterisiert. In allen diesen Staaten handelt es sich um ein 
auf der Goldbasis beruhendes Silberkurantgeld, dessen Goldwert den 
Schmelzwert beim heutigen Silberpreis nahezu erreicht und zum Teil 
bereits überschritten hat. Dieser Umstand hat das Gelingen jener Re- 
formen sehr erleichtert. Er bildet aber jetzt, bei der zur Zeit herrschen- 
den Tendenz weiteren Steigens des Silberpreises, für die Währungen 
dieser Länder eine große Gefahr. Bereits sind Silberausfuhrverbote 
notwendig geworden. Vielleicht darf man in dieser Hinsicht noch 
weiteren Ueberraschungen entgegensehen. 

Als Anlagen sind dem Werke umfangreiche statistische Materialien 
und die indischen Münz- und Papiergeldgesetze im Originaltexte beige- 
gegeben. Sie dürften von besonderem Werte sein. Hierbei möchte ich 
bemerken, daß das wiederholt amendierte indische Münzgesetz — 
Akte XXIII von 1870 — inzwischen durch die Akte III von 1906 
ersetzt worden ist. Sie sieht die Neuprägung eines Annastückes aus 
Nickel, sowie den Ersatz der Kupfermünzen durch Bronzemünzen vor 
und stellt die seit mehreren Jahren bestehende Praxis der Behandlung 
von Silbermünzen, deren Gewicht durch Abnutzung unter das Passier- 
gewicht gesunken ist, auf gesetzliche Grundlage, läßt aber im übrigen 
den bestehenden Zustand unverändert. 

Wenn ich noch hervorhebe, daß der in Betracht kommende Stoff, 
wenn auch zum Teil knapp, so doch erschöpfend zur Darstellung ge- 
langt, der Aufbau logisch und durchsichtig, und das Verständnis für 
die Eigenart des indischen Geldwesens und seine Bedeutung auch für 
die außerindische Welt durch eine ins einzelne gehende Gliederung des 
Stoffes erleichtert ist, so glaube ich der außerordentlich fleißigen und 
höchst wertvollen Arbeit des Verf. voll gerecht geworden zu sein. Ich 
halte sie für das Beste und Vollständigste, das bisher auf diesem 
speziellen Gebiete geschrieben worden ist. 

v. Lumm. 


Literatur. 397 


Literatur. 


III. 


Knut Wicksell, Föreläsningar i nationalekonomi. 
(Vorlesungen tiber Nationalökonomie) I, 2; Stockholm 1906. 
Von M. Marcus. 


Knut Wicksell, der jetzige Inhaber des Lehrstuhls für National- 
ökonomie an der Universität Lund in Schweden, ist dem Auslande 
schon früher bekannt durch einige in deutscher Sprache veröffentlichte 
Arbeiten !), in denen er sich als ein selbständiger und scharfsinniger 
Forscher über theoretische Fragen der Wissenschaft auf dem Boden 
der modernen Werttheorie erwiesen. 

Seit langer Zeit hatte er schon den Wunsch gehegt, ein Lehrbuch 
der Nationalökonomie, das durch und durch eine folgerechte Anwendung 
der neueren Wert- und Kapitaltheorien sein sollte, in einer der großen 
Kultursprachen zu veröffentlichen 2). So weit ist er jedoch noch nicht 
gelangt. Einstweilen hat er seine akademischen Vorlesungen in der 
Weise geordnet, daß sie einen zusammenhängenden Kursus der Wissen- 
schaft geben sollten, welcher als Grundlage des geplanten Lehrbuches, 
des ersten seiner Art in der Weltliteratur, dienen könnte. Von diesen 
Vorlesungen liegt jetzt der erste Teil in zwei Bänden in schwedischer 
Sprache vor. Der somit beendete Abschnitt des Werkes stellt den 
„theoretischen“ Teil vor, dem noch ein „praktischer“ (angewandte National- 
ökonomie, spezielle Produktions- und Distributionslehre) und ein „sozialer“ 
Teil (Untersuchung der bestmöglichen Ausnutzung der theoretischen 
Lehren und praktischen Erfahrungen, nebst kritischer Prüfung des be- 
stehenden Systems von Privateigentum und freier Konkurrenz) hinzu- 
zufügen sein werden. Ein System also in der Hauptsache dem Vor- 
bilde Walras’ entlehnt, doch nicht immer mit derselben Begründung. 

Der erste Band des theoretischen Teiles, der schon im Jahre 1901 
erschien, stellt die Bevölkerungslehre an die Spitze der Darstellung. 
Wicksell faßt diese nämlich als die quantitative Seite der Lehre von 


1) Ueber Wert, Kapital und Rente, Jena 1893; Finanztheoretische Untersuchungen, 


Jena 1896; Geldzins und Güterpreise, Jena 1898, 
2) Diesen Plan teilt er im Vorworte der Vorlesungen erster Teil mit. 


398 |Literatur.; 


den Bedürfnissen auf und reiht ihr als zweiten, qualitativen Gesichts- 
punkt die Lehre vom Werte und Tausch an. Dann folgt die Dar- 
stellung der Produktion und der Verteilung, wo Wicksell Gelegenheit 
findet die Ausführungen in seiner ersten deutschen Schrift (Wert, Kapital 
und Rente) in systematischer Weise zu wiederholen. Ueberhaupt hat 
er in diesem Abschnitt etwas überaus Interessantes und Hervorragendes 
geleistet — es liegt hier, abgesehen von einigen Ausführungen bei 
Wicksteedt) und Marshall?), der erste Versuch in neuerer Literatur 
vor, das Produktions- und Verteilungsproblem einer einheitlichen syn- 
thetischen Behandlung zu unterstellen. Zwar kann dieser Versuch kaum 
als im ganzen befriedigend bezeichnet werden — dazu leidet er zu viel 
an Wicksells allzugroßem Hang zum Abstrakten und Einseitigen — 
aber es wird hier mit großer Schärfe des Denkens ein neuer und tiefer 
Grund zu diesem Teile der Theorie gelegt, die auf spätere Ausfüh- 
rungen auf diesem Gebiete befruchtend wirken müssen. Als Schluß 
dieses ersten Bandes folgt eine vortreffliche Darstellung der Bedeutung 
einer Theorie der Kapitalbildung und Andeutungen über einige der 
wichtigsten Fragen, die mit diesem Problem in Zusammenhang stehen, 
aber noch immer sehr wenig durchforscht sind. 

Den zweiten und letzten Band des theoretischen Teiles seiner 
Arbeit, der hier zunächst Gegenstand der Besprechung ausmachen soll, 
hat Wicksell ganz der Lehre von „Geld und Kredit“ gewidmet, so dal 
diese Schrift eine in sich abgeschlossene, selbständige Arbeit bildet. 
Schon in seinem Buche „Geldzins und Güterpreise“ hat Wicksell die 
Ursachen der Veränderungen des Geldwerts und der Warenpreise ein- 
gehend zu erforschen versucht), und auch das Hauptinteresse der hier 
vorliegenden Arbeit sammelt sich um diesen Punkt. Das Wesentliche 
der früberen Schrift ist hier wiederholt worden, doch mit vielen Ver- 
änderungen und Verbesserungen. 

Nach einem einleitenden Abschnitt, der den Begriff des Geldes und 
seine Funktionen klar entwickelt und eine kurze Darstellung der Technik, 
Geschichte und Bedeutung des Münzwesens gibt, kommt Wicksell rasch 
zum Kapitel von der Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes, einem Moment, 
das für den Ausbau seiner Theorie große Bedeutung besitzt. „Die Zeit“, 
sagt Wicksell, „die jedes Geldstück durchschnittlich in der Kasse zwischen 
einem Verkauf und dem darauffolgenden Kauf verbringt, nennen wir 
die durchschnittliche Ruhezeit des Geldes, und der invertierte Wert 
dieses Zeitabschnittes in einer gewissen Zeitperiode, z. B. dem Jahr als 
Einheit ausgedrückt, wird dann die durchschnittliche Umlaufsgeschwindig- 
keit des Geldes“ (S. 58). Das stärkste aller Mittel, die Geldzirkulation 
zu beschleunigen, ist nun der Kredit. Der Gewinn, den die Volkswirt- 
schaft daraus zieht, daß Tauschmittel erspart werden, tritt als ein ge- 
waltiger Ansporn hervor, um neue Kreditmittel zu erfinden und sie in 
weitmöglichster Ausdehnung zu gebrauchen, so daß sie „ein inte- 


1) Coordination of the laws of distribution, London 1894. 
2) Principles of economics, London 1898, versch. St. 
3) Diese Schrift wurde bisher in keiner deutschen Publikation besprochen. 


Literatur. 399 


grierender Teil des Verkehrsmechanismus werden“ (S. 63). Die Fälle 
nun, in welchen der Kredit das Geld ersetzt und es als überflüssig er- 
scheinen läßt, können als Spezialformen der allgemeinen Umlaufsaccele- 
ration betrachtet werden, wobei an die Stelle einer rein physischen 
Platzveränderung des Geldes eine virtuelle tritt, d. h. eine, die nur 
gedacht oder möglich, aber von derselben Kraft ist. Ein derartiger 
virtueller Umlauf ist derjenige der Banknoten und er wird auch durch 
solche Transaktionen wie das Giroverfahren, das Bezahlen durch Wechsel 
und Devisen, herbeigeführt. 

In diesen Abschnitt hat Wicksell auch seine Darstellung vom 
Bankwesen verlegt, aber er beschäftigt sich hiermit und mit der Lehre 
vom Kredit nur insofern, als sie das Geldproblem selbst influieren. 
Besonders interessiert ihn der sogenannte universelle Komptabilismus, 
diejenige ideelle Vervollkommnung des Bankwesens, welche in der Theorie 
dann bestehen würde, wenn das ganze Bankgeschäft eines Landes oder 
gar der ganzen Welt in ‘einer einzigen Bank mit einer größtmöglichen 
Anzahl von Filialen konzentriert und das Halten von Bankrechnung 
auf alle Teile der Bevölkerung erstreckt sei. Dann brauchte ja das 
Bargeld nie in den allgemeinen Verkehr zu dringen, alle Zahlungen 
würden durch Schecks o. d. bewerkstelligt werden und der ganze 
Hartgeldvorrat würde sich in den Kammern der Bank ansammeln und 
dort als eine unbewegliche Masse verbleiben. Dadurch wäre die virtuelle 
Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes ins Unendliche gesteigert — auch 
die kleinste Geldmenge würde für die größte Umsatzsumme genügen. 
Für die Durchführung dieses Systems in der Praxis findet Wicksell 
die größten Schwierigkeiten nicht auf dem Wege zur Zentralisation 
liegen — diese werden im Gegenteil mit jedem Tage leichter über- 
wunden — sondern es kommen hier in Betracht die speziellen Bedürf- 
nisse von seiten der kleinen Zahlungen, besonders der Arbeiterlöhne 
und des Kleinhandels, dann auclf die internationalen Geschättsausgleiche 
und zuletzt die Nachfrage der Industrie nach den Goldmetallen. Indem 
Wicksell im folgenden diese drei Punkte je für sich behandelt, kommt 
er im ganzen zu dem Schlusse, daß das Geld in beliebiger Ausdehnung 
vom Kredit ersetzt werden könnte und daß also die großen Goldmünzen- 
vorräte, die mit so vieler Arbeit und Mühe angesammelt worden und 
sich stets vermehren, im Grunde unnütz und übertlüssig sind — doch 
mit einer Einschränkung, die gleich zu erwähnen ist. Besonders ver- 
neint er beim jetzigen Entwickelungsstandpunkt des Bankwesens die 
Notwendigkeit der großen Goldreserven der Banken für Zahlungen an 
das Ausland. Um alle anderen Goldsendungen von einem Lande zum 
andern zu vermeiden als diejenigen, welche nur die Bewegung des neu- 
produzierten Goldes vom Produktionsorte bezeichnen oder mit dem 
Uebergange eines Landes zum Goldmünzfuße in Zusammenhang stehen, 
so brauchten die modernen Großbanken der verschiedenen Staaten nur 
ein Uebereinkommen zu treffen, auf einander gezogene a vista-Wechsel 
ohne Kursunterschied zu verkaufen oder gar ihre Noten gegenseitig in 
die Noten oder die Münze des eigenen Landes auch al pari einzulösen. 
Goldsendungen würden dann nur in den Fällen lohnend werden, wenn 


400 Literatur. 


sie für den Bedarf der Industrie in Frage kämen oder für eine einzelne 
Bank, die aus irgend einer Ursache ihren Goldvorrat zu vermehren 
wünschte. Eine derartige Vereinbarung zwischen den Banken wäre 
kaum als eine Unmöglichkeit zu betrachten — zwischen den Zentral- 
banken der skandinavischen Länder existiert sie, wie bekannt, schon 
seit Jahren und ist die Erfahrung über ihre Wirkungen als eine überaus 
günstige zu bezeichnen. 

Zu der in diesem Zusammenhange notwendig auftauchenden Frage, 
ob also das Gold als Verkehrs- und Wertbewahrungsmittel ganz oder 
in der Hauptsache entbehrt werden könnte, verhält sich Wicksell je- 
doch verneinend. Im Gegensatz zu Ad. Wagner!) u. A. betont er 
nämlich, daß rücksichtlich des Aufrechterhaltens einer Wertkonstanz 
des Geldes, solange wie das metallische Gold als solches Wertmesser 
verbleibt und also für private Rechnung frei ausgeprägt werden darf, 
das Halten großer Goldvorräte eine bedauernswerte Notwendigkeit ist. 
Aber diese Notwendigkeit ist zuletzt durchaus keine feste Garantie für 
die Wertkonstanz des Geldes. Einst wird man sich darüber klar werden, 
meint Wicksell, wie gefährlich es sei, ein ganzes ökonomisches System 
auf dem Grunde eines so launenhaften Umstandes wie des Vorhanden- 
seins eines edlen Metalles zu bauen. Nur dadurch, daß der Geldwert 
vom Metalle oder von dessen Warenfunktion losgerissen wird, könne 
diese Gefahr gehoben werden, nur auf diesem Wege sei ein vollendetes 
Kreditsystem, das billigst mögliche Geldwesen und die Voraussetzungen 
eines konstanten Goldwerts durchzuführen. Und damit kommen wir 
auf den letzten Abschnitt der Arbeit, welcher die Frage von den Be- 
. stimmungsgründen des Tauschwertes des Geldes zur Lösung aufnimmt. 

Dieser Teil bildet den Kernpunkt des Buches. Man muß Wicksell 
unzweifelhaft recht geben, wenn er darauf hinweist, wie die meisten der 
neueren Verfasser es unterlassen haben, diesem Problem eine eingehende 
Untersuchung zu widmen und somit die zentralste Frage der Geldtheorie 
ihrer Lösung kaum näher gebracht, als es der Wissenschaft vor 1850 
gelungen war. Seinen Ausführungen stellt Wicksell hier seine Definition 
des Begriffs Geldwert voraus, welchen er ausdrücklich als den Tausch- 
wert des Geldes bestimmt, als dessen Kaufkraft, den Waren und Dienst- 
leistungen gegenüber. „Geldwert und Warenpreisniveau sind synonyme 
oder, richtiger, korrelative Begriffe“ (S. 125). Kurz werden dann die 
verschiedenen Versuche der Messung des durchschnittlichen Waren- 
preisniveaus behandelt, wobei mit großer Schärfe dargetan wird, wie 
alle diese Indextabellen von Unvollkommenheiten leiden müssen, weil 
es einen solchen, wie von den Tabellen beabsichtigten Preisdurchschnitt, 
der für die Volkswirtschaft von unveränderlicher Bedeutung sein solle, 
wie auch die Warenpreise untereinander wechseln, gar nicht gibt, oder 
vielmehr, dessen Berechnung müsse die Kenntnis von ganz anderen, 
tieferen Umständen voraussetzen, als dem Verzeichnen einiger Waren- 
mengen und deren Preisen an verschiedenen Zeitpunkten. Jedoch kommt 
diesen Messungsversuchen eine gewisse Bedeutung zu, die in hohem 


1) Geld- und Kredittheorie der Peelschen Bankakte, S. 217 passim. 


Literatur. 401 


Maße verstärkt werden könnte, wenn sie in jedem Lande erfolgen und 
all dieses preisstatistische Material dann nach vereinbarter Norm zu 
jährlichen Weltiudexzahlen zusammengefügt werden könnten. Aber wie 
vollendet die Messung des Geldwertes und dessen Veränderungen auch 
werden möge, es verbleibt dies jedoch die leichtere Hälfte des Problems. 
Die weit schwierigere ist die Frage von den Ursachen zu diesen Ver- 
änderungen und den Mitteln, sie zu verhüten. 

Unter all den Theorien des Geldwerts, die aufgestellt worden 
sind, ist für Wicksell die Quantitätstheorie die einzige, die er spezi- 
fisch nennen will, welche nicht nur einen Versuch darstellt, die 
Sätze der allgemeinen Wertlehre auch auf die Lehre vom Geld- 
werte auszustrecken und welche allein Anspruch auf wissenschaft- 
lichen Wert machen kann. Der sogenannten Produktionskostentheorie 
(Senior, Marx) wirft er ihr einseitiges Rücksichtnehmen nur auf 
die Produktionskosten bezw. marginellen Produktionskosten des Goldes 
vor, räumt ihr aber einen Platz als Bestandteil der Quantitäts- 
theorie ein und spricht ihr das Lob zu, die Ursache zu den Ver- 
änderungen im Geldwerte wenigstens in Umständen gesucht zu haben, 
die mit dem Gelde selbst etwas zu schaffen haben. Dagegen findet 
er das Geld in den meisten modernen Erörterungen über dieses 
Thema als eine formlose Masse aufgefaßt, die sich ganz passiv der 
Preisbildung gegenüber verhält, während diese nur von Umständen 
seitens der Waren reguliert werden könne. Die Quantitätstheorie war 
aber noch keine vollendete Theorie — ihr Hauptfehler ist, die Prä- 
missen nicht klar zu beweisen. Es ist wohl möglich und auch richtig, 
wie diese Theorie es behauptet, daß eine große und eine kleine Geld- 
menge dem Warenumsatze immer gleich gut dienen könne, wenn 
nur die Warenpreise sich in Proportion veränderten, aber es muß auch 
gezeigt und untersucht werden, warum und wie eine solche Preis- 
änderung immer eine Aenderung in der Geldmenge begleiten müsse. 

Den Versuch hierzu leistet nun Wicksell im folgenden, und seine eigene 
Geldtheorie stellt sich dabei als eine modifizierte Quantitätstheorie heraus, 
vertieft durch eine gründliche Untersuchung ihrer Voraussetzungen und 
modifiziert durch Rücksichtnahme auf die Umlaufsgeschwindigkeit des 
Geldes als Bestandteil der Theorie. Von seinen hierher gehörigen, scharf- 
sinnigen, überaus interessanten Deduktionen kann bier leider keine 
Darstellung gebracht werden — es muß genügen, das Hauptsächliche 
der Ergebnisse anzudeuten. Zuerst behandelt er die Wirkungen einer 
relativen Erhöhung oder Verminderung der metallischen Geldmenge, 
wie auch des Staatspapiergeldes und der nneinlöslichen Banknoten, 
wobei er zu dem Schlusse kommt, daß eine Preissteigerung stattfinden 
wird in den nicht goldproduzierenden Ländern, wenn dort der Gold- 
bedarf bei den faktischen Warenpreisen geringer an Stärke ist als die 
Nachfrage nach Waren von seiten der goldproduzierenden Länder, und 
daß diese Preissteigerung von einer relativ zum Umsatze verstärkten 
Geldmenge begleitet, im allgemeinen aber nicht von dieser verur- 
sacht wird. Eine Preissenkung und eine relativ verminderte Geldmenge 
sind das Ergebnis der umgekehrten Voraussetzungen. Den gleichen Gesetzen 

Dritte Folge Bå. XXXII! (LXXXVIII). 26 


402 Literatur. 


wie die Veränderungen in der Hartgeldmenge sind nun auch die Ver- 
änderungen in der Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes unterworfen. 
Besonders beachtenswert wird hier die Untersuchung von den Wirkungen 
des Kredits, des großen Haupttaktors beim Beschleunigen oder Ver- 
zögern des Geldumlaufs, und ganz speziell von den Mitteln der Banken 
und Regierungen, um auf den Geldwert einzuwirken. Im Grunde liegt, 
meint Wicksell, diese wichtige und äußerst schwierige Frage unter all 
den Streitigkeiten über dieses Thema, welche die Männer unserer 
Wissenschaft und der Bankpraxis während des letzten Jahrhunderts 
in verschiedene Parteien geteilt. Er gibt eine vorzügliche Darstellung 
des Wesens und der Geschichte des currency und des banking principle, 
dessen Theorien er auf Ricardo und Tooke zurückführt und ein- 
gehend kritisiert. Er findet, daß das moderne Bankwesen aus einem 
Kompromiß der beiden Theorien allmählich herausgebaut worden ist, 
daß aber der Gegensatz in den betreffenden Auffassungen über das 
Einwirken des Kreditwesens auf die Warenpreise noch immer so grob 
wie möglich ist. Das einzige Mittel, um aus dieser Fülle von ent- 
gegengesetzten Ansichten zur richtigen Lösung des Problems herauszu- 
kommen, sei das Heranrufen von allgemein anerkannten ökonomischen 
Grundsätzen, auf denen eine Theorie aufgebaut werden kann, die wenigstens 
als provisorische Hypothese gelten und als Leitfaden eines näheren 
Erforschens der Wirklichkeit dienen möge. 

Ein solches allgemein beglaubigtes ökonomisches Prinzip findet 
Wicksell nun in dem Satze, daß die Höhe des Geldzinses im 
letzten Falle von Nachfrage und Angebot von Realkapital abhängig 
ist. Dieses Kapital entsteht so — es ist dies der Kern der Wicksell- 
schen Kapitalbildungstheorie — daß die Sparenden sich dazu ent- 
schließen, für die nächste Zukunft einen Teil ihres Einkommens 
nicht zu verzehren. Hierdurch vermindert sich ihre Nachfrage nach 
Konsumtionsgütern, und die Produktionskräfte, die zum Herstellen 
dieser Güter verwandt werden sollen, können freigestellt werden 
zur Hervorbringung des gebundenen festen Kapitals (Häuser, Schiffe, 
Maschinen etc.) tür zukünftige Produktion und Konsumtion, und 
sie werden auch von den Unternehmern zu diesem Zweke in An- 
spruch genommen mit Hilfe gerade des Geldes, das die Sparenden zur 
Verfügung stellen. Der Zinsfuß, bei welchem Nachfrage nach Leihkapital 
und Angebot von Sparmitteln genau dieselbe Höhe erreichen, wird dann 
der normale oder natürliche Zins. Dieser ist in seinem Wesen unver- 
änderlich, er steigt bei vermehrter Nachfrage nach Leihbkapital, bis da- 
durch das Sparen sich vermehrt, die Nachtrage zurücktritt und Gleich- 
gewicht auf dem Leihmarkte bei einem etwas erhöhten Zinsfuße wieder 
hergestellt worden ist. Dieses einfache Verhältnis zwischen Leih- und 
Kapitalzins kommt doch nur bei eintachem Kredit vor. Kommt der 
organisierte Kredit, besonders die Wirksamkeit der Banken hinzu, so 
kann ein Zusammenhang zwischen den beiden nur durch die Preisbe- 
wegung als Zwischenglied dargetan werden. Wenn die Banken ihr 
Geld zu einem wesentlich niedrigeren Zinstuß als dem normalen abgeben, 
so wird erstens das Sparen zurückgehalten, und dadurch entsteht eine 


Literatur. 403 


erhöhte Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen für jetzige Kon- 
sumtion. Zweitens vergrößert der niedrige Zins auch die Gewinnaus- 
sichten der Unternehmer, wodurch die Nachfrage nach Waren etc. für 
zukünftige Produktion steigt. Da also die Nachfrage nach zwei Seiten 
hin in die Höhe gegangen, das Angebot aber bestens unverändert bleibt, 
muß die Folge ein Steigen der Warenpreise, Arbeitslöhne und Grundrente 
werden. Bis zu welcher Höhe diese Preissteigerung im Anfang gehen 
kann, ist unmöglich vorauszusagen, wichtig ist aber festzuhalten, daß 
sie nicht aufhören kann, solange die Ursache, der niedrige Zinsfuß, 
anhält. Ein neues Preisniveau ist entstanden, das nachher den Ausgangs- 
punkt für alle Schatzungen der Zukunft bilden muß, und diese Schraube 
übt ihre Wirkung aus, bis die Banken den Zinsfuß zur Höhe des 
normalen Zinses wiederhergestellt haben. In derselben Weise kann 
nun dargetan werden, wie eine starke Erhöhung des Leihzinses zu 
einem unbegrenzten Fallen der Preise leiten müsse. Wenn man nun 
von diesen Sätzen ausgeht, so werden alle Erscheinungen des Geldwesens 
sehr leicht erklärt und es wird auch klar, weshalb die Banken an 
einen Zinsfuß gebunden werden, der im ganzen mit dem normalen 
Zinse übereinstimmt. Am häufigsten wird gegen die Richtigkeit dieser 
Sätze auf den Umstand hingewiesen, daß steigende Warenpreise in 
Wirklichkeit öfter mit einem steigenden oder hohen als mit einem 
niedrigen oder fallenden Zinsfuß zusammentreffen. Aber dieser £in- 
wand verliert seine Bedeutung, wenn man betont, daß die Veränderungen 
in der Bankrente nie ganz beliebig von seiten der Banken erfolgen, 
sondern daß diese in ihrer Diskontopolitik immer mehr oder weniger 
gebunden sind und daß sie, nur von äußeren Umständen gezwungen, 
den Zinsfuß verändern. Die faktischen Fluktuationen des Warenpreis- 
niveaus haben also sehr oft eine andere Ursache, nämlich die periodischen 
Veränderungen des realen Kapitalzinsfußes. Dieser influiert aber nicht 
direkt auf die Preise, sondern der Zusammenhang ist so aufzufassen, 
daß die Differenz zwischen dem faktischen Leihzins und dem normalen 
Zins — dieser tiefste Grund der Warenpreisveränderungen — weniger 
oft dadurch entstehe, daß der Leihzins sich willkürlich verändert bei 
unverändertem normalen Zinse, sondern öfter dadurch, daß der normale 
Zins steigt oder sinkt bei stillstehendem oder nur langsam nachfolgen- 
dem Leihzinse. 

Die Wicksellsche Theorie stellt also als Schlußergebnis zwei Haupt- 
ursachen der Warenpreisveränderungen fest: erstens die Nachfrage 
nach Waren von seiten der goldproduzierenden !) Länder, begleitet von 
Goldsendungen als Zahlung für diese Waren; zweitens den Umstand, 
daß der Zins für geliehenes Geld aus irgend einer Ursache über oder 
unter dem Niveau zu liegen kommt, das normalerweise von dem gleich- 
zeitig herrschenden realen Kapitalzinse bedingt wäre. Zum Schlusse 
untersucht er nun kurz — seine an der Darstellung der Theorie ge- 
knüpften, der sonstigen Auffassung sehr verschiedenen Ausführung über 


1) Alle Produktionsorte edler Metalle kommen natürlich in Betracht — in der 
Jetztzeit jedoch hauptsächlich die des Goldes. 


26* 


404 Literatur. 


die Kapitalbildung bei guter und schlechter Konjunktur muß hier leider 
übergangen werden — wie es in der Praxis möglich sei, das Preis- 
niveau zu kontrollieren. Der ersten Ursache, der Goldproduktion, 
stehen wir, meint er, machtlos gegenüber, solange diese Produktion 
dem privaten Unternehmen überlassen und die freie Prägung des 
Goldes auch beibehalten ist. Aber auch dem Kontrollieren der zweiten 
Ursache, der Diskontopolitik der Banken, stehen fast unüberwindbare 
Schwierigkeiten entgegen. Bei dem jetzigen Zustande, mit einem Au- 
gebot von Gold über den Bedarf hinaus, sieht Wicksell gegen die zu- 
nebhmende Goldproduktion kein anderes Mittel, als das Einstellen der 
Goldprägung für private Rechnung, welches gemeinsam von allen großen 
Goldländern unternommen werden müsse. Bei einer solchen Anordnung 
könne man die Vorteile des jetzigen Systems beibehalten, ohne von dessen 
Uebelständen zu leiden. Man würde eine Wertkonstanz des Geldes so- 
wohl räumlich als zeitlich erlangen. Die räumliche Wertkonstanz, d.h. 
das Beibehalten eines unveränderlichen Wertes der Goldmünzen der 
verschiedenen Länder untereinander, würde in der früher geschilderten 
Weise durch ein allgemeines Vereinbaren der Zentralbanken !) relativ 
leicht zu erzielen sein. Weit schwieriger ist das Aufrechterhalten der 
Wertkonstanz in der Zeit, einer stabilen Kaufkraft des Geldes den 
Waren gegenüber. Der Weg wäre auch hier ein gemeinsames Auf- 
treten aller Länder und deren Zentralbanken und zwar mit den Mitteln 
der Diskontopolitik. An die Seite von gegenseitigen Zinsmaßnahmen, 
welche dazu dıenen sollen, die internationalen Zahlungsbilanzen auszu- 
gleichen, müsse auch eine gemeinschaftliche Diskontopolitik treten, die 
den Baukzinsfuß zu erhöhen oder zu drücken hätte, um das Waren- 
preisniveau an allzu starkem Abweichen nach oben oder nach unten 
zu verhindern. Wenn die Banken der Welt in dieser Art zur Arbeit 
auf gemeinsamem Grunde zu gemeinsamen Zielen gerüstet stehen, da 
kann auch die Zeit kommen, wo man anstatt materielle Gegenstände, 
wie Gold und Silber, die Banknote oder die Bankrechnungsmünzeinheit 
als Wertmesser einsetzen und in der räumlichen und zeitlichen Wert- 
konstanz bewahren kann. Es ist dies das Ideal, dem das Geläwesen sich 
zu nähern streben muß. — 

Dies ist der Hauptinhalt des Wicksellschen Werkes. Da es als 
eine Zusammenstellung von akademischen Vorlesungen erscheint, sind 
verschiedene Teile des Stoffes, mit denen die enorme Literatur über 
diese Frage sich eingehend beschäftigt, nur im Vorübergehen gestreift 
und praktische Hinweise auf die wichtigste Literatur mitgeteilt. 
Um diese Vorlesungen zu einem Lehrbuche zu verwandeln, das Wicksell 
erhoftt, einst in deutscher Sprache veröffentlichen zu können, müssen sie 
also einer gründlichen Umarbeitung unterzogen werden, wobei es dem 
Werke vorteilhaft sein würde, wenn die Teile, welche juristische 
Fragen in die Diskussion mit aufnehmen, in etwas revidierter Form 
erscheinen würden. Was aber die Hauptsache betrifft, das Aufstellen, 
Auseinandersetzen und Verteidigen seiner Geldwerttheorie, so ist es Wick- 


1) Oben S. 400. 


Literatur. 405 


sell in diesem Werke gelungen, sie in vorzüglicher, oft geradezu glänzen- 
der Klarheit und Form der Sprache zu geben. Wenn er sich jedoch 
nicht von dem Vorwurf vor Einseitigkeit freihalten kann, so trifft 
dieser Einwand weniger die Theorie und ihre Darstellung selbst, als 
den allzu großen Optimismus, mit welchem Wicksell die praktischen 
Konsequenzen daraus zieht. Gegen den Inhalt der Theorie können ja 


auch manche Einwände gemacht werden — sie überschätzt den Wert 
eines konstanten Preisniveaus, unterschätzt die Kompliziertheit der auf 
die Peisveränderungen einwirkenden Faktoren — sie berühren aber 


kaum den eigentlichen Kern, der als eine mit großem Scharfsinn er- 
sonnene Hypothese fast als unwidersprechlich dastehen muß, bis die 
Zeit kommt, wo eine Vollendung der Preisstatistik es erreicht hat, sie 
zu widerlegen oder zu — beglaubigen. Es soll aber stets das Ver- 
dienst Wicksells bleiben, in eine der schwierigsten Fragen unserer 
Theorie tiefer als die Meisten hineingedrungen zu sein, und das Lesen 
seiner Arbeit bereitet fast stets die Freude, die das Werk eines selb- 
Ständigen und bedeutenden nationalökonomischen Denkers in sich schließt. 


Boräs, Schweden. 


406 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands 
und des Auslandes, 


1. Geschichte der Wissenschaft. Encyklopädisches. Lehrbücher. Spezielle 
theoretische Untersuchungen. 

Schäffle, A., Abriß der Soziologie, berausg. von Karl Bücher. 
Tübingen (H. Laupp) 1906. 

Es war Schäffle nicht vergönnt, seine Soziologie ohne Parallelisie- 
rung mit organischen Vorgängen auszubauen. Was in dieser Richtung 
hier vorliegt, ist unvollendet, vielfach ohne einheitliche Durchführung. 
Immerhin zeigt auch das vorliegende Werk die gewaltige Gestaltungs- 
kraft Schäffles bei systematischer Einordnung der Tatsachen des sozialen 
Lebens. 

Sch. geht von der Klarlegung des grundlegenden Begriftes Volk 
aus. Er sieht im Volk eine durch höher bewußtes Wollen, Fühlen 
und Denken herbeigeführte Vereinigung. In seiner innerlichen geistigen 
Verknüpfung, in seinem Land- und Sachgüterbesitz sowie in seiner 
Fähigkeit, Gemeinschaften zu den verschiedensten Zwecken in sich zu 
entwickeln und zu einem einheitlichen Ganzen zu verbinden, stellt das 
Volk eine von allen anderen sozialen Lebensformen verschiedene 
Schöpfung dar. Alle Merkmale zusammengefaßt, erscheint als Volk: 
„die geistig verknüpfte, ein Land behauptende, gesittungsfähige Dauer- 
und Massenvereinigung von Personen nebst ihren zugehörigen Sach- 
güterausstattungen (Besitzen)“. 

Die Gesamtheit der die Erde bewohnenden Völkerwelt, als Ge- 
sellschaft im soziologischen Sinne, zeigt eine bestimmte Stellung 
innerhalb der Welt; innerlich trägt sie das Merkmal der Gesittung, so- 
wohl nach der Zusammensetzung, als nach ihren Zwecken. Ihre Be- 
standteile sind handlungsfähige Personen und Gemeinschaften; deren 
Handeln erscheint als Machen und Werten, gerichtet auf Schaffen wie 
Brauchen. 

Die Personen stehen zueinander in einem Verhältnis der Wechsel- 
wirkung oder des Verkehres, und zwar: äußeren Verkehres als selb- 
ständige Einzel- und Samtpersonen, inneren Verkehres als Mitglieder 
einer Gemeinschaft. Der Verkehr selbst ist Abkehrung (Abstoßung, 
Streit) oder Zukehrung (Anziehung). 

Die Gesellschaft ist psychische Wechselbeziehung zwischen Indivi- 
duen, zu deren Verwirklichung sie äußerer Güter und der aus ihnen 
gebildeten Veranstaltungen bedarf. Sie wird zusammengehalten durch 
eigentümliche Bindemittel: durch Sprache und ästhetischen Völker- 
besitz; durch Raum- und Zeitverknüpfungen (die in Wohnung und Ver- 


m 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 407 


kehrswesen gelegenen räumlichen Verbindungeu, bezw. Anhäufung und 
Uebertragung von Bildung und Nutzungsvorräten in der Zeit); Ver- 
knüpfung der gesellschaftlichen Schätzung (bezw. Verurteilung); In- 
einandergreifen der Willensbestrebungen durch Sitte und Recht; prak- 
tische Verknüpfung durch die Werktätigkeit oder Technik, endlich 
Verknüpfung durch Machtzusammenfassung (Herrschaftsverhältnisse mit 
oder ohne Zwang). 

Machen und Werten, Schaffen und Brauchen der Gesellschaft sind 
gerichtet auf die Außenwelt sowie auf die Entfaltung und Erhaltung 
der Völker selbst. Auf die Außenwelt: vorbeugend und unterdrückend, 
durch Sicherung gegen Gefahr, durch Dienstunterwerfung und Raub, 
— auf die Entfaltung der Völker: durch Förderung und Pflege von 
Sprache, Kunst, der Raum- und Zeitverknüpfung, der Geselligkeit, des 
Rechtes, der Moral, der Wirtschaft und der Gewaltübung. 

Die Gesellschaft ist abhängig von Verkettungen infolge ihrer Ver- 
knüpfung mit der äußeren Natur, sowie vermöge der geschichtlichen 
Zeitfolge des Geschehens. Hier ist ibre Macht beschränkt: nur Voraus- 
sicht und Vorsicht, geübt durch Ansammlung von Notvorräten kann 
ihnen begegnen und schädliche Wirkungen abschwächen. 

Das Gesellschaftsbewußtsein definiert Sch. als einen Zu- 
sammenhang innerer Zustände verschiedener Personen, aber auf eine 
Potenz erhoben, welche dem Individualbewußtsein fehlt. Das Gesell- 
schaftsbewußtsein ist den verbundenen Einzelgeistern innewohnend; das 
ganze Geistesleben der einzelnen ist aber von der geistigen Massen- 
strömung des Gesellschaftsbewußtseins umfangen. 

Sch. scheidet Einzelbewußtsein und Massen bewußtsein und beim 
Einzelbewußtsein das Individualbewußtsein von dem Bewußtsein 
einer bestimmten Gemeinschaft (als Samtperson): dem Samt- oder 
Gemeinschaftsbewußtsein. Die individuelle Vernunft ist mit und in der 
Gesellschaft entstanden; auch das Individualbewußtsein hat daher einen 
sozialen Charakter. Das Gemeinschaftsbewußtsein nimmt Elemente vom 
Bewußtsein vieler in sich auf, umfaßt aber niemals die Mitglieder mit 
ihrem ganzen Wollen, Fühlen und Denken. Weiter zeigt es die Merk- 
male der inneren Gebrochenheit (verschiedene Grade der Harmonie und 
Disharmonie) und der Abstufung (Instanzierung oder Hierarchie), in- 
dem sich Führerschaften, Herrschaften und Gewalten entwickeln, deren 
Aufgabe in der Anfrechterhaltung der Ordnung und Bewegung der 
Gemeinschaft, sowie in der Aufrechterhaltung des Einklanges mit allen 
im äußeren Gesamtverkehr stehenden Individuen und Gemeinschaften 
besteht. — Massenbewußtsein stellt eine allgemeine Willens-, Gefühls- 
und Gedankenströmung dar, welche von größeren oder kleineren, aber 
nicht geschlossenen Personenkreisen ausgeht. Als solches übt es einen 
wichtigen Einfluß auf alles Einzelbewußtsein, auf die Zuneigungen wie 
Abneigungen bestimmter Personen und Personenkreise Es zeigt eine 
Ausbreitung in Raum und Zeit, erstere durch die Publizität, letztere 
durch die Tradition bewirkt. 

Die Grundbestandteile des „Gesellschaftskörpers“ sind: das Land, 
das Volksvermögen und die Bevölkerung. 


} 


a MHM 0 nn ua 


408 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Land ist nicht bloß Boden allein, sondern auch alles was im Boden, 
am Boden, über dem Boden an Stoffen, Kräften, an Floren und Faunen 
gegeben ist. Landlose Völker gibt es nicht; mit dem Verluste seines 
Landes geht das Volk unter oder wird Symbiont anderer („wirklicher“) 
Völker. 

Das Volksvermögen umfaßt alle einem Volke zur Verfügung stehen- 
den sachlichen Brauchlichkeiten. Letztere sind jedoch nicht die einzigen 
Güter, welche wert gehalten werden: auch die persönlichen Güter, alle 
Energien des Leibes und Geistes, erfahren eine Wertschätzung, haupt- 
sächlich in den Auslösungen der Energien, welche anderen zugute kon- 
men. Mit der Tatsache des Verbrauches sind die Beziehungen der Sach- 
güter zur Bevölkerung nicht erschöpft; auch ihrer Entstehung nach, 
d. h. als Erzeugnisse der Arbeit, stehen sie mit ihr im Zusammenhang. 
Vom soziologischen Standpunkte lassen sich vornehmlich Sachgüter der 
Darstellung und Mitteilung, sowie Produktionsmittel und Mittel zum 
Konsum unterscheiden. 

Die Bevölkerung ist die aktive Trägerin aller Handlungstähigkeit. 
Da die Massenzusammenhänge (Landsmannschaft, Nachbarschaft, Ver- 
wandtschaft, Standes- und Klassenzusammenhang, Nationalität, Glaubens- 
zusammenhang etc.) als Massenerscheinungen des aktiven Volkselementes 
zu betrachten sind, können sie auch in die Bevölkerungslehre eingereiht 
werden. Die Bevölkerung erfährt unausgesetzt sowohl eine numerische, 
als eine qualitative Bewegung, letztere durch leiblich-geistige Vervoll- 
kommnung oder Verschlechterung. 

Es würde zu weit führen, auf die weiteren Einzelausführungen ein- 
zugehen. Wir wollen uns darauf beschränken, Umänderungen anzu- 
merken, die Schäffle gegenüber seiner früheren Darstellung (in „Bau 
und Leben“) vorgenommen. 

Sie betreffen hauptsächlich die Systemisierung der Veranstaltungen 
und Funktionen der nationalen Gesellschaft. Die Vermeidung biolo- 
gischer und psychologischer Analogien macht wohl nicht ein Aufgeben 
der früheren Klassierung notwendig, erheischt aber immerhin gewisse 
Veränderungen. Sch. unterscheidet jetzt: 

I. Veranstaltungen für die Betätigung des Volksbewußtseins: Sprache, 
Literatur, Presse, Publizität, Ueberlieferung. 

II. Allgemeine Veranstaltungen alles Handelns und die besonderen 
Veranstaltungen für einzelne Gesittungszwecke; 

A. Die Gemeinveranstaltungen: für Recht und Moral; tür 
die Technik; für die Oekonomik (Wirtlichkeit); für die Wertgebungen; 
für das Raum- und Zeitleben. 

B. Die besonderen Gesittungsveranstaltungen: für 
materielle Volksinteressen wie Versicherungswesen, persönliche Fort- 
pflanzung, Leibesunterhalt und körperliche Erziehung, Volkswirtschaft, 
Anstalten zum Schutze von Leben und Gesundheit gegen Naturgefahr, 
zum Schutze des Volksvermögens und Landes gegen Naturgefahren, end- 
lich zum Schutze von Volk, Land und Volksvermögen gegen äußere 
und innere Feinde; für immaterielle Zwecke, weltliche und religiöse 
wie Unterrichts- und Erziehungswesen, Wissenschaft, Kunst, Gesellig- 
keit, Volksglauben. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 409 


Die nähere Ausführung vorstehender Klassierung der Organ- und 
Funktionssysteme des Volkskörpers ist unvollendet; besondere Sorgfalt 
ist nur auf die Darstellung der Organisation der Macht verwendet. 
Macht ist der Gemeinschaften und Verkehre bestimmende Einfluß von 
Personen ; Organisation der Macht umfaßt alles, was Begründung und 
Erhaltung der Macht bewirkt. Macht beruht einerseits auf persönlicher 
oder besitzlicher Ueberlegenheit der einen Personen und auf Getolgs- 
willigkeit von seiten anderer. Die persönliche Ueberiegenheit kann 
sowohl leiblich als geistig sein; letztere tritt im Laufe der Entwicke- 
lung gegenüber der leiblichen immer mehr hervor. Die Organisation 
der Macht besteht einerseits in allen Vorkehrungen der Anhäufung von 
Bildung und Besitz bei einzelnen, Ständen und Klassen, andererseits 
in allen Vorkehrungen, durch welche die nicht zur Führung befähigten 
Massen bestimmt werden, sich unter die Führung der überlegenen 
Personen zu begeben. Zurückzuweisen ist die Anschauung, daß Macht 
bloße Zwangsgewalt sei; diese ist weit mehr Wirkung, denn Ursache 
der Macht. 

Alles internationale Tun und Lassen der Völker ist, wie das- 
jenige der nationalen Gesellschaft, Bewußtseinsbetätigung unter der Ab- 
hängigkeit von Konjunktionen und Konjunkturen. Doch tritt ein 
mächtiger Unterschied in dem Mangel einer gemeinsamen Sprache der 
Völker gegenüber der nationalen Gesellschaft hervor. Das hervor- 
ragendste Merkmal der internationalen Gesellschaft besteht darin, daß 
sie ein staatseiniges Gemeinwesen nicht bildet und nicht besitzen kann: 
Völker stehen zu Völkern nur auf dem Vertragsfuß oder dem Fuße 
der Unterwerfung, nicht im Verhältnisse der Abhängigkeit von der- 
selben Staats- oder Kommunalgewalt. 


Wien. Max Rind. 


Raffel, Dr. Friedrich, Englische Freihändler vor Adam Smith. 
Tübingen (H. Laupp) 1905. 193 SS. 

Alfred Marschall sagt einmal in seinen Principles of Economics von 
Adam Smith: „Obschon er ohne Zweifel viel von anderen entlehnt hat, 
so erscheint doch sein Genie feiner, seine Kenntnis größer und sein Urteil 
noch stärker ausgeglichen, je mehr man ihn mit denen, vergleicht. die vor 
ihm waren und nach ihm kamen“. Die Studie von F. Raffel über die 
freihändlerischen Vorgänger des Adam Smith vertritt jene Auffassung 
des englischen Nationalökonomen nicht. Es werden eine Reihe von 
Schriftstellern vorgeführt, welche als Vorläufer der späteren Freihan- 
delsschule gelten können, und ihre Ansichten sowohl über den binnen- 
ländischen „free trade“ — den Kampf gegen die Monopole — wie über 
die Befreiung des auswärtigen Handels von merkantilen Fesseln ein- 
gehend erörtert. Solche Schriftsteller sind: der Verfasser der Schrift 
„Englands Great Happiness“, Barbon, Sir Dudley North, Vanderlint, 
Decker, Hume, Tucker u. a An Hand der handelspolitischen Lehren 
jener Männer gelangt der Verfasser zu dem Schluß, daß Smiths Ver- 
dienst um die Entwickelung der Freihandelsdoktrin weniger darin be- 
ruhe, „neue und originelle Argumente geschaffen, als das Ueberlieferte 
in sich aufgenommen, gründlich verarbeitet und systematischer darge- 


410 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


stellt haben“. Ob man aus dem Material, das Raifel beibringt, diesen 
Schluß ziehen wird, ist zweifelhaft. Nein, es erscheint, im Gegenteil, 
gerade an Hand des reichen Materials, das der Verfasser beibringt, 
Adam Smith deshalb als originaler Denker, weil er die Argumente ge- 
wisser volkswirtschattlicher Praktiker — vielleicht im besten Falle 
politischer Aritlımetiker — auf ihre theoretische Bedeutung geprüft und 
soweit vereinheitlicht hat, daß eine wissenschaftliche Lehre, eben die Frei- 
handelslehre, daraus wurde. Von denjenigen aber, die mit ihren frei- 
händlerischen Argumenten eine gewisse Einheit der Grundauffassung 
bereits verbanden, wie z. B. von Tucker unterschied sich Smith dadurch, 
daß er seine Lehre nicht mit dem Bestehen einer deistischen Ord- 
nung, sondern allein durch das Prinzip der Wirtschaftlichkeit rechtfer- 
tigte. So erscheint gerade unter Berücksichtigung des Raffelschen Ma- 
terials die Stellung Adam Smiths zu den Praktikern einerseits, zu den 
philosophischen Schriftstellern andererseits zu beweisen, daß er sich in 
seiner Freihandelslehre als der erste moderne, wissenschattliche Volks- 
wirt erwies und daß hierin seine Originalität zu suchen ist. Damit 
aber wären wir dem Urteile Marshalls näher als demjenigen Raffels. 

Die Betrachtungen Raffels über Ricardo am Schlusse seiner Ar- 
beit können seiner Gründlichkeit keinen Ruhm eintragen. Völlig ver- 
kehrt ist es, wenn Ricardo von ihm „kein radikaler Freihändler“ ge- 
nannt wird, „der auf Verwirklichung seiner Prinzipien drängt“. Eine 
Beschäftigung mit den Erörterungen Karl Diehls über diese Frage hätte 
ihn eines anderen belehren können. Und es ist bedauerlich, daß die 
Schrift Raffels am Schlusse ein etwas hastiges Urteil aufweist, und in 
wenigen Worten mit einem Manne abrechnet, der für die Erweiterung 
der Freibandelslehre wichtiger war als die Vorgänger des Adam Smith 
für die Anfänge derselben. Sehen wir aber von diesen Schlub- 
bemerkungen Raffels ab, so bietet seine Arbeit einen interessanten 
Beitrag zur Geschichte der Nationalökonomie und dies in einer ange- 
nehmen und anregenden Form wissenschaftlicher Schreibweise. 


Hermann Levy. 


Posener, Paul, Besondere Volkswirtschaftslehre. 26. Band des 
Grundriß des gesamten deutschen Rechts in Einzelausgaben. Berlin 
(Guttentag) 1904. 

Fridrichowicz, Eugen, Kurzgefaßtes Kompendium der Staats- 
wissenschaften in Frage und Antwort. Berlin (Calvary & Co.) 1904. 

Für viele Studierende liegt zweifellos das Bedürfnis nach einem 
Hilfsmittel vor, um kurz vor dem Examen nochmals den ganzen Stoff 
repetieren zu können. Allerdings wird man dabei immer im Auge be- 
halten müssen, daß auf nationalökonomischem Gebiete mehr gedankliche 
und weniger Gedächtnisarbeit verlangt wird, als etwa beim juristischen 
Examen mit seinen Anforderungen an Legaldefinitionen und Paragraphen- 
kenntnis. Diesen Umstand hat Posener richtig erkannt und berück- 
sichtigt, indem er auf knapp 30 Oktavseiten die wichtigeren Schlagworte 
der Volkswirtschaftspolitik in kurzen Sätzen zusammengefaßt und so dem 
Studenten einen Anhalt bietet, seine Kenntnis noch einmal selbst zu 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 411 


prüfen. Anders aber Fridrichowiez, der uns nicht weniger als 12 Bänd- 
chen von teilweise mehreren hundert Seiten vorlegt, die zusammen 
natürlich den Preis eines kürzeren, zusammenhängenden Lehrbuchs er- 
fordern. Meiner Ansicht nach sollte sich jeder Studierende lieber an 
ein solches halten, statt F. zu folgen, der obendrein durchaus nicht 
immer zuverlässig ist. Geschäftlich ist sein Unternehmeu wahr- 
scheinlich gut gedacht, denn es wird immer Liebhaber finden, die sich 
mit seiner Hilfe fürs Examen einpauken. Für sie aber kann es leicht 
recht unangenehme Folgen haben; denn einen Examinator, der so prüft, 
wie man es nach diesen Heften annehmen müßte, gibt es nicht. 


Halle. Georg Brodnitz. 


Bernstein, Eduard, Die Grundbedingungen des Wirtschaftslebens. Wirtschafts- 
wesen und Wirtschaftswerden. II. Vortrag. Berlin, Vorwärts, 1906. 8. 32 SS. M. 0,50. 

Comte, Aug., Soziologie. Aus dem französischen Original ins Deutsche über- 
tragen von Valentine Dorn und eingeleitet von (Prof.) Heinrich Waentig. 1. Bd.: Der 
dogmatische Teil der Sozialphilosophie. Jena, Gustav Fischer, 1907. 8. XX—534 SS. 
M. 6.—. (Sammlung sozialwissenschaftlicher Meister. Bd. 8.) 

Cuhel, Franz (Regierungs-R.), Zur Lehre von den Bedürfnissen. Theoretische 
Untersuchungen über das Grenzgebiet der Oekonomik und der Psychologie. Innsbruck, 
Wagner, 1907. gr. 8 XX1V—320 SS. M. 10.—. 

Kalinoff, Dimitri, David Ricardo und die Grenzwerttheorie. Tübingen, H. Laupp, 
1907. gr. 8. 140 SS. M. 3.—. (Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. Er- 
gänzungsheft XXII.) 

Kampffmeyer, Paul, Die Sozialdemokratie im Lichte der Kulturgeschichte. 
Eine Führung durch die sozialdemokratische Bewegung und Literatur. 3. verm. Aufl. 
Berlin, Vorwärts, 1907. 8. 92 SS. M. 1,20. 

Lifschitz, F., Der ökonomische Liberalismus. Bern, Gottfr. Iseli, 1907. 8. 
16 SS. M. 0,45. (Schriften der freien Studentenschaft der Universität Bern. Heft 1.) 

Meltzing, Otto, Grundprobleme der Volkswirtschaftslehre. Vier Vorträge. 
Leipzig (Kühnel, 1907). gr. 8. 124 SS. M. 0,85. 

Psenner, Ludwig, Christliche Volkswirtschaftslehre. 1. Teil. Graz, U. Moser, 
1907. 8. M. 2.— 

Schönemann, M., Wirrungen in der deutschen Sozialdemokratie, Halle, E. Anton, 
1907. 8. M. 0,60. 

Seilliere, Ernest, Die Philosophie des Imperialismus. Autorisierte deutsche 
Ausg. Uebersetzt von Theodor Schmidt. 3. Bd. Der demokratische Imperialismus. 
SEES Marx. Berlin, H. Barsdorf, 1907. gr. 8. X—446 SS. 

1. 

Stieda, Wilhelm, Die Nationalökonomie als Universitätswissenschaft. Leipzig, 
B. G. Teubner, 1906. Lex.-8. XII—407 SS. M. 10.—. (Abhandlungen der königl. 
ee ea Gesellschaft der Wissenschaften. Philologisch-historische Klasse. Bd. 25. 
Nr. IL.) 

Wernicke, J., Kapitalismus und Mittelstandspolitik. Jena, Gustav Fischer, 1907. 
8. 1009 SS. M. 18.—. 


Montesquiou, Comte Léon de, Le système politique d’Auguste Comte. Paris, 
Nouvelle librairie nationale, 1907. 12. fr. 3,50. 

; Worms, Rene, Philosophie des sciences sociales. III. Conclusions des sciences 
sociales, Paris, V. Giard & E. Brière, 1907. 8. 310 pag. fr. 6.—. (Bibliothèque socio- 
logique internationale. XXIX.) 

Loria, Achille, The economic foundations of society. Translated by Lindley 
M. Keasley, with a new preface by the Author. London, Sonnenschein, 1907. 8. 
400 pp. 37.6. 
Gi Menger, Carlo, Principii fondamentali di economia. Roma, Direzione del 
alornale degli Economisti, 1907. 8. (Supplemento al Giornale degli Economisti, Serie II, 
Anno XVII, Novembre 1906.) 


419 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Nardi-Greco, Carlo, Sociologia giuridica. Con prefazione di A. Asturaro. 
Torino, fratelli Bocca, 1907. 8. XXX VIII—480 pp. 1. 12.—. 

Natoli, Fabricio, Le leggi della distribuzione moderna: prolusione al corso libero 
di economia politica, letta nella R. Università di Palermo il 12 dicembre 1906. Palermo, 
A. Reber, 1907. 8. 38 pp. 1. 1,50. 

Orestano, F., I valori umani. Torino 1906. 8. 308 pp. 1. 8.—. 


2. Geschichte und Darstellung der wirtschaftlichen Kultur. 

v. Buschman, J. Ottokar, Das Salz, dessen Vorkommen und 
Verwertung in sämtlichen Staaten der Erde. II. Band. Asien, Afrika, 
Amerika und Australien mit Ozeanien. Herausgegeben mit Unterstützung 
der Kais. Akademie der Wissenhaften in Wien aus der Treitl-Stiftung. 
Leipzig (Wilhelm Engelmann) 1906. XVI, 506 SS. gr. 8%. i8 M., gbd. 
22 M. 

Wenn auch der unter der Presse befindliche Band, welcher Europa 
behandelt, im großen und ganzen auf ein höheres Interesse zu rechnen 
haben wird als der vorliegende Teil, so ist letzterer um so wichtiger, als 
sein Iuhalt ungleich schwerer zugänglich ist, ja vielfach als ziemlich unzu- 
gänglich bezeichnet werden mul. Verf. gelang es nur auf Grund von 
Fragebogen, welche an sämtliche k. u. k. österr.-ungar. Kousularämter 
gesandt wurden, das einschlägige Material zu erhalten, das dann von 
fachmännischer Seite vielfach ergänzt werden konnte. 

Die Reihenfolge der Länder ist nach der Einwohnerzahl ange- 
ordnet, fremde Wert- wie Maßangaben sind auf österreichische Kronen- 
währung bezw. das metrische Maß zurückgeführt. Jedes Land hat an 
seiner Spitze ein Verzeichnis der benutzten Quellen, so daß man jeder- 
zeit im stande ist, sich nach ausführlicher Belehrung umzusehen. Das 
Material folgt stets in der Reihentolge: Salzvorkommen, Salzgewinnung, 
Salzeinfuhr, Salzaustuhr, Salzhandel, Salzverbrauch. 

Leider ließ sich bei manchem Lande kein neueres Material auf- 
treiben, so daß auf das 1846 erschienene Buch von C. J. B. Karsten: 
„Ueber das Vorkommen und die Gewinnung des Kochsalzes auf der 
Oberfläche der Erde“ zurückgegriffen werden mußte. Das eigentliche 
Gewinnungsverfahren ist stets kurz abgetan. Die zollgesetzlichen Be- 
stimmungen sind stets in vollem Maße berücksichtigt, ebenfalls gesetz- 
liche wie administrative Bestimmungen da, wo das Salz Gegenstand eines 
Monopoles oder einer Steuer bildet. 

Das Kapitel Salzverbrauch mußte sich leider meist auf die in der 
Regel auf sehr ungefähren Schätzungen beruhenden Angaben der Konsular- 
ämter stützen, manchmal ist er auch nur nach dem theoretischen Durch- 
schnittmaß von 6,5 kg pro Kopf und Jahr auf Grund der Bevölke- 
rungszahl berechnet, in zivilisierten Ländern erhält man eine zu geringe 
Ziffer, für unzivilisierte dürfte sie aber doch noch zu hoch ausfallen. 
So genügt beispielsweise für die bei Hongkong gelegene Niederlassung 
Macao eine Menge von theoretisch ermittelten 520 tn., während die aus- 
gegebene Einfuhr statt der 6,5 kg 37 kg ergibt! 

Erwünscht wäre es, in dem noch zu erwartenden ersten Band ein 
Register über beide beigegeben zu finden; die Inhaltsangabe macht das 
Auffinden der einzelnen Abschnitte doch zu unbequem. 

Halle a./S. E. Roth. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 413 


Sander, Paul, Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs, dar- 
gestellt auf Grund ihres Zustandes von 1431 bis 1440. 1. und 2. Halbbd., 
Leipzig (B. G. Teubner) 1902. 

Es muß dem Wirtschaftshistoriker doch manches zu denken geben, 
daß ein politischer Vorgang des 14. Jahrhunderts der wirtschafts- 
geschichtlichen Forschung des 20. Jahrhunderts einen äußerst wert- 
vollen Dienst geleistet hat. Die Zentralisation der öffentlichen Gewalt 
durch den Rat war es, die der städtischen Geschäfts- und Buchführung 
und dem Archivwesen der alten Reichsstadt Nürnberg zu gute ge- 
kommen ist und unter der Einwirkung einer umsichtigen administrativen 
Einheit ein reichhaltiges und musterhatt georduetes verwaltungsgeschicht- 
liches Material bewahrt hat, das unsere Kenutnis der mittelalterlichen 
Stadtverwaltung wesentlich zu erweitern ermöglicht. Mit redlichem 
Fleiß bat Paul Sander dieses Material in den Akten des Nürnberger 
Kreisarchives durchgearbeitet und in zwei Halbbänden die Ergebnisse 
seiner Ermittelungen niedergelegt. 

Aus dem Urkundenschatz von 4. Jahrhunderten griff er das Jahr- 
zehnt von 1431—1440 heraus, in dem keine außerordentlichen, aber 
doch alle die Anforderungen an jene mittelalterliche Stadtverwaltung 
herantraten, mit denen sie normalerweise zu rechnen hatte. Der Be- 
trachtung des Rates, der Verwaltungsämter, des Rechnungswesens und 
der öffentlichen Einnahmen hat er dann die öffentlichen Ausgaben im 
zweiten Halbbande angereiht. Diese Teile des Buches im zweiten Halb- 
bande sind wirtschaftsgeschichtlich deshalb von ganz besonderem Inter- 
esse, weil sie uns in das Verständnis der sozialen Wirksamkeit eines 
unserer bedeutendsten und bestgeleiteten mittelalterlichen Gemeinwesen 
einlühren. Da lernen wir im einzelnen die Ausgaben für die Aemter 
der allgemeinen Verwaltung, für die bewaffnete Macht, für den städtischen 
Sicherheitsdienst, für Kriegszüge und auswärtige Händel, für den vom Reich 
und von den Reichsstäuden gewährten Rechtschutz, für Gesandtschafts- 
und Nachrichtendienst, für Ehrendienst und Rechtspflege, Polizei- und 
Wohlfahrtspflege, für das Bauwesen und die Verzinsung der öffentlichen 
Schuld, für den Erwerb von Besitz- und Forderungsrechten in ausführ- 
licherem Detail kennen. Ich glaube kaum, daß die Befürchtung des 
Verf. auf S. 421, man möchte seine Kategorien verschwommen und un- 
klar schelten, sich als gerechtfertigt erweisen dürfte. Jeder, der in 
einer gleichen oder ähnlichen Materie einmal gearbeitet hat, weiß, daß 
eine Klassifizierung, mag sie noch so reitlich erwogen und noch so vor- 
sichtig zu stande gebracht sein, niemals einer vollkommen scharfen be- 
grifflichen Unterscheidung stand hält. Es geht der Klassifizierung eines 
Jeden geschichtlichen Stotfes wie dem Versuch einer Periodisierung ge- 
schichtlichen Lebens überhaupt, die Willkür läßt sich niemals durchaus 
ausschalten, und nur ein relativer Wert waltet dabei ob: den Stoff 
selber durch überlegene Kraft zu meistern und also den Nachprüfenden 
zum besseren Verständnis hinzuleiten. Meines Dafürhaltens kann kaum 
ein Zweifel darüber obwalten, daß die Kategorien des Verf. einer solchen 

wertung bestens entsprechen. Und der mit den Urkundenschätzen 
selber nicht vertraute Beurteiler wird auch weiterhin zugeben dürfen, 


414 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslande. 


daß anscheinend das Material, das der Verf. bringt, in Vollständigkeit 
und Zuverlässigkeit vorliegt. 

Dagegen läßt sich eher darüber streiten, ob es wohlgetan war, den 
Wortlaut des Originals in den meisten Fällen zu beseitigen und die 
einzelnen Registereinträge dem modernen Sprachgebrauch anzupassen. 
Durch ein derartiges Vorgehen bekundet der Verf. deutlich genug, dab 
er seine Angaben nicht als Quellenveröffentlichung, sondern als Dar- 
stellung angesehen haben will. Naturgemäß erhebt sich freilich als- 
dann die weitere Frage, ob eine Darstellung wieder bis zu dem Grade, 
wie es schließlich doch geschehen ist, den Eigentümlichkeiten der 
Registereinträge Rechnung tragen und die Gesichtspunkte, unter denen 
sie von den Zeitgenossen gebucht worden sind, im wesentlichen bei- 
behalten darf. Das Dilemma, in dem er steckt, hat der Verf. auch 
selber offenbar gefühlt. Das bezeugte mir nicht allein der Inhalt 
seiner Ausführungen auf S. 419 bis 422, sondern vor allem der Umstand, 
daß er seiner „Darstellung“ noch in einem 6. Teil eine historische Dar- 
stellung in der Weise, wie wir sonst den Begriff zu fassen gewohnt 
sind, angegliedert hat. Mißlich bleibt nach alledem, daß Darstellung 
und Quellenstoff miteinander verquickt sind, daß im allgemeinen bei 
dem Buche weder die heute anerkannten Grundsätze über die Edition 
von Geschichtsquellen noch — abgesehen vom 6. Teil — die Anforde- 
rungen, die wir an eine geschichtliche Darstellung zu stellen gewohnt 
sind, gebührende Berücksichtigung gefunden haben. 

Derartige prinzipielle Bedenken mehr methodologischer Art können 
aber keineswegs die Befriedigung beeinträchtigen, die der Wirtschafts- 
historiker beim Anblick des reichhaltiren und umfassenden Materials 
empfinden muß, das ihm hier zur Erkenntnis einer mittelalterlichen 
deutschen Stadtverwaltung geboten wird. Und seine Befriedigung wird 
noch dadurch gesteigert, daß zum Schluß auch die weitere Entwickelung 
des Stadthanshaltes bis zum Jahre 1794 in die eigentliche Darstellung 
einbezogen worden ist. Je schmerzlicher die Wirtschaftsgeschichte es 
noch immer beklagen muß, daß die wirtschaftliche Gestaltung des 17. 
und 18. Jahrhunderts und die Entstehungszeiten der modernen Industrie, 
des modernen Unternehmertums und der modernen Kommunalverwaltung 
noch nahezu von der Forschung unangebaut daliegen, um so aufrichtigere 
Freude weckt jeder Spatenstich eines wackeren Arbeiters. 


Halle a. S. Theo Sommerlad. 


Ankenbrand, Andreas (Bauamtsassessor), Wege zur Wirtschaftsunion Deutsch- 
land-Oesterreich-Ungarn. Mit 1 Kartenskizze. Berlin-Grunewald, A. Troschel, 1907. 
gr. 8. 30 SS. M. 1,25. (Verbands-Schriften des deutsch-österreichisch-ungarischen Ver- 
bandes für Binnenschiffahrt. N. F. Nr. 37.) 

Dove, K. (Prof.), Die angelsächsischen Riesenreiche. Eine wirtschaftsgeographische 
Intersuchung. II. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Jena, Hermann Costenoble, 
1907. gr. 8. 65 SS. M. 2,50. 

Nikel, Johannes (Prof.), Allgemeine Kulturgeschichte. Im Grundriß dargestellt. 
2., völlig umgearb. Aufl. Paderborn, F. Schöningh, 1907. gr. 8. XVI—622 ss. 
M. 5,50. (Wissenschaftliche Handbibliothek. III. Reihe. IT.) d 

Riezler, Sigmund, Studien zur ältesten Geschichte Münchens. Zugleich ein 
Beitrag zur Geschichte des deutschen Zollrechts. München (G. Franz) 1906. Lex.:8. 
S. 281—343. M. 1,50. (Aus: Abhandlungen der bayerischen Akademie der Wissen- 
schaften.) 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 415 


Schrader, Th., Die Rechnungsbücher der hamburgischen Gesandten in Avignon 
1338 bis 1355. Herausgeg. vom Verein für hamburgische Geschichte. Hamburg, 
L. Voss, 1907. gr. 8. VIII—111—156 SS. mit 3 Tafeln. M. 6.—. 

Wackernagel, Rudolf, Geschichte der Stadt Basel. 1. Bd. Basel, Helbing 
& Lichtenhahn, 1907. gr. 8. XV—646 SS. mit 1 Plan. M. 14,40. 

Weiss, F. G. Ad., Wie Breslau wurde. Breslau, L. Freund (1907). gr. 8. XII 
—257 SS. mit Abbildungen und 1 Bildnis. M. 4,50. 

Wild, Karl, Staat und Wirtschaft in den Bistümern Würzburg und Bamberg. 
Eine Untersuchung über die organisatorische Tätigkeit des Bischofs Friedrich Karl von 
Schönborn 1729—1746. Heidelberg, Carl Winter, 1906. gr. 8. X—216 SS. M. 5,60. 
(Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte. Heft 15.) 


La Mazelière, Marquis de, Le Japon, histoire et civilisation. 3 vol. Paris, 
Plon, 1907. 12. fr. 12.—. 

Heart, The, of the Empire. Diseussions of problems of modern eity life in Eng- 
land. With an Essay on Imperialism. 2°“ edition, 3"! impression. London, T. Fisher 
Unwin, 1907. 8. 442 pp. 3/.6. 

Barbagallo, Corrado, Contributo alla storia economica dell’ antichità. Roma 
1906. 8. VIII —87 pp. 1. 3.—. 


3. Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik. Auswanderung 

und Kolonisation. 

Wismüller, Franz X., Die bayerische Moorkolonie Großkaro- 
linenfeld. Im Auftrage des Kgl. Bayerischen Staatsministeriums des Innern. 
Mit einer Karte und einer Ansicht von Großkarolinenfeld. Stuttgart 
und Berlin (J. G. Cottasche Buchhandlung Nachfolger) 1906. XVI und 
670 SS. 

Die vorliegende Schrift stellt das Resultat von Untersuchungen 
dar, welche der Verfasser im behördlichen Auftrage über die Kolonie 
Großkarolinenfeld bei Rosenheim in Oberbayern angestellt hat. Es han- 
delte sich dabei für das Königl. Bayerische Ministerium einmal um die 
praktische Frage, welche Aussichten diese Kolonie für die Zukunft in 
betreff der Sicherheit ihrer Existenz hat und ob für die Ansiedler da- 
selbst wirtschaftliche Gefahren irgendwelcher Art bestehen. Sodann 
soll die Untersuchung zugleich ein historisch begründetes Bild von der 
Entwickelung einer derartigen Kolonie überhaupt liefern, wobei gerade 
die vorliegende sich insofern eignet, als sie nunmehr auf ein Dasein 
von rund 100 Jahren zurückblicken kann. Die Erfahrungen, die man 
hierbei gemacht hat, sind in vielfacher Beziehung in der neueren Zeit 
außerordentlich wichtig, da die Frage der Besiedelung unkultivierter 
und wüster Gebiete, besonders von Moorflächen, in Deutschland an ver- 
schiedenen Stellen in Betracht kommt. Bei derartigen Besiedelungen 
von Moorgebieten hat man in den verschiedensten Teilen Deutschlands, 
sowohl in Ostfriesland, als auch in Ostpreußen, wie auch anderwärts 
in Bayern, vielfache Schwierigkeiten gehabt, so daß man diese Aufgabe 
noch als eine der schwierigsten im Ansiedelungswesen ansehen muß, 
im Gegensatz zu Holland, wo die Moorkolonien von Anfang an gut 
gediehen. 

In der vorliegenden Schrift führt der Verfasser zunächst die Ge- 
schichte der Kolonie Großkarolinenfeld von 1802 an sehr eingehend 
aus, wobei er sich überall auf amtliche Unterlagen und zum Teil auf 
eigene Nachforschungen am Orte stützt. Sodann behandelt er den heutigen 
Zustand der Kolonie mit Rückblicken auf frühere Verhältnisse, sowie 


416 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslande. 


auch die Aussichten für die Zukunft. Auch hierbei liefert er ganz 
außerordentlich gründliche Belege durch die verschiedensten statisti- 
schen Zusammenstellungen über die wirtschaftlichen Verhältnisse da- 
selbst, so daß hier das aktenmälig zuverlässige Material einer hundert- 
jährigen Entwickelung bis zur größten Einzelheit vorliegt. 

Wenn man nach dem Studium des vorliegenden Buches die Frage 
stellt, was daraus für die Ansiedelungstrage unter schwierigen Kultur- 
verhältnissen, wie es auf Torfmooren der Fall ist, lernen kann, so findet 
man eine ganze Anzahl wichtiger Punkte, die man auch fast ohne Aus- 
nahme überall anderwärts bei ähnlichen Versuchen konstatieren kanı. 
Dazu gehört vor allem beim Anfang, daß zur Ansiedelung unter schwierigen 
Wirtschaftsverhältnissen der Besitz eines genügenden Reservekapitals für 
jeden Ansiedler die unerläßliche Bedingung ist, wenn nicht sofort die grölten 
Gefahren und der Keim zu unauthörlichen Schwierigkeiten gelegt werde 
soll. Es wird bekanntlich jetzt mit Recht auch bei der Ansiedelungs 
frase in überseeischen Gebieten, z. B. Brasilien, immer wieder darauf 
aufmerksam gemacht, daß diese Bedingung erfüllt sein muß. Hier in 
Großkarolinenfeld sehen wir aus der Geschichte der Kolonie, daß zum 
Teil mittellose Ansiedler zugelassen wurden, unter Verhältnissen, in 
denen, zunächst zum mindesten, für einige Jahre auf keinen Ertrag zu 
rechnen war, Die Folge war, daß wenn die unter Biliigung des Staates 
herangezogenen Kolonisten nicht dem vollständigen Ruin überantwortet 
werden sollten, der Staat unaufhörlich mit Unterstützungen ihre Esi- 
stenz ermöglichen mufte. Das Verhängnisvolle ist, daß, wenn nicht 
anderweitige bessere Bedingungen eintreten, die Notwendigkeit der staat- 
lichen Unterstützung in solchen Fällen zum chronischen Uebel wird. 
Die Kolonie begann erst wirtschaftlich existenzfähig zu werden, als 
etwa 1830 die Benutzbarkeit des Torfes zu Brennzwecken „entdeckt“ 
wurde. Als der Absatz dieses Brennmaterials sich dann immer weiter 
ausdehnte, und als besonders 1857 nach Erbauung der Eisenbahn diese 
den Hauptabnehmer bildete, war der Grundwert der Kolonie sofort be- 
trächtlich gesteigert und die Existeuz der Kolonisten gesichert. Wir 
sehen hier dieselbe Ursache für die Sicherung der Verhältnisse, wie sie 
in den holländischen Kolonien von Anfang an vorhanden war. Wir 
sehen andererseits hier einen Beweis dafür, daß in den norddeutschen 
Torfmooren von Ostfriesland, wie auch von Ostpreußen das mangelhatte 
Vorwärtskommen daselbst mit Recht durch die Schwierigkeit erklärt 
wird, den Torf in genügender Weise als Brennmaterial verkaufen zu 
können. Dadurch, daß, speziell an der Nordseeküste, durch die bequeme 
Zufuhr und Billigkeit der englischen Steinkohle der Torf als Brenn- 
material nur mangelhaft konkurrenzfähig ist, ist dort eine Blüte der 
Moorkolonien außerordentlich erschwert. 

Die Ausbeute des Torfs zu Brennzwecken ist nun aber eine Art 
der Bodennutzung, die nicht wie die landwirtschaftliche unerschöpflich 
ist, sondern früher oder später mit dem Ende rechnen muß. Für diese 
spätere Zeit bieten in der neueren Zeit die Hilfsmittel der landwirt 
schaftlichen Moorkultur die Möglichkeit, die Flächen ergiebig auszu- 
nutzen, wozu allerdings nicht geringe Anlagekapitalien notwendig sind. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.. 417 


Nachdem man in der Kolonie Großkarolinenfeld in der neueren Zeit zu 
dieser Art der Bodenbenutzung nach der allmählich weitergehenden 
Ausbeutung des Brenntorfes übergegangen ist, hat sich nun eine andere 
Forderung dort ergeben, welche ebentalls fast überall anderwärts bei 
landwirtschaftlichen Ansiedelungen sich gezeigt hat. Es ist das die, daß 
die Ansiedler eine genügende Landfläche zur Verfügung haben müssen. 
‚In dieser Beziehung ist ebenfalls fast überall, besonders in den deut- 
schen Moorkolonien, gefehlt worden. Der Verfasser stellt in der vor- 
liegenden Schrift fest, daß auf Torfmoor eine Fläche von 5 Hektar das 
Mindeste darstellt, was zu einem lebensfähigen landwirtschaftlichen 
Betriebe erforderlich ist. Die kleineren Ansiedler, die sich auch in der 
oberbayerischen Kolonie in der Mehrzahl befinden, bezeichnet er als 
wirtschaftlich nicht selbständig lebensfähig, sondern als ständig ange- 
wiesen auf irgendwelche außerhalb liegenden Beschäftigungen, worunter 
die eigentliche Kolonisation und Hebung der Bodenkultur jedoch leidet. 
Man sieht also, daß aus der Geschichte, wie auch aus der Untersuchung 
der wirtschaftlichen Verhältnisse einer solchen Kolonie mit langjährigen 
Erfahrungen für die Ansiedelungstrage viel Brauchbares zu lernen ist. 
In dieser Beziehung hat die vorliegende Schrift nicht nur für die baye- 
rische Verwaltung, sondern auch allgemein für das Kolonisationswesen 
eine Bedeutung. 


Halle a. S. P. Holdefleiss. 


Dernburg, Bernhard, Koloniale Erziebung. Vortrag. München, Münchener 
Neueste Nachrichten, 1907. 8. 16 SS. M. 0,20. 

Dernburg, Bernhard (Wirkl. Geh. R.), Koloniale Finanzprobleme. Vortrag. 
Berlin, E. S. Mittler & Sohn, 1907. 8. 24 SS. M. 0,25. 

Dernburg, Bernhard (Wirkl. Geh. R.), Koloniale Lehrjahre. Vortrag. 1.—10. 
Tausend. Stuttgart, Union (1907). 16 SS. gr. 8. M. 0,20. 

Hennig, O. (Missions-Dir.), Deutschlands Anteil an der Erziehung Afrikas. Vor- 
trag. Leipzig, F. Jansa, 1907. kl. 8. 31 SS. M. 0,20. 

Knappe (Geh. Legations-R.), Deutsche Kulturbestrebungen in China. Vortrag. 
Berlin, H. Paetel, 1906. gr. 8. 28 SS. M. 0,80. (Schriften der deutsch-asiatischen Ge- 
sellschaft. Heft 3.) 

Lecky, W. E., Das britische Kolonialreich. Uebersetzt von J. Imelmann. Mit 
einer Nachschrift von Hans Delbrück. Berlin, G. Stilke, 1906. 8. 31 SS. M. 0,50. 

Mannes, Wilhelm, Von Lassalle bis Dernburg. Eine kolonial-soziale Betrach- 
tung. Braunschweig, Karl Pfankuch (1907). 8. 22 SS. M. 0,60. 

Mayr, Georg v. (Prof.), Die Bevölkerung Britisch-Indiens nach dem Zensus von 
1901. Mit farbigen Diagrammen. Halle, Gebauer-Schwetschke, 1907. gr. 8. 22 SS. 
M. 0,60. (Der Orient. Heft 5.) 

Südwestafrika deutsch oder britisch? Eine Streitschrift von einem alten Afri- 
kaner. Leipzig, Dieterich, 1907. 8. M. 0,75. 

Wagner, Casimir (Oberlandesgerichts-R.), Die Wehrsiedler oder der neue Reichs- 
tag und die militärische Kolonisation Deutsch-Südwestafrikas durch Offiziere, Unter- 
offiziere und Mannschaften der Armee und Marine. Stuttgart, F. Lehmann, 1907. 8. 
102 SS. M. 1,20. 

Werther, C. W. (Hauptmann a. D.), Eine Reichs-Ansiedelungszentrale. Berlin, 
H. Paetel, 1906. 8. 38 SS. M. 0,60. 


Cordier, Les compagnies à charte et la politique coloniale sous le ministère de 
Colbert. Paris, A. Rousseau, 1907. 8. fr. 6.—. 

Gourdin, André, La politique française au Maroc. Paris, A. Rousseau, 1907. 
8. fr. 6.—. 


Dritte Folge Bd, XXXII (LXXXVIII). 27 


418 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Doyle, J. A., The colonies under the House of Hanover. London, Longmans, 
Green, and Co., 1907. 8. XVI—629 pp. 14/.—. 

Doyle, J. A., The middle colonies. London, Longmans, Green, and Co., 1907. 
8. XVI—563 pp. 14/.—. 

Stirling, John (Captain), The colonials in South Africa 1899—1902, their 
record, based on the despatches. Edinburgh and London, William Blackwood and Sons, 
1907. 8. XII—497 pp. 10/. —. 


4. Bergbau. Land- und Forstwirtschaft. Fischereiwesen. 


Aigner, August (Öberberg-R. i. P.), Die Mineralschätze der Steiermark. Wien, 
Spielhagen & Schurich, 1907. Lex.-8. VIII— 291 SS. M. 7.—. 


Appel, Otto (Regierungs-R.), und Gustav Gassner, Der derzeitige Stand. 


unserer Kenntnisse von den Flugbrandarten des Getreides und ein neuer Apparat zur 
einfachen Durchführung der Heißwasserbehandlung des Saatgutes. Mit 8 Textabbildungen. 
Berlin, P. Parey—J. Springer, 1907. Lex.-8. 20 SS. M. 0,40. (Mitteilungen aus der 
Kaiserlichen Biologischen Anstalt für Land- und Forstwirtschaft. Heft 3.) 

Borchardt, A. (landw. Sachverständiger), Aus dem Kaukasus. II. Teil. Berlin 
(P. Parey) 1907. Lex.-8. III—57 SS. M. 1,50. (Berichte über Land- und Forstwirt- 
schaft im Auslande. Mitgeteilt vom Auswärtigen Amte. 14.) 

Erdmann, F., Die nordwestdeutsche Heide in forstlicher Beziehung. Berlin, 
J. Springer, 1907. 8. M. 1,60. 

Jüptner, H. v. (Prof.), Beiträge zur Theorie der Eisenhüttenprozesse. Ein Ver- 
such zur Einführung der physikalisch-chemischen Anschauungen in die Technik. Stutt- 
gart, F. Enke, 1907. Lex.-8. 48 SS. mit 6 Abbildungen. M. 1,20. (Aus: Sammlung 
chemischer und chemisch-technischer Vorträge.) 

Karo, Herbert, Sozialismus und Landwirtschaft. Kurzgefaßte Abhandlung unter 
Zugrundelegung des gleichnamigen Werkes von Dr. Eduard David. Zürich (Rascher & Co.) 
1906. kl. 8. 63 SS. M. 0.50. 

Krische, Paul, Nährstoffausfuhr und rationelle Düngung. Eine zeitgemäße Be- 
trachtung für die lJandwirtschaftliche Praxis. Berlin, P. Parey, 1907. gr. 8. VII—100 S8. 
M. 1,60. 

Linekh, G. (Tierzuchtinsp.), Die Fütterung der landwirtschaftlichen Nutztiere. 
Auf Grund der neuesten Forschungsergebnisse und praktischen Erfahrung in gemeinver- 
ständlicher Form bearbeitet. Stuttgart, E. Ulmer, 1907. gr. 8. XIlI—301 SS. M. 2,50. 

Müller, H., Der Georgs-Marien-Bergwerks- und Hütten-Verein. 2. Bd. Osnabrück 
(Rackhorst) 1906. Lex.-8. 176 SS. mit 6 Tafeln. M. 8,50. 

Rau, Gustav, Die Not der deutschen Pferdezucht. Stuttgart, Schickhardt & Ebner, 
1907. 8. M. 5.—. 

Sohnle, H. (Prof.), Hippologische, veterinärmedizinische und biologische Beiträge 
zur Pferdezucht mit besonderer Berücksichtigung der einschlägigen württembergischen 
Verhältnisse. Stuttgart, E. Ulmer, 1907. gr. 8. 105 SS. M. 2.—. 

Wimmenauer, Karl (Geh. Forst-R.), Grundriß der Holzmeßkunde. Frank- 
furt a. M., J. D. Sauerländer, 1907. gr. 8. 49 SS. M. 1.—. 


Degoutin, N., Étude pratique des minerais auriferes principalement dans les 
colonies et pays isolés. Paris, Beranger, 1907. 8. fr. 10.—. 

Tonge, James, The prineiples and practice of coal mining. London, Macmillan, 
1907. 8. 372 pp. 5/.—. 

Jemina, Augusto (prof.), Corso d’agraria. Vol. II (Piante erbacee). Seconda 
edizione. Roma-Torino, Società tip. ed. nazionale, 1907. 8. 454 pp. 1. 5.—. (Biblioteca 
agraria, V.) A 

Longhi, Giovanni, Contabilità agraria. Nuova edizione modificata e accresciuta 
dall’ autore. Milano 1906. 16. 220 pp. 1. 2,50. . 

Niccoli, V., Prontnario dell’ agricoltore e dell’ ingegnere rurale. 4* edizione 
riveduta ed ampliata. Milano, U. Hoepli, 1907. 16. XL—566 pp. 1. 6.—. (Manuali 
Hoepli.) 


5. Gewerbe und Industrie. 


Bittmann, Karl (Ober-Reg.-R.), Hausindustrie und Heimarbeit im Großherzogtum 
Baden zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Karlsruhe (Macklot) 1907. Lex.-8. IV—X— 
1207 SS. M. 10.—. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 419 


Brentano, Lujo, Der Unternehmer. Vortrag. Berlin, Leonhard Simion Nfi., 
1907. gr. 8. 30 SS. M. 1.—. (Volkswirtschaftliche Zeitfragen. Jahrg. 29, Heft 1.) 

Emele, Jul., Die Geschichte des Gewerbevereins Karlsruhe e. V., als Festschrift 
zu der am Sonntag, den 13. Januar 1907, stattfindenden Jubel-Feier des 75-jährigen Be- 
stehens.. Karlsruhe, F. Gutsch (1907). 8. VIII—201 SS. M. 2,50. 

Gisi, Max, Einigungsamt und Schiedsgericht zur Lösung von Kollektivkonflikten 
zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Im amtlichen Auftrag zusammengestellt. 
Basel, Helbing & Lichtenhahn, 1907. gr. 8. IV—215 SS. M. 3,20. 

Haberstroh, H. (Bauingenieur), (Reg.-Baumeister) E. Görts, (Stadtbau-R.) 
E. Weidlich und (Reg.-R.) R. Stegemann, Anlage von Fabriken. Mit 274 Ab- 
bildungen und Plänen im Text und 6 Tafeln. Leipzig, B. G. Teubner, 1907, gr. 8. 
XIII—528 SS. M. 12.—. (Teubners Handbücher für Handel und Gewerbe.) 

Jeidels, Otto, Die Methoden der Arbeiterentlöhnung in der rheinisch-west- 
fälischen Eisenindustrie. Berlin, Leonhard Simion Nf., 1907. 8. M. 9.—. 

Keller, Rudolf (Redakteur), Die Industrieförderung in Ungarn. Studien über 
die Entwickelung und die Ergebnisse der Industrieförderung in Ungarn. Prag, J. G. 
Calve, 1906. gr. 8. IV—130 SS. M. 5.—. 

Merckel, Curt (Bau-R.), Schöpfungen der Ingenieurtechnik der Neuzeit. Mit 
55 Abbildungen im Text und auf Tafeln. 2. Aufl. Leipzig, B. G. Teubner, 1907. 8. 
IV—143 SS. M. 1.—. (Aus Natur und Geisteswelt. 28.) 

Methoden des gewerblichen Einigungswesens. Verhandlungen der 3. General- 
versammlung der Gesellschaft für Soziale Reform am 3. und 4. Dezember in Berlin. 
Jena, Gustav Fischer, 1907. 8. 240 SS. M. 1,50. (Schriften der Gesellschaft für Soziale 
Reform. Bd. II. Heft 11 u. 12.) 

Rosenhaupt, Karl, Die Nürnberg-Fürther Metallspielwarenindustrie in ge- 
schichtlicher und sozialpolitischer Beleuchtung. Stuttgart, J. G. Cotta Nachf., 1907. 8. 
X—219 SS. M. 4,80. (Münchener volkswirtschaftliche Studien. Stück 82.) 


Louis, Paul, Histoire du mouvement syndical en France 1789—1906. Paris, 
Felix Alean, 1907. 8. IV—282 pag. fr. 3,50. 

Noël, Maurice, La limitation des heures de travail. Étude sociale. Algers, 
imprimerie A. Burdin et C", 1907. 8. XI—452 pag. fr. 6.—. 

Clark, Victor 8., The labour movement in Australasia. A study in social- 
democracy. London, Archibald Constable & Co., 1907. 8. X--327 pp. 6/.—. 

Hiscox, Gardner D., Modern steam engineering in theory and practice. London, 
Lockwood, 1907. 8. 488 pp. 12/.6. 


6. Handel und Verkehr. 


Berichte über Handel und Industrie. Zusammengestellt im Reiehsamt des Innern. 
Bd. 10, Heft 1: Volkswirtschaft Finlands. Berlin, Carl Heymanns Verlag, 1907. gr. 8. 
110 SS. Pro Bd. M. 10.—. 

Eröffnung, Die, der Handelshochschule Berlin am 27. Oktober 1906. Steno- 
graphische Berichte über die gehaltenen Ansprachen. Herausgeg. von der Korporation 
der Kaufmannschaft von Berlin. Berlin, G. Reimer, 1906. Lex.-8. 37 SS. M. 0,60. 

Gehrke, Franz, Die neuere Entwickelung des Petroleumhandels in Deutschland. 
Tübingen, H. Laupp, 1906. 8. VII—121 SS. M. 3.—. (Zeitschrift für die gesamte 
Staatswissenschaft. Ergünzungsheft XX.) 

Lignitz, v. (General d. Inf. z. D.), Deutschlands Interessen in Ostasien und die 
Gelbe Gefahr. Mit einem Titelbilde und einer Karten-Anlage. Berlin, Vossische Buch- 
handlung, 1907. gr. 8. XI—164 SS. M. 4,50. 

Loewe, Heinrich, Lexikon der Handelskorrespondenz Deutsch— Euglisch—Fran- 
zösisch. Unter Mitwirkung von Harry Alcock und C. Charmillot herausgeg. 7. Aufl. 
Berlin, M. Regenhardt, 1907. 8. 1V—571 SS. M. 7,50. 

Moltke, Siegfried (Handelsk.-Bibliothekar), Leipzigs Handelskorporationen. 
Herausgeg. von der Handelskammer zu Leipzig. Leipzig (A. Twietmeyer) 1907. gr. 8. 
VIII— 249 SS. mit 1 Abbildung und 8 Tafeln. M. 10.—. 

Neubaur, Paul, Der Norddeutsche Lloyd. 3 Bde. Leipzig, F. W. Grunow, 
1907. 4. M. 50.—. 

Schwartz, Heinrich Ernst, Wie führe ich ein Detail-Geschäft? Anregungen 


278 


420 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


und Winke für den praktischen Kaufmann. Wien, Verlag der Neuen Bibliothek, 1906. 
8. 57 SS. M. 1,80. (Neue Bibliothek. Nr. 2.) 

Teubert (Öber- und Geheimer Bau-R. a. D.), Der zukünftige Binnenschiffahrts- 
betrieb auf den durchgehenden Hauptwasserstraßen der Verbandsländer. Mit 1 Ab- 
bildung im Text. Berlin-Grunewald, A. Troschel, 1906. gr. 8. 32 SS. M. 1.—. (Ver- 
bands-Schriften des deutsch-österreichisch-ungarischen Verbandes für Binnenschiffahrt. 
N. F. Nr. 36.) 


Wickersheimer, E., À propos du rachat du chemin de fer de l’Ouest. In- 
dustries d’ftat—Administrations privées. Paris, H. Dunod et E. Pinat, 1906. 8. 39 pag. 
fr. 2.— 

Flora, Federico, La politica delle tariffe ferroviarie. Catania 1906. 4. 120 pp. 
l. 3.—. 


7. Finanzwesen. 


Renauld, Joseph Ritter von (Oberst a. D.), Finanzen und Branntweinbesteue- 
rung des Deutschen Reichs in ihren Grundzügen. Mit 4 Tabellen. München, L. Schnitz- 
ler & Co., 1907. 8. 76 SS. M. 2.—. 

Toussaint, A., Richtige Steuern-Einschätzung und Reklamation nach den neuesten 
gesetzlichen Bestimmungen. 12. Aufl. Braunschweig, F. Euler, 1907. 8. 111 SS. 
M. 1.—. 


Guyot, Pierre, Traité formulaire de procédure en matière d'enregistrement. 
Paris, Marchal et Billard, 1907. 8. fr. 6.—. 


8. Geld-, Bank-, Kredit- und Versicherungswesen. 

Hauser, R., Die Deutschen Ueberseebanken. (Abhandlungen des 
staatswissenschaftlichen Seminars zu Jena, herausgegeben von Prof. Dr. 
Pierstorff. 3. Band, Heft 4.) Jena (Gustav Fischer) 1906. 96 SS. 

Die Errichtung der deutschen Ueberseebanken kann hauptsächlich 
auf zwei Faktoren zurückgeführt werden. Nachdem sich Deutschland 
in immer höherem Maße zum Industriestaat entwickelt hatte, Einfuhr 
und Ausfuhr sich wesentlich gehoben und die geschäftlichen Beziehungen 
zum Auslande eine immer größere Bedeutung erlangt haben, ergab sich 
die Notwendigkeit, den deutschen Kaufleuten und Fabrikanten in ver- 
schiedenen überseeischen Ländern, die für den Güteraustausch okku- 
pationsreif waren oder hierfür geeignet erschienen, einen direkten finan- 
ziellen Schutz und Anhalt zu verschaffen. Hierzu kam die Konzentration 
des deutschen Bankwesens. Wie in der Praxis scharf erkannt und 
vielfach bereits auch in der bankwissenschaftlichen Literatur hervor- 
gehoben ist, hat dieselbe für das Inland ihren eigentlichen Abschluß 
bereits gefunden. Die großen Berliner Effektenbanken sind Monopol- 
kompagnien geworden, die die hervorragendsten Privatbankhäuser auf- 
gesaugt und fast alle banktechnischen Aktiv- und Passivtransaktionen 
übernommen haben und mit Erfolg durchführen. Neue Gebiete sind 
hier schwer zu erobern. Der Betätigungsdrang jener Institute ist natur- 
gemäß angewiesen, Erweiterungssphären aufzusuchen und hierfür auch 
das Ausland in höherem Maße wie bisher für die eigenen Geschäfts- 
und Erwerbsinteressen nutzbar zu machen. So entstanden vielfach 
Ueberseebanken. Sie lehnen sich fast durchweg an die großen Berliner 
Effektenbanken an und sind durchschnittlich als deren direkte oder 
indirekte Zweigniederlassungen im Ausland zu bezeichnen. Ihre Er- 
richtung ist in mannigfacher Beziehung reizvoll. Sie gewähren die 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.. 4921 


Möglichkeit einer hohen Verzinsung des Anlagekapitals, und über- 
seeische Geschäftsbeziehungen, die auch indirekte Vorteile bieten, können 
durch sie zu Gunsten der Mutterinstitute leicht eingeleitet werden. 
Hierdurch wird deren Beteiligung an vielen öffentlichen Kreditopera- 
tionen des Auslandes herbeigeführt und ihr nationaler und internationaler 
Einfluß sowie ihre gesamte Machtstellung gehoben. 

Die vorliegende Schrift macht dasjenige, was in der Vergangenheit 
bisher geleistet worden ist, zum Gegenstand der Erörterung. Die 
Deutsche Ueberseeische Bank, die Deutsch-Asiatische Bank, die Brasi- 
lianische Bank für Deutschland, die Bank für Chile und Deutschland, 
die Deutsch-Ostafrikanische Bank, die Deutsch-Westafrikanische Bank 
sind in den einzelnen Phasen ihrer Entwickelung geschildert und die 
wichtigsten Bilanzposten, z. B. Aktienkapital, Reserven, Accepte, Depo- 
siten, Dividendensätze u. s. w. teilweise aufgeführt. 

Die Gesamtresultate, die das deutsche Bankwesen auf diesem immer- 
hin sehr spröden Gebiete bisher erzielt hat, sind in finanzieller und 
volkswirtschaftlicher Beziehung durchaus nicht zu unterschätzen. Wenn 
auch die Deutsch-Westafrikanische Bank bei dem gegenwärtigen Ent- 
wickelungsstand des Schutzgebietes für Jahre hinaus erhebliche Er- 
trägnisse nicht zu erzielen in der Lage sein dürfte, so haben doch die 
anderen Banken vielfach den Erwartungen ihrer Errichtung entsprochen. 
Die Deutsche Ueberseeische Bank hat schrittweise vordringend fast das 
gesamte spanische Sprachgebiet in ihre Interessensphäre gezogen und 
dem deutschen Handel in Südamerika bereits die wertvollsten Dienste 
geleistet. Die Deutsch-Asiatische Bank ist als führendes Finanz- 
institut im fernen Osten aufgetreten, und die geschäftlichen Resultate, 
die sie bisher erzielte, sind um so anerkennenswerter und bedeutungs- 
voller, als sie in noch höherem Male wie die übrigen Uebersee- 
banken mit der ausländischen, namentlich englischen Konkurrenz 
zu kämpfen hat. Die Brasilianische Bank für Deutschland ist stets 
bestrebt gewesen, unter Wahrung solider Geschäftsgrundsätze der 
deutschen Kaufmannschaft jene Vorteile zu sichern, welcher sich die 
englische Handelswelt durch nationale Bankverbindungen seit langen 
Jahren erfreut; sie hat es verstanden, sich unter Beobachtung einer 
vorsichtigen Finanzpolitik zu einem der ersten fremdländischen Bank- 
institute in Brasilien emporzuschwingen. Die Bank für Chile und 
Deutschland endlich vermochte zwar in den ersten Jahren ihres Be- 
stehens nur geringfügige Resultate zu erzielen, aber allmählich ist es 
auch ihr gelungen, zur Förderung der deutschen Handelsinteressen im 
Auslande wesentlich beizutragen. So möge den deutschen Uebersee- 
banken auch ferner ein reiches Betätigungsgebiet zum Nutzen der 
Nation und im Interesse ihrer Aktionäre beschieden sein! 

Der Aufbau der Hauserschen Schrift ist gut und logisch. Einzelne 
Geschäftstransaktionen, wie der für den überseeischen Handel so wichtige 
Konossementverkehr sind, wenn auch für den Laien nicht genügend an- 
schaulich, so doch richtig und treffend geschildert. Die Statuten und 
Geschäftsberichte der in Betracht zu ziehenden Banken hat der Ver- 
fasser voll, vielleicht fast zu wörtlich benutzt. Teilweise werden jedoch 


422 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 


hierdurch auch interessante Beiträge zur internationalen Wirtschafts- 
geschichte geliefert. So kann die vorliegende Studie als eine recht lesens- 
und empfehlenswerte bezeichnet werden. 


Berlin. Otto Warschauer. 


Archiv für Arbeiterversicherung. Herausgeg. von A. Wengler. 1. Jahrg. 1907, 
12 Hefte. Leipzig, Fischer & Kürsten. 8. M. 10.—. 

Dilloo, Wilhelm, Pensionseinrichtungen für Privatbeamte. Berlin, Carl Hey- 
manns Verl., 1907. 8. M. 4.—. 

Grober, J. (Prof.), Einführung in die Versicherungsmedizin. Vorlesungen für 
Studierende und Aerzte. Jena, Gustav Fischer, 1907. gr. 8. VII—187 SS. M. 3,60. 

Hannemann, Adolf und Franz Hannemann, Die Schulsparkasse in 
Friedenau. Berlin, Carl Heymanns Verl., 1907. 8. M. 1.—. 

Hanow, Hugo (Senats-Vorsitzender), Erläuterungen zu den Satzungen der In- 
validen-, Witwen- und Waisenversicherungskasse der See-Berufsgenossenschaft. Unter 
Benutzung amtlicher Quellen. Berlin, Behrend & Co., 1907. 8. VI—236 SS. M.4.—. 

Heintze, Carl, Staatskredit. Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht, 1907. 8. 
136 SS. M. 3.—. 

Knebel Doeberitz, Hugo v. (vortr. Rat im Minist. des Innern), Das Spar- 
kassenwesen in Preußen. Berlin, Ernst Siegfried Mittler und Sohn, 1907. gr. 8. XI 
—228 SS. M. 4.—. 

Vierteljahrsrundschau über das Versicherungswesen. Herausgeg. vom 
deutschen Haftpflicht- und Versicherungs-Schutzverband. Schriftleitung: (Handelshoch- 
sch.-Dozent) Paul Moldenhauer. 1. Jahrg. 1907. 4 Hefte. (1. Heft 36 SS.) Berlin, 
F. Siemenroth. gr. 8. M. 4.—. 

Wittstock, Otto Max, Die Londoner Fondsbörse. Berlin, C. A. Schwetschke 
& Sohn, 1907. 8. M. 2,50. 


Guénard, Albert, Comment on doit gérer son capital et le faire fructifier. 
Finance pratique. 3* édition. Paris, A. Méricant, 1907. 8. fr. 0,95. 


9. Soziale Frage. 

Roscher, System der Armenpflege und Armenpolitik. 3. Auflage, 
ergänzt von Christian J. Klumker, 1906. 

Schriften des deutschen Vereins für Armenpflege 
und Wohltätigkeit, Heft 70/71, 1904/1905. 

Roschers bewährtes Werk hat in der neuen Auflage einige schätzens- 
werte Ergänzungen erhalten, so über die Fortbildung des Elberfelder 
Systems, über Kinderfürsorge u. s. f. Wenn man es aber überhaupt 
unternahm, das Buch auf den Standpunkt der Gegenwart zu bringen, 
mußte man meines Erachtens entschieden vollständiger verfahren. So 
werden wiederholentlich die älteren Ausführungen von Charles Booth 
herangezogen, ohne daß auf sein neueres Hauptwerk verwiesen wird. 
In diesem Zusammenhang hätte auch Rowntree (Poverty, a study of 
town life) erwähnt werden müssen. S. 61 stehen noch die alten An- 
gaben über die Peabody Buildings, aber ihre neuere Entwickelung, ihre 
Ergänzung durch die Rowton-Häuser und die kontinentale Entwickelung 
der Ledigenheime hommt nicht zu Worte. Daß neuere Pläne einer 
staatlichen Altersversicherung in England gescheitert sind (S. 343), 
ist milverständlich, sie sind bisher nur noch nicht ausgeführt. In $ 60 
vermissen wir den unbedingt nötigen Hinweis auf das Reichsgesetz 
über die privaten Versicherungsunternehmen von 1901. Auch eine 
Korrektur des ungebräuchlichen Zitates: „Conrads Staats wörter- 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 493 


buch“ (statt Handwörterbuch, wie es richtig, z. B. S. 193 steht) wäre 
zu empfehlen. 

Wir haben diese Einzelheiten herausgehoben, weil wir den prinzi- 
piellen Standpunkt zum Ausdruck bringen wollten, daß man ältere Werke 
entweder unverändert oder aber mit allen erforderlichen Ergänzungen 
herausgeben möge. Ein Mittelweg, der nur wichtigere Punkte ver- 
bessert, vermeintlich minder wichtige aber in einer heute nicht mehr 
brauchbaren Form stehen läßt, ist nicht zweckentsprechend. 

Aus den neueren Verötfentlichungen des Vereins für Armenpflege 
möchten wir die Hefte 70/71 warm empfehlen, die sich mit der Be- 
ratung Bedürftiger in Rechtsangelegenheiten und den Versammlungs- 
verhandlungen über dies Thema beschäftigen. Ihr Inhalt, zumal das 
ausgezeichnete Referat des Stadtrat von Frankenberg, verdient gerade 
gegenwärtig, wo mancherlei Veränderungen im Rechtsleben (z. B. im 
amtsgerichtlichen Verfahren) bevorstehen, weitgehende Beachtung. Es 
wäre zu wünschen, daß bei den künftigen Retormen die aufgestellten 
Grundsätze volle Berücksichtigung fänden. 


Halle a. S. Georg Brodnitz. 


Arbeitsnachweis, Der. Mitteilungen des Reichsverbandes der allgemeinen 
Arbeitsvermittelungsanstalten Oesterreichs. Herausgeg. von (Prof.) Ernst Mischler und 
(Bez.-Komm.) Rud. v. Fürer. Jahrg. 1, 1907, Heft 1. Troppau (O. Gollmann). gr. 8. 
53 SS. M. 1.—. 

Fink, J. W., Kann das Christentum das soziale Elend beseitigen? Tübingen, 
J. W. Fink, 1906. kl. 8. 40 SS. M. 0,30. 

Hyan, Hans, Schwere Jungen. Berlin, H. Seemann Nachf. (1906). gr. 8. 76 SS. 
M. 1.—. (Großstadt-Dokumente. 23.) 

Küster, Konrad, (Gesammelte Schriften. 1. Bd. Lösung der sozialen Frage 
durch Gesundung der wirtschaftlichen Verhältnisse. Berlin, J. Harrwitz Nachf., 1907. 
8. M. 1,50. 2 

Mahling, Frdr., Probleme der modernen Frauenfrage. Hamburg, Agentur des 
Rauhen Hauses, 1907. 8. M. 1.—. 

Ostwald, Hans, Das Berliner Dirnentum. 7. Bd. Schlupfwinkel der Prostitution. 
1. Tausend. Leipzig, W. Fiedler (1907). 8. 93 SS. M. 1,50. j 

Ragaz, L. (Pfarrer), Das Evangelium und der soziale Kampf der Gegenwart. 
Basel, C. F. Lendorff, 1906. gr. 8. VI—66 SS. M. 0,80. 

Rösler, Augustin (P.), Die Frauenfrage, vom Standpunkte der Natur, der Ge- 
schichte und der Offenbarung beantwortet. 2., gänzlich umgearb. Aufl. Freiburg i. Br., 
Herder, 1907. gr. 8. XIX—579 SS. M. 8.—. 

Schaukal, Richard, Die Mietwohnung. Eine Kulturfrage. Darmstadt, A. Koch, 
1907. 8. M. 1,20. 

Weis, Wilhelm, Die Gemarkungs-, Boden-, Bau- und Wohnungspolitik der 
Stadt Mannheim seit 1892. Karlsruhe, G. Braunsche Hofbuchdruckerei, 1907. gr. 8. 
1II—83 SS. M. 2.—. (Volkswirtschaftliche Abhandlungen der badischen Hochschulen. 
Bd. IX. Heft 2.) 


Paultre, Christian, De la répression de la mendicité et du vagabondage en 
France sous l’ancien régime. Paris, Larose et Tenin, 1907. 8. fr. 10.—. 

Manufacture, The, of paupers. A protest and a policy. With an introduction 
by J. H. Loe Strachey. London, John Murray, 1907. 8. 146 pp. 2/.6. 

Pratt, Edwin A., Licensing and temperance in Sweden, Norway, and Denmark. 
London, John Murray, 1907. 8. 128 pp. 2/.6. 

Rossi, Leonardo Emilio, Milano benefica e previdente: cenni storici e 
statistici sulle istituzione di beneficenza e di previdenza, Milano, tip. F. Marcolli, 1906. 
8. XII—594 pp. 1. 5.—. 


424 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


10. Gesetzgebung. 

Bernstein, Wilhelm (Justiz-R.), Die Reform des Wechselprotestes. Vortrag. 
Berlin, F. Vahlen, 1907. gr. 8. 36 SS. M. 0.80. (Veröffentlichungen des Berliner 
Anwalt-Vereins. Heft 22.) 

Freudenthal, Berthold (Prof.), Amerikanische Kriminalpolitik. Oeffentlicher 
Vortrag. Berlin, J. Guttentag, 1907. gr. 8. 23 SS. M. 0,60. 

Fuld, Ludwig (Rechtsanwalt), Gesetz, betreffend das Urheberrecht an Werken 
der bildenden Künste und der Photographie. Text-Ausg. mit Anmerkungen und Sach- 
register. Berlin, J. Guttentag, 1907. 16. 91 SS. M. 1.—. (Guttentags Sammlung 
deutscher Reichsgesetze. Nr. 81.) 

Georgi, Otto (Ober-Bürgermeister a. D.), Der sächsische Entwurf eines Wasser- 
gesetzes. Ein Beitrag zu seiner Beurteilung. Leipzig, Duncker & Humblot, 1907. gr. 8. 
IV—142 SS. M. 2,80. 

Guyer, E. (Rechtsanwalt), Das zukünftige schweizerische Patentrecht, unter Be 
rücksichtigung des Entwurfes zu einem neuen schweizerischen Bundesgesetze betreffend 
die Erfindungspatente dargestellt. Zürich, SchultheßB & Co., 1907. 8. 111 88. 
M. 1,40. 

Hüttner, Rud. (Ger.-Assessor a. D.), Das Handelsrecht. Kurzgefaßte Darstellung 
des Handelsrechts mit Ausschluß des Seerechts. Leipzig, Roßberg, 1907. IX—319 SS. 
M. 4.—. 

Korkisch, Hubert, Gesetz vom 16. Dezember 1906, RGBl. 1907 Nr. 1, be- 
treffend die Peusionsversicherung der in privaten Diensten und einiger in öffentlichen 
Diensten Angestellten. Mit kurzen Erläuterungen. Wien, Manz, 1907. 8. VII—80 SS. 
M. 0,85. 

Löwe, E. (weil. Reichsger.-Senatspräs.), Die Strafprozeßordnung für das Deutsche 
Reich, nebst dem Gerichtsverfassungsgesetz und den das Strafverfahren betreffenden Be- 
stimmungen der übrigen Reichsgesetze. Mit Kommentar. 12. Aufl., bearb. von (Reichs- 
ger.-R.) A. Hellweg. Berlin, J. Guttentag, 1907. gr. 8. XXVIII—1072 SS. M. 20.—. 

Meyer, Friedrich (Landesversicherungsanst.-Dir.), Führer durch das Invaliden- 
versicherungsgesetz vom 13. Juli 1899. 4. ergänzte Aufl. Berlin, Deutscher Verlag, 
1907. 8. 87 SS. M. 1.—. 

Pabst, Max (Rechtsanwalt), Einführung in den Strafprozeß. Berlin, Carl Hey- 
mann, 1907. gr. 8. VIII—143 SS. M. 3,60. 

Paul, Richard, Die Rechte und Pflichten der Teilhaber von Fabriks-, Handels- 
und Erwerbsgesellschaften aller Art. Nebst vielen Anmeldungsformularen. 8. Ster.-Aufl. 
Leipzig, G. Weigel (1907). 8. VIII—157 SS. M. 1,50. 

Rohs, E. (Ger.-Assessor), Das System des deutschen Zivilprozesses. Breslau, W. 
G. Korn, 1907. gr. 8. VIII—264 SS. M. 4,50. 

Tolksdorf, B. (Patentanwalt), Der gewerbliche Rechtsschutz in Deutschland. 
Leipzig, B. G. Teubner, 1906. 8. IV—164 SS. M. 1.—. (Aus Natur und Geistes- 
welt. 138.) 

Vossen, Leo (Rechtsanwalt), Der oberverwaltungsgerichtliche Schutz der Industrie 
und des Gewerbes sowie der Verfassungsgrundrechte gegen polizeiliche Ein- und Ueber- 
griffe. Hannover, Helwingsche Verlagsbuchhandlung, 1907. gr. 8. 140 SS. M. 3,20. 


Briggs, W., The laws of international copyright. London, Stevens & Haynes, 
1907. 8. 16/.—. 

Giorgi, Giorgio, Teoria delle obbligazioni nel diritto moderno italiano. Vol. I: 
Definizione e requisiti delle obbligazioni. 7* edizione. Firenze 1906. 8. 636 pp. 1.9.—. 

Straffa, Angelo, Studi di diritto commerciale. Firenze 1906. 8. 386 pp. 
1. 6.—. 

11. Staats- und Verwaltungsrecht. 

Cuutz, Erwin, Das Idealwahlsystem. Freiburg i. Br., Universitätsdruckerei H. 
M. Poppen & Sohn, 1907. 8. 47 SS. M. 0,50. 

Hedemann, Just. Wilhelm, Moderne Bürgerpflichten. Vortrag. Jena, Gustav 
Fischer, 1907. gr. 8. 27 SS. M. 0,50. 

Loening, Edgar (Prof.), Grundzüge der Verfassung des Deutschen Reiches. 
6 Vorträge. 2. durchgesehene Aufl. Leipzig, B. G. Teubner, 1906. 8. IV—140 SS. 
M. 1.—. (Aus Natur und Geisteswelt. 34.) 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 495 


Savigny, Leo v. (Prof.), Das parlamentarische Wahlrecht im Reiche und in 
Preußen und seine Reform. Berlin, Carl Heymann, 1907. gr. 8. VII—109 SS. M. 3.—. 

Schmidt, Richard (Regierungs-R.), Die Verfassung der rheinischen Landge- 
meinden nach der Gemeindeordnung für die Rheinprovinz vom 23. Juli 1845/15. Mai 
1856 und dem Kommunalabgabengesetze vom 14. Juli 1893 unter Berücksichtigung 
der abändernden und ergänzenden Gesetze. 3. neu bearb. Aufl. Trier, J. Lintz, 1907. 
gr. 8 XU—504 SS. M. 7.—. 

Sieber, J. (Prof.), Das Staatsbürgerrecht im internationalen Verkehr, seine Er- 
werbung und sein Verlust. 2 Bde. Bern, Stämpfli & Co., 1907. 8. XX—618, XI 
—410 SS. M. 20.—. 


Stead, William T., Peers or people? The House of Lords weighed in the 
balances and found wanting. An appeal to history. London, T. Fisher Unwin, 1907. 
8. VIT—264 pp. 3/.6. 


Donati, Donato, I trattati internazionali nel diritto costituzionale. Vol. I. Torino 
1906. 8. XXVI—610 pp. l. 12.—.' 


12. Statistik. 
Deutsches Reich. 


Statistik des Deutschen Reichs. Herausgeg. vom Kaiserlichen Statistischen Amt. 
Bd. 175. Die Binnen-Schiffahrt im Jahre 1905. Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht, 
1907. Imp.-4. II—III—134—99 SS. M. 5.—. 

Mitteilungen aus der Verwaltung der direkten Steuern im preußischen Staate. 
Statistik der preußischen Einkommensteuer-Veranlagung für das Jahr 1906. Im Auf- 
trage des Herrn Finanzministers bearb. vom Königlich Preußischen Statistischen Landes- 
amt. Berlin, Königliches Statistisches Landesamt, 1906. Imp.-4. III—XIV—215 SS. 
M. 5.—. 

Nachweisungen, Statistische, aus dem Gebiete der landwirtschaftlichen Ver- 
waltung von Preußen. Bearb. im Königlich Preußischen Ministerium für Landwirt- 
schaft, Domänen und Forsten. Jahrg. 1905. Berlin, Paul Parey, 1906. Lex.-8. VI— 
171 SS. M. 4,50. (Landwirtschaftliche Jahrbücher. Bd. XXXV. Ergänzungsbd. VI.) 

Statistik, Preußische. (Amtliches Quellenwerk.) Herausgeg. in zwanglosen Heften 
vom Königlich Preußischen Statistischen Landesamt in Berlin. Heft 199. Die Sterb- 
lichkeit nach Todesursachen und Altersklassen der Gestorbenen im preußischen Staate 
während des Jahres 1905. Berlin, Königliches Statistisches Landesamt, 1907. Imp.-4. 
IV—XXVI-210 SS. M. 6,20. 


Oesterreich-Ungarn. 

Schilder, Sigmund, Agrarische Bevölkerung und Staatsein - 
nahmen in Oesterreich. Leipzig und Wien (Franz Deuticke) 1906. 
176 SS. 8°. M. 3,60. 

Der Verfasser hat es sich in erster Linie zur Aufgabe gesetzt, den 
Anteil der agrarischen und der nichtagrarischen Bevölkerung Oester- 
reichs an den österreichischen Staatseinnahmen ziffermäßig zu berechnen. 
Zu diesem Zwecke hat er die Staatsrechnungsabschlüsse, Budgetvorlagen 
und sonstigen Materialien mit äußerster Umsicht und Sorgfalt durch- 
gearbeitet. Nur in seltenen Fällen lag das fragliche Verhältnis klar zu 
Tag; in der Regel mußte es durch Berechnung oder Schätzung näherungs- 
weise festgestellt werden. Die Darlegung der hierbei eingehaltenen 
Methode und ihrer Anwendung auf die einzelnen Kapitel des öster- 
reichischen Staatsvoranschlags macht die größere Hälfte des Buches 
aus. In dem ersten Abschnitte werden die durch alles Folgende zu be- 
gründenden ziffermäßigen Endergebnisse vorweggenommen und die wirt- 
schaftspolitischen Folgerungen daraus abgeleitet. 

Der Verfasser berechnet, daß im Jahre 1900 die agrarische Be- 


426 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 


völkerung (Angehörige der Hauptberufsklasse Land- und Forstwirtschaft, 
mit 52,43 Proz. an der gesamten Volkszahl, aber nur mit 31,38 Proz. 
an den Steuereinnahmen Oesterreichs beteiligt war. Ein Angehöriger der 
nicht agrarischen Bevölkerungsschicht trug somit 2,41mal soviel zum 
Staatsaufwand bei, wie ein Angehöriger der landwirtschaftlichen Gruppe. 
Ich rechne es dem Verfasser hoch an, daß er aus den mit großem Fleib 
und Scharfsinn gewonnenen Zitfern nicht übertriebene Folgerungen ab- 
leitet. Die Beruiszählung ist keine Volksabstimmung über den Bereich 
agrarischer und antiagrarischer Interessen und der Anteil der beiden großen 
gegensätzlichen Berufskreise an der Stenerleistung begründet nicht etwa 
den Anspruch auf rücksichtslose Durchführung ihrer besonderen Anliegen 
an den Staat. Schilder selbst führt mit Recht aus, wie verschiedenartige 
Interessen innerhalb des großen Blocks der agrarischen Bevölkerung 
wirksam sind, und daß die Agrarier mit der hohen Bevölkerungsquote 
ihre Bedeutung für den Staat, mit der geringen Steue -quote ihre Notlage 
glaubhaft zu machen versuchen würden. Die Ziffern belegen Tatsachen 
und enthüllen Entwickelungstendenzen; aber sie beweisen nicht ohne 
weiteres die Richtigkeit oder Dringlichkeit wirtschaftlicher Partei- 
programme: dieselben werden stets auf die Zweckmäligkeit der em- 
pfohlenen Mittel und auf ihre Rückwirkung auf die gesamte Volkswirt- 
schaft hin überprüft werden müssen. Neues Material hierzu beigebracht, 
das vorhandene übersichtlicher bereit gelegt zu haben, ist das unleug- 
bare und große Verdienst des Verfassers. 

Die Zahlen über den absoluten Stillstand und den relativen Rück- 
gang der landwirtschaftlichen Bevölkerung Oesterreichs geben dem Ver- 
fasser Anlaß zu treffenden Bemerkungen über die Ursachen der „Land- 
flucht“ und zu einer scharfen Kritik des offiziellen agrarischen Programms. 
Der Verfasser selbst steht auf dem bodenreformerischen Standpunkte 
und befürwortet als einzig wirksame Maßnahme gegen die Entvölkerung 
des flachen Landes die innere Kolonisation im Sinne Fr. Oppenheimers. 

H. Rauchberg. 


Arbeitseinstellungen, Die, und Aussperrungen in Oesterreich während des 
Jahres 1905. Herausgeg. vom k. k. Arbeitsstatistischen Amte im Handelsministerium. 
(Brünn, Friedrich Irrgang, 1906.) Lex.-8. 145 SS. (Beilage zur Statistischen Monats- 
schrift. Neue Folge. Jahrg. XI, 1906.) 

Ernteergebnis der wichtigsten Körnerfrüchte im Jahre 1906. Nach amt- 
lichen Quellen im k. k. Ackerbauministerium zusammengestellt. Mit 5 Diagrammen. 
Brünn, Friedrich Irrgang, 1906. Lex.-8. 12 SS. (Beilage zur Statistischen Monats- 
schrift. Neue Folge. Jahrg. XI, 1906.) 

Mitteilungen, Statistische. Herausgeg. von der k. k. Statistischen Zentral- 
kommission in Wien, 1. Jahrg. 1907. 24 Nrn. (Nr. 1. 6 Bl.) Brünn, Friedrich Irr- 
gang. Lex.-8. M. 22,50. 

13. Verschiedenes. 

Andenken, Dem, der Universität Frankfurt 26. IV. 1506 bis 10. VIII 1811. 
Festschrift zur 400. Wiederkehr ihres Gründungstages 26. IV. 1906. Frankfurt a/O. 
(Waldow, 1907). gr. 8. 114 SS. mit 1 Abbildung. M. 1,50. 

Bartholome (Seminar-Direktor), Die Förderung des Volksschulwesens im Staate 
der Hohenzollern. Geschichtlicher Ueberblick. 2. Aufl. Düsseldorf, L. Schwann, 1907. 
8. VII—291 SS. M. 2,60. 

Brode, Reinhold (Prof.), Die Friedrichs-Universität zu Halle. 2 Jahrhunderte 
deutscher Geistesgeschichte. Halle, C. Nietschmann, 1907. gr. 8. IV—68 SS. M. 2.—. 


Die periodische Presse des Auslandes. 427 


Deutschland und England. Eine Mahnung in 12. Stunde an das deutsche Volk. 
Von einem Capitaine. Linz, Zentraldruckerei vorm. E. Mareis, 1907. 8. 40 SS. mit 
1 Tabelle. M. 1.—. 

Eucken, Rudolf, Grundlinien einer neuen Lebensanschauung. Leipzig, Veit 
& Comp., 1907. gr. 8. VIII—-314 SS. M. 4.—. 

Hannemann, Franz (Rektor), Erziehungsarbeit in der Schule. Berlin, Carl 
Heymanns Verl., 1907. gr. 8. 192 SS. M. 3.—. 

Herzfelder, Henriette, Die gemeinsame Erziehung der Geschlechter. Leipzig, 
Felix Dietrich, 1907. 8. 40 SS. M. 0,50. (Sozialer Fortschritt. 92. 93.) 

Höller, Konrad, Die sexuelle Frage und die Schule, nebst Versuch einer Ein- 
gliederung des zur sexuellen Aufklärung notwendigen Lehrstoffs in den Lehrplan einer 
achtstufigen Schule. Leipzig, E. Nägele, 1907. gr. 8. 56 SS. M. 1.—. 

Meyer, Eduard, Humanistische und geschichtliche Bildung. Vortrag. Berlin, 
Weidman, 1907. 8. 41 SS. M. 0,60. 

Schelling, Friedrich von, Vorlesungen über die Methode des akademischen 
Studiums. Herausgeg. von Otto Braun. Leipzig, Quelle & Meyer, 1907. 8. XXIII 
—170 SS. 8. M. 2,60. 

Simon, Helene, Schule und Brot. Hamburg und Leipzig, Leopold Voss, 1907. 
89088. M. 1.—. 

Zimmer, Heinrich, Randglossen eines Keltisten zum Schulstreik in Posen- 
Westpreußen und zur Ostmarkenfrage. Berlin, Weidmann, 1907. 8. 124 SS. M. 1,40. 


Mattot, A., La santé dans le travail ou 20 leçons d’hygiene populaire. Bruxelles, 
Lebegue, 1907. 8. Avec 180 gravures. fr. 1,50. 

Asquith, H. H., Ancient universities and the modern world. An address deli- 
vered before the University of Glasgow on January 11, 1907. Glasgow, Mac Lehose, 
1907. 8. 1/.—. 

Josephson, Henry, The sanitary evolution of London. London, T. Fisher 
Unwin, 1907. 8. 440 pp. 6/.—. 

Lustig, Alessandro, Igiene della scuola, ad uso degli insegnanti e dei medici. _ 
Milano 1906. 8. 320 pp. l. 7.—. 


Die periodische Presse des Auslandes. 


A. Frankreich. 


Bulletin de Statistique et de Législation comparée. XXX* année, 1906, décembre: 
Loi portant modification des lois des 11 janvier 1302, 16 août 1895, 21 décembre 1905 
et 13 juillet 1906. (Tarif des douanes.) — Les produits de l’enregistrement, des do- 
maines et du timbre, constatés et recouyr& en France, pendant l’exereice 1905. — 
Droits sur les alcools et consommation moyenne par habitant dans les principales villes 
en 1905. — ete. — XXXI’ année, 1907, janvier: Les Ministres des finances depuis 1789, 
— Les fabriques de sucre et leurs procédés de fabrication en 1905—06. — L’exploi- 
tation du monopole des tahnes en 1905. — ete. 

Journal des Économistes. 66° année, 1907, janvier: 1906, par G. de Molinari. — 
Le marché financier en 1906, par A. Raffalovich. — Le mouvement colonial en 1906, 
par Daniel Bellet. — La mutualité agricole, par Paul Bonnaud. — Contrat politique 
et contrat économique, par Rouxel. — etc. 

Journal de la Société de Statistique de Paris. Année 48, 1907, N° 1, Janvier: 
L'apprentissage dans les métiers de ameublement, par Barrat. — Rapport du Ministre 
de Pintérieur sur les résultats du recensement du 4 mars 1906. — ete. 

Réforme Sociale, La. XXVI’ année, n° 25, 1% janvier 1907: Les Jaunes et les 
questions sociales, par Pierre Biétry. — Le droit électoral féminin, en Languedoc, au 
moyen-âge, par Alphonse Roque-Ferrier. — Les jardins ouvriers de Beaune en 1906, 
par A. Fontaine. — ete. — n° 26, 16 janvier 1907: L’Anerbenrecht en Allemagne, par 
Otto Fischer. — Les Jaunes et les questions sociales, par Biétry. [Suite] — Les 
retraites ouvrières et le socialisme. Réflexions d’un contribuable à propos d’un livre 
récent, par René de Kérallain. [Fin.] — L'École de la paix sociale, par F. Auburtin. 


498 Die periodische Presse des Auslandes. 


— ete. — n° 27, 1" février 1907: Patrons et ouvriers, par Arthur Roguenant. — Les 
warrants agricoles d’après les lois des 30 avril 1906 et 18 juillet 1898, par Pierre 
Hans. —- Le rachat du chemin de fer de l’Ouest, par Louis Rivière. — A propos de 
la d&population des campagnes et des logements ouvriers, par Georges Blondel. — ete. 

Revue générale d’administration. Année XXIX, 1906, décembre: Le personnel 


des ministères, par G. Demartial. [Suite et fin.] — De la compétence en matière de 
propriété, par Albert Roux. [Suite.] — ete. — Année XXX, 1907, janvier: Les types 
sociaux: le fonctionnaire, par Ch. Rabany. — Le domaine des hospices de Paris depuis 


la Révolution, par Amédée Bonde. [Suite.] — ete. 

Revue d’Économie Politique. 20° Année, 1906, N® 8-9, Aoùt-Septembre: Un 
économiste méconnu: Otto Effertz, par Adolphe Landry. — Le mercantilisme libéral à 
la fin du XVII" siècle: les idées économiques et politiques de M. de Belesbat, par 
Albert Schatz et Robert Caillemer. [Suite.] — ete. — N” 10-11, Octobre-Novembre: 


Contribution à une théorie réaliste de la monnaie, par Bertrand Nogaro. — La banque 
nationale Suisse, par Julius Landmann. — La théorie économique pendant l’année 1905 


—1906, par Adolphe Landry. — etc. 

Revue internationale de Sociologie. XIV* Année, N° 12, Décembre 1906: La 
philosophie socialiste et sa revision critique, par Francesco Cosentini. — Société de 
Sociologie de Paris, Séance du 14 novembre 1906 : Les types sociaux: le fonctionnaire, 
communication de Ch. Rabany, discussion par P. Grimanelli, M™ J. de Maguerie, Léon 
Philippe. — ete.' 


BJ England. 

Century, The Nineteenth, and after. No. 360, February 1907: The revived 
Channel tunnel project. — The forests of India and their administration, by John Nisbet 
(late Indian Forest Service). — Montenegro, by Lady Thompson. — ete. 

Edinburgh Review, The. N° 419, January, 1907: The English industrial 
revolution of the eighteenth century. — Admiralty administration and naval policy. — 
The state of Russia. — The first Earl of Durham and colonial aspiration. — ete. 

Journal of the Institute of Actuaries. Vol. XL, part III, July 1906: On a form 
of spurious selection which may arise when mortality tables are amalgamated, by W. 
Palin Elderton. — Some aspects of registration of title to land, by James Robert Hart. 
— ete. — Part IV, October 1906: Reversionary securities as investments, by C. R. 
V. Coutts. — French assurance law, 1905. — ete. — Vol. XLI, part I, January 1907: 
Model office reserves for endowment assurances, by James Buchanan. — On the error 
introduced into mortality tables by summation formulas of graduation, by George 
King. — ete. 

Journal of the Institute of Bankers. Vol. XXVII, 1906, Part 7, October: The 
history of banks and banking in Essex, by Miller Christy. — ete. — Part 8, November: 
The organization of a large bank, by Leonard Arthur Stanley. — ete. — Part 9, 
December: Inaugural address of the President, J. Spencer Phillips. — ete. 

Review, The Contemporary. No. 494, February, 1907: The retail bookseller, 
by Robet Bowes. — North-eastern Asia after the war, by Alexander Ular. — The 
Channel tunnel, by (Lt.-Col.) Walter H. James. — Japan and Russia: how peace was 
brought about, by E. J. Dillon. — ete. 

Review, The Economie. Published for the Oxford University Branch of the 
Christian Social Union. Vol. XVII, 1907, No. 1, January: Bournville, by J. A. Dale. 


— Eeonomie crises and some aspects of trusts, by (Prof.) W. Neurath. — The poplar 
workhouse inquiry, by Gordon Crosse. — Imprisonment for debt, by M. J. Landa. 
— ete. 

Review, The National. No. 288, February 1907: The Valentine compact: & 
year after, by Compatriot. — Some thoughts on Indian discontent, by His Highness 
the Aga Khan. — The Unionist leadership, by W. G. Howard Gritten. — Temperance 
reform — a reply to Sir Thomas Whittaker, by E. N. Buxton. — ete. 

Review, The Quarterly. No. 410, January, 1907: Imperial unity and the 
colonial conference. — The Charity Organisation Society. — British sea-fisheries. — ete. 


C. Oesterjreich. 


Handels-Museum, Das. Herausgeg. vom k. k. österr. Handels-Museum. Bd. 22, 
1907, No. 3: Oesterreichs Handelsbeziehungen zu Chile. — Geschäftliche Verhältnisse 


Die periodische Presse des Auslandes. 429 


in Rußland. — ete. — Nr. 4: Die Regelung der Konkurrenzverhältnisse in der deutschen 


Müllerei, von Viktor Heller. — Das internationale Exportgeschäft. — ete. — Nr. 5: 
Die Vorsorge für den Seeverkehr Oesterreichs, von Adolf Drucker. — ete. — Nr. 6: 
Das neue Gewerbegesetz, von (Prof.) Rud. Kobatsch. — ete. 


Monatscehrift, Statistische. Herausgeg. von der k. k. Statistischen Zentral- 
Kommission. Neue Folge. Jahrg. XI, November-Dezember-Heft: Die stichprobenweisen 
Viehschätzungen. Eine kritisch-methodologische Untersuchung von Richard Pfaundler 
und Franz Weyr. — Studentenstiftungen im Jahre 1905, von Alfred Lorenz. — Bericht 
über die Tätigkeit des statistischen Seminars an der k. k. Universität in Wien im 
Wintersemester 1905/06. — etc. 6 . 

Rundschau, Soziale. Herausgeg. vom k. k. Arbeitsstatistischen Amte im Handels- 
ministerium. Jahrg. VII, Nr. 12, Dezember 1906: Die neuere Entwickelung des Arbeiter- 
schutzes bei Vergebung öffentlicher Arbeiten in Oesterreich, von Franz Ziäek. — Arbeits- 
zeitverlängerungen in den fabrikmäßigen Betrieben Oesterreichs im III. Quartale 1906. 
— Unentgeltlicher Wohnungsnachweis im Anschluß an die gemeinnützige Arbeitsver- 
mittlung in Graz im Jahre 1905, von (Prof.) E. Mischler. — ete. 

Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung. Organ der Ge- 
sellschaft österreichischer Volkswirte. Bd. 15, 1906, Bd. V u. VI: Zur neuesten Literatur 
über Kapital und Kapitalzins, von Eugen von Böhm-Bawerk. — Schmollers Volkswirt- 
schaitslehre, von Karl Theodor von Inama-Sternegg. — Das Einkommen nach dem 
Beruf und nach der Stellung im Berufe in Oesterreich, von Eugen von Philippovich. 
— Anfänge des Kapitalismus bei den abendländischen Juden im früheren Mittelalter, 
von Ignaz Schipper. — Die Hebung. der österreichischen Alpenwirtschaften, von Prof. 
Ferdinand Schmid (Innsbruck). — Die preußischen Verwaltungsakademien, von Georg 
Michalski. — etc. 


F. Italien. 

Giornale degli Economisti. Serie II, Anno XVII, Ottobre 1906: Per la difesa 
di un testo: la teoria del costo di riproduzione e la critica, di D. Berardi. — Della 
obbiettività dell’ economia politica come scienza, di (Prof.) Emilio Cossa. — Statistiche 
agrarie, studio di metodologia statistica, di (Prof.) E. Fornasari di Verce. [Continuazione.] 
— ete. — Novembre 1906: Applicazioni della matematica all economia politica del 
Prof. Vilfredo Pareto. (Traduzione dal tedesco del Prof. Guido Sensini.) — La statistica 
del movimento migratorio e il calcolo dell’ aumento della popolazione, di Aldo Contento. 
— Il patrimonio minerario dei comuni e la loro attività economica, di F. G. Tenerelli. 
— La periodicità nei fenomeni collettivi, di Fr. Corridore. — ete. 


G. Holland. 


Economist, De, opgericht door J. L. de Bruyn Kops. LVI’ jaarg., 1907, Januari: 
De Zwitsersche Spoorwegen, door R. W. J. van den Wall Bake. — Gewone en buiten- 


gewone uitgaven, I, door S. J. R. de Monchy. — Nieuwe uitgaven : de arbeidsdag in 
de industrie, door G. L. de Vries Feijens. — etc. 
H. Schweiz. 


Blätter, Schweizerische, für Wirtschafts- und Sozialpolitik. Jahrg. XIV, 1906, 
Heft 19/20: Tuberkulosebekämpfung und Krankenversicherung, von Max Bollag 
(Liestal. — Verhandlungen der diplomatischen Konferenz für internationalen Arbeiter- 
schutz (Bern, 17—26. September 1906), von (alt Bundes-R.) E. Frey (Bern). — ete. 

Monatschrift für christliche Sozialreform. Jahrg. 29, Januar, Februar 1907: 


„Los von der Erbschaft“, von E. Feigenwinter. — Gelehrtes Proletariat, von Hans 
Schorer (Freiburg, Schweiz). — Die III. deutsche Kunstgewerbeausstellung Dresden 1906 
und ihre soziale Bedeutung, von H. Rodewald (München). — Ueber Arbeiterseelsorge, 


Briefe an einen städtischen Vikar, VI. VII. Brief, von (Prof.) J. Beck. — Unser Geld, 
von E. A. Stückelberg. — etc. 


J. Belgien. 

Revue Économique internationale. Année 4, Vol. I, N. 1, Janvier 1907: Traités 
de commerce et conventions commerciales, par (Sénateur) J. Möline. — L’assurance 
ouvrière allemande a-t-elle répondu à son attente? Par (Prof.) Frédéric Zahn. — Les 
États-Unis comme puissance mondiale, par (Prof.) Archibald Cary Coolidge. — La 


430 Die periodische Presse Deutschlands. 


taxation des plus-values immobilières, par Marcel Rouffie. — Observations critiques sur 
P&tatisme municipal, par E. Levasseur. — L’Amörique approche-t-elle d’une nouvelle 
crise? Par A. Piatt Andrew. — Un trust européen du pétrole, par Leo Müffelmann 
(Berlin). — L'immigration en Angleterre et la concurrence qui en résulte dans la main- 
d’euvre et l’industrie nationales, par Auguste Monnier. — etc. 


M. Amerika. 


Annals, The, of the American Academy of Political and Social Science. 
Vol. XXVIII, No. 1, July, 1906: The business professions: Book publishing, by J. 
Bertram- Lippincott. — The profession of accountaney, by J. E. Sterrett. — Busines 
and science, by James T. Young. — College men in business, by H. J. Hapgood. — 
The life insurance profession, by L. G. Fouse. — The study of insurance in American 
Universities, by S. Huebner. — Higher education for business pursuits and manv- 
faeturing, by John H. Converse. — The desirability of a college education for railroad 
work, by A. J. County. — Railway professional education, its objeets and limitations, 
by W. M. Acworth. — Publicity and reform in business, by Henry Clews. — ete. — 
No. 2, September, 1906: Woman’s work and organizations: Meaning of the woman’s 
club movement, by Sarah S. Platt Decker. — Workingwomen and the laws: a record 
of neglect, by Josephine C. Goldmark. — ete. — No. 3, November, 1906: Municipal 
problems: Munieipal ownersbip as a form of governmental eontrol, by F. A. Cleveland. 
— American municipal services from the standpoint of the entrepreneur, by Chester 
Lloyd Jones. — Chicago traction: a study in political evolution, by Willard E. Hotch- 
kiss. — Some social effects of a reform movement, by Franklin Spencer Edmonds. — ete. 

Journal, The Quarterly, of Economics. Published for Harvard University, 
Vol. XXI, No. 1, November, 1906: Capital and interest once more: I. Capital versus 
capital goods, by E. Böhm-Bawerk. — The Interstate Commerce Act as amended, by 
Frank Haigh Dixon. — The taxation of personal property in Pennsylvania, by Roswell 
C. McCrea. — The telephone in Great Britain, by A. N. Holcombe. — Co-operation in 
the apple industry in Canada, by R. H. Coats. — Seligman’s “Principles of Economics”: 
a reply and a rejoinder, by E. R. A. Seligman and F. W. Taussig. —- etc. 


Die periodische Presse Deutschlands. 


Alkoholfrage, Die. Vierteljahrsschrift zur Erforschung der Wirkungen des Al- 
kohols. Jahrg. III, 1906, Heft 4: Krankengeschichte eines Alkoholwahnsinnigen. — Der 
Alkoholismus in München, von Hoppe. — Die Aerzte und unsere Trinksitten, von 
Werner A. Stille. — Berichtigungen betr. Dr. Starke und sein Buch. — Weitere Unter- 
suchungen der Alkoholfrage auf Grund von Fragebogen für Mäßige oder Enthaltsame, 
von (Prof.) Böhmert. — Turner und Alkoholismus, von Herm, Kuhr. — Nachschrift zu 
Kuhr, Turner und Alkoholismus, von (Prof.) Böhmert. — etc. 

Annalen des Deutschen Reichs. Jahrg. 40, 1907, N’ 1: Studien zur Rheinschiff- 
fahrtsakte, von (Prof.) Otto Mayer (Leipzig). — Japans Geld- und Bankwesen, vou 
(Prof.) K. Th. v. Eheberg (Erlangen). — Die Gewinnbeteiligung der Arbeiter in Deutsch- 
land, von W. Heissner (Berlin). — Ueber Lohnstatistik, von Hans Fehlinger (München). 
— ete. 

Arbeiterfreund, Der. Jahrg. XLIV, 1906, Vierteljahrsheft 4: Ernst Abbe in 
seinen „Sozialpolitischen Schriften“, von A. Emminghaus (Gotha). — Rückblick auf 
die „Ausstellung für Kindeswohl“ in Berlin, von Oscar Neve (Berlin). — Die soziale 
Lage der seefahrenden Bevölkerung von (Öberleutn. a. D.) Hahn (Jena). — ete. 

Archiv für Eisenbahnwesen. Herausgeg. im Könglich Preußischen Ministerium der 
öffentlichen Arbeiten. Jahrg. 1907, Heft 1, Januar und Februar: Das neue Bundes- 
eisenbahngesetz in den Vereinigten Staaten, von (Prof.) B. H. Meyer. — Wohliahrts- 
einrichtungen der preußisch-hessischen FEisenbahngemeinschaft im Jahre 1905, von (vortr. 
Rat im Ministerium d. öff. Arb.) Rüdlin. — Der Erwerb der österreichischen Kaiser 
Ferdinands-Nordbahn für den Staat, von (Regierungsassessor) Wolff (Berlin). — ete. 

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Der neuen Folge Bd. VI, Heft 1, 
Januar 1907: Der Untergang des englischen Bauernstandes in neuer Beleuchtung, von 


Die periodische Presse Deutschlands. 431 


(Prof.) Wilhelm Hasbach. — Arbeiterbewegung und Arbeiterpolitik in Australasien von 
1590 bis 1905, I, von Käthe Lux. — Der Entwurf eines Gesetzes betreffend gewerbliche 
Berufsvereine und seine erste Lesung im Reichstage, von (Magistrats-R.) M. v. Schulz 
(Berlin). — R. Stammlers „Ueberwindung‘ der materialistischen Geschichtsauffassung, 
von Max Weber. — ete. 

Blätter, Volkswirtschaftliche. Jahrg. VI, 1907, N" 3: Die Organisation der 
Landwirtschaftskammern, von W. Wygodzinski (Bonn) und P. Wagner (Altenburg, 8.-A.). 


— Fischer und Bromme, von de Corti. — Rein praktisch, von Rocke, Limburg, Pott- 
hoff. — ete. 

Export. Jahrg. XXIX, 1907, N'4: Handelspolitische Aufgaben des neuen Reichs- 
tages, — Die Fischereiplätze der Bank von Arguin, von Gruvel. — Kinderarbeit in den 


Glashütten. [Schluß.] — ete. — N" 5: Brasilien im Jahre 1906, von Carl Bolle. — Die 
Fischereiplätze der Bank von Arguin, von Gruvel. [Schluß] — ete. — N’ 6. 7: Vom 
Sklaven empor, von Booker Washington, von L. J. — Die Geschichte der französischen 
Kolonisation in Algier, von Henri Froidevaux. [Forts. u. Sehluß.)] — Rußland und 
Deutschland, von (Prof.) Otto Harnack. — ete. 

Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich. 
Jahrg. 31, 1907, Heft 1: Ernst Abbes Sozialpolitische Schriften, ein Beitrag zur Lehre 
vom Wesen und Gewinn der modernen Großunternehmung und von der Stellung der 
Arbeiter in ihr, von Gustav Schmoller. — Das Rentenprinzip in der Verteilungslehre, 
I, von Joseph Schumpeter. — Organisation, Lage und Zukunft des deutschen Buch- 
handels, zugleich ein Beitrag zur Kartellfrage, I, von August Koppel. — Wie kann die 
Börse mehr der Allgemeinheit dienstbar gemacht werden? Von einem Praktiker. — 
Organisation des amerikanischen Bankwesens, I, von A. Stubbe. — Ueber die Aktien- 
form der Unternehmung, von Adolf Gottschewski. — Ulpianus als Statistiker, von Karl 
Sentemann. — Bericht über die 26. Jahresversammlung des Deutschen Vereins für 
Armenpflege und Wohltätigkeit, von Emil Münsterberg. — Ueber Arbeitslosenversiche- 
rung und Arbeitsnachweis, I, von K. Oldenberg. — Die Aussichten der vom Verbrauch 
ausgehenden Ordnung der Volkswirtschaft, von Ernst Günther. — Ethik und materia- 
listische Geschichtsauffassung, von August Koppel. — ete. 

Jahrbücher, Preußische. Bd. 127, Heft IT, Februar 1907: Der amerikanische 
„Boss“ und seine politische Maschine, von Carl Mencke. — Die Hiberniafrage und das 
Aktienrecht, von Ernst Barthel. — ete. 

Industrie-Zeitung, Deutsche. Jahrg. XXVI, 1907, N’4: Die Streikpolitik der 
Gewerkschaften im Lichte der Statistik, von Arnold Steinmann-Bucher. — Wirtschaft- 
liche Entwicklung der Vereinigten Staaten von Amerika. — ete. — N" 5: Wirtschaft- 
liche Entwicklung der Vereinigten Staaten von Amerika. [Schluß.] — Das Gewerkschafts- 
Regiment in San Francisco, von O. B. — ete. — N" 6: Präsident Bödiker, von H. A. 
Bueck. — Eine sozialdemokratische Verteidigung der Kartelle, von O. Ballerstedt. — 
ete. — N’ 7: Ausfuhr deutscher Industrie-Erzeugnisse im Jahre 1906. — ete. 

Mitteilungen des Handelsvertragsvereins. (Jahrg. 6.) 1907, N’ 3: Der neue 
Reichstag und die künftige deutsche Wirtschaftspolitik. — ete. — N" 4: Amerika, von 
Walther Borgius. — Agrarische Hoffnungen und Entwürfe, von Rud. Breitscheid. — 
Deutschland und die englischen Kolonien, von Max Nitzsche. — ete. 

Oekonomist, Der Deutsche. Jahrg. XXV, 1907, N" 1257: Die Heimlichkeit 
in den Aktiengesellschaften. — ete. — N’ 1258. 1259: Reform des Aufsichtsrats der 
Aktiengesellschaft. — ete. — N" 1260: Der Staat und die Monopolbildung im Berg- 
bau. — ete. 

Plutus. Jahr 4, 1907, Heft 4: Dr. Strousberg, von Siegbert Salter (Berlin). — 


etc. — Heft 5: Die Prokura im Grundstücksverkehr, von Kurt Calmon (Berlin). — 
ete. — Heft 6: Cognac, von (Patentanwalt) Georg Neumann (Berlin). — ete. — Heft 7: 
Gambrinus in Nord und Süd, von (Bücherrevisor) Rud. Taeuber (Leipzig). — ete. 


Rechtsschutz, Gewerblicher, und Urheberrecht. Jahrg. 12, 1907, N’ 1, Januar: 
Urheberrecht und Aesthetik, von (Hof- und Gerichtsadvokat) Josef Schmidl (Wien). — 
Auslegung und Ausführung der Bestimmungen der internationalen Konvention in Eng- 
land in Patent- und Warenzeichenanmeldungen, von Jos. Hübers (London). — ete. 

Revue, Deutsche. Jahrg. 32, 1907, Februar: Der Kaufmann und die Kolonien, 
von Woldemar Schütze (Hamburg). — ete. 

Revue, Politisch-Anthropologische. Jahrg. V, Nr. 11, Februar 1907: Die Anfänge 
der Wissenschaft vom Menschen, von Ludwig Woltmann. — Alkoholismus und Geistes- 


432 Die periodische Presse Deutschlands. 


zustand, von Georg Lomer. — Zur Frage der Mutterschaftsversicherung, von W. Borgius. 
— ete. 

Revue, Soziale. (Essen-Ruhr.) Jahrg. VII, 1907, Quartalheft 1: Die soziale Tätig- 
keit der Stadtgemeinde Essen, von T. Kellen (Essen). — Die ländliche Volkshochschule 
in Deutschland, von Keller (Heimbach, Baden). — Die Massenverbreitung guter Bücher 
durch volkstümliche Bibliotheken, von (Redakteur) Hermann Herz (Bonn). — Die 
Rechtsfähigkeit der Berufsvereine, von Retzbach (Freiburg i. Br... — Der öffentliche 
Arbeitsnachweis, von Jakob Lorenz (Rorschach). — ete. 

Vierteljahrschrift für Social- und Wirtschaftsgeschichte. Bd. IV, 1906, Heft 4: 
Hansische Handelsgesellschaften, vornehmlich des 14. Jahrhunderts, von F. Keutgen. 
[Forts. u. Schluß.] — Francois Quesnay und die Agrarkrisis im Ancien Régime, von 
Ottomar Thiele. [Forts. u. Schluß.) — Il prezzo del frumento in Ispagna, in Africa e 
in Oriente durante l'età imperiale romana, di Corrado Barbagallo. — An early Bill of 
Lading and Charter-party, by Robert Jowitt Whitwell. — ete. 

Wirtschafts-Zeitung, Deutsche. Jahrg. III, 1907, N" 3: Das Privatvermögen 
in der Bilanz des Kaufmannes, von (Prof.) J. Fr. Schär (Berlin). — Der Entwurf eines 
Reichsgesetzes betreffend die Sicherung der Bauforderungen, von (Justiz-R.) Felix Kauf- 
mann (Berlin). [Schluß.] -— ete. 

Zeit, Die Neue. Jahrg. 25, 1907, N". 17: Mathematische Formeln gegen Karl 
Marx, von L. B. Boudin (New York). [Forts.] — Zur Bevölkerungslehre, von M. Beer. 
— ete. — N’ 18: Die sozialdemokratische Bewegung in Bulgarien, von Georg Bakaloff. 
— Mathematische Formeln gegen Karl Marx, von L. B. Boudin (New York). [Schluß.] 
— ete. — N’ 19: Friedrich Engels und die Naturwissenschaft, von Friedrich Adler. — 
ete. — N" 20: Die Arbeiterpolitik der letzten Jahre in Rußland, von Paul Dange 
(Moskau). — etc. 

Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Kolonialwirtschaft. Herausgeg. 
von der Deutschen Kolonialgesellschaft. Jahrg. IX, Heft 1, Januar 1907: Die Pro- 
duktionsfähigkeit der Böden trockener Gebiete, von (Oekonomie-R.) Oetken (Oldenburg). 
— Kolonialpolitik und Auswanderung, von Adolf Goetz (Hamburg). — Die großen 
Epochen der neuzeitlichen Kolonialgeschichte, von (Prof.) E. von Halle. — Die Marokko- 
frage, vom weltwirtschaftlichen Standpunkte aus beurteilt, von Carl Bolle. — Die pan- 


islamitische Bewegung, von J. Wiese. — etc. 

Zeitschrift für Sozialwissenschaft. Jahrg. X, 1907, Heft 1: Zur Lehre vom 
Tarifvertrag, von (Prof.) Paul Oertmann (Erlangen). — Bevölkerungstheoretische Pro- 
bleme, von Friedrich Prinzing (Ulm). — Die Stadtgemeinschaft in ihren kulturellen Be- 
ziehungen, I, von (Prof.) J. Jastrow (Berlin). — Die erste Konferenz der mitteleuro- 
päischen Wirtschaftsvereine, von Julius Wolf. — etc. 

Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. Jahrg. 63, 1907, Heft 1: Wirt- 
schaft und Verbrechen, von (Privatdoz.) Hugo Herz (Brünn). — Die Entwicklung der 
oberschwäbischen Zementindustrie, von Otto Kehm (Ulm a. D.). — Die Organisation 


des Medizinalwesens im früheren Herzogtum Nassau und deren moderne Fortsetzungen, 
von (Regierungs-R.) Seidel (Allenstein). — Miszellen : Zur Reform der Volksversicherung, 
von (Prof.) Otto v. Zwiedineck-Südenhorst (Karlsruhe). — Ernst Abbe als Sozialpolitiker, 
von Georg Hahn (Jena). — Die Zukunft der deutschen Müllerei und die in Anregung 
gebrachte Umsatzsteuer für Großmühlen, von (Oekonomie-R.) Hempel (Hannover). — 
Zur Frage: Haushaltungsbudgets oder Wirtschaftsrechnungen? Von Karl Bücher. — ete. 

Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft. Bd. VII, 1907, Heft 1: 
Die Bedeutung der beiden Berliner Internationalen Kongresse für Versicherungs- Wissen- 
schaft, von (Prof.) A. Emminghaus (Gotha). — Der IV. Internationale Kongreß für Versiche- 
rungs-Medicin in Berlin, von (Prof.) Florschütz (Gotha). — Der versicherungsrechtliche 
Interesse-Begriff, von (Landgerichts-R.) Otto Hagen (Berlin). — Die Gewinnbeteiligung 
der Mitglieder größerer deutscher Feuerversicherungs-Vereine auf Gegenseitigkeit, von 
(Justiz-R.) Karl Domizlaff (Hannover). — Das neue preußische Knappschaftsgesetz, von 
(Amtsgerichts-R.) Julius Hahn (Berlin). — Das neue Versicherungsgesetz des Staates New 
York, von (Regierungs-R.) Broecker (Berlin). — Bedenken gegen die Haftpflichtgarantie- 
Versicherung, von H. Serini (Stuttgart). — ete. 


Frommanusche Buchdruckerei (Hermann Pohle) in Jena. 


N. Schaposchnicoff, Die Böhm-Bawerksche Kapitalzinstheorie. 433 


VII. 
Die Böhm-Bawerksche Kapitalzinstheorie’^). 


N. Schaposchnicoff. 


Die Kapitalzinstheorie gehört zu den verwirrtesten ökonomischen 
Problemen, denn obwohl diese Frage vor vielen anderen Wirtschafts- 
problemen die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, herrscht hier 
auch heutzutage noch große Meinungsverschiedenheit 2), zumal selbst 
der Begriff des Kapitals bisher durchaus keine allgemein anerkannte 
Definition erhalten hat. 

Der geringe Erfolg der ökonomischen Wissenschaft betreffs 
dieser Fragen hängt übrigens nicht so sehr von ihrer eigenen Kom- 
pliziertheit ab, als von der Tatsache, daß mit dieser oder jener Lösung 
der Frage zugleich auch sehr brennende soziale Interessen verbunden 
sind. Die meisten Zinstheoretiker besitzen eben kein ausreichend 


1) Die vorliegende Abhandlung war lange abgeschlossen und befand sich beim 
Uebersetzer, als ich auf die Arbeit Bortkewiecz’ über den gleichen Gegenstand 
(Schmollers Jahrbuch, Jahrg. XXX, 1906) aufmerksam gemacht wurde. Bortke- 
wiecz gelangt zu dem Ergebnis, daß die Böhm-Bawerksche Theorie nur eine Variante 
der Produktivitätstheorie darstellt. Meiner Ansicht nach beruht diese Auffassung auf 
einem Irrtum, denn Böhm-Bawerk nimmt einen diesem diametral entgegengesetzten 
Standpunkt ein, und gerade darin besteht vielleicht sein größtes Verdienst. Für ihn 
ist das Zinsproblem im letzten Grunde ein Wertproblem und nicht ein Produktions- 
problem. Er führt alles auf die Untersuchung der Gesetze des Arbeitswertes zurück. 
Wollten wir Böhm-Bawerk zu den Produktivitätstheoretikern rechnen, so müßten wir 
diesen auch Marx und Rodbertus hinzuzählen. Denn alle diese Forscher vertreten den 
Standpunkt: die Entstehung des Zinses wird durch die Tatsache bedingt, daß der Ar- 
beiter nicht den vollen Ertrag seiner Arbeit empfange. 

Den interessantesten Teil der Arbeit Bortkewiecz’ bildet die Kritik des dritten 
Grundes, mit deren Hilfe Böhm-Bawerk die höhere Bewertung der gegenwärtigen Güter 
erklärt. Dieser dritte Grund wird von Bortkewieez auf ersten reduziert und hat seiner 
Ansicht nach keinen selbständigen Wert. Ich stimme darin mit Bortkewieez ganz überein, 
gehe aber insofern weiter, als ich noch den Nachweis zu liefern versucht habe, daß er 
überhaupt unrichtig ist. 

2) „Und so weist der heutige Stand der Theorie des Kapitalzinses eine bunte 
Musterkarte der verschiedenartigen Meinungen auf, von denen keine zu siegen im stande 
und keine sich für besiegt zu geben willens ist, deren Vielzahl allein aber dem Un- 
parteiischen anzeigt, welche Masse Irrtums notwendig in ihnen walten muß“. Vergl. 
Böhm-Bawerk, Kapital und Kapitalzins, 2. Aufl., Bd. 1, S. 6. 

Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVII) 28 


434 N. Schaposchnicoftf, 


ruhiges wissenschaftlich-unparteiisches Urteil, was sie unwillkürlich 
zur Anpassung ihrer Theorien an ihre sozialpolitischen Ideale zwingt. 

Sie haben daher in erster Linie die Rechtfertigung oder Ver- 
urteilung des Zinses im Auge, nicht aber die Klarlegung seines 
Wesens und seiner Ursachen. 

Alle Zinstheorien können dementsprechend in zwei große Gruppen 
eingeteilt werden: die den Zins verurteilenden und die ihn recht- 
fertigenden Theorien. Die Anhänger der ersten Auffassung bemühen 
sich zu beweisen, daß der Kapitalzins durch die heutigen Produk- 
tionsverhältnisse bedingt ist und daß der Kapitalzins daher nur eine 
historische Kategorie bildet. Die Theorien der zweiten Gruppe 
vertreten entgegengesetzte Ansicht. Sie behaupten, daß der Kapital- 
zins keine historische, sondern eine ökonomische Kategorie sei und 
nicht durch die besonderen sozialen Verhältnisse des heutigen Wirt- 
schaftssystems bedingt, sondern durch die Grundgesetze der wirt- 
schaftlichen Tätigkeit, d. h. mit anderen Worten mit der Abschaffung 
der kapitalistischen Produktionsweise wird der Kapitalzins keines- 
wegs verschwinden. 

Einer der angesehensten Vertreter der letzteren Richtung ist 
der österreichische Gelehrte Prof. Böhm-Bawerk, der schon im Jahre 
1888 den zweiten Band seiner Untersuchungen herausgab, in welchen 
seine Kapitalzinstheorie entwickelt wird. Wir wollen im nachstehen- 
den zunächst die Darstellung und im Anschluß daran eine Kritik 
dieser Theorie zu geben versuchen. 

Vor allem, was ist Kapitalzins? Die heutigen sozialen Verhält- 
nisse ermöglichen jedem, der ein Vermögen besitzt, die Erlangung 
eines bestimmten Einkommens. Um dies zu erreichen, braucht er 
sein Vermögen nur nicht müßig liegen zu lassen, sei es indem er 
es einem anderen gegen einen bestimmten Entgelt überläßt, sei es 
daß er es selber zu produktiven Zwecken verwendet. In beiden 
Fällen wird ihm sein Vermögen nach Verlauf einer bestimmten Zeit- 
periode ein gewisses Einkommen einbringen; im ersten Falle erhält 
dieses Einkommen den Namen Leihzins, im zweiten, d. h. wenn es 
durch die produktive Verwendung des Vermögens erlangt wird, 
nennt man es Kapitalzins. Wir wollen hier zunächst den Leihzins 
beiseite lassen und nur die mit dem Kapitalzins im Zusammenhang 
stehenden Probleme erörtern. 

Bei normaler Sachlage erlangt jeder Unternehmer beim Verkauf 
seiner Ware mehr, als die Herstellung ihm gekostet hat. Dieser 
Ueberschuß der Einnahmen über die Produktionskosten bildet den 
Kapitalzins. Welche Erscheinungen bedingen nun dieses Phänomen’ 
Während eine Anzahl von Nationalökonomen die Ansicht vertritt, 
daß dieser Gewinn seinen Ursprung der Produktivität des Kapitals 
zu verdanken hat und nichts anderes als den Lohn für die 
Dienste des Kapitals darstellt, behaupten andere, daß er die Ver- 
gütung für persönliche Mitwirkung des Unternehmers am Pro- 
duktionsprozeß (für Geschäftsleitung oder auch dafür, daß er sem 
Vermögen nicht verschwendet hat etc. etc.) bildet. Andere endlich 


Die Böhm-Bawerksche Kapitalzinstheorie. 435 


betrachten ihn als Ergebnis des billigen Einkaufs der Produktions- 
mittel seitens des Unternehmers. Zu dieser letzteren Gruppe ge- 
hören vor allem die Vertreter des wissenschaftlichen Sozialismus. 
Hierher, wie seltsam es auch klingen mag, gehört auch der eifrigste 
Gegner dieser Schule — Böhm-Bawerk. 

. Er weist nämlich wiederholt darauf hin, der Unternehmer beziehe 
seinen Kapitalgewinn deshalb, weil er seine Produktivmittel billig ein- 
kauft. Wie die Grundbesitzer für die Bodennutzungen, so erhalten auch 
die Arbeiter von den Kapitalisten für ihre Arbeit nicht das ganze 
Produkt ausbezahlt, das mit ihrer Hilfe geschaffen wurde, sondern 
nur einen Teil desselben. Die Sozialisten, sagt Böhm-Bawerk '), 
erklären mit Recht den billigen Einkauf von Produktivmitteln für 
die Quelle des Kapitalgewinnes. Unrecht haben sie nur insofern, 
als sie ihn für die Frucht einer Ausbeutung der Arbeiter durch die 
Besitzenden betrachten. Die Unternehmer kaufen die Arbeit um 
ihren vollen Wert, nur ist der Wert der Arbeit dem Werte des 
Produktes dieser Arbeit nicht gleich. Dies ist die Folge der Ein- 
wirkung des Zeitmomentes auf den Wert. Um eine richtige Quelle 
des Kapitalzinses zu finden, muß man den Einfluß der Zeit auf den 
Wert der Güter analysieren. „Das Zinsproblem ist im letzten Grunde 
ein Wertproblem“ 2). 

Die Gesamtheit der wirtschaftlichen Güter, sagt Böhm-Bawerk, 
muß in zwei große Gruppen zerlegt werden, je nachdem sie der 
Befriedigung gegenwärtiger oder künftiger Bedürfnisse dienen. Die 
Güter der ersten Art werden von ihm als gegenwärtige, die der 
zweiten als künftige Güter betrachtet. So z. B. 100 Rbl. in meiner 
Tasche haben den Charakter eines gegenwärtigen Gutes, während 
100 Rbl., die ich erst in einem Jahre erhalte, ein künftiges Gut dar- 
stellen. Alle Produktionsgüter (die sogenannten Produktivmittel) 
müssen auch zur Kategorie der künftigen Güter gerechnet werden, 
weil sie erst nach dem Schlusse des Produktionsprozesses, d. h. nach 
Verlauf einer bestimmten Frist, zu Genußgütern werden °). 

Nach Feststellung dieser Klassifikation kommt Böhm-Bawerk 
zur Analyse der Quellen des Kapitalzinses. Der Prozeß, welchem 
der Kapitalzins seine Entstehung verdankt, ist nach ihm der Tausch 
gegenwärtiger gegen künftige Güter. Wenn ein Wucherer 100 Rbl. 
ausleiht, gibt er seinem Schuldner ein gegenwärtiges Gut, weil man 
dieses Geld sofort utilisieren kann, und erhält statt dessen ein Recht, 
diese 100 Rbl. in einem Jahre zu verlangen, d. h. ein Recht auf ein 
künftiges Gut. Bei Anstellung eines Arbeiters gibt ihm der Unter- 
nehmer in der Form des Arbeitslohnes ebenfalls ein gegenwärtiges 


1) Bd. 2, S. 317. 

2) Bd. 1, S. 604. 

3) Bd. 2, S. 315. Uebrigens hält Böhm-Bawerk an dieser Klassifikation nur be- 
treffs der Arbeit und des Grund und Bodens fest. Die Rohstoffe und Maschinen zählt 
er dagegen manchmal zu den Gegenwartsgütern. „Angebot an Gegenwartsware wird 
durch jeweiligen Vermögensstock der Volkswirtschaft repräsentiert“ (Bd. 2, S. 404, 409). 
Vergl. auch das Kapitel „Allgemeiner Subsistenzmittelmarkt“., Mi 

28 


436 N. Schaposchnicoftf, 


Gut, das der Arbeiter zur Befriedigung seiner sofortigen Bedürf- 
nisse verwenden kann, und erhält statt dessen die Arbeit, welche 
erst nach Verlauf einer bestimmten Frist die Gestalt des Produktes 
annimmt und zum gegenwärtigen Gute wird. 

Mit dem Umtausch der gegenwärtigen Güter gegen die künf- 
tigen beginnt also der wirtschaftliche Prozeß, welchem der Kapital- 
zins seine Entstehung verdankt, wobei dieser Umsatz nach Böhn- 
Bawerk nicht nur als das erste Stadium der Bildung des Kapital- 
gewinnes, sondern auch als das wesentlich ihn bestimmende Moment 
erscheint. Auf Grund einer ganzen Reihe von Umständen, die wir 
später kennen lernen werden, übt der Zeitmoment einen großen 
Einfluß auf den Wert der Güter aus. Und zwar: ein Gut, über 
welches wir erst nach Verlauf einer bestimmten Zeit verfügen können 
und welches folglich erst in Zukunft unsere Bedürfnisse befriedigen 
kann (ein künftiges Gut) wird schon kraft dieses Umstandes allein 
in unseren Augen einen geringeren Wert haben, als ein Gut, das 
schon im gegebenen Augenblick diese Fähigkeit besitzt (ein gegen- 
wärtiges Gut). Der Wert eines künftigen Gutes wird also in der 
Regel geringer sein, als der Wert eines gegenwärtigen Gutes. Im 
Verlaufe der Zeit wird sich aber das künftige Gut allmählich in 
ein gegenwärtiges verwandeln, d. h. im Werte steigen, bis es end- 
lich den vollen Wert des gegenwärtigen Gutes erhält. Dieser Wert- 
zuwachs bildet den Kapitalzins?). Erläutern wir das Gesagte durch 
irgend ein Beispiel. Angenommen, ich habe 1000 Rbl. und will sie 
auf ein Jahr ausleihen; mit anderen Worten, wird hier ein gegen- 
wärtiges Gut (das Geld, das ich bereits besitze) gegen ein künftiges 
(die Geldsumme, die ich erst in einem Jahre zu erhalten hoffe) ver- 
tauscht. Da ich aber keineswegs den Wunsch hege, meinem Schuld- 
ner Wohltaten zukommen zu lassen oder ihn auszubeuten, so muß ich 
verlangen, daß er mir statt meiner 1000 Rbl. etwas Gleichwertiges 
zurückgibt. Was wird aber in diesem Fall ein Aequivalent sein? 
Wird das die der ausgeliehenen gleichgroße Geldsumme sein? Keines- 
wegs, sagt Böhm-Bawerk. Die fraglichen 1000 Rbl. sind für mich 
nicht 1000 Rbl., sondern, sagen wir, 1050 Rbl. in einem Jahre gleich. 
Ich werde daher von meinem Schuldner verlangen müssen, daß er 
mir 1050 Rbl. zurückzahle. Dies wird keinesfalls eine Ausbeutung 
meines Schuldners sein, da auch für ihn der Wert der 1000 Rbl. 
die er sofort erhält, dem Werte von 1050 oder sogar von noch mehr 
im nächsten Jahre gleich ist. Dieses Mehr von 50 Rbl. wird nun 
meinen Kapitalzins bilden. 

Der Kapitalzins ist demnach die Wertdifferenz zwischen gegen- 
wärtigen und künftigen Gütern. Und er wird so lange existieren, 
als diese Wertdifferenz fortdauert. Der Kapitalzins ist somit nicht 
eine historische, sondern eine ökonomische Kategorie, welche in den 
Grundeigenschaften der menschlichen Seele wurzelt. Da man sich 
aber keine Menschen vorstellen kann, für die es gänzlich gleich- 


1) Bd. 2, 8. 319. 


Die Böhm-Bawerksche Kapitalzinstheorie. 437 


gültig wäre, ob sie irgend einen Gegenstand sofort oder erst in 
10 Jahren erhalten, d. h. Menschen, die mit dem Zeitmoment nicht 
zu rechnen haben, so kann man sich auch keine gesellschaftliche 
Organisation vorstellen, in welcher diese Art der Kapitalrente fehlen 
würde. Die sozialistischen Schriftsteller, sagt Böhm-Bawerk, be- 
finden sich im Irrtum, wenn sie in ihren Träumen vom Zukunfts- 
staat dieser Art der Kapitalrente die Existenzberechtigung abstreiten. 
„Die Kapitalrente, welche heute die Sozialisten als einen Ausbeu- 
tungsgewinn, als einen Raub am Arbeitsprodukte schmähen, würde 
auch im Sozialistenstaate nicht verschwinden“. „Sogar in der ein- 
samen Wirtschaft eines Robinson könnte der Grundzug des Zins- 
phänomens, das Wertschwellen der für den Dienst der Zukunft vor- 
bereiteten Güter und Nutzleistungen nicht fehlen“ 1). Die Böhm- 
Bawerksche Theorie liefert demnach zugleich gute Waffen gegen die 
Kritiker der heutigen Wirtschaftsordnung, indem sie die Kapitalrente 
als in den Grundgesetzen der menschlichen Tätigkeit, in der Tatsache, 
daß der Mensch mit der Zeit zu rechnen hat, wurzelnd darstellt. 
Aehnliche Berufungen auf die Grundgesetze der menschlichen Natur 
behufs Rechtfertigung der zur Zeit herrschenden Grundsätze der 
Güterverteilung findet man übrigens auch bei anderen Schriftstellern. 
Hierher gehören z. B. das bekannte Malthussche Gesetz und die be- 
rühmte Lohnfondstheorie. Als die Arbeiter auf kollektivem Wege 
die Erhöhung des Arbeitslohnes anstrebten, suchten die Lohnfonds- 
theoretiker durch allerlei Hinweise sie davon abzuhalten. „Es nützt 
nichts, so sagte man den Arbeitern, gegen eine der vier grund- 
legenden arithmetischen Regeln anzustreiten. Die Lohnfrage ist eine 
Divisionsaufgabe“ ?). 

Neuerdings hat die Lohnfondstheorie ihr Prestige eingebüßt. Die 
Kapitalzinstheorien, welche die Quelle dieses Phänomens in den 
natürlichen, allen Epochen der wirtschaftlichen Entwickelung gemein- 
samen Bedingungen sehen, genießen demgegenüber auch jetzt noch 
großes Ansehen. Wir wollen nunmehr zur Kritik der Böhm-Bawerk- 
schen Theorie, hauptsächlich von diesem Gesichtspunkte aus über- 
gehen, wobei unsere Hauptaufgabe sein wird zu beweisen, daß die 
Zuziehung des Zeitmomentes zur Erklärung des Wesens des Kapital- 
zinses auf einer irrtümlicher Auffassung der Verhältnisse der mo- 
dernen Wirtschaft basiert ist. Die Quelle des-Kapitalzinses nämlich 
liegt keineswegs dort, wo sie von Böhm-Bawerk gesucht wird. Man 
muß sie eben nicht in natürlichen, sondern in historischen Bedin- 
gungen der modernen Wirtschaft suchen. 

Wie oben bereits hervorgehoben, ist der Kapitalzins, nach Böhm- 


1) Bd. 2, S. 396. 

2) Perry, Elements of pol. econ., S. 123 zitiert bei Webb Theorie und Praxis, 
Bd. 2, S. 139. Sotoff, „Einigungsämter und Schiedsgerichte“ (russisch), S. 306, zitiert 
einen Fall, in welchem ein bekannter Schiedsrichter, sich hauptsächlich auf die Lobn- 
fondstheorie stützend, ein Urteil füllte, das die Herabsetzung des Arbeitslohnes der Berg- 
leute verfügte. Die Arbeiter haben gegen dieses Urteil nicht protestiert. Ein inter- 
essantes Beispiel für die Beeinflussung der Praxis durch die Theorie. 


438 N. Schaposchnicoff, 


Bawerk, das Ergebnis des Umsatzes gegenwärtiger gegen künftige 
Güter. Indem der Unternehmer Werkzeuge, Rohstoffe und Arbeits- 
leistungen einkauft, kauft er eben künftige Güter, die von ihm auf 
Grund des allgemeinen Wertgesetzes nicht nach dem Werte bezahlt 
werden, den sie haben werden, wenn sie zu gegenwärtigen Gütern 
geworden sind, sondern mit einem geringeren Preis. Nehmen wir 
an, eine Arbeitergruppe habe ein Produkt im Werte von 1000 Rbl. 
hergestellt. Der Unternehmer, welcher die Arbeit dieser Arbeiter 
kauft, wird ihnen nicht 1000 Rbl., sondern weniger bezahlen, je 
nach der Dauer des Produktionsprozesses. Um dabei ins klare 
über die Quelle des Kapitalzinses zu kommen, muß man die Größe 
der Produktionskosten, die der Unternehmer zu tragen hat, kennen. 
Da diese Produktionskosten aber zu allerletzt doch nichts anderes 
sind, als das Aequivalent für die Ausgaben zum Einkauf der Arbeit 
und zur Vergütung für die Bodennutzung, so bedarf es hier einiger 
Hinweise hinsichtlich der Preisbildung dieser Faktoren oder richtiger 
des wichtigeren Faktors — der Arbeit!). Läßt man also den weniger 
wichtigen Faktor (den Boden) außer Betracht, so wird der Kapital- 
zins durch den Preis der Arbeit, d. h. durch den Arbeitslohn, be- 
stimmt. Was bestimmt aber den Arbeitspreis und warum erhält der 
Arbeiter nicht den vollen Wert seines Arbeitsproduktes? Zur Er- 
klärung dieses Phänomens bedient sich Böhm-Bawerk seiner Wert- 
theorie, indem er behauptet, daß der Preis der Arbeit, wie der’Preis 
jeder anderen Ware, eine Resultante der subjektiven Wertschätzungen 
darstellt, und daß die Kollision der subjektiven Wertschätzungen 
von seiten der Käufer und Verkäufer es eben herbeiführt, daß der 
Arbeiter nicht das ganze Produkt seiner Arbeit, sondern nur einen 
Teil desselben erhält. 


Die Wertschätzung eines Gutes, das zum Tausche bestimmt ist, 
hängt aber — wie darauf von Böhm-Bawerk in seiner Werttheorie 
hingewiesen wird — von zwei Momenten ab: von dem subjektiven 
Werte des Gutes, das man hingibt, und von dem subjektiven Werte 
des Gutes, das man beim Tausche erhält. Wir haben uns daher 
vor allem der Analyse des Phänomens der subjektiven Wertschätz- 
ungen zuzuwenden. 


Wir beginnen mit dem Arbeiter. Die Arbeit, worauf Böhm-Bawerk 
vielfach hinweist, hat keinen unmittelbaren Wert; ihr Wert, wie der 
Wert aller Produktivgüter, wird durch den Wert der Güter be- 
stimmt, die man vermittelst dieser Arbeit herstellen kann. In der 
modernen Volkswirtschaft ist aber der Arbeiter nicht imstande, seine 
Arbeit selbständig in der Produktion zu verwenden, und kann sie 
nur auf Umwege durch Abtretung an den Kapitalisten ausnützen. 


1) Nach Böhm-Bawerk (Bd. 2, S. 329 ff. u. 358) kann der Kapitalzins entweder 
durch den billigen Einkauf der Arbeitsleistung oder durch den billigen Einkauf der Nutz- 
leistungen des Grund und Bodens entstehen. In meiner Kritik der Böhm-Bawerkschen 
Theorie werde ich mich nur mit dem ersten Fall beschäftigen, zumal dieser, wie Böhm- 
Bawerk selbst zugibt, die Hauptrolle spielt. 


Die Böhm-Bawerksche Kapitalzinstheorie. 439 


Die Arbeit hat für ihn also keinen subjektiven Wert!). Um die von 
ihm benötigten Genußgüter zu erlangen, wird er daher in der Regel 
ein beliebiges Quantum der Arbeit hergeben wollen. Denn die 
subjektive Wertschätzung der Arbeitsleistung von seiten des Arbei- 
ters ist unendlich klein, die subjektive Wertschätzung der Genußgüter 
dagegen, die er vom Unternehmer im natura oder im Geldform er- 
hält — unendlich groß. Die subjektive Wertschätzung seiner Leistung 
durch den Arbeiter kann den Lohn nicht bestimmen, weil diese Wert- 
schätzung keine bestimmte Größe hat. Daß auch Böhm-Bawerk 
diese Ansicht vertritt, läßt sich aus folgenden Ausführungen auf 
S. 409 ersehen: „Die Arbeiter brauchen gegenwärtige Güter dringend 
und können mit ihrer Arbeit auf eigene Rechnung nichts oder fast 
nichts anfangen, sie werden also bis zum letzten Mann ihre Arbeit 
lieber billig, als gar nicht verkaufen.“ Kann aber der Arbeiter mit 
seiner Arbeitskraft nichts anfangen, so wird diese für ihn auch 
keinen subjektiven Wert haben. Man muß also aus den preisbe- 
stimmenden Momenten die subjektive Wertschätzung der Arbeit 
seitens der Arbeiter ausschließen. Der Ausschluß der subjektiven 
Wertschätzungen der Arbeiter untergräbt allerdings nicht den Grund- 
satz Böhm-Bawerks. als ob der Preis der Arbeit die Resultante der 
subjektiven Wertschätzungen ist, indem gleich dem Preise mancher 
anderer Waren auch der Preis der Arbeit sich ausschließlich in 
Abhängigkeit von den subjektiven Wertschätzungen der Käufer be- 
wegen kann. In letzterer Hinsicht behauptet nun Böhm-Bawerk, die 
Kapitalisten müssen der Arbeit (als einem künftigen Gut) eine min- 
derwertige Abschätzung angedeihen lassen. Wenn z. B. ein Unter- 
nehmer die Arbeit von 100 Arbeitern kauft, die ein Produkt im 
Werte von 1000 Rubel herstellen, wird er, kraft rein psychologischer 
Motive wegen des Einflusses des Zeitmomentes auf die Wertbildung, 
diese Arbeit nicht mit 1000 Rubel, sondern mit einer geringeren 
Summe bewerten. Würde es uns also gelingen, die Unrichtigkeit 
dieser Behauptung zu beweisen, so würde damit auch der Zusam- 
menbruch der ganzen Theorie Böhm-Bawerks besiegelt sein, welche 
den Kapitalzins auf der Preisdifferenz zwischen gegenwärtigen und 
künftigen Gütern aufbaut. Wir müssen daher die Beweisführung 
Böhm-Bawerks prüfen, der zufolge die gegenwärtigen Güter von 
den Menschen höher als die künftigen geschätzt werden. Im ganzen 
kommen dabei folgende drei Beweisgründe in Betracht): 


1) In der modernen Volkswirtschaft hat die Arbeit für den Arbeiter bloß den 
subjektiven Tauschwert; er bewertet sie nur als ein Mittel, ein bestimmtes Quantum 
von Genußgütern zu erlangen, indem er sie dem Kapitalisten verkauft. Ich lasse hier 
die Frage hinsichtlich des Einflusses der „Arbeitsplage“ unberücksichtigt, weil Böhm- 
Bawerk sich zu diesem Moment der Wertbildung negativ verhält (Zeitschrift für Volks- 
wirtschaft, Bd. 3, 1894, S. 201—209), wie denn überhaupt die österreichische Schule, 
im Gegensatz zu der neueren englischen und amerikanischen Nationalökonomie, diesem 
Phänomen keine große Bedeutung beimißt. Vergl. u. a. Wieser, „Ueber den Ursprung“ 
ete., 8. 106—107, 110. „Der natürliche Wert“, S. 188 ff.; Zuckerkandl, „Zur Theorie 
des Preises“, S. 319 ff. 

2) Bd. 2, S. 262—286. 


440 N. Schaposchnicoff, 


1) Die gegenwärtigen Güter besitzen im Vergleich zu den künf- 
tigen einen höheren Wert, weil die meisten Menschen eine Besserung 
ihrer materiellen Lage erhoffen. Für einen angehenden Rechtsan- 
walt haben z. B. 1000 Rubel in der Gegenwart einen viel größeren 
Wert als dieselben 1000 Rubel nach fünf Jahren, weil er dann 
schon auf ein beträchtliches Einkommen zurückblicken kann; das- 
selbe gilt für Aerzte u. s. w. 

2) Die zweite Erwägung besagt, daß die zukünftigen Bedürf- 
nisse, schon deshalb weil sie künftig sind, eine geringere Intensität 
besitzen und infolge dessen wird auch den Mitteln zu ihrer Befrie- 
digung ein geringerer Wert beigemessen. 

Um den dritten Beweisgrund Böhm-Bawerks klarzustellen !), 
muß man des näheren auf die Analyse des Produktionsprozesses ein- 
gehen, die Böhm-Bawerk im ersten Buche des zweiten Bandes gibt. 

Die Produktion, sagt hier Böhm-Bawerk, ist um so erfolgreicher, 
je länger der Produktionsprozeß dauert. Der Fischfang, der mit 
Händen vollzogen wird, stellt den kürzesten, zugleich aber auch den 
am wenigsten ergiebigen Arbeitsprozeß dar; werden wir dagegen 
eine bestimmte Zeit zur Anfertigung der Fischangel verwenden, um 
den Fischfang nicht mehr mit Händen, sondern mit der Angel zu 
betreiben, so werden wir auch mehr Fische fangen; der Arbeitspro- 
zeß wird dabei aber länger dauern. Würden wir endlich eine ge- 
wisse Zeit der Anfertigung von Booten, Netzen u. d. m. widmen, 
so wird der Fang selbstverständlich noch reicher ausfallen. Jede 
Verlängerung der Produktionsperiode wird also von einer Zunahme 
der Produktivität begleitet, welch letztere aber, wie er im Anschluß 
daran hinzufügt, eine abnehmende Tendenz aufweist ?). Die Richtig- 
keit letzterer Behauptung kann allerdings bestritten werden, zumal 
man eine Reihe von Beispielen anführen könnte, in denen die Zu- 
nahme der Produktivität nicht durch Verlängerung, sondern gerade 
durch Verkürzung der:Produktionsperioden hervorgerufen wurde’). 

Nach diesen Vorbemerkungen können wir ohne weiteres zur 
Analyse des dritten Grundes Böhm-Bawerks übergehen. Angenom- 
men, sagt er, wir verfügen über irgend welche drei Produktiv- 
güter, z. B. über einen Arbeitsmonat einer bestimmten Anzahl von 


1) Böhm-Bawerk mißt diesem Beweise eine sehr große Bedeutung bei, denn er 
ermöglicht ihm die sogen. Produktivität des Kapitals auf den ihr gebührenden Platz 
zu stellen. Böhm-Bawerk sieht darin übrigens auch den wesentlichen Unterschied 
zwischen seiner Theorie und der von Rae, die viele Berührungspunkte mit der Auf- 
fassung Böhm-Bawerks hat, Bd. 1, S. 401—407. 

2) Die Ansichten Böhm-Bawerks über den Charakter der kapitalistischen Produk- 
tion haben viel Gemeinsames mit dem bekannten Thünenschen Gesetz, allerdings mit 
dem Unterschiede, daß Böhm-Bawerk die Ursache der abnehmenden Produktivität nicht 
in der Zunahme des Kapitals, sondern in der Verlängerung des Produktionsprozesses 
sieht. 

3) Die Ansichten Böhm-Bawerks über den Charakter der kapitalistischen Produk- 
tion werden treffend kritisiert von Lexis in seiner Besprechung des Buches von Knut 
Wieksell (Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, Bd. 19, S. 332 
—337). Vergl. ferner Gobson, „Die Evolution des modernen Kapitalismus“ (russisch), 
S. 196, 


Die Böhm-Bawerksche Kapitalzinstheorie. 441 


Arbeitern im Jahre 1888, dann über einen Arbeitsmonat im Jahre 
1859 und endlich über einen im Jahre 1890!) Wie werden wir 
diese drei Produktivgüter bewerten? Werden wir sie als gleich- 
wertig betrachten? Im allgemeinen haben die Produktivmittel 
keinen selbständigen Wert, sondern erhalten einen solchen vom 
Werte des mit ihrer Hilfe hergestellten Produktes. Wir müssen 
daher den Wert eines Arbeitsmonats nach dem Werte der vermittelst 
dieser Arbeit hergestellten Produktes bemessen. Ein Arbeitsmonat 
wird aber ein verschiedenes Quantum von Produkten ergeben, je 
nachdem er in diesem und jenem Produktionsprozeß zur Verwen- 
dung gelangt. In einem einjährigen Produktionsprozeß wird er 100 
Produkteinheiten liefern, in einem zweijährigen 200 u. s. w. 


Tabelle I. 
Ein Arbeitsmonat aus dem Jahre 
1888 1889 1890 
„© 1888 100 — — a 
#2 1889 200 100 — 38 
e © 1890 280 200 100 3 
= S 1891 350 280 200 .& 
23 1892 400 350 280 $ 
2g 1893 440 400 350 3 
Sg 1894 470 440 400 È 
m 2 1895 500 470 440o = 


Diese Tabelle zeigt, daß jedes unserer Produktivgüter, je nach 
der Dauer der Produktionsperiode, verschiedene Resultate liefert. 
Wie wird dann der Wert dieser Produktivgüter bemessen ? 

Ist irgend ein Gut, lautet in dieser Hinsicht die Grenznutzen- 
theorie, zu verschiedenen einander ausschließenden Verwendungsarten 
brauchbar, so wird für die Wertfeststellung des Gutes diejenige 
Verwendung entscheidend sein, welche die höchste Wertsumme er- 
gibt?). Wir müssen uns daher etwas eingehender mit der Analyse 
der Werthöhe des Produktes unserer Produktion beschäftigen, welches 
en von Böhm-Bawerk durch nachstehende Tabelle klargelegt 
wird. 

Tabelle II. 


Ein Arbeitsmonat aus dem Jahre 


1888 1889 1890 
o 1888 500 — -- Pn 
õa 1889 800 400 = $ 
E E 2 1890 924 660 300 ® 
232 1891 875 700 soo = 
288 189 880 770 616 3 
= 1893 924 840 7355 2 
= 1894 940 880 800 F 

1895 750 705 660 


1) Ich möchte hier noch hervorheben, daß Böhm-Bawerk den Satz hinsichtlich 
der Mehrwertung gegenwärtiger Güter gegenüber den künftigen ausschließlich vermittelst 
der Beispiele mit künftigen Gütern (Arbeit) beweist. 

2) Bd. 2, 8. 172 ff. 


442 N. Schaposchnicoff, 


Ein Arbeitsmonat aus dem Jahre 1888 bietet also nicht nur die 
Möglichkeit zu einer bestimmten Zeit (z. B. im Jahre 1894) eine 
größere Produktenmenge zu erhalten, sondern auch der maximale 
Wert des mit seiner Hilfe geschaffenen Produktes wird dem maxi- 
malen Werte des mit Hilfe des 1889er Arbeitsmonats hergestellten 
Produktes überlegen sein. Daher wird auch der Wert des Arbeits- 
monats der gegenwärtigen Arbeit höher als der Wert der künftigen 
Arbeit sein. Und in der Tat, wie dies aus der Tabelle II folgt, 
sind die Wertsummen des Arbeitsmonats aus den Jahren 1888, 1889 
und 1890 940, 880 und 800 Werteinheiten gleich. Je später also 
das produktive Gut zu unserer Verfügung gelangen wird, desto ge- 
ringer wird auch sein Wert sein. Damit meint Böhm-Bawerk einen 
weiteren Beweis zu Gunsten seines Prinzips betreffend den Einfluß 
der Zeit auf den Güterwert gesichert zu haben. 

Obwohl auf dieser Beweisführung die ganze Kapitalzinstheorie 
Böhm-Bawerks ruht, hat die Kritik ihr bisher relativ wenig Auf- 
merksamkeit gewidmet. Letzteres erscheint um so auffallender, als 
die Argumentation Böhm-Bawerks nicht nur widerspruchsvoll, son- 
dern auch direkt falsch ist und daher mit Naturnotwendigkeit zu 
unrichtigen Schlußfolgerungen führen muß. Sehen wir uns z. B. nur 
etwas näher die Zusammensetzung der Tabelle II an. Hier werden 
uns die verschiedenen Produktenwerte vorgeführt, die vermittelst 
eines bestimmten Produktivgutes hergestellt sind. Der Wert irgend 
einer Produktenmenge wird bestimmt durch den Wert der Produkt- 
einheit, multipliziert mit der Stückzahl der Güter. Wir müssen da- 
her zunächst den Wert der Produkteinheit bestimmen, der jeder 
Produktionsperiode in der zweiten Tabelle entspricht. Zu diesem 
Zwecke muß man die in der zweiten Tabelle angeführten Wert- 
größen durch die entsprechenden Wertgrößen der ersten Tabelle 
dividieren, woraus sich folgende Tabelle ergibt. 


Tabelle III. 


ee Ein Arbeitsmonat aus dem Jahre 

der Produk- 1888 1889 . 1890 
Hion Der Wert der Produkteinheit 
1888 5 aa o 
1889 4 4 ES 
1890 3,3 3,3 3,3 
1891 2,5 25 35 
1892 2,2 2,2 2.2 
1893 2,1 2,1 2,1 
1894 2 2 2 
1895 1,5 1,5 1,5 


Die Analyse dieser Tabelle zeigt, daß der Wert der Produkt- 
einheit bezw. der Grenznutzen sich bloß in vertikaler Richtung ver- 
ändert; in horizontaler dagegen bleibt er unverändert, obwohl die 
Produktmasse (vgl. Tab. I) sich in beiden Richtungen verändert. 
Während z. B. im Jahre 1894 470, 440, 400 Produkteinheiten her- 
gestellt werden können, bleibt der Wert (der Grenznutzen) der 


Die Böhm-Bawerksche Kapitalzinstheorie. 443 


Produkteinheit in allen drei Fällen einer und derselben Größe 2 
gleich. Andererseits ungeachtet der Tatsache, daß die der Schätzung 
unterliegenden Gütermengen gleich groß sind, ist der Grenznutzen 
der Produkteinheit verschieden. So ist z. B. der Grenznutzen von 
100 Produkteinheiten in der ersten Rubrik gleich 5, der zweiten 4, 
der dritten 3,3. Mit anderen Worten: der Produktenzuwachs übt 
nur dann einen Einfluß auf den Grenznutzen aus, wenn dieser Zu- 
wachs von längeren Produktionsumwegen begleitet wird. 

Zieht man all das in Betracht, so muß man zum Schluß ge- 
langen, daß die Höhe des Grenznutzens in den Böhm-Bawerkschen 
Tabellen !) scheinbar in keinem Zusammenhange mit der Menge des 
hergestellten Produktes steht. Die Veränderung des Grenznutzens, 
sein allmähliches Sinken in der vertikalen Richtung (vgl. die Tab.) 
wird denn auch tatsächlich, wie Böhm-Bawerk auf S. 281 behauptet, 
durch den Zeitmoment bedingt. Der Wohlstand der Menschen steigt, 
die Gestaltung der Versorgungsverhältnisse verbesserte sich mit der 
Zeit und infolgedessen sinkt der Grenznutzen der Produkteinheit ?). 
Wir sind damit also zum ersten Grundprinzip Böhm-Bawerks 
zurückgekommen. Ohne die Tatsache näher zu untersuchen, ob man 
die Lage des angehenden Arztes oder Rechtsanwalts als eine all- 
gemein gültige Regel betrachten darf, will ich mich hier nur damit 
begnügen, zu untersuchen, ob man sich der Böhm-Bawerkschen 
Tabellen in der von ihm beliebten Weise bedienen darf. 

Die Erwägungen, die Böhm-Bawerk zur Aufstellung des mit der 
Zeit sinkenden Grenznutzens veranlaßten, lassen sich folgendermaßen 
zergliedern : 

Der Grenznutzen der Produkteinheit hängt von den Versorgungs- 
verhältnissen ab. 

Der Grenznutzen der Produkteinheit hängt von dem Verhältnis 
zwischen Bedarf und Deckung ab. 

Die Versorgungsverhältnisse hängen von der Ergiebigkeit der 
Produktion ab. 

Die Ergiebigkeit der Produktion hängt von der Länge des 
Produktionsprozesses, von der Zeit ab. 

Läßt man also die Zwischenglieder weg, so gelangt man zum 
Schluß, daß der Grenznutzen von der Zeit abhängt. 

Man darf aber nicht außer Acht lassen, daß die Zeit nicht un- 
mittelbar, sondern nur vermittelst einer ganzen Reihe von Zwischen- 
gliedern, der Verlängerung der Produktionsumwege und der ver- 
änderten Versorgungsverhältnisse, die Größe des Grenznutzens be- 
einflußt. Uebt aber das Zeitmoment infolge irgend welcher Umstände 
diesen Einfluß auf die Produktionsumwege und somit auf die Ver- 
sorgungsverhältnisse nicht aus, so kann es ihn auch auf die Größe 
des Grenznutzens nicht ausüben. Böhm-Bawerk läßt das aber 


1) Die Aufgabe dieser Tabellen ist, die Richtigkeit der Behauptung von der Wert- 
überlegenheit gegenwärtiger Güter gegenüber den künftigen „zu gerade zwingender 
mathematischer Evidenz“ zu machen (Bd. 2 S. 278). 

2) Bd. 2 8. 262—266. 


———— erg i 


444 N. Schaposchnicoff, 


leider unberücksichtigt, indem er einfach annimmt, daß der Grenz- 
nutzen für jedes Jahr des Produktionsabschlusses, mögen wir die 
Produktion im Jahre 1888, 1889 oder 1890 anfangen (vgl. Tab. III), 
der gleiche bleiben wird. Die Menge der produzierten Güter und 
infolgedessen auch der Grad unserer Versorgung werden aber in 
Wirklichkeit sehr verschieden sein. Im Jahre 1894 werden wir z. B. 
über 470, 440 oder 400 Produkteinheiten verfügen. Böhm-Bawerk 
vergißt also in diesem Fall nachzuweisen, weshalb der Grenznutzen 
eigentlich in allen drei Fällen unverändert bleibt und außerdem 
wird von ihm das Grundgesetz der Werttheorie ignoriert, demzufolge 
der Grenznutzen von der Menge der Güter abhängt, die der Schätzung 
unterliegen. 

Wir sehen also, daß Böhm-Bawerk bei Aufstellung seines dritten 
Grundsatzes zu der Annahme gelangt, als ob die Zeit allein und für 
sich trotz der veränderten Gütermenge ein Sinken des Grenznutzens 
hervorruft. Das ist das Prinzip, auf dem die ganze Beweiskraft 
seiner Tabellen ruht. Vermeidet man aber den logischen Fehler, das 
als erwiesen zu betrachten, was noch zu beweisen ist, so läßt sich 
alles, was man den Böhm-Bawerkschen Tabellen entnehmen kann, 
auf den nachstehenden, keineswegs neue Wahrheiten entdeckenden 
Satz zurückführen. Ein um ein Jahr früher verfügbarer Arbeits- 
monat wird auch um ein Jahr früher sein Produkt abliefern, d. h. 
verfügen wir über einen Arbeitsmonat im Jahre 1888, so können 
wir schon im Jahre 1894 ein Produkt im Werte von 940 bekommen, 
während derselbe Arbeitsmonat vom Jahre 1889 ein Produkt im 
gleichen Werte erst im Jahre 1895 liefern wird. Das ist aber auch 
alles, was vom fraglichen Grundsatz („Grundpfeiler“, Bd. 2, S. 278) 
der Böhm-Bawerkschen Theorie übrig bleibt. 

Nach erfolgter Prüfung der Beweisführung Böhm-Bawerks hin- 
sichtlich des Mehrwertes gegenwärtiger Güter im Vergleiche zu den 
künftigen, wobei von uns festgestellt wurde, daß in Wirklichkeit nur 
die beiden ersten Gründe irgend welche Bedeutung haben, können 
wir nunmehr untersuchen, inwieweit auch die Böhm-Bawerksche 
Behauptung zutrifft, als ob der Kapitalgewinn das Resultat des Zeit- 
einflusses auf den subjektiven Wert der Güter sei. Wir haben be- 
reits gesehen, daß die Schätzung der Arbeit von seiten des Arbeiters 
keine bestimmte Größe darstellen kann, wenn man dieser Schätzung 
die von Böhm-Bawerk erwähnten Erwägungen zu Grunde legt. 
Denn die Arbeit ist für den Arbeiter weder ein künftiges Gut, noch 
ein Gut schlechthin und zwar deshalb, weil unter gegenwärtigen 
Wirtschaftsverhältnissen der Arbeiter ohne Kapitalvermittlung seine 
Arbeit überhaupt nicht zur Produktion verwenden kann. Maßgebend 
kann daher allein die Schätzung der Kapitalisten sein. Wir müßten 
also beweisen, daß die Kapitalisten die gegenwärtigen Güter höher 
als die künftigen bewerten. Ferner wäre der Beweis dafür zu liefern, 
daß, wenn die Kapitalisten den Arbeitern nicht das ganze Produkt 
ihrer Arbeit hergeben, das nicht deshalb geschieht, weil sie sich 
in einer günstigeren Lage als die Arbeiter befinden und daher einen 


Die Böhm-Bawerksche Kapitalzinstheorie. 445 


Teil des Produktes ohne weiteres sich aneignen können, sondern des- 
halb, weil die Arbeit ihnen als „künftiges“ Gut erscheint und infolge- 
dessen als minderwertig geschätzt wird. 

Bei seiner diesbezüglichen Beweisführung beeilt sich nun Böhm- 
Bawerk zu erklären, daß für die Masse der Kapitalisten die ersten 
zwei Gründe, sofern es sich um den Mehrwert gegenwärtiger Güter 
handelt, keine Rolle spielen +). Wenn also die Kapitalisten trotz 
alledem die gegenwärtigen Güter höher als die künftigen bewerten, 
so kann das ausschließlich auf Grund des an dritter Stelle genannten 
Momentes (Bd. 2, S. 333) geschehen. Die in letzterer Hinsicht an- 
gewandte Beweisführung ist aber, wie wir gesehen haben, auf einem 
Mißverständnis basiert. Uebrigens, wenn seine diesbezügliche Be- 
weisführung auch durchaus folgerichtig wäre, würde man damit nicht 
viel ausrichten können. Denn Böhm-Bawerk behauptet bekanntlich, 
daß ein Gut, über welches wir in diesem Momente verfügen, einen 
größeren Wert hat, als ein Gut, das erst nach einiger Zeit in unseren 
Besitz gelangt, weil das erstere sofort produktiv verwendet werden 
kann und folglich ein Endprodukt vom größten Wert liefern wird. 
Angenommen, die Behauptung sei richtig. Welchen Schluß können 
wir daraus hinsichtlich des subjektiven Wertes gegenwärtiger Güter 
für den Unternehmer ziehen ? 

Ein gegenwärtiges Gut hat dem künftigen Gut gegenüber einen 
Mehrwert, weil es sofort zur Produktion verwendet werden kann. 
Um den gegenwärtigen Gütern, als deren Verkäufer der Unternehmer 
auftritt, einen höheren subjektiven Wert zu verleihen, ist also not- 
wendig, daß der Unternehmer sie zur Produktion verwendet. Da 
aber die gegenwärtigen Güter Genußgüter sind, so kann sie der 
Unternehmer bei den heutigen Verhältnissen nur dann produktiv 
anlegen, wenn er sie gegen Arbeit umtauscht. Der Umtausch gegen 
Arbeit erscheint hier also als ein Mittel gegen zwecklose Verschwen- 
dung gegenwärtiger Güter. Die Kapitalisten müßten daher das künf- 
tige Gut (die Arbeit) nicht minder, sondern eher höher bewerten. 
Ausgenommen sind dabei natürlich die Fälle, in welchen der Unter- 
nehmer, ohne zum Tausche gegen die Arbeit Zuflucht nehmen zu 
müssen, seinem Vorrat an gegenwärtigen Gütern eine produktive 
Verwendung sichern kann. Das wird nur dann der Fall sein, wenn 
der Unternehmer alleiniger Produzent ist und wenn also der Vorrat 
der gegenwärtigen Güter ihm einen längeren Produktionsprozeß er- 
möglicht. Denn nur in diesem Ausnahmefall könnte man sagen, daß 
die gegenwärtigen Güter kraft des dritten Grundes höher als die 
künftigen geschätzt würden. Böhm-Bawerk ist sich offenbar dieser 


1) Bd. 2, S. 409. Diese beiden Momente üben auf die Kapitalisten eher eine ent- 
gegengesetzte Wirkung aus (Bd. 2, S. 332). Würde z. B. der Kapitalist sein ganzes 
Vermögen in gegenwärtigen Gütern anlegen, statt es zu produktiven Zwecken zu ver- 
wenden, so würde daraus selbstverständlich für die Gegenwart ein Ueberschuß gegen- 
über dem wirklichen Bedarf entstehen, während der Bedarf der Zukunft ungedeckt 
bliebe. Weil er aber in der Gegenwart besser versorgt wäre, müßte er die künftigen 
Güter höher schätzen. 


446 N. Schaposchnicoft, 


Schwäche bewußt und illustriert daher seine Beweisführung mit einem 
Beispiel, in welchem ein kleiner Handwerker figuriert!), der bei der 
Unternehmung mitwirkt. Dieser bewertet, meint Böhm-Bawerk, 
gegenwärtige Güter höher als künftige, weil sie ihm längere und 
ergiebigere Produktionsprozesse ermöglichen. Im weiteren muß aber 
Böhm-Bawerk zugeben, daß unter den heutigen Produktionsverhält- 
nissen, bei denen die Unternehmer sich am Produktionswerke per- 
sönlich nicht beteiligen, die Sachlage nicht mehr so einfach sei. .. 
„So ist nach dem oben Gesagten für die modernen Wirtschaftsver- 
hältnisse anzunehmen, daß für die Kapitalisten der subjektive Ge- 
brauchswert der gegenwärtigen Güter nicht größer ist als der der 
künftigen Güter. Sie würden daher äußersten Falles bereit sein, 
für eine Arbeitswoche, die ihnen zehn Gulden in zwei Jahren ein- 
bringt, nahezu volle zehn gegenwärtige Gulden zu geben ?). 

Die Analyse der subjektiven Wertschätzungen sowohl von seiten 
der Kapitalisten als auch der Arbeiter gibt uns also kein Recht, zu 
behaupten, daß der Umstand, weshalb der Arbeiter nur einen Teil 
seines Arbeitsproduktes erhält, durch den Einfluß des Zeitmoments 
auf den Arbeitswert zu erklären sei. 

In dem Kapitel „Allgemeiner Subsistenzmittelmarkt* kommt 
Böhm-Bawerk wieder auf diese Frage zu sprechen, und bemüht 
sich, unter Außerachtlassung des Einflusses des Zeitmomentes auf 
den Güterwert, nachzuweisen, daß der geringere Wert der Arbeit 
von dem Ueberfluß des Arbeitsangebots gegenüber der Arbeitsnach- 
frage herrührt. Nur ist dieser Gedanke hier etwas anders formuliert. 
Er spricht diesmal nämlich nicht von dem Minderwert der Arbeit, 
sondern von dem Mehrwert der gegenwärtigen Güter den künftigen 
gegenüber. Die Erscheinung wird durch das numerische Ueber- 
gewicht auf seiten der künftigen Güter erklärt. 

Wir sehen also, daß Böhm-Bawerk bei der Analyse der wich- 
tigsten und interessantesten Art des Kapitalzinses (Kapitalgewinn 
der Unternehmer) schließlich gezwungen ist, sich von seiner Theorie, 
der zufolge der Kapitalzins als Resultat des Zeiteinflusses auf die 
subjektive Schätzung der gegenwärtigen und künftigen Güter er- 
scheint. loszusagen. Am besten kommt das in dem Kapitel zum 
Vorschein, in welchem die Höhe des Kapitalzinses besprochen wird. 
Denn die Höhe des Kapitalzinses hängt von Momenten ab, die mit 
der subjektiven Schätzung gegenwärtiger und künftiger Güter nichts 
Gemeinsames haben, wobei von dem Umtausch gegenwärtiger Güter 
gegen künftige nicht einmal, wie dies bereits von Knut Wicksell her- 
vorgehoben wurde), die Rede ist. 

Obwohl wir im vorhergehenden die Unhaltbarkeit der Böhm- 
Bawerkschen Grundansicht über den Ursprung des Kapitalzinses 
festgestellt haben, dürfen wir noch keineswegs behaupten, daß es uns 


1) Vergl. Bd. 2, S. 333. Auf S. 287 illustriert Böhm-Bawerk die Richtigkeit 
dieses Satzes mit Hilfe des Naturmenschen. 

2) Vergl. Bd. 2, S. 349; ferner SS. 398, 405 u. 409. 

3) Ueber Wert, Kapital und Rente, S. IX. 


Die Böhm-Bawerksche Kapitalzinstheorie. 447 


gelungen sei, die Unrichtigkeit seiner Theorie darzulegen und zwar 
deshalb, weil sie nicht auf diesem Argument allein basiert ist. An 
manchen Stellen seines Werkes begegnen wir nämlich noch einer 
anderen Erwägung, welche auf die Notwendigkeit der Entstehung 
des Kapitalzinses hinweist. 

Böhm-Bawerk argumentiert dabei folgendermaßen: Der Kapital- 
zins erscheint ihm als eine Art Belohnung dafür, daß die Kapitalisten 
den Arbeitslohn vorschießen und die Arbeiter von der Notwendigkeit, 
den Produktionsabschluß abzuwarten, befreien. Die Arbeiter ge- 
langen nur dadurch, daß sie nicht warten können, in eine ökono- 
mische Abhängigkeit von den Kapitalisten, die sich darin äußert, 
daß sie nicht das ganze Produkt ihrer Arbeit erhalten. Könnten die 
Arbeiter warten oder würde die Produktion sofort Früchte tragen, 
so würde man die Kapitalisten ganz entbehren können. In seiner 
Kritik der Rodbertusschen Theorie erklärt denn auch Böhm-Bawerk, 
daß nicht das Privateigentum an Produktivmitteln, sondern die 
„fatale Zeitdifferenz“ zwischen Anfang und Ende des kapitalistischen 
Produktionsumweges den Grund der Abhängigkeit abgibt, in der die 
Arbeiter sich befinden !). Böhm-Bawerk vertritt hier einen wesentlich 
anderen Standpunkt als vorher. Denn er sieht die Quelle des Kapital- 
zinses nicht mehr in dem Zeiteinflusse auf die subjektive Schätzung, 
sondern in der Tatsache, daß die Produktion Zeit beansprucht. Die 
Arbeiter müssen den Abschluß der Produktion abwarten; weil sie 
es aber nicht können, müssen sie in die Bedingungen einwilligen, 
die ihnen die Kapitalisten stellen. Diese Argumention spielt eine so 
hervorragende Rolle in der Böhm-Bawerkschen Beweisführung, daß 
wir sie einer näheren Betrachtung würdigen müssen. 

Vor allem muß untersucht werden, ob es denn richtig sei, daß 
die Arbeiter die Arbeitskraft deshalb billiger verkaufen müssen, weil 
sie das Ende des Produktionsprozesses nicht abwarten können’? 
Um diese Frage zu beantworten, muß die Rolle festgestellt werden, 
welche der Zeitmoment in der modernen Volkswirtschaft spielt. 
Dies kann aber nur dann geschehen, wenn man den individuell 
wirtschaftlichen Standpunkt verläßt und die Volkswirtschaft als ein 
Ganzes betrachtet. Dieser Standpunkt wird übrigens auch von 
Böhm-Bawerk an anderen Stellen vertreten, so z. B. im Kapitel 
„Allgemeiner Subsistenzmittelmarkt* und in den die Werthöhe be- 
handelnden Kapiteln. „Es ist ein Charakterzug meiner Kapitals- 
theorie“, sagt z. B. Böhm-Bawerk, „daß sie den Produktionsprozeß, 
der zur Erzeugung der von uns begehrten Genußgüter hinführt, ... 
als ein einheitliches Ganzes auffaßt und ihre wichtigsten Begriffe 
und Gesetze aus Verhältnissen dieses Ganzen ableitet“ ?). 

Diese Aeußerungen Böhm-Bawerks verdienen, nebenbei bemerkt, 


1) Vergl. Bd. 2, S. 88 und außerdem Bd. 1, S. 466—479. Derselbe Gedanke, 
nur etwas maskiert, ist zu finden in Bd. 2, S. 353—356. 

Dieselben Beweise liegen auch der die Werthöhe bestimmenden Theorie zu Grunde. 
Vergl. Abschnitt V. 

2) Vergl. Böhm-Bawerk, Einige strittige Fragen der Kapitalstheorie, 8. 43, 


448 N. Schaposchnicoff, 


eine um so größere Anerkennung, da eine der Hauptursachen des 
Streites über verschiedene ökonomische Grundprobleme (insbesondere 
das Verteilungsproblem) meines Erachtens gerade der Umstand ist, 
daß zu viele Forscher statt auf dem volkswirtschaftlichen auf dem 
individual-wirtschaftlichen Standpunkte stehen. Es kann also nur 
begrüßt werden, daß Böhm-Bawerk, einer der hervorragendsten 
Vertreter der individualistischen Österreichischen Schule, für die 
Untersuchung der Volkswirtschaft als eines einheitlichen Ganzen 
eintritt. 

Wenn wir aber die Nützlichkeit und sogar Notwendigkeit des 
volkswirtschaftlichen Standpunktes bei der Untersuchung der Ver- 
teilung der Güter anerkennen, so können wir doch nicht umhin, 
darauf hinzuweisen, daß es durchaus fehlerhaft wäre, die Volks- 
wirtschaft einfach als ein Aggregat von individuellen Wirtschaften 
aufzufassen, zumal bei weitem nicht alle Begriffe aus der Sphäre 
der privatwirtschaftlichen Tätigkeit für die Volkswirtschaft passen. 
Läßt man daher die Kritik und die Analyse der Grundbegriffe, mit 
denen man auf dem Gebiet der Volkswirtschaft zu operieren hat außer 
Acht, so kann der Forscher nur zu leicht in eine Reihe von unlös- 
lichen Widersprüchen mit der Wirklichkeit geraten, wobei die 
Untersuchung, statt fruchtbar zu wirken, die Lösung der in Frage 
kommenden Probleme noch mehr verwickeln kann. In letzterer 
Hinsicht muß leider hervorgehoben werden, daß auch dem sonst so 
feinsinnigen Böhm-Bawerk die Analyse der Volkswirtschaft nichts 
Neues gab, sondern ihn im Gegenteil, wie wir bald sehen werden, 
zu einer Reihe weiterer Widersprüche führte. 

Böhm-Bawerk behauptet, der Arbeiter kann das ganze Produkt 
seiner Arbeit nicht erhalten, weil dieses noch nicht existiert und der 
Arbeiter außerdem nicht in der Lage ist, das Ende des Produktions- 
prozesses abzuwarten. Er muß sich daher mit einem Teil seines 
Arbeitsproduktes, der dem bereits hergestellten Gütervorrat als Vor- 
schuß entnommen wird, begnügen, während der Rest in die Hände 
der Kapitalisten gelangt. 

Was ist aber der Fonds, aus dem die Arbeiter ihr Einkommen, 
den Arbeitslohn, schöpfen können? 

Das Produkt der gesellschaftlichen Arbeit ist selbstverständlich 
nicht der Summe der Produkte gleich, die von allen in der Gesell- 
schaft existierenden Unternehmungen produziert wurden, weil es 
eine ganze Reihe von Unternehmungen gibt, die z. B. nur Halb- 
fabrikate herstellen. Der Fonds, aus welchem alle Gesellschafts- 
klassen die Befriedigung ihrer Bedürfnisse schöpfen, ist also auf die im 
gegelfenen Moment vorhandenen Genußgüter beschränkt, wie daß wieder- 
holt von den hervorragendsten Wirtschaftsforschern betont wurde. So 
verfuhr z. B. sowohl Rodbertus, indem er aus der Gesamtmasse des Volks- 
vermögens das Nationaleinkommen ausschied, als auch Karl Marx. 
Böhm-Bawerk dagegen, obwohl auch er die Volkswirtschaft als ein 
einheitliches Ganzes betrachten will, findet es nicht für nötig, an 
diesem Unterschied festzuhalten. Der Fonds, aus welchem das Ein- 


Die Böhm-Bawerksche Kapitalzinstheorie. 449 


kommen der verschiedenen Gesellschaftsklassen gedeckt wird, wird 
seiner Ansicht nach aus der Gesamtheit des Volksvermögens, Grund 
und Boden ausgenommen, gebildet. Er läßt sich davon auch durch 
die Tatsache nicht abbringen, daß ein bedeutender Teil dieses Ver- 
mögens, wie Werkzeuge, Rohstoffe u. s. w. keine Genußgüter seien; 
er zählt diese Produkte im Gegenteil zum Subsistenzmittelfonds, weil 
sie „unter einem gewissen Zusatz an Vollendungsarbeit in mehr 
oder weniger naher Zukunft zu fertigen Genußmitteln ausreifen“ 1). 
Eine derartige Begründung klingt allerdings etwas seltsam. Denn 
rechnet man zum Subsistenzmittelfonds die Halbfabrikate und Roh- 
stoffe nur deshalb, weil sie nach einer bestimmten Zeit zu fertigen 
Genußmitteln ausreifen, so ist es unklar, warum er aus diesem 
Fonds die Arbeit ausscheidet, zumal die Arbeit ebenso nach einiger 
Zeit in Genußmittel verwandelt werden kann. Und das gleiche gilt 
vom Grund und Boden. Will man konsequent bleiben, so müßte man 
auch diese beiden Faktoren in den Subsistenzmittelfonds einreihen ; 
dadurch hätten wir aber die fragliche Begriffsbestimmung völlig un- 
klar gemacht, weil sie in sich alles einschließen würde, was zur 
Produktion dient. 

Nach diesen Vorbemerkungen können wir zur Untersuchung der 
Fragen übergehen, ob es dem Arbeiter wirklich nicht möglich sei, 
das ganze Produkt seiner Arbeit zu erhalten, ob es ferner richtig 
sei, daß er das Ende des Produktionsprozesses nicht abwarten könne 
und ob er in Form des Arbeitslohnes vom Kapitalisten nur einen 
Vorschuß bekomme, wobei der letztere den Zeitpunkt abwarten muß, 
in dem das vom Arbeiter hergestellte Produkt eine definitive Form 
annehme. Um diese Erscheinungen besser zu vergegenwärtigen, 
kann man den ganzen Prozeß der gesellschaftlichen Produktion in 
drei Gruppen einteilen. In die erste Gruppe gehört das erste 
Stadium des Produktionsprozesses von Genußgütern, d. h. Gewinnung 
von Rohstoffen, Herstellung von Maschinen, die zur Rohstoffproduktion 
nötig sind, u. s. w. Zur zweiten Gruppe gehören diejenigen Stadien 
des Produktionsprozesses, welche sich mit der weiteren Verarbeitung 
der Rohstoffe beschäftigen: die Herstellung der Halbfabrikate sowohl 
als der zur Produktion von Genußgütern benötigten Maschinen. Und 
endlich zur dritten Gruppe gehört das letzte Stadium des Produktions- 
prozesses: die Herstellung von Genußgütern. Nehmen wir nun an, 
daß in jeder Gruppe und in jedem Produktionsstadium 10000 Ar- 
beiter beschäftigt sind und daß außerdem der Produktionsprozeß 
in jeder Gruppe ein Jahr dauert, so daß der ganze Produktions- 
prozeß von Genußgütern drei Jahre in Anspruch. nehmen muß. 
Wegen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung wird sich aber das 
herzustellende Produkt gleichzeitig in allen drei Stadien befinden, 
so daß ein Teil der Arbeiter im ersten Stadium der Genußgüter- 
produktion Beschäftigung finden wird, während ein anderer Teil 
im zweiten und der dritte im definitiven Stadium, als dessen Pro- 


1) Vergl. Bd. 2, S. 340. 
Dritte Folge Bd. XXXII! (LXXXVII). 29 


450 N. Schaposchnicoff, 


dukt fertige Genußgüter erscheinen, beschäftigt werden. Ungeachtet 
also dessen, daß der Produktionsprozeß von Genußgütern eigentlich 
eine dreijährige Periode beansprucht, werden diese Ende jedes 
Jahres auf dem Markte erscheinen. Dies wird durch die Arbeits- 
teilung bedingt, welcher es, wie das bereits von Marx hervorgehoben 
wurde, zu verdanken ist, daß die Reihenfolge in der Zeit durch die 
Reihenfolge im Raum ersetzt wird. Die jährlich auf dem Markte 
erscheinenden Genußgüter müssen also als ein Produkt der Jahres- 


arbeit der Gesamtzahl der Arbeiter betrachtet werden — oder mit 
anderen Worten, in ihnen ist die Jahresarbeit von 30000 Arbeitern 
verkörpert. 


Infolge der Arbeitsteilung wird also auf den Markt jährlich das 
Produkt der Jahresarbeit der ganzen Gesellschaft geworfen. Und 
somit können die Arbeiter, trotz des drei Jahre umfassenden Pro- 
duktionsprozesses, jährlich das ganze Produkt ihrer Arbeit erhalten. 
Letzteres wird von Böhm-Bawerk allerdings bestritten und zwar auf 
Grund nachstehenden Beispiels!). Nehmen wir an, sagt er, daß zur 
Herstellung einer Dampfmaschine 5 Jahre lang 5 Arbeiter beschäftigt 
werden. Der eine ist mit der Gewinnung der Eisenerze beschäftigt, 
der andere verarbeitet die Erze zu Eisen, der dritte fertigt Stahl 
an, der vierte verarbeitet diesen Stahl zu Maschinenteilen und end- 
lich der fünfte vereinigt alle diese Teile zu einer fertigen Maschine. 
Nur der letzte Arbeiter, meint Böhm-Bawerk, kann seinen Lohn un- 
mittelbar nach Vollendung der Arbeit erhalten, während die übrigen 
mehr oder weniger lang warten müssen. 

Tatsächlich würden aber die Arbeiter nur im Falle warten müssen, 
wenn die Dampfmaschinenproduktion gerade um diese Zeit über- 
haupt erst in Angriff genommen wäre und zwar so lange, bis die 
erste Dampfmaschine fertig gestellt ist. Bei der Herstellung weiterer 
Maschinen, wenn alle Produktionsstadien bereits zu tun haben werden, 
wird es aber nicht mehr nötig sein, die Beendigung des Produktions- 
prozesses abzuwarten. Denn neue Dampfmaschinen werden ja jähr- 
lich hergestellt werden müssen und so werden die Arbeiter jährlich 
auch ihre auf die Maschinenfabrikation verwendete Arbeit realisieren 
können. Die Behauptung Böhm-Bawerks, als ob die Arbeiter un- 
möglich das ganze gesellschaftliche Arbeitsprodukt für ihre Arbeit 
beanspruchen können, weil sie das Ende des Produktionsprozesses 
abzuwarten gezwungen sind, muß also darauf zurückgeführt werden, 
daß er die Rolle der Arbeitsteilung in der modernen Produktion 
ignoriert und außerdem das Moment unberücksichtigt läßt, daß in- 
folge dieser Arbeitsteilung der Produktionsprozeß vom wirtschaft- 
lichen und nicht vom technischen Standpunkt aus gekürzt wird. 
Diejenigen Produkteinheiten, welche die Arbeit eines gegebenen 
Jahres repräsentieren, kann der Arbeiter in der Tat erst nach Voll- 
endung des ganzen Produktionsprozesses erhalten ; daraus folgt aber 
keineswegs, daß der Arbeiter ebenso lang auf seinen Arbeitslohn 


1) Bd. 1, S. 472. 


Die Böhm-Bawerksehe Kapitalzinstheorie. 451 


warten müsse. Wenn er auch: das Produkt nicht erhalten kann, 
welches die Arbeit dieses Jahres verkörpert, so kann er doch sehr 
leicht statt dessen ein Produkt zugeteilt erhalten, das die Arbeit 
verflossener Jahre verkörpert. Er braucht also weder auf seinen 
Lohn zu warten, noch den Genuß zu verschieben, weil die Arbeits- 
teilung es eben möglich macht, den gleichzeitigen Lauf eines Pro- 
duktes durch verschiedene Produktionsstadien durchzusetzen !). Wir 
sehen also, daß die Berufung Böhm-Bawerks auf die Notwendigkeit 
des Wartens die Entstehung des Kapitalzinses keineswegs erklären 
kann. Uebrigens, vorausgesetzt sogar, daß es richtig sei, daß man 
auf das Ende des Produktionsprozesses lange warten müsse, würde 
dieser Umstand die Entstehung des Kapitalzinses keineswegs be- 
gründen können. Denn alles, was daraus gefolgert werden kann, 
ist, daß die Arbeiter ihre Bedürfnisse mit den Produkten der vorher- 
gehenden Produktionsperiode befriedigen müßten, nicht aber die 
Ursache, weshalb die Arbeiter nicht das ganze Produkt des vor- 
hergehenden Produktionsprozesses erhalten könnten. Das zuletzt 
genannte Moment bildet aber die Kernfrage, welche von der Kapital- 
zinstheorie aufgeworfen wird. Die Lösung des Problems des Kapital- 
zinses ist vielmehr in der Tatsache zu suchen, daß das Produktions- 
produkt Eigentum der Kapitalistenklasse bildet, während die Arbeiter 
nichts außer ihrer Arbeitskraft besitzen. 

Trotz aller dieser Mängel muß man jedoch anerkennen, daß die 
Hauptfrage bei Böhm-Bawerk richtig gestellt ist. Denn er sucht 
mit Recht die Ursache der Entstehung des Kapitalzinses nicht in 
der Produktion, sondern im Verkehr, und anerkennt auch nicht, im 
Gegensatz zu vielen anderen Forschern, die selbständige Produktivität 
des Kapitals. Nicht der Produktionsprozeß ist nach ihm für die 
Entstehung des Kapitalzinses maßgebend, sondern der Schätzungs- 
prozeß, d. h. die Feststellung des Preises der Produktionsfaktoren. 
Als den Hauptfaktor betrachtet er dabei ganz richtig die Momente, 
welche den Preis der Arbeit bestimmen. 

Die Prämissen Böhm-Bawerks sind also einwandsfrei, dessen un- 
geachtet hat er die richtige Lösung nicht erzielt. Das Zinsproblem 
ist nicht gelöst: weder im Einfluß des Zeitmoments auf den sub- 
jektivren Wert, noch in dem notgedrungenen Warten des Arbeiters 
kann man die Quelle des Zinses ersehen. Hierdurch könnten viel- 
leicht Einzelheiten des Konsumtionskredits erhellt werden, zum Auf- 
bau einer allgemeinen Zinstheorie jedoch sind sie absulut unzulänglich. 


1) Als Beispiel dafür, in welcher Weise der Arbeitsteilung, wenn nicht vom tech- 
nischen, so doch wenigstens vom wirtschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, den Pro- 
duktionsprozeß abkürzt, kann die Weltgetreideproduktion angeführt werden. Trotz der 
Machtlosigkeit des Menschen betreffs Beschleunigung der Getreidereife kann er doch 
vermöge Ausnützung der Verschiedenheit der klimatischen Bedingungen monatlich das 
Getreide einer neuen Ernte einheimsen. 


29* 


452 F. W. R. Zimmermann, 


VIII. 


Gutszertrümmerungen und die 
braunschweigische Statistik über dieselben. 


Vom 


Geheimen Finanzrat Dr. F. W. R. Zimmermann zu Braunschweig. 


Inhalt: 1. Einleitung. 2. Wirtschaftliche Wirkung der Gutszertrümmerungen. 
3. Hohe Zahl der Gutszertrümmerungen bei gesunder wirtschaftlicher Lage. 4. Ursache 
für die ungünstige Beurteilung der Gutszertrümmerungen. 5. Gutszertrümmerung, 
schroffer Eingriff in die bestehenden Besitzverhältnisse. 6. Folge der Gutszertrümme- 
rung für das zertrümmerte Anwesen. 7. Verbleib der vom zertrümmerten Anwesen ab- 
getrennten Grundflächen. 8. Grund der Gutszertrümmerung. 9. Gewerbsmäßige Guts- 
zertrümmerung. 10. Schlußwort. 


1. Einleitung. Wie wir in diesen Jahrbüchern (1901, 
III. Folge, Bd. 21, S. 168 ff.) näher zur Darstellung gebracht haben, 
ist man im Herzogtum Braunschweig erst zu einem verhältnismäßig 
späten Zeitpunkt, im Jahre 1874, dazu geschritten, die nach Jahr- 
hunderte alter gesetzlicher Regelung bestehende Geschlossenheit des 
bäuerlichen Grundbesitzes aufzugeben und dem Eigentümer eines 
Bauerngutes die Befugnis, über dasselbe und dessen Zubehörungen 
unter Lebenden und von Todeswegen in den gesetzlichen Formen 
frei zu verfügen, im Wege besonderer Landesgesetzgebung einzu- 
räumen. Man hat dann aber, allerdings unter der bei entsprechen- 
der Neuordnung subsidiären Beibehaltung der dem Bauernrechte 
eigentümlichen Institute des Anerbenrechts, der Interimswirtschaft 
und der Leibzucht, sofort die volle Verfügungsfreiheit des 
Eigentümers über den ländlichen Grundbesitz eintreten 
lassen, ohne dabei irgend welche Beschränkungen, wie sie sonst 
wohl in der Fixierung eines unteilbaren Minimums, in der Zulassung 
nur einer begrenzten Abtrennung von einem gekauften Grundbesitz 
durch den Käufer und dergleichen häufiger vorkommen, zu treffen. 
Gerade mit Rücksicht hierauf mußte man aber die Entwickelung der 
Grundbesitzverhältnisse, wie sie sich unter der neuen von den 
früheren Schranken befreienden . Gesetzgebung vollzog, nach allen 
Richtungen und Einzelheiten hin mit einer besonderen Sorgfalt ver- 
folgen, da im allgemeinen die Verteilung des landwirtschaftlichen 


Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik über dieselben. 453 


Grundbesitzes im Herzogtum auf größere, mittlere und kleinere Be- 
triebe in gesunder Vermischung nur als eine günstige und nach 
Tunlichkeit zu erhaltende angesehen werden konnte, wenngleich eine 
gewisse Bewegungsfreiheit bezüglich des Grundbesitzes ebenmäßig 
im Interesse der vollen landwirtschaftlichen Ausnutzung des Grund 
und Bodens und der vorteilhaften Anwendung der neuzeitlichen durch 
Fortschritt von Wissenschaft und Technik gewonnenen Errungen- 
schaften erwünscht erscheinen mußte. 

Aus diesem Bedürfnis, sich stets möglichst in Klarheit über den 
Fortgang der Grundbesitzentwickelung zu erhalten, ist es dann auch 
hervorgegangen, daß das Herzogliche Staatsministerium durch die 
Verfügung vom 13. Februar 1897 nach dem gleichen Vorgehen vom 
Königreich Bayern eine fortlaufende statistische Erhebung 
über die Gutszertrümmerungen im Herzogtum vom Jahre 
1896 an zur Einführung brachte, eine statistische Erhebung, wie sie 
außer Bayern und Braunschweig bislang kein deutscher Staat besitzt, 
obwohl vielleicht einzelne Anklänge daran in der Statistik des König- 
reichs Preußen über den Besitzwechsel land- und forstwirtschaftlicher 
Grundstücke, sowie in Spezialstatistiken über Zwangsveräußerungen 
und Zwangsversteigerungen von Grundstücken, wie denen für das 
Großherzogtum Hessen und das Großherzogtum Baden, wohl vor- 
kommen. Diese besonderen und eingehenderen statistischen Fest- 
legungen über die Gutszertrümmerungen müssen aber bei dem bis- 
herigen allgemeinen Mangel einer eigenen und einer irgendwie aus- 
reichenden Statistik über die Besitzverteilung am Grund und Boden 
insofern wiederum eine vorragendere Bewertung und ein allgemeineres 
Interesse in Anspruch nehmen, als sie immerhin über einen wesent- 
lichen, wenn nicht den wesentlichsten Teil der Verschiebungen in 
der Grundbesitzverteilung bis zu einem gewissen Grade Aufschluß 
geben und so jenes Fehlen einer Statistik über die Grundbesitzver- 
teilung bezüglich der Besitzverschiebung oder der allgemeinen Fort- 
FAE in der Besitzverteilung wenigstens begrenzt ersetzen 

önnen. 

Unter diesem Gesichtspunkte dürfte es vielleicht nicht ungerecht- 
fertigt erscheinen, wenn wir im Nachstehenden unter Heraus- 
hebung einzelner allgemeiner Grundsätze über die 
Gutszertrümmerungen für einige Ergebnisse der bezüg- 
lichen braunschweigischen Erhebung, soweit sie gene- 
reller Natur und eventuell auch als typische zu betrachten sind, eine 
Beachtung weiterer Kreise in Anspruch nehmen. Wir hatten auf 
die ersten bezüglichen Ergebnisse schon in unserer oben bezeich- 
neten Arbeit kurz Bezug genommen, zum Teil werden sich dem 
unsere jetzigen Darstellungen als eine weitere und durch den Lauf der 
Zeit vervollständigte Ausführung anschließen. Das Material der 
braunschweigischen Statistik der Gutszertrümmerungen liegt für die 
zehn Kalenderjahre 1896—1905 vor; eine Verarbeitung der Ergeb- 
nisse ist bereits für das erste Jahr gewissermaßen probeweise vor- 
genommen und in den Beiträgen zur Statistik des Herzogtums Braun- 


454 F. W. R. Zimmermann, 


schweig, 1898, Heft 14, S. 17 ff. veröffentlicht; nunmehr sind aber 
auch die Ergebnisse für die ersten zehn Jahre 1896/1905 zusammen- 
fassend bearbeitet und in den Beiträgen zur Statistik des Herzog- 
tums Braunschweig, 1907, Heft 20, S. 41 ff. zur Veröffentlichung ge- 
langt. Auch die Ergebnisse der bayerischen Erhebung sind, wie 
wir hier gleich vorweg mit Rücksicht auf demnächstige weitere Be- 
zugnahmen darauf hervorheben wollen, für die ersten zehn Jahre, 
die Zeit vom 1. März 1894 bis zum 1. März 1904 in dem 66. Heft 
der Beiträge zur Statistik des Königreichs Bayern unter den Stati- 
stischen Mitteilungen über die Landwirtschaft in Bayern nach Er- 
hebungen von 1894—1904, 2. Teil, 1905, S. 499 ff. zur Verarbeitung 
und Publikation gebracht. ; 

2. Wirtschaftliche Wirkung der Gutszertrümme- 
rungen. Mit der Bezeichnung „Gutszertrüämmerung“ ver- 
bindet man nicht nur im gewöhnlichen Leben, sondern in einer 
ähnlichen Weise auch wohl in der Wissenschaft eine gewisse bedenk- 
liche, mehr oder weniger in das Unrechtliche oder Unlautere 
schlagende Nebenbedeutung, welche in anderen Ausdrücken, die 
durchweg mit der Gutszertrümmerung als gleichbedeutend hingestellt 
werden, wie Hofausschlachtungen, Güterschlächterei, Hofmetzgerei 
vielleicht noch mit größerer Schärfe auch äußerlich hervortritt. In 
den äußersten Konsequenzen geht dieses sogar so weit, daß man die 
Gutszertrümmerungen an sich dem Grundstückswucher gleich- 
achtet und sie ohne weiteres auch als solchen bezeichnet. Dieses 
können wir aber in dem Maße nicht für berechtigt erachten, wir er- 
blicken darin vielmehr nur eine einer näheren Prüfung nicht stand 
haltende Verallgemeinerung, mit welcher Mißstände, welche aller- 
dings bei einzelnen Gutszertrümmerungen, und vorwiegender auch 
bei einzelnen Arten derselben, sich möglicherweise zeigen können, 
allgemein auf die Gutszertrüämmerungen als solche als ein Charakte- 
ristikum derselben oder gewissermaßen als eine conditio sine qua non 
übertragen werden. Als Gutszertrümmerung ist dem Begriff nach 
jedes Geschäft anzusehen, welches dazu geführt hat, daß ein land- 
wirtschaftliches (in der Regel bäuerliches) Anwesen als solches nicht 
mehr fortbesteht oder durch Abtrennung von Grundstücken so wesent- 
lich verkleinert worden ist, daß sich hieraus nachteilige Folgen für 
den Fortbestand und die gedeihliche Fortführung der betreffenden 
Wirtschaft ergeben müssen. Wir sind damit der Begriffsbestimmung 
der bayerischen und der braunschweigischen Statistik über die Guts- 
zertrümmerungen gefolgt, welche sich insofern nicht in den möglicher- 
weise zu ziehenden engsten Grenzen hält, als sie eine Gutszertrüm- 
merung auch dann noch als vorhanden annimmt, wenn das berührte 
Anwesen trotz der durchgeführten Zertrümmerung immerhin noch 
als bäuerliches Anwesen bestehen geblieben ist. 

Betrachten wir die geschaffene Sachlage rein vom wirtschaft- 
lichen Standpunkte aus, so ist ja wiederum nicht zu verkennen, daß 
an und für sich ein wirtschaftlicher Nachteil durch den Fortfall 
einer festbegrenzten Betriebsstätte, sei es überhaupt, sei 


Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik über dieselben. 455 


es doch in der bisherigen höheren Charakterisierung, gegeben sein 
muß. Dieser wirtschaftliche Nachteil wird, wie ferner unbedingt zu- 
zugeben ist, auch dadurch noch um so bedeutungsvoller, daß es sich 
hier um eine landwirtschaftliche, auf dem Grund und Boden be- 
ruhende Betriebsstätte handelt, an deren Erhaltung und an deren 
Leistungsfähigkeit die Gesamtwirtschaft gerade besonders interessiert 
erscheint. Demgegenüber ist aber zu berücksichtigen, daß der Fort- 
fall eines landwirtschaftlichen Anwesens in seiner bisherigen Gestalt 
keineswegs die einzige Folge oder der alleinige Erfolg der Gutszer- 
trümmerung ist, daß jenem Fortfall doch stets die neue Ausge- 
staltung durch die Grundflächen des zertrümmerten 
Anwesens als Korrelat entgegenstehen muß. Diese neue Ausge- 
staltung kann nun wiederum eine verschiedenartige sein. 

Einerseits — und dieses wird wohl der am meisten vorkommende 
Fall sein — können die einzelnen Trümmerstücke des früheren An- 
wesens mit anderen bereits bestehenden Anwesen ver- 
einigt werden; der Regel nach werden sie dann die wirtschaftliche 
Leistungsfähigkeit der letzteren erhöhen, und es steht dahin, ob hier 
nicht vielleicht meist oder doch in der Mehrzahl der Fälle ein wirt- 
schaftlicher Vorteil erreicht wird, der den durch den Fortfall des 
zertrümmerten Anwesens gegebenen Nachteil vollständig ausgleicht 
oder gar überholt. Aus den Einzelteilen des zertrümmerten An- 
wesens können dann aber auch ferner eine Reihe neuer kleinerer 
Anwesen gebildet sein, die je für sich zwar von geringerer Be- 
deutung wie das frühere Anwesen, aber immerhin von entsprechender 
Lebensfähigkeit und Leistungsfähigkeit sind; daß diese neuen An- 
wesen entstanden sind, wird gleicherweise für den regelmäßigen 
Fall schon an und für sich als ein wirtschaftlicher Vorteil anzusehen 
sein, der dann aber unter der besonderen wirtschaftlichen Lage zu 
einer ganz wesentlichen Höhe anwachsen kann, je nachdem sich ein 
Bedürfnis nach jenen kleineren Anwesen mehr oder weniger als vor- 
tretend erweist; eine Ausgleichung zwischen wirtschaftlichem Vorteil 
und Nachteil und sogar über letzteren hinaus liegt mithin auch hier 
sehr wohl im Gebiet der Möglichkeit. Endlich kann aber auch in 
Betracht kommen, daß dem zertrümmerten Anwesen selbst in seiner 
neuen Gestalt eine besondere und zum mindesten im Verhältnis 
größere Leistungsfähigkeit als bisher gewonnen ist, daß 
es sich daher jetzt im allgemeinen in seiner beschränkteren Quali- 
fikation als wirtschaftlich vorteilhafter wie früher zeigt, mithin auf 
diese Weise schon der Nachteil des Fortfalls in der früheren Quali- 
fikation aufgewogen wird. Hierbei werden dann allerdings an Stelle 
der rein sachlichen, in der Betriebsstätte selbst belegenen Momente 
vorwiegender mehr persönliche, nur in dem jeweiligen Eigentümer ge- 
gebene Umstände, wie unzureichende Kapitalkraft, Verschuldung, 
beschränktere Arbeitskraft ete. ausschlaggebend sein, und würde man 
solches bei Bewertung des wirtschaftlichen Vorteils entsprechend zu 
berücksichtigen haben. Ergänzend ist aber noch darauf hinzuweisen, 
daß die vorbehandelten verschiedenen Fälle bis zu einem gewissen 


456 F. W. R. Zimmermann, 


Grade bei der einzelnen Zertrümmerung auch vereint erscheinen 
können, und daß dadurch eventuell ihr wirtschaftlicher Vorteil nicht 
unerheblich gesteigert werden kann, weil eben hier die Möglichkeit 
geboten ist, jeden einzelnen Teil des zertrümmerten Anwesens zu 
tunlichstem wirtschaftlichen Vorteil auszunützen. 

Ziehen wir aus dem Vorausgeführten ein Endergebnis, so 
geht solches dahin, daß bei jeder Gutszertrümmerung dem an 
sich gegebenen wirtschaftlichen Nachteil des Fortfalls einer landwirt- 
schaftlichen Betriebsstätte auch ein gewisser wirtschaftlicher Vorteil 
aus der nunmehrigen Verwendung der einzelnen Teile des zer- 
trümmerten Anwesens gegenüberstehen muß, daß das Verhältnis 
zwischen Nachteil und Vorteil niemals allgemein und prinzipiell, sei 
es zu Gunsten des ersteren, sei es zu Gunsten des letzteren, festge- 
legt werden kann, sondern stets nach den besonderen Umständen 
des einzelnen Falls selbständig und eigenartig zu bestimmen ist, 
daß aber bei normaler Sachlage stets ein Ausgleich zwischen Nach- 
teil und Vorteil bis zu einem gewissen Grade, vielfach wohl gar bis 
zur Vollständigkeit hin, stattfinden wird. 

3. Hohe Zahl der Gutszertrümmerungen bei ge- 
sunder wirtschaftlicher Lage. Danach werden wir also der 
Gutszertrümmerung an und für sich und von vornherein weder einen 
schädlichen noch einen nützlichen Charakter nach der wirtschaft- 
lichen Seite hin beilegen können. Dieselbe stellt lediglich einen 
Vorgang im bürgerlichen Leben dar, welcher wirtschaftlich ebenso- 
wohl einen Vorteil wie einen Nachteil bedeuten kann, dessen bezüg- 
licher Erfolg und Tragweite aber ausschließlich nach den besonderen 
Verhältnissen des einzelnen Falls in der Regel zu beurteilen sein 
wird. Man wird daher die Gutszertrümmerung als solche und als 
Moment des wirtschaftlichen Lebens nicht schon von vornherein zu 
verdammen haben, ebensowenig, wie man die sonstigen zahlreichen 
Momente und Vorgänge, welche je nach der besonderen Lage des 
Falls wirtschaftlich bald zum Vorteil, bald zum Nachteil gereichen 
können, ohne weiteres und allgemein als ungünstig wirkend hin- 
stellen und behandeln wird. Andererseits würde man ja die an sich 
nicht unerhebliche Zahl der Gutszerträmmerungen, welche 
für Braunschweig und für Bayern in den zehn Erhebungsjahren 
statistisch festgelegt worden sind, unbedingt als ein höchst bedenk- 
liches Symptom für die wirtschaftliche Lage aufzufassen haben, ein 
Symptom, das aber nicht nur für jene beiden Staaten, sondern wohl 
allgemeiner für das Deutsche Reich in Betracht gezogen werden 
müßte, da nicht anzunehmen ist, daß in den übrigen Teilen des 
Deutschen Reiches die Verhältnisse, welche für dieselben nicht näher 
konstatiert sind, allgemein und durchgängig wesentlich anders liegen 
werden. 

In Braunschweig sind in den zehn Erhebungsjahren insgesamt 
383 Gutszertrümmerungen vorgekommen, das trägt also rund 38 nach 
dem Durchschnitt für das einzelne Jahr. Bringt man die Zahl in 
ein Verhältnis zu den landwirtschaftlichen Betrieben (Berufs- und 


Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik über dieselben. 457 


Betriebszählung 1895), so entfallen auf 10000 Betriebe 65,93 
oder rund 66 Gutszertrümmerungen. Die von den Gutszertrüm- 
merungen betroffene Grundfläche stellt sich insgesamt für die Zer- 
trümmerungen der zehn Jahre auf 6691,37 ha, nach dem Durch- 
schnitt für das einzelne Jahr mithin auf rund 669 ha. Im Verhält- 
nis zu der gesamten landwirtschaftlichen Fläche berechnen sich 
263,7 ha zertrümmerter Fläche auf je 10000 ha Gesamtfläche. 
Im Verhältnis überragt Bayern, was die Zahl der Gutszertrüm- 
merungen anlangt (8758 Gutszertrümmerungen in den zehn Er- 
hebungsjahren rund 876 durchschnittlich für das Jahr und 132,0 
auf 10000 landwirtschaftliche Betriebe), Braunschweig wesentlich, 
wogegen es bezüglich der zertrümmerten Fläche (133 430,98 ha 
insgesamt, 13343 ha für das Jahr und 224,4 ha auf 10000 ha 
Gesamtfläche) ein wenig hinter Braunschweig zurückbleibt. Es sind 
dieses immerhin doch für beide Staaten beachtenswerte Zahlen, die 
sich voraussichtlich in einer ähnlichen Weise auch für die anderen 
Teile des Deutschen Reiches ergeben würden. 

Wenn aber die Gutszertrümmerung an sich, und damit hier 
jeder einzelne Fall derselben, schon einen nachteiligen Vorgang in 
der wirtschaftlichen Entwickelung bedeuten würde, so müßte aus 
jenen Zahlen wohl unbedingt auch das Vorhandensein höchst krank- 
hafter Verhältnisse in den Verschiebungen des Eigentums am Grund 
und Boden geschlossen werden, beziehungsweise die verhältnismäßig 
große Zahl von Gutszertrümmerungen, also von wirtschaftlich nach- 
teiligen Vorgängen, müßte einen derartigen Zustand bereits geschaffen 
und durch ihr gleichmäßiges Erscheinen bezüglich einer ganzen Reihe 
von Jahren solchen stetig verschärft haben. Glücklicherweise können 
wir aber aus einer ganzen Anzahl anderer Erscheinungen mit voller 
Sicherheit konstatieren, daß der allgemeine Stand der Grundbesitz- 
verhältnisse und die in demselben sich zeigende Bewegung für das 
Deutsche Reich und ebenmäßig auch für die beiden speziell ange- 
führten Staaten desselben als ein durchaus normaler und keineswegs 
als ein irgendwie krankender anzusehen und daß zu besonderen Be- 
sorgnissen nach besagten Richtungen hin keinerlei Anlaß gegeben 
ist. Die vorgekommenen Gutszertrümmerungen, wenn sie ohne 
weiteres wirtschaftlich nachteilig wirken würden, wären aber nicht 
nur der Anlaß, sondern ebenso auch das sichere Zeichen für einen 
derartigen ungesunden Grundbesitzzustand gewesen. 

Es ist aber auch in den beiden amtlichen Bearbeitungen der 
besonderen Statistiken über die Gutszertrümmerungen, welche wir 
oben angeführt haben, in keiner Weise zum Ausdruck gebracht, daß 
das Auftreten der Gutszertrümmerungen überhaupt und in den be- 
sagten Zahlen als etwas Anormales oder Außerordentliches oder gar 
Ungesundes betrachtet werden müsse. Uebereinstimmend sehen 
beide Veröffentlichungen die Gutszertrümmerung als einen Vorgang 
an, der als solcher weder einen wirtschaftlichen Nachteil, noch einen 
wirtschaftlichen Vorteil bedeutet, also nach dieser Richtung hin 
zunächst sich als indifferent erweist, der aber je nach den besonderen 


458 F. W. R. Zimmermann, 


Umständen des Einzelfalles und nach der Art und Weise, speziell 
nach der Häufigkeit seines Auftretens, sowohl zu einem Nachteil 
wie zu einem Vorteil nicht nur für die unmittelbar betroffenen 
Einzelwirtschaften, sondern auch für die Gesamtwirtschaft, für die 
Volkswirtschaft werden kann. Nach dieser Sachlage muß es be- 
rechtigt erscheinen, bei einer wirtschaftlichen Würdigung der Guts- 
zertrümmerung zunächst das allgemeine Vorurteil gegen dieselben 
in seinem prinzipiellen Stand und seiner Unbeschränktheit zurück- 
zuweisen. 

4. Ursache für die ungünstige Beurteilung der 
Gutszerträmmerungen. Wenn gegen einen wirtschaftlichen 
Vorgang sich ein derartiges allgemeines Vorurteil ausgebildet hat, 
so daß man mit der einfachen Bezeichnung desselben, mit dem 
Worte Gutszertrümmerung, schon ohne weiteres den Begriff eines 
wirtschaftlichen Nachteiles verbindet, so ist nicht anzunehmen, daß 
solches ohne allen inneren Grund geschehen ist. Die Gutszer- 
trümmerung als wirtschaftlicher Vorgang muß in sich Momente ent- 
halten, welche, sei es vermöge der in ihnen selbst liegenden größeren 
Gefahr, sei es vermöge Ueberschätzung ihrer Bedeutung, sei es 
vermöge ihrer unrichtigen Einschätzung überhaupt, jenem Vor- 
urteil eine mehr oder weniger breite Unterlage bieten konnten 
und bieten mußten. Einer näheren Prüfung dürfte es nicht 
schwer fallen, derartige Momente von entsprechender Bedeutung 
nachzuweisen. Wir wollen dieselben im Nachstehenden etwas spe- 
zieller betrachten und auf das richtige Maß und ihre eigentliche 
Tragweite zurückzuführen suchen, dabei namentlich das weitere, in 
der amtlichen Publikation nicht berührte Material der braunschweigi- 
schen Statistik so weit als möglich zu näheren, auch zahlenmäßigen 
Nachweisungen verwertend. 

5. Gutszertrümmerungen, schroffer Eingriff in 
die bestehenden Besitzverhältnisse. Ein lediglich äußeres 
und deshalb an sich vielleicht weniger zu Buche schlagendes Moment, 
welches wir vorweg nur kurz berühren wollen, ist schon darin ge- 
geben, daß man im allgemeinen allseitig mehr geneigt ist, bezüglich 
des Grundbesitzes tunlichst eine gewisse Erhaltung der bestehenden 
Verhältnisse und speziell der Besitzverhältnisse als einer normalen 
und gesunden wirtschaftlichen Lage entsprechend anzusehen und daß 
man daher von vornherein gegen jeden mehr oder weniger schroffen 
Eingriff in die Verhältnisse des Grundbesitzes und des Besitzes am 
Grund und Boden das wenn auch unbestimmte Gefühl hat, ob der 
wirtschaftlichen Lage im Einzelnen und in der Gesamtheit dadurch 
nicht eine Schädigung zugefügt werde oder zugefügt werden müsse. 
Die Gutszertrümmerung stellt sich nun allerdings als ein recht 
schroffer Eingriff in die bestehenden Besitzverhält- 
nisse am Grund und Boden dar, dessen äußerer Eindruck da- 
durch noch verschärft und mehr einseitig gelenkt werden muß, daß 
er stets zunächst und in erster Linie in der Vernichtung einer wirt- 
schaftlichen Einheit zum Ausdruck komnt, die, wie sie bislang bezw. 


Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik über dieselben. 459 


früher mit Erfolg und zu Nutzen bestanden hat, solches normaler- 
weise auch noch für die Folge würde leisten können, die aber vor- 
wiegend, wenn nicht ausschließlich, den lediglich persönlichen Ver- 
hältnissen des jeweiligen Eigentümers nunmehr zum Opfer gebracht 
wird. 

Gerade ein derartiges äußerlich im wesentlichen als Zerstörung 
sich charakterisierendes Eingreifen in die Grundbesitzverhältnisse 
muß aber der bezüglich der letzteren durchweg mehr konservativ 
ausgeprägten Anschauung gegenüber ein gewisses Mißtrauen gegen 
sich erwecken. Dieses Mißtrauen kann sich aber nicht etwa nur auf 
einen einzelnen speziellen Fall einer Gutszertrümmerung beschränken, 
sondern es muß sich vielmehr, da jenes zerstörende Eingreifen in 
die Besitzverhältnisse stets mit der Gutszertrümmerung verbunden 
ist und ein wesentliches Charakteristikum derselben bildet, gegen 
den ganzen wirtschaftlichen Vorgang überhaupt, gegen jede Guts- 
zertrümmerung als solche richten. Schon in dieser vorwiegenden 
Aeußerlichkeit sehen wir also ein Moment, welches dazu führen 
kann und führen wird, die Gutszertrümmerung als solche allgemein 
zu den wirtschaftlich schädlich wirkenden Erscheinungen zu zählen. 

6. Folge der Gutszertrümmerung für das zer- 
trümmerte Anwesen. Ein weiteres mit dem Vorberührten in 
gewisser Weise zusammenhängendes, aber doch mehr in das Materielle 
übergreifendes Moment für das Vorurteil gegen die Gutszertrümme- 
rungen liegt wohl darin, daß man die eine, allerdings stets zunächst 
vortretende Seite des wirtschaftlichen Vorganges der Gutszertrüm- 
merung, die schon eben behandelte Zerstörung einer bestehenden 
Grundbesitzeinheit, vorwiegender im Auge hat und dabei einerseits 
diese mehr oder weniger wesentlich überschätzt, sowie andererseits 
die Kehrseite, den Verbleib der Grundflächen des zertrümmerten 
Anwesens, nicht in entsprechender Weise bewertet. 

Schon bezüglich der Zerstörung der bestehenden Grundbesitz- 
einheit als solcher ist zu betonen, daß es sich doch eigentlich nie- 
mals um eine vollkommene Zerstörung handeln kann, da doch stets 
das Anwesen an sich, gleichgültig bis zu welchem Grade verkleinert, 
bestehen bleiben muß. Verschieden ist es ja hierbei wiederum, wie 
weit in dem einzelnen Fall die Zertrümmerung durchgeführt wird 
und speziell welche Grundflächen bei dem zertrüämmerten Anwesen 
selbst verbleiben. Je nachdem man nach dieser Richtung hin eine 
Grenze zieht, wird der Begriff der Gutszertrümmerung selbst ein 
engerer oder ein weiterer. Die braunschweigische Statistik hat in 
dieser Beziehung wohl die weitest zulässige Begrenzung der Guts- 
zertrümmerungen gewählt. Sie faßt die vollständigen und die un- 
vollständigen Gutszertrümmerungen zusammen und versteht unter 
den ersteren diejenigen, bei denen das gesamte Anwesen in mehr 
oder weniger kleine Parzellen geteilt wird, während sie diesen dann 
als unvollständige Gutszertrümmerungen gegenüberstellt: einmal eine 
Zertrümmerung, so daß die Restfläche des früheren Anwesens noch 
eine verhältnismäßig große bleibt, sodann eine Zertrümmerung unter 


460 F. W. R. Zimmermann, 


Rückbehalt eines größeren Teiles des Grundbesitzes in der Hand 
des Zertrümmerers, weiter eine lediglich als Abtrennung einer ver- 
hältnismäßig großen Fläche vom Anwesen sich darstellende Guts- 
zertrümmerung und endlich den Verkauf des Landes eines Anwesens 
in Eins an einen Dritten. Wir mußten diese Begriffsbegrenzung 
hier hervorheben, weil nur dadurch die im Nachstehenden aufge- 
nommenen Daten aus der braunschweigischen Statistik in richtiger 
Weise bewertet werden können. Um aber die Tragweite der Zer- 
störung von bestehenden Anwesen genauer zu kennzeichnen, müssen 
wir auf jene braunschweigischen Daten Bezug nehmen. 

So wollen wir nach den letzteren zunächst die lediglich zer- 
störende Wirkung der Gutszertrümmerungen, die Wirkung der- 
selben auf das zertrümmerte Anwesen in seinen Größen- 
verhältnissen und der dadurch bestimmten Einrangierung in die 
üblichen Grundbesitzklassen etwas näher zahlenmäßig erläutern. 
Unter den im Herzogtum Braunschweig in den 10 Jahren insgesamt 
zertrümmerten 333 Anwesen waren 21 Parzellenbesitzungen (unter 
2 ha), 59 kleine Bauernbesitzungen (2—5 ha), 196 mittlere Bauern- 
besitzungen (5—20 ha), 86 große Bauernbesitzungen niederer Art 
(20—50 ha; die großen Bauernbesitzungen sind nochmals in zwei 
Unterabteilungen geschieden, um die Abstufung von oben nach unten 
in den Daten und der Entwickelung derselben genauer verfolgen zu 
können), 20 große Bauernbesitzungen höherer Art (50—100 ha) und 
ein Großgrundbesitz (100 ha und darüber). Durch die Zertrümme- 
rung wurden diese zertrümmerten Anwesen umgestaltet in 164 An- 
bauerwesen (unter 0,25 ha), welche Kategorie als solche hier neu 
erscheint, da sie für die Zertrümmerung selbst nicht in Frage kam, 
120 Parzellenbesitzungen, 42 kleine Bauernbesitzungen, 43 mittlere 
Bauernbesitzungen, 13 große Bauernbesitzungen niederer und eine 
große Bauernbesitzung höherer Art. Die Veränderung, welche für 
das Herzogtum als Ganzes bezüglich der Besitzverhältnisse von 
Grund und Boden nach Grundbesitzgrößenklassen lediglich durch die 
zertrümmerten Anwesen als solche gegeben ist, stellt sich demnach 
folgendermaßen dar: es sind neu hinzugekommen 164 Anbauerwesen 
und 99 Parzellenbesitzungen, dagegen sind weggefallen 17 kleine 
Bauernbesitzungen, 153 mittlere Bauernbesitzungen, 73 große Bauern- 
besitzungen niederer Art, 19 große Bauernbesitzungen höherer Art 
und 1 Großgrundbesitz. 

Für die Gesamtheit sind demnach in den 383 Zertrümme- 
rungsfällen nur 263 Veränderungsfälle, Verschiebungen in den Grund- 
besitzkategorien, eingetreten, die demnach ein wenig über °/, der 
ersteren ausmachen, wogegen etwa ! der Zertrümmerungsfälle für 
die Veränderungsziffer ausfällt. Die Wirkung der Zertrümmerung 
als Ganzes aufgefaßt, zeigt sich danach doch schon ganz erheblich 
abgeschwächt, für nahezu ein Drittel der Zertrüämmerungsfälle kann 
man von einer Zerstörung im Größenklassencharakter nicht reden, 
eine solche kommt vielmehr nur zu zwei Dritteln in Betracht. Diese 
Daten geben uns natürlich nur den Anhalt dafür, daß der Einfluß der 


Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik über dieselben. 461 


Zertrüämmerungen in Wirklichkeit keineswegs so groß zu sein braucht, 
wie er nach den Zertrümmerungsfällen selbst zunächst erscheinen 
muß und wie er damit auch meist angenommen werden wird. Ja, 
man wird wohl noch weiter gehen und die Behauptung aufstellen 
dürfen, daß die besagte Unstimmigkeit zwischen Wirklichkeit und 
erstem Anschein weitaus die Regel bilden und danach auch als das 
Uebliche anzusehen sein wird. 

Andererseits ist aber immerhin mit der Möglichkeit, daß bei 
sämtlichen Zertrümmerungen das Anwesen in die geringste Größen- 
kategorie versetzt wird und Zertrümmerungs- und Veränderungszahl 
sich gleichen, vorhanden, doch handelt es sich dabei lediglich nur 
um einen äußersten Ausnahmefall, bei dem dann regelmäßig wohl 
ohne weiteres auf einen ungesunden Zustand in den Entwickelungs- 
verhältnissen des Grundbesitzes, auf ein zu starkes Vortreten der 
Parzellenbesitzungen zu schließen sein würde. Gleicherweise kann 
aber auch noch eine weitere Ausgleichung zwischen den Zertrümme- 
rungsfällen und den Veränderungsfällen, wie die, welche in den braun- 
schweigischen Daten erscheint, sich zeigen, und würde dadurch die 
Ueberschätzung der Zerstörungswirkung bei den Gutszertrümme- 
rungen in ein noch schärferes Licht gesetzt werden. Das bezügliche 
Verhältnis in den braunschweigischen Daten darf immerhin, was die 
wirtschaftliche Seite anlangt, als ein normales und günstiges ange- 
sehen werden und auf Grund desselben wird man nicht zu der An- 
nahme gelangen können, daß sich die vermöge der Gutszertrümme- 
rungen stattfindende Verschiebung in dem Besitz von Grund und 
Boden in einer ungesunden oder krankhaften Richtung bewege. 

7. Verbleib der vom zertrümmerten Anwesen abge- 
trennten Grundflächen. Ebenso wie nach unseren vorstehenden 
Ausführungen das Zerstörungsmoment für die zertrümmerten An- 
wesen bei der Beurteilung der Gutszertrümmerungen stets erst auf 
das richtige Maß zurückzuschrauben ist, ebenso ist aber auch dem 
Verbleib der Grundabtrennungen von dem zertrüm- 
merten Anwesen daneben in entsprechender Weise Rechnung zu 
tragen. Ueber diesen Verbleib gibt uns die braunschweigische 
Statistik leider einen zahlenmäßigen Nachweis nicht, ebensowenig 
übrigens die bayerische. Eine Ausdehnung nach dieser Richtung hin 
hat man unterlassen, um die Statistik nicht über das notwendige 
Maß hinaus zu erweitern und namentlich nicht die Gemeindebe- 
hörden, welche das Urmaterial für dieselbe zu liefern haben, über 
das dringendste Bedürfnis zu belasten, zumal gerade durch eine ge- 
naue zahlenmäßige Festlegung über den Verbleib der Grundab- 
trennungen bei allen Fällen eine nicht unwesentliche derartige Be- 
lastung hervorgerufen sein würde. Das braunschweigische Er- 
hebungsformular enthält aber eine eigene Rubrik für „Bemerkungen 
und besondere Wahrnehmungen“, für welche dann ausdrücklich vor- 
geschrieben ist, daß in derselben zu bemerken sei, ob und in welcher 
Weise die vereinzelten Grundstücke anderen Anwesen zugelegt sind. 
Die nach Maßgabe dieser Anweisung gemachten Angaben, bezüglich 


462 F. W. R. Zimmermann, 


deren eine Ergänzung durch weitere Nachfrage bei der Bearbeitung 
der Statistik nicht stattgefunden hat, sind aber keineswegs voll- 
ständige; bei einer Anzahl von Fällen fehlen sie ganz, in den übrigen 
sind sie bald eingehender, bald nur ganz im allgemeinen zugefügt; 
in der amtlichen Publikation ist das bezügliche Material daher nicht 
weiter bearbeitet. 

Aus den berührten Angaben läßt sich aber das immerhin mit 
Sicherheit entnehmen, daß bei den Gutszertrümmerungen einerseits die 
zerschlagene Grundfläche in einer ganz verschiedenen, eine bunte 
Mischung zeigenden Weise sowohl in größeren wie in kleineren 
Parzellen aufgeteilt ist, und andererseits auch die Zulegung zu bereits 
bestehenden landwirtschaftlichen Anwesen, wie sie weitaus die Regel 
bildet, ebenmäßig eine verschiedenartige gewesen ist und bald größere, 
bald mittlere, bald kleinere Anwesen betroffen hat, wobei gegenüber 
dem Verhältnis der einzelnen Größenkategorien zueinander vielleicht 
die größeren und mittleren Anwesen eine etwas vorwiegendere Be- 
teiligung aufzuweisen haben. Bezüglich der allgemeinen wirtschaft- 
lichen Wirkung der Gutszertrümmerungen für das Herzogtum Braun- 
schweig ist hiernach zunächst als ein günstiges Ergebnis zu kon- 
statieren, daß die durch die Gutszertrümmerungen veranlaßte Ver- 
schiebung in den Grundbesitzverhältnissen sich keineswegs einseitig 
nach den Extremen, nach dem stärkeren Vortreten der Parzellen- wie 
der Latifundienwirtschaft zu bewegt, sondern sich in einer mehr oder 
weniger ausgleichenden mittleren Richtung, wie sie wohl als normal 
anzusehen ist, hält. 

Als eine grundsätzliche TAN APAT ergibt sich 
dann aber aus dem betreffenden für Braunschweig nachgewiesenen 
Verhältnis, welches gleichzeitig als der Regel entsprechend zu be- 
trachten ist, noch weiter das Folgende, daß durch die Zulegung der 
Zertrümmerungsflächen in bald größeren, bald kleineren Abschnitten 
an bald größere, bald kleinere landwirtschaftliche Anwesen not- 
wendig auch der Stand in den Größenkategorien des landwirtschaft- 
lichen Grundbesitzes und zwar von unten nach oben, also nach 
den größeren Besitzungen zu verändert werden, daß mithin dadurch 
eine gewisse Anzahl von Anwesen aus der Kategorie der Anbauer- 
besitzungen in die der Parzellenbesitzungen, aus den Parzellenbe- 
sitzungen in die kleinen Bauernbesitzungen, aus den kleinen in die 
mittleren Bauernbesitzungen und aus den mittleren in die großen 
Bauernbesitzungen gehoben werden muß, womit dann die umgekehrte 
Verschiebung von oben nach unten, wie sie in der Veränderung mit 
den zertrümmerten Anwesen selbst enthalten und oben näher nach- 
gewiesen ist, in einem mehr oder weniger ausgedehntem Maß wieder 
zur Ausgleichung kommen würde. 

Um nach dieser Richtung hin eine gewisse zahlenmäßige 
Aufklärung zu erlangen, haben wir versucht, bei dem Mangel 
eines vollen Nachweises wenigstens einen ungefähren Anhalt aus 
dem braunschweigischen Material unter Zuhilfenahme von Berech- 
nungen und bestimmten Annahmen zu erbringen. Wir haben zu 


Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik über dieselben. 463 


dem Zwecke für drei voneinander getrennt liegende Jahre — 
es wurden dazu 1898, 1901 und 1905 herausgegriffen — nach 
den in der Rubrik Bemerkungen gemachten brauchbaren An- 
gaben die einzelnen Zertrümmerungsflächen nach ihrer Größe aus- 
gezogen und entsprechend zusammengestellt; es zeigte sich dabei, 
daß im Durchschnitt etwa für zwei Drittel der Zertrüämmerungs- 
fälle die bezüglichen Angaben zu dem fraglichen Zweck zu ver- 
werten waren. 

Das Ergebnis, für die drei Jahre zusammengezogen, stellt sich 
folgendermaßen: es wurden durch die Zertrümmerungen anderer 
Anwesen zugelegt Grundflächen von weniger als 1 ha in 93 Fällen, 
von 1—2 ha in 91 Fällen, von 2—3 ha in 68 Fällen, von 3—4 ha 
in 28 Fällen, von 4—5 ha in 18 Fällen, von 5—6 ha in 15 Fällen, 
von 6—7 ha in 7 Fällen, von 7—8 ha in 5 Fällen, von 8—9 ha in 
2 Fällen. von 9—10 ha in 4 Fällen, von 10—15 ha in 11 Fällen, 
von 15—20 ha in 2 Fällen, von 20—30 ha in 3 Fällen, von 30—40 ha 
in 1 Fall und von 40—50 ha in 1 Fall. Wir sehen aus diesen 
Zahlen, daß die Trennstücke bei den Zertrümmerungen sehr ver- 
schiedenartige sind und noch bis zu einem verhältnismäßig großen 
Flächenumfang hinaufreichen. Daß sich die Zahl der Fälle nach 
oben hin, also nach den größeren Flächenabtrennungen zu, in einem 
stärkeren Maße verringert, kann nur als in der Natur der Sache 
liegend angesehen werden; immerhin sind aber Fälle größerer Trenn- 
stücke, als welche wir hier schon solche von 10 ha an zu betrachten 
haben, noch in einer an sich nennenswerten Zahl in unseren Daten 
nachgewiesen. 

Dadurch aber, daß in einer so großen Gesamtzahl von Fällen 
von den zertrümmerten Anwesen Trennstücke ganz verschiedener 
Größe anderen bestehenden Anwesen zugelegt werden, vollzieht sich 
wiederum eine Verschiebung in der Grundbesitzver- 
teilung, welche notwendig gleicherzeit einen mehr oder weniger 
starken Einfluß auf die Verteilung der Anwesen auf die verschiedenen 
Größenklassen ausgeübt haben muß, denn in zahlreichen Fällen 
wird das vergrößerte Anwesen durch die Zulegung von der Zer- 
trümmerung die Grenze seiner bisherigen Größenklasse überschritten 
haben und in eine höhere Klasse eingerückt sein, damit den durch 
die Zertrümmerungen in den betreffenden Größenklassen entstandenen 
Abgang wiederum ausgleichend. 

Inwieweit ein solcher Ausgleich gegenüber dem oben genau 
nachgewiesenen Ausfall von Anwesen in den höheren Größenklassen, 
wie er durch die Umgestaltung des zertrümmerten Anwesens be- 
wirkt wird, tatsächlich stattfindet, können wir aus unserem Material 
zwar nicht zahlenmäßig genau klarstellen, wir sind jedoch in der 
Lage, aus den obigen Zahlen durch entsprechende Berechnungen 
wenigstens einen zuverlässigen ungefähren Anhalt dafür zu geben, 
einen Anhalt, der uns zeigt, daß der Ausgleich doch in einem an 
sich hohen Maße stattfinden muß. Vorweg ist dazu herauszuheben, 
daß nach Lage der Sache die obigen Daten sehr wohl geeignet er- 


464 F. W. R. Zimmermann, 


scheinen, um aus ihnen durch Berechnung ein Ergebnis für den 
zehnjährigen Zeitraum festzulegen, denn in ihrem Gesamtverhältnis 
weichen die zehn Jahre nicht weiter voneinander ab und für die drei 
die Daten gebenden Jahre machen sich in keiner Weise Sonder- 
heiten, welche die Zuverlässigkeit eines Rechnungsergebnisses für 
die zehn Jahre in Frage stellen könnten, geltend. 

Wie schon oben bemerkt, waren durchschnittlich für zwei Drittel 
der Zertrümmerungsfälle brauchbare Angaben bezüglich des Ver- 
bleibs der Zertrümmerungsflächen gemacht; um die Zahlen für die 
Gesamtheit der Fälle zu gewinnen, müßten mithin unsere obigen Daten 
um die Hälfte in die Höhe gesetzt werden. Aus den so erhöhten 
Ziffern wäre das Ergebnis für die zehn Jahre durch eine Division 
mit 3 und demnächstige Multiplikation mit 10 zu ziehen. Zur 
Vereinfachung und um gleichzeitig die Möglichkeit, in unseren Be- 
rechnungen auf zu hohe Zahlen zu kommen, auszuschließen, wollen 
wir lediglich unsere obigen Daten mit 4 multiplizieren und solches 
als das Gesamtergebnis für die zehn Jahre ansetzen; an sich würde 
es dieser Rechnung entsprechen, wenn nicht nur für zwei Drittel, 
sondern für drei Viertel der vorgekommenen Fälle die Angaben ge- 
braucht und wenn sie nicht für drei, sondern für drei und ein 
Drittel Jahr gemacht wären, so daß unsere Rechnung also nach zwei 
Richtungen eine Herabsetzung bedeutet, die als solche nicht uner- 
heblich betrachtet werden kann. Wir werden dann aber zugleich 
für die weitere Betrachtung unsere obigen Daten nach den Größen 
für die sonst ausgeschiedenen Grundbesitzklassen zusammenziehen. 
Nach der bezüglichen Multiplikation stellt sich für die zehn Jahre 
die Gesamtzahl der Trennstückzulegungen in folgender 
Weise: die Zulegungen umfaßten eine Fläche von weniger als 2 ha 
in 736 Fällen, von 2—5 ha in 456 Fällen, von 5—20 ha in 184 Fällen 
und von 20—50 ha in 20 Fällen. 

Ebenso wie die durch die Zertrüämmerung geschaffenen Trenn- 
stücke nach dem Vorstehenden eine bunte Verschiedenheit bezüg- 
lich ihrer Größe zeigen, ebenso trifft aber auch ihre Vereinigung 
mit bestehenden Anwesen nicht nur eine oder einzelne Größenklassen 
der letzteren, sondern alle Klassen von Besitzungen, wie wir schon 
oben bemerkt haben. Die Angaben dieser Vereinigung, inwieweit 
bezüglich derselben Parzellenbesitzungen, kleine, mittlere, große 
Bauernbesitzungen oder Großgrundbesitz in Frage kommen, sind in 
unserem Materiale noch weit unzulänglichere, wie die über die Größe 
der Trennstücke. Mit einiger Sicherheit läßt sich als allgemeines 
Ergebnis aber wenigstens das hinstellen, daß die Zulegung der 
Trennstücke alle Größenklassen der Grundbesitzungen trifft, daß 
dieses aber nicht in dem Verhältnis, in dem die Größenklassen nach 
der Zahl der in ihnen vorhandenen Besitzungen zueinander stehen, 
geschieht, sondern daß die höheren Größenklassen nicht unerheblich 
über dieses Verhältnis hinaus, namentlich die bäuerlichen Besitzungen 
gegenüber den die überwiegende Masse repräsentierenden Parzellen- 
und Anbauerbesitzungen, an den Zulegungen beteiligt sind, und 


Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik über dieselben. 465 


endlich, daß die Trennstücke von einem größeren Flächengehalt vor- 
wiegender mit den größeren Grundbesitzungen vereinigt worden 
sind, wofür ja in der größeren Leistungsfähigkeit und Kapitalkraft, 
welche mit diesen verbunden ist, ohne weiteres der natürliche 
Grund zu finden ist. 

Wir haben sodann auch noch einen Versuch gemacht, hierfür aus 
dem Material einen ungefähren zahlenmäßigen Anhalt zu gewinnen 
und dazu die Zählpapiere von 1905 gewählt. Nur in einer verhältnis- 
mäßig kleinen Zahl (14) derselben waren Angaben von der not- 
dürftigsten Bestimmtheit vorhanden und verteilten sich danach die 
Zulegungen ungefähr zu ®/,, auf Parzellen- und Anbauerbesitzungen, 
zu ?/,, auf kleine Bauernbesitzungen, zu 3/,, auf mittlere Bauern- 
besitzungen, zu ?/,, auf große Bauernbesitzungen niederer Art und 
zu %,, auf große Bauernbesitzungen höherer Art und Großgrund- 
besitz, welche letzteren beiden nicht zu trennen waren. Es muß aber 
besonders noch befürwortet werden, daß dieser Maßstab nur als einen 
ganz ungefähren Anhalt bietend angesehen und, dementsprechend 
benutzt werden kann. 

Nunmehr wollen wir wiederum zu den oben berechneten Daten 
über die zertrümmerten Flächen nach ihrer Größe zurück- 
kehren. Dieselben zeigten uns zunächst, daß in 736 Fällen Trenn- 
stücke von einer Fläche bis zu 2 ha durch die Gutszer- 
trümmerungen geschaffen waren. Nach Maßgabe des vorberührten 
ungefähren Verteilungsverhältnisses und unter Berücksichtigung des 
Umstandes, daß an den kleineren Trennstückeu auch die kleineren 
Besitzungen vorherrschender beteiligt sind, wird man annehmen 
dürfen, daß in mehr als der Hälfte, sagen wir rund in 400 Fällen, 
eine Vereinigung der Trennstücke mit Parzellen- und Anbauerbe- 
sitzungen stattgefunden hat. Es ist nach Lage der Sache wahr- 
scheinlich, daß in weitaus der Mehrzahl dieser Fälle — das Entgegen- 
gesetzte mag vielleicht nur eine Ausnahme bilden — hier zum 
mindesten Parzellenbesitzungen geschaffen bezw. aus den Anbauer- 
wesen sich herausgebildet haben, was an sich stets einen Fortschritt 
zu den leistungsfähigeren landwirtschaftlichen Anwesen und zweifellos 
einen wirtschaftlichen Vorteil bedeuten muß. 

Es verteilen sich aber, wie die oben zunächst gegebenen 
spezielleren Daten ersehen lassen, die Trennstücke dieser Größen- 
klasse in fast gleichen Hälften auf solche mit weniger und mit 
mehr als 1 ha Fläche; nimmt man des weiteren an, daß gegen die 
Hälfte oder ein Drittel der Parzellenbesitzungen, mit denen eine Ver- 
einigung stattgefunden hat, bereits mit einer Fläche von mindestens 
einem Hektar ausgestattet ist, so muß für diese Anwesen durch die 
Zulegung des Trennstückes aus der Zertrümmerung immerhin schon 
ein Aufrücken in die nächsthöhere Klasse, die der kleinen Bauern- 
besitzungen, bewirkt werden. Die Zahl der Fälle, in denen ein 
solches eingetreten, läßt sich natürlich nur ganz oberflächlich schätzen, 
wir glauben aber unter keinen Umständen zu hoch zu greifen, wenn 
wir dieselben auf etwa 50 veranschlagen. Da sich nun aber der 

Dritte Folge Bd. XXXI (LXXXVIII). 30 


466 F. W. R. Zimmermann, 


Verlust, der durch die anderweite Größencharakterisierung der zer- 
trümmerten Anwesen selbst herbeigeführt wird, in dieser Größen- 
klasse nach unseren obigen Feststellungen nur auf 17 beläuft, so 
wird derselbe schon hier durch die Zulegungen weit mehr als aus- 
geglichen und wir werden bereits jetzt konstatieren können, daß 
auch die kleinen Bauernbesitzungen infolge der Gutszertrümmerungen 
tatsächlich eine Vermehrung und nicht etwa einen Rückgang, wie 
zunächst anzunehmen war, erfahren haben. In den übrigen Fällen 
der Zulegung zu Anbauer- und Parzellenbesitzungen wird aber 
durchweg die Leistungsfähigkeit der erweiterten Anwesen erhöht 
und insofern gleicherweise ein wirtschaftlicher Vorteil erzielt. Die 
noch verbleibenden 336 Fälle der Zulegungen von Trennstücken bis 
zu 2 ha zu den größeren Besitzungen möchten wir, unter Anwendung 
der gleichen Grundsätze wie oben, etwa mit 100 auf die kleinen, mit 
116 auf die mittleren und mit 120 auf die großen (je 60 auf jede 
der beiden Arten) Bauernbesitzungen verteilen. Die Zulegung 
einer weniger als 2 ha haltenden Fläche, obwohl sie stets von einem 
gewissen wirtschaftlichen Vorteil für das betreffende Grundstück be- 
gleitet sein wird, kann bei. den großen Besitzungen im Verhältnis 
keine so erhebliche Bedeutung wie bei den kleineren haben und 
muß diese Bedeutung mit der Größe der Besitzungen nach oben zu 
sich immer mehr verringern. Daß durch die Zulegung ein Grund- 
besitz in die nächsthöhere Größenklasse gerückt wird, kann hier nur 
in geringerem Maße stattfinden, da nur die schon an sich der oberen 
Grenze nahestehenden Besitzungen überhaupt in Frage kommen. 
Nennenswerter wird die Verschiebung höchstens von den kleinen zu 
den mittleren Bauernbesitzungen sich zeigen, weil bei den kleinen 
Bauernbesitzungen die untere und die obere Grenze schon so wie 
so näher aneinander liegen ; bei äußerst vorsichtiger Schätzung werden 
wir darauf vielleicht ein Fünftel der 100 Fälle, also 20 in Ansatz 
bringen dürfen, so daß wir also eine Vermehrung der mittleren 
Bauernbesitzungen um 20 hier haben würden. Für die übrigen 
Größenklassen wollen wir von einer bezüglichen zahlenmäßigen Ver- 
anschlagung mit Rücksicht auf die Geringfügigkeit und die Unsicher- 
heit der Schätzung überhaupt absehen. 

Zweitens würden wir dann die 456 Fälle, bei denen die 
Trennstücke eine Fläche zwischen 2 und 5 ha umfassen, 
entsprechend nach ihrer Wirkung zu zergliedern haben. Hier wird 
man die höheren Klassen schon stärker zu bedenken haben; mit 
Rücksicht darauf scheint uns folgende Verteilung etwa angemessen 
zu sein: 106 Parzellenbesitzungen, 80 kleine Bauernbesitzungen, 
110 mittlere Bauernbesitzungen und je 80 große Bauernbesitzungen 
in jeder der beiden Arten. Es handelt sich hier um Trennstücke 
von 2—5 ha, also um Größenflächen, wie sie an sich schon den 
Grund und Boden einer kleinen Bauernbesitzung ausmachen. Dem- 
gemäß müssen alle Parzellenbesitzungen, welche von den fraglichen 
Zulegungen betroffen werden, zum mindesten in die Kategorie der 
kleinen Bauernbesitzungen einrücken; es wird sogar vorkommen 


Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik über dieselben. 467 


können, daß einzelne derselben sich auch gleich bis zu den mittleren 
Bauernbesitzungen erheben, doch wollen wir diesen Umstand als 
weniger bedeutend und zahlenmäßig mit irgend Zuverlässigkeit 
nicht zu schätzen außer Betracht lassen. Wir würden demnach für 
rund 100 Fälle einen Zugang zu den kleinen Bauernbesitzungen 
anzunehmen haben. Von den kleinen Bauernbesitzungen, die hier 
für SO Fälle in Frage stehen, würde nach Lage der Sache die große 
Mehrheit durch eine Erweiterung um 2—5 ha in die nächsthöhere 
Klasse der mittleren Bauernbesitzungen versetzt; wir werden wohl 
kaum zu weit gehen, wenn wir solches für 70 Fälle veranschlagen. 
Ganz wesentlich kleiner wird bei der nunmehr eintretenden weiteren 
Begrenzung der Teil der mittleren Bauernbesitzungen sein, der 
durch die bezügliche Zulegung in die höhere Kategorie der großen 
Bauernbesitzungen gerückt wird; von den 110 bezüglichen Fällen 
dürften vielleicht nur 30 dahin schlagen. Noch weit geringer wird 
sich der Uebergang von einer großen Bauernbesitzung niederer Art 
zu einer solchen höherer Art infolge einer Grundbesitzerweiterung 
von 2—5 ha stellen, so daß wir eine zahlenmäßige Veranschlagung 
hierfür unterlassen zu sollen glauben. Nach Ausgleichung der Ab- 
und Zugänge in der gleichen Kategorie würden die Zulegungen der 
Trennstücke von 2—5 ha zum mindesten eine Zunahme der kleinen 
Bauernbesitzungen um 30, der mittleren Bauernbesitzungen um 40 
und der großen Bauernbesitzungen um 30 bewirken. 

Nunmehr haben wir nach den gleichen Grundsätzen wie bisher 
die 138 Fälle mit Trennstücken von 5—20 ha Fläche auf die 
einzelnen Größenklassen zu verteilen und wird dieses am sachge- 
mäßesten geschehen, wenn wir 20 Fälle den Parzellenbesitzungen, 
24 Fälle den kleinen Bauernbesitzungen, 30 Fälle den mittleren, 
30 Fälle den großen niederer Art und 34 Fälle den großen höherer 
Art zurechnen. Da hier ein Grundbesitz, wie er die mittlere 
Bauernbesitzung charakterisiert, in Frage steht, so müssen wieder- 
um die Parzellenbesitzungen und die kleinen Bauernbesitzungen 
durch die betreffenden Zulegungen mindestens zu mittleren Bauern- 
besitzungen werden; ein Teil geht auch wohl noch darüber hinaus, 
doch wollen wir dieses als nicht schätzbar außer Betracht lassen; 
wir haben für die mittleren Bauernbesitzungen aber einen Zugang 
von rund 40 zu konstatieren. Bei den 30 Fällen, in denen den 
mittleren Bauernbesitzungen eine Fläche von 5—20 ha zugelegt wird, 
wird dann zum Teil ein Aufrücken zu dem großen Bauernbesitz 
niederer Art stattfinden, wir werden diesen Teil zum wenigsten wohl 
auf ein Drittel veranschlagen dürfen, so daß also durch die Zulegung 
von Trennstücken zertrümmerter Höfe 10 mittlere Bauernbesitzungen 
in große umgewandelt würden. Ebenmäßig ist anzunehmen, daß 
durch Zulegung in der fraglichen Höhe einzelne große Bauernbe- 
Sitzungen mittlerer Art in solche höherer Art umgestaltet werden; 
von den 30 Fällen würde nach Lage der Sache doch nach dieser 
Richtung hin nur eine verhältnismäßig geringere Anzahl in Betracht 


30* 


468 F. W. R. Zimmermann, 


zu ziehen sein und wollen wir deshalb von einer zahlenmäßigen 
Veranschlagung wiederum absehen. 

Diejenigen Fälle, in denen die vom zertrümmerten Grundstücke 
zugelegte Grundfläche die den großen Bauernbesitz niederer Art 
charakterisierende Größe von 20—50 ha erreicht, sind an sich 
nur von der geringen Zahl 15. Die Zulegung wird der Mehrzahl 
nach schon die großen Bauernbesitzungen getroffen haben und wird 
dadurch zum Teil ein Aufrücken von großen Bauernbesitzungen 
niederer Art zu solchen höherer Art veranlaßt sein, ja es ist immer- 
hin auch mit der Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit zu rechnen, 
daß die eine oder die andere große Bauernbesitzung sich vermöge 
der Zulegung in die Kategorie des Großgrundbesitzes emporge- 
schwungen hat, und daß damit der Wegfall durch Zertrümmerung 
bezüglich des Großgrundbesitzes nicht nur zur Ausgleichung gelangt 
wäre, sondern möglicherweise sogar eine Zunahme des Großgrund- 
besitzes, obwohl nur eine ganz geringfügige, stattgefunden hätte. 
Wo das Trennstück von 20—50 ha mit einem Anwesen unter der 
Kategorie des großen Bauernbesitzes vereinigt worden ist, hat stets 
ein großer Bauernbesitz neu entstehen müssen. Die Zahl der Fälle 
ist hier aber überall für eine zahlenmäßige Veranschlagung zu 
niedrig. 

Ziehen wir nun lediglich die zahlenmäßigen Veranschla- 
gungen, welche wir im Vorstehenden gemacht haben, in eins 
unter entsprechender Ausgleichung des Ab- und Zugangs in der- 
selben Grundbesitzkategorie zusammen, so ergibt sich für die kleinen 
Bauernbesitzungen ein Zugang von 40, für die mittleren ein solcher 
von 90 und für die großen ein solcher von 40. Da wir nun aber 
in einer ganzen Reihe von Fällen eine zahlenmäßige Veranschlagung 
mit Rücksicht auf die geringfügige Zahl im einzelnen unterlassen 
haben, diese Fälle zusammengenommen nicht ohne eine gewisse und 
in der Gesamtheit zu beachtende Wirkung sein würden, so werden 
wir aus diesem Grunde noch einen namentlich in den höheren 
Klassen sich verstärkenden Zuschlag zu obigen Zahlen machen 
können oder, streng genommen, sogar machen müssen. Ohne von 
dem stets beobachteten Prinzip einer tunlichst niedrigen Veranschla- 
gung abzuweichen, werden wir den Zugang bei den kleinen Bauern- 
besitzungen auf 50, bei den mittleren auf 110, bei den großen 
Bauernbesitzungen niederer Art auf 50 und bei den großen Bauern- 
besitzungen höherer Art auf 10 setzen können. Der Rückgang, 
welchen wir in den zertrümmerten Anwesen selbst durch die 
Zertrümmerung zu verzeichnen hatten, belief sich bei den einzelnen 
Kategorien auf 17, bezw. 153, bezw. 73, bezw. 19. Demgemäß würde 
durch die Zulegungen der anfangs zu konstatierende Rückgang in 
den kleinen Bauernbesitzungen sich in eine Zunahme derselben um- 
gestalten, der Rückgang der mittleren Bauernwirtschaften sich auf 
rund 40, der der großen Bauernwirtschaften niederer Art auf rund 
20 und der der großen Bauernwirtschaften höherer Art auf rund 10 
vermindern. 


Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik über dieselben. 469 


Die ganze Verschiebung in der Verteilung des Grundbesitzes 
auf die einzelnen Größenklassen, welche durch die Gutszertrümme- 
rungen im Herzogtum Braunschweig in den zehn Jahren herbeige- 
führt ist, reduziert sich also auf eine an und für sich und im Ver- 
hältnis nur geringfügige Verminderung der mittleren und der großen 
Bauernwirtschaften zu Gunsten des kleinen Bauern-, des Parzellen- 
und des Anbauerbesitzes und eventuell nach unseren obigen Aus- 
führungen auch etwas, aber ganz gering, zu Gunsten des Großgrund- 
besitzes.. Eine Verminderung um 40 oder 30 Anwesen im Laufe 
von zehn Jahren kann an sich nicht als erheblich erachtet werden, 
sie kann aber noch weniger im Verhältnis so eingeschätzt werden, 
wenn man berücksichtigt, daß durch die Berufs- und land- 
wirtschaftliche Betriebszählung von 1895 für das Herzogtum Braun- 
schweig 6122 landwirtschaftliche Betriebe mit 5—20 ha und 2256 
mit 20—100 ha Grundfläche festgestellt worden sind. Außerdem 
ist dabei endlich noch zu beachten, daß wir bei allen unseren 
Veranschlagungen uns stets immer streng an der untersten Grenze 
gehalten und damit soweit als irgend möglich auf das Erscheinen 
einer Verminderung in den Daten hingewirkt haben. Es ist daher 
nicht nur möglich, sondern eher vielleicht wiederum sogar wahr- 
scheinlich, daß tatsächlich die Verschiebung und die Verminderung 
der beiden Grundbesitzkategorien sich noch geringfügiger ge- 
staltet hat. 

Als das allgemeine Ergebnis unserer vorhergehenden Be- 
trachtungen und Veranschlagungen werden wir es danach hinstellen 
können, daß vermöge der Zulegung der durch die Gutszertrümme- 
rungen abgetrennten Grundflächen zu anderen bereits bestehenden 
Anwesen die Verschiebung in der Verteilung des Grundbesitzes auf 
die einzelnen Größenklassen der Besitzungen, welche durch die Zer- 
trümmerungen insgesamt hervorgerufen wurde, nach der Braunschweigi- 
schen Statistik nur eine unbedeutende gewesen ist und keinen 
Wechsel zum Nachteil bedeuten kann. Das Verhältnis, wie wir es 
für Braunschweig nachgewiesen haben, beruht aber keineswegs auf 
irgend besonderen Erscheinungen oder auf eigenartigen, nur für 
Braunschweig gegebenen Umständen. Es stellt sich vielmehr nach 
unseren ganzen Ausführungen lediglich als ein durch die Natur der 
Sache und den normalen Zustand bedingtes dar. Es würde voraus- 
sichtlich sich auch in einer ganz ähnlichen Weise für das König- 
reich Bayern gezeigt haben, wenn dort durch die Statistik die näheren 
Nachweise erbracht wären, was leider nicht geschehen ; irgendwelche 
anormale Zustände wurden aber auch für Bayern nicht geltend gemacht. 
Auf Grund der unter normaler Sachlage für Braunschweig erfolgten 
Nachweise ist ebenmäßig für die Gutszertrümmerungen als solche 
anzunehmen, daß die Einwirkung derselben auf die Grundbesitzver- 
teilung nach Größenklassen im allgemeinen und für gewöhnlich 
keine besonders erhebliche Bedeutung erlangt, und daß es folgeweise 
unrichtig ist, wenn man mit dem Begriff der Gutszertrümmerung 
ohne weiteres eine derartige Einwirkung von größerem Umfang oder 


470 F. W. R. Zimmermann, 


wohl gar eine Einwirkung in ungünstiger Weise verbindet und in 
derselben eine Verschiebung in ungesunder oder krankhafter Rich- 
tung finden zu müssen glaubt. 

8. Grund der Gutszertrümmerung. Ein weiteres Mo- 
ment, das einer sachgemäßen Würdigung nach den tatsächlichen 
Verhältnissen des einzelnen Falles dringend bedarf, solcher aber 
keineswegs von der Allgemeinheit in einem genügendem Maße zu 
teil wird, liegt in dem Grund der Gutszertrümmerung. 
Dieser Grund der Zertrümmerung kann ein doppelter sein, nämlich 
einmal ein sozusagen sachlicher, d. h. ein in dem zur Zertrümme- 
rung gelangenden Grundbesitz selbst belegener, und ferner ein 
persönlicher, d. h. ein durch die besonderen Verhältnisse des letzten 
Bewirtschafters und Eigentümers des Anwesens begründeter. Der 
erste als sachlicher bezeichnete Grund wird immer nur eine ziem- 
lich vereinzelte Ausnahme bilden, denn daß ein landwirtschaftliches 
Anwesen in sich selbst schon die Ursachen für eine Zertrümmerung 
trägt, muß stets durch ganz besondere Umstände bedingt sein und 
wird daher nur verhältnismäßig selten überhaupt vorkommen können. 
Wir wollen deshalb diese Art des Zertrümmerungsgrundes hier ganz 
außer Betracht lassen und heben bezüglich derselben nur das eine 
heraus, daß bei dem Vorhandensein eines solchen Grundes die Zer- 
trümmerung selbst stets einen wirtschaftlichen Vorteil bedeuten muß, 
weil durch die Zertrümmerung erst die Möglichkeit gegeben ist, die 
Grundflächen des betreffenden Anwesens bezw. dieses selbst in einer 
dem inneren Gehalt entsprechenden Weise zu behandeln und aus- 
zunutzen. 

Was dann aber die zweite Kategorie des Zertrümmerungsgrundes 
oder die Fälle, in denen die Zertrümmerung lediglich durch die 
persönlichen Verhältnisse des letzten wirtschaftenden Eigen- 
tümers veranlaßt ist, anlangt, so zeigt sich hierin eine gewisse 
reichere Mannigfaltigkeit. Obwohl die letztere als in der Natur der 
Sache liegend angesehen werden dürfte, verallgemeinert man doch im 
gewöhnlichen Leben diesen Grund insofern, als man in oder neben 
demselben durchweg eine mehr oder weniger ungerechtfertigte Be- 
einflussung oder auch Ausnutzung der wirtschaftlichen Lage des 
Besitzers des zertrümmerten Anwesens sehen zu müssen glaubt und 
dadurch den Grund regelmäßig als einen verwerflichen und wirt- 
schaftlich nachteiligen verurteilt. Auch hierin geht man wiederum 
falsch, wie eine nähere Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse 
unschwer erkennen lassen wird. Wir wollen zu einer solchen wieder 
die Ergebnisse der braunschweigischen Statistik benutzen. 

In den Zählpapieren der letzteren sollte wie bezüglich des 
Verbleibs und der Art der Trennstücke so auch bezüglich des 
Grundes der Zertrümmerung tunlichst eine Angabe in der Rubrik 
Bemerkungen gemacht werden. Diese Angaben erwiesen sich je- 
doch als zu unvollständig und ungenügend, um in der amtlichen Ver- 
arbeitung zu einem zahlenmäßigen Ergebnis verwertet zu werden. 
Für unseren Zweck müssen die Angaben aber als vollkommen ge- 


Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik über dieselben. 471 


nügend angesehen werden, denn für diesen wird es eines ganz ge- 
nauen zahlenmäßigen Nachweises mit Erfassung aller einzelnen Fälle 
nicht bedürfen; es erscheint vielmehr hier die Erreichung eines ge- 
wissen und im allgemeinen zuverlässigen Anhalts wie bei dem Ver- 
bleib der Trennstücke vollkommen ausreichend. Wir haben deshalb 
für 3 Jahre (1899, 1902, 1904) die Angaben über den Grund der 
Zerträmmerung ausgezogen und entsprechend verarbeitet und sind 
damit zu einem durchaus befriedigenden Ergebnis gelangt. In 
24 Fällen oder 22,0 Proz. der insgesamt in Betracht kommenden 
109 Fälle waren keine oder unbrauchbare Angaben gemacht; es 
verblieben danach immer mehr als drei Viertel der Gesamtfälle 
mit zulänglichen Angaben und diese auch an sich noch nennens- 
werte Anzahl muß als vollständig ausreichend angesehen werden, 
um für unsere Zwecke den gewünschten Anhalt mit der nötigen 
Sicherheit zu bieten. Nach den fraglichen Angaben sind sechs 
Kategorien von Zertrümmerungsgründen auszuscheiden. 

Der Zahl nach obenan steht unter diesen nun allerdings die 
Verschuldung mit 34 Fällen oder 31,2 Proz. der Gesamtheit, 
also gerade diejenige Kategorie, bei welcher die oben angeführten 
Bedenken in erster Linie und vielleicht allein als zutreffend und ge- 
rechtfertigt anerkannt werden können. Nun wird man aber keines- 
wegs sagen dürfen, daß in jedem Falle, in welchem eine Guts- 
zertrümmerung durch Verschuldung des letzten wirtschaftenden 
Eigentümers herbeigeführt ist, irgendwelche besondere unlautere 
oder doch zum mindesten nahe an das Unlautere grenzende Mani- 
pulationen, wie wir sie näher bei der gewerbsmäßigen Gutszertrümme- 
rung zu berühren haben werden, zu Ungunsten des letzten Eigentümers 
stattgefundden haben oder stattgefunden haben müssen, ebensowenig wie 
man solches bei jeder anderen Veräußerung, die durch Verschuldung 
des Eigentümers herbeigeführt worden ist, wird sagen können. Die- 
jenigen Fälle, in welchen eine Verschuldung des Grundeigentümers 
durch die besondere Tätigkeit eines Dritten gefördert und in zweifel- 
hafter Weise ausgebeutet ist, sind doch der Hauptsache nach nur 
als Ausnahmen zu betrachten und man wird diese Ausnahmefälle 
unter keinen Umständen verallgemeineren dürfen. Hierfür ist be- 
züglich der Gutszertrümmerungen ebensowenig ein Anhalt wie be- 
züglich der sonstigen Veräußerungen von Grundeigentum gegeben, 
denn eine Verschuldung kann in beiden Fällen übereinstimmend 
auch auf ganz normale Weise und ohne irgend eine bedenkliche Ein- 
Wirkung eines Dritten herbeigeführt sein, wie durch zu starke Ab- 
findungsbelastung des Hofes, zu geringes Betriebskapital, rasch auf- 
einanderfolgende Fehlernten, besondere Unglücksfälle ete. 

Es wird aber bezüglich der Gutszertrümmerungen sogar in 
doppelter Richtung verallgemeinert, indem man einmal Vorkomm- 
Risse, welche möglicherweise bei einem Teil der Zertrümmerungen 
infolge Verschuldung stattfinden können, nicht nur auf alle Ver- 
schu dungszertrümmerungen, sondern sogar auf alle Zertrümmerungs- 
fille überhaupt überträgt und solche dadurch in ein bedenkliches 


472 F. W. R. Zimmermann, 


Licht stellt. Die Ungerechtfertigtkeit eines solchen Verfahrens liegt 
aber um so mehr auf der Hand, als nach Ausweis der braun- 
schweigischen Statistik die Verschuldung als solche überhaupt nicht 
einmal ganz für ! der sämtlichen Gutszertrümmerungen den Zer- 
trümmerungsgrund abgibt, man also von einem kleineren Teil, einem 
Drittel der Gesamtfälle, einen willkürlich erweiternden Rückschluß 
auf die Gesamtheit machen würde. 

Nicht mit zur Verschuldung haben wir diejenigen Fälle ge- 
rechnet, in denen lediglich „große Belastung“ als Ursache der 
Gutszertrümmerung angegeben war; es sind dieses 7 Fälle oder 
6,4 Proz. sämtlicher Fälle (stets einschließlich der ohne bezügliche 
Angaben berechnet). Die Fälle stehen der Verschuldung nahe und 
können in gewisser Beziehung wohl als eine Vorstufe derselben an- 
gesehen werden; noch ehe es zu einer eigentlichen Verschuldung 
gelangt, erkennt hier der Eigentümer, daß er unter den jeweiligen 
Zeitverhältnissen das landwirtschaftliche Anwesen bei der auf dem- 
selben ruhenden Belastung nicht mit Erfolg wird bewirtschaften 
können, und er veräußert dasselbe, um der Verschuldung zu ent- 
gehen. Eine Gutszertrümmerung, welche auf einer solchen Ursache 
beruht, kann an und für sich und nur als solche irgend bedenkliche 
oder unreine Momente nicht zeitigen, sondern muß wie jeder Ver- 
kauf als solcher lediglich indifferent erscheinen. Das Vorurteil gegen 
die Gutszertrümmerungen überhaupt wird sich auf den aus diesem 
Grund erfolgenden nicht begründen lassen. 

Nächst der Verschuldung kommt am meisten — in 18 Fällen 
oder 16,5 Proz. der Gesamtheit — als Ursache der Gutszertrüm- 
merung der Todesfall des bewirtschaftenden Eigen- 
tümers vor, dem wir dann gleich diejenigen Fälle — es sind 5 
oder 4,6 Proz. der Gesamtheit — anschließen wollen, in denen 
Krankheit des Eigentümers oder hohes Alter, eventuell 
auch bei Kinderlosigkeit, die Zertrümmerungsursache bildet. Es sind 
auch dieses durchaus normale Gründe für eine Gutszertrümmerung, 
welche in keiner Weise irgend welche zweifelhafte Nebenumstände 
bedingen. Eine Berechtigung zu ungünstiger Beurteilung der Guts- 
zertrümmerungen kann, wie wohl auf der Hand liegt und nicht näher 
zu begründen sein wird, aus diesen Fällen nicht abgeleitet werden. 

Der Zahl nach die dritte Stelle nehmen dann die 16 Gutszer- 
trümmerungen — 14,7 Proz. der Gesamtheit — ein, bei denen ein 
anderweitiger Wohnort bezw. die Verlegungdes Wohn- 
ortes des Eigentümers von dem Ort des Anwesens fort, sei 
es, daß solche durch Ausheiratung, Verziehen oder anderswie er- 
folgt, den Zertrümmerungsgrund abgibt, woneben endlich der Rest 
— 5 Fälle oder 4,6 Proz. der Gesamtheit — als Sonstige Gründe 
zusammenzufassen ist und Ursachen wie Unfähigkeit zur Bewirt- 
schaftung, Abneigung dagegen, Ausgleich zwischen mehreren Kindern 
und dergleichen enthält. Mit diesen Fällen verhält es sich ganz wie 
mit den zuletzt erörterten, sie bieten an sich ebenso wenig wie jeder 
Verkauf eine Handhabe dafür, daß in ihnen Zweifelhaftes oder Be- 


Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik über dieselben. 473 


denkliches gegeben sei, sondern stellen sich als etwas durchaus 
Normales dar; auch hier kann daher von einem tatsächlichen Anhalt 
für eine prinzipiell ungünstige Beurteilung der Gutszertrümmerungen 
nicht die Rede sein. 

Wenn wir aus diesen Feststellungen über die Ursachen der 
Zertrümmerungen ein Gesamtergebnis ziehen, so kann dieses 
nur dahin gehen, daß die Zahl der Fälle, in denen aus der Ursache 
der Zertrümmerung überhaupt auf ein Vorhandensein unlauterer, das 
bestehende Vorurteil gegen die Gutszertrümmerungen tatsächlich 
begründender Momente geschlossen werden kann, gegenüber der 
Gesamtzahl der Zertrümmerungen doch nur eine verhältnismäßig 
recht geringe ist, wobei aber ferner noch als weiter einschränkend 
zu berücksichtigen ist, daß tatsächlich die fraglichen Momente nur 
wiederum in einem Teil jener Fälle vorhanden zu sein brauchen und 
vorhanden sein werden. Allen diesen von uns nachgewiesenen Ur- 
sachen ist aber wieder das gemeinsam, daß sie als solche und an 
und für sich nicht unmittelbar auf die Gutszertrümmerungen hin- 
führen, daß dem in ihnen gegebenen Bedürfnis nicht ausschließlich 
durch solche Zertrümmerung genügt werden kann, daß sie sozu- 
sagen nicht schon ein Charakteristikum der Gutszertrümmerungen 
bilden und in steter enger Vereinigung mit diesen stehen. Die 
Ursachen als solche lassen vielmehr lediglich eine Veräußerung des 
zu ihnen in Bezug stehenden Grundstückes erforderlich erscheinen 
und drängen auf eine solche hin. Wie sich diese Veräußerung voll- 
zieht, würde an sich indifferent sein, sie könnte, um dem vorhandenen 
Bedürfnis zu genügen, ebenso wohl durch einen Verkauf des An- 
wesens im ganzen wie durch Verkauf unter Zerteilung erfolgen. 

Nun ist aber den fraglichen Ursachen, wie sie hier auftreten, 
regelmäßig noch das charakteristisch, daß sie mit einer gewissen 
Plötzlichkeit akut werden und dementsprechend dringender eine 
plötzliche Veräußerung bedingen. Bei einem landwirtschaft- 
lichen Anwesen läßt sich aber eine plötzliche Veräußerung, ein Ver- 
kauf unmittelbar im gegebenen Augenblick, häufig nur mit Schwierig- 
keiten durchführen, da geeignete und leistungsfähige Käufer nicht 
sogleich vorhanden zu sein pflegen; es wird in solchen Fällen nament- 
lich schwer halten, aus der Veräußerung ein Entgelt, welches dem 
wirklichen Wert des Anwesens voll oder auch nur annähernd ent- 
sprechen würde, zu ziehen. Unter den gegebenen Umständen kann 
sich allerdings die Gutszertrümmerung vorwiegender als die vor- 
teilhafteste und deshalb für die fraglichen Fälle geeignetste Art der 
Veräußerung erweisen. Vielfach wird nur durch sie sofort ein an- 
gemessener Preis aus dem Verkauf des Anwesens zu erzielen sein, 
da für einen sofortigen Verkauf kleinerer, auf das jeweilig vorhandene 
Bedürfnis stets besonders zuzuschneidender Parzellen durchweg eine 
regere und größere Nachfrage bei gleichzeitiger Kaufkraft vorhanden 
sein wird und außerdem ein Bedürfnis gerade nach kleineren und 
kleinsten Grundstücksabschnitten bei wachsender Bevölkerung und 
zunehmender Industrie auf dem Lande in hervorragender Weise sich 


474 F. W. R. Zimmermann, 


geltend machen muß, dem so entgegengekommen wird. Die Guts- 
zertrümmerung wird für die bestimmt gearteten Fälle lediglich des- 
halb gewählt, weil sie den meisten Vorteil bringt. Irgend ein wirt- 
schaftliches Bedenken kann gegen diese Anwendung als solche nicht 
geltend gemacht werden, im Gegenteil, dieselbe muß sich insofern 
noch als ein wirtschaftlicher Vorteil darstellen, als bei dem sofort 
notwendigen Verkauf lediglich durch dieses Mittel ein dem Wert des 
Anwesens wirklich entsprechendes Aequivalent und damit ein wirt- 
schaftlich gerechter Ausgleich zu erzielen ist. 

9. Gewerbsmäßige Gutszertrümmerung. Schließlich 
haben wir als eines auf die allgemeine ungünstige Beurteilung der 
Gutszertrümmerungen einwirkenden Momentes noch des Umstandes 
zu gedenken, daß die Gutszertrümmerungen auch gewerbsmäßig 
betrieben werden können und betrieben werden. Wir hatten im 
Vorstehenden schon angedeutet, wie gerade die gewerbsmäßigen Guts- 
zerirümmerungen gewisse bedenkliche und unlautere Erscheinungen, 
die wiederum ein Vorurteil gegen solche sehr wohl begründen 
könnten, zu zeitigen im stande seien, während solches in einem 
gleichen Maße bei den sonstigen Gutszertrümmerungen nicht der Fall 
sein würde. Es läßt sich auch nicht verkennen, daß der gewerbs- 
mäßige Betrieb der Gutszertrümmerung sehr leicht zu ungesunden 
und auch unrechtlichen Auswüchsen führen kann, denen unter Um- 
ständen entgegenzutreten und durch besondere Vorschriften ent- 
gegenzuwirken der Staat als verpflichtet anzusehen sein wird. Speziell 
wird bei der gewerbsmäßigen Gutszertrümmerung auch dasjenige 
zur Geltung kommen, was dazu geführt hat, die Gutszertrümmerung 
mit dem Landwucher zu identifizieren oder als solchen zu be- 
zeichnen. 

Um einen möglichst hohen Gewinn aus seinem Geschäftsbetriebe 
zu erzielen, muß der gewerbsmäßige Gutszertrümmerer einerseits 
das zu zertrümmernde Anwesen möglichst billig zu erwerben und 
andererseits die einzelnen Trennstücke, welche er aus demselben 
macht, zu möglichst hohem Preise zu verwerten suchen. Hiergegen 
würde sich an und für sich wohl kaum etwas einwenden lassen, denn 
die Möglichkeit zu billigem Einkauf und teurem Verkauf wird jeder 
Geschäftsmann in weitgehendster Weise auszunutzen bestrebt sein. 
Bei dem Ankauf von Grundbesitz ist es aber leicht gegeben, daß 
der gewerbsmäßige Käufer die für den Eigentümer mehr oder 
weniger dringend bestehende Zwangslage zum Verkauf, wie sie ja 
nach unseren vorigen Ausführungen bei den Gutszertrümmerungen 
häufiger in Erscheinung zu treten pflegt, in einem über das Bil- 
lige und Angemessene hinausgehenden Grade ausbeutet, zumal hier 
die Konkurrenz und die Nachfrage nur in einem ganz geringen 
Maße einen Ausgleich zu bieten vermag. Dem außerordentlich 
großen und ohne inneren Grund erzielten Gewinn des gewerbsmäßigen 
Käufers steht ein entsprechend hoher Verlust des früheren Eigen- 
tümers gegenüber, wie er im allgemeinen als wirtschaftlich günstig 
speziell bei Berücksichtigung der weiteren Begleiterscheinungen nicht 
angesehen werden kann. 


Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik über dieselben. 475 


Dazu kommt nämlich, daß der gewerbsmäßige Gutszertrümmerer 
behufs Beschaffung eines tauglichen Objektes für seinen gewerblichen 
Betrieb unter Umständen auch die Zwangslage des Eigentümers, 
welche den letzteren zu einem Verkauf seines Anwesens um jeden 
Preis drängen muß, herbeizuführen oder zu fördern bestrebt ist und 
dazu Mittel anwendet, welche nach den Gesetzen der Moral zweifel- 
los nicht zu den rechtlichen zu zählen sind, obwohl das Recht selbst 
meist nur schwer eine Handhabe dagegen bietet. Namentlich ist es 
die Verschuldung des landwirtschaftlichen Eigentümers, die hier als 
Uebergang zur Gutszertrüämmerung dienen muß. Ist ein Eigentümer 
in eine gewisse finanzielle Bedrängnis geraten, so wird ihm von 
dem gewerbsmäßigen Gutszertrümmerer bereitwilligst helfend beige- 
sprungen und Geld unter harmlos und günstig erscheinenden Be- 
dingungen vorgeliehen, welche sich aber durch bestimmte eigene 
Verklausulierungen lediglich als wucherische erweisen. Je nach der 
besonderen Lage des Falles und der noch vorhandenen Widerstands- 
fähigkeit des Eigentümers wird dann das damit einsetzende Ab- 
schlachtungsverfahren länger oder weniger lang ausgedehnt. 

Dadurch, daß in für den Grundeigentümer kritischen Augen- 
blicken die Rückzahlung der vorgeschossenen Geldbeträge gefordert 
wird, werden dann für die weitere Gelddarleihung, welche regelmäßig 
bei der Unfähigkeit des Eigentümers zur Rückzahlung erfolgt, 
stets schärfere Bedingungen gesetzt und namentlich die Verschuldungs- 
summen zu Beträgen, wie sie der verschuldete Eigentümer tatsächlich 
niemals empfangen hat, erhöht. Auf diese Weise, welche sich im 
einzelnen natürlich noch vielfach um- und ausgestalten kann, wird 
der Hofbesitzer immer mehr in die Verschuldung hineingetrieben, 
bis daß er schließlich entweder freiwillig seinen Grundbesitz dem 
Abschlachter gegen einen tatsächlich unter dem Wert verbleibenden 
Preis abtritt, um wenigstens noch einiges Barvermögen zu retten, 
oder ganz zusammenbricht, wobei dann dem Abschlachter der Grund- 
besitz regelmäßig zufallen muß. Durchweg ist der hauptsächlichste 
Gewinn des Abschlachtenden, der aber in seiner wahren Höhe äußer- 
lich nicht zur Erscheinung kommt, wohl schon gemacht, wenn er 
den Grundbesitz auf diesem Wege in die Hände bekommt; durch 
die Zertrümmerung selbst wird aber dieser Gewinn zum Teil erst 
realisiert und dabei auf eine noch größere Höhe gebracht. 

Die Zertrümmerung wird selbstredend wiederum so eingerichtet, 
daß der für den Zertrümmerer daraus erwachsende Vorteil mög- 
lichst in die Höhe geschraubt wird; es wird vor keinem Mittel, 
wenn es nur den letzteren Zweck erfüllt, zurückgeschreckt, wenn 
auch hier für zweifelhafte und bedenkliche Manipulationen weniger 
Feld gegeben ist. Daß die Trennstücke so abgeteilt werden, wie sie 
am zweckmäßigsten und besten zum Verkauf zu bringen sind, wird 
man an sich als einwandfrei bezeichnen müssen. Anders ist es 
schon, wenn die Herabminderungen des Grundbesitzes, welche durch 
die regelmäßig bei Verschuldung eintretende Verschlechterung der 

ewirtschaftung veranlaßt sind, zu verdecken gesucht werden, wenn 
von Sondermitteln, um die Konkurrenz im Ankauf zu beleben, Ge- 


476 F. W. R. Zimmermann, 


brauch gemacht wird, wenn künstliche Preissteigerungen herbeige- 
führt werden und dergleichen mehr. In allen Fällen wird der ge- 
werbsmäßige Gutszertrümmerer, schon weil es sich bei ihm um 
einen gewerbsmäßigen, also eine größere Anzahl von Zertrümmer- 
ungen umfassenden Betrieb handelt, auch mit den unbedenklichen 
und stets erlaubten Mitteln für eine nutzbringende Durchführung 
der Zertrümmerung weit besser wie jeder andere, der nur in einem 
einzelnen Falle ein solches Geschäft vornimmt, vertraut sein und 
dementsprechend schon so wie so stets einen höheren Gewinn er- 
zielen. Nimmt man des weiteren an, daß der gewerbsmälige Zer- 
trümmerer von jedem überhaupt möglichen Mittel Gebrauch macht, 
so wird sich sein Gewinn noch erheblich steigern können. 

Daß die gewerbsmäßige Gutszertrümmerung sich in der vorbe- 
zeichneten Art vollziehen kann und zum Teil auch vollzogen hat 
oder noch vollzieht, steht wohl außer Frage und ist allseitig aner- 
kannt. Als Beweis dafür brauchen wir nur auf das lediglich hier- 
mit begründete besondere staatliche Vorgehen bezüglich des be- 
treffenden Gewerbebetriebes hinzuweisen, wie es beispielsweise in 
der Bekanntmachung des Königlich bayerischen Staatsministeriums 
des Innern vom 1. Januar 1894, den gewerbsmäßigen Betrieb des 
Handels mit fremden Grundstücken betreffend, gegeben ist, welche 
eben zur weiteren Ausbildung der bayerischen Gutszertrümmerungs- 
statistik geführt hat. Immerhin wird man die vorberührten Miß- 
stände doch nur in dem Maße bewerten können, in welchem sie 
tatsächlich vorkommen. Für dieses tatsächliche Vorkommen bieten 
uns wieder die Ergebnisse der braunschweigischen sowie auch der 
bayerischen Statistik behufs sachgemäßer Einschätzung bis zu einem 
gewissen Grade einen Anhalt, der sich allerdings im wesentlichen 
nur auf das Verhältnis der gewerbsmäßigen Gutszertrümmerungen 
zu den Gutszertrümmerungen überhaupt bezieht. 

Das letztere Verhältnis muß allerdings in erster Linie in Betracht 
kommen, wenn es sich um die Frage handelt, ob besondere Vor- 
kommnisse bei den gewerbsmäßigen Gutszertrümmerungen zur Be- 
gründung eines allgemeinen Vorurteils gegen die Gutszertrümmer- 
ungen überhaupt geeignet erscheinen können. Ein solches stände 
doch nur anzunehmen, wenn die gewerbsmäßigen Gutszertrümmer- 
ungen innerhalb der sämtlichen Gutszertrümmerungen eine derartige 
Rolle spielen würden, daß sie die Gutszertrümmerungen überhaupt 
mehr oder weniger vollständig beherrschten und daher im großen und 
ganzen mit ihnen indentifiziert werden könnten. Das ist aber 
nach den Ergebnissen der bezüglichen Statistiken nicht der Fall. 

Nach der braunschweigischen Statistik machen die gewerbs- 
mäßigen Gutszertrümmerungen für die sämtlichen zehn Erhebungs- 
jahre unter der Gesamtzahl der Zertrümmerungen 27,68 Proz. aus; 
es scheint allerdings, als ob der Anteil der gewerbsmäßigen Zer- 
trümmerungen etwas im Ansteigen begriffen sei, wie ein solches 
Ansteigen sich jedenfalls für den Lauf des zehnjährigen Zeitraums 
bemerkbar macht, denn der Anteil der Gewerbszertrümmerungen 


Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik über dieselben. 477 


stellt sich bei einer Teilung des ganzen Zeitraums in zwei Abschnitte 
für die erste fünfjährige Periode auf 22,22 Proz., für die zweite 
aber auf 32,51 Proz. Demgemäß bewegt sich der Anteil der ge- 
werbsmäßigen Zertrümmerungen in Braunschweig zwischen einem 
Viertel und einem Drittel; von einen Vorwalten kann unter diesen 
Umständen also nicht im entferntesten die Rede sein. 

Für Bayern dreht sich das vorbeobachtete Verhältnis fast genau 
um, so daß also die gewerbsmäßigen Gutszertrümmerungen stärker 
in den Vordergrund kommen; die letzteren bringen es nach dem 
Gesamtdurchschnitt aus den zehn Jahren immerhin auf 68,7 Proz. 
der Gesamtzahl der Zertrümmerungen und für die einzelnen Jahre 
wechselt dieser Anteilssatz zwischen 54,9 Proz. im Minimum und 
74,0 Proz. im Maximum; der Anteilssatz begrenzt sich hier also 
ungefähr zwischen zwei Drittel und drei Viertel. Wenn dadurch 
die gewerbsmäßigen Zertrümmerungen unter der Gesamtzahl zwar 
vorwalten, so ist dieses Vorwalten doch nicht derart, daß nach der 
vorwaltenden Kategorie der Zertrümmerungen allein der Charakter 
der Gutszertrümmerungen überhaupt zu bemessen stände und Eigen- 
heiten der gewerbsmäßigen Gutszertrümmerungen kurzweg als Eigen- 
heiten der Gutszertrümmerungen überhaupt angesehen werden 
könnten. 

Berücksichtigen wir nicht die Zahl der Zertrümmerungen, die 
aber doch für die vorliegende Betrachtung stets das in erster Linie Aus- 
schlaggebende sein muß, sondern die Grundfläche der zertrümmerten 
Anwesen, so verschiebt sich das Verhältnis speziell für Braunschweig 
um einiges. In Braunschweig entfallen von der Gesamtfläche der 
zertümmerten Anwesen nach dem Ergebnis für die zehn Jahre 
45,86 Proz. auf die gewerbsmäßigen Zertrümmerungen und für die 
erste Periode 29,82 Proz., für die zweite Periode 56,89 Proz.; der 
Satz schwankt also etwa um die Hälfte herum. In Bayern erhöht 
sich der Satz nur um ein geringes, nämlich auf 75,6 Proz.; es ist 
dieses wesentlich durch ein Aufrücken der Minimalgrenze bedingt, 
denn das Minimaljahr weist den Satz von 70,0 Proz., das Maximal- 
jahr den von 81,3 Proz. auf, so daß also drei Viertel immer noch 
etwa den Mittelpunkt bildet. Auch unter diesen Daten sind unsere 
früheren Ausführungen noch als geltend zu erachten. 

Jene Mißstände, welche zu der allgemeinen Verurteilung der 
Gutszertrümmerungen geführt haben, sind aber keineswegs stets 
mit der gewerbsmäßigen Zertrümmerung verbunden; es ist oben nur 
das Vorkommen konstatiert, nicht aber, daß sie stets vorkommen 
müssen. Der Prozentsatz der gewerbsmäßigen Gutszertrümmerungen 
zu der Gesamtheit der Zertrümmerungen wird also für unsere in 
Frage stehende Beurteilung gar nicht einmal voll in Betracht kommen 
können, sondern wiederum nur ein entsprechender Anteil desselben, 
der sich eben nach dem Verhältnis des tatsächlichen Vorkommens 
jener Mißstände bemißt. Nach Lage der Sache ist aber anzunehmen, 
daß dieses tatsächliche Vorkommen im Verhältnis doch nur ein gering- 
fügigeres ist. Schon an und für sich wird es nicht wahrscheinlich sein, 


478 F. W. R. Zimmermann, 


daß ein Gewerbebetrieb, der in immerhin zahlreichen Fällen äußer- 
lich zur Erscheinung kommt, durchweg unter besagten Mißständen 
und in unlauterer Weise sich überhaupt vollziehen kann, ohne zu 
einem entschiedenen Einschreiten des Staates dagegen Veranlassung 
zu geben. Man wird bereits allein hiernach folgern dürfen, daß die 
Mißstände etc. keineswegs ständige Begleiterscheinungen der ge- 
werbsmäßigen Gutszertrümmerungen bilden, sondern daß sie bei 
denselben nur mehr oder weniger vereinzelt auftreten. Das wird 
des weiteren durch das Ergebnis der Statistik bestätigt. 

Hierfür ist in erster Linie die bayerische Statistik nutzbar, welche 
in ihren bezüglichen Erhebungspapieren die Frage beantworten lät, 
in wie viel Fällen gegen gewerbsmäßige Güterhändler Strafein- 
schreitung auf Grund des Reichsgesetzes betreffend Ergänzung 
der Bestimmungen über den Wucher vom 19. Juni 1893 (Reichs- 
gesetzblatt 1893, S. 197 ff.) und der hierzu erlassenen Vollzugsvor- 
schriften erfolgen mußte, ohne dabei allerdings weiter auf die Art 
des Einschreitens, die Schwere der Vergehung und den Erfolg Rück- 
sicht zu nehmen. Insgesamt sind dadurch in den zehn Jahren 351 
Strafeinschreitungen festgestellt worden; gegenüber der Gesamtzahl 
der vorgekommenen Gutszertrümmerungen zu 8758 erweist sich 
dieses unter unserem Gesichtspunkte doch nur als verhältnis- 
mäßig weniger bedeutend, es wird immer nur auf rund 25 Gutszer- 
trümmerungen eine Strafeinschreitung entfallen. Auch das Verhält- 
nis zu der Zahl der gewerbsmäßigen Güterhändler stellt sich ähnlich; 
in den einzelnen zehn Erhebungsjahren von 1894/95 an kommt je 
eine Strafeinschreitung auf 24 bezw. 25, 18, 29, 31, 27, 33, 29, 11 
und 8 der eingetragenen Güterhändler. In der braunschweigischen 
Statistik hätten die Strafeinschreitungen in der Rubrik Bemerkungen, 
obwohl eine ausdrückliche Vorschrift darüber nicht verlautbart war, 
eingetragen werden können und wäre solches voraussichtlich auch 
wohl wenigstens stets dann, wenn die Strafeinschreitung zu größerem 
oder auffallenderem Erfolge geführt hätte, ‚geschehen. Daß keinerlei 
bezügliche Angaben gemacht sind, läßt in einem gewissen Grade 
den Schluß zu, daß die Strafeinschreitungen von keinerlei vorragender 
Bedeutung gewesen sind. 

Ausdrücklich vorgeschrieben ist aber in der braunschweigischen 
Statistik für die Bemerkungenspalte die Angabe über den ungefähren 
Gewinn oder Verlust des Zertrümmerers, soweit sich 
solcher ohne besondere Beschwerde feststellen läßt. Letzteres wird 
ja stets nur in beschränkterer Weise der Fall sein. Diese An- 
gaben können einen, wenn auch nur geringeren Anhalt für unsere 
Frage gewähren, denn in denjenigen Fällen, in denen unlautere 
Manipulationen vorgenommen sind, wird sich regelmäßig der Gewinn 
aus der Zertrümmerung gerade auf Grund besagter Manipulationen 
hoch stellen und wird ferner für diese Fälle meist eine bezügliche 
Angabe möglich sein und vermöge des Vorurteils gegen die ge- 
werbsmäßige Gutszertrümmerung auch aufgenommen sein. Die natur- 
gemäße Folge eines häufigeren Vorkommens jener Manipulationen 


Gutszertrümmerungen und die braunschweigische Statistik über dieselben. 479 


müßte danach eine größere Zahl von Angaben über hohen Gewinn 
des Zertrümmerers sein. Letztere Erscheinung zeigt sich aber 
nicht. 

Wir haben aus dem braunschweigischen Erhebungsmaterial die 
Angaben über Gewinn und Verlust des Zertrümmerers für die drei 
Jahre 1899, 1902 und 1904 bezüglich der gewerbsmäßigen Gutszer- 
trümmerungen besonders ausgezogen und in einzelne Kategorien 
zusammengestellt. Es dreht sich hierbei allerdings nur um an sich 
geringere Zahlen, sie sind aber namentlich mit Rücksicht darauf, 
daß sie das Gesamtresultat dreier getrennt voneinander liegender 
Jahre umfassen, zu einer Beurteilung nach vorliegendem Zweck 
vollkommen ausreichend. Von der Gesamtzahl der in Frage 
kommenden Fälle zu 31 sind es zunächst 12 oder 38,7 Proz., in 
denen eine Angabe über Gewinn oder Verlust des Zertrümmerers 
nicht gemacht ist; in 6 Fällen oder 19,4 Proz. der Gesamtheit wird 
es unbestimmt gelassen, ob das Zertrümmerungsgeschäft zu Gewinn 
oder zu Verlust geführt habe; ein Verlust wird nur in einem Falle, 
3,2 Proz., herausgehoben, ein Gewinn schlechthin ohne eine nähere 
Bezeichnung, ob groß oder gering, in 5 Fällen oder 16,1 Proz., ein 
geringer Gewinn in 3 Fällen oder 9,7 Proz. und endlich ein großer 
Gewinn in 4 Fällen oder 12,9 Proz. Für unsere vorliegende Frage 
werden wir unbedenklich die letzten Daten über den großen Gewinn 
den sämtlichen übrigen Daten einschließlich derer über die fehlen- 
den Angaben gegenüberstellen dürfen, denn die Zertrümmerungen 
unter den unlauteren Manipulationen, auf welche sich unsere Frage 
zuspitzt, pflegen allgemein bekannt zu werden und ein bei solchen 
erzielter großer Gewinn würde zweifellos stets angegeben sein. Es 
ist also nur eine an sich und im Verhältnis geringe Zahl von 
Fällen mit großen Gewinn festgestellt worden und wir werden nach 
unseren obigen Ausführungen hieraus den Schluß ziehen können, 
daß auch die Fälle der unlauteren Manipulationen bei den Guts- 
zertrümmerungen nur selten und vereinzelt vorgekommen sind. 
In diesem Ergebnis stimmt sonach die braunschweigische Statistik 
mit der bayerischen überein, so daß sich beide gegenseitig bekräftigen. 

10. Schlußwort. Wir sind damit am Ende unserer Betracht- 
ungen, welche einen doppelten Zweck hatten, nämlich einerseits den 
Begriff der Zertrümmerungen in einer gewissen Weise gegenüber 
dem allgemeinen Vorurteil gegen dieselben nach den tatsächlichen 
Verhältnissen richtig zu stellen, und andererseits als einen näheren 
Ausweis über diese tatsächlichen Verhältnisse solche Ergebnisse der 
besonderen braunschweigischen Statistik über die Gutszertrümmer- 
ungen, welche in der amtlichen Bekanntgabe über diese Statistik keinen 
Raum gefunden hatten, aber doch ein allgemeines Interesse bean- 
spruchen dürfen, weiter zur Kenntnis zu bringen. Wenn wir dabei zu 
dem Schluß kommen, entgegen dem landläufigen Vorurteil, die Guts- 
zertrümmerungen als solche keineswegs als etwas Verwerfliches oder 
wirtschaftlich Ungesundes anzusehen, dieselben vielmehr als einen 
zunächst nach Gut oder Böse indifferenten Vorgang im wirtschaft- 


480 F. W. R. Zimmermann, Gutszertrümmerungen etc. 


lichen Leben hinstellen und ihnen sogar vorwiegend einen solchen 
Charakter zusprechen, der allerdings durch gewisse, aber nicht stets 
oder auch nur vorherrschend sich zeigende Begleiterscheinungen oder 
durch scharfe Zuspitzung in das Extrem oder nach einer Richtung 
hin sich zu einem bedenklichen und krankhaften Moment umbilden 
kann, schließlich auf Grund der tatsächlichen Unterlagen aus der 
Statistik dabei sogar so weit gingen, den Gutszertrümmerungen jenen 
indifferenten Charakter für die stark vorwiegende Masse der Einzel- 
fälle zuzusprechen, so darf dieses unter keinen Umständen so auf- 
gefaßt werden, als wollten wir ein besonderes Augenmerk der mal- 
gebenden Organe auf die Gutszertrüämmerungen und speziell die auf 
letzteren wiederum fußende Spezialerfassung der Zertrümınerungen 
durch die Statistik als etwas Geringwertiges oder gar Ueberflüssiges 
hinstellen. Gerade das Gegenteil ist der Fall. 

Wir können in den Gutszertrümmerungen als solchen zwar nur 
einen wirtschaftlichen Vorgang wie jeden anderen ohne die Beimisch- 
ung des Krankhaften oder Verwerflichen sehen, aber als wirt- 
schaftlichen Vorgang selbst müssen wir sie doch zu einer ganz 
wesentlichen Bedeutung einschätzen, zumal sie stets vorwiegende 
und weittragende Folgen für den wichtigsten wirtschaftlichen Besitz, 
den Besitz am Grund und Boden, zeitigen können, Folgen, denen, 
wenn sie erst einmal bis zu einem bestimmten Grade vorgeschritten 
sind, nur äußerst schwer, wenn überhaupt entgegenzuarbeiten ist. 
In der Hauptsache wegen dieser einschneidenden und unter Um- 
ständen gefahrdrohenden Einwirkung auf die Verteilung des Grund- 
besitzes und nebenher vielleicht auch etwas wegen der möglicher- 
weise Platz greifenden unlauteren Begleiterscheinungen wird jede 
vorsorgliche Verwaltung den Gutszertrümmerungen in ihrer Gesamt- 
heit eine besondere Aufmerksamkeit zuwenden müssen und unter 
diesen Umständen wird eine eigene statistische Erfassung der Guts- 
zertrümmerungen, wie sie z. Z. in Bayern und Braunschweig statt- 
findet, nur als zweckdienlich und angemessen erachtet werden können. 
Wir glauben daher nur mit dem Wunsche schließen zu sollen. 
daß jene bestehenden Sonderstatistiken vorbildlich behufs entsprechen- 
der Einführung auch in anderen deutschen Staaten wirken möchten. 


Friedrich Zahn, Der preußische Sparkassengesetzentwurf. 481 


IX. 


Der preussische Sparkassengesetzentwurf 
vom Standpunkte städtischer Finanzpolitik. 


Von 
Friedrich Zahn, Düsseldorf. 


Im Jahre 1906 legte die preußische Staatsregierung dem Land- 
tag einen Gesetzentwurf betreffend Anlegung von Sparkassenbeständen 
in Inhaberpapieren vor. Mit ihm befaßten sich sowohl das Herren- 
haus wie das Abgeordnetenhaus, ohne ihn jedoch bisher zu verab- 
schieden 1). Er hat folgenden Wortlaut: 


Wir, Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen u. s. w. 
verordnen mit Zustimmung der beiden Häuser des Landtages der Monarchie, was 
folgt: 

pa 1. Die öffentlichen Sparkassen haben von ihrem verzinslich angelegten 
Vermögen mindestens 30 Proz. in mündelsicheren Schuldverschreibungen auf den 
Inhaber anzulegen, davon mindestens die Hälfte in Schuldverschreibungen des 
Deutschen Reiches oder Preußens. Der zuständige Minister kann unter besonderen 
Verhältnissen ausnahmsweise eine Herabsetzung des in mündelsicheren Schuldver- 
schreibungen anzulegenden Vermögensteiles auf 20 Proz. zulassen. 

§ 2. Bis zur Erreichung des in $ 1 vorgeschriebenen Besitzstandes haben die 
bestehenden öffentlichen Sparkassen ihren Besitz an mündelsicheren Schuldver- 
schreibungen auf den Inhaber in der Weise zu vermehren, daß sie alljährlich 
mindestens zwei Fünftel des Ueberschusses ihres verzinslich angelegten Vermögens- 
bestandes über den des Vorjahres in mündelsicheren Schuldverschreibungen auf 
den Inhaber, und zwar in dem im $ 1 vorgesehenen Anteilsverhältnisse anlegen. 

§ 3°). Die öffentlichen Sparkassen können den durch dieses Gesetz vor- 
geschriebenen Besitzstand an Tnhaberpapieren im Falle einer besonderen Notlage 
Insoweit veräußern, als es zur Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebes unbedingt 
notwendig ist. Der Oberpräsident, welchem von der erfolgten Veräußerung alsbald 
Mitteilung zu machen ist, hat darüber zu bestimmen, in welcher Weise der vor- 
geschriebene Besitzstand wieder herzustellen ist. 

$ 4. Dieses Gesetz tritt mit dem 1. Januar 1907 in Kraft. 

. §5. Die Minister der Finanzen und des Innern werden mit der Ausführung 
dieses Gesetzes beauftragt. 

Urkundlich u. s. w. 


Wie aus der diesem Gesetzentwurf beigefügten Begründung 
hervorgeht, bezweckt er ein Doppeltes. 

Erstlich will er Fürsorge treffen für eine ebenso wünschens- 
werte wie notwendige Liquiderhaltung (Zahlungsfähigkeit und Zah- 
lungsbereitschaft) der Sparkasse. Die öffentlichen Sparkassen sollen 
von ihrem verzinslich angelegten Vermögen mindestens 30 Proz. in 
mündelsicheren Schuldverschreibungen auf den Inhaber anlegen, 


1) Vergl. Drucksachen des preußischen Herrenhauses, Session 1905/06, No. 15, 
No, 43; Verhandlungen vom 23. Januar und 9. März 1906. Ferner Abgeordnetenhaus, 
Session 1905/06, No. 158; Verhandlungen vom 20. März 1906. 
2) Der § 3 ist vom Herrenhause eingefügt worden. 
Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVII 1). 81 


482 Friedrich Zahn, 


davon mindestens die Hälfte in Schuldverschreibungen des Deutschen 
Reiches oder Preußens. 

Diese Vorschrift schafft für eine Reihe von Sparkassen, auch 
für die Düsseldorfer Sparkasse, nichts Neues. Letztere verfahren 
längst in diesem Sinne und gehen noch über diese Vorschrift hinaus. 
Die Anlagen in mündelsicheren Schuldverschreibungen sind z. B. 
bei der Düsseldorfer Sparkasse nicht 30, sondern 45 Proz., die in 
Reichsanleihen und preußischen Konsols allein 37 Proz., wie nach- 
stehende Zusammenstellung ergibt. 

Aber stark die Hälfte der preußischen Sparkassen hat ihre Be- 
stände nur bis zu 20 Proz. in Inhaberpapieren angelegt; fast ein 
Drittel gar nur bis zu 10 Proz.; 11 Proz. der Sparkassen besaßen 
an Inhaberpapieren nur bis 5 Proz. und 5,10 Proz. der Sparkassen 
gab es, die überhaupt keine Inhaberpapiere in ihren Beständen hatten. 
Insgesamt waren von den 7 Milliarden Einlagekapital der 1354 öffent- 
lichen Sparkassen Preußens im Jahre 1903 angelegt in: 


Städtischen Hypotheken 35,46 Proz. 
Ländlichen Hypotheken 23,02 „ 
Inhaberpapieren 27,0% 


zusammen 85,51 Proz. 


Der Rest verteilt sich auf Anlagen bei öffentlichen Korporationen 
und Instituten, sowie in Schuldscheinen, Wechseln, Lombarddarlehen. 


A. Preußische Sparkassen. 


I. Arten der Sparkassen (einschließlich Privatsparkassen) und 
Höhe ihrer zinsbar angelegten Bestände. 


| asos) | 1904 | Mill. M. 

Städtische (703) ' 717 | 4200 

Landgemeinden (229) 228 | 479 

Kreise und Aemter (416) 423 | 2574 

Provinzialverbände ( 6 | 6 | 287 

Vereine und Private (195) 190 593 

l | | 8136 
davon 
a) 
Zinsbar ange- b) D c) Inhab d) Gr 
legte Bestände| Reichsanleihe A aii ih rta ER 
überhaupt sanleıhbe uüberhaup 
ni Mill. M. Mill. M. Mill. M. Mill. M!% - 

1894 4179 117 422 1226 
1895 4557 134 491 1390 
1896 4883 134 540 1496 
1897 5211 134 555 1546 
1598 5545 131 556 1581 
1899 5800 132 560 1629 
1900 5375 126 549 1638 
1901 6523 139 576 1769 
1902 7038 141 594 1934 
1903 7572 148 613 2100 
1904 8136 152 651 2228 


Der preuß. Sparkassengesetzentwurf vom Standpunkte städtischer Finanzpolitik. 483 


II. Anlagen der Sparkassen (einschließlich Privatsparkassen) 
in Prozenten. 


1902 1903 | 1904 A 
a) Städtische Hypotheken 3411 | 3541 | 36,24 N 
b) Ländliche Hypotheken 23,03 22,46 22,02 7 
c) Inhaberpapiere 27,02 27,29 26,90 y 
d) Schuldscheine mit Bürgschaft 0,16 0,19 0,18 j 
e) Schuldscheine ohne Bürgschaft 2,07 1,95 1,84 P 
f) Wechsel 0,96 0,99 0,98 à| 
g) Faustpfand (Lombard) 1,26 1,19 1,17 I 
h) Anlagen bei Gemeinden und öf- 10,02 9,79 9,85 $ 
fentlichen Korporationen ` 

i) Sonstige 0,77 0,73 0,82 


III. Anlagen der öffentlichen Sparkassen 1903 in Prozenten. 


(Bei den Provinzen sind die Kolonnen ,„Schuldscheine“ und „Lombard“ als verhältnis- 
mäßig gering und wenig interessierend nicht ausgefüllt.) 


| Anlagen bei Š Son- 
Hypotheken EN Wechsel Gemeinden u. Schuldseheine stige 
ET Ariere öffentlichen | ohne | mit An- 
städti- | länd- |PAP 'Korporationen Bürg- | Bürg- | lagen 
sche | liche | schaft | schaft 
Staat 35,46 | 23,02 | 27,04 | 0,75 10,19 0,20 | 1,91 | 0,46 A 
Ostpreußen 42,14 | 15,14 | 26,93 | 4,98 3,01 
Westpreußen 30,88 | 22,58 | 25,68 | 5,35 11,77 
Berlin 18,82 | — | 79,37 | 1,64 0,16 
Brandenburg 28,43 | 15,07 | 40,71 | 0,29 14,01 
Pommern 33,08 | 24,38 | 28,98 | 2,00 8,56 
Posen 35,01 | 19,43 | 25,16 | 5,96 10,47 
Schlesien 30,52 | 16,67 | 37,41 | 1,28 12,48 
Sachsen 28,57 | 28,68 | 29,78 | 0,04 11,65 
Schleswig-Holstein | 37,64 | 37,40 | 6,95 | 0,33 6,48 
Hannover 25,82 | 37,27 | 20,34 | 0,27 11,31 
Westfalen 45,54 | 29,08 | 11,63 | 0,02 10,30 
Hessen-Nassau 35,44 | 22,47 | 24,41 | 0,17 | 9,25 
Rheinland 48,11 | 13,51 | 24,67 | 0,31 9,70 
Hohenzollern 5,60 | 53,12 | 23,05 | 0,10 5,97 
Stadt Düsseldorf 31,64 45,51 | 2,04 19,55 1) 0,97 


B. Die Sparkasse der Stadt Düsseldorf 
am 1. April 1906. 


M. Proz. 
Einlagenbestand am 1. April 1906 51462 694,48 
Anlage des Sparkassevermögens in 
A. Hypotheken 
a) städtische Grundstücke 
1. überhaupt 16 221 906,— 
-~ 2. darunter Amort.-Hypotheken — 31,64 
b) ländliche Grundstücke 
1. überhaupt 1 064 900, — 
2. darunter Amort.-Hypotheken 164 000, — 


1) Hiervon entfallen auf die eigentliche Gemeinde 16,72 Proz. 
Pr ” „» » auswärtigen Gemeinden 2,83 „ 


31* 


484 Friedrich Zahn, 


M. Proz. 

B. Inhaberpapiere 24 859 390, — 45,51 
darunter Reichs- und preußische 

Staatsanleihen 20 403 178,— 37,37 

Provinzialanleihen 4 234 138, — 7,75 

Stadtobligationen 222 073,— 0,41 

C. Schuldscheine 528 000, — 0,97 

D. Wechsel I 115 829,— 2,04 

E. Faustpfand 157 000, — 0,29 
F. Anlage bei öffentlichen Instituten 

und Korporationen 10 680 638, — 19,55 

G. Sonstige Anlagen — — 


Es erscheint im höchsten Maße zweckmäßig, daß den öffentlichen 
Sparkassen allgemein einc angemessene Liquidität zur Pflicht gemacht 
wird. Dies kann das Vertrauen des Publikums in die Solidität 
unserer Sparkassen insgesamt und jeder einzelnen nur erhöhen. 

In zweiter Linie bezweckt der Gesetzentwurf das Interesse 
des Staatskredits, nämlich eine Hebung des Kurses der Staats- 
und Reichsanleihen. 

Insofern steht er in engem Zusammenhang mit dem schon 194 
verabschiedeten preußischen Gesetze über die Erhöhung des Grund- 
kapitals der Seehandlung (Gesetz vom 4. August 1904, Gesetzsamm- 
lung S. 238), mit dem preußischen Gesetze über die Abänderung der 
Bestimmungen über Gebührenerhebung für Eintragung in das Staats- 
schuldbuch (Gesetz vom 24. Juli 1904, Gesetzsammlung S. 164) und 
mit dem analogen Reichsgesetz für das Reichsschuldbuch vom 28. Juni 
1904 (RGBl. 8. 251). 

Alle die genannten gesetzlichen Maßnahmen gehen darauf aus, 
die Stetigkeit und den Stand der Kurse der Staats- und Reichs- 
anleihen zu heben. 

In dem einen Falle wurde das Königlich preußische Bank- 
institut durch Erhöhung seines Grundkapitals von 34,4 auf 6 
Mill. M. in seiner Stellung auf dem Gebiete des Geld- und Bank- 
wesens gegenüber den immer machtvoller auftretenden Mächten der 
Großfinanz, der Großbanken, der Großbankgruppen wesentlich ge- 
kräftigt. Dies geschah wesentlich mit aus dem Grunde, um die 
Seehandlung zur Pflege und Ueberwachung des Marktes der preußi- 
schen und Reichsanleihen besser zu befähigen. Dank der Verstärkung 
ihrer Kapitalkraft kann sie durch Aufnahme größerer oder geringerer 
Mengen schwimmenden Materials den von diesem ausgehenden Kurs- 
druck leichter als seither beseitigen oder mildern. Dies ist in Anbetracht 
der fast alljährlichen Begebung von großen Anlehensbeträgen seitens 
des Reiches und von Preußen und im Hinblick darauf dringend 
notwendig, daß ein Teil dieser Anleihen nur sehr langsam plaziert 
wird, und sich der von dem herumschwimmenden Material ausgehende 
Druck oft noch lange Zeit nach Begebung der Anleihen empfindlich 
fühlbar macht. Ferner sollte die Erhöhung der Finanzkraft die See- 
handlung mehr als bisher in den Stand setzen, Kursschwankungen 
mit Aussicht auf Erfolg entgegenzutreten, Beunruhigungen des großen 
an den Staatsanleihen und allen von diesen beeinflußten Fonds 


Der preuß. Sparkassengesetzentwurf vom Standpunkte städtischer Finanzpolitik. 485 


(Kommunalpapiere, landschaftliche Pfandbriefe etc.) beteiligten 
kapitalistischen Publikums nach Möglichkeit zu verhüten und dessen 
daraus folgende Verstimmung gegen die Reichs- und Staatsanleihen 
mehr oder weniger zu beseitigen und so positiv die Beliebtheit 
dieser Anlagewerte zu steigern. (Drucksachen des Abgeordneten- 
hauses 1904, No. 225.) 

Neben dieser Verbesserung der bankmäßigen Beziehungen des 
Staates zum Geldmarkte suchte die Finanzverwaltung auch direkten 
Einfluß zu gewinnen auf Angebot und Nachfrage bezüglich 
der Staats- und Reichskonsols. In Anbetracht der Tatsache, daß von 
Staats- und Reichsanleihen sich ein höherer Betrag im Verkehr am 
offenen Markt befindet und nicht in dauernden Anlagen festgelegt 
ist, suchte man unter Aufhebung der bisherigen Gebühren für Um- 
wandlung der Konsols in Buchschulden, die Eintragung in Staats- 
und Reichsschuldbuch im Wege der oben genannten Gesetze zu 
fördern. Auf diese Weise hofft man, die dauernden Anlagen in 
Staats- und Reichsanlehen zu vermehren und so das Angebot im 
freien Verkehr zu verringern, und als weitere Folge davon eine 
Belebung der Nachfrage am offenen Markt, sowie eine Festigung und 
Steigerung des Kurses der Konsols selbst zu erzielen. 

Nun kommt der gegenwärtige Sparkassengesetzentwurf und strebt 
an, den Absatzmarkt für die Konsols bei den Sparkassen zu er- 
weitern und durch die infolgedessen zu erwartende Nachfrage den 
Kurs der Konsols zu steigern 1). 

Es handelt sich also hier um ein zielbewußtes programmatisches 
ae der Staatsregierung im Interesse der Förderung des Staats- 
redits. 

Zweifellos ist ein solches Vorgehen vom Standpunkte der natio- 
nalen Wirtschaftspolitik zu begrüßen. Die bisherige Kursentwicke- 
lung unserer Reichs- und Staatsanlehen ist tatsächlich recht uner- 
freulich und dringender Abhilfe bedürftig. 

Obschon die preußischen Staatsanlehen nach Sicherheit und 
innerer Güte dem Anlagewert keines anderen Staates nachstehen, 
vielmehr vor anderen den Vorzug haben, daß ihnen ein werbendes 
Staatsvermögen von weit höherem Wert als die Beträge der Staats- 
schuld gegenübersteht, so ist der Kurs durchschnittlich hinter dem 
der staatlichen Werte Englands, Frankreichs, der Vereinigten Staaten 
von Amerika und auch der kleineren Staaten wie der Schweiz, Hol- 
land, Belgien, Dänemark zurückgeblieben, und zwar in einem Maße, 
das durch die Verschiedenheit des landesüblichen Zinsfußes der 
Kapitalanlagen nur zum Teil seine Erklärung findet, und er ist, auch 
in normalen Zeiten, häufiger und stärker als die ausländischen Werte 
Schwankungen ausgesetzt, die durch die allgemeine Lage des Geld- 
und Anlagemarktes nicht gerechtfertigt sind. Das gleiche gilt von 
den Kursverhältnissen der Reichsanlehen. 


1) Hierher gehört auch die Bestimmung des Reichsgesetzes vom 3. Juni 1906, 
Art. 4, wonach Kauf- oder sonstige Anschaffungsgeschäfte über Renten- und Schuld- 
verschreibungen des Reichs oder der Bundesstaaten, sowie Interimsscheine über Ein- 
zahlungen auf diese Wertpapiere von der Reichsstempelabgabe befreit sind. 


Friedrich Zahn, 


486 


Uebersicht 


über 


die 


Kurse der 3!,-prozentigen I 
sowie der französischen und englischen Rente in den Jahren 1888 bis 1904. 


und 


3-prozentigen Reichsanleihe, 


Kurs 1888 | 18589 | 1890 | 1891| 1892 | 1893 | 1894 | 1895 | 180 1897 1898 1899 | 1900 | 1901 1902 | 1903 | 1904 | 1905 | 1906 
3!/,-prozentige Reichsanleihe. 
höchster [104,30/104,40/103,40 |99,25|101,60|101,60 |104,60 |105,20 |105,70 |104,50 |104,00 |101,90| 99,10]101,75 |103,30 |103,30 |103,00|102,60| 101,50 
niedrigster [100,20| 101,70) 97,00 196,50| 98,60| 99,20 |100,30 |103,30 |103,00 |102,60 [100,80 | 96,90| 92,75) 95,80 |101,20 |101,00 |101,30|100,30| 97,70 
im Durch- | | | 
schnitt [102,48|103,69|100,42 |98,38| 99,97|100,38 |102,39 104,44 A 103,58 |102,64 | 99,77. 95,82| 99,54 |102,06 |102,29 |101,94|101,33| 99,54 
3-prozentige Reichsanleihe. 
höchster i A . 187,10) 88,00| 88,00 | 95,75 |100,30 | 99,90 | 99,00 | 97,70 | 94,30| 89,00| 92,40 | 93,50 | 93,40 | 92,20| 91,80| 89,60 
niedrigster] . 3 f [#478 84,00| 84,50 | 85,25 | 96,10 | 97,60 | 96,80 | 92,50 | 87,60| 84,90) 86,25 | 90,30 | 89,20 | 89,00| 88,40| 85,90 
im Durch- 
schnitt 3 : .  |85,10| 86,27: 86,27 | 90,73 | 98,91 | 99,22 | 97,65 | 95,51 | 90,71| 86,74| 89,27 | 92,18 | 91,47 | 90,01| 90,08 87,73 
3-prozentige französische Rente. 
höchster 84,60| 88,10| 96,875|96,70|100,70| 99,60 |104,50 |103,75 |103,25 |105,25 |104,80 |103,05|102,30|102,45 |102,00 |100,17 | 99,10|100,45| 99,90 
niedrigster | 80,90) 82,50| 87,40 Be 95,00| 93,60 | 96,80 | 99,60 |100,60 |101,60 |101,35 e 99,15| 99,85 | 98,15 | 96,25 | 94,00| 97,70| 94,95 
im Durch- 
schnitt | 81,64| 84,94| 90,72 |94,28| 97,39| 97,22 |100,05 |102,03 |102,16 lis 102,85 |IOI,24|100,60|101,22 |100,60 | 98,06 | 97,50| 99,21| 97,65 
2°/,-prozentige englische Rente. 1) 
höchster |ro2,00| 99,25| 98,75 |97,50| 98,25| 99,625/103,50 |108,375|113,875|113,875|112,875|111,50|103,25| 97,875 97,875| 93,625| 91,25| 91,65| 90,87 
niedrigster | 95,50| 96,00) 93,375/94,25| 95,00) 97,00 | 98,375/103,375|105,125| 110,00 |108,875| 97,75 96,75] 91,00 msh 86,975| 85,00| 87,70| 85,75 
im Durch- | 
schnitt | 99,05| 98,01) 96,49 |95,73| 96,658| 98,37 |101,07 |106,20 ee [112,40 |110,96 |107,18| 99,63| 94,29 | 94,35 | 90,76 | 88,21] 89,83) 88,32 


Vergl. über die Zahlen bis 1904 die Druckschrift Herrenhaus, Session 1905/06, No. 15. 


1) Englische Konsols tragen seit dem 6. April 1903 nur noch 2'/, Proz. Zinsen. 


Der preuß. Sparkassengesetzentwurf vom Standpunkte städtischer Finanzpoliiik. 487 


Kurse der 3!,,-proz. und 3-proz. Reichsanleihe, letztere 
ebenfalls in Kurse einer 3\/,-proz. Anleihe verwandelt’). 


, 4-proz. Reichsan- 
3!/,-proz. an 2 Tan Kurse der 3-proz. 
Desan Reicksanleihe leiho; in 31/,-pros: Beichsanteihe 
verwandelt 
u 
31. Oktober 1890 98,60 101,50 87,00 
30. April 1891 99,10 99,85 85,60 
31. Oktober 1891 99,75 99,85 85,60 
30. April 1892 100,00 100,30 86,00 
31. Oktober 1892 100,00 100,30 86,00 
30. April 1893 101,20 101,75 87,20 
31. Oktober 1893 99,60 99,40 85,20 
30. April 1894 101,50 102,55 87,90 
31. Oktober 1894 103,30 109,65 94,00 
30. April 1895 105,00 114,55 98,20 
31. Oktober 1895 104,25 115,85 99,30 
30. April 1896 105,25 116,40 99,75 
31. Oktober 1896 103,70 114,80 98,40 
30. April 1897 103,90 114,35 98,00 
31. Oktober 1897 102,75 113,05 96,90 
30. April 1898 103,25 112,75 96,60 
31. Oktober 1898 101,75 109,30 93,70 
30. April 1899 100,40 107,10 91,80 
31. Oktober 1899 98,10 104,40 89,50 
30. April 1900 96,00 100,00 85,75 
31. Oktober 1900 96,30 102,45 87,80 
30. April 1906 100,80 100,30 88,40 
31. Oktober 1906 97,80 97,80 86,10 
15. März 1907 96,— 96,— 84,80 


Ein solcher Zustand unserer Reichs- und Staatspapiere ist un- 
erträglich vom Standpunkte der Staatsgläubiger, die die Staats- 
papiere im Vertrauen auf ihre unbedingte Sicherheit erworben 
haben, und die bei stärkeren Kursschwankungen nach Millionen sich 
beziffernde Verluste erleiden. Er ist unerträglich vom Standpunkte 
des Staates selbst, der seine Anlehen stets zu einem gewissen Kurs 
sicher im eigenen Land muß begeben können. Er ist unerträglich 
endlich vom Standpunkte des Ansehens unserer nationalen Finanz- 
politik und unserer politischen Würdigung im Auslande. 

Daß zur Beseitigung dieses Zustandes die öffentlichen Ver- 
mögensbestände ihr gut Teil mit dazu beizutragen haben, erscheint 
mir selbstverständlich. Insbesondere gilt diese Pflicht für die öffent- 
lichen Sparkassen, deren Kredit auf dem Staat und seinen Ein- 
richtungen gegründet ist. Sie leiten Ansehen, Vertrauen, das ihnen 
von der Bevölkerung geschenkt wird, vom Staat und seiner Gesetz- 
gebung, von der staatlichen Verleihung der Rechtsfähigkeit und 
Mündelsicherheit, von der gesetzmäßigen Organisation sowie von der 
staatlichen Aufsicht und Kontrolle ab. Es ist nur gerecht, wenn als 


1) Vergl. Karl Kimmich, Die Ursachen des niedrigen Kursstandes deutscher 
Staatsanleihen. Stuttgart 1906, S. 340. 


488 Friedrich Zahn, 


Entgelt hierfür den Sparkassen gewisse Pflichten zur Sicherheit des 
Staatskredits auferlegt werden, namentlich wenn diese Pflichten den 
eigenen Zwecken der Sparkasse, ihrem Liquiditätsbedürfnis ent- 
sprechen. 

Wenn nun die Sparkassen 30 Proz. ihrer Vermögensbestände 
in mündelsicheren und zwar mindestens zu 15 Proz. in Reichs- und 
Staatsanleihen anlegen sollen, so wird zwar noch nicht viel erreicht 
im Sinne der Erweiterung des Absatzmarktes für die Konsols. 
Immerhin machen bei einem Sparkassenvermögen von 7 Milliarden 
die 30 Proz. 2,1 Milliarden und die obligatorischen 15 Proz. 1 Milliarde 
aus. Das ist bei rund 6,3 Milliarden Reichsschuld und 7,4 Milliarden 
preußischer Staatsschuld nicht zu unterschätzen. Allerdings voll- 
zieht sich diese Berücksichtigung der Inhaberpapiere bezw. Staats- 
und Reichsanlehen erst im Laufe von Jahren. Die Sparkassen sollen 
zunächst nach $ 2 des Gesetzentwurfes alljährlich mindestens ?/, des 
Ueberschusses ihres verzinslich angelegten Vermögensbestandes "über 
den des Vorjahres in mündelsicheren Inhaberpapieren anlegen. Das 
würde alljährlich eine Anlage von 60 Mill. in solchen Schuldver- 
schreibungen bedeuten, aber nicht volle 60 Mill. mehr als bisher, 
da ja eine Reihe von Sparkassen jetzt schon Reichs- und Staats- 
anleihen in ausreichendem Maße berücksichtigt. 

Es bedeutet diese Maßnahme also für Hebung des Kurses für 
Staats- und Reichsanlehen in nächster Zeit nicht viel. Mehr schon, 
wenn die Uebergangszeit erreicht ist. Dann ist von einer regelmäßigen 
stetigen Aufnahme der Konsols durch die Sparkasse eine bessere 
Stabilität des Kurses in gewissem Grad zu hoffen. An Stelle eines 
Flottierens und häufigeren Zurückfließens der entsprechenden Beträge 
an den öffentlichen Kapitalmarkt wird ein Festliegen derselben an 
dazu geeigneten Stellen treten. Kursschwankungen kann mehr als 
bisher entgegengewirkt, und bei ihrem Eintritt ihre Wirkung ver- 
mindert oder gemildert werden. 

Nach diesen allgemeinen nationalen Wirtschafts- 
erwägungen nunmehr aber die weitere Frage: Kommt der 
Zweck des Sparkassengesetzentwurfs auch speziell 
den Gemeinden zu gute? 

Allerdings, insofern der Kurs der Staatsanlehen Gradmesser ist 
für den Kurs der Städteobligationen. Der Kurs der Staatspapiere 
und seine Hebung für unsere Volkswirtschaft und unseren Kredit 
äußert seinen Bintluß auf alle öffentlich-rechtlichen Papiere, Kommunal- 
anleihen, landwirtschaftlichen Pfandbriefe u. s. w. Der Kurs der 
letzteren folgt tatsächlich dem der Staatspapiere nach oben wie nach 
unten. Wenn die Staatspapiere sinken, sinken die Städteobligationen 
erst recht. Steigt andererseits der Kurs der Staatspapiere, so steigen 
auch die Städteobligationen und lassen sich zu höheren Kursen 
unterbringen. Wird demnach durch den Sparkassengesetzentwurf 
ein günstiger Einfluß für den Kursstand der Staatskonsols bewirkt, 
so kommt er mittelbar auch dem Kurse der Städteobligationen zu 
gute. 


Der preuß. Sparkassengesetzentwurf vom Standpunkte städtischer Finanzpolitik. 489 


Außerdem wird durch den Sparkassengesetzentwurf unmittelbar 
die „Möglichkeit“ geschaffen, daß, nach Abzug der obligatorischen 
15 Proz. für Reichs- und Staatsanlehen, weitere 15 Proz. der Spar- 
kassenbestände in sonstigen mündelsicheren Inhaberpapieren, also 
auch in Städteobligationen angelegt werden. Die Absatz-„Möglich- 
keit“ wird mithin auch für die kommunalen Obligationen erweitert. 
Sie liegt nicht nur im Interesse der kleinen Gemeinden, die vielfach 
bei Aufnahme von Anleihen sich in einer schwierigen Lage befinden, 
da kein größerer Markt für die Papiere besteht, sondern kann für 
die Städteobligationen überhaupt von Bedeutung sein, denen bis- 
her ein aufnahmewilliger Markt viel zu wenig zur Seite stand. 

Abgesehen davon, ist aber die eben betrachtete zielbewußte 
Finanzpolitik des Staats — einerlei, ob die angestrebte Hebung des 
Kurses der Konsols erreicht wird oder nicht — schon für sich hin- 
reichend Anlaß für die Städte, bei sich selbst einmal Ein- 
kehr zu halten und zu prüfen, wie es mit ihren Kursverhältnissen 
steht, ob nicht auch für sie die Inangriffnahme einer ähn- 
lichen Finanzpolitik am Platze ist. 

Der Zustand auf dem Gebiete des deutschen Kommunalkredits 
ist nichts weniger als erfreulich. Nicht, daß die hohen Schulden der 
Kommunen selbst und ihre rasche Zunahme beängstigend wären: 

(Siehe Tabellen auf S. 490 u. 491.) 

Diese Schuldbeträge haben an sich nichts Bedrohliches. Unter 
den Anleihenszwecken sind in hervorragendem Maße rentierende, 
werbende Anlagen vertreten, in deren Erträgen die betreffenden 
Anleihen wenigstens ihre regelmäßige Amortisation und Verzinsung 
finden: Wasser-, Gas-, Elektrizitätswerke, Hafenanlagen, Markt- 
anstalten, Straßen- und Kleinbalınen, Friedhofsanlagen. Außerdem 
bietet Sicherheit gegen übermäßige Verschuldung der von den 
Kommunen und Aufsichtsbehörden streng durchgeführte Grundsatz, 
daß nur außerordentliche Ausgaben — also z. B. nicht Ausgaben für 
Volksschulbauten oder gewöhnliche Pflasterarbeiten — durch An- 
leihen gedeckt werden dürfen, und daß die Tilgung derselben dem 
Charakter des Anleihezweckes angepaßt werde. Die deutschen Städte 
haben also keinen Anlaß, wegen ihrer Schulden besorgt in die Zu- 
kunft zu blicken !) 2). 

Aber die Organisation des Kommunalkredits ist als solche höchst 
mangelhaft. Die Kritik, welche Miquel in der Reichstagssitzung vom 
2. Mai 1873 darüber fällte: „Kein so fortgeschrittenes Land hat eine 
so jämmerliche und erbärmliche Organisation des Kommunalkredits 
als Deutschland“, trifft so ziemlich auch heute noch zu. Die Orga- 
nisation ist nicht bloß schlecht, sondern so gut wie überhaupt nicht 
vorhanden. 


1) Friedrieb Freund, Städtische Selbstverwaltung und Verschuldung. Bankarchiv, 
15. Mai 1906. — Wilhelm Kähler, Die preußischen Kommunalanleihen 1897. — Rich. 
v. Kaufmann, der Kommunalfinanzen in Großbritannien, Frankreich, Preußen, Leipzig 
1906, Bd. 2, S. 459, 466, 476, 483 ff. 

2) Die Bonität der Stadt Düsseldorf. Düsseldorfer Handelzeitung v. 30. Juni 1906. 


Friedrich Zahn, 


S 
= 


Die Schulden von 20 größeren Städten 1849, 1876, 1901 und 1902. 


1849 1876 1901?) 1902 
Städtische Schuld Städtische Schuld Städtische Schuld Städtische Schuld 
u to “m ac “a wo _ &n 
Fr] Ad ġa A d 

Stadt Bevölke- “2 Å P |Bevölke- 2 Å g Bevölke- $ À E |Bevölke- y i: B 

rung 28 4 | rung o g% j| rung g8 | rung os E 

aT A7 ATS Ap 

M. M. M. M. M. M. M. M. 
2a 4 = = = a = f 

1. Berlin ') 401800114 756 625| 36,87 | 966 858/101 540620, 105,01 |1 896 052 329 654 719| 173,86 |1 920 648.331 971 267| 172,84 
2. Breslau 1104 222| 4 281 786| 42,41 | 239050/ 24 201623 101,26 | 429993 60910745 141,66 | 436458 67 536 347 154,73 
3. Cöln 88 356| 3 188 085| 36,21 | 135 371) 18976864 140,89 | 383 888 69935 344| 182,18 | 397 307| 86 449 283| 217,58 
4. Königsbergi.P.| 70000| 4574799, 65,35 | 122636) 7450004) 60,75 | 190228 40291955| 211,81 | 192050| 43 829 655| 228,22 
5. Danzig 58012| 1528 272) 26,35 97 931| 6080710) 62,09 | 145 340 14 208 598) 97,76 | 149080, 16 389 077| 109,98 
6. Magdeburg 51 003| 1073493) 21,04 87 925 8402062 95,55 | 227 350 49694 223| 218,58 | 229 757| 50 370 912| 219,23 
7. Aachen 48 687| 834.291] 17,13 79606| 1473992| 18,52 | 138 201 19186 105| 138,83 | 140530 23451445 166,87 
8. Elberfeld 47 131| 962466] 20,43 80 589] 4256800 53,20 | 157800 49062 417| 310,92 | 160700 51 184 193) 318,50 
9. Stettin 42980 1 917 501| 44,59 80972| 5214458 64,38 | 221960 46 112 784| 207,75 | 230820| 49 333 268| 207,75 
10. Düsseldorf 39741) 933 621 23,45 80 695| 9160657, 113,51 | 222720 51383 856| 230,71 | 227 587| 55 042 262| 241,85 
11. Posen 38 400| 177939| 4,63 60 998| 2275596 37,31 | 121280 18912 972| 155,94 | 124 580 22 299 057| 178.99 
12. Crefeld 36 111 = j] = 62 905| 3521 580, 55,90 | 107 600| 18 140 605| 168,59 | 107 740 23 214.000| 215,46 
13. Barmen 35984, 616 395| 17,12 86 504|) 4383606 50,67 | 145 117) 36 770 220| 253,38 | 148 054| 40 461 719| 273,29 
14. Halle 32 493| 508 869! 15,66 60 503| 5469567) 90,41 | 161 990| 26 843 367| 165,74 | 166 150| 28 640 538| 172,37 
15. Potsdam 31 000| 1 280628 41,31 45 003| 1492427| 33,16 60090 4658542| 77,53 60 310| 7 082 6o1| 117,48 
16. Frankfurt a. O.| 28460) 1349451 47,35 47 180 903 906 19,16 62460 4861810 77,84 62380 5 234825! 83,91 
26663 470679 17,63 48 030| 1942498 40,46 87 050| 11060 143, 127,06 88 690| 11 298 600| 127,38 

17756 1128705, 63,57 45 310) 5917 583| 130,60 81 239, 10023 548| 123,38 82 004| 11 322 448| 138,07 

19. Duisburg 11 546 89658 7,72 37 380| 2964 893| 79,31 93 650 17 898 354| 191,12 97 050) 18 721 558| 192,90 
20. Dortmund 10 515| 18000) 1,71 57 742| 5217781, 89,90 | 148065 32709605! 220,91 | 152022 33 101 165) 217,73 
Zusammen |1 220 86039691 263| 32,51 |2 523 188 220845227, 87,53 |5 082 073/912 324 972| 179,52 |5 173 917'976 934 220| 188,82 

Zus. ohne Berlin 819 060 24 934 638| 30,44 [1 556 330119 304 607| 76,66 |3 186 021582 670 253| 182,88 |3 253 269,644 962 953| 198,25 


1) Die Schulden Berlins und seiner 16 Vorortgemeinden zusammen betrugen am 31. März 1903: 446 455 500 M., gleich 175,6 M. 
pro Kopf der Bevölkerung. — Die Schulden Berlins (ohne Vororte) erhöhten sich bis März 1907 auf rund 412 Mill. M. Daran 
teil die 6 städtischen Werke (Gas, Wasser, Elektrizität ete.) mit 237°/, Mill. M. und die Stadthauptkasse (Kämmerei) mit 124'/, Mill. M. 
Hiervon sollen 1907 rund 11 Mill. M. getilgt werden, wovon 8'/, Mill. auf die Werke, 2'/, Mill. M. auf die Stadthauptkasse entfallen. 
Vergl. Prof. Dr. Silbergleit-Schöneberg, Die Entwickelung der deutschen Kommunalanleihen, Bankarchiv, 5. Jahrg., Berlin, 1. Juli 1906, No. 19. 


2) Ende des Rechnungsjahres. 


nehmen 


Der preuß. Sparkassengesetzentwurf vom Standpunkte städtischer Finanzpolitik. 491 


Die Obligationen von 20 größeren Städten 
1876 und 1905. 


Obligationenschuld 

Stadt 1876 1905 

M. M. 
1. Berlin 85 791 270 | 400 938 050 
2. Breslau 13 086 650 ; 50227 000 
3. Cöln 12 776 250 | 104 620 000 
4. Königsberg i. Pr. 7411560 | 40625 600 
5. Danzig 197 925 | 6067 300 
6. Magdeburg 8016300 | 47 672 800 
7. Aachen — 15 680 500 
8. Elberfeld 4256800 | 36781 000 
9. Stettin 4 505 500 51 266 300 
10. Düsseldorf 4 270657 54 000 300 
11. Posen 6.096 26 193 200 
12. Crefeld I 716 060 13 247 100 
13. Barmen 3 741 000 41 928 300 
14. Halle 4 994 000 17 494 600 
15. Potsdam 192 450 5 635 598 
16. Frankfurt a. O. 592 125 I 103 450 
17. Erfurt 154350 12 393 000 
18. Görlitz 5 803 725 2 928 100 
19. Duisburg 2 688 800 18 702 525 
20. Dortmund 4776000 | 37 061 000 


Zusammen | 164 977518 985 225 723 
Zusammen ohne Berlin 79 186 248 | 584 287 673 


Vergl. Prof. Dr. Silbergleit-Schöneberg a. a. O. 


. Greift man nur aus dem gesamten Kommunalkredit die bei der 
Börse eingeführten Kommunalobligationen heraus, so gewahrt man 
einen großen Wirrwarr. Nicht weniger als 132 Städte erscheinen im 
Berliner Kurszettel mit 346 Einzelanleihen. Dazu kommen noch an 
anderen Börsen (namentlich Leipzig, Dresden, Hamburg, Breslau, 
Frankfurt a. M., Cöln, München) Obligationen von etwa 90 Städten, 
deren Kurse in Berlin nicht notiert sind 1). 

. Es sind Anleihen mit den verschiedensten Zwecken, mit den ver- 
schiedensten Titeln, jede mit besonderem Tilgungs- und Auslosungs- 
modus, und häufig handelt es sich nur um Beträge von nicht mehr 
as einer Million im Einzelfalle, um so kleine Beträge, daß Angebot 
ud Nachfrage sich schwer gegenseitig finden. Ist schon die in 
Preußen von der Regierung geforderte Mindesthöhe der einzelnen 
Anleihen ‚mit etwa !J, Mill. M. sehr niedrig gegriffen, so ist man 
hdererseits unter diesen Satz noch weit herabgegangen. Pulnitz 
at eine Anleihe von 100000 M., Dillingen eine solche von 70000 M.! 
Es gibt Städte, die alle 2—3 Jahre mit einer überaus gering be- 
messenen Anleihe an den Markt kommen, heute für Kanalisation, 
morgen für Wasserwerke, dann für einen Schlachthof; immer andere 
a 


1) Karl Kimmich, a. a. O. 8. 52 


492 Friedrich Zahn, 


Zahlstellen, andere Zins- und Tilgungsbestimmungen, andere Stücke- 
lung! 

Von einem Kurs der Städteobligationen, der dem inneren 
Wert entspricht, kann nicht gesprochen werden, trotzdem die Papiere 
hinreichend sicher sind, da für die betreffende Schuld das Vermögen 
und die Steuern der Kommunen haften. Auch die Kurse der Städte, 
unter sich betrachtet, weisen keineswegs diejenigen Unterschiede auf, 
welche der verschiedenen Solvenz der einzelnen Städte entsprechen 
würden. Lediglich Angebot und Nachfrage regeln den Kurs, wobei 
manches geschieht, um Angebot und Nachfrage künstlich zu beein- 
flussen, jedoch nicht etwa nach Maßgabe der Qualität der betreffenden 
Anlehen, sondern lediglich nach Maßgabe des Interesses, das die 
Stadt oder der Emittent an dem Stand der Papiere haben. 

(Siehe Tabelle auf S. 493.) 

Der Kurs ist regelmäßig noch um 2—3 Proz. niedriger als der 
Kurs der gleich verzinslichen Konsols und vielfach auch niedriger 
als die Obligationen der mittleren und kleineren Bundesstaaten, als die 
gleich verzinslichen Pfandbriefe der landwirtschaftlichen Kreditinstitute. 

So notierten beispielsweise: 


am 
12. Febr. 1902 15. März 1907 

3'/,-proz. Reichsanleihe, konvertiert 101,90 96,00 
do. nicht konvertiert 102,90 96,00 

3'/,-proz. preußische Konsols, konvertiert 101,80 96,00 
do. nicht konvertiert 101,90 96,00 

31/,-proz. sächsische Konsols 101,25 96,50 
3'/,-proz. Hessische Konsols 100,00 94,60 
3'/,-proz. Braunschweigische Obligationen 100,20 (®/,) 97,00 
3'/,-proz. Rheinprovinz-Öbligationen (Landesbank) 99,50 95,00 
3%,,-proz. Centrallandschafts-Pfandbriefe 100,00 94,50 
3!/,-proz. Kur- und Neumark-Pfandbriefe 100,00 95,75 
3'/,-proz. Schlesische Pfandbriefe 99,50 95,75 


Die Folge des niedrigen Kursstandes der Städteanleihen ist, daß 
auch bei der Emission der Begebungskurs sehr gedrückt wird. Die 
Differenz zwischen den Begebungskursen der Städte- und der Staats- 
papiere ist sogar anscheinend noch größer als die zwischen den an 
der Börse notierten Kursen. Nach einer Aufstellung von Eberstadt 
über die Emission des Jahres 1899 zeigen sich zwischen Begebungs- 
kurs und Einführungskurs an der Börse beispielsweise folgende 
Differenzen: 


Begebungskurs Einführungskurs Differenz 
3-proz. Reichsanleihe 


3 s O F 

„ preußische Konsols f 91°/s 92 2,629 
3!/,-proz. Hamburger Anleihe 99,33 99,90 0,67 
Hannoversche Prov.-Anleihe 95,78 96,50 0,72 

ji Schlesw.-Holsteinsche Prov.- 

Anleihe 95,78 96,50 0,72 
3'/,-proz. Frankfurt a. M.-Anleihe 93,98 99,10 0,17 
3 Cölner Anleihe 96,00 100,50 4,50 
o. 94,88 95,80 0,92 
4-proz. Elberfelder Anleihe 100,01 101,20 1,19 
» Barmer Anleihe 100,08 101,20 1,12 


» Düsseldorfer Anleihe 100,03 101,00 0,97 


Der preuß. Sparkassengesetzentwurf vom Standpunkte städtischer Finanzpolitik. 493 


"TEE 'S O'U 8 ‘qporwwry A RA (T 


— ®/,6g | ®/,06 |00‘06 |oo‘gg | rg [oz'gg |on‘o6 |os‘£6 |”/,96 [06°26 |o0‘%6 |os‘06 |"/,gg | — |00‘Zg 9887 uoa “aquıspuy 
—— 0 IM 
LG8T UOA uəuorefrqo zord-g 
— oz‘g6 |oz‘66 |00‘66 |or‘g6 |o0‘z6 |oo“t6 | */,L6 [066 09‘gorjos‘oor00ʻoor|sr‘g6 [oo‘S6 [oo‘£6 |0n‘S6 suo M 
— 0166 In2‘66 | "/,66 |06'96 \or'z6 |"/4£6 |o0ʻg6 | — |7 o01|00‘101 °/,L6 (00°26 [00‘£6 [00*t6 uapeqsaı M 
— 0086 |os‘g6 | — |56| — — — — |ř?jhooi| hior) — — — -= — won], 
006 ot‘g6 |06‘66 | ’/,86 | 7/96 | — — — |466 | — jez‘ror) — 100/96 | — | — [ooʻS6 8887 uoa ‘moque jy 
= SU = 7 — 86 | — FR —. 1 | HLT | = Zingapden 
086 09‘g6 | °/,66 foz‘g6 lon‘g6 ‚03‘06 |os‘E6 | */,g6 |on‘oor 08‘001)08‘101|09‘001/00'96 | */,56 [o6‘£6 | — uIomepsiostuy 
s3‘96 ’/,66 | */,66 \02‘66 [ooʻg6 | — Jos'z6 | — — 2/0071) — Jorisoı! — |/,26 | 156 006 ƏH 
0846 os‘g6 |00°66 |08‘g6 |os‘g6 |08‘16 |or‘£6 |00‘g6 |00‘001|0F‘001 0r°101|09‘001|06‘26 | %/,96 |00‘£6 |00‘96 uagaıy 
0986 or‘g6 |sT/66 |voz‘g6 |os‘g6 |os‘o6 |os‘z6 10266 jog‘ooı Tr‘ooılos‘ooı|) — — — — — anq 
00°L16—08'56 |0r‘66 |09‘66 loL66 los‘L6 | Yız6 loz‘S6 |or'g6 |osʻoorlos‘rorlos‘rorjoz'zorlos‘66 loz‘g6 |00‘96 |or‘Z6 WH X ynpjusıq 
— — |*hg6 \01'66 0996 | — — |06‘Z6 |os‘66 | “/,oo1| ”/,101,02‘001|00‘96 |00‘96 | — [org6 PPRT 
— ooʻoorjot‘oor| — |66 | — [os‘£6 |ot‘oo1/06ʻo01|06‘r01|0}‘£01| — — |— |— — uapsaıq 
00‘6 06'86 |sL‘66 10666 jos‘ZL6 |’/;E6 joo‘t#6 |"/,66 or/ooıı — |er‘zorjooʻzor| #86 | — | — | — E68T uoa ‘ugo 
or'£6 — —- - .- — 19,86 |*ı86 | — — [error — —  )00'96 |os‘S6 [oz‘S6 Zmquspopwyg 
Z6—t6 10966 |os‘oo1|0s‘001,0.'66 |00°L6 | °/,96 | "/,ror|c2‘101)09’10108°101|08‘101| ”/,g6 [0826 |os'g6 | — mpəg 
os‘S6 */g6 |o1'66 |00‘66 |0896 jor'g6 | — — — — [ooʻror|vs‘oorjog‘Z6 |0396 | — - Zıngqsday 
— 86 | "k86 \06‘86 |”/%96 | — |oz‘£6 |o:‘26 | — |oz‘oorjoo‘ror| %/,001|?/,56 |7486 |o0‘h6 [oo‘S6 vuy 
Ə} PYIS 19p 
uauoredıggo zoad-°/,g 
oriooı 00'g6 |us‘g6 |os‘zor)or‘zo1 00°101|00‘00108‘001| %,Eoı| %,Eoı) ®/,Eoı| ,Eorlos'zorlos‘zoı) — yoequayyO 
_ | — En u = - = — — — —  Jos'torisz'£orlor'for) — 3mqəpe n 
og‘ror |oz‘rorjos‘ror| — [ooʻzor) — — — — | ®,Eorjostor tor — | — uspegsdtapnT 
09‘101 — |ə9ʻ66 |or'zoı | 00‘zo1]oo‘oor) ®/,001,08‘001| */,101|00‘101| */,zor| */,ı01) ®/,;201 00‘z01 wiognepstostuy] 
— — — _ _ — — —  |96‘001)°6'101|09°z01 “g ‘t 2mqorg 
0s‘001 9096 -— | %/,zo1 Y,ror 8/,001 00‘101j00‘101| °/,101,00‘z01|03‘foı) — — — yprsureq 
gL‘zor—s8‘oor| */£01| *,zorjor‘£or|o0‘kor) "/,101)06‘001\0r‘oor| */r001| "/;zo1|o9‘£oı|08‘£o1|00‘z01 02'201 Iinquagopuyd 
056 08'66 | "/,66 | °/,66 | 86 |*lz6 joo‘b6 Jor‘g6 |os‘ooror‘oorlos'zoı 09'z01|oF‘101/0F'101 uepsaug 
yamıaauoy %/,'ıg u @4PHIG I0p 


aouorsärrgo 'z01d-F 


206 DE 001 | rooı Joooı | eest |eeer |2681 |9681 |sosı |mosr |8681 ager |1081 jo | 
"gongayufuosıpgg sFurwg ur voquiay yon Zu 


osıny-ueuoIyv3!lqoleunwwoy 


494 Friedrich Zahn, 


Es war also in den hier mitgeteilten Fällen der Geschäfts- 
gewinn der Emissionshäuser bei den Stadtanleihen durchweg ein 
größerer als bei den Staats- und Provinzialanleihen. Gleichwohl 
sind auch die Banken mit dem gegenwärtigen Zustand der Kom- 
munalobligationen nicht zufrieden. Ihr Gewinn hängt ja nicht bloß 
ab vom Unterschied zwischen Uebernahme- und Verkaufskurs, son- 
dern namentlich von der Schnelligkeit, mit der die übernommenen 
Anleihen zum Verkauf gebracht werden können. Das Tempo ist 
aber langsam. Oft monate- und jahrelang bleiben Banken auf über- 
nommenen Städteobligationen „sitzen“. Selbst der Absatz der An- 
leihen größerer Städte geht zeitweise schleppend vor sich. Nicht 
selten erwächst daher den Banken außer der Festlegung ihrer Kapi- 
talien ein Verlust, so daß sie sich in vielen Fällen nur wegen des 
mit der Emission von Stadtanleihen verbundenen Renommees zur 
Uebernahme bereit erklären. Auch beim gewöhnlichen Handel in 
Kommunalpapieren zeigen sich ähnlich unerfreuliche Erscheinungen. 
Die Emissionsbanken müssen häufig das zurückströmende Material 
in ihr Portefeuille zu einem von ihnen selbst diktierten Preise 
zurücknehmen. Denn die Kursnotizen an der Börse sind oft nur 
nominal und beziehen sich auf ganz geringfügige Umsätze, oft sind 
die Kurse überhaupt gestrichen. Daher sind öfters selbst kleine 
Summen von Obligationen nicht verkäuflich, da die betreffenden 
Städte das Material nicht aufkaufen können und Interessenten nicht 
zu finden sind. Zudem ist der Markt der meisten Städteanleihen 
nur lokal; selbst die Anleihen größerer Städte wandern immer wieder 
nach der Ausgabestadt zurück und haben nur hier bei lokalem An- 
gebot und lokaler Nachfrage ernsthafte Kundschaft 1). 

Dieser schlechte Stand der Kommunalobligationen findet die 
nähere Erklärung teils in den nämlichen Gründen, auf die der ver- 
hältnismäßige Tiefstand der Kurse der Konsols zurückzuführen ist, 
teils noch in besonderen Verhältnissen. 

In erster Beziehung spielt eine große Rolle der wirtschaftliche 
Aufschwung Deutschlands und die damit zusammenhängende Neigung 
des Publikums, seine Vermögensbestände industriellen Werten zuzu- 
wenden, die eine höhere Verzinsung als Reich, Staat und Kommunen 
gewähren. Dazu kommt die Konkurrenz der Hypothekenbanken mit 
ihrer Unmenge von Pfandbriefen und deren rapiden Zunahme. 
Ueberhaupt steht, im Gegensatz zu Frankreich, dem Streben nach 
Verwendung der Kapitalien in Deutschland eine sehr mannigfaltige 
Verwendungsmöglichkeit gegenüber (Pfandbriefe, Reichs-, Bundes- 
staatsanlehen, Kommunenobligationen, ausländische Staatsfonds, zahl- 
reiche Industriewerte). Dabei ist aber bei uns der Kapitalreichtum 
geringer als in Frankreich und England, wo sich der einzelne eher 
mit einer niedrigen Verzinsung begnügt und sichere Papiere mit ge- 
ringer Verzinsung durchweg lebhafterem Interesse begegnen ?). Ferner 

1) Kimmich, a. a. O. S. 53. 

2) A. Plate, Munizipalsozialismus und städtisches Anleihewesen in England. 
Schmollers Jahrbuch f. Gesetzgebung, Verwaltung u. Volkswirtschaft, 1906, S. 1197. 


Der preuß. Sparkassengesetzentwurf vom Standpunkte städtischer Finanzpolitik. 495 


werden die Staats- und Stadtanleihen beispielsweise von den eng- 
lischen Depositenbanken und Sparkassen für die Anlage ihrer Gelder 
stark in Anspruch genommen, überhaupt sind die Summen, die 
in mündelsicheren Papieren angelegt werden müssen, in England 
verhältnismäßig beträchtlicher. Ist daher von vornherein die Auf- 
nahmefähigkeit und Aufnahmewilligkeit des eigenen Landes für 
Reichs-, Staats- und Kommunalanleihen beschränkter als anderwärts, 
so kommt noch hinzu die Häufigkeit, mit welcher eine um die andere 
dieser Anleihen auf den Markt gebracht wird, ferner der Mangel an 
gegenseitiger Rücksichtnahme, indem Reich, Staat und Städte bei 
der Emission ihrer Fonds sich selbst gewisse Konkurrenz machen 
(vielfach zu gleicher oder ungeeigneter Zeit emittieren) — von an- 
deren Gründen, die in der Ausbildung der Bankkonzentration 1), in 


Er bringt zur Veranschaulichung des oben Gesagten folgende Kursvergleiche für 
13. Juni 1905: 


Engl. Konsols 90°/,— 90°), 
Local Loanes Stock 3 Proz. 99°; —100'/, 
Metropolitan Cons. Stock 3'4, „ 1051/,.— 106", 
” ” ” 3 n GY rez 98 
Birmingham Corp. Stock 3%, „ 104 —106 
» ” ” 3 ” 95 — 9 
” ” ” 2, » 80 — 82 
Liverpool Corp. Stock En 109 —III 
» n ” 2, n 78 — 80 
” ” ” » 9, 
Oxford Corp. Stock 3 ” 90 — 92 
Southampton Corp. Stock 3 ú 89 — 91 
West-Ham Corp. Stock le 90o — 92 
Deutsche Reichsanleihe 3i n 101,30 
” ” n 90,50 
Preuß. Konsols 3t» 101,30 
” ”„ 3 ”» 90,50 
Berlin 3'/, „ 100,70 bezw. 100,25 
Breslau Sfr 99,90 
Charlottenburg urn 100,90 
Dortmund Ei 99,00 
Potsdam S a 99,60 
Stettin Seress 99,00 
Düsseldorf 4 » 101,10 


1) Vergl. Begründung zum Gesetzentwurf betr. Erhöhung des Grundkapitals der 
Seehandlung, Drucksache des Hauses der preuß. Abgeordneten, 1904, No. 252, S. 10: 
„Auch die fortgesetzt starke Zentralisierung des Bankwesens und der Bankgeschäfte in 
den großen Privatbanken wirkt mittelbar nachteilig auf die Kursentwickelung ein, da 
sie die Börse als den hier selbsttätig wirkenden Regulator geschwächt hat. Jede dieser 
Großbanken ist eine Börse in sich; während früher die An- und Verkaufsaufträge des 
Publikums einer großen Zahl verschiedener Börseninteressenten zugingen und ihre direkte 
Erledigung an der Börse die Sicherheit gewährte, daß dort regelmäßig ein größerer Kreis 
von Käufern vertreten war, strömt jetzt ein großer Teil dieser Aufträge bei den Groß- 
banken zusammen und findet dort durch Kompensation seine Erledigung, während nur 
die Aufnahme oder Hergabe der nicht ausgeglichenen Beträge die Börse beschäftigt. 
Der Kreis der Interessenten an der Börse hat sich dadurch stark verringert; auch in 
völlig normalen Zeiten wirken jetzt oft schon sehr mäßige Beträge, die an den Markt 
kommen, kursdrückend, weil zufällig kein Käufer im Markt ist, und die willkürliche 
Einwirkung auf den Kurs der Staatsanleihen bedarf meist keiner großen Mittel, um ihres 
Erfolges gewiß zu sein“. — Ferner Herm. Schumacher, Die Ursachen und Wirkungen 
der Konzentration im deutschen Bankwesen. Schmollers Jahrbuch, 1906, S. 918 ft. 


u 


496 Friedrich Zahn, 


der neuen Börsen- und Stempelgesetzgebung'!) liegen u. s. w., ganz 
zu schweigen. 


Andererseits sind es, wie gesagt, noch besondere Verhältnisse, 
die den Kurs der Kommunalobligationen drücken. Es interessiert 
sich für diese überhaupt nur ein beschränkter Markt. Bei aller 
Sicherheit, die den Papieren eignet, kann man sie kaufen, aber in 
der Regel nur mit Verlust verkaufen. Schon durch eine kleine 
Nachfrage oder ein kleines Angebot werden nicht selten verhältnis 
mäßig beträchtliche Kurssteigerungen oder Rückgänge hervorge 
rufen 2). Auch steht der Beliebtheit der Papiere zu Daueranlagen 
die umfassende Auslosung im Wege; so sehr sie das Gute hat, daß 
das Publikum aus ihr sieht, wie die Städte auf allmähliche Tilgung 
ihrer Schulden bedacht sind und insofern das Vertrauen in die Soli- 
dität der Städtepapiere erhöht, so muß doch der Inhaber der Stadt- 
anleihen die Last fortlaufender Kontrolle bei Vermeidung von Zinsen- 
verlust auf sich nehmen und damit rechnen, daß sein Kapital ihm 
ratenweise zum Teil schon in kürzerer Frist heimgezahlt wird’). 
Um den Kurs ihrer Anleihen kümmern sich die Städte nach Be- 
gebung so gut wie gar nicht. Außerdem ist von Belang, daß, während 
die Städte bisher fast jedwede Fühlung auf dem Gebiete des Kom- 
munalkredits untereinander entbehren, ihre Geldvermittler, die Banken, 
sich vorzüglich organisiert haben und ziemlich solidarisch bei Ange- 
boten den Städten gegenübertreten. 

Diese Bankorganisation, diese Konsortialbildung, vollzog sich 
teils als Rückversicherung, teils als Korporation oder Unterordnung 
unter eine führende Bank (Preußenkonsortium unter Führung der 


1) Dies wird jetzt auch von der Reichsregierung zugegeben. Reichskanzler Fürst 
Bülow sagte in dieser Hinsicht im Reichstag am 25. Februar 1907 folgendes: „Im 
Interesse des Staatskredits und unseres ganzen Wirtschaftslebens werden, wie ich hoffe, 
Rechte und Linke dahin wirken, daß unser Kapitalmarkt gekräftigt wird, und daß 
unsere Börse in den Stand gesetzt wird, ihrer Aufgabe als wichtiges nationales Wirt- 
schaftsinstrument gegenüber den Börsen des Auslandes besser als bisher gerecht zu 
werden. Die Praxis hat zweifellos ergeben, daß durch einzelne Bestimmungen der 
gegenwärtigen Gesetzgebung die deutschen Börsen in ihrem Wettbewerb mit den aus 
ländischen Börsen in eine nachteilige Stellung gedrängt sind, die dem Gesamtinteress® 
des Landes nicht entspricht.“ 


2) Vergl. Beispiele im Berl. Jahrbuch für Handel und Industrie, 1906, Bd. 1, 
S. 167: 


Bielefelder 4-proz. Stadt-Anl. 9. Mai 101,30 Proz. 10. Mai 102,00 Proz. 
Berliner 4-proz. Stadtsyn.-Anl. Mrz 103,75 5 2. s 102.10 „ 
Spandauer 4-proz. Stadt-Anl. 3. Juli 100,75 „ 17. Juli 102,20 „ 
A 3'/-proz. Stadt-Anl. 9. Mai 98,735 u 22. Mai 97,00 u 
Elberfelder 3'/,-proz. Stadt-Anl. 11. ,, 9740  „ A 98,40 » 
Gießener 3'/,-proz. Stadt-Anl. 1. Aug. 98,00 „ 4. Aug. 96,25 „ 


3) Diese Unbeliebtheit von auszulosenden Wertpapieren zeigt sich auch im Kur 
der 3'/,-proz. Berg.-Märk.-Eisenb.-Prior.-Obligationen, die bekanntlich ausgelost, nicht 
zurückgekauft werden: sie stehen ständig niedriger als die anderen Staats- und Reichs- 
konsols. Beispielsweise war am 22. Febr. 1907 der Kurs der ersteren 96,50, der letz 
teren 97,40—97,60. 


Der preuß. Sparkassengesetzentwurf vom Standpunkte städtischer Finanzpolitik. 497 


Seehandlung). Angestrebt wird dabei, entweder größere Anleihe- 
werte überhaupt unterzubringen, da der Markt sehr überschwemmt 
ist mit Anleihewerten, oder den Uebernahmepreis für die Bank 
günstiger zu gestalten durch entsprechenden Druck auf die Städte, 
oder den Typus von 4 Proz. (statt 3!1/, Proz.) durchzusetzen, was 
allerdings gleichzeitig den Wünschen des gegenüber niedrig verzins- 
lichen Titres wenig kauflustigen Publikums entspricht, oder man 
sucht das Risiko zu verteilen, d. h. die Gefahr, unter Umständen 
jahrelang viele Millionen an schwer verkäuflichen Obligationen einer 
Kommune in deren Tresors zu haben. Daß diese Koalition der 
Banken ein großes Machtwort gegenüber den Städten spricht, hat 
erst jüngst die Stadt Cöln bei ihrer Submission einer 36-Millionen- 
anleihe am 12. Juni 1906 erfahren. Sie erhielt keinerlei Angebot 
für 3Y;-proz. Anleihe, dagegen von den Banken die Erklärung, daß 
die Lage des Geldmarktes die Uebernahme von 3'/,-proz. Stadt- 
anleihen nicht möglich macht. Frankfurt a. M. war gezwungen, um 
eine 3Y/,-proz. Anleihe von 15,5 Mill. M. begeben zu können, sich mit 
Pariser Banken in Verbindung zu setzen!). Bei diesem Vorgehen der 
Banken handelt es sich keineswegs um irgend eine Bankverschwörung 
auf dem Geldmarkt, aber diese mächtigen, einflußreichen Konsortien, 
mit ihrer zielbewußten, vielleicht auch richtig vorausschauenden 
Bankpolitik, haben für ihre Gegenkontrahenten den Nachteil, daß sie 
die Entwickelung beschleunigt und verschärft haben. 


Es fragt sich, wie diesem unerfreulichen Zustand ab- 
geholfen werden kann. Und nach Abhilfe muß schon um 
deswillen gesucht werden, weil der hohe Stand der Kommunalver- 
schuldungen und die Aussicht, daß bei den fortgesetzt wachsenden 
Aufgaben der Städte der Kredit weiterhin in hohem Maße in An- 
spruch genommen werden muß, eine Verminderung des Schulden- 
dienstes dringend notwendig erscheinen läßt. 

Bekanntlich sind Reich und Staat in dreifacher Richtung tätig, 
um den Kursverhältnissen ihrer Konsols aufzuhelfen. Sie suchen 
nach Erweiterung der Absatzgebiete, ferner nach einer besseren 
Pflege des Geldmarktes durch eine entsprechend gekräftigte Staats- 
bank, und erstreben eine größere Festlegung der Papiere oder Kon- 
sols in dauernden Anlagen (durch Schuldbuch). 

Um das Absatzgebiet für die Städteobligationen zu erweitern, 
wird man dem begegnen müssen, was bisher ihrer Beliebtheit im 
Wege stand: der zu großen Auslosung. Vielleicht können die Stadt- 
gemeinden, da es ihnen ja zumeist frei steht oder unbedenklich bei 
Erteilung neuer Anleiheprivilegien gestattet werden wird, statt all- 
jährlicher Auslosung fortlaufende Rücklagen machen für einen Fonds, 


1) Auch die eben verflossenen Monate Februar und März 1907 lieferten bei den 
in dieser Zeit erfolgten Begebungen von Stadtanleihen zu dem oben Gesagten eine Reihe 
typischer Beispiele. 

Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII), 32 


498 Friedrich Zahn, 


der die Rückzahlung der gesamten Anleihe bei Ablauf der vorge- 
schriebenen Tilgungsfrist ermöglicht. 

Gegenüber der Konkurrenz der Hypothekenbanken, welche eine 
höhere Provision bei Emission der Pfandbriefe bezahlen, bleibt 
nichts übrig als daß auch die Städte die Vermittelungsgebühr für 
ihre Emissionen höher ansetzen. Auch an regelmäßige entsprechende 
Vergütungen für Vermittler wird zu denken sein. Der Interessenten- 
kreis und damit die Zugänglichkeit des Marktes läßt sich möglicher- 
weise schon auf diese Weise etwas erweitern. 

Ferner wird vorgeschlagen (von Schott, Frankfurt a. M.), bei 
Abschluß einer Anleihe solle die geldaufnehmende Stadt einen kleinen 
Prozentsatz (!/ Proz. bis 1 Proz.) zurückstellen, um für die Auf- 
nahme der angebotenen Obligationen, um für die Aufnahme des an 
den Markt kommenden Materials Mittel zu sichern: also ein Sicher- 
stellungsfonds für die Städte auf die Dauer von 5 Jahren. Dazu 
kämen sonstige kleinere Mittel, die als Vergünstigungen den Be- 
sitzern der Kommunalobligationen in Aussicht gestellt werden: mög- 
lichst frühzeitige Einlösung der Coupons (14 Tage vor Verfall); 
Benachrichtigung der Besitzer von ausgelosten Papieren soweit dies 
möglich, um sie vor weiteren Verlusten zu bewahren, welche Mög- 
lichkeit bei Coupons mit Adresse auf der Rückseite besteht. Auch 
Entschädigung der Besitzer von ausgelosten Papieren, die den Zahl- 
termin übersehen haben, durch Bewilligung einer herabgesetzten 
Zinsvergütung bei Einlösung der ausgelosten Stücke innerhalb eines 
bekannt gegebenen Zeitraumes vom Zahlungstermin ab. Ferner Er- 
richtung zahlreicher Einlösungsstellen und deren Vermerk auf den 
Coupons, denn jede Verkehrserleichterung bewirkt eine Verkehrs- 
steigerung. Sodann Vergütung für die Einlösung der Coupons und 
verlosten Stücke und Ausnahmspreise bei größerer Abnahme von 
Stücken. 

Außerdem wird, soweit es nicht schon geschieht, bei Begebung 
von Anleihen das Mittel der Submission — beschränkte oder all- 
gemeine — mehr als bisher zu verwerten sein. Und zwar ist nicht 
der ganze aufgenommene Anleihebetrag in engere oder weitere 
Submission zu stellen, sondern nur die Summe, die man braucht, 
die anderen zu späterer Zeit, um selbst die jeweilige Konjunktur 
ausnützen zu können. Daneben ist wichtig die Wahl eines mög- 
lichst günstigen Zeitpunkts für die Begebung; zu dem Zweck ist 
es rätlich, bei Einführung der oberaufsichtlichen Genehmigung das 
Anleihebedürfnis gleich für mehrere Jahre festzustellen und sich 
statt für verschiedene Duodezanleihen lieber gleich für eine herz- 
hafte Anleihe die Zustimmung der vorgesetzten Behörde zu sichern, 
dies verursacht dann nicht bloß weniger Kosten für Druck der An- 
leihe etc., sondern gewährt noch freiere Hand dafür, die Anleihe zu den 
jeweils erforderlichen Beträgen im richtigen Moment zu begeben. So- 
dann können sich die Städte gegenseitig unterstützen bei Deckung ihres 
Anleihebedürfnisses, indem die einen die anderen bei ihren Anlagen 
berücksichtigen. Auch muß die Lombardierungsfähigkeit sowie die 


Der preuß. Sparkassengesetzentwurf vom Standpunkte städtischer Finanzpolitik. 499 


Möglichkeit der Einlösung der Coupons durch die Reichsbank ange- 
strebt werden. 

Das sind alles sogenannte kleine Mittel, die schon mehr oder 
weniger bei den Städten eingeführt sind, die aber für sich allein 
noch keine wesentliche Aenderung in den Kursen herbeiführen. 

Es muß noch eine wesentliche Verbesserung der Stellung der 
Städte auf dem Gebiete des Geld- und Bankwesens hinzutreten. 
Die einzelne Stadt ist zu schwach gegenüber den Mächten, die hier 
herrschen, gegenüber den Großbanken und den Bankgruppen, gegen- 
über der Staatsbank. Aber vereint sind auch die Schwachen mächtig. 
Der Städtekredit muß aus seiner Vereinzelung herausgebracht werden, 
er muß den anlagesuchenden Kapitalisten gegenüber mehr einheit- 
lich gestaltet werden. Dies ist nur möglich bei Koalition der Städte, 
bei Zentralisierung des Kommunalkredits. 

Versuche liegen bereits vor. Ich erinnere an die Provinzialhilfs- 
kassen, die an Stelle vieler kleiner Gemeindepapiere wenigstens 
innerhalb einer Provinz ein einheitliches setzen (Landesbank der 
Rheinprovinz)!). Einen anderen Versuch stellen die Hypotheken- 
banken vor, die mit dem Hypothekengeschäft den Kommunalkredit 
verbinden (Preußische Zentralboden-Aktiengesellschaft, Berlin, Rhei- 
nische Hypothekenbank, Mannheim, Aktiengesellschaft für Boden- 
und Kommunalkredit in Elsaß-Lothringen, Schlesische Aktiengesell- 
schaft). Sodann erinnere ich an die seit 1871 bestehende Kommunal- 
bank für das Königreich Sachsen ?). 

Es gilt meines Erachtens die bisherigen, gegenüber der großen 
Aufgabe freilich bescheidenen Versuche auszugestalten. Die Städte 
müssen sich zusammentun und gemeinsam ein Geldinstitut schaffen, 
das ihre Kreditinteressen wahrnimmt, oder ein solches Institut an 
vorhandene angliedern. 

Für eine Neugründung käme in Frage entweder eine Genossen- 
schaft, der die Hilfe der Preußischen Zentralgenossenschaft zur 
Seite stehen könnte, oder ein eigenes Unternehmen der Städte im 
Zusammenhang mit der Sparkassenkonzentration ë), oder eine Aktien- 
gesellschaft mit den Rechten der Öbligationenausgabe oder eine 
Zentralkommunalbank in Verbindung mit einer allgemeinen Grund-, 


j 1) Zeitweise in Deutschland der Invalidenfonds, der vielleicht jetzt mittels der bei 
ihm für Zwecke der Arbeiter-Witwen- und -Waisenversicherung angesammelten Gelder 
seine Tätigkeit zu Gunsten des deutschen Kommunalkredits wieder aufnehmen könnte; 
in Belgien der Credit Communal Belgique für die an dem dortigen Fonds communal 
beteiligten ehemaligen Oktroikommunen; in Frankreich die Caisse des dépôts et con- 
“ignations, deren elsaß-lothringische Abzweigung dort mit der gleichen Bestimmung weiter 
Wirkt; in Schweden die Schwedische allgemeine städtische Hypothekenkasse in Stockholm. 
; 2) Vergl. die sehr verdienstliche Darstellung von J. Jastrow, Der städtische An- 
leihemarkt und seine Organisation in Deutschland. Conrads Jahrbücher für Nat.-Oek., 
Bd. 20, $. 310. — Dr. Koch, Städtische Anleihen und Bankpolitik in Wuttkes „Die 
deutschen Städte“, Leipzig, 1904, Bd. 1, S. 690. 
3) Vergl. die Erörterungen über Grundzüge für ein Zentralgeldinstitut der kom- 
munalen preuß, Sparkassen. Volkswirtsch. Zeitschrift „Die Sparkasse“, 1899 No. 417, 
418, 421, 422; 1900 No. 447; 1901 No. 454, 460—462. i 


32* 


500 Friedrich Zahn, 


Renten- und Hypothekenanstalt, oder begründet von einer Großstadt, 
der allmählich andere oder alle Städte einer Provinz oder eines 
Bundesstaates sich anschlössen t). Beispielsweise wäre dies eine 
würdige Aufgabe, für die Stadt Berlin, die schon bisher auf dem An- 
leihemarkt eine mächtige Stellung einnimmt (Berlin braucht sich be- 
kanntlich auf den 4-proz. Typus noch nicht einzulassen, hat nur 
31,-proz. Anlehen, „braucht nicht zu antichambrieren“ — Miquel). 
Jedenfalls muß es ein Rieseninstitut sein, da nur dieses gegenüber den 
übrigen maßgebenden Geldmächten konkurrenzfähig auftreten kann. 
Fraglich ist, ob eine solche Städtebank angegliedert werden darf an die 
Staatsbank; die Verkoppelung der Finanzinteressen der Kommunen 
mit denen des Staats verträgt sich nicht mit dem Wesen der Selbst- 
verwaltung der Kommunalkörperschaften ?) und erscheint auch für den 
Kriegsfall bedenklich (daher auch keine Postsparkassen). Dieserhalb 
scheint mirs auch nicht richtig, vom Staat den Zusammenschluß der 
Städte für den Anleihekredit zu erwarten. 

Natürlich wäre mit einer Bank lediglich für die kleineren und 
Mittelstädte wenig bezweckt. Es kann nur etwas erreicht werden, 
wenn die Großstädte, Mittelstädte und Kleinstädte sich zusammentun. 
Die Großstädte geben dem Institut das Ansehen, die anderen bringen 
die Masse des Geschäfts. Beachtenswert ist der Vorschlag von Karl 
Öttermann (Düsseldorf), zunächst den Versuch mit einer Städtebank 
für die Rheinprovinz zu machen, deren Aufgabe es sein soll, sich der 
Städteanleihen und überhaupt des Kommunalkredits der Provinz 
anzunehmen. Er meint, die großen Städte der Rheinprovinz, Cöln, 
Düsseldorf, Crefeld, Aachen, Barmen, Elberfeld, Essen, sollten zu- 
sammen vielleicht mit den westfälischen Städten Dortmund, Bochum, 
Hagen, Bielefeld, Münster, Minden eine (senossenschaftsbank in 
Aussicht nehmen und zum Zwecke der Beteiligung daran gemeinsam 
den Antrag stellen, jeder Stadt eine entsprechende Anleihe von 
einigen Millionen zu bewilligen; eine Beteiligung weiterer Städte 
könnte vorgesehen werden, ebenso wie das Gesetz über die Zentral- 
genossenschaftskasse eine Beteiligung anderer Institute vorsieht. 

Sollten jedoch die geeigneten Städte in genügender Zahl 
sich zu einer Vereinigung für Ausgabe zentraler Kommunal- 
obligationen sich nicht zusammenfinden — trotz des jetzigen 
Deutschen Städtetages —, so ließe sich vielleicht nach Analogie der 
allgemeinen deutschen Creditanstalt in Leipzig ?), die auf eigene 
Faust die Kommunalbank des Königreichs Sachsen unter Zuhilfe- 


1) Das englische Parlament billigt die Praxis, daß größere Städte Anleihen im 
ausschließlichen Interesse kleinerer Gemeinden oder sonstiger Verwaltungskörper auf- 
nehmen. Insbesondere spielt das London County Couneil den Bankier für die Metro- 
politan Boroughs. Dieses Verfahren ist zweckmäßig, weil bekanntlich größere, leistungs- 
fähige Städte das Geld viel billiger bekommen. 

2) Riehard v. Kaufmann, Die Kommunalfinanzen, (Großbritannien, Frankreich, 
Preußen). Leipzig 1906, Bd. 2, S. 448. 


3) In Paris ist der Credit foncier in weitem Maße Darlehnsgeber der französischen 
Kommunen geworden. 


Der preuß. Sparkassengesetzentwurf vom Standpunkte städtischer Finanzpolitik. 501 


nahme von Personalunionen gründete, eines der großen Bankkon- 
sortien dazu gewinnen, die Städtebank ins Leben zu rufen; denn, 
wie vorhin erwähnt, hat ja auch die Bankwelt an der Schaffung 
eines einheitlichen Wertpapieres erhebliches Interesse, es braucht 
also das Unternehmen einer Städtebank keineswegs gegen die Bank 
zu erfolgen, sondern erfolgt zweckmäßig unter ausdrücklicher Mit- 
wirkung derselben. 

Die Finanzierung der Bank müßte derart sein, daß die Städte- 
bank die bei ihr beteiligten Städte von dem jeweiligen Geldmarkt 
einigermaßen unabhängig zu machen vermag; sie müßte in der Lage 
sein, selbst unter ungünstigen Zeitverhältnissen Anleihen abzu- 
schließen und Abschlagszahlungen auf die perfekt gewordenen An- 
leihegeschäfte auch dann zu leisten, wenn der Markt der Anleihe- 
scheine nicht sonderlich aufnahmefähig ist. 

Die Tätigkeit der Städtebank hätte sich zu erstrecken und zu be- 
schränken auf die Abschlüsse von Anlehensgeschäften mit den Ge- 
meinden und auf die verzinsliche Anlegung ihres Betriebskapitals 
in Lombard und sicheren Wertpapieren. Die Abschlüsse mit den 
Gemeinden wären durchaus der freien Vereinbarung zu überlassen, so 
daß ebenso Darlehen auf kürzere Zeit wie solche auf eine längere 
Reihe von Jahren mit Rückzahlung des gesamten Kapitals in un- 
getrennter Summe oder in Annuitäten abgeschlossen und der Zinsfuß 
den Verhältnissen des Kapitalmarktes zur Zeit des Abschlusses an- 
gepaßt werden kann. Auch hätte die Bank auf Wunsch bereits 
bestehende Anleihen käuflich zu übernehmen. 

In dem Maße als die Bank Anleihen mit Städten abschließt, muß 
sie berechtigt sein, unter ihrer Firma Anlehensscheine (Zentralkommu- 
nalobligationen) in Abschnitten auszugeben, die in gleichem Verhält- 
nis getilgt werden wie die Anlehen der Gemeinden. 

Den Inhabern der Anlehensscheine stünde ein Pfand an den 
Forderungen zu, welche die Bank gegen Gemeinden erwirbt, so daß 
sie direkt auf die nach Lage der Verhältnisse und der gesetzlichen 
Bestimmungen unzweifelhaft Sicherheit bietende Steuerkraft der 
letzteren angewiesen sind. 

Diese Zentralkommunalobligationen hätten an Stelle der bisherigen 
222 verschiedenen Städtepapiere zu treten und den nunmehr ver- 
einheitlichten Kommunalkredit zu repräsentieren. Diese Papiere 
würden ihren Umlaufbeträgen und ihrem Werte nach sich würdig 
an die Seite der Reichsanleihen und preußischen Konsols reihen. 

Mit welchen Summen die Städtebank arbeiten könnte, ergibt sich 
aus folgendem: Es beziffern sich die Anleiheschulden (nicht nur der 
Inhaberpapieranleihen) von 52 deutschen Städten mit über 50 000 
Einwohnern im Jahre 1902 auf 2 Milliarden, die Anleiheschulden 
des Reichs in demselben Jahre auf 2,7 Milliarden, von Preußen auf 
6,7 Milliarden. 

Die Städtebank würde also fast eine gleiche Schuldenmasse wie 


die Reichsschuld und ein Drittel der preußischen Staatsschuld re- 
Präsentieren. 


502 Friedrich Zahn, 


Auch die weitere Pflege dieses Papiers auf dem Geldmarkt 
wäre natürlich Sache der Städtebank. Diese hat die Zinsscheine 
und ausgelosten Wertpapiere einzulösen und bekommt einen Fonds, 
um vorübergehend an der Börse Angebote der von ihr ausgegebenen 
Stadtanleihen, die nicht gleich einen Käufer finden, aufzunehmen, 
um sie bei nächster Gelegenheit wieder abzustoßen. Die Auslosung 
kann auf ein Minimum reduziert werden und statt dessen ein ähn- 
liches Verfahren, wie bei den Reichs- und Staatsanleihen eintreten. 
Auslosungen und Rückkäufe von Zentralkommunalobligationen würden 
nämlich ganz unterbleiben, soweit ihr Betrag, was regelmäßig der 
Fall sein wird, durch Neuaufnahme von Anleihen überschritten wird. 
(Im Jahre 1898 betrug der Ueberschuß der Neubegebungen über 
die Tilgungssumme 74,8 Mill.) Während jetzt viele Millionen jähr- 
lich zu Tilgungszwecken nutzlos dem Verkehr entzogen werden unter 
Belästigung der Inhaber solcher Schuldverschreibungen, würde künftig 
zwar jede Stadt auch tilgen, aber durch Zahlung an die Städtebank, 
und diese würde, wie jetzt schon Reich und Staat, Obligationen nur 
zurückziehen, falls kein neuer oder kein gleich hoher Anleihebedarl 
vorhanden ist. 

Die begebenen Anleihewerte werden zweifellos nunmehr einen 
großen Markt erzielen, sie werden täglich an der Börse beachtet 
werden, es werden fortgesetzt Umsätze in ihnen stattfinden. Die Be- 
sitzer erhalten mehr als bisher die Gewißheit, Beträge von nicht über- 
mäßiger Höhe ohne Beeinflussung des Kurses anbringen zu können. 
Die Papiere erhalten einen ausgedehnten, willigen, leistungsfähigen, 
börsengängigen Markt innerhalb ganz Deutschland, eventuell auch 
an ausländischen Börsen. Je größer aber der Markt, um so leichter 
sind die betreffenden Anleihepapiere nutzbar zu machen, um s0 
höher steht ihre Bewertung, um so besser ihr Kurs überhaupt und 
in Beziehung zum Kurs der Staatspapiere, um so günstigere Be- 
dingungen können bei Neuemissionen für die einzelnen Geld 
suchenden Städte erzielt werden, um so weniger brauchen sie Mittel 
für den gesamten Schuldendienst zu verwenden, um so mehr können 
sie die Steuerzahler schonen. Namentlich wird sich der 3!/,-proz. 
Typus für die zentralen Kommunalobligationen wieder durchsetzen 
lassen (vergl. Berlin) mit allen seinen Vorzügen für die Tilgung. 
die ohne Auslosung, lediglich im Wege des Rückkaufs vollzogen 
werden kann. 

Die Mündelsicherheit solcher zentraler Kommunalobligationen 
kann auf Grund $ 1807 Absatz 4 des BGB. beschafft werden, wo 
nach der Bundesrat den Kreis der mündelsicheren Papiere er- 
weitern kann. 

Dann steht auch nichts im Wege, daß die Städtebank den größten 
Teil des Kredits der städtischen Sparkassen an sich zieht. 
Während die Sparkassen vorläufig vor Hereinnahme schwer wieder 
loszuschlagender Stadtobligationen kleinsten Umfangs geradezu ge 
warnt werden müssen, können sie, sobald ein marktgängiges Städte- 
papier geschaffen, unbedenklich diesem Papier ihre Bestände zu- 


Der preuß. Sparkassengesetzentwurf vom Standpunkte städtischer Finanzpolitik. 503 


wenden. Der jetzige Sparkassengesetzentwurf wird daher nach 
Schaffung eines einheitlichen Städtepapiers vorzüglich im Interesse 
der Städte (und in Konkurrenz mit Reich und Staat) ausgenutzt 
werden können. 

Andererseits würden der Städtebank auch alle freien Bestände 
der Städte und der Sparkassen zur vorübergehenden zinsbaren An- 
legung zufließen können, wie dies jetzt gegenüber den Landesbanken 
und der Preußischen Zentralgenossenschaftskasse geschieht. 


Auch kann die Städtebank manche Geschäfte ohne Beschreitung 
des allgemeinen Marktes abschließen; so läßt sich namentlich durch 
die Städtebank auch die gelegentliche Geldbeschaffung für die Städte 
(die städtischen Sparkassen) im Wechselverkehr unter Ver- 
meidung der Lombardierung und des hohen Lombardzinsfußes viel 
umfassender als bisher ermöglichen. Ein Wechsel, der die Unter- 
schrift der Städtebank als Ausstellerin und z. B. der Stadt Düssel- 
dorf als Bezogenen enthält, würde ein Primapapier sein und mit 
Privatdiskont gehandelt werden. 

Die Städtebank hätte ferner ein großes Netz von Filialen zur 
Verfügung in Form der Mitarbeit der Städte selbst, nicht allein für 
den Absatz, sondern auch für die Couponseinlösung. 

Eine solche Organisierung des Kommunalkredits im Wege der 
Zentralisierung wird sich immer mehr als notwendig erweisen, da 
der Anleihebedarf mit den fortwährend wachsenden Aufgaben der 
Kommunen weiter rasch zunehmen wird, und zugleich seitens des 
Staates man daran denkt (aus den oben erwähnten Gründen) nicht 
bloß Sparkassen, sondern auch andere Geldquellen, die sich bisher 
den Städten zugänglich erwiesen, in höherem Maße für sich in An- 
spruch zu nehmen; man spricht von Wiederaufnahme des Projekts 
der Postsparkassen, von Beschränkungen der Landesbanken und 
Provinzialhilfskassen, von Beschränkungen der Lebens-, der Landes- 
versicherungsanstalten und Berufsgenossenschaften, die man ver- 
pflichten möchte, ihr Vermögen zu einem gewissen Teil in Reichs- 
und Staatspapieren anzulegen. Und auch die preußische Seehand- 
lung, welche bekanntlich auch die Pflege des kommunalen Kredits, 
des Anleihewesens der Provinzen, Kreise, Städte in den Bereich 
ihrer Tätigkeit gezogen hat, wird auf die Dauer selbst beim besten 
Willen nicht in der Lage sein, die immer steigenden Kreditbedürf- 
nisse der Kommunen zu befriedigen, da ihrer zu umfassende Auf- 
gaben seitens des Staats- und Reichskredits harren. Andererseits 
wird sie hinreichend noch als Darlehnsvermittlerin für die an der 
Städtebank nicht beteiligten Kommunen, Kreise und Provinzen und 
auch als subsidiäre Darlehnsvermittlerin für die Kommunen der 
Städtebank zu tun haben. 

Wenn eine solche Städtebank mit einem Städtepapier vorhanden 
ist, das einen breiten, sicheren, aufnahmewilligen Boden hat und in 
großen Summen auf dem Markt ist und in seinen Werten und Um- 
laufbeträgen an die Seite der Reichsanleihen und preußischen Konsols 


504 Friedrich Zahn, 


treten kann, dann ist auch die Zeit gegeben, die Einrichtung eines 
Städteschuldbuches ernster in Erwägung zu ziehen. 

Das Stadtschuldbuch, wie es bisher in Frankfurt a. M.!), Cöln, 
Kassel durchgeführt ist, ist praktisch eine bankmäßige Aufbewahrung 
und Verwaltung von Schuldverschreibungen der betreffenden Stadt, 
es ist eine Art amtlicher Hinterlegungsstelle für städtische Schuld- 
verschreibungen, ähnlich der amtlichen Hinterlegungsstelle der 
Rheinischen Landesbank. Die Stadt besorgt die gesamte Verwal- 
tung der hinterlegten Schuldverschreibungen, insbesondere auch die 
Uebermittelung der Zinsen und die Kontrolle der Verlosung. 

Die Eintragung der Schuldverschreibung ins Stadtschuldbuch 
hat praktisch die gleiche Wirkung wie eine Umschreibung des Wert- 
papiers auf Namen. Dazu kommt der Vorteil für den Gläubiger, 
daß, wenn er seinen Besitz an Schuldverschreibungen ins Schuld- 
buch eintragen läßt, ihm Mühe und Risiko, das aus der eigenen 
Verwahrung und Kontrolle der Papiere entsteht, abgenommen ist. 
Das Verlieren an Anleihescheinen und Coupons, die Schäden an 
ihnen durch Diebstahl oder Verbrennen sind ausgeschlossen. Die 
Schuldverschreibungen gewinnen also noch an Sicherheit und eignen 
sich noch besser zur Anlegung von Mündelvermögen, weil die Stadt 
als Schuldnerin der verbrieften Forderungen die Verwahrung über- 
nimmt und infolgedessen auch für das Abhandenkommen der Papiere 
— außer bei Zufällen und höherer Gewalt — haftet. Die Kontrolle 
der Verlosung wird seitens der Stadt besorgt und Ersatzstücke 
werden rechtzeitig beschafft. Auch darin mag für manchen ein Vor- 
teil des Schuldbuchs liegen, daß die Forderung an die Stadt nicht 
bei den ersten besten, wenn auch noch so wenig dringenden An- 
lässen, versilbert werden kann. Außerdem kann eine Aufrechnung 
der Zinsen mit Steuer- und sonstigen (Gas-, Wasser-)Rechnungen 
des Besitzers mit dessen Einverständnis erfolgen. 

Vom Standpunkt der Stadt bedeutet das Schuldbuch ein Mittel 
für bessere Klassierung ihrer Anleihe. Der Besitz an Städtepapieren 
wird seßhafter gemacht. Wenn ein größerer Teil der Schuldver- 
schreibungen als bisher in festen Händen zu dauernder Anlage ge- 
bracht wird, so wird das Angebot im freien Verkehr verringert, die 
Nachfrage nach freien Schuldverschreibungen am offenen Markt be- 
lebt, und auf deren Kurs ein befestigender, steigender Einfluß aus- 
geübt. Allerdings, der freihändige Verkauf an Tilgungsraten (für 
3t/-proz. Anleihe) wird erschwert. Und so lange Auslosungen statt- 
finden müssen, besteht auch eine große Bewegung in den einge- 
tragenen Schuldbuchmassen. Abgesehen davon erwächst für die 
Stadt eine große Verwaltungsarbeit, nicht bloß durch Eintragungen 
und Löschungen (wie beim Staatsschuldbuch), sondern außerdem 
durch Verwahrung der eingelieferten Stücke, die sie nicht vernichten 
kann wie Staat und Reich in Verbindung mit dem Reichs- und 
Staatsschuldbuch. 


1) Vergl. auch Georg Benkard, Das Stadtschuldbuch der Stadt Frankfurt a/M. 
Berlin 1906. 


Der preuß. Sparkassengesetzentwurf vom Standpunkte städtischer Finanzpolitik. 505 


Die Erfolge, die bisher bei den Städten mit Stadtschuldbuch !) 
erzielt worden sind, sind denn auch nicht so erheblich, daß die Ein- 
richtung ohne weiteres für die anderen Städte zur Nachahmung sich 
empfiehlt. Der Kursstand der Papiere von Städten mit Schuldbuch 
steht nicht besser als der Kursstand der anderen Städtepapiere, die 
Kursschwankungen sind bei jenen nicht geringer als bei diesen. 
Bei neuen Emissionen haben die Städte mit Schuldbuch keine höheren 
Uebernahmekurse als die anderen Städte erzielt. 

Sobald aber für die Städte ein einheitliches Papier mit großen 
Beträgen, umfassendem Markt, großen Umlaufsbeträgen und ent- 
sprechender Beliebtheit beim Publikum erreicht ist, lassen sich die Vor- 
teile, die tatsächlich mit dem Schuldbuch verbunden sind, ganz anders 
ausnutzen und in ähnlicher Weise in den Dienst der Städte stellen, 
wie das Reich und Preußen ausweislich nachstehender Tabelle es be- 
reits durch das Reichs- und Staatsschuldbuch für sich getan haben. 


a) Reichsschuldbuch?). 


Davon waren in das 


Gesamtbetrag 
: der begebenen Reichsschuldbuch 
Am 31. März] Reichsanleihen eingetragen 
M. M. Proz. 
1893 1 740 842 500 84 067 400 4,83 
1894 1915714500 | 124 590 600 | 6,50 
1895 2081 219800 | 186 137 200 8,94 
1896 2 125 255 100 | 227 865 600 10,72 
1897 2 141 242 300 | 246 579 500 11,52 
1898 2 182 246 800 | 281 449 600 12,90 
1899 2 222950 700 | 287 031 500 | 12,91 
1900 2 298 500000 | 304 508 000 | 13,25 
1901 2315650000 | 309 839 500 13,38 
1902 2 733 500000 | 335 817 200 12,29 
1903 2733 500000 | 347 694 700 12,72 
1904 3 023 500000 | 379 371 000 12,55 
1905 3 383 500 000 | 567 833 200 16,78 
Ende August 
1906 3 643 500 000 | 605 144 000 16,61 


1) Betriebsziffern der Schuldbuchverwaltung in Frankfurt a./M.: 


Stü 
Gesamtanleihe- Stückzahl der 


schulden M. Kontenzahl Betrag DER 
Ende März 1903 88 10 592 900 7507 
1904 131 000 000 160 13 516 800 9429 
1905 136 000 000 270 16 825 800 11 271 
September 1906 478 22 300 000 


Ende 1905 bestanden 203 Konten für physische Personen mit 9468600 M., 67 Konten 
für nicht-physische Personen mit 7357200 M. Die Zinsenzustellung erfolgte 1904/5 
für 24 durch Postanweisung, 108 an der Kasse, 80 durch Vermittlung von Bankhäusern, 
55 durch Gutschrift auf Sparkassenkonten, 3 durch Ansammlung zum Ankauf neuer 
Schuldrerschreibungen. 

Gebühren sind eingegangen bis Ende März 1904 7026,25 M. 

J ú 7 Sr: „ 1905 8877,25 „ 

p also von 1904—1905 1851 M. 


2) Nach Mitteilungen in der Begründung zum Gesetzentwurf betr. das Reichsschuld- 
buch von 1904, 3 


Friedrich Zahn, 


b) Preußisches Staatsschuldbuch!)). 


Zahl der | Höhe des Kapitals im 
Preußische Konten im Staatsschuldbuch 
Jahr Staatsschuld in | Staats- in Proz 
Millionen M. schuld- absolut T Suie 
buch M 2 
M | schuld 
31. März 

1889 4457.1 6 781 387 804 400 8,70 
1890 5230,9 7871 451 137 600 8,62 
1891 5834,7 9 632 543 013 100 9,31 
1892 6061,7 12 039 687 645 700| 11,34 
1893 6243,7 14 295 848 777050, 13,59 
1894 6371,5 15 897 949412450 14,90 
1895 6353,8 16998 | 994816600 15,86 
1896 65 13,9 18 037 1058733 800| 16,25 
1897 6498,1 19 467 1 158 586 500| 17,83 
1898 6485,2 21 569 1 288 193 100| 19,86 
1899 6505,6 22 732 I 292 244 450| 19,86 
1900 6591,6 26 102 1 385 316 900| 21,02 
1901 6602,8 28 909 1 466 168 250| 22,21 
1902 6720,8 30 337 1577323650 23,47 
1903 7026,7 31383 1629 887 550| 23,20 
1904 7035,0 32477 1709584 050° 24,30 
1905 33 957 1 781 172 750 


Jahr 


31. März 
1891 
1894 
1897 
1899 
1902 
1905 


we | In Buch- 
Kapitalien Größere San Kontam 
bis zu Kap physische | Wert juristische Wert 
50 000 M.| anlagen Personen | | Personen 
Proz. | Proz. | | M. M. 
84,0 16,0 6203 |275 899050 1537 |158 207 850 
84,3 15,7 10594 |457 590 400| 2599 |312 969 000 
84,5 15,5 12988 1535 732 500| 3093 |407 789 300 
84,7 15,3 15 132 [596614 450| 3613 |473 699 150 
86,2 13,8 18372 |717 527 000 5515 1584 669 850 
85,8 14,2 20493 |787 126 500| 6230 |682 490 250|102 734 000| 


Dann lohnt sich es auch, Beamte und Räume für ein solches 
einheitliches Städteschuldbuch bei der Städtebank zu schaffen und 
es wird die ganze Verwaltungsarbeit in einem viel geringeren Ver- 
hältnis stehen zu dem erzielten Nutzen, als dies einstweilen bei 
Städten wie Cöln und Frankfurt der Fall ist. 


Soviel vom Standpunkt der kommunalen Finanzpolitik über den 
Sparkassengesetzentwurf und die hierin zum Ausdruck gelangte staat- 
liche Finanzpolitik. Es ist ein großes Stadtproblem, das sich bei 
dieser Betrachtung uns aufgetan hat, ein Problem, das schon ver- 
schiedentlich erörtert wurde [Siegfried, Salings Börsenpapiere 1902, 


1) Nach Mitteilungen in den preußischen Regierungsamtsblättern. 


Der preuß. Sparkassengesetzentwurf vom Standpunkte städtischer Finanzpolitik. 507 


S. 270, 401; Kähler 1897; Deutscher Sparkassenverband, General- 
versammlungen vom 22. Oktober 1892, 20. November 1897; Rechts- 
anwalt Hans Hoffmann, der bereits einen Statutenentwurf für eine 
Städtebank 1897/98 dem preußischen Finanzministerium einreichte; 
Jastrow, Nürnberger Verhandlungen, Conrads Jahrbücher; Koch], ein 
Problem, das auch ich hier nur in großen Zügen und unfertig vor- 
führen konnte. Aber die Frage wird immer akuter. Ihre ernstliche In- 
angriffnahme läßt sich nicht lange mehr verschieben. Die Vorbeding- 
ungen sind dazu jetzt, abgesehen von den drängenden Verhältnissen, 
auch insofern günstiger als zuvor, als wir im Deutschen Städtetag 
einen Verband deutscher Städte und Städteverbände haben mit dem 
ausgesprochenen Zweck, die Wohlfahrt der ihm angehörenden Ge- 
meinwesen zu pflegen, die gemeinschaftlichen Interessen der Städte 
zu wahren, die Kenntnis und Ausbildung der Verwaltungseinricht- 
ungen unter einander zu fördern. Er sollte sich dieses Stadt- 
problems baldigst annehmen. Es handelt sich da um eminent wichtige 
gemeinsame Interessen, um gemeinsame Finanzinteressen, und die 
ie sind doch allerwärts das Rückgrat der Städte und der Stadt- 
politik. 

Die deutschen Städte genießen im Ausland (vergl. Sidney Low, 
Standard, 13. Januar 1906) den Ruf, „daß sie mit Klugheit, Urteils- 
gabe, praktischer Energie und wissenschaftlichen Kenntnissen ver- 
waltet würden, daß Unternehmungsgeist, Auffassungsvermögen, 
Kühnheit der Konzeption oder fester Entschluß, alles gut und 
gründlich zu machen, den fortgeschrittenen Stand unserer Großstädte 
bewirkt haben. Sie befinden sich hauptsächlich in Händen der 
fähigeren Elemente der kaufmännischen Mittelklasse. Kaufleute und 
Geschäftsleute, die es zu etwas gebracht haben, nehmen ein tätiges 
Interesse an der Arbeit in den meisten der größeren und vielen der 
kleineren Städte. Ueberall werden sie unterstützt von den besten 
beruflichen Hilfskräften.*“ Zeigen wir, daß dieser kaufmännische 
Geist auch zur Lösung des großen Finanzproblems stark genug ver- 
treten ist in unseren deutschen Städten ! 


508 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 


IV. 
Die wirtschaftliche Gesetzgebung der deutschen Bundes- 


staaten im Jahre 1906. 
Von Albert Hesse, Halle a. S. 


Preußen. 


Gesetzsammlung für die Königlich Preußischen 
Staaten. 1906. 


Gesetz, betr. die Zulassung einer Verschuldungsgrenze für land- 
oder forstwirtschaftlich genutzte Grundstücke. Vom 20. August 1906, 
S. 389. 


8 1. Ein land- oder forstwirtschaftlich genutztes Grundstück, das von der 
nach $ 15 zuständigen Kreditanstalt beliehen werden darf, kann über die nach der 
Verfassung der Anstalt zulässige Beleihungsgrenze hinaus weder mit Hypotheken, 
Grundschulden und Rentenschulden, noch mit beständigen oder für eine 
stimmte Zeit zu entrichtenden festen Geldrenten belastet werden, wenn diese Be- 
schränkung (Verschuldungsgrenze) im Grundbuch eingetragen ist. 

§ 2. Die Eintragung der Verschuldungsgrenze erfolgt auf Antrag des Eigen- 
tümers. Der Antrag bedarf der im $ 29 Satz 1 der Grundbuchördaung bestimmten 
Form. Abs. 2. Zum Nachweise der im $ 1 bezeichneten Erfordernisse hat der 
Eigentümer auf Verlangen des Grundbuchamts eine von der zuständigen Kredit- 
anstalt zu erteilende Bescheinigung beizubringen. Abs. 3. Beantragt der Eigen- 
tümer die Eintragung einer gemeinsamen Verschuldungsgrenze für mehrere Grund- 
stücke, so gilt dies zugleich als Antrag auf Vereinigung dieser Grundstücke im 
Sinne des $ 890 Abs. 1 des BGB. 

$ 3. Die Verschuldungsgrenze gilt auch für die Eintragung von Sicherungs- 
hypotheken im Wege der Zwangsvollstreckung wegen Geldforderungen. Abs. 2. 
Ohne Rücksicht auf die Verschuldungsgrenze können jedoch solche Sicherungs- 
hypotheken dann eingetragen werden: 1) wenn die Forderung schon vor der Ein- 
tragung der Verschuldungsgrenze gegen den Eigentümer, Auf dessen Antrag diese 
Eintragung erfolgt ist, bestanden hat und die Eintragung der Sicherungshypothek 
binnen 3 Jahren nach der Eintragung der Verschuldungsgrenze oder, falls die 
Forderung erst später fällig geworden ist, binnen 3 Jahren nach dem Eintritt der 
Fälligkeit beantragt wird. Für die Eintragung genügt es, wenn ihre Voraus- 
setzungen aus dem Schuldtitel ersichtlich oder in einer Öffentlichen oder öffentlich 
beglaubigten Urkunde von dem Eigentümer anerkannt oder ihm gegenüber durch 
Urteil festgestellt sind. Abs. 2. Einer Forderung der vorbezeichneten Art steht 
eine Forderung gegen einen Rechtsvorgänger des Eigentümers, der die Eintragung 
der Verschuldungsgrenze beantragt hat, gleich, wenn der Eigentümer nach den 
Vorschriften über die Anfechtung von Rechtshandlungen des Schuldners außerhalb 
des Konkursverfahrens verpflichtet ist, die Zwangsvollstreckung in das Grundstück 
wegen der Forderung zu dulden: 2) wenn die Zwangsversteigerung wegen der Forde- 
rung nicht zulässig ist. 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 509 


$ 4. Die Verschuldungsgrenze gilt nicht für Belastungen, die das für eine 
Beleihung des Grundstücks mit Mündelgeld maßgebende Vielfache des staatlich 
ermittelten Grundsteuerreinertrags nicht übersteigen. 

$ 5. Eine Belastung, für welche die Verschuldungsgrenze gilt, darf nur ein- 
getragen werden, wenn sie und die ihr etwa vorgehenden Belastungen einen Be- 
trag nicht übersteigen, bis zu dem das Grundstück von der Kreditanstalt nach 
deren Verfassung beliehen werden darf. Abs. 2. Der Betrag ist durch eine auf 
Antrag des Eigentümers zu erteilende Bescheinigung der Kreditanstalt nachzuweisen. 
Soweit bei seiner Feststellung vorgehende Belastungen bereits berücksichtigt sind, 
ist dies in der Bescheinigung ersichtlich zu machen. Eines Nachweises der weiteren 
im $ 1 bezeichneten Erfordernisse bedarf es nicht. Abs. 3. Bei der Eintragung 
ist im Grundbuche anzugeben, daß die Belastung innerhalb des für die Verschul- 
dungsgrenze maßgebenden Betrags liegt. Abs. 4. Wird die Eintragung einer 
Sicherungshypothek im Wege der Zwangsvollstreckung wegen einer Geldforderun 
beantragt, so hat das Grundbuchamt die Kreditanstalt um Erteilung der n 
Abs. 1, 2 erforderlichen Bescheinigung zu ersuchen. Die Vorschriften des $ 18 
Abs. 2 der Grundbuchordnung finden Anwendung. Abs. 5. Für die Kosten der 
von dem Grundbuchamt erforderten Bescheinigung haftet der Kreditanstalt nur 
der Eigentümer. Die Anstalt kann wegen der Kosten die Zwangsvollstreckung in 
das bewegliche Vermögen des Schuldners nach den Vorschriften der Verordnung, 
betreffend das Verwaltungszwangsverfahren wegen Beitreibung von Geldbeträgen, 
vom 15. November 1899 (Gesetz-Samml. S. 545) betreiben. 

§ 6. In den Fällen der $$ 4, 5 kommt bei der Feststellung der Zulässigkeit der 
Belastung eine Hypothek mit dem Kapital- oder Höchstbetrag, eine Grundschuld 
mit dem Kapitalbetrag, eine Rentenschuld mit dem Betrage der Ablösungssumme, 
eine beständige oder für eine bestimmte Zeit zu entrichtende feste Geldrente mit 
dem 25-fachen Jahresbetrag und, wenn der Gesamtbetrag der Rentenleistungen 
geringer ist, mit diesem Betrage zur Anrechnung Abs. 2. Bedingte Rechte sind 
wie unbedingte, Widersprüche oder Vormerkungen sind wie die durch sie zu 
sichernden Rechte zu behandeln. Abs. 3. Ein Recht, mit dem noch ein anderes 
Giundstüek belastet ist oder belastet werden soll, ist zu seinem vollen Betrage an- 
zurechnen; sofern es jedoch nur an einem Teile des Grundstücks, bei dem die 
Verschuldungsgrenze eingetragen ist, besteht und sein voller Betrag den von der 
Kreditanstalt bescheinigten Beleihungswert des Teiles übersteigt, nur zum Betrage 
dieses Beleihungswertes. Abs. 4. Vorgehende Rechte anderer als der im Abs. 1 
bezeichneten Art bleiben außer Betracht. Das Gleiche gilt im Falle des $ 5 von 
den bereits bei der Feststellung des bescheinigten Betrages berücksichtigten Rechten. 

$ 7. Bestehende Rechte an dem Grundstücke werden von der Eintragung 
der Verschuldungsgrenze nicht berührt. 

$8. Auf die Zwangsversteigerung des Grundstücks finden nach der Ein- 
tragung der Verschuldungsgrenze die allgemeinen Vorschriften mit folgenden Maß- 
geben Anwendung: 1) Die Verschuldungsgrenze bleibt, soweit sich nicht aus den 

orschriften der No. 2 ein anderes ergibt, von der Zwangsversteigerung unberührt. 
Abs, 2. Die Eintragung von Sicherungshypotheken für die Forderung gegen den 
Ersteher erfolgt ohne Rücksicht auf die Verschuldungsgrenze. Soweit die Siche- 
rungshypotheken diese aber überschreiten und nicht zu Gunsten der im $ 10 No. 1 
bis 4 des Reichsgesetzes über die Zwangsversteigerung und die Zwangsverwaltung 
bezeichneten Ansprüche eingetragen sind, können sie nicht nach Maßgabe der Vor- 
schriften der $$ 1180, 1186, 1198 des BGB. ihrem Inhalte nach geändert werden 
und erlöschen, wenn sie sich mit dem Eigentum in einer Person vereinigen. 2) Ist 
das Grundstück mit einem vor der Eintragung der Verschuldungsgrenze einge- 
tragenen Rechte belastet, so ist es mit der Versteigerungsbedingung des Fort- 
bestehens der Verschuldungsgrenze und ohne diese Bedingung auszubieten. Der Zu- 
schlag wird auf Grund des mit der Bedingung erfolgten Ausgebots erteilt, wenn 
das cht dadurch nicht beeinträchtigt wird. Abs. 3. Das Gleiche gilt, wenn nach 
er Eintragung der Verschuldungsgrenze eine Sicherungshypothek wegen einer 
Forderung der im § 3 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 bezeichneten Art im Wege der Zwangs- 
vollstreckung eingetragen ist oder wenn der Gläubiger die Zwangsversteigerung wegen 
einer solchen Forderung binnen der dort bezeichneten Frist beantragt und diese 
Voraussetzungen spätestens im Versteigerungstermine vor der Aufforderung zur 


510 Nationalökonomische Gesetzgebung 


Abgabe von Geboten nachweist; die Vorschrift des § 3 Abs. 2 No. 1 Satz 2 findet 
entsprechende Anwendung. 3) Die Kreditanstalt hat dem Gericht auf Ersuchen 
eine Bescheinigung über den die Verschuldungsgrenze bestimmenden Höchstbetrag 
zu erteilen. 

$ 9. Eine Ueberschreitung der Verschuldungsgrenze ist nur mit Genehmigung 
des nach $ 15 zuständigen staatlich bestellten Kommissars zulässig. Sie darf, außer 
bei Belastungen auf Grund des Gesetzes, betreffend die Errichtung von Landes- 
kulturrentenbanken vom 13. Mai 1579 (Gesetz-Samml. S. 367) ein Viertel des die 
Verschuldungsgrenze bestimmenden Höchstbetrages nicht übersteigen. Vor der Ent- 
scheidung über die Genehmigung ist die Kreditanstalt zu hören. Abs. 2. Die 
Genehmigung darf nur auf Antrag des Eigentümers für den Einzelfall aus be 
sonderen Gründen, namentlich für die Eintragung der Erbabfindungen von Pflicht- 
teilsberechtigten, erteilt werden. In der Eintragung ist anzugeben, daß die Ge- 
nehmigung erteilt ist. Abs.2. Erlischt die genehmigte Belastung mit dem Eintritt 
eines bestimmten Zeitpunktes oder Ereignisses, so kann nach dem Eintritte des 
Zeitpunkts oder Ereignisses der Kommissar das Grundbuchamt um die Löschung 
der Belastung ersuchen. Die Löschung erfolgt auf Kosten des Eigentümers. 

$ 10. Solange die Verschuldungsgrenze eingetragen ist, kann die grundbuch- 
rechtliche Teilung des Grundstücks nur im Falle der Abveräußerung erfolgen. 

$ 11. Die Verschuldungsgrenze wird durch Löschung im Grundbuch auf- 
gehóhen. Die Löschung erfolgt auf Antrag des Eigentümers. Der Antrag bedarf 
er im § 29 Satz 1 der Grundbuchordnung bestimmten Form. Abs. 2. Zur 
Löschung ist die Genehmigung des nach § 15 zuständigen Kommissars erforderlich. 
Vor der Entscheidung über die Genehmigung ist die Kreditanstalt zu hören. Abs. 3. 
Die Genehmigung ist insbesondere zu erteilen, wenn die im § 1 bezeichneten Er- 
fordernisse bei dem Grundstücke nicht mehr vorliegen. 

$ 12. In den Fällen der $$ 9, 11 steht dem Eigentümer gegen die Ent- 
scheidung des Kommissars binnen einer mit Zustellung der Entscheidung beginnen- 
den Frist von 2 Wochen die bei dem Kommissar einzulegende Beschwerde an den 
zuständigen Minister zu. Abs. 2. Dasselbe gilt für die Kreditanstalt, soweit die 
Entscheidung des Kommissars von ihrer bei der Anhörung geäußerten Ansicht ab- 
weicht. Abs. 3. Eine Eintragung im Grundbuch darf nur erfolgen auf Grund 
einer Bescheinigung des Kommissars, daß die Genehmigung unanfechtbar ge- 
worden ist. 

$ 13. Die Eintragung der Verschuldungsgrenze sowie die gerichtliche Be- 
urkundung oder Beglaubigung des dazu erforderlichen Antrags erfolgt gebührenfrei. 
rs 2. Die im $ 2 Abs. 2 bezeichnete Bescheinigung ist von der Stempelsteuer 

freit. 

$ 14. Die zum Richteramte befähigten Beamten der Kreditanstalt sind für 
die Beurkundung oder Beglaubigung der Anträge auf Eintragung oder Löschung 
der Verschuldungsgrenze innerhalb der Grenzen ihrer Amtsbefugnisse zuständig. 

§ 15. Der Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes in den einzelnen 
Landesteilen sowie die für die Ausführung zuständigen öffentlichen Kreditanstalten 
und die in den Fällen der $$ 9, 11 zuständigen Kommissare werden durch König- 
liche Verordnung bestimmt. 
N $ 16. Die Vorschriften zur Ausführung dieses Gesetzes erläßt der zuständige 
Tinister. 


Verordnung wegen Einführung des Gesetzes, betr. das Anerben- 
recht bei Renten- und Ansiedelungsgütern, vom 8. Juni 1896, im Kreise 
Herzogtum Lauenburg. Vom 10. Oktober 1906, S. 411. 

Gesetz, betr. die Abänderung des Siebenten Titels im Allgemeinen 
Berggesetze vom 24. Juni 1865. Vom 19. Juni 1906, S. 199. 

Verordnung, betr. die Errichtung von Kanalbaudirektionen für die 
Herstellung des Schiffahrtkanals vom Rhein zur Weser mit Nebenan- 
lagen und eines Hauptbauamts für die Herstellung des Großschiffahrt- 
weges Berlin— Stettin. Vom 2. April 1906, S. 113. 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 511 


Staatsvertrag zwischen Preußen und Bremen über die Beteiligung 
Bremens an den Kosten eines Rhein-Weserkanals. Vom 29. März 1906, 
S. 227. 

Staatsvertrag zwischen Preußen und Bremen über die Ausführung 
einer Wehr- und Schleusenanlage bei Hemelingen. Vom 29. März 1906, 
S. 230. 

Staatsvertrag zwischen Preußen und Bremen über die weitere Ver- 
tiefung der Unterweser zwischen Bremen und Geestemünde. Vom 
29. März 1906, S. 236. 

Staatsvertrag zwischen Preußen, Sachsen-Meiningen, Schwarzburg- 
Rudolstadt und Reuß j. L. wegen Herstellung einer Eisenbahn von 
Eichicht nach Lobenstein. Vom 14. März 1905, 8. 120. 

Staatsvertrag zwischen Preußen und Oldenburg wegen Herstellung 
einer durchgehenden Eisenbahnverbindung von Meppen nach Essen in 
Oldenburg. Vom 31. März 1906/4. April 1906, S. 328. 

Staatsvertrag zwischen Preußen und Sachsen-Meiningen wegen Her- 
stellung einer Eisenbahn von Sonneberg nach Eisfeld.. Vom 1. Februar 
1906, S. 394. 

Staatsvertrag zwischen Preußen und Sachsen wegen Herstellung 
einer Eisenbahnverbindung von Hoyerswerda nach Königswartha. Vom 
24. März 1905, S. 443. 

Gesetz, betr. die Erweiterung, Vervollständigung und bessere Aus- 
rüstung des Staatseisenbahnnetzes und die Beteiligung des Staates an 
dem Baue von Kleinbahnen. Vom 15. Juni 1906, S. 185. 

$ 1. Die Staatsregierung wird ermächtigt: 

I. Zur Herstellung von Eisenbahnen und zur Beschaffung 

der für diese erforderlichen Betriebsmittel und zwar: 

a) zum Bau von Eisenbahnen die Summe von 77 192 000 M. 

b) zur Beschaffung von Betriebsmitteln 12 658 000 ,„ 

zusammen 89 850 000 M. 


II. Zur Anlage des zweiten Gleises auf verschiedenen Strecken 
und zu den dadurch bedingten Ergänzungen und Gleis- 
veränderungen auf den Bahnhöfen die Summe von 68 504 000 M. 

II. zum Ausbau verschiedener Haupt- und Nebenbahnen die 
Summe von 

IV. zur Beschaffung von Betriebsmitteln für die bereits be- 
stehenden Staatsbahnen die Summe von 100 000 000 „ 

V. zur Förderung des Baues von Kleinbahnen die Summe von 5000 000 „ 

zusammen 271147000 M. 
zu verwenden. Abs. 2. Ueber die Verwendung des Fonds zu V wird dem Landtag 
alljährlich Rechenschaft abgelegt werden. Abs. 8. Mit der Ausführung der unter I aufge- 
führten Eisenbahnen ıst erst dann vorzugehen, wenn bestimmt festgelegte Bedingungen 
erfüllt sind. 

$ 3. Die Staatsregierung wird ermächtigt, zur Deckung der zu den im $ 1 unter 

No. I und II vorgesehenen Bauausführungen und Beschaffungen erforderlichen Mittel 

von 158354 000 M. Baukostenzuschüsse von 10 400 000 M. 

und dem preußischen Staate zur freien Verfügung anheimfallende 

Fonds im Betrage von mindestens 


7793000 „ 


182 000 ,, 
insgesamt 10532 000 M. 


zu verwenden. Abs. 2. Für den alsdann noch zu deckenden Restbetrag im $ 1 No. 
und II von 147822000 M., sowie zur Deckung der für die im $ 1 unter III—V vorge 


512 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


sehenen Bauausführungen und Beschaffungen u. s. w. erforderlichen Mittel im Betrage 
von 112793000 M. sind Staatsschuldverschreibungen auszugeben. Ab. 3. An Stelle der 
Schuldverschreibungen können vorübergehend Schatzanweisungen ausgegeben werden. Der 
Fälligkeitstermin ist in den Schatzanweisungen anzugeben. Die Staatsregierung wird 
ermächtigt, die Mittel zur Einlösung dieser Schatzanweisungen durch Ausgabe von neuen 
Schatzanweisungen und von Schuldverschreibungen in dem erforderlichen Nennbetrage 
zu beschaffen. Die Schatzanweisungen können wiederholt ausgegeben werden. Abs. 8. 
Schatzanweisungen oder Schuldverschreibungen, die zur Einlösung von fällig werdenden 
Schatzanweisungen bestimmt sind, hat die Hauptverwaltung der Staatsschulden auf An- 
ordnung des Finanzministers 14 Tage vor dem Fälligkeitstermine zur Verfügung zu 
halten. Die Verzinsung der neuen Schuldpapiere darf nicht vor dem Zeitpunkte be- 
ginnen, mit dem die Verzinsung der einzulösenden Schatzanweisungen aufhört. 

85. Jede Verfügung der Staatsregierung über die im $ 1 unter No. I, II und 
III bezeichneten Eisenbahnen und Eisenbahnteile durch Veräußerung bedarf zu ihrer 
Rechtsgültigkeit der Zustimmung beider Häuser des Landtags. Abs. 2. Diese Be- 
stimmung bezieht sich nicht auf die beweglichen Bestandteile und Zubehörungen dieser 
Eisenbahnen und Eisenbahnteile und auf die unbeweglichen insoweit nicht, als sie nach 
der Erklärung des Ministers der öffentlichen Arbeiten für den Betrieb der betreffenden 
Eisenbahnen entbehrlich sind. 


Allerhöchster Erlaß, betr. Bau und Betrieb der in dem Gesetze 
vom 28. Juni d. J. vorgesehenen neuen Eisenbahnlienien. Vom 28. Juni 
1906, S. 331. 

Gesetz, betr. Ergänzung des Gesetzes vom 1. Juni 1882, betr. die 
Einsetzung von Bezirkseisenbahnräten und eines Landeseisenbahnrats 
für die Staatseisenbahnverwaltung., Vom 15. Juni 1906, S. 321. 

Bekanntmachung, betr. das teilweise Außerkrafttreten des Handels- 
und Schiffahrtsvertrages zwischen Preußen und den Königreichen 
Schweden und Norwegen vom 14. März 1827. Vom 25. Juni 1906, 
S. 322. 

Gesetz, betr. die Bewilligung weiterer Staatsmittel zur Verbesserung 
der Wohnungsverhältnisse von Arbeitern, die in staatlichen Betrieben 
beschäftigt sind, und von gering besoldeten Staatsbeamten. Vom 16. Juli 
1906, S. 375. 


$ 1. Der Staatsregierung wird ein weiterer Betrag von 15 Mill. M. zur Ver- 
wendung nach Maßgabe des Gesetzes vom 13. August 1895 (Gesetzsamml. S. 521), 
betr. die Bewilligung von Staatsmitteln zur Verbesserung der Wohnungsverhält- 
nisse von Arbeitern, die in staatlichen Betrieben beschäftigt sind, und von gering 
besoldeten Staatsbeamten, zur Verfügung gestellt. 

$ 2. Zur Bereitstellung der in § 1 gedachten 15 Mill. M. ist eine Anleihe 
durch Veräußerung eines entsprechenden Betrags von Schuldverschreibungen aufzu- 
nehmen. Abs. 2. An Stelle der Schuldverschreibungen können vorübergehend 
Schatzanweisungen ausgegeben werden. Der Fälligkeitstermin ist in den Schatzan- 
weisungen anzugeben. Die Staatsregierung wird ermächtigt, die Mittel zur Em- 
lösung dieser Schatzanweisungen durch Ausgabe von neuen Schatzanweisungen uni 
von Schuldverschreibungen in dem erforderlichen Nennbetrage zu beschaffen. Die 
Schatzanweisungen können wiederholt ausgegeben werden. Abs. 3. Schatzan- 
weisungen oder Schuldverschreibungen, die zur Einlösung von fällig werdenden 
Schatzanweisungen bestimmt sind, hat die Hauptverwaltung der Staatsschulden 
auf Anordnung des Finanzministers 14 Tage vor dem Fälligkeitstermin zur Ver- 
fügung zu halten. Die Verzinsung der neuen Schuldpapiere darf nicht vor dem 
Zeitpunkte beginnen, mit dem die Verzinsung der einzulösenden Schatzan- 
weisungen aufhört. h 

$3. Wann, durch welche Stelle und in welchen Beträgen, zu welchem Zins- 
fuße, zu welchen Bedingungen der Kündigung und zu welchen Kursen die Schatz- 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 513 


anweiiungen und die Schuldverschreibungen verausgabt werden sollen, bestimmt 
der Finanzminister. Abs. 2. Im übrigen kommen wegen Verwaltung und Tilgung 
der Anleihe die Vorschriften des Gesetzes vom 19. Dezember 1869, betr. die Kon- 
solidation preußischer Staatsanleihen (Gesetzsamml. S. 1197), des Gesetzes vom 
8. März 1897, betr. die Tilgung von Staatsschulden (Gesetzsamml. S. 43) und des 
Gesetzes vom 3. Mai 1993, betr. die Bildung eines Ausgleichsionds für die Eisen- 
bahnverwaltung (Gesetzsamml. S. 155) zur Anwendung. 

$4. Dem Landtag ist bei dessen nächster regelmäßiger Zusammenkunft 
über die Ausführung dieses Gesetzes Rechenschaft zu geben. 

Kirchengesetz, betr. die Erhebung von Kirchensteuern in den 
Kirchengemeinden und Gesamtverbäuden der evangelisch-lutherischen 
Kirche der Provinz Hannover. Vom 10. März 1906, S. 23. 

I. Besteuerungsrecht der Kirchengemeinden. II. Steuerpflicht. III. Umlegung der 
Kirchensteuer. a) Verteilungsmaßstab. b) Grundsätze über die Erhebung der Kirchen- 
steuer. ec) Besondere Vereinbarungen. IV. Verfahren. a) Ausschreibung. b) Rechts- 
mittel. e) Kosten. d) Besondere Bestimmungen. V. Besondere Bestimmungen für die 
Gesamtverbände. VI. Aufsichtliche Genehmigungen und Anordnungen. VII. Ueber- 
gangs- und Schlußbestimmungen. 

Gesetz, betr. die Erhebung von Kirchensteuern in den Kirchen- 
gemeinden und Gesamt-(Parochial-)Verbänden der evangelisch-luthe- 
rischen Kirchen der Provinzen Hannover und Schleswig-Holstein sowie 
in den Kirchengemeinden der evangelisch - reformierten Kirche in 
Hannover. Vom 22. März 1906, S. 41. 

Gesetz, betr. die Erhebung von Kirchensteuern in den Kirchen- 
gemeinden der evangelischen Kirchen der Konsistorialbezirke Cassel, 
Wiesbaden und Frankfurt a. M., in den Gesamtverbänden der evange- 
lischen Kirche des Konsistorialbezirks Cassel sowie in der vereinigten 
evangelisch-lutherischen und evangelisch -reformierten Stadtsynode zu 
Frankfurt a. M. Vom 22. März 1906, S. 46. 

Verordnung über das Inkrafttreten von Kirchengesetzen, betr. die 
Erhebung von Kirchensteuern. Vom 23. März 1906, S. 51. 

Verordnung über das Inkrafttreten von Gesetzen, betr. die Erhebung 
von Kirchensteuern. Vom 23. März 1906, S. 52. 

Verordnung über die Ausübung der Rechte des Staates gegenüber der 
evangelischen Landeskirche der älteren Provinzen der Monarchie. Vom 
23. März 1906, S. 53. 

Verordnung über die Ausübung der Rechte des Staates gegenüber 
den evangelisch-lutherischen Kirchen der Provinzen Hannover und 
Schleswig-Holstein sowie der evangelisch-reformierten Kirche der Pro- 
vinz Hannover. Vom 23. März 1906, S. 54. 

Verordnung über die Ausübung der Rechte des Staates gegenüber 
den evangelischen Kirchen der Konsistorialbezirke Cassel, Wiesbaden 
und Frankfurt a. M. Vom 23. März 1906, S5. 55. 

Verordnung über die Ausübung der Rechte des Staates gegenüber 
den Kirchengemeinden und Gesamtverbänden in der katholischen Kirche. 
Vom 23. März 1906, S. 56. 

Gesetz, betr. die Erhebung von Abgaben für kirchliche Bedürfnisse 
der Diözesen der katholischen Kirche in Preußen. Vom 21. März 1906, 
S. 105. 

Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII). 33 


514 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


Kirchengesetz wegen Abänderung des Kirchengesetzes vom 2. Juli 
1898, betr. das Diensteinkommen der Geistlichen der evangelisch-luthe- 
rischen Kirche der Provinz Hannover. Vom 21. Mai 1906, S. 181. 

Bekanntmachung, betr. die gegenseitige Freilassung der Angehörigen 
des preulischen Staates einerseits und der Angehörigen von England, 
Wales und Irland sowie der Vereinigten Staaten vou Amerika, anderer- 
seits von der Erhebung von Kirchensteuern. Vom 30. Juni 1906, 
S. 322. 

Kirchengesetz, betr. die Anstellungsfähigkeit und Vorbildung der 
Geistlichen in der evangelisch-lutherischen Kirche der Provinz Hannover. 
Vom 16. Juli 1906, S. 365. 

Kirchengesetz, betr. die Verstärkung des landeskirchlichen Hilfs- 
fonds. Vom 16. Juli 1906, S. 370. 

Verordnung über das Inkrafttreten des Kirchengesetzes vom 16. Juli 
1906, betr. die Anstellungsfähigkeit und Vorbildung der Geistlichen in 
der evangelisch-lutherischen Kirche der Provinz Hannover. Vom 
1. November 1906, S. 413. 

Bekanntmachung, betr. die gegenseitige Freilassung der Ange- 
hörigen des Preußischen Staates einerseits und der Angehörigen der 
Britischen Kolonien und Besitzungen, mit Ausnahme von Barbados, so- 
wie der Angehörigen der Niederlande und von Niederländisch-Indien 
andererseits von der Erhebung von Kirchensteuern. Vom 7. November 
1906, S. 413. 

Gesetz, betr. die Abänderung des Einkommensteuergesetzes und 
des Erginzungssteuergesetzes. Vom 19. Juni 1906, S. 241. 

Vergl. Bd. 82 8. 821 f. dieser Jahrbücher. 

Verordnung, betr. die Vergütungen der Mitglieder der in Gemäß- 
heit des $ 32 Abs. 3 und 4 des Einkommensteuergesetzes gebildeten 
Voreinschätzungskommissionen. Vom 28. Juli 1906, S. 371. 

Gesetz zur Abänderung des Kommunalabgabengesetzes vom 14. Juli 
1893 (Gesetz-Samml. S. 152). Vom 24. Juli 1906, S. 377. 

Gesetz, betr. die Feststellung des Staatshaushaltsetats für das Etats- 
jahr 1906. Vom 31. März 1906, S. 59. 

$ 1. Der diesem Gesetz als Anlage beigefügte Staatshaushaltsetat für das 
Etatsjahr 1906 wird in Einnahme auf 2910344396 M. und in Ausgabe auf 
2 410.344 396 M., nämlich auf 2 673 400 752 M. an fortdauernden und auf 236 943 6H 
M. an einmaligen und außerordentlichen Ausgaben festgesetzt. 

$ 2. Der diesem Gesetz als weitere Anlage beigefügte Etat der Verwaltungs- 
einnahmen und -Ausgaben der Preußischen Zentral-Genossenschaftskasse für das 
Etatsjahr 1906 wird in Einnahme auf 6200 M. und in Ausgabe auf 517250 M. 
festgestellt. 

$ 3. Im Etatsjahr 1906 können nach Anordnung des Finanzministers zur 
vorübergehenden Verstärkung des Betriebsfonds der Generalstaatskasse Schatz- 
anweisungen bis auf Höhe von 100000000 M., welche vor dem 1. Januar 148 
verfallen müssen, wiederholt ausgegeben werden. Auf dieselben finden die Be- 
stimmungen des $ 4 Abs. 1 und 2 und des § 6 des Gesetzes vom 28. September 
1866 (Gesetz-Samml. S. 607) Anwendung. 

$ 4. Der Finanzminister ist mit der Ausführung dieses Gesetzes beauftragt. 


Staatshaushaltsetat für das Etatsjahr 1906. 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 


Einnahme. 
A. Einzelne Einnahmezweige. 


T. Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten 
II. Finanzministerium 
III. Ministerium für Handel und Gewerbe 


515 


125 484 404 M. 
459 596 700 M. 
226 379 390 „ 


IV. Ministerium der öffentlichen Arbeiten 1740 868 208 ,„ 
Summe A. Einzelne Einnahmezweige 2552 328 697 M. 


B. Dotationen und allgemeine Finanzverwaltung. 


N 


. Dotationen 
II. Allgemeine Finanzverwaltung 


Summe B. Dotationen etc. 


C. Staatsverwaltungs- Einnahmen. 
I. Staatsministerium 
II. Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten 
III. Finanzministerium 
IV. Ministerium der öffentlichen Arbeiten 
V. Ministerium für Handel und Gewerbe 
VI. Justizministerium 
VII. Ministerium des Innern 
VIII. Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten 
IX. Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegen- 
heiten 
X. Kriegsministerium 


332 330 


180 002 775 » 
180 885 105 


20 889 198 
8 600 
3587 397 
14 657 100 
4 346 225 
92 831 320 
28 102 050 
6 985 910 


6 822 494 
300 


M. 


M. 


Summe C. Staatsverw.-Einnahmen 


177 680 594 


Summe der Einnahme 2910 344 396 


Ausgabe. 


d. Betriebs-, Erhebungs- und Verwaltungskosien der einzelnen 


Einnahmezweige. 
I. Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten 
I. Finanzministerium 
Ill. Ministerium für Handel und Gewerbe 


52 051 400 
159 882 750 
205 817 000 


IV. Ministerium der öffentlichen Arbeiten 1072 620 480 
Summe A. Betriebs- etc. -Kosten 1490 371580 M. 


B. Dotationen und allgemeine Finanzverwaltung. 


I. Dotationen 
Il. Allgemeine Finanzverwaltung 


” 


M. 


» 
” 


» 


309 550 824 M. 
222 986 578 „, 


Summe B. Dotationen etc. 582 587 402 H. 


C. Staatsverwaltungsausgaben. 
I. Staatsministerium 
Il. Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten 
Il. Finanzministerium 
IV. Ministerium der öffentlichen Arbeiten 
V. Ministerium für Handel und Gewerbe 
I. Justizministerium 
VII. Ministerium des Innern 
VIII. Ministerium Jür Landwirtschaft, Domänen und Forsten 
IX. Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegen- 
heiten 
X. Kriegsministerium 


Summe C. Staatsverwaltungsausgaben 


545 400 


144 805 485 
37 848 787 


15 647 959 


130 394 000 


92 971 250 


32 677 448 


171 871679 


164 928 


24 064 884 M. 


”» 


„ 


650 491770 M. 


Summe der dauernden Ausgaben 2678 400752 „ 
Einmalige und außerordentliche Ausgaben 256 948 644 „ 


33* 


516 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


Abschluß. 
Es betragen 
1) die Einnahmen 2 910 844 396 M. 
2) die dauernden Ausgaben 2673 400762 M. 
3) die einmaligen und außerordentlichen Ausgaben 236 948 644 » 


2 910 344 346 M. 

Staatsvertrag zwischen Preußen und Reuß j. L. zur Regelung der 
Lotterieverhältnisse. Vom 30. Mai 1905, S. 129. 

Staatsvertrag zwischen Preußen und den bei der Hessisch-Thürin- 
gischen Staatslotterie beteiligten Staaten zur Regelung der Lotterie- 
verhältnisse. Vom 17. Juni 1905, S. 134. 

Staatsvertrag zwischen Preußen und Oldenburg zur Regelung der 
Lotterieverhältnisse. Vom 9. Dezember 1905, S. 145. 

Bekanntmachung, betr. die Ratifikation der zwischen Preußen und 
Reuß j. L. am 30. Maı 1905, zwischen Preußen und den an der Hessisch- 
Thüringischen Staatslotterie beteiligten Staaten (nämlich Hessen, Sachsen- 
Weimar-Eisenach, Sachsen-Meiniugen, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Co- 
burg-Gotha, Anhalt, Schwarzburg-Sondershausen, Schwarzburg-Rudol- 
stadt, Reuß ä. L., Schaumburg-Lippe und Lippe) am 17. Juni 1905 
‚und zwischen Preußen und Oldenburg am 9. Dezember 1905 zur Rege- 
lung der Lotterieverhältnisse abgeschlossenen Staatsverträge und der 
dazu gehörigen Schlulprotokolle sowie die Auswechselung der Ratifi- 
kationsurkunden zu den Verträgen vom 30. Mai und 9. Dezember 1905 
und die Hinterlegung der Ratitikationsurkunden zum Vertrage vom 
17. Juni 1905. Vom 21. April 1906, S. 153. 

Staatsvertrag zwischen Preußen und Braunschweig zur Regelung 
der Lotterieverhältnisse. Vom 18. Mai 1906, S. 415. 

Staatsvertrag zwischen Preußen und Bremen zur Regelung der 
Lotterieverhältnisse. Vom 18. Mai 1906, S. 424. 

Bekanntmachung, betr. die Ratifikation der zwischen Preußen und 
Braunschweig sowie zwischen Preußen und Bremen am 18. Mai 1906 
zur Regelung der Lotterieverhältnisse abgeschlossenen Staatsverträge 
und den Austausch der Ratifikationsurkunden zu diesen Verträgen. Vom 
18. November 1906, S. 434, 

Kreis- und Provinzialabgabengesetz. Vom 23. April 1906, S. 159. 

Abschnitt 1. Kreisabgaben. 

$ 1. Die Kreise sind berechtigt, zur Deckung ihrer Ausgaben nach den Be- 
stimmungen dieses Gesetzes Gebühren und Beiträge, indirekte und direkte Steuern 
zu erheben. Abs. 2. Hinsichtlich der Chausseegelder und anderen Verkehrsabgaben, 
der Jagdscheinabgaben, der Kosten im Verwaltungsstreit- und Beschlußverfahren 
sowie hinsichtlich der Erhebung der Betriebs-, der Wanderlager- und der Waren- 
haussteuer für Rechnung der Kreise bewendet es bei den "bestehenden Bestim- 
mungen. 

es 2. Die Kreise dürfen von der Befugnis, Steuern zu erheben, nur insoweit 
Gebrauch machen, als die sonstigen Einnahmen, insbesondere aus dem Kreis- 
vermögen, aus Gebühren, Beiträgen und aus den ihnen vom Staate oder von Be- 
zirks- oder Provinzialverbänden überwiesenen Mitteln zur Deckung ihrer Ausgaben 
nicht ausreichen. Auf Hundesteuern findet diese Bestimmung keine Anwendung. 
Abs. 2. Durch direkte Steuern darf nur der Bedarf aufgebracht werden, welcher 
nach Abzug des Autkommens der indirekten Steuern von dem gesamten Steuer- 
bedarfe verbleibt. 


Nationalökonoimische Gesetzgebung. 517 


$ 3. Gewerbliche Unternehmungen der Kreise sind grundsätzlich so zu ver- 
walten, daß durch die Einnahmen mindestens die gesamten, durch die Unterneh- 
mung dem Kreise erwachsenden Ausgaben, einschließlich der Verzinsung und der 
Tilgung des Anlagekapitales, aufgebracht werden. Abs. 2. Eine Ausnahme ist 
zulässig, sofern die Unternehmung zugleich einem öffentlichen Interesse dient, 
welches anderenfalls nicht befriedigt wird. 
$4. Der Kreistag kann beschließen, daß für die Benutzung der von dem 
Kreise im öffentlichen Interesse unterhaltenen Veranstaltungen (Anlagen, Anstalten 
und Einrichtungen) besondere Vergütungen (Gebühren) erhoben werden, Abs. 2. 
Die Gebühren sind im voraus nach festen Normen und Sätzen zu bestimmen. 
Dabei ist eine Abstufung der Gebührensätze — auch nach Maßgabe der Leistungs- 
täbigkeit — bis zur gänzlichen Freilassung zulässig. 
$5. Der Kreistag kann beschließen, daß behufs Deckung der Kosten für 
Herstellung und Unterhaltung von Veranstaltungen, welche durch das öffentliche 
Interesse erfordert werden, von denjenigen Grundeigentümern und Gewerbetreiben- 
den, denen hierdurch besondere wirtschaftliche Vorteile erwachsen, Beiträge zu den 
Kosten der Veranstaltungen erhoben werden. Die Beiträge sind nach den Vor- 
teilen zu bemessen. Abs. 2. Durch Beschluß des Kreistags kann den Beitrags- 
pflichtigen gestattet werden, die Beiträge ganz oder teilweise durch Naturalleistungen 
nach bestimmten, vom Kreistage festzustellenden Grundsätzen zu ersetzen. 
Abs. 3 u. 4. Bekanntmachungen. 
$6. Der Kreistag ist befugt, mittels Erlasses von Steuerordnungen indirekte 
Steuern zu legen 1) auf den Erwerb von Grundstücken und von Rechten, für 
welche die auf Grundstücke bezüglichen Vorschriften gelten. Durch die Steuer- 
ordnung können Befreiungen von der Steuer, insbesondere einzelner Erwerbsarten, 
vorgesehen werden. Der Erwerb durch Erbgang, durch Enteignung und durch 
Uebergabevertrag zwischen Verwandten auf- und absteigender Linie ist freizulassen ; 
2) auf die Erlangung der Erlaubnis zum ständigen Betriebe der Gastwirtschaft, 
Schankwirtschaft oder des Kleinhandels mit Branntwein oder Spiritus ($ 33 der 
RGO.); 3) auf das Halten von Hunden. Abs. 2. Dabei ist eine Abstufung der 
Steuersätze — insbesondere auch nach Kreisteilen — zulässig. Abs. 3. Die Ein- 
führung einer indirekten Steuer durch den Kreis berührt nicht das Recht der Ge- 
meinden zur Erhebung einer entsprechenden Steuer. 
§ 7. Zur Aufbringung der direkten Kreissteuern sind die einzelnen Gemeinden 
und Gutsbezirke verptlichtet. Abs. 2. Als Maßstab der Verteilung der Kreis- 
steuern auf diese Verbände dient das Soll der Einkommensteuer und der vom 
Staat veranlagten Realsteuern, einschließlich der Betriebssteuer, wie es in Gemeinden 
nach den Vorschriften des Kommunalabgabengesetzes, nach Gemeindebeschlüssen 
und Vereinbarungen mit Steuerpflichtigen der Gemeindebesteuerung zu Grunde zu 
legen und in Gutsbezirken gemäß § 13 für die Unterverteilung zu veranlagen ist. 
Abs. 3. Der Einkommensteuer sind die auf Einkommen von nicht mehr als 
900 M. entfallenden Steuerbeträge — § 38 Abs. 1 des Kommunalabgabengesetzes — 
hinzuzuzählen ; indessen kann der Kreistag beschließen, diese Steuerbeträge ins- 
esamt oder teilweise freizulassen oder mit einem geringeren Prozentsatz als die Ein- 
commensteuer heranzuziehen. Abs. 4. Soweit in Gemeinden eine Steuerart zu «den 
(remeindeabgaben nicht herangezogen worden ist, wird das Steuersoll durch den 
Kreisausschuß veranlagt. Abs. 5. MaßBgebend für die Verteilung ist das Steuer- 
soll des dem jedesmaligen Etatsjahre vorangegangenen Rechnungsjahres nach dem 
Stande des 1. Januar und zwar unter Berücksichtigung der bis zu diesem Zeit- 
punkt endgültig eingetretenen Berichtigungen und Veränderungen. Stenerbeträge, 
welche erst Aneh dem 1. Januar für das Rechnungsjahr veranlagt werden, obwohl 
die Steuerpflicht schon* vor diesem Zeitpunkte begonnen hatte, werden dem 
Steuersoll des nächsten Rechnungsjahres hinzugerechnet; Steuerbeträge, welche für 
die Vorjahre veranlagt worden sind, werden dem Steuersoll des Jahres, in dem die 
Veranlagung erfolgt ist, oder dem des nächsten Rechuungsjahrs hinzugerechnet, 
je nachdem die Veranlagung vor oder nach dem 1. Januar erfolgt ist. Abs. 6. 
Neben den nach Abs. 1 Verptlichteten haben diejenigen im Kreise wohnenden oder 
darin ein Einkommen beziehenden ($ 33 Abs. 1 Ziffer 1 und 2 des Kommunalab- 
gabengesetzes) Personen, welchen in Abweichung von dem bisherigen Kreissteuer- 
rechte, nach dem Kommunalabgabengesetz eine gänzliche oder teilweise Einkommen- 


518 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


steuerfreiheit zusteht, zu den auf die Einkommensteuer gelegten Kreissteuern inso- 
weit besonders beizutragen, als ihr Einkommen nicht schon gemeindesteuerpflichtig 
ist. In gleicher Weise wird der Fıskus mit seinem Einkommen aus den von ihm 
zu Ansiedelungszwecken angekauften Besitzungen zu den Kreisabgaben herangezogen. 
Die besonderen Steuersätze sind unter sinngemäßer Anwendung der für die Ge- 
meindeeinkommensteuer geltenden Vorschriften einheitlich für den Kreis vom Kreis- 
ausschuß zu veranlagen und nach dessen näherer Bestimmung von den Veranlagten 
unmittelbar zu erheben. Die Rechtsmittel der Veranlagten regeln sich nach dem 
§ 14 Abs. 2, 3 und nach dem $ 11 Abs. 4, 5 dieses Gesetzes mit der Maßgabe, 
daß die Frist für den Antrag auf Verteilung kreissteuerpflichtigen Einkommens 
auf verschiedene Kreise 2 Monate beträgt und zur Beschlußfassung der Bezirksaus- 
schuß zuständig ist. Im übrigen findet auf die Veranlagung, Nachforderung, Ver- 
jährung und Beitreibung dieser Steuerbeträge $ 16 Anwendung. 

$ 8. Der Kreistag kann mittels Erlasses einer Steuerordnung beschließen, daß 
die der Verteilung der direkten Kreissteuern auf Gemeinden und Gutsbezirke zu 
Grunde zu legende Grund- und Gebäudesteuer durch eine nach dem Maßstabe de 
Wertes zu veranlagende Steuer vom Grundbesitz ersetzt wird. Dabei soll der Be- 
wertung von Grundstücken, welche dauernd land- oder forstwirtschaftlichen Zwecken 
zu dienen bestimmt sind, in der Regel der Reinertrag zu Grunde gelegt werden, 
den die Grundstücke nach ihrer bisherigen wirtschaftlichen Bestimmung bei ord- 
nungsmäßiger Bewirtschaftung nachhaltig gewähren. Abs. 2. Die Grundwertsteuer 
ist vom Kreisausschusse zu veranlagen. 

ş 9. Die Realsteuern sind in der Regel mit dem gleichen Prozentsatz heran- 
zuziehen, mit welchem die Einkommensteuer belastet wird; daß auf Grund einer 
Grundwertsteuer ($ 8) zu erhebende Stenersoll ist nach der Steuersumme zu be- 
messen, mit welcher die Grund- und Gebäudesteuer im Kreise herangezogen werden 
darf. Abs. 2. Ausnahmen von dieser Vorschrift, insbesondere die geringere Be- 
lastung oder die Freilassung der untersten Gewerbesteuerklassen sind zulässig. 
Abs. 3. Der Kreistag kann den festgestellten Maßstab einer Revision unterwerfen, 
wenn seit der letzten Feststellung mindestens 5 Jahre verstrichen sind. In Aus- 
nahmefällen ist die frühere Vornahme einer Revision zulässig. 

$ 10. Handelt es sich um Veranstaltungen des Kreises, welche ausschließlich 
oder in besonders hervorragendem oder geringem Maße einzelnen Kreisteilen zu- 
statten kommen, so kann der Kreistag eine ausschließliche Belastung oder eine 
nach Umfang und Maßstab näher zu bestimmende Mehr- oder Minderbelastung 
dieser Kreisteile beschließen. Die Bestimmung in § 5 Abs. 2 findet entsprechende 
Anwendung. Abs. 2. Soweit hinsichtlich der Vorausbelastung einzelner Kreisteile 
bei Aufbringung der Kosten für Aulegung oder Unterhaltung von Wegen besondere 
gesetzliche Vorschriften bestehen, behält es dabei sein Bewenden. 

$ 11. Der vom Kreistag festgestellte Kreissteuerbedarf wird, nach Abzug 
der gemäß $ 7 Abs. 6 besonders veranlagten Steuerbeträge, auf die Gemeinden 
und Gutsbezirke verteilt. Dabei wird ihnen in den Fällen des $7 Abs. 4 und de 
$ 8 das Ergebnis der Veranlagung der einzelnen Steuerpflichtigen mitgeteilt. Die 

ahlung an die Kreiskommunalkasse hat zu den von dem Kreisausschusse zu be 
stimmenden Terminen zu erfolgen. Abs. 2. Gegen die Verteilung der Kreissteuern 
steht den Gemeinden und Gutsbezirken binnen einer Frist von 4 Wochen der Ein- 
spruch zu, über welchen der Kreisausschuß beschließt. Abs. 3. Mit dem Ein- 
spruche kann die Veranlagung der einzelnen Steuerbeträge, aus denen sich das 
der Kreisbesteuerung zu Grunde gelegte Steuersoll zusammensetzt, nur in den 
Fällen des $ 7 Abs. 4 und des $ 8 von den Gemeinden angegriffen werden. Ist 
in den Fällen des $ 8 nach Vorschrift der Steuerordnung ein Grundstück nach 
demjenigen Werte zu veranlagen, welcher der staatlichen Veranlagung dieses 
Grundstücks zur Ergänzungssteuer zu Grunde zu legen ist, so kann die Höhe 
dieses Wertes nicht angegriffen werden, wenn sie aus den Besteuerungsmerkmalen 
der staatlichen Ergänzungssteuer übernommen ist. Abs. 4. Gegen den Beschluß 
des Kreisausschusses findet innerhalb einer Frist von 2 Wochen die Klage bei dem 
Bezirksausschusse statt. Gegen die Entscheidung des Bezirksausschusses ist nur das 
Rechtsmittel der Revision zulässig, Abs. 5. Durch Einspruch und Klage wird 
die Verptlichtung zur Zahlung der Kreissteuer nicht aufgeschoben. 

$ 12. Die Gemeinden haben den auf sie entfallenden Teil des Kreissteuerbe- 
darfs gleich den übrigen Gemeindeausgaben aufzubringen. 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 519 


$ 13. In den Gutsbezirken wird der auf sie entfallende Teil des Kreissteuer- 
bedarfs von dem Kreisausschusse gemäß den für die direkten Gemeindesteuern 
geltenden Bestimmungen des Kommunalabgabengesetzes — mit Ausschluß des § 49 
Abs. 2 und des $ 50 Abs. 1 Satz 2 — sowie des Gesetzes wegen Aufhebung 
direkter Staatssteuern vom 14. Juli 1803 (Gesetzsamml. S. 119) durch Veranlagung 
den Steuerpflichtigen unterverteilt. Die Veranlagung erfolgt nach den vom Kreis- 
tage beschlossenen Maßstabe ($$ 9, 8). Abs. 2. Wo nach den bestehenden gesetz- 
lichen Bestimmungen für die Veranlagung oder Erhebung von direkten Gemeinde- 
steuern ein Gemeindebeschluß maßgebend ist, tritt an die Stelle eines solchen der 
Beschluß des Kreisausschusses. 
$ 14. Der Kreisausschuß beschließt über die Art der Steuererhebung in den 
Gutsbezirken. Abs. 2. Gegen die Heranziehung zur Kreissteuer in den Gutsbe- 
zirken steht den Steuerpflichtigen binnen einer Frist von 4 Wochen der Einspruch 
zu, über welchen der Kreisausschuß beschließt. Hinsichtlich der weiteren Rechts- 
mittel findet $ 11 Abs. 4 und 5 dieses Gesetzes Anwendung. Abs. 3. Die Verteilung 
steuerpflichtigen Einkommens auf eine Mehrzahl steuerberechtigter Gutsbezirke 
und Cuksinden regelt sich nach den $$ 71 bis 74 des Kommunalabgabengesetzes. 
$ 15. Ist in einer Gemeinde oder einem Gutsbezirke das der direkten Kreis- 
besteuerung zu Grunde gelegte Gesamtsteuersoll im Laufe eines Rechnungsjahrs 
durch Abgänge nach Abzug der Zugänge um mehr als 10 Proz. verringert worden, 
50 ist der Mehrbetrag des Ausfalls auf Antrag vom Kreise zu erstatten. Bei 
geringerem Ausfalle kann der Kreisausschuß auf Antrag Erstattung gewähren. 
Abs. 2. Das Diensteinkommen der unmittelbaren und mittelbaren Staatsbeamten 
darf zu den auf das Einkommen gelegten Kommunalsteuern nur mit den aus den 
Ss 4 und 5 Abs. 1 der Verordnung vom 23. September 1567 (Gesetzsamml. S. 1645) 
sich ergebenden Beschränkungen herangezogen werden. Soweit sich der von dem 
Diensteinkommen gemäß $ 4 a. a. O. berechnete Kommunalsteuerbetrag zufolge 
der Bestimmungen der $$ 12 und 13 dieses Gesetzes über das nach dem § b Abs. 1 
jener Verordnung zulässige Maß erhöhen würde, ist der Kreis auf Antrag der Ge- 
meinde (des Gutsbezirks) zur Erstattung des überschießenden Betrags verpflichtet. 
$ 16. Auf die Rechtsmittel gegen die Heranziehung (Veranlagung) zu Ge- 
bühren, Beiträgen und indirekten Steuern finden $ 14 Abs. 2 und $ 11 Abs. 4, 5 
dieses Gesetzes, auf die Nachforderung, Verjährung und Beitreibung von Kreisab- 
gaben die $S 87, 85 und 90 des Kommunalabgabengesetzes entsprechende Anwendung. 
Abs. 2. Die Gemeinden und Gutsbezirke sind zur Wahrnehmung örtlicher Ge- 
schäfte der Veranlagung und Erhebung von Kreisabgaben nach Anweisung des 
Kreisausschusses verpflichtet. Im übrigen finden auf diese Veranlagung die 
SS 62 und 63 des Kommunalabgabengesetzes entsprechende Anwendung. 
$ 17. In den Steuerordnungen der Kreise können Strafen gegen Zuwider- 
handlungen bis zur Höhe von 30 M. angedroht werden. Abs.2. Die Strafen sind 
durch den Kreisausschuß festzusetzen und nach eingetretener Rechtskraft ($ 459 
der Strafprozeßordnung) im Verwaltungszwangsverfahren beizutreiben. 
§ 18. Das Rechnungsjahr für den Kreishaushalt beginnt mit dem 1. April 
und endigt mit dem 31. März. 
S$ 19, 20. Genehmigung bestimmter Beschlüsse des Kreisausschusses durch den 
Bezirksausschuß und obere Instanzen. 
Abschnitt 2. Provinzialabgaben (Bezirksabgaben). 
$ 21. Die Provinzen (Bezirksverbände) sind berechtigt, zur Deckung ihrer 
Ausgaben nach den Bestimmungen dieses Gesetzes Gebühren, Beiträge und direkte 
Steuern zu erheben. Abs. 2. Hinsichtlich der Chausscegelder und anderen Ver- 
kehrsabgaben bewendet es bei den bestehenden Bestimmungen. 
$ 22. Die Provinzen (Bezirksverbände) dürfen von der Befugnis, Steuern zu 
erheben, nur insoweit Gebrauch machen, als die sonstigen Einnahmen, insbesondere 
aus dem Provinzial-(Bezirksverbands-)Vermögen, aus (Gebühren, Beiträgen und aus den 
ihnen vom Staate überwiesenen Mitteln zur Deckung ihrer Ausgaben nicht ausreichen. 
$ 23. Gewerbliche Unternehmungen der Provinzen (Bezirksverbände) sind 
grundsätzlich so zu verwalten, daß durch die Einnahmen mindestens die gesamten, 
durch die Unternehmung der Provinz (dem Bezirksverband) erwachsenden Aus- 
aben, einschließlich der Verzinsung und der Tilgung des Anlagekapitals, aufge- 
acht werden. Abs. 2. Eine Ausnahme ist zulässig, sofern die Unternehmung 
zugleich einem öffentlichen Interesse dient, welches andernfalls nicht befriedigt wie 


520 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


á 


§ 24. Der Provinziallandtiag (Kommunallandtag) kann die Erhebung von 
Gebühren und Beiträgen beschließen, auch deren Festsetzung auf den Provinzial- 
(Landes-)Ausschuß übertragen. Abs. 2. Auf die Gebühren und Beiträge finden 
die SS 4 und 5 dieses Gesetzes entsprechende Anwendung. 

§ 25. Zur Aufbringung der Provinzial (Bezirks-)Steuern sind die einzelnen 
Land- und Stadtkreise verpilichtet. Abs. 2. Als Maßstab der Verteilung der 
Provinzial- Bezirks-)Steuern auf diese Verbände dient das Soll der Einkommen- 
steuer und der vom Staate veranlagten Realsteuern einschließlich der Betriebssteuer, 
wie es in Landkreisen nach den Vorschriften dieses Gesetzes, mit Ausschluß des 
§ 8, und in Stadtkreisen nach dem Kommunalabgabengesetze, nach Gemeinde- 
beschlüssen und Vereinbarungen mit Steuerpflichtigen der Kreis- bezw. Gemeinde- 
besteuerung zu Grunde zu legen ist. Abs. 3. Der Einkommensteuer sind die auf 
Einkommen von nicht mehr als 900 M. entfallenden Steuerbeträge (§ 38 Abs. 1 
des Kommunalabgabengesetzes) hinzuzuzählen; indessen kann der Provinzial- 
(Kommunal-)Landtag beschließen, diese Stenerbeträge insgesamt oder teilweise frei- 
zulassen oder mit einem geringeren Prozentsatz als die Einkommensteuer heran- 
zuzichen. Abs. 4. Maßgebend für die Verteilung ist in den Landkreisen das der 
Kreisbesteuerung des jeweilig laufenden Rechnungsjahrs gemäß $ 7 Abs. 5 zu 
Grunde gelegte Steuersoll, in den Stadtkreisen des Stenersoll des jeweilig voran- 
gegangenen Rechnungsjahrs nach dem Stande des 1. Januar und zwar unter Be- 
rücksichtigung der bis zu diesem Zeitpunkt endgültig eingetretenen Berichtigungen 
und Veränderungen sowie mit der Maßgabe, welche aus dem Schlußsatze des Ab- 
satzes 5 a. a. O. folgt. 

§ 26. Die Realsteuern sind mit dem gleichen Prozentsatze heranzuziehen, 
mit welchem die Einkommensteuer belastet wird. 

§ 27. Handelt es sich um Veranstaltungen des Provinzial- (Bezirks-) Verbandes, 
welche ausschließlich oder in besonders hervorragendem oder geringem Maße 
einzelnen Kreisen zustatten kommen, so kann der Provinzial-(Kommunal-)Landtag 
eine ausschließliche Belastung oder eine nach Umfang und Maßstab näher zu be- 
stimmende Mehr- oder Minderbelastung dieser Kreise beschließen. Die Bestim- 
oong, im § 5 Abs« 2 findet entsprechende Anwendung. 

28. Der vom Provinzial-(Kommunal-)Landtage festgestellte Steuerbedarf 
wird an Provinzial-(Landes-)Ausschuß auf die Land- und Stadtkreise verteilt. 
Die Zahlung an die Provinzial-(Bezirks-, Landes-\Hauptkasse hat zu den von dem 
Provinzial-(Landes-)Ausschusse zu bestimmenden Terminen zu erfolgen. Abs. 2—). 
Veröffentlichungen und Rechtsmittel. 

$ 29. Die Land- und Stadtkreise haben den auf sie entfallenden Teil des 
Provinzial-(Bezirks-)Steuerbedarfs gleich den übrigen Kreis- bezw. Gemeindeaus- 
gaben aufzubringen. 

$ 30. Aufbringung der Prowinzialsteuern in Hessen-Nassau. 

$ 31. Rechtsmittel, 

$ 32. Das Rechnungsjahr für den Haushalt des Provinzial-(Bezirks-) Verbandes 
beginnt mit dem 1. April und endigt mit dem 81, März. 

$ 38. Genehmigungen. 

ŞS 24—37. Schlupp- und Uebergangsbestimmungen. 


Gesetz, betr. den Erwerb des Kalisalzbergwerks der Gewerkschaft 
Hercynia durch den Staat. Vom 19. Juni 1906, S. 197. 


§ 1. Die Staatsregierung wird ermächtigt, die der Gewerkschaft Hercynia zu 
Wernigerode gehörigen Rechte, beweglichen und unbeweglichen Sachen, welche zur 
Gewinnung und Verwertung von Stein- und Kalisalzen und von Sole in Beziehung 
stehen, für den Fiskus zu erwerben und zu diesem Zwecke einen Betrag bis zu 
30 950 000 M. zu verausgaben. 

§ 2. Der Finanzminister wird ermächtigt, zur Bereitstellung der nach $1 
erforderlichen Geldmittel Staatsschuldverschreibungen auszugeben. Abs. 2. An 
Stelle der Staatsschuldverschreibungen können vorübergehend Schatzan weisungen 
ausgegeben werden. Der Fällirkeitstermin ist in den Schatzanweisungen anzu- 
geben. Der Finanzminister wird ermächtigt, die Mittel zur Einlösung dieser Schatz- 
anweisungen durch Ausgabe von neuen Schatzanweisungen und von Schuldver- 
schreibungen in dem ertorderlichen Nennbetrag zu beschaffen. Die Schatzanwei- 
sungen können wiederholt ausgegeben werden. Abs. 3. Schatzanweisungen oder 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 521 


Schuldverschreibungen, die zur Einlösung von fällig werdenden Schatzan weisungen 
bestimmt sind, hat die Hauptverwaltung der Staatsschulden auf Anordnung des 
Finanzministers 14 Tage vor dem Fälligkeitstermine zur Verfügung zu halten. 
Die Verzinsung der neuen Schuldpapiere darf nicht vor dem Zeitpunkte beginnen, 
mit dem die er UnE der aea Schatzanweisungen aufhört. Abs. 4, 
Wann, durch welche Stelle und in welchen Beträgen, zu welchem Zinsfuße, zu 
welchen Bedingungen der Kündigung und zu welchen Kursen die Schatzan- 
weisungen und die Schuldverschreibungen verausgabt werden sollen, bestimmt der 
Finanzminister. Abs. 5. Zur Tilgung des Kaufpreises ist, unter Einrechnung der 
Mittel, welche zur gesetzlichen ®/,-proz. Tilgung eines Schuldkapitals von 
30950000 M. erforderlich sind ($ 1 des Gesetzes vom 8. März 1897 — Gesetzsamml. 
S. 43), eine Betrag bereitzustellen, der sich ergibt, wenn ein zu 3!/, Proz. verzins- 
liches Schuldkapital von 30950000 M. jährlich mit 412000 M. getilgt wird und die 
durch die Tilgung ersparten Zinsen mit zur Tilgung verwendet werden. Abs. 6. 
Im übrigen kommen wegen Verwaltung und Tilgung der Anleihe die Vorschriften 
des Gesetzes, betreffend die Konsolidation preußischer Staatsanleihen, vom 19. De- 
zember 1869 (Gesetzsamml. S. 1197), des Gesetzes, betreffend die Tilgung von 
Staatsschulden, vom 8. März 1597 und des Gesetzes, betreffend die Bildung eines 
Ausgleichsfonds für die Eisenbahnverwaltung, vom 3. Mai 1903 zur Anwendung. 

$ 3. Mit der Ausführung dieses Gesetzes werden, unbeschadet der Vorschrift 
des $ 2, der Finanzminister und der Minister für Handel und Gewerbe beauftragt. 

$ 4. Dieses Gesetz tritt mit dem Tage seiner Verkündigung in Kraft. 


Gesetz, betr. die Bereitstellung von Geldmitteln für die nach dem 
Gesetze vom 12. August 1905 durchzuführenden Maßnahmen zur Rege- 
lung der Hochwasser-, Deich- und Vorflutverhältnisse an der oberen 
und mittleren Oder. Vom 10. Juli 1906, S. 373. 


§ 1. Die Staatsregierung wird ermächtigt, zur Ausführung des Gesetzes, be- 
treffend Maßnahmen zur Regelung der Hochwasser-, Deich- und Vorflutverhält- 
nisse an der oberen und mittleren Oder, zunächst die Summe von 15000000 
(fünfzehn Mill.) M. zu verwenden. Abs. 2. Hiervon darf für Vorarbeiten, für den 
alsbald notwendigen Grunderwerb und für sonstige unaufschiebbare vorbereitende 
Arbeiten ein Betrag bis zu 5000000 (fünf Mill.) M. schon vor Erledigung des in 
den $$ 1, 6 und 7 jenes Gesetzes vorgesehenen Verfahrens vorschußweise veraus- 
gabt werden. 

$ 2. Der Finanzminister wird ermächtigt, zur Deckung der in $ 1 erwähnten 
Kosten, soweit die Mittel hierzu nicht durch den Staatshaushaltsetat bereitgestellt 
werden, im Wege der Anleihe eine entsprechende Anzahl von Staatsschuldver- 
schreibungen auszugeben. Abs. 2. An Stelle der Schuldverschreibungen können 
vorübergehend Schatzanweisungen ausgegeben werden. Der Fälligkeitstermin ist 
in den Schatzanweisungen anzugeben. Der Finanzminister wird ermächtigt, die 
Mittel zur Einlösung dieser Schatzanweisungen durch Ausgabe von neuen Schatz- 
anweisungen und von Schuldverschreibungen in dem erforderlichen Nennbetrage 
zu beschaffen. Abs. 3. Die Schatzanweisungen können wiederholt ausgegeben 
werden. Schatzanweisungen oder Schuldverschreibungen, die zur Einlösung von 
fällig werdenden Schatzanweisungen bestimmt sind, hat die Hauptverwaltung der 
Staatsschulden auf Anordnung des Finanzministers 14 Tage vor dem Fälligkeits- 
termin zur Verfügung zu halten. Die Verzinsung der neuen Schuldpapiere darf 
nicht vor dem Zeitpunkte beginnen, mit dem die Verzinsung der einzulösenden 
Schatzanweisungen aufhört. Abs. 4. Wann, durch welche Stelle und in welchen 
Beträgen, zu welchem Zinsfuße, zu welchen Bedingungen der Kündigung und zu 
welchen Kursen die Schatzanweisungen und die Schuldverschreibungen verausgabt 
werden sollen, bestimmt der Finanzminister. Abs. 5. Im übrigen kommen wegen 
Verwaltung und Tilgung der Anleihe sowie wegen Verjährung der Zinsen die Vor- 
schriften des Gesetzes vom 19. Dezember 1800 (Gesetzsamml. S. 1197), des Ge- 
setzes vom 8. März 1897 (Gesetzsamnil. S. 43) und des Gesetzes vom 3. Mai 1903 
(Gesetzsamml. S. 155) zur Anwendung. 

$ 3% Die Ausführung dieses Gesetzes erfolgt durch die zuständigen Minister. 


(Fortsetzung folgt.) 


Miszellen. 523 


zur Entnationalisierung ist und kann mit Sicherheit annehmen, daß die- 
jenigen Personen, welche aus äußeren Rücksichten den Mut nicht haben, 
ihre wahre Muttersprache anzugeben, noch viel weniger die Kraft be- 
sitzen werden, ihre Kinder im Gegensatz zu der herrschenden Nationa- 
lität zu erziehen. 

Mit weit rascheren Schritten aber noch, als diese Zahlen vermuten 
lassen, ist das deutsche Element in der Landeshauptstadt von dem 
Magyarentum verdrängt worden. Hier sind die Deutschen in den letzten 
Dezennien nicht nur relativ, sondern auch der absoluten Zahl nach 


zurückgegangen. 
Unter den Einwohnern von Budapest befanden sich !): 
sti 
Ungarn Deutsche Slovaken es 2) 
im Jahre absol. Proz. absol. Proz. absol. Proz. absol. Proz. 
1881 201776 56,7 122 155 34,3 21871 6, 9880 2,9 
1891 326533 67,1 115 573 23,7 27871 5,6 17490 3,6 
1901 559965 79,6 98515 14,0 24091 3,4 20560 2,9 


Während noch wenige Jahre nach der Vereinigung der beiden 
Städte Ofen und Pest das deutsche Element ein starkes Drittel der 
Bevölkerung ausmachte, ist es neuerdings auf nur 14 Proz. zurück- 
gegangen. 

Der Rückgang der Bedeutung des Deutschtums zeigt sich aber nicht 
nur in diesen Zahlen, sondern auch deutlich, wenn man die Sprachen- 
kenntnisse der Bevölkerung von Budapest betrachtet. 

Von der Gesamtbevölkerung der Hauptstadt konnten sprechen: 


im Jahre ungarisch deutsch sonstige Sprachen 
1851 250 257 264 459 52 270 
1891 403 941 313 040 66 901 
1901 643 655 387 276 169 133 

beherrschten nur eine Sprache und zwar: 

im Jahre ungarisch deutsch sonstige Sprachen 
1881 63 834 71279 8315 
1891 146 144 58 658 11 139 
1901 271 110 30 508 14 484 


1881 war also die Zahl derjenigen Personen, welche überhaupt 
deutsch sprechen konnten, noch weit größer als die Zahl der Personen, 
welche die ungarische Sprache verstanden, und ebenso die Zahl der 
Personen, welche lediglich deutsch sprachen, weit größer als die Zahl 
derjenigen, die nur die ungarische Sprache beherrschten. Die deutsche 
Sprache nahm also eine führende Stellung ein. Und zwanzig Jahre 
später! Die Kenntnis der deutschen Sprache besitzen zwar 1901 der 
absoluten Zahl nach mehr Personen als 1881, im Verhältnis zur Ge- 
samtzahl aber und im Verhältnis zur Zahl derjenigen Personen, welche 
die ungarische Sprache beherrschen, unvergleichlich weniger. Nur 


1) Statistisches Jahrbuch der Haupt- und Residenzstadt Budapest. 
2) Einschließlich der in Budapest lebenden Ausländer, 


524 Miszellen. 


deutsch sprachen überhaupt nur mehr 30563 Personen. Ungarisch ist 
die absolut führende Sprache geworden, ihre Kenntnis unerläßlich. 

Lassen schon diese Zahlen die Zukunft des Deutschtums in Buda- 
pest in einem trüben Lichte erscheinen, so verschlimmern sich die Aus- 
sichten noch, wenn man die Verhältnisse der Nationalitäten in den ein- 
zelnen Altersklassen betrachtet. Ausschlaggebend für Erhaltung und 
Entwickelung eines Volkstums im kleinen wie im großen ist der eigne 
Nachwuchs. Betrachten wir aber die Verhältnisse, die bei den Kindern 
der Deutschen herrschen, so sehen wir deutlich, daß unter diesen die 
Magyarisierung noch weit größere Fortschritte gemacht hat als unter 
der Gesamtheit. 


Von je 100 Personen in dem in der Vorspalte bezeichneten 
Alter waren 


Altersklasse Ungarn Deutsche 

im Jahre im Jahre 
1881 | 1891 I 1901 1881 | 1891 1901 
bis zu 5 Jahren 65,4 | 73,9 88,3 30,4 20,7 a 
5—10 Jahre 65,2 75,3 89,3 31,1 20,3 7,8 
10—15 „ 66,8 77,2 88,3 28,9 18,7 8,7 
15—20 „5 64,1 74,0 84.8 29,1 19,8 10,4 
20—25 „ 60,7 74,0 81,7 29,7 19,5 11,2 
25-30 „ 57,8 71,2 79,8 31,5 18,6 11,9 
30—35 „ 53,9 68,2 78,7 34,7 19,7 12,4 
35—40 ,„ 52,2 65,5 76,4 35,5 22,3 15,1 
40—45 ,„ 48,6 63,4 74,1 39,0 25,8 18,0 
45—50 , 47,8 59,4 71,0 40,4 28,8 22,0 
50—55 „ 42,7 56,4 66,4 44,7 31,5 25,9 
55—60 ” 41,7 54,1 63,3 46,9 33,4 | 28,8 
über 60 ,„ 39,3 50,6 52,6 51,3 37,1 39,8 
unbekannt 70,2 45,6 45,4 29,8 43,5 9,2 
Zusammen | 56,7 | 671 | 796 | 343 | 233 | 140 


Mit dem Absterben der älteren Generationen geht das Deutschtum 
rapid zurück; in den jüngsten Altersklassen herrscht das Magyarentum 
unbeschränkt. Während 1901 das deutsche Element noch mit 14 Proz. 
an der Gesamtheit der Bevölkerung partipiziert, hat es den Boden in 
den jüngsten Altersklassen fast völlig verloren. Waren 1881 noch mehr 
als 30 Proz. der Kinder im Alter unter 5 Jahren deutsche, so stellt 
neuerdings das deutsche Element nur noch 7,7 Proz. zu der untersten 
Altersklasse. 

Deutlich tritt das Verschwinden des Deutschtums in dem Nachwuchs 
auch in der Schulstatistik 1) zu Tage. 

Unter den Volksschülern waren 1899/00 der Muttersprache nach: 


Ungarn 43 972 = 90,0 Proz. 
Deutsche 2210 = 86 5; 
Slowaken 44808 5, 
Sonstige 234 = Ób p 


1) Statistik des Unterrichtswesens der Hauptstadt Budapest für die Jahre 1895/96 
bis 1899/00. 


Miszellen. 525 


Das ungarische Element ist also unter den Volksschülern um über 
10 Proz. stärker vertreten als im Kreise der Gesamtbevölkerung, das 
deutsche Element — entsprechend seinem Altersaufbau — ca. 6 Proz. 
schwächer. 

Kann man auch annehmen, daß bei der Schulstatistik in dem 
Bestreben, die Fortschritte der Magyarisierung recht deutlich hervor- 
treten zu lassen, alle Schüler, welche überhaupt ungarisch sprechen, als 
Magyaren gezählt worden sind, so bleibt doch immerhin die Tatsache 
bestehen, daß die ungarische Sprache in den Kreisen der Schulkinder 
eino unverhältnismäßig starke Verbreitung gefunden hat. Auch dieses 
Faktum hat sich im Laufe weniger Dezennien herausgebildet. 

Der Nationalität nach wurden Volksschüler bezeichnet als 


Ungarn Deutsche 
ih absolute Proz sder absolute Fror: der 
Zeitraum Zahl Gesamtzahl der Zahl Gesamtzahl der 

2 Volksschüler ie Volksschüler 
1873—1875 18 207 ` 63,0 Proz. 10 231 35,4 Proz. 
1875 —1880 65 444 CH 23 581 26,8. © 
1880—1885 89 994 78, 5 23 702 20,6 4i 
1885—1890 114 685 Sr 21 301 15,4 y 
1890—1895 152 553 89:3; 16 508 G a 
1895 —1900 201 801 9i n 15 986 Tier“ i 


In den letzten Jahren des Quinquenniums 1895 bis 1900 ist aller- 
dings eine kleine Verschiebung in der Entwickelung bemerkbar. Es 
wurden nämlich nachgewiesen 


Ungarn Deutsche 

: i Proz. der Proz. der 
tes we Gesamtzahl der ne Gesamtzahl der 

a Volksschüler Si Volksschüler 
1895 36 145 92,2 Proz. 2697 6,9 Proz. 
1896 38 192 9250: is j 2934 vA T 
1897 41069 928 y 2684 61 +» 
1898 42 423 9I, » 3456 74 m 
1899 43 972 90,0 » 4215 8 a 


Dieses unbedeutende Anwachsen der Zahl der deutschen Volks- 
schulkinder in den letzten angefügten Jahren ändert indessen keineswegs 
die gesamte Entwicklungstendenz, die dahin fübrt, die deutschen Schul- 
kinder zu magyarisieren. Am deutlichsten tritt dies in Erscheinung, 
wenn man den Zustand im Anfangsjahr der oben angeführten Epoche 
vergleicht mit dem im Jahre 1899. 1873 — zur Zeit der Vereinigung 
der beiden Städte — konnten nur 8324 Schulkinder (61 Proz.) als 
Ungarn eingeschrieben werden, während noch 5904 (37 Proz.) Schulkinder 
deutscher Zunge gezählt wurden. 1899 hat sich die Zahl der ungarischen 
Schüler auf 43 972 (90 Proz.) vermehrt, wogegen die Anzahl der deutsch- 
sprechenden auf 4215 (8,6 Proz.) gesunken ist. 

.  Selbstredend sind die Zahlenverhältnisse der Nationalitäten nicht 
ın allen Stadtteilen gleich. Die ehemalig deutsche Ofener Seite zeigt 
a heute noch unter den Schulkindern einen beträchtlichen Einschlag 
eutscher Elemente, wohingegen die Pester Seite fast ausschließlich 
ungarische Schulkinder aufweist. Während in Ofen 1899 nur 68,0 Proz. 


we 


526 Miszellen. 


der Volksschüler als Ungarn eingeschrieben werden konnten, waren auf 
der Pester Seite unter den Schülern 95 Proz. ungarischer Zunge. Dort 
fanden sich noch 30 Proz. deutsche Schulkinder, hier nurmehr 3 Proz. 

Wenn auf dem Gesamtgebiet der ganzen Stadt seit der Vereinigung 
der beiden Städte der Anteil der ungarischen Schüler von 61 Proz. auf 
90 Proz. gestiegen ist, so ist das allerdings zum Teil der sehr be- 
deutenden Zunahme der eigentlichen ungarischen Bevölkerung in den 
Pester Bezirken zuzuschreiben, gleichzeitig aber den großartigen Erfolgen 
der ungarischen Schulen in der Magyarisierung der deutschen Schul- 
kinder. In nichts zeigt sich dieser unmittelbare Erfolg besser als in 
der Tatsache, daß in den Schulen von Stufe zu Stufe das ungarische 
Element zunimmt, das deutsche verliert. Während in den untersten 
Klassen der Volksschulen 1899 erst 87 Proz. der Schulkinder als Ungarn 
eingeschrieben werden konnten, befanden sich unter den Schülern der 
IV. Klasse bereits 93 Proz. Ungarn, d. h. Schüler, als deren Mutter- 
sprache ungarisch angegeben wurde. Den Einfluß dieser Erfolge auf 
die Gesamtheit des Deutschtums in Ungarns Hauptstadt haben wir 
bereits oben gesehen. Wenige Dezennien haben genügt, um die deutsche 
Sprache aus ihrer fast herrschenden Stellung völlig zu verdrängen, das 
deutsche Element zu einem immer mehr verschwindenden Bruchteil der 
Gesamtbevölkerung zu machen. 


Miszellen. 527 


XII. 
Josef v. Körösy. 


Von Dr. Julius Bunzel. 


Am 25. Juni vorigen Jahres ist in Pest einer der bekanntesten 
Statistiker Ungarns gestorben: Dr. Josef v. Körösy. Nach langem, 
arbeitsreichem Leben, das er vor allem in den Dienst seiner Vaterstadt 
gestellt hatte. 

Am 20. April 1844 in Pest als Sohn jüdischer Eltern geboren, 
war er nach Beendigung seiner Studien allerdings zunächst als Beamter 


bei einer Assekuranzgesellschaft tätig gewesen und hatte sich — nach- 
dem er auf Grund seiner schriftstellerischen Arbeiten in den statisti- 
schen Landesrat berufen worden war — auf dem Gebiete der Volks- 


wirtschaftslehre und Statistik, anfangs nur journalistisch, betätigt. 

Als jedoch am Ende des Jahres 1869 die Stadt Pest die Errichtung 
eines städtischen statistischen Bureaus beschlossen hatte, war er — 
über Vorschlag des Nationalökonomen Professor Dr. Julius Kautz und 
des Stadtrepräsentanten Szeher — am 2. Dezember 1869 einstimmig 
zum Direktor dieser Bureaus gewählt worden und — kaum 26 Jahre 
alt — in den Dienst der Stadt getreten, in dem er sich dann mehr als 
ein Menschenalter — bis an sein Lebensende — betätigte. 

Anfangs bestand freilich das neue Amt nur aus seinem Direktor, 
der sofort — ehe er noch an die ÖOrganisierung des Bureaus gehen 
konnte — das Material der Volkszählung vom Jahre 1870 allein (ledig- 
lich mit Hilfe von Diurnisten) aufarbeiten mußte. Erst Ende des Jahres 
1870 wurden 3 Adjunkten ernannt, mit denen aber die sich immer 
mehr häufenden Arbeiten auch nicht bewältigt werden konnten, da es 
bei der geringen Dotation dieser Stellen (1000, 800 und 700 fl.) — wie 
Thirring in seiner Geschichte des Bureaus überzeugend darlegt — „nahe- 
zu unmöglich war, für diese Stellen wissenschaftlich gebildete, qualifizierte 
Kräfte zu gewinnen. Der geringe Personalstand, der das Avancement 
fast gänzlich ausschloß, verursachte, daß die Mitglieder des Amtes, so- 
bald sich eine Gelegenheit zur Besserung ihrer Lage bot, das Amt ver- 
ließen. So wechselten die Beamten fortwährend. Die ausgeschriebenen 
Konkurse blieben des öfteren erfolglos, weil, bei der geforderten Qua- 
lifikation, sich niemand für so geringes Gehalt meldete. So standen 
einzelne Stellen oft jahrelang unbesetzt, und die fehlende Arbeitskraft 
mußte durch — fortwährend wechselnde — Diurnisten ersetzt werden. 


528 Miszellen. 


Diese Fluktuation des Personalstandes wirkte oft hindernd, wenn nicht 
lähmend, auf die Tätigkeit des Bureaus und machte es unmöglich, einen 
wissenschaftlich gebildeten Nachwuchs heranzuziehen“, Noch ärger 
wurden die Dinge dann, als — nach der Vereinigung Pests mit Ofen 
und Altofen — im Jahre 1873 statt einer Adjunktenstelle, eine (bei 
dem geringen Personalstande zwecklose und daher oft unbesetzte) Prak- 
tikantenstelle systemisiert wurde, so daß das Amt, das nunmehr das 
ganze, für das Gebiet der drei Städte gesammelte Material bearbeiten 
sollte, weniger Kräfte zur Verfügung hatte als das bis dahin nur für 
Pest bestimmte Bureau gehabt hatte. Erst im Jahre 1874 — nach 
vielen Vorstellungen Körösys — wurde die Anstellung — zweier Diur- 
nisten bewilligt. Eine weitere Stellenvermehrung glaubte das Ministerium 
des Innern (Koloman Tisza!) ablehnen zu müssen. Trotz mehrfacher zu- 
stimmender Berichte der Kommune und trotzdem Körösy erklärt hatte, 
er sehe sich gezwungen, sich mit dem Gedanken des Scheidens von dem 
ihm lieb gewordenen Posten zu befreunden, da es ihm unter solchen 
Verhältnissen unmöglich sei, das Bureau auf dem bisherigen Niveau zu 
erhalten. Dem Ministerium, das früher (bis zum Jahre 1872) dem Amte 
sogar eine staatliche Subvention von 2000 K jährlich gewährt batte, 
war es eben plötzlich eingefallen, daß es, mit Rücksicht auf die be- 
deutenden Personalkosten der städtischen Verwaltung, die Reorganisier- 
ung nicht genehmigen könne. „Die Mängel, die in den Resultaten der 
bisherigen Tätigkeit des Bureaus zu erkennen sind, könnten“ — meinte 
das Ministerium — „am besten dadurch behoben werden, wenn sich 
das statistische Amt, seiner eigentlichen Aufgabe entsprechend, auf jene 
praktischen Arbeiten und die Beschaffung jenes Materials beschränken 
würde, welche zur rationellen Einrichtung der Administration und 
Weiterentwicklung des munizipalen Lebens notwendig erscheinen“. Das 
war wenigstens deutlich und zeigte mit aller wünschenswerten Klarheit, 
wie unbeliebt sich Körösy durch seine (namentlich in Ungarn ganz un- 
gewohnte) freimütige Sprache höheren Ortes gemacht hatte. Daß er in 
seinem Werke „Die Sterblichkeit in der Stadt Pest in den Jahren 1872 
und 1873 und deren Ursachen“ — noch dazu in deutscher, also in einer 
auch im Auslande verständlichen Sprache — darauf hingewiesen hatte, 
daß „die große Sterblichkeit der in überfüllten finsteren und schmutzigen 
Zimmern wohnenden Personen, der in feuchten Kellerlokalitäten zu- 
sammengedrängten Tagelöhner und Arbeiter... die Höhe des Sterb- 
lichkeitskoeffizienten in der Hauptstadt verursache“, daß daher nur eine 
gründliche Verbesserung der Wohnungsverhältnisse und der sanitären 
Zustände überhaupt hier Abhilfe schaffen könne, erschien geradezu un- 
verzeihlich und machte die ablehnende Haltung des Ministeriums gegen 
die Förderung eines unter solch „gefährlicher“ Leitung stehenden Amtes 
begreiflich, wenn auch nicht gerade verzeihlich. 

Die Folge dieser Haltung war dann natürlich der Austritt der besten 
Kräfte und damit eine bedeutende Einschränkung der bisherigen wissen- 
schaftlichen Arbeiten des Amtes, sowie die Autlassung einzelner Zweige 
der Kommunalstatistik. Erst im Jahre 1893 — kurz bevor der 
VIII. internationale hygienische und demographische Kongreß in Pest 


Miszellen., 529 


zusammentreten sollte — wurde mit Genehmigung des Ministeriums 
des Innern (Karl Hieronymi) eine besser dotierte Vizedirektorstelle neu 
systemisiert und damit wenigstens dem allerdrückendsten Bedürfnisse 
abgehol fen. 

Daß trotz dieser so beschränkten Verhältnisse so viel geleistet 
werden konnte, ist gewiß vor allem, ja fast ausschließlich der hervor- 
ragenden Arbeitskraft, sowie dem unermüdlichen Arbeitseifer Körösys 
zuzuschreiben, der — außer den 33 Jahrgängen der wöchentlichen und 
monatlichen periodischen Veröffentlichungen des Amtes — 47 Bände 
gesonderter Publikationen über verschiedene Gebiete der städtischen 
Statistik selbst herausgab: 14 Bände über die Volkszählungen der 
Jahre 1857, 1870, 1881, 1886, 1891, 1896 und 1901, 11 Bände über 
die Sterblichkeit in den Jahreu 1872 bis 1904, 6 Bände über die Bau- 
tätigkeit in den Jahren 1870—1900, 7 Bände über das Unterrichts- 
wesen in den Jahren 1871/2 bis 1899/00, 3 Bände über die Einkommen- 
und Hauszinssteuern in den Jahren 1870—1874, einen Band des sta- 
tistischen Jahrbuches (im Jahre 1873), 2 Bände über die Aktiengesell- 
schaften in den Jahren 1874—1898, einen Band über das Armenwesen 
in den Jahren 1900—1902, einen Band über „Infektionskrankheiten 
und Witterung in den Jahren 1881—1891“ und einen Band über die 
Natalitäts- und Mortalitätsverhältnisse ungarischer Städte in den Jahren 
1878—1895 (letzteren unter Mitwirkung des vortrefflichen Vizedirektors 
des Amtes Prof. Dr. Gustav T'hiring). 

Und all diese Werke waren nicht bloß Ansammlungen statistischer 
Daten, „schätzenswertes Material“. Aus jedem der Bücher sprach viel- 
mehr die Persönlichkeit Körösys, sein scharfer Geist, sein warmes Em- 
pfinden, sein offener Freimut. So führte seine Schilderung der Ver- 
hältnisse immer zu ihrer Verbesserung. Die Errichtung des ersten 
Epidemiespitales im Jahre 1886, sowie die Einführung des Meldezwanges, 
der obligatorischen Separierung, wie der behördlichen Desinfektion bei 
infektiösen Krankheiten (1879) sind die Frucht seiner Veröffentlichungen 
über die sanitären Zustände, die sich seither derart besserten, daß 
die Sterblichkeit von 41,7 °%/,, im Durchschnitte der Jahre 1874—1875 
auf 19,3°/ im Jahre 1906 sank. Die große Enquete zur Hebung des 
hauptstädtischen Handels (die zur Reform der Handelsgebühren und der 
Errichtung von Entrepots führte) war gleichfalls über Körösys Anregung 
zusammenzetreten. Auch leitete er die Industrieaufnahmen in den Jahren 
1872, 1853 und 1885, regte die wiederholten Konskriptionen der schul- 
pflichtigen Kinder an, erstattete Gutachten über die administrative Ein- 
teilung der Stadt, über die Errichtung einer städtischen Brandschaden- 

kasse (1888), über die Preisnotierung der Lebensmittel und Viehmarkt- 
preise (1888), über die Regelung des Schulgeldes (1892), über die 
Errichtung einer administrativen Bibliothek (1893), über die Besserung 
der Wohnungsverhältnisse, über die Verschleuderung der städtischen 
Grundstücke, über die Steuerreformen, kurz über nahezu alle Fragen 
des kommunalen Lebens. Und so begreiflich es in Pest erscheinen 
mußte, „daß eine derartige praktische Handhabung der Statistik dem 
Bureau auch viele Unannehmlichkeiten zuziehen mußte“, so begreiflich 
Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIII). 34 


530 Miszellen. 


ist es, daß die Arbeiten dieses Bureaus in der wissenschaftlichen Welt 
die regste Beachtung und höchste Anerkennung fanden. 

Schon auf der Wiener Weltausstellung vom Jahre 1873 erhielten 
die Arbeiten des Bureaus die Medaille erster Klasse (Fortschrittsmedaille). 
Und auch später wurden sie wiederholt mit ersten Auszeichnungen be- 
dacht: so in Paris, Pest und an anderen Orten. Ebenso wurden die 
Einrichtungen des Bureaus in den Fachkongressen als vorbildlich an- 
erkannt und namentlich die Zensus- nnd Mortalitätsarbeiten Körösys 
als mustergültig bezeichnet. Der VIII. internationale statistische Kongreß 
iu Petersburg (1873) betraute das Bureau mit der Redaktion einer inter- 
nationalen Städtestatistik, von der in den Jahren 1876 und 1877 zwei 
Bände: „Mouvement de la population“ (enthaltend die Daten von 38 
Städten) und „Statistique des finances“ (enthaltend die Daten von 26 
Städten) erschienen, worauf vom Jahre 1877 bis zum Jahre 1886 all- 
jährlich das „Bulletin annuel des finances des grandes villees“, das eine 
vergleichende Finanzstatistik der Großstädte lieferte, von Körösy redi- 
giert wurde, bis er, mit anderweitigen Arbeiten überhäuft, die Redaktion 
dieses Bulletins niederlegte. Ueber Auftrag des im Jahre 1875 in Pest 
abgehaltenen IX. internationalen statistischen Kongresses wurde von Körösy 
überdies vom Jahre 1878 bis 1895 das „Bulletin hebdomadaire de 
statistique internationale (Villes du sud — est de l’Europe)“, das die 
auf die Volksbewegung bezüglichen Daten der größeren Städte Süd- 
europas enthielt, herausgegeben. Einen weiteren, die Frage der Schaffung 
einer richtigen Mortalitätsstatistik betreffenden Auftrag hatte das Bureau 
schon 1874 durch die in Stockholm tagende Permanenz-Kommission des 
internationalen statistischen Kongresses — deren Mitglied Körösy seit 
dem Jahre 1872 war — erhalten. Ueberhaupt vertrat Körösy — der auch 
schon dnrch seine Sprachenkenntnisse hiezu vortrefflich geeignet war 
— das Bureau auf fast allen statistischen, hygienischen und demo- 
graphischen Kongressen und spielte auf allen stets eine hervorragende 
Rolle. 

Denn seine Bedeutung war in Fachkreisen bald allgemein aner- 
kannt. Namentlich auf dem weiten Gebiete der Demographie galt 
und gilt er als eine der bedeutendsten Autoritäten. Die Grenzen 
dieses Gebietes hatte er schon im Jahre 1882 in einer in Genf er- 
schienenen Schrift „La place scientifique et les limites de la Demo- 
graphie“ abgesteckt. Zehn Jahre später (im 2. Jahrgange des statisti- 
schen) Archives veröffentlichte er dann einen Aufsatz über: „Die wissen- 
schaftliche Stellung und Grenzen der Demologie“, in dem seine Ansichten 
über den Unterschied zwischen der statistischen Methode und der Demo- 
logie noch prägnanter zum Ausdrucke kamen. Im gleichen Jahre (1892) 
gab Körösy — nachdem bereits im Jahre 1889 die „Demologischen 
Studien“ in magyarischer Sprache erschienen waren — bei Puttkammer 
& Mühlbrecht auch seine „Demologischen Beiträge“ heraus, in denen 
Fragen der Mortalitäts- wie der Fruchtbarkeits- und Geburtenstatistik 
behandelt wurden. Die Fruchtbarkeits- und Geburten- 
statistik verdankt ihm außerdem eine Reihe überaus interessanter 
Untersuchungen über den Einfluß des Alters der Eltern auf die Frucht- 


Miszellen. 531 


barkeit der Ehen. Schon dem 1891 in London abgehaltenen VII. inter- 
nationalen hygienischen und demographischen Kongresse hatte er — 
nachdem seine „Vorschläge zur Wiedereinführung der Pester Natalitäts- 
statistik“ bereits in magyarischer Sprache erschienen waren — eine be- 
rechtigtes Aufsehen erregende Arbeit „On the influence of the age of 
parents on the vitality of their children“ vorgelegt und ein Jahr später 
dieses Thema (in diesen Jahrbüchern III. F. 4. Band) auch in deutscher 
Sprache behandelt. Im Jahre 1893 erschienen dann (in magyarischer 
Sprache) die ersten Pester Natalitätstabellen; 1896 wurden solche Tafeln 
in französischer Sprache dem VIII. interationalen demographischen 
Kongresse vorgelegt. Damals waren die auf Grund solcher Tabellen 
verfaßten Arbeiten Körösys über ‚Maß und Gesetz der ehelichen Frucht- 
barkeit“ — die in einer ungarischen gelehrten Gesellschaft als „unsitt- 
lich“ bezeichnet worden waren — schon in deutscher, französischer und 
englischer Sprache erschienen: deutsch in der Wiener medizinischen 
Wochenschrift 1894, französisch in der Revue d’&conomie politique 1895 
und englisch in den Philosophical transactions of the Royal society of 
London 1896. Später veröffentlichte Körösy in magyarischer Sprache 
weitere „Daten zur Fruchtbarkeit der hauptstädtischen Ehen im Jahre 
1898“, sodann — im Jahre 1900 — (im 12. Bande des Bulletin de l’Institut 
international de Statistique) einen „Beitrag zur einheitlichen Aufarbeitung 
der Geburtsstatistik*, 1903 (im 13. Bande des Bulletins) „Weitere 
Beiträge zur Statistik der ehelichen Fruchtbarkeit“, sowie eine Arbeit 
„Sur la fécondité des mariages à Budapest“ und endlich 1905 (in Berlin) 
„Neue Beiträge zur Sexualproportion der Geburten“. Die in dem Be- 
richte aus dem Jahre 1903 erschienenen Tabellen, die sich auf die Jahre 
1897—1900 erstrecken, sind besonders interessant, da eine solche nach 
dem Alter der Eltern fortschreitende Fruchtbarkeitsstatistik noch nirgends 
versucht worden war und im ganzen 9757 Ehen mit 26952 Geburten 
beobachtet werden konnten. 

Auch auf dem Gebiete der Krankheitsstatistik entfaltete 
Körösy eine äußerst fruchtbare Tätigkeit. Zehn Aufsätze befassen sich 
allen mit der Impfstatistik. Drei von diesen sind in magyarischer, 
die übrigen in deutscher Sprache abgefaßt. Am wichtigsten sind die dem 
Wiener hygienischen und demographischen Kongresse im Jahre 1887 
vorgelegten „Neuen Betrachtungen über. den Einfluß der Schutzpocken- 
impfung auf Morbidität und Mortalität“, ferner die bei Puttkammer & 
Mühlbrecht (Berlin), in den Jahren 1890 und 1891 erschienenen Schriften 
„Kritik der Vaccinationsstatistik und neue Beiträge zur Frage des Impf- 
schutzes“ sowie „Neue Beiträge zur Frage des Impfschutzes“ und endlich 
die 1896 in der Pester medizinisch-chirurgischen Presse erschienenen 
„Statistischen Beweise des Impfschutzes“. — In all diesen Arbeiten trat 
Körösy — auf Grund der von ihm in zehn ungarischen Städten ge- 
sammelten und in überaus interessanter Weise verarbeiteten Daten — 
energisch für die obligatorische Impfung ein. Ja, er erhob sogar eine 
gerichtliche Klage gegen einen Arzt, der eine unrichtige Statistik über 
die Pockenerkrankungen der Angestellten der k. k. priv. österr. Staats- 
eisenbahngesellschaft zusammengestellt hatte, um gegen die Impfung zu 


34* 


532 Miszellen. 


Felde zu ziehen. — Die Ursachen der infektiösen Krankheiten 
im allgemeinen behandelte eine weitere Reihe von Arbeiten. So 
untersuchte eine im Jahre 1884 bei Enke in Stuttgart erschienene, sehr 
beachtenswerte Schrift den „Einfluß von Wohlhabenheit und Wohnver- 
hältnissen auf Sterblichkeit und Todesursachen mit besonderer Berück- 
sichtigung der infektiösen Krankheiten“, ein im Jahre 1894 in der Zeit- 
schritt für Hygiene und Infektionskrankheiten erschienener Aufsatz den 
„Zusammenhang zwischen Armut und infektiösen Krankheiten“, eine in 
den „Annales d’hygiene publique et de médecine légale“ im Jahre 15898 
erschienene höchst originelle Arbeit „L'influence des conditions atmo- 
sphöriques sur l’&closion des maladies infectieuses“ und ein Bericht für 
den im Jahre 1899 in Moskau abgehaltenen internationalen medizinischen 
Kongreß „L'influence de la chaleur et de l’humidit& atmosphérique 
sur l’apparition des maladies infectieuses“. Drei Arbeiten (ein dem 
Pester VIII. hygienischen und demographischen Kongresse im Jahre 
1896 vorgelegter Bericht, ein 1898 in den Berliner Therapeutischen 
Monatsheften erschienener Aufsatz „Zur Serumstatistik“ und ein im 
Journal of State Medicine 1900, sowie in einer magyarischen Zeitschrift 
erschienener Aufsatz) befassen sich speziell mit der Diphtherie, ein 
dem X. medizinischen Kongresse in Berlin (1891) vorgelegter Bericht 
untersucht den „Einfluß des Genusses von unfiltriertem Wasser auf das 
Auftreten des Typhus in Budapest“ und dem englischen Tuberkulosen- 
kongresse wurden 1901 „Some observations on the influence of social 
standing and food on the occurence of phthisis“ mitgeteilt. 
Geradezu grundlegend waren aber Körösys Arbeiten auf dem Gebiete 
der Sterblichkeitsstatistik. Nachdem 1872 in der deutschen 
Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege sein Aufsatz über 
„Die Organisation der Mortalitätsstatistik* und ein Jahr später 
(bei Gerold in Wien) seine — höchst beachtenswerte — Schrift „Plan 
einer Mortalitätsstatistik für Großstädte‘ erschienen war, untersuchte er 
in einer größeren Anzahl von Arbeiten die Methode der Sterblich- 
keitsstatistik und deckte einen fundamentalen Irrtum auf, der sich in 
den Ueberlebenstabellen verschiedener Länder fand, so daß die Asse- 
kuranzgesellschaften erst aus den Werken Körösys die heute allgemein 
gültige moderne Grundlage zur Berechnung ihrer Tabellen gewannen. 
Die wichtigsten Schriften Körösys auf diesem Gebiete sind: ein dem 
Berliner königl. statistischen Bureau 1874 überreichter Aufsatz „Welche 
Unterlagen hat die Statistik zu beschaffen, um richtige Mortalitätstafeln 
zu gewinnen?“ (dem im gleichen Jahre ein in magyarischer Sprache 
abgefaßter Aufsatz über die „Berechnung der menschlichen Lebensdauer 
und Sterblichkeit“ folgte), ferner die in der Zeitschrift des Königl. preußi- 
schen statistischen Bureaus 1876 veröffentlichten „Bemerkungen zur 
Berechnung des Durchschnittsalters® und der im gleichen Jahre in der 
Wiener Neuen Freien Presse erschienene Aufsatz „Ueber die Bedeu- 
tung der Sterblichkeits-Koefficienten namentlich in Großstädten‘ (welchen 
Arbeiten ebenfalls im Jahre 1876 die in Berlin publizierten „Mitteilungen 
über individuale Mortalitätsbeobachtungen“ vorausgegangen waren und 
denen 1878 in magyarischer Sprache geschriebene „Bemerkungen zur 


Miszellen. 533 


Mortalitätsstatistik“ folgten) sowie ein 1893 in diesen Jahrbüchern er- 
schienener sehr anregender Aufsatz „Ueber die Berechnung eines inter- 
nationalen Sterblichkeitsmaßes“. Speziell die Todesursachen be- 
handelte eine 1877 in den Annales de Demographie erschienene Arbeit 
„De l'influence de habitation sur les causes des décès et sur la durée 
de la vie“, der 1885 in der Wiener medizinischen Wochenschrift ab- 
gedruckte — namentlich auch methodologisch höchst wichtige — Aufsatz 
über „Armut und Todesursachen“, sowie die dem internationalen Aerzte- 
kongresse in Moskau (1899) vorgelegten Berichte: „L’amälioration de 
la mortalité de la ville de Budapest et l'influence des mesures pro- 
phylactiques contre les &pidemies“ und „L’influence de la confession sur 
les causes des décès“. In magyarischer Sprache erschien ferner (1888) 
ein Aufsatz über „Neuerungen bezüglich der Beobachtung von Selbst- 
morden und gewaltsamen Todesfällen“. Mit der „Internationalen Nomen- 
klatur der Todesursachen“ endlich befaßte sich eine 1899 bei Puttkammer 
& Mühlbrecht in Berlin publizierte Schrift in der es — sehr mit 
Recht — für mißlich erklärt wurde, für die Zwecke der Mortalitäts- 
statistik dasselbe Krankheitsschema anzuwenden, wie für die Morbiditäts- 
statistik und in der der Vorschlag auftauchte, „die Krankheiten nach 
dem (ohnehin angewendeten) Haupteinteilungsprinzipe der Organe zu 
klassifizieren — was notwendigerweise auch die Aufstellung einer Gruppe 
für allgemeine Erkrankungen involviert — und die an verschiedenen 
Organen sich zeigenden Krankheiten außerhalb des Rahmens der Klassi- 
tikation — nach Epidemien, Krebsen und Tuberkulosen zusammen- 
gefaßt — anzuhängen“. 

Ebenso wurde die Zensusliteratur von Körösy wesentlich be- 
reicher. Namentlich seine auf Ermöglichung einer Weltzählung 
gerichteten, mit großem Nachdrucke fortgesetzten Bestrebungen waren 
von sichtbaren Erfolgen gekrönt. Schon 1881 hatte er in Paris (bei 
Guilleaumin) sein „Projet dun recensement du monde“ veröffentlicht 
und in einem in der Wiener statistischen Monatsschrift im gleichen 
Jahre erschienenen Aufsatze die Stellung der internationalen statistischen 
Kongresse zur Frage der Volkszählungen behandelt. Im darauffolgenden 
Jahre 1882 kamen dann als erster Versuch bei Puttkammer in Berlin 
seine „Tableaux internationals du recensement de 1880/81“ heraus. — 
Anläßlich des internationalen statistischen Kongresses vom Jahre 1887 
erschien sodann die „Proposition pour arriver à une comparabilite 
internationale des ouvrages de recensement“, zehn Jahre später (1897) 
in deutscher Sprache bei Puttkammer Mühlbrecht in Berlin und 
in französischer Sprache bei Guilleaumin in Paris eine Schrift über „Die 
säkulare Weltzählung vom Jahre 1900“ und anläßlich des Petersburger 
internationalen statistischen Kongresses (1899) ein Bericht „Sur la 
possibilité d'un recensement séculaire du monde en 1900“ sowie ein sehr 
beachtenswerter „Rapport sur la Standard population“. Auf der Pester 
Session des internationalen statistischen Institutes (1901) konnte Körösy 
dann aber auch mit einiger Berechtigung der Hoffnung Ausdruck verleihen, 
„que les résultats du dernier recensement sont déjà tellement rendus uni- 
formes, qu’on pourrait procéder à l'établissement d’une statistique inter- 


534 Miszellen. 


nationale du monde civilisé“. Ebenso fand der 1888 in den Arbeiten 
der demographischen Sektion des IV. Wiener demographischen Kongresses 
veröffentlichte „Vorschlag einer einheitlichen Aufarbeitung kommunaler 
Volkszählungen“ — dem 1881 ein in Pest erschienener „Plan du dépouille- 
ment du recensement de la ville de Budapest“ vorangegangen war — 
in den beteiligten Kreisen die größte Beachtung. Speziell mit den 
Pester Verhältnissen endlich befassen sich fünf in den Jahren 1873 
bis 1581 in magyarischer Sprache erschienene Aufsätze. Ein „Wegweiser 
durch die jüngste Zensusliteratur“ wurde 1887 veröffentlicht. 

Auch andere Zweige der Demographie wurden jedoch von Körösy 
gepflegt. So behandelt ein, 1899 dem Petersburger internationalen 
statistischen Kongresse vorgelegter „Rapport concernant la determination 
des groupes d’äges“ eine wichtige Frage der Altersstatistik. Auf dem 
Gebiete der Moralstatistik liegen ein 1893 in magyarischer Sprache 
abgefaßter Aufsatz über Kriminalstatistik, die 1897 gleichfalls in 
magyarischer Sprache erschienenen „Daten zur Charakterisierung der 
Intelligenz beider Geschlechter“ und die letzte Privatarbeit Körösys 
„The intellectual power of the two sexes“ (Cambridge 1905). Wichtige 
Fragen der Berufsstatistik endlich erörtern die 1893 bei Hölder 
in Wien erschienene Schrift „Die internationale Klassifizierung der 
Berufsarten“, sowie eine dem VIII. Pester internationalen demographischen 
Kongresse 1896 vorlegte Arbeit „Ueber die Klassifizierung der Arbeit- 
nehmer nach dem eigenen Berufe oder jenem der Unternehmer“. In der 
ersterwähnten Schrift tritt Körösy — gewiß mit Recht — dafür ein, 
„daß das Hauptgewicht nicht auf die inhaltsarmen generellen, sondern 
auf die Spezialbegriffe, das ist auf die einzelnen Berufsarten zu legen 
sei. Wir wissen ganz gut, was ein Schneider, was ein Schuster sei 
und interessieren uns für deren Lebensverhältnisse; was aber unter 
Bekleidungsgewerbe zu verstehen sei, ist nicht mehr so klar und 
interessiert uns auch eine Statistik die ebenso Schneider und Schuster 
wie Handschuhmacher und Hutfabrikanten etc. umfaßt, weit weniger.“ 

So vielseitig und fruchtbar aber die Tätigkeit Körösys auf dem 
Gebiete der Demographie war, so wenig füllte sie ihn aus. Schon durch 
seine amtliche Stellung war er ja genötigt, sich eingehend auch mit 
den Fragen der Verwaltungsstatistik zu beschäftigen. Und wie 
gründlich er dies tat, zeigt die nicht unbedeutende Anzahl der solche 
Fragen behandelnden -— freilich leider meist in magyarischer Sprache 
erschienenen — Arbeiten Körösys. Der gewissenhafte Biograph müßte 
2 magyarische Aufsätze, die das Gebiet der Kommunalstatistik im 
allgemeinen behandeln, einen über das Armenwesen, 5 über das Schul- 
wesen und 3 über das Aktienwesen aufzählen. In deutscher Sprache 
erschienen: „Der Haushalt europäischer Großstädte“ (im Finanzarchiv 
1584), „Fenerversicherung und Statistik“ (Pest 1868), „Die gewerblichen 
Unfälle in Ungarn im Jahre 1901“ (in diesen Jahrbüchern 1905) und 
„Die finanziellen Ergebnisse der Aktiengesellschaften“ (Berlin, Puttkammer 
Mühlbrecht, 1900). In französischer Sprache: „Plan d’une statistique 
internationale des finances des grandes villes“ (in den Berichten über 
den Pester internationalen statistischen Kongreß 1876), „Quelles sont les 


Miszellen. 535 


recherches statistiques à introduire pour faire reconnaître l'influence de 
l'école sur létat sanitaire?“ (in den Berichten über den Brüsseler hyg. dem. 
Kongreß 1880) „La statistique des résultats financiers des sociétés ano- 
nymes“ (in den Berichten des Pariser internationalen Wertpapierkongresses 
1900) und „Statistique des sociétés anonymes“ (in den Berichten der Pester 
Session des internationalen statistischen Institutes 1901). Die Arbeiten 
über die Statistik der Aktiengesellschaften sind besonders wichtig. Die 
hier bis dahin in Anwendung gebrachten statistischen Methoden schienen 
Körösy „nämlich vor allem an jenem Kardinalfehler zu leiden, daß sie 
statt der reinen Rente des Aktionärs bloß dessen Einnahmen in Betracht 
ziehen, hierbei aber übersehen, daß von diesen Einnahmen die Verluste 
abgezogen werden müßten; ferner daß selbst von den Einnahmen nicht 
alle, sondern nur eine derselben, die Dividende, in Rechnung gezogen 
wird, während die sonstigen — oft sehr bedeutenden — Einnahmen- 
titel außer Acht bleiben.“ Unter solchen Umständen erscheine statt 
des wirklichen Ergebnisses einerseits ein unmotiviert günstigeres, 
andererseits ein unmotiviert ungünstigeres Resultat. Eine mit Ver- 
meidung dieser (und anderer) Fehler abgefalte Statistik über die 
finanziellen Ergebnisse der Pester Aktiengesellschaften in den Jahren 
1874—1898 kam denn auch zu dem Resultate, daß in diesem Viertel- 
jahrhundert in Pest die Sparkasseneinlagen 4,14 Proz., die Staatspapiere 
(zeitweilig bis 10 Proz. mindestens aber) 5,10 Proz, die Pfandbriefe 
5,12 Proz., die Kommunalpapiere 5,56 Proz. und die Aktien 5°/, Proz. 
abwarfen, was — wenn man die Größe des Risikos bei Aktien in 
Betracht zieht — kein gerade besonders günstiges Ergebnis für diese 
Anlageart bedeutet. 

Die Witterungsstatistik behandelt ein dem Pester inter- 
nationalen statistischen Kongresse 1876 vorgelegter Bericht „De 
Vapplication des observations meteorologiques sur la temperature en 
vue de la statistique des bains;“ Fragen der wissenschaftlichen 
Statistik im allgemeinen — außer 5 magyarischen Aufsätzen — 
die „Address to His Royal Highness the Prince of Wales delivered in the 
opening meeting of the VII. Congr. of Hygiene and Demography“ (1891) und 
die Einrichtung kommunalstatistischer Bureaus, ein in 
der Zeitschrift des Königlich preußischen statistischen Bureaus 1874 
und ein in den Annales de Demographie 1879 erschienener Aufsatz. 

Die 7 Aufsätze über die ungarische Wirtschaftspolitik sind, ebenso 
wie die 7 Aufsätze über die ungarische Verwaltung und die 16 Aufsätze 
über Pester Kommunalpolitik nur in magyarischer Sprache erschienen. 
Auch die Arbeit über die volkswirtschaftlichen Studien David Humes 
ist in dieser Sprache abgefaßt. Ebenso die zahlreichen Artikel, die 
Körösy als volkswirtschaftlicher Redakteur des „Pesti Naplo“ ver- 
öffentlichte, 

Als Statistiker aber hat Körösy weit über die Grenzen seines Vater- 
landes hinaus gewirkt. Mit v. Inama, v. Juraschek, Keleti, Mataja und 
Rauchberg zählte er gewiß zu den hervorragendsten Statistikern Oester- 
reichs und Ungarns; auch zu den anerkanntesten. Der Kaiser verlieh 
ihm den erblichen Adelsstand, die Klausenburger Universität ernannte 


536 Miszellen. 


ihn zum Ehrendokter, eine lange Reihe statistischer, hygienischer, geo- 
graphischer und sozialpolitischer Gesellschaften ernannte ihn zum korre- 
spondierenden oder Ehrenmitgliede. 

Doch war er mehr als nur ein angesehener Statistiker. Mit seiner 
ernsten Gründlichkeit, seinem nimmermüden, geradezu „selbstmörde- 
rischen“ Arbeitseifer, seiner selbstlosen, fast religiösen Hingabe an die 
Sache war er der Typus des feinsinnigen, im deutschen Kulturkreise heran- 
gebildeten Gelehrten. Er selbst hätte dies freilich vielleicht bestritten. 
Denn er fühlte sich innerlich ganz als Magyare. So sehr, daß er sich 
statt seines slavisch klingenden Namens: Haidruschka den magyarischen 
Körösy beilegen ließ und recht empfindlich werden konnte, wenn man 
die Verhältnisse jenseits der rot-weiß-grünen Grenzpfähle allzu kritisch 
betrachtete. Aber gerade dieses sich in die Bestrebungen einer fremden 
Nation Hineinleben ist ja — leider — eine echt deutsche Eigenart, 
der auch sein Blick für die Forderungen des Tages, seine echte warme 
Menschenliebe entsprach. 

Und wenn doch etwas daran erinnerte, daß seine Wiege in einer 
der südöstlichen Kulturstätten gestanden, so war es seine charmöse 
Liebenswürdigkeit im Verkehr, sein impulsives Drauflosgehen in Dingen, 
die er einmal für richtig erkannt hatte. Wer ihn freilich je in 
seiner Villa am Stadtwäldchen beim Schreibtische sitzen gesehen, der 
hätte ihm die Streitlust kaum zugetraut. Da schien er dem heiligen 
Hieronymus zu gleichen, wie ihn Dürer einst gezeichnet: so emsig und 
heimlich y so arbeitsfroh und mild. Jetzt ist dies alles vorbei. Das 
frohe Streiten, wie das emsige Schaffen. Denn grüner Rasen wächst 
nun auf seinem Grabe. 


Graz im Winter 1907. 


Miszellen. 537 


XIII. 


Ueber den Stellenwechsel der Dienstboten. 
Von Dr. Oscar Stillich-Berlin. 


Die Tatsache, daß Dienstboten ihre Stelle bei manchen Herrschaften 
schnell verlassen, während sie bei anderen lange bleiben, ist be- 
kannt. Im folgenden soll das historische und ursächliche 
Moment dieser Erscheinung näher beleuchtet werden. Ich lege dabei 
die Verhältnisse Nürnbergs zu Grunde, einmal, weil hier die histori- 
schen Quellen (Germanisches Museum — Stadtbibliothek — Kreisarchiv) 
reichlicher fließen und dann, weil ich — angeregt durch die Gärungen 
unter den Dienstboten in dieser Stadt — vor kurzem durch eine ein- 
gehende Feststellung auf enquetarischem Wege auch für die Gegenwart 
Material zur Beurteilung der Verhältnisse gesammelt habe. 

Iın alten Nürnberg waren langfristige Kontrakte die Regel. Das 
Dienstverhältnis lief 1 Jahr. Es hing das mit dem stabilen Charakter 
der ständisch gegliederten Gesellschaft zusammen. In einer Zeit der 
Gebundenheit des Lebens und der Erwerbsverhältnisse war die Dauer 
des Dienstvertrages für längere Zeit eine in Einklang mit dem gesell- 
schaftlichen Leben des 15. bis 18. Jahrhunderts stehende Erscheinung. 
So lassen z.B. die Akten der Oertelschen Heiratsstiftung darauf schließen, 
daß es in Nürnberg von 1530 bis 1800 stets eine große Anzahl weib- 
licher Dienstboten gab, die je 12 bis 36 Jahre in einer Stelle aus- 
hielten. Nach den von Kamann!) angeführten Zeugnissen waren dar- 
unter wahre Muster der Häuslichkeit und guten Sitte: 

So bekundet 1531 die Frau eines Schellenmachers von 
ihrer Magd, daß sie 21 Jahre „getreulich gedienet, sich erlich und red- 
lich, wie einer frommen dirn und junkfrauen wol anstehet, in solchen 
dienst gehalten, ir allerlei hausarbeit getan und auch zum handwerk 
geholfen“. Es wird hier besonders hervorgehoben, daß sie nicht nur 
im Hause, sondern auch gewerblich tätig war, was in der Vergangen- 
heit die Regel gewesen zu sein scheint. 

1546 heißt es in einem Urteil über Helena Schmiedin 
von Gross Reut am Birg mit einer 18jährigen Dienstzeit: „Sie 
hat bei der ganzen nachpauerschaft sehr ein gut lob“. Ihre Dienstfrau 


1) Alt Nürnberger Gesindewesen in den Mitteilungen des Vereins für Geschichte 
der Stadt Nürnberg, herausgegeben von Mummenhof, Nürnberg 1901, S. 120. 


EEE 


538 Miszellen. 


meinte: „sie hab in die 17 jahr kein !/, wein austrunken, aus genumen, 
wenn sie zum hochwürdigen sakrament gangen; auch ir nit umb ein 
pfenig untreu gewest“. 

1734 stellte der Professor am Egidier Gymnasium 
Johann Konrad Lobherr seiner 13!/, Jahre im Dienste stehenden 
Köchin Maria Oed aus Wendelstein folgendes Zeugnis aus: „Sie hat 
sich diese lange Zeit über redlich und ehrlich aufgeführet, Gott alle 
Zeit vor Augen gehabt, sorgsam, fleißig und arbeitsam sich be- 
zeiget, ihrer Frauen in allem die schuldige Treue erwiesen und der- 
selben Nutzen befördern helfen, ja, welches besonders zu rühmen, nach 
verrichtetem Gottesdienst oder anderen Geschäften die geringste Zeit 
niemals außer dem Hause verabsäumt, im übrigen sich begnügen lassen 
und dem Frieden gelebt.“ 

Allein schon frühzeitig waren ungünstige soziale Bedingungen 
ein Stachel zur Fluktuation. Freilich dürften so kurze Dienstzeiten, 
wie sie mitunter heute vorkommen, in den vergangenen Jahrhunderten 
nur ganz ausnahmsweise vorhanden gewesen sein. Ein Nürnberger 
Haushalt des 16. Jahrhunderts, von dem wir mit großer Wahrschein- 
lichkeit annehmen können, daß die Verhältnisse desselben den Dienen- 
den nicht günstig waren, war der des Patriziers Paul Behaim. 
Das von ihm geführte Ehehaltenbuch!) umfaßt Notizen über die 
Dienstboten von 1552 bis 1572. Im dieser Zeit wurden, wenn wir nur 
die weiblichen Dienstboten in Betracht ziehen, nicht weniger als 10 
Köchinnen, 7 Untermaide und 4 Dienstmaide resp. Saugammen engagiert 
und entlassen. Von diesen Dienstboten war die Köchin die wichtigste. 
Sie war damals, in einem Zeitalter unspezialisierter Arbeit, sozusagen 
noch das Mädchen für alles. Sie hatte nicht allein die Küchenarbeiten 
zu verrichten, sondern, wie auch noch heute die Köchin in Nürnberg, 
Hausarbeit aller Art. Von diesen Köchinnen hielten im Behaimschen 
Hause nur 3 länger als 1 Jahr aus, weitere 3 blieben 1 Jahr und 4 
kürzere Zeit. Diese kurzen Dienstzeiten müssen in einer Periode, wo 
lange Dienstdauer die Regel war, wunder nehmen. Aber den Schlüssel 
geben uns einmal die in dem Hause dieses reichen Großkaufmanns ge- 
zahlten Löhne und zweitens die Urteile, die Behaim resp. sein Weib 
über die in ihrem Hause beschäftigten Dienstboten in ihrem Ehehalten- 
buch der Nachwelt überliefert hat. Wir wollen im folgenden versuchen, 
durch die Interpretation des historischen Materials die der früheren 
Zeit eigentümliche einseitige, nur den Standpunkt der Herrschaft ver- 
tretende Betrachtungsweise einigermaßen durch eine Berücksichtigung 
auch des anderen Teils auszugleichen. 

Was zunächst die Löhne anbelangt, so weisen die der Köchin- 
nen, also der Hauptkategorie der damaligen Dienstboten, enorme 
Ditferenzen auf. Sie schwanken zwischen 9 und 5 Gulden ohne Lei- 
kauf (Mietgeld). Diese beiden Extreme liegen zeitlich eng zusammen. 
So wurde 1557 die Köchin Margerit für 8 Gulden gedingt. In Wirk- 


1) Aus Paulus Behaims Ehehaltenbuch 1552 bis 1572, ITeft 7 der Mitteilungen 
des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg. Nürnberg 1888, 


Miszellen. 539 


lichkeit erhielt sie bloß 2 fl. 4 @ 20 Pig., weil sie vor Ablauf von 
3 Monaten den Dienst verlassen mußte. Ihre Nachfolgerin, die Gredla, 
erhielt nur 5 fl. und diente für diesen geringen Lohn über 2 Jahre. 

Die Untermaide erhielten das ganze Jahr hindurch 4 fl, nur 
einer, der Sibilla, die aber nur 3 Monate blieb, um sich zu verheiraten, 
war ein Jahreslohn von 5 fl. versprochen worden. 

Am besten scheinen sich die Kindermaide gestanden zu haben, 
die zugleich Saugammen waren. Es waren das im Gegensatz zu heute 
verheiratete Frauen. Eine von ihnen, die Kunlein, erhielt den höchsten 
Lohn in Höhe von 10 fl, die anderen drei, die von 1556 bis 1563 
dienten, erhielten 6, 7 und 8 fl. 

Jedoch kam es auch vor, daß die Mädchen gar nichts bekamen. 
In dem Ehehaltenbuch sind zwei solcher Fälle verzeichnet. Der eine 
betrifft die Untermaid Kungond. Eine Entwendung wurde als Vorwand 
benutzt, um ihr keinen Lohn zu zahlen. In dem Ehehaltenbuch heißt 
es: „Solche maid ist auf Laurenzi ungeverlich geurlaubt worden das 
sy diebstals halb befunden ist worden, ist ir also kein lon bezahlt 
worden.“ Der zweite Fall betrifft die Köchin Marta. Dieses Mädchen ° 
konnte es wahrscheinlich nicht mehr aushalten und entlief, denn wenn 
es ihr gut gegangen wäre, wäre sie jedenfalls nicht geflohen. Anders 
erklärt die Herrschaft den Fall. „Solche maid“, schreibt Behaim, „ist 
ein fauler petz gewest und vor Laurenti, ein wenig tag dafor, ist sy aus 
dem Haus on urlaub gangen, kein lon oder nichts begeret, wissen nit, 
wo sy hin kommen ist.“ 

Daß der gezahlte Lohn nicht befriedigte, läßt sich annehmen, ob- 
gleich uns direkt nur ein Fall dafür überliefert ist. Er betrifft die 
Kindsmaid und Amme Kuenlein aus Forchheim. Mit ihr waren 6 fi. 
verabredet. Aber nachdem sie das kleine Töchterchen ®/, Jahre ge- 
säugt, schreibt Behaim, „hab ich ir, das jahr gerechnet, 10 fl. müssen 
geben, macht dies ®/, jar 7 fl. 4 Ø 6 Pig.“ Sie, war also mit dem 
vorhergehenden Lohnsatz nicht ausgekommen. Andererseits mußten 
Geschenke zugelegt werden. Das Margaretlein, zuerst als Untermaid 
und dann als Köchin 3°/, Jahre zu behalten, war nur möglich durch 
bedeutende Geschenke. s 

Am meisten Aufschluß über den häufigen Wechsel aber geben uns 
die Urteile, die Behaim über seine Dienstboten fällt. Wie die Mäd- 
chen über die Arbeitsverhältnisse in dem Hause dieser Herrschaft ge- 
dacht haben, geht aus dem Ehehaltenbuch leider nicht hervor. Hier 
fehlt jede Tradition, wie immer, wenn es sich um so untergeordnete 
Glieder handelt, wie die Dienstboten. Daß aber diese Verhältnisse keine 
guten waren, läßt sich mit einem großen Grade von Wahırscheinlichkeit 
annehmen. So sind wir auf das Zeugnis nur einer Partei angewiesen. 
Diese Urteile aber gehören zu den interessantesten Partien des ganzen 
Ehehaltenbuchs. Charakteristisch ist, daß bis auf einen einzigen Fall 
das Urteil über die ausscheidenden Dienstboten schlecht lautet. Nur 
die Untermaid Endlein erhielt ein Lob, wenn man folgendes Urteil so 
nennen darf: „hat sich wol gehalten, die stiegen gern gefegt, hat nit 
lenger pleiben wollen“. Im übrigen werden die Köchinnen und Unter- 


540 Miszellen. 


maide als faul, langsam, unverträglich und unehrlich hingestellt. Wir 
haben hier darauf zu achten, ob das ungünstige Urteil nicht etwa da- 
durch abgeschwächt oder Lügen gestraft wird, daß das betreffende 
Mädchen verhältnismäßig lange im Dienste dieser Herrschaft blieb. Dies 
ist der Fall bei der Köchin Endle. Sie hatte anderthalb Jahre aus- 
gehalten. Trotzdem schreibt die Herrschaft über sie, daß sie geurlaubt 
wurde, „umb sy so faul und langsam gewest, die auch ir nit wolt lassen 
einreden“. 

Ueber die weiteren Mädchen, die alle, mit Ausnahme der Else, ein 
Jahr dienten, lautet das Urteil folgendermaßen : 

Appel (Appollonia): „War ein poeser, murreter, stolzer kopf, die 
ir nit lies einreden.“ 

Berblein: „Ist geurlaubt worden von wegen, das sy sich mit 
der köchin und untermaid geschlagen, geschent und geschmeht haben.‘ 

Kunlein: „Ein schwers, dregs, fauls mensch.“ 

Prigel: „Ist gar faul und treg gewest, hat anzaigt, sy wol nit 
dienen, sondern zu ir mutter komen, also mein weib sy hat faren 
lassen, itzt allerheiligen 1564.“ 

Auch die Unverträglichkeit der Mädchen untereinander gibt ein 
Motiv des Wechsels. Else N. verließ den Dienst. In dem Ehehalten- 
buch heißt es: „Solche hat nit pleiben wollen, umb das sy sich mit 
den maiden uneinigkeit nit wol vertragen konnen.“ 

Von der Margaret N. aus Bürg heißt es: Auf 20. aprilis 1557 
hat ir mein weib urlaub geben, das sy am heyligen osterabent mein 
kindsmaid, die Geraus, übel geschlagen, sy oft ein hurn gescholten, 
desgleichen in ander wegen auch ubel gehalten, zalt ir derwegen fur 
alle sachen und das sy 5 wochen vor liechtmes ins haus komen ist, 
2 fl. 4 Ø 20 Pfg. Ist gar ein heftiger, poeser palch gewest.“ 

Ueber Berblein verzeichnet die Herrschaft folgendes Urteil: 
„Ist ein gar poeser palch gewest, hat gros schreyen gehabt, wan sy 
ein wenig kochen oder zu arbeiten gehabt hat.“ 

Andere Gründe lagen bei Gredla und Agnes vor. Jedenfalls 
scheint die Freiheit im Behaimschen Hause sehr beschnitten gewesen 
zu sein oder überhaupt nicht bestanden zu haben. Die Köchin Gredla, 
die jedenfalls erst spät in ihrer Küche fertig wurde, erhielt den Ab- 
schied „von wegen, das sy in den wirtsheusern in die lang nacht mit 
den mezkern gezecht“. 

Eine ältere Köchin, die manches besser verstehen wollte, vielleicht 
auch verstand, als die Hausfrau, erhielt deshalb und weil ihr Lohn 
hoch war, den Abschied. Els N: „Ist der lon gros gewest, und die 
maid alt, also das sy uns nit füglich gewest.“ 

Ueberhaupt war man im Behaimschen Hause mit der Entlassung 
schnell bei der Hand. So wurde ein Knecht entlassen, weil er des 
Nachts bei einer Magd im Bett geschlafen hatte. Von dem Jobst 
Knoblauch heißt es, daß er geurlaubt wurde, „umb ich in bey der 
maid, der Margret, in der nacht gefunden hab und lang bey ir im praus 
gewesen, auch hat er gern gelogen.“ 

Freilich genügt dieses Material nicht; es besteht nur aus Einzel- 


Miszellen. 541 


fällen. Wir wissen nicht, wie lange im Gegensatz zu diesem Patrizierhause 
ein Dienstbote im Durchschnitt in Handwerker- und anderen Familien blieb. 

Im Laufe der Jahrhunderte wird in Nürnberg das langlebige Ver- 
hältnis zu einem kurzlebigen und die Rechtsordnung trägt bereits 
im 18. Jahrhundert dem Rechnung, indem sie den Ounartälswechs el 
einführt. Die Nürnberger Gesindeordnung von 17411) setzt 
die Mietszeit ausdrücklich auf ein Vierteljahr fest. Allein die Gewohn- 
heit handelte auch hier dem Gesetz vielfach zuwider. Das Jahr hatte 
vier Ziele: Lichtmeß (2. Februar), Walpurgis (1. Mai), Laurenti 
(10. August) und Allerheiligen (1. November). Andere. Orte hatten 
andere Ziele. Vielfach kam es vor, daß die Dienstboten außerhalb dieser 
Ziele, ohne die durch die Gesindeordnung des Nürnberger Rats vor- 
geschriebene vierwöchentliche Kündigung einzuhalten, den Dienst ver- 
ließen. Das Charakteristische und für die einseitige Auffassungsweise 
der älteren Zeit Bezeichnende ist auch hier, daß die Nürnberger Ge- 
sindeordnung von 1741 den Kontraktbruch bei den Dienenden 
viel strenger bestrafte als bei den Herrschaften. Der Dienstbote, der 
den Dienst außerhalb des Zieles verließ, hatte viel härtere Strafen zu 
gewärtigen, als die Herrschaft, die das Umgekehrte sich zu schulden 
kommen ließ. „Wehe aber denjenigen Dienstboten“, sagt Kamann ?) 
in seiner Abhandlung, die ohne genügenden Grund ihre Stelle nicht 
autraten oder eigenmächtig aus derselben wegliefen! Die Verbannung 
aus dem reichsstädtischen Gebiet auf 4 Jahre für fremdes Gesinde und 
auf 2 Jahre für Nürnberger Bürgerskinder erscheint noch gering den 
körperlichen Strafen gegenüber, welche die Polizeiverordnungen des 
16. und 17. Jahrhunderts für derartige Vergehen bestimmten. "Fremde 
Dienstboten sollten dann „alsobald in das Lochgefängnis, Nürnberger 
Bürgerkinder in die Eisen verschafft, dort 8 Tage auf ihre Kosten fest- 
gehalten zu mehrem scheuchen öffentlich durch zwei Stadtknechte zum 
Tore hinausgeführt werden“. Man würde aber sehr irren, wenn man 
glaubte, daß gegen die Herrschaft im Falle des Vertragsbruches ähnlich 
vorgegangen worden. O nein! sie wurde nicht in eine der beiden Türme 
(Männer- und Weibereisen) geworfen. Sie hatte lediglich den bis zum 
Ziele fälligen Lohn zu bezahlen. Die grundlegende Nürnbergische Ge- 
sindeordnung des Rats von 1741 bestimmte in $ 12, daß die Herrschaft, 
die ihre Ehehalten aus Unbilligkeit und ohne genügende Ursache unter 
dem Ziel verstößt, diesem nur den fälligen Vierteljahrslohn zu zahlen 
habe, sowie Kost und Unterhaltung bis zum nächsten Ziel, wenn nicht 
der Dienstbote einen anderen Dienst bekommt. Der Dienende wird 
mit einer entehrenden Strafe belegt, die Herrschaft ist 
nur verpflichtet, bis zum nächsten Ziel den ohnehin 
minimalen Lohn zu zahlen. Sie wird also nicht strafrechtlich, 
sondern nur zivilrechtlich in Anspruch genommen, fürwahr ein gutes 
Beispiel für die Klassengesetzgebung der „guten, alten Zeit“. 


1) Eines Hoch-Löblichen Raths des Heil. Röm. Reichs freyer Stadt Nürnberg 
Ordnung, die Ehehalten und Dienstbothen betreffend 1741. 
2) Anm.: 3 a. a. O. p. 72. 


542 Miszellen. 


Wie liegen nun die Verhältnisse des Stellen- 
wechsels in der Gegenwart? 

Die großen ökonomischen, sozialen und politischen Umwälzungen, 
die das 19. Jahrhundert erschütterten, haben den Zeitcharakter voll- 
ständig geändert. An Stelle der alten Gebundenheit ist ein System der 
freiheitlichen Ausgestaltung des Lebens getreten. Die ganze Arbeiter- 
schaft ist mobilisiert. Die Dienstboten bilden keine Ausnahme von 
dieser Regel. Was war die Folge? Zunächst wurden die alten 
Ziele über den Haufen geworfen. Aus den Angaben der an der En- 
quete, die ich im Sommer 1906 in Nürnberg unternahm, beteiligten 
Dienstmädchen ergibt sich, daß Zuzug und Abgang eigentlich 
in jedem Monat des Jahres stattfinden, und daß sogar der Dienst- 
antritt mitten im Monat keine Seltenheit ist. Ein Mädchen trat z. B. 
am 10. September, eine andere am 6. November ein, eine Dritte am 
23. Dezember. In dem letzteren Falle wissen wir nicht — sondern 
ahnen es nur — daß die Herrschaft das vorhergehende Mädchen viel- 
leicht deshalb kurz vor dem heiligen Abend entließ, um das Weihnachts- 
geschenk zu sparen. 

Zweitens sind die Dienstzeiten kürzer geworden. Es ist 
heute einem Mädchen leichter, den Dienst zu verlassen als früher. Nach 
der Enquete betrug in 159 Fällen die durchschnittliche Dauer der 
Dienstzeit in einer Stelle 


unter 1 Jahre bei 20 Proz. der Befragten 


I—2 ,„ » 54 s» ” s 
2— 3, u m I iS eH 5 
über 3 Bee a A " 


Die Ursachen des in diesen Zahlen zum Ausdruck kommenden 
Stellenwechsels sind verschieden. Soweit derselbe von den Dienst- 
boten ausgeht, liegt er in der Regel in dem Bestreben begründet, un- 
günstiger sozialer Verhältnisse durch den Wechsel Herr zu werden. 
Das gelingt nur selten. In den meisten Fällen findet nur eine Ver- 
schiebung der den Dienstboten ungünstigen Bedingungen der Dienststelle 
statt. Auf der einen wird er schlecht, behandelt, bekommt aber reich- 
lich zu essen, in der zweiten wird er gut behandelt, aber die Ernährung 
ist ungenügend. Daß das soziale Moment beim Dienstwechsel das 
Ausschlaggebende ist, ergibt sich auch daraus, daß in denjenigen 
Häusern, die günstige Verhältnisse aufweisen, die Mädchen 
lange bleiben. Einige Beispiele von Herrschaften, die an der En- 
quete beteiligt sind, mögen diese Tatsachen noch näher erläutern. 

Ein Antiquitätenhändler vom Trödelmarkt führt seinen Haus- 
halt 27 Jahre; die ersten 7 Jahre hatte er keine Dienstboten. Dann 
dienten bei ihm bis 1901 nur 3 Mädchen. Die jetzige ist seit dem 
letztgenannten Jahre bei ihm, also schon 5 Jahre. Aus der Beant- 
wortung des Fragebogens kann man ganz genau erkennen, warum bei 
dieser Herrschaft die Mädchen so lange bleiben. Zwar ist der Lohn 
gering. Er betrug 1886 nur 100 M. und stieg dann ganz langsam 
und vorsichtig in den folgenden 20 Jahren auf 130 bis 140 M. 
Dazu kommt ein Weihnachtsgeschenk im Werte von 60 M. Ostern 


Miszellen. 543 


erhält das Mädchen 20 M., außerdem manchmal Trinkgelder und 
Kleider von der Frau. Der Lohn ist also nicht ausnahmsweise hoch. 
Aber er wird nicht durch Abzüge geschmälert. „Invaliden- und 
Krankenversicherung wird von mir vollständig bezahlt. Bruch nicht 
nicht berechnet.“ Die Arbeitszeit beginnt im Sommer um 6, im Winter 
um 1/,7; um 8 Uhr abends ist das Mädchen mit der Arbeit fertig und 
nur „ganz selten einmal“ dauert es länger. Jeden Sonntag (auch an 
Feiertagen) hat es von 2 bis 9 Uhr freien Ausgang. Es darf sich Brot 
nach „Belieben“ nehmen. Die Wäsche wird von der Wäscherin außer 
dem Hause gewaschen. Die Herrschaft gehört zu den wenigen, die in 
Beantwortung der Frage 31 eintritt für „angemessene Entlohnung; 
menschenwürdige Behandlung, möglichste Abkürzung der Arbeits- und 
Verlängerung der Ruhezeit, gute Kost und freie Sonntag-Nachmittage. 
Daß sie selbst keinen hohen Lohn zahlt, scheint danach in eignem ge- 
ringen Einkommen begründet zu liegen. In den eben skizzierten Ver- 
hältnıssen liegt ohne Zweifel der Schlüssel zu dem Geheimnis, warum 
die Mädchen im Durchschnitt nahezu 7 Jahre im Dienste dieser Herr- 
schaft blieben. 

Ein Privatier in der Marienstraße hat in 38 Jahren nur 4 Dienst- 
boten gehabt. Das jetzige Mädchen steht schon seit 18 Jahren in 
seinem Dienste. Vor ihr war ihre Schwester bereits 6 Jahre in dem- 
selben Hause. Ihr Lohn stieg von 120 M. in den Jahren 1868 bis 
1872 auf gegenwärtig 200 M. Außerdem erhält das Mädchen 150 M. 
zu Weihnachten, sowie sämtliche getragenen Kleider und Wäsche 
und Schuhe für sich und ihre Geschwister. Da die Familie nur aus 
zwei Personen besteht, ist das Arbeitsquantum ein relativ geringes. 
Das Mädchen hat jeden Sonntag und Feiertag bis 9 Uhr abends frei. 
Von wann an ist nicht angegeben. Sie ißt mit am Tische der Herr- 
schaft. Daraus kann man auch auf eine gute Behandlung schließen, 
Die soziale Gesinnung der Hausfrau kommt in folgender Bemerkung 
zum Ausdruck: „Ein bestes Mittel (um der Dienstbotennot zu steuern) 
dürfte sein, wenn den Dienstboten seitens der Herrschaften nach Mög- 
lichkeit viel Anschluß an die Familie geboten wird und überhaupt gute 
Behandlung und Ernährung.“ 

Ein anderer Privatier aus dem Brunnengäßchen hat in 32 Jahren 
6 Dienstboten gehabt. Er schreibt: „Ich habe bis jetzt keine Klagen 
gehabt, hatte immer fleißige, willige und ordentliche Mädchen. Drei 
verheirateten sich, eine starb nach 8-jähriger Dienstzeit. Die Mädchen 
gehören zur Familie.“ 

Eine 35 Jahre alte Köchin ist bei einem Rittmeister und 
Freiherrn seit 7 Jahren im Dienst. Sie dient im ganzen 11 Jahre 
und hat in dieser Zeit zwei Stellen gehabt. In der erwähnten Stellung 
erhält sie einen Jahreslohn von 360 M. Weihnachten bekam sie 
30 M., 6 Hemden, Kleiderstoffe, eine Jacke und Kleinigkeiten. Dazu 
kommen noch Trinkgelder in Höhe von 25 bis 30 M. Abzüge vom 
Lohn wurden ihr bisher „noch nie“ gemacht. Waschen, Stöbern, Holz 
und Kohlen tragen, Stiefel und Kleider putzen werden von anderen 
Personen verrichtet. Ihr Ausgang allerdings beläuft sich nur auf 


544 Miszellen. 


31/, Stunde alle 14 Tage. Hingegen ist die Ernährung „in jeder Be- 
ziehung gut“. Sie bewohnt ein großes Zimmer, in dem unter anderem 
„ein sehr gutes Bett“ steht. Von ihrer Herrschaft wird sie nach ihrer 
eigenen Angabe „sehr gut“ behandelt. 

Hingegen bemerkt ein Kaufmann aus der Ledergasse, daß er in 
einem Vierteljahr 5 Mädchen gehabt habe. Die jetzige, die er nicht 
ganz logisch als „Haushälterin für Küche und Hausarbeit“ bezeichnet, 
ist seit 5°/, Jahren bei ihm. Wir haben es hier wahrscheinlich mit 
einem sehr reichen Haushalt zu tun, der aber so große Anforderungen 
an die Mädchen stellt, daß ihnen die meisten nicht gewachsen sind. 
Es läßt sich das aus folgendem schließen. Das Mädchen bekommt einen 
festen Lohn von 300 M., außerdem Weihnachten, Ostern und Pfingsten 
zusammen 200 M.; außerdem von Besuchen und Familienangehörigen 
mindestens 100 M. Andererseits aber muß das Mädchen um 3/,6 Uhr 
aufstehen, „aber auch um 4 Uhr, wenn ich es verlange“, und ist erst 
um 10 Uhr, zu Besuchszeiten und an Bügeltagen erst zwischen 11 und 
1 Uhr nachts nach den Angaben der Herrschaft fertig. Ihr Ausgang 
darf nur bis 7 Uhr abends dauern. „Ich bin“, schreibt die Arbeit- 
geberin, „zufrieden, weil ich es sein muß, und weil es keine Menschen 
gibt, die unfehlbar sind.“ 

Aus dem Vorhergehenden ergibt sich, daß der Stellenwechsel bei 
den Dienenden bedingt wird durch das Gesetz der Kompen- 
sation. Aber er hat den Nachteil, daß er einerseits schwächend auf 
die Organisationen, die sich neuerdings in Deutschland gebildet haben, 
einwirkt und andererseits den sozialen Verjüngungsprozeß der 
Arbeitsbedingungen hemmt und verzögert. 


= 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 545 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands 
und des Auslandes, 


1. Geschichte der Wissenschaft. Encyklopädisches. Lehrbücher. Spezielle 
theoretische Untersuchungen. 

Ripert, H, Le Marquis de Mirabeau. (L’Ami des Hommes.) Ses 
théories politiques et économiques. (These de doctorat.) 460 SS. 8°. Paris 
(A. Rousseau) 1901. Frs. 8.— 

Brocard, L., Les doctrines économiques et sociales du Marquis 
de Mirabeau dans l'Ami des Hommes. 394 SS. 8°, Paris (V. Giard & 
E. Briere) 1902. Frs. 5.—. 

Zwei einander vortrefllich ergänzende und in den wesentlichsten 
Punkten der Auffassung miteinander übereinstimmende Untersuchungen 
über den merkwürdigen, einst viel bewunderten und dann viel ange- 
feindeten „Ami des Hommes“ als politischen, ökonomischen und sozialen 
Theoretiker. Während Ripert es sich zur Aufgabe gesetzt hat, die 
Gedankenwelt Victor Mirabeaus (den Vornamen nennt er sonderbarer- 
weise keinmal) überhaupt und namentlich seine Wandlung vom Grand- 
seigneur und Aristokraten zum Physiokraten und Demokraten darzu- 
legen, beschränkt sich Brocards geistvollere Studie darauf, Mirabeaus 
Hauptschrift, jenes Buch, von dem Edmond Rousse gesagt hat, daß 
jedermann es nenne, fast niemand es kenne und das in jeder Generation 
ein mutiger Bürger lesen müßte, um alle anderen von seiner Lektüre zu 
befreien, zu analysieren und die „matériaux entassés p@le-m&le“ des- 
selben dem Publikum in geordneter Form vorzulegen. 

Ripert handelt daher nach einer biographischen Einleitung, die 
mit maßvollem Urteil den Marquis als Mensch und Schriftsteller charak- 
terisiert, ohne doch wesentlich über Lome&nies großes Werk über die 
Mirabeaus hinauszukommen, in je sieben Kapiteln zuerst über den Vor- 
physiokraten, dann über den Physiokraten Mirabeau. Das Ergebnis 
seiner Untersuchungen ist, daß Mirabeau durch seine Verbindung mit 
Quesnay und der physiokratischen Schule mehr verloren als gewonnen 
hat: gewonnen zwar an Einheitlichkeit und Zusammenhang des Denkens, 
verloren aber den Kontakt mit der Wirklichkeit sowie die Lebhaftig- 
keit und Unmittelbarkeit der Darstellungsweise, die seinen ersten 
Schriften, vorab dem „Ami des Hommes“, ihren phänomenalen Erfolg 
gesichert hatten. (Gerade diese vorphysiokratische Zeit, in der Mirabeau 
noch „er selbst“ war, ist es, die Brocard interessiert. Indem er, gestützt 
auch auf ungedrucktes Material, kurz das Leben des Marquis, ausführ- 
licher den „Ami des Hommes“ nach seinen allgemeinen Charakterzügen, 
seinem Milieu, seiner Methode und seiner äußeren Geschichte vorführt, 

Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIII). 35 


5465 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


wobei er in Uebereinstimmung mit Ripert (S. 64 ff., 121 ff.) das unter 
der Jahreszahl 1756 erschiene Werk erst dem Jahre 1757 zuweist und 
zugleich gegen den Vorwurf verteidigt, nur ein Plagiat von Cantillons 
„Essai sur la nature du commerce“ vom Jahre 1755 zu sein (S. 3 u. 46 ff.), 
lehrt er uns schon hier einen volkswirtschaftlichen Denker kennen, der 
zwar in der Geschichte der französischen Nationalökonomie nicht den 
ersten Platz einnimmt, aber als einer der ersten Kritiker des Merkanti- 
lismus vor den Physiokraten und als der einzige Wirtschaftstheoretiker 
des Feudalsystems vor Le Play eine höhere Wertung beanspruchen darf, 
als ihm im allgemeinen zu teil wird. Die ausführliche Analyse vou 
Mirabeaus ökonomischem und sozialem Ideal nach den Seiten der Be- 
völkerungslehre, des Ackerbaus, der Industrie und des Handels, der 
Kolonisation einerseits, der Grundlagen der sozialen Organisation, der 
Sitten und des Staates andererseits läßt das noch deutlicher erkennen. 
Brocard stellt fest, daß Mirabeau vor allem Moralist ist, der, mit ebenso 
viel Scharfsinn wie die modernen Historiker, ein Tocqueville oder Taine, 
die Menschen seiner Zeit nach allen Erscheinungen und sozialen und 
wirtschaftlichen Konsequenzen ihrer sozialen Tätigkeit hin studiert hat: 
stets beherrscht von der einen Idee, daß die Sitten die letzte Ursache 
des Gedeiliens wie des Niedergangs eines Landes seien und daß daher 
jede eingreifende und dauerhafte Reform hier einzusetzen habe. Inso- 
fern bietet Mirabeaus Werk zugleich eine wichtige und als solche noch 
längst nicht genügend ausgenutzte Quelle auch für die Erforschuug der 
französischen Geschichte des 18. Jahrhunderts. Ein besonderes Verdienst 
beider Autoren möchte ich darin sehen, daß sie sich bemühen, auch die 
Fäden aufzuzeigen, die ihren Helden mit den großen Geistern seiner 
und der späteren Zeit verbinden: u. a. mit Montesquieu (Ripert S. 65 t. 
Brocard S. 34 fi.), dessen „science sociale“ gegenüber er „lart social” 
vertritt; mit Rousseau (Ripert S. 418 ff., Brocard S. 38), dessen Legende 
vom „bon sauvage“ gegenüber er unter „Rückkehr zur Natur“ deren 
Beherrschung versteht. Mit seinen kolonialen Theorien steht Mirabeau 1 
unter dem Einfluß seines jüngeren Bruders, des sog. Bailli Mirabeau, 
dessen unveröfientlichte Briefe und Deukschriften Brocard zu verwerten 
in der Lage war (S. 195 ff). Als „l'embryon d'une sociologie“ nähert 
der „Ami des Hommes“ seinen Verfasser Auguste Comte und den Posi- 
tivisten (Brocard S. 36). Bedeutend endlich ist vor allem der Einfluß, 
den Mirabeau einerseits auf Le Play, andererseits auf gewisse Vertreter 
der modernen historischen Schule ausgeübt hat, unter denen Brocard 
(S. 41) an erster Stelle Schmoller nennt. 
Halle a. S., September 1906. Karl Heldmann. 


Gerecke, Bruno, Theodor Schmalz und seine Stellung in 
der Geschichte der Nationalökonomie. Ein Beitrag zur Geschichte der 
Physiokratie in Deutschland. 76 SS. Bern (Universitätsdruckerei) 1906. 

Die vorliegende Schrift stellt fest, daß Schmalz wohl Physiokrat 


1) Ebenso sein Solın, der große Tribun der Revolutionszeit; ef. A. Hasenelerer, 
Mirabenus Stellung zur Kolonialpolitik Frankreichs: Beil. z. Allg. Ztg. (München), 
No. 192 vom 21. Aug. 1906 (Sep.-Ausg., München 1906, S. 4 ff.). 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 547 


war, aber nicht im Sinne des Stifters des Systems, Fr. Quesnay, 
sondern im Sinne der „Schule“ in Frankreich, gemäß der Charakterisierung 
und Untersuchung von A. Oncken. Die Arbeit besteht aus vier 
Kapiteln, nämlich: I. Schmalz und die Physiokratie; II. Schmalz’s Kritik 
des Smithschen Systems; III. Schmalz und die Aufhebung der Erb- 
untertänigkeit; IV. Die rechtsphilosophischen Grundsätze von Schmalz. 
Im Kapitel „Schmalz und die Physiokraten‘“, scheint mir, daß Gerecke 
sich widersprochen hat, indem er S. 24 von Schmalz sagt: „In genauer 
Anlehnung an Quesnay lehrt Schmalz, daß der reine Ertrag, das „pro- 
duit net“ nicht in der Bauernwirtschaft, der Kleinkultur, entstehen 
kann, sondern ausschließlich in der kapitalistisch betriebenen Großkultur. 
„Also“ hat Schmalz „genau“ den Unterschied gemacht zwischen dem „Groß- 
betrieb“ und dem „Rleinbetrieb“, wie es Quesnay auch gemacht hat. Aber 
auf S. 31 sagt derselbe Verfasser: Schmalz unterscheidet nicht „klar“ 
und „präzis“, d. h. im Sinne von Quesnay, zwischen der „grande culture“ 
und der „petite culture“! 

Schmalz vergleicht Quesnay mit Kopernikus, ein damals oft ge- 
brauchter Vergleich der zumal auf Adam Smith angewendet wurde. Es 
sei nur erinnert an Kraus und Thaer u.a. Von Smith meint Schmalz, 
‚er sei augenblicklich Mode“. 

Schmalz befürwortete in einer besonderen Schrift die Aufhebung 
der Erbuntertänigkeit. Er macht, ebenso wie L. Krug u. a., keinen 
Unterschied zwischen „Leibeigenschaft“ und „Erbuntertänigkeit“, befür- 
wortet diese Reform auch aus ökonomischen Motiven, weil die Arbeit 
des Unfreien teuerer sei als die des freien Mannes, eine Ansicht, die 
wir wiederholt in der deutschen Literatur zu jener Zeit finden, so bei 
Thaer, Kraus, Jakob, Hoffmann u. m. a. Wahrscheinlich 
haben diese Schriftsteller diese Ansicht von Smith übernommen. 


Bern. F. Lifschitz. 


Pototzky, Hans, Ludwig Heinrich von Jakob als National- 
ökonom. Ein Beitrag zur Geschichte der Nationalökonomie Deutschlands 
im 19. Jahrhundert. 101 SS. Straßburg i. E., 1905. 

Jakob hat seiner zeit ein großes Ansehen genossen. Er war auf 
drei Gebieten tätig: als Philosoph, Nationalökonom und Statistiker, bezw. 
Herausgeber einer statistischen Zeitschrift, welche er gemeinsam mit 
Leopold Krug redigierte. An mehreren deutschen Universitäten sind 
nach Jakobs Schriften Vorlesungen abgehalten worden, was als ein 
Zeichen des großen Einflusses gelten kann, den er auf seine Zeit- 
genossen ausgeübt hat. 

Dieser Einfluß ist eine Tatsache, die jedem, der sich mit Quellen- 
forschung der deutschen Literaturgeschichte der Nationalökonomie der 
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts befaßt, sehr gut bekannt ist. Den 
„Nationalökonomen“ Jakob unternimmt die vorliegende Schrift zu unter- 
suchen. Dieselbe enthält folgende Abschnitte: Jakob als Kritiker der 
Physiokraten, seine Stellung zu Smith, zu Malthus, zu Ricardo, seine 
Methode, seine Finanzwissenschaft, seine Stellung zur Erbuntertänigkeit, 
Sehlußbetrachtungen, wie auch eine kurze biographische Skizze. Pototzky 


35* 


548 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


stellt fest, daß Jakob als Kritiker der Physiokratie von der letzteren 
nur eine unzureichende Kenntnis gehabt habe und daher „sei es durch- 
aus falsch, wenn Roscher behauptet, Jakob, hätte die Physiokratie“ 
widerlegt. Ferner weist P. nach, daß Jakob Anhänger von Smith 
gewesen wäre und zwar Smith im Sinne eines Relativisten. 

Was die Methode Jakobs anbetrifft, so ersehen wir, daß er sowohl 
das induktive wie auch das deduktive Verfahren befürwortet, er ist 
also, was Methodologie anbelangt, Vermittlungsthesretiker, ganz im Sinne 
von Smith (vgl. darüber meine Schrift: Ad. Smiths Methode, Bern 1906). 
Literarhistorisch ist es interessant zu wissen, daß wir bei Jakob Ideen 
über den Freihandel finden, die wir bei List wiederfinden. Wie ich 
quellenmäßig weiß, so hat List Jakobs Schriften sehr gut gekannt. 
Ferner was Thünen betrifft, so hat Jakob bereits die „Rente der Lage“ 
entwickelt. (Vgl. meine Abh. in Conrads Jahrb. über die Grundrente 
von Thünen, 1905). 

Die Darstellung ist im allgemeinen objektiv und liefert einen 
guten Beitrag über die Aufklärung bezüglich der Beziehungen zwischen 
den Ideen Kants und Smiths. 


Bern. F. Lifschitz. | 


Bebel, A., Charles Fourier. Sein Leben und seine Theorien. Mit einem Porträt 
Fouriers und einer Abbildung des Phalanstères. 3. Aufl. Stuttgart, J. H. W. Dietz 
Nachf., 1907. 8. XVI—271 SS. M. 2.—. 

Berolzheimer, Fritz, System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie. 5. (Schluß-) 
Bd. Strafrechtsphilosophie und Strafrechtsreform. München, C. H. Beck, 1907. gr. 8. 
IX—230 SS. M. 7,50. 

Gutmann, S. Hirsch, J. G. Fichtes Sozialpädagogik. Bern, Scheitlin, Spring 
& C°, 1907. gr. 8. III—100 SS. M. 1,50. (Berner Studien zur Philosophie und ihrer 
Geschichte, Bd. 51.) 

Institut, Das internationale, für Sozial-Bibliographie. Ein Bericht über seine 
bisherige Entwicklung. Herausgeg. vom Vorstande. Dresden, O. V. Böhmert, 18907. 
Lex.-8. 44 SS. M. 1.—. 

Kautsky, Karl, Die soziale Revolution. 2. durchgesehene u. verm. Aufl. Berlin, 
Buchh. Vorwärts, 1907. 8. 112 SS. M. 1,50. 

Marx, Karl, Lohnarbeit und Kapital. (Aus: Neue rheinische Zeitung vom Jahre 
1849.) Neu herausgeg. von K. Kautsky. Mit einer Einleitung von Friedrich Engels. 
Berlin, Buchh. Vorwärts, 1907. 8. 40 SS. M. 0,25. 

Schraut, Max von, Die persönliche Freiheit in der modernen Volkswirtschaft. 
Mit einem Geleitwort von Paul Laband. Tübingen, J. C. B. Mohr, 1907. 8. M. 2,50. 

Toennies, Das Wesen der Soziologie. Dresden, v. Zahn & Jaensch, 1907. 8. 
M. 1.—. 

Bakounine, Michel, Oeuvres. Tome II. Les ours de Berne et lours de Saint- 
Pétersbourg (1870). Lettres à un Français sur la erise actuelle (Septembre 1870). 
L'empire knouto-germanique et la révolution sociale (1870—1871). Avec une note bio- 
graphique, des avant-propos et des notes, par James Guillaume. Paris, P.-V. Stock, 
1907. 8. LXIII—455 pag. fr. 3,50. (Bibliothèque sociologique. N° 38.) 

Doll&ans, Édouard, Individualisme et socialisme. Robert Owen (1771—1858). 
Avant-propos de M. Émile Faguet. Paris, Felix Alcan, 1907. 8. VIII—374 pag. 
fr. 3,50. 

Faguet, Emile, Le socialisme en 1907. Paris, Lecöne, Oudin, 1907. 12. 
fr. 3,50. 

Kurnatowski, Georges, Esquisse d’&volution sulidariste. Paris, Marcel Rivière, 
1907. 4. 95 pag. fr. 2,50. 

Tarde, Alfred de, L'idée du juste prix. Essai de psychologie économique. 
Paris, Felix Alcan, 1907. 8. fr. 7.—. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 549 


Ruskin, John, “Unto This Last“. Four essays on the first principles of politi- 
cal economy. London, Routledge, 1907. 12. 1/.—. (New Universal Library.) 

Conti, Emilio, Questioni igienichee sociali. (Risparmio—Cooperuzione rurale — 
Socialismo e mortalità infantile.) Milano, L. F. Cogliati, 1906. 16. 190 pp. 1. 2.—. 


Ravà, Adolfo (prof.), Il socialismo di Fichte e le sue basi filosofico-giuridiche. 
Palermo, R. Sandron, 1907. 8. 38 pp. 1. 1,50. 


2. Geschichte und Darstellung der wirtschaftlichen Kultur. 
Speck, E., Handelsgeschichte des Altertums. Dritter Band, 1. 
Hälfte: Die Karthager. Die Etrusker. Die Römer bis zur Einigung 
Italiens 265 v. Chr. Leipzig (Friedrich Brandstetter) 1905. Dritter 
Band, 2. Hälfte A: Die Römer von 265 bis 30 v. Chr. Dritter Band, 
2. Hälfte B: Die Römer von 30 v. Chr. bis 476 n. Chr. Leipzig 1906. 


Im Grunde genommen gibt es vier Arten, Geschichte zu schreiben: 
zum ersten mit gesicherten Forschungsergebnissen und mit selbstän- 
diger Auffassung oder mit gesicherten Forschungsergebnissen ohne selb- 
ständige Auffassung, zum anderen aber mit wenig gesicherten Forsch- 
ungsergebnissen und mit selbständiger Auffassung, oder endlich mit 
wenig gesicherten Forschungsergebnissen und ohne selbständige Auf- 
fassung. Während die an letzter Stellung genannte, leider recht häufige 
Weise der Geschichtsschreibung wohl allseitig und einmütig verurteilt 
wird, ist die Beurteilung der ersten drei Arten im wesentlichen von 
der Bedeutung und Stellung abhängig, die jeweils dem Problem und dem 
Problematischen innerhalb der Forschung selber zuerkannt werden. Von 
dem Grad der vorhandenen eigenen Auffassung ist vornehmlich die Wirkung 
in weiteren Kreisen, von der Zuverlässigkeit des verarbeiteten Materials 
die unter den Fachgenossen abhängig, nur daß diese noch gesteigert 
und vertieft wird je nach dem Zuschuß von kritischem Scharisinne, den 
der Autor selber hinzufügt. 

Speck gehört zu der zweiten Kategorie von Geschichtsschreibern, 
zu der Zahl derjenigen, die mit gesicherten Forschungsergebnissen ar- 
beiten, aber vorsichtig und behutsam eine selbständige und originale 
Auffassung zurückdrängen. Auch von einer Kritik oder gar von einer 
Hyperkritik ist in den drei starken Bänden, die hier angezeigt werden, 
keine eigentliche Rede, weil sich die kompilatorische Arbeitsart in 
der Aneinanderreihung von Lesefrüchten und Auszügen aus sekundären 
Quellen allzu bemerkbar macht. Und trotzdem dürfte auch Specks 
Handelsgeschichte des Altertums einer freundlichen Aufnahme in weiteren 
Kreisen des gebildeten, wirtschaftsgeschichtlich interessierten Publikums 
ziemlich gewiß sein. Der Grund liegt meines Erachtens in der All- 
seitigkeit und umfassenden Kenntnis des Verfassers, die ihn keine einiger- 
maßen wichtige Seite des Wirtschaftslebens, keine irgendwie verwert- 
bare Aeußerung der allgemeinen Kulturentfaltung übersehen läßt, dann 
aber auch in der wirklichen Gemeiuverständlichkeit der Betrachtung, 
in der durchsichtigen und flüssigen Darstellung, die sich ein nahezu 
einwandfreies und gutes Sprachgewand gewirkt hat. 

Die Reichhaltigkeit und Vielseitigkeit der Darstellung ist nun freilich 
durch die Natur des Quellenmaterials mindestens in gleicher Weise bedingt 
worden wie durch die Natur des Verfassers und seiner schriftstellerischen 
Eigenart. Die Gegenwart ist in der glücklichen Lage, die Blüte des 


550 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Handels nach den ihr zu Gebote stehenden Angaben und Ziffern der 
Statistik, aus ihren Ermittelungen über Produktion, Umsatz und Ver- 
brauch der Rohstoffe, Ein- und Ausfuhr, über die Höhe der Ein- 
kommensverhältnisse, der Zölle und Steuern zu werten. Weil aber 
aus der griechisch-römischen Zeit derartige Angaben nicht oder nur 
höchst vereinzelt vorliegen, so wird eine einigermaßen zutreffende Ab- 
schätzung der wahren Bedeutung des Handels in der antiken Volks- 
wirtschaft kaum völlig gelingen, ja es wird namentlich schwierig sein, 
festzustellen, zu welchen Zeiten und bei welchen Völkern die Handels- 
tätigkeit eine unentbehrliche Grundlage des auf Bedürfnis und Bedürfnis- 
befriedigung aufgebauten Wirtschattslebens gebildet hat, eine conditio 
sine qua non. Wer solchen Fragen und Erwägungen nicht aus dem 
Wege gehen will, wird natürlich genötigt sein, aus einer Betrachtung 
der menschlichen Kulturbetätigung in ihrem weitesten Umkreis die An- 
haltspunkte für seine Schlußfolgerungen zu entnehmen, er wird, wie das 
Speck reichlich getan hat, Fabrikation und Gewerbebetrieb, Geldgeschäfte, 
Zins- und Zollverhältnisse, Wegebau und Verkehrsmittel, Topographie, 
Klima und physische Landesnatur, Bevölkerung, Bank- und Münzwesen, 
aber auch alle sozialen und politischen Wandlungen, die Staatsverfass- 
ungen, das gesamte geistige und sittliche Leben in seine Darstellung 
einbeziehen müssen. Nur sollte diese weniger häufig, als das bei Speck 
geschieht, ihren Hauptzwerk vergessen, der doch alle jene tausenderlei 
Exzerpte und Einzelheiten erst zur organischen Einheit verbindet, damit 
sich der Leser nicht Schritt für Schritt vergegenwärtigen muß, daß er ja 
eigentlich eine Handelsgeschichte vor sich hat, und sich selber oft erst 
mühsam die Beziehungen alles dessen, was er erfährt, zu dem Handel 
herstellen muß. 

So sehr ich persönlich endlich öfter ein kühneres Urteil oder eine 
schärfere kritische Stellungnahme gewünscht hätte, die einer Ein- 
tührung in die wissenschaftliche Diskussion unmittelbar zu gute ge- 
kommen wären, und so gewiß es dabei auch der Darstellung zum Vor- 
teil gereicht hätte, wenn die gewaltigen Probleme, die allentbalben die 
antike Handelsgeschichte umranken, plastischer und greifbarer heraus- 
gearbeitet worden wären, so verkenne ich doch keineswegs, daß die 
Nichterfüllung dieser Desideria gerade den Charakter eines Hand- und 
Nachschlagebuches nicht in Frage gestellt hat, und also einer wesentlichen 
Forderung des Tages gerecht geworden ist. Denn das Bedürfnis nach 
Handbüchern und Sammelwerken ist nun einmal heutzutage weitver- 
breitet, je eindringlicher die allgemeine Bildung bei der unübersehbaren 
Häufung des Wissensstoffes und bei der schweren Zugänglichkeit des 
Quellenmaterials nach etwas Fertigem und Abgeschlossenem verlangt. 
Man mag dieses Verlangen, seine Intensität oder auch seine Veranlassung 
beklagen: Der Autor, der ihm entgegenkommt, verdient immerhin eine 
gewisse Anerkennung, wofern er nur nicht allzu eifrig darauf aus war, 
über der Hervorkehrung anscheinend unbestreitbarer Tatsachen den 
Problemcharakter des wissenschattlichen Denkens zu verhüllen. Es soll 
unserem Verfasser zu Ruhm und Dank gesagt sein, daß er nicht nach 
einer derartigen billigen Popularität gegeizt und damit seinem fleißigen 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 551 


und umfassenden Werk die unersetzliche Anregungsmacht zu weiterer 
Forscherarbeit völlig geraubt hat. Möchte denn, das ist mein ehr- 
licher Wunsch, die Entfaltung der ihr zu einem gewissen Grade innewoh- 
nenden wissenschaftlichen Anregungsmacht bei Specks Handelsgeschichte 
nicht hinter der Förderung zurückbleiben, die sie zweifellos einem all- 
gemeingebildeten und besonders kaufmännischen Leserkreis bringen wird! 


Halle a./S. Theo Sommerlad. 


Luschin von Ebengreuth, A. Allgemeine Münzkunde und 
Geldgeschichte des Mittelalters und der Neueren Zeit. (v. Below und 
Meinecke, Handbuch der Mittelalterlichen und Neueren Geschichte.) 
München und Berlin (R. Oldenbourg) 1904. 

Bis zur Stunde sind die deutsche Finanzgeschichte und die deutsche 
Münzgeschichte noch recht eigentlich zwei Stiefkinder der historischen 
Forschung. Während aber allseits genügende finanzgeschichtliche Werke 
nur wenig vorhanden sind, ist die Literatur über das mittelalterliche 
Münzwesen geradezu ins Ungeheuerliche gewachsen. Freilich, sie besteht 
vornehmlich aus Aufsätzen und Abhandlungen, die zwecks Verwertung 
durch die Forscher mühsam aus den oft schwer zugänglichen Fachzeit- 
schriften aus aller Herren Länder zusammengesucht werden müssen 
und deren Ergebnisse noch immer dem Streit der Meinungen unter- 
worfen sind. Den Bedürfnissen und Wünschen der Forschung wie der 
Forscher erscheint deshalb das Werk Luschins von Ebengreuth, die reife 
Frucht einer vierzigjährigen literarischen Beschäftigung mit *Münzen, 
als eine höchst erfreuliche Gabe. 

Von den beiden Betrachtungsweisen der Numismatik ist in dem 
286 Seiten starken Bande sowohl die deskriptiv-formale, wie die volks- 
wirtschatftlich-politische zu ihrem Recht gelangt. Der erste Teil bringt 
in 16 Paragraphen die „Allgemeine Münzkunde“, der zweite Teil in 14 
Paragraphen die „Geldgeschichte“. Dort wird von der äußeren Beschaffen- 
heit der Münze und ihrer Herstellungsowie von der Münze als Gegenstand 
des Sammelns gehandelt, hier den Beziehungen der Münze zur Geldlehre 
und zum Recht nachgegangen. Diese sachlich-methodische Zweiteilung 
ist meiner Meinung nach weit mehr als ein Hilfsmittel der Uebersicht- 
lichkeit und des besseren Verständnisses, weit mehr als eine gewöhn- 
liche Klassifikation oder Periodisierung. Wer bedenkt, daß schon Karl 
Knies (Die politische Oekonomie vom geschichtlichen Standpunkt, 1883, 
S. 2) bemerkte, Fragen der Technik als solche, alle Erörterungen über 
die Kunst des äußeren Verfahrens bei der Herstellung von Gütern ge- 
hörten nicht der politischen Oekonomie an, der wird in der Zweiteilung 
Luschins von Ebengreuth eine gewisse Lösung des Problems begrüßen 
können. Wenn auch jene technischen Fragen als solche nicht zur poli- 
tischen Oekonomie gehören, so bilden sie doch für die Fragestellung 
dieser Wissenschaft eine wichtige und unentbehrliche Voraussetzung. 
Wenn sie daher — wie in dem vorliegende Buche — nicht völlig unbeachtet 
geblieben, aber doch deutlich und erkenntlich zum Gegenstand einer 
Sonderbehandlung gemacht worden sind, so kann das der Klärung der 
Auffassung bei jedem, der fortan auf Grund dieses Buches den Problemen 


552 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


der Geldgeschichte näher tritt, nur zu dauerndem Vorteil gereichen. 
Den Verfasser selber hat die Klarheit über den Begriff der Münze und über 
das Wesen der Numismatik und den daraus erkennbaren Zweck seines 
Handbuches zum wohlbegründeten Ausschluß aller jener münzähnlichen 
Gebilde veranlaßt, die, wie Medaillen, Plaketten, Jetons, Rechen-, Zahi- 
oder Raitpfennige, Burgfried-, Bereitungsmünzen, Wallfahrts- und Bet- 
pfennige, sowie Marken und Zeichen (Steuer-. Kontroll-, gewerbliche und 
Adreßmarken) in das Gebiet der Sammeltätigkeit fallen und den Münz- 
sammlungen vielfach angegliedert werden. Trotzdem derartige Stücke 
den Münzen in Form und Erscheinung mehr oder minder gleichen, so 
dürfen sie nach dem Verfasser nicht als solche gelten, weil sie entweder 
nicht staatlichen Ursprungs sind oder nicht als Zahlungsmittel dienen 
sollen (S. 18). Auf der anderen Seite aber ist der Umfang der Geld- 
geschichte größer als der der Münzgeschichte, weil der Kreis der als Geld 
dienenden Gegenstände ungleich größer ist als jener der Münzen (S. 34). 

Je mehr sich die Beurteilung in das vorliegende Werk und in seine 
Einzelheiten vertieft, um so mehr wird sie bei seinem Verfasser jene 
seltene Vereinigung der beiden Eigenschaften vorfinden, die nach seiner 
eigenen Auffassung eine gedeihliche Beschäftigung mit der Münzkunde 
und Geldgeschichte erst ermöglichen: die Fach- und Sachkenntnis in der 
Numismatik und die geschichtliche und nationalökonomische Schulung. 
Sie haben ihn befähigt, trotz des auch von ihm mit Bedauern empfundenen 
Mangels einer eigentlichen mittelalterlichen Metrologie (vgl. S. 157) 
eines der wichtigsten Kapitel der deutschen Archäologie und der ma- 
teriellen Kulturentwickelung überhaupt mit einigermaßen zuverlässigen 
Forschungsergebnissen abzuschließen. Numismatiker, Nationalökonomen 
und Historiker werden ihm dafür Dank wissen. Möchten sie wie er 
ein volles Verständnis für die beiden Fragen bekunden, deren Gleich- 
berechtigung und Gleichbedeutung Grotes „Geldlehre“ im Jahre 1565 
eindringlich betonte: „Cuius sit imago et superscriptio?* und „Quo 
valeat nummus, quem praebeat usum ?* 


Halle a./S Theo Sommerlad. 


Huber, F. C., 50 Jahre deutschen Wirtschaftslebens. Der gesetz- 
geberische Ausbau des Deutschen Reiches und seine Wirtschaftspolitik. 
Stuttgart 1906. 

Schon seit Jahrzehnten beschäftigt alle denkenden Köpfe in 
Deutschland die Frage, wohin geht die Fahrt der deutschen Volkswirt- 
schaft, wohin zielt die Entwicklung. 

Professor Huber ist einer der ältesten Vorkämpfer auf diesem Ge- 
biete. Seit Jahren ist er bemüht, die Entwickelungsfäden zu entwirren 
und die Richtlinien für die zukünftige Gestaltung unserer Wirtschafts- 
politik aufzuweisen. ; 

Die beiden vorliegenden Broschüren von Professor Huber behandeln 
beide diese Frage und wären daher m. E. besser zu einem Werke ver- 
arbeitet, zumal die Hauptgedankengänge in beiden wiederkehren. Er 
steht auf dem gemäßigt freihändlerischen Standpunkt. 

Die Richtlinien für unsere zukünftige Politik müssen 
nach ihm folgende sein: 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 553 


Unsere moderne Entwicklung sowohl wie unsere Zukunft beruht 
auf unserer wirtschaftlichen, finanziellen und Heeresmacht. Diese gründen 
sich auf die moderne technisch kapitalistische Entwicklung. 

Je mehr Deutschland in der Technik und der Kapitalentwicklung 
fortschreitet und je weniger es darin hinter seinen Konkurrenten, Eng- 
land und Amerika zurückbleibt, um so mehr ist die Zukunft Deutsch- 
lands gesichert. 

Es ist daher die Selbsterhaltungspflicht Deutschlands, 
die Technik und Kapitalsentwicklung auf alle Weise zu 
fördern. Hand in Hand damit muß dann als Ergänzung und ständige 
Korrektur die innere Schutzpolitik gehen. Sie darf aber nicht 
unsere weitere Fortentwickelung in technisch kapitalistischer Beziehung 
stören oder aufhalten, sondern sie soll nur die ev. üblen Nebenfolgen 
dieser Entwickelung für einzelne Bevölkerungsteile lindern, bezw. be- 
seitigen. 

Die beste Politik nach innen und außen ist die, alle Hindernisse 
für den Fortschritt aller Bevölkerungsklassen zu beseitigen und die 
Leistungsfähigkeit aller Bevölkerungsklassen, namentlich auch der unteren, 
dadurch möglichst zu heben, daß man allen Volksangehörigen eine 
möglichst gute Ausbildung und Erziehung gibt, so daß sie in 
die Lage versetzt werden, alle ihre Kräfte und Fähigkeiten zu ihrem 
eigenen wie zum Gesamtwohle zu betätigen und zu verwenden. Darum 
“möglichste Hebung der zum Teil völlig veralteten Volks- 
schulbildung, Hebung des Fortbildungs- und Fachschulwesens, Ein- 
richtung von Volksbibliotheken, Volks-Hochschulkurse, Förderung des 
Genossenschaftswesens, kurz aller derjenigen Mittel, welche geeignet 
sind, die Gaben und Fähigkeiten der Bevölkerung auszubilden. — 

Man wird diesen Huberschen Ausführungen nur wünschen können, 
daß sie recht bald in die Praxis umgesetzt werden. 

Berlin. J. Wernicke. 


Alemann, M., Am Rio Negro. Drei Reisen nach dem argentiniscnen Rio Negro- 
Territorium. Berlin, Dietrich Reimer, 1907. gr. 8. XV—157 SS. mit Abbildungen und 
Karten. M. 3.—. 

Kaindl, Raimund Friedrich (Prof.), Geschichte der Deutschen in den Kar- 
pathenländern. 1. Bd. Geschichte der Deutschen in Galizien bis 1772. Mit 1 Karte. 
Gotha, Perthes, 1907. gr. 8. XXI—369 SS. M. 8.—. (Deutsche Landesgeschichten. 
Herausgeg. von Armin Tille. 8. Werk.) 

Kobatsch, Rudolf, Internationale Wirtschaftspolitik. Ein Versuch ihrer wissen- 
schaftlichen Erklärung auf entwicklungsgeschichtlicher Grundlage. Wien, Manz, 1907. 
gr 8. XXV—473 SS, M. 12.—. 

Pr&vöt, René, Das Deutsch-Französische Kulturproblem im Elsaß. Berlin, 
Wilhelm Süsserott (1907). gr. 8. 27 SS. M. 0,50. 

Schmidt, Wilhelm, Die Kirchen- und Schulvisitation im sächsischen Kurkreise 
vom Jahre 1555. 2. Heft: Die wirtschaftlichen Verhältnisse. Halle (R. Haupt) 1906. 
gr. 8. 1II—-88 SS. M. 1,20. (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte. N’ 92.) 

Schmitz, Oscar H., Französische Gesellschaftsprobleme. Berlin, Wedekind & C’, 
1907. 8. 200 SS. M. 3.—. 


Lescure, Jean, Des crises générales et périodiques de surproduction. Paris, 
Larose et Tenin, 1907. 8. fr. 10.—. 

Picard, Alfred, Le bilan d'un siècle (1801—1900). Tome V*. Industrie chi- 
mique’ — Industries diverses — Économie sociale. Paris, Librairie H. Le Soudier, 1907. 
4. 470 pag. fr. 10.—. 


554 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslande. 


Salmon, Albert et Edmond Charleville, Le Maroc. Son état économique 
et commercial. Paris, Berger-Levrault, 1907. 12. fr. 3,50. 

Dicey, Edward, The Egypt of the future. London, Heinemann, 1907. 8. 
224 pp. 3./6. 

James, Henry, The American scene. London, Chapman and Hall, 1907. 8. 
VI—465 pp. 12.6. 

Pleydell, Kathleen Mansel, Sketches of life in Morocco. London, Digby, 
Long, 1907. 8. 304 pp. 6/.—. 

Tucker, T. G., Life in acient Athens; social and public life of a classical Athenian 
from day to day. London 1907. 8. 226 pp. 5/.—. 

Perrone, G. M., Il Perù: memorie di un’ antica civiltà. Palermo 1907. 8. 
384 pp. 1. 5.—. 

Stoppani, Antonio, Da Milano a Damasco: ricordo di una carovana milanese. 
3* edizione illustrata. Milano, L. F. Cogliati, 1907. 16. XX—638 pp. con tavole, 
1. 4,50. 

Tedeschi, I, nella vita moderna, osservati da un Italiano. Milano, fratelli Treves, 
1907. 16. VIII—367 pp. 1. 3,50. 


3. Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik. Auswanderung 
und Kolonisation. 


Borchert, Hermann (Regierungs-R. a. D.), Innere Kolonisation in Pommern. 
Anklam, R. Poetteke Nachf., 1907. 8. 32 SS. M. 0,50. 

Denkschrift über die Ausführung des Gesetzes vom 26. April 1886, betreffend 
die Beförderung deutscher Ansiedelungen in den Provinzen Westpreußen und Posen, für 
das Jahr 1906. Nebst Anlagen. (Druckschriften des preußischen Hauses der Abgeord- 
neten. No. 56.) Berlin (W. Moeser, 1907). 4. 22—537 SS. M. 7,50. 

Fitzner, Rudolf (Prof.), Deutsches Kolonial-Handbuch. Nach amtlichen Quellen 
bearbeitet, Ergänzungsbd. 1906. Berlin, H. Paetel (1907). gr. 8. VI—268 SS. mit 
Abbildungen. M. 3.—. 

Grotewold, Chr., Unser Kolonialwesen und seine wirtschaftliche Bedeutung. 
Stuttgart, E. H. Moritz, 1907. 8. M. 2.—. 

Kuhn, Philalethes (Stabsarzt), Die Herero. Vortrag. Berlin, D. Reimer, 
1907. gr. 8. 14 SS. M. 0,40. (Verhandlungen der dentschen Kolonial-Gesellschaft. Ab- 
teilung Berlin-Charlottenburg. 1907, Bd. 1X, Heft 1.) 

Liersemann, Heinrich (Kapitänleutn. a. D.), „S. K. H. Prinz“ Ludwig Paul 
Heinrich M'’Pundo. Ein Beitrag zur Rassenfrage, Berlin, C. A. Schwetschke und Sohn, 
1907. gr. 8. 62 SS. M. 1.—. 

Oetker, Karl, Die Neger-Seele und die Deutschen in Afrika. Ein Kampf gegen 
Missionen, Sittliehkeits-Fanatismus und Bürokratie vom Standpunkt moderner Psycho- 
logie. München, J. F. Lehmanns Verlag, 1907. gr. 8. 46 SS. M. 1,20. 

Zimmermann, Alfred, Kolonialpolitik. Leipzig, €. L. Hirschfeld, 1907. gr. 5. 
M. 12,60. 

Masterman, C. F. G., and Others, To colonise England. A plea for a policy. 
London. T. Fisher Unwin, 1907. 8. XXII—211 pp. 2/.6. 

Sutherland, William, The colonisation of Scotland. London, D. J. Rider, 
1907. 8. 94 pp. 1/:—. 

Nunnari, Filippo, L’emigrazione nella provincia di Messina. Messina, tip. 
Micale, 1906. 8. 19 pp. 1. 1. 


4. Bergbau. Land- und Forstwirtschaft. Fischereiwesen. 


Cronbach, Else, Das landwirtschaftliche Betriebsproblem in der deutschen Na- 
tionalökonomie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Wien, C. Konegen, 1907. gr. 3. 
M. 14,40. 

Evert (Ober-Regierungs-R.), Der deutsche Osten und seine Landwirtschaft. Nach 
einem Vortrage. Berlin, R. von Decker, 1907. gr. 8. 36 SS. M. 0,60. 

Gerlach, Otto (Prof.), Die Entschuldung des ländlichen Grundeigentums. Berlin, 
J. Guttentag, 1907. 8. 24 SS. M. 0,50. (Aus: Bank-Archiv. Jahrg. VI. N' 9.) 

Haushofer, M. (Kreiskulturingenieur), Die Entwässerung des Donaumooses bei 
Neuburg, hier die Verbesserung der wasserwirtschaftlichen Verhältnisse und Kulturzu- 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 555 


stände im Donaumoose. Mit einer Karten-Beilage. Augsburg (Lampart & C°) 1907. 
Lex.-8. VI—235 SS. M. 4,50. 

Hufnagl, Leopold (Zentralgüterdir.), Handbuch der kaufmännischen Holzver- 
wertung und des Holzhandels. 2., neubearb. Aufl. Berlin, P. Parey, 1907. gr. 8. 
X—339 SS. mit 28 Abbildungen. M. 8.—. 

Jacob, E., Die Steinbruch- und Steinmetz-Betriebe im badischen Bauland. Eine 
volkswirtschaftliche Studie. Karlsruhe, G. Braunsche Hofbuchdruckerei, 1907. gr. 8. 
VI—93 SS. mit 1 Karte. M. 2.—. 

Klaban, Franz (Adjunkt), Einige Mitteilungen über die Vorteilhaftigkeit der 
Boden-Melioration und die zu diesem Zwecke sowie zur Errichtung von landwirtschaft- 
lichen Wasserleitungen erreichbaren öffentlichen Unterstützungen. Prag (J. G. Calve) 
1907. gr. 8. 63 SS. M. 1,20. 

Lindner, Richard, Die Landeshypothekar-Institute und die landwirtschaftliche 
Entschuldung. Aus dem Böhmischen übersetzt vom Verfasser. Prag (F. Rivnäc) 1907. 
gr. 5. 64 SS. M. 1.—. 

Mälzer, Oswald, Die Landwirtschaft im Herzogtum Sachsen-Altenburg. Karls- 
ruhe, G. Braunsche Hofbuchdruckerei, 1907. gr. 8. 127 SS. M. 2,40. (Volkswirt- 
schaftliche Abhandlungen der Badischen Hochschulen. Bd. IX. Ergänzungsheft 3.) 

Sehnlz-Briesen, B., Das Steinkohlenbeeken in der Belgischen Campine und in 
Holländisch-Limburg. Kattowitz, Gebr. Böhm, 1907. 8. M. 1. 

Wagner, Paul (Versuchstat.-Vorsteher), Forschungen auf dem Gebiete der Wein- 
bergddüngung. Unter Mitwirkung von R. Dorsch, G. Hamann und A. Münzinger. Berlin, 
P. Parey, 1907. Lex.-8. VI-—152 SS. M. 2.—. (Arbeiten der deutschen Landwirt- 
schafts-Gesellschaft. Heft 124.) 

Waldeck, Karl, Streifzüge durch die Blei- und Silberhütten des Oberharzes. 
Mit 5 Tafeln. Halle a. S., Wilhelm Knapp, 1907. Lex.-8. 68 SS. M. 3,40. 

Wilhelm, Karl (Prof.), Kleiner Bilder-Atlas zur Forstbotanik. Textabbildungen 
aus dem Werke: Die Bäume und Sträucher des Waldes von G. Hempel und K. Wilhelm. 
Für Studierende und Waldfreunde zusammengestellt und mit kurzen Anmerkungen ver- 
sehen. Wien, E. Hölzel, 1907. gr. 8. 1V—167 SS. mit 294 Figuren. M. 4,50. 

Woernle (Forstamtmann), Die Bedeutung einer Forsteinrichtungs-Anstalt. Vortrag. 
Stuttgart (H. Lindemann, 1906). 8. 45 SS. M. 0,50. 

Zur livländischen Agrarfrage. (Herausgeg. von der Kommission zur Bearbeitung 
der Frage einer Ansiedlungspolitik für Livland. Vorsitzender: E. v. Oettingen.) Dor- 
pat (Riga, G. Löffler) 1906. 27 SS. M. 0,80. (Aus: Baltische Wochenschrift für 
Landwirtschaft, Gewerbefleiß und Handel.) 


Chalon, Paul F., Les richesses minérales de l’Algerie et de la Tunisie. Paris, 
Dunod et Pinat, 1907. 8. Avec 1 carte. fr. 4,50. 

Fron, A., Analyse et contrôle des semences forestières. Paris, Berger-Levrault, 
1907. 8. Avee figures. fr. 3.—. 

Jovanovitch, Douchan, Les richesses minérales de la Serbie. I. Les 
gisements aurifères. Paris, Dunod et Pinat, 1907. 4. Avec 55 figures et 1 carte. 
fr. 10.—. 

Nicolas, Pierre, Les grandes cultures du monde. La vigne. Paris, Flammarion, 
1907. 4. Avec 1 planche et 60 illustrations. fr. 1,90. 

Wickersheimer, E., Considérations économiques sur Pexploitation du pétrole en 
Roumanie. Paris, Dunod et Pinat, 1907. 8. 57 pag. fr. 2,50. 

Yermoloff, Alexis, La Russie agricole devant la crise agraire. Paris, Hachette, 
1907. 8. fr. 5.—. 

Kebbel, F. E., Agricultural labourer. Summary of his position. 4" edition. 
London 1907. 8. 184 pp. 2.6. (Social science Series.) 

Caggese, Romolo, Classi e comuni rurali nel medio evo italiano. Saggio di 
storia economica e giuridica, Vol. I. Firenze, Tipografia Galileiana, 1907. 8. XVII 
—405 pp. 1. 4.—. (Pubblicazioni del R. Istituto di scienze sociali „Cesare Alfieri“ 
in Firenze. IL.) 

Condizioni, Le, di lavoro nelle risaie. (Ministero di agricoltura, industria e 
commercio.) Roma 1907. 4. VI—211 pp. 1. 2,50. 

Moschini, R., La coltivazione del riso in Italia. Padova-Verona 1907. 8. 
85 pp. 1. 1,50. 


556 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


5. Gewerbe und Industrie. 


Esche, Arthur, Arbeitsordnungen und Arbeiterausschüsse. Dresden, v. Zahn 
& Jaensch, 1907. 8. M. 1.—. 

Greif, Wilfrid, Studien über die Wirkwarenindustrie in Limbach i. Sa. und Um- 
gebung. Karlsruhe i. B., Braunsche Hofbuchdruckerei, 1907. gr. 8. VII—115 SS, 
M. 1,50. (Volkswirtschaftliche Abhandlungen der Badischen Hochschulen. Bd. IX. 
Ergänzungsheft 2.) 

Mass, Konrad (Ober-Bürgermeister), Die Praxis des Gewerbegerichts Stettin. 
Berlin, F. Siemenroth, 1907. gr. 8. IV—135 SS. M. 2,50. 

Monographien über chemisch-technische Fabrikations-Methoden. Halle a. $., 
Wilhelm Knapp. gr. 8. 

Bd. IV. Dietz, R. (Privatdozent, Dresden), Das Porzellan. 1907. VII—9 S$. 

M. 3,20. 
Bd. V. Grueber, Ritter von, Die Superphosphatfabrikation. 1907. 83 SS. M. 3.—. 
Bd. VI. Meyer, Theodor, Die Fabrikation von Sulfat und Salzsäure, Mit 23 in den 
Text gedruckten Abbildungen. 1907. IX—102 SS. M. 3,40. 

Pashitnow, K. A., Die Lage der arbeitenden Klasse in Rußland. Eine historische 
Darstellung an der Hand amtlicher und privater Untersuchungen und der Berichte der 
Fabrikinspektoren von 1861 bis in die heutige Zeit. Autorisierte Uebersetzung von 
M. Nachimson. Mit einem Anhang von M. Nachimson. Stuttgart, J. H. W. Dietz 
Nachf., 1907. 8. IV—303 SS. M. 2,50. 

Penndorf, Balduin, Das Innungswesen im Königreich Sachsen seit Einführung 
der Gewerbefreiheit. Leipzig, Th. Thomas, 1907. gr. 8. M. 6.—. 

Tyszka, C. v., Handwerk und Handwerker in Bayern im 18. Jahrhunder. 
München, E. Reinhardt, 1907. 8. M. 2,50. 

Weiss, Artur, Textil-Technik und Textil-Handel. 2., verm. u. verb. Aufl. 
Wien, F. Deuticke, 1907. Lex.-8. VII—292 SS. mit! 94 Abbildungen. M. 1.—. 

Ancey, C., Les risques professionnels. Les aceidents et les maladies du travail. 
Paris, Arthur Rousseau, 1907. 8. 205 pag. fr. 4.—. 

André, Louis, Les accidents du travail. Paris, Larousse, 1907. 8. fr. 0,90. 

Poidvin, Guide pratique en matière d’aceidents du travail, à l'usage des patrons, 
employés et ouvriers. Paris, Rivière, 1907. 12. fr. 2,—. 

Pierce, Franklin, The Tariff and the Trusts. New York, The Macmillan 
Company, 1907. 8. IX—387 pp. 6/.6. 

Spencer, M. G., and H. J. Falk, Employment pictures from the Census. London, 
P. S. King, 1907. 8. 2/.6. 

Bugni, E., Le esposizioni nell’economia e nel diritto. Milano 1907. 8. 225 pp. 
1. 5.—. 

Cereseto, G. B., Le industrie insalubri e pericolose. Torino 1907. 8. 119 pp. 
1. 2.—. 

Ottolenghi, Costantino (prof.), I profitti industriali nella costituzione economica 
odierna. Torino, Unione tipografico-editrice, 1907. 8. VIHI—302 pp. con 8 tav. 
1. 8—. 


6. Handel und Verkehr. 


Beaux, Th. de (Prof.), Französische Handelskorrespondenz. Neudruck. Leipzig, 
G. J. Göschen, 1907. kl. 8. VII—144 SS. M. 0,50. (Sammlung Göschen. 133.) 

Biedermann, E., Die technische Entwicklung der Eisenbahnen der Gegenwart. 
Mit zahlreichen Abbildungen im Text. Leipzig, B. G. Teubner, 1907. 8. V—132 88. 
M. 1,25. (Aus Natur und Geisteswelt.) Bdehn. 144. 

Gross (Major), Die Entwickelung der Motor-Luftschiffahrt im 20. Jahrhundert. Vor- 
trag. Mit 3 Separatbildern. Berlin, O. Salle, 1906. gr. 8 31 SS. M. 1.—. 

Heiman, Hanns, Die Neckarschiffer. 1. Teil. Beiträge zur Geschichte des 
Neckarschiffergewerbes und der Neckarschiffahrt. Heidelberg, Carl Winter’s Universitats- 
buchhandlung, 1907. gr. 8. IX--402 SS. M. 13.—. 

Kawraysky, Theodor v., Russische Handelskorrespondenz. Leipzig, G. J. Göschen, 
1907. kl. 8. VIIT—112 SS. M. 0,50. (Sammlung Göschen. 315.) 

Schneider, Alfred, Frachtsatz und Transportmenge unter Zugrundelegung der 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 557 


Verhältnisse des Mannheimer Weizenhandels nach der Schweiz. Karlsruhe, G. Braunsche 
Hofbuchdruckerei, 1907. gr. 8. 52 SS. M. 0,90. (Volkswirtschaftliche Abhandlungen 
der Badischen Hochschulen. Bd. IX, Heft 3.) 

Seidel, A. (Dir.), Der gegenwärtige Handel der deutschen Schutzgebiete und die 
Mittel zu seiner Ausdehnung. 2. (Titel-) Aufl. Gießen, E. Roth, 1907. 8. 63 SS. 
M. 0,60. 

Sonndorfer, Rudolf (Prof.), Lehrbuch der internationalen Handelskunde für 
Handelsakademien und höhere Handelslehranstalten. 2., vollständig neu bearb. Aufl. 
Wien, A. Hülder, 1907. gr. 8. VII—IV—277 SS. mit 8 Formularen. M. 5.—. 

Troske, L. (Prof.), Allgemeine Eisenbahnkunde für Studium und Praxis. 1. Teil. 
Anlage und Bau der Eisenbabnen. Mit 3 Tafeln und 112 Textabbildungen. 2. Teil. 
Ausrüstung und Betrieb der Eisenbahnen. Mit 5 Tafeln und 366 Textabbildungen. 
Leipzig, O. Spamer, 1907. Lex.-8. VIIT—112 SS.; VIII und S. 113—422. M. 3,50; 
M. 8,50. 

Wirth, Albrecht, Der Weltverkehr. Frankfurt a./M., Literarische Anstalt 
(1907). 8. 107 SS. M. 1,50. (Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Mono- 
grapbien. 6.) 

Wittenberg, Max, Die deutsche Reederei in ihrer wirtschaftlichen Gestaltung. 
Berlin, F. Dümmlers Verlag, 1907. gr. 8. M. 10.—. 


Cordemoy, de, Ports maritimes. Tome I. Paris, H. Dunod et E. Pinat, 1907. 
8. VIII—576 pag. fr. 15.—. (Bibliothèque du conducteur de travaux publics.) 

Johnson, Willis Fletcher, Four Centuries of the Panama Canal. London, 
Cassell, 1907. 8. 484 pp. with illustrations. 12/.—. 

Murray, A. E., A history of the commercial and financial. relations between Eng- 
land and Ireland. New edition. London, P. S. King, 1907. 8. 3/.6. 

Railway Organization and Working, American. A series of leetures deli- 
vered before the Railway Classes of the University of Chicago. Edited by Ernest Rit- 
son Dewsnup. Chicago, The University of Chicago Press, 1906. 8. XI—498 pp. 
9.— 

Alessandri, P. E., Merceologia tecnica. Vol. I: Materie prime greggie e semi- 
lavorate di uso commerciale ed industriale. Milano, U. Hoepli, 1907. 16. XI— 
530 pp. e 142 tav. 1. 6.—. (Manuali Hoepli.) i 

Geisser, Alberto, La navigazione interno nell’ alta Italia in accordo coi vitali 
interessi della Svizzera. Torino 1907. 8. 117 pp. 1. 2.—. 


7. Finanzwesen. 

Laband, Prof. Dr. Paul, Straßburg i. Elsaß, über die rechtliche Zulässigkeit 
von Schiffahrtsabgaben, insbesondere auf dem Rhein. Sonderabdruck aus dem stenogr. 
Bericht über die öffentliche Versammlung in Mannheim, 16. Februar 1907. Herausgeg. 
von der Handelskammer für den Kreis Mannheim. (Mannheim, Hofbuchdruckerei 
Max Hahn & C°, 1907.) gr. 8. 24 SS. 

Maatz, Richard (Regierungs-R.), Die kaufmännische Bilanz und das steuerbare 
en 4. Aufl. Berlin, Carl Heymanns Verlag, 1907. gr. 8. VIII—346 SS. 
M. 6.—. 

Metzen, Josef (Oberlehrer), Die Finanzverwaltung der Stadt Limburg a. d. Lahn 
1606—1803. Limburg (H. A. Herz) 1907. 8. 46 SS. M. 1.—. 

Meusch, Hans, Die Finanzwirtschaft der Stadt Weißenfels a. S. im 19. Jahr- 
hundert. Ein Beitrag zur Gemeinde-Finanzstatistik. Halle, C. A. Kaemmerer & C°, 
1907. gr. 8. VII-272 SS. M. 5.—. 

Süssmann, Arthur, Die Judenschuldentilgungen unter König Wenzel. Berlin, 
L. Lamm, 1907. 8. XV—203 SS. M. 4.—. (Schriften, herausgeg. von der Gesell- 
schaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums.) 

.. Yvonne, Fel., Werden wir in Elsaß-Lothringen eine Wertzuwachssteuer ein- 
führen? Metz, P, Müller (1907). 8. 23 SS. M. 0,40. 

.. Zolltarif, Der bulgarische allgemeine, und Vertrags-Zolltarif, nebst Bestimmungen 
über die Tara und Tariferläuterungen. Berlin, E. S. Mittler & Sohn, 1907. Lex-8. 
63 SS. M. 0,80. (Aus: Deutsches landels-Archiv.) 


Moucheront, P., Les douanes en Algérie. Alger, Jourdan, 1907. 8. fr. 12.—. 


558 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


8. Geld-, Bank-, Kredit- und Versicherungswesen. 

Bellom, Maurice. Les Lois d’Assurance Ouvrière à l’Etranger. 
Ill. Assurance contre linvalidite. 2 Vols. Paris (Arthur Rousseau) 
1905 et 1906. 

Das großangelegte Sammelwerk der sozialen Versicherungsgesetze 
aller Länder von Professor Bellom, welches in dieser Zeitschrift bereits 
(im 24. Band 1902, S. 869) gewürdigt worden ist, geht seinem Abschluß 
entgegen. Die dritte Serie des Bellomschen Werkes enthält die Dar- 
stellung der Invalidenversicheruug, während bekanntlich die zweite 
Serie die Unfallversicherung, die erste Serie die Krankenversicherung 
zur Darstellung bringt. Der erste Band der dritten Serie beschäftigt 
sich, abgesehen von einer sehr lesenswerten Einleitung über die 
Invalidenversicherung im allgemeinen mit der deutschen Reichsgese:z- 
gebung. Bellom hat jedoch davon Abstand genommen, den Wort- 
laut der Gesetze einfach in Uebersetzung wiederzugeben, wie er es 
durchweg in seinen früheren Bänden getan hat, er hat vielmehr 
eine systematische Darstellung der deutschen Invalidenversicherung ver- 
sucht, die ihm auch vorzüglich gelungen ist. Der Verfasser bespricht 
den juristischen Inhalt der Gesetze ebenso wie er die technischen und 
wirtschaftlichen Gesichtspunkte erschöpfend zur Darstellung bringt. Der 
zweite Band behandelt das Invalidenversicherungswesen in den übrigen 
Ländern, insbesondere die Invalidenfürsorge für die Bergarbeiter in Oester- 
reich, sowie das Reformprogramm der Regierung dieses Landes, die ein- 
schlägige Gesetzgebung Belgiens, Italiens und der Schweiz. Was letztere 
betrifft, so hat Bellom es leider unterlassen, außer der Einrichtung einer all- 
gemeinen Volksversicherung im Kanton Neuenburg der übrigen Gesetze 
bezw. Gesetzesvorschläge und Vereinbarungen von Kantonsregierungen 
mit Privatversicherungsnstalten Erwähnung zu tun. Bekanntlich liegen 
Projekte im Kanton Genf und im Kanton Waadt vor, während 
die Ortsgemeinde von St. Gallen bereits seit mehreren Jahren eine 
Bürgerliche Lebens- und Altersversicherung eingerichtet hat, der eıne 
große grundsätzliche Bedeutung beizumessen ist. In dem zweiten Band 
werden auch Dänemark, Spanien, Großbritannien, Norwegen, Niederlande, 
Rußland und Schweden erwähnt und die in diesen Ländern vorhandenen 
Gesetzesvorschläge zur Einführung einer Invalidenversicherung in über- 
sichtlicher Weise dargestellt. — Ein letzter zehnter allgemeiner Er- 
gänzungsband soll das gesamte Werk Belloms krönen, das ebenso wie 
die Sammlung Zachers dem Forscher auf dem Gebiet der Sozialver- 
sicherung unentbehrlich ist. 


Berlin. Prof. Dr. Alfred Manes. 


Marcuse, Paul. Betrachtungen über das Notenbankwesen in 
den Vereinigten Staaten von Amerika. Berlin. 166 SS. Carl Her- 
manns Verlag (1907). 

Die vorliegende Schrift umfaßt 3 Kapitel. In dem ersten wird 
ein geschichtlicher Ueberblick gegeben, der sich auf die beiden einst 
errichteten Zentralnotenbanken der Vereinigten Staaten, das Bankwesen 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.. 559 


in den Einzelstaaten bis 1864 und die Nationalbankgesetzgebung er- 
streckt. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit dem Notenbanksystem, 
beziehungsweise der Notendeckung, dem Bankkapital und Vielbanksystem. 
In dem dritten Kapitel endlich ist die Entwickelung der Nationalbanken 
als Depositenbanken zum Gegenstand der Erörterung gemacht und im 
Anschluß an die Verhältnisse der Vereinigten Staaten die Depositen- 
bankreform in Deutschland zur Frage gestellt. 

In Anbetracht des interessanten Inhaltes der Schrift seien ihre 
Hauptpunkte hier in Kürze vorgeführt. Nach längeren parlamentarischen 
Debatten wurde im Jahre 1791 die First Bank of the United States 
mit dem Rechte der Notenausgabe auf 20 Jahre errichtet. Die bis 1809 
gezahlten Dividenden betrugen zwar im Jahresdurchschnitt 8?/, Proz., 
aber die Bank vermochte sich nicht zu halten und liquidierte bereits 
im Jahre 1811. 1816 wurde die zweite Nationalbank ins Leben ge- 
rufen, die dem Handel und der Industrie wertvolle Dienste leistete, 
aber schon im Jahre 1837 aufhörte, Bundesbank zu sein. Nun hatten 
die einzelnen Staaten völlig freie Hand und Notenbanken schießen wie 
Pilze aus der Erde. Es bestanden 
1837 788 Banken mit 149 Mill. Doll. Notenzirkulation und 127 Mill. Doll. Depositen 
1540 Qoi i a IOR 3$ in 


1855 1307 »„ » 15 un» » 
1660 1562 iy „ 202 


> 
» 75 n ” n 


212 
” . n” ”„ 9 


» ” n” »” 257 
Der Anteil der Noten an den gesamten Umlaufsmitteln des Landes 
bezifferte sich meist zwischen 45 und 50 Proz., zeitweise sogar bis auf 
75 Proz. Besondere Erwähnung beansprucht das Bankwesen des 
Staates New York, das namentlich durch das Gesetz vom Jahre 1838 
vorbildlich für die spätere allgemeine Regelung durch die Bundes- 
regierung geworden ist. Das Nationalbankgesetz wurde am 3. April 
1864 erlassen. Demgemäß war eine jede Aktiengesellschaft von minde- 
stens 5 Personen, die den statutarischen Nachweis ihres Betriebes gab, 
zur Ausgabe von Banknoten berechtigt. Die Gesellschaften hatten Bonds 
der Vereinigten Staaten im Betrage von mindestens !/, des Aktien- 
kapitals dem Schatzamt auszuländigen und erhielten als Gegenwert 
Banknoten im Betrage von 90 Proz. der Anleihescheine geliefert. Den 
Banken war die Annahme von Depositen gegen Bardeckung von je 
15—20 Proz, An- und Verkauf von Wechseln und Edelmetallen, sowie 
das Darlehnsgeschäft gegen Gewähr persönlicher Sicherheit gestattet, 
die Handhabung des Effektenkommissionsgeschättes dagegen verboten. 
Zu ihrer Ueberwachung ist das Bundeskontrollamt geschaffen worden, 
dem Vierteljahrsberichte einzulietern waren und das über den Status 
der Banken, ihre Tätigkeit, sowie die bei ihnen hervorgetretenen 
Mängel dem Kongreß alljährlich Mitteilungen macht. Das Gesetz vom 
Jahr 1864 ist von grundlegender Bedeutung geworden, hat aber im 
Laufe der Jahre mannigfache Abänderungen erfahren. 1865 wurde der 
Notenumlauf einzelstaatlicher Banken mit einer Steuer von 10 Proz. 
belegt und eine gerechtere Verteilung der auf 300 Mill. Doll. limitierten 
Notenmenge festgesetzt. 1869 wurden statt der bisherigen 4, jährlich 
5 Berichte gefordert, 1870 ist das Notenkontingent zu Gunsten der 


560 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Süd- und Weststaaten von 300 auf 354 Mill. Doll. erhöht und 1875 
endgültig jede Begrenzung der Notenbeträge aufgehoben worden. Das 
Gesetz vom 14. März 1900 endlich ermöglichte den Banken, die bisher 
benutzten Bonds in neue 2-proz Anleihescheine umzutauschen und hier- 
für 100 Proz. in Noten ausgegeben; die allein noch übrig gebliebene 
Besteuerung des Notenumlaufes von 1 Proz. wurde auf !, Proz. herab- 
gesetzt. So haben sich die Nationalbanken bis zur Gegenwart entwickelt 
und einen dauernden Aufschwung genommen. Es bezifferten sich 
das die 


die Zahl der Banken Kapital Notenmenge die Depositenbeträge 
im Jahre 1864 auf 508 auf 86,7 auf 45,2 auf 122,1 Mill. Doll. 
”» n 1870 ”„ 1615 n 435,3 ” 291,7 » 501,4 n n 
» o» 1880 „ 2090 „ 457,5 » 317,3 no 8735 s» » 
n» o» 1890 „ 3540 „ 650,4 » 122,9 » 1564,8 „ u 
» x 1900 „ 3871 s 630,2 » 283,9 m 25082 » » 
» o» 1905 „ 5668 „ 799,9 » 469,0 » 37836 n» » 


Die Nationalbanken spielen somit im Gegensatz zu den deutschen 
Zettelbanken als Depositenbanken eine ganz hervorragende Rolle; sie 
haben sich auch wesentliche Verdienste um die Verbreitung des Scheck- 
wesens erworben. Ferner hat das Notenbankwesen der Vereinigten 
Staaten den unleugbaren Vorzug, daß die Interessen der Noten- 
gläubiger in ganz außerordentlichem Maße geschützt sind und daß die 
durch den Bedarf der Banken erhöhte Nachfrage nach Bonds zur 
Kurssteigerung der letzteren und zur Senkung des Zinsfußes wesentlich 
beiträgt. Diesen Vorzügen aber stehen Mißstände gegenüber. Die 
Notenemission ist für die beteiligten Banken duchschnittlich nicht 
rentabel, teilweise sogar mit Verlusten verknüpft. Die Technik der 
Vermehrung und Verminderung der Noten ist umständlich, und die 
Banken vermögen weder der jeweiligen Konjunktur sich rechtzeitig an- 
zupassen, noch dieselbe in genügendem Maße auszunutzen. Auch der 
Umstand, daß sie genötigt sind, einen beträchtlichen Teil ihres Kapitals 
in Bonds anzulegen, d. h., daß sie hierdurch sehr einflußreiche Gläubiger 
des Staates werden, führt eine in mannigfacher Beziehung antechtbare 
Verquickung der Staats- und Privatinteressen herbei. Reformen scheinen 
daher unbedingt erforderlich. 

In geschickter Weise erörtert Marcuse die vorerwähnten Punkte. 
Er ist ein gutgeschulter Nationalökonom, der die Eigenart des ameri- 
kanischen Notenbankwesens richtig erkannt hat und über reiche Literatur- 
kenntnisse verfügt. Seine Schritt ist jedoch nicht frei von Wider- 
sprüchen. So hält er einerseits die Reform des Depositenbankwesens 
in Deutschland für erwünscht (S. 139), andererseits bezeichnet er das 
zur Zeit herrschende System als ein dem heutigen Zustande angemessenes 
(S. 166). Auch seine sonstigen Ansichten über die Reorganisation des 
deutschen Depositenbankwesens sind anfechtbar. Er ist ein Gegner der 
Reichsdepositenbank, die wohl geeignet sein dürfte, durch Konzentration 
der Barbeträge zur Verbilligung des Geldes und zur Reduktion der 
Diskontosätze beizutragen. Dadurch wäre eine Kalamität gemindert, 
die sich namentlich in der jüngsten Zeit häufig geltend gemacht, Handel 
und Industrie im Aufschwung wesentlich gehemmt hat und deren 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 561 


wiederholtes Auftreten im Interesse der gesamten Volkswirtschaft zu 
vermeiden ist. Marcuse ist auch ein Gegner eines Depositenbankgesetzes, 
übersieht aber u. a., daß jede Gesetzgebung, die nur das Depot und 
nicht auch das Depositum der rechtlichen Ordnung unterwirft, unlogisch 
ist und der Einseitigkeit verfällt. So dürften manche seiner Auffassungen 
auf eine allseitige Zustimmung nicht zu rechnen haben. 

Die wissenschaftliche Bedeutung des deutschen Bankwesens ist in 
der jüngsten Zeit in immer höherem Maße erkannt und durch eine Reihe 
guter Publikationen erhärtet worden. Die Kenntnis der Auslandsver- 
hältnisse dagegen ist teilweise eine noch recht mangelhafte und die vor- 
handene Lücke schädigt gleichzeitig Theorie und Praxis. Der unzweifel- 
hafte Vorzug der wertvollen Schritt Marcuses besteht auch darin, die 
einschlägigen Verhältnisse der Vereinigten Staaten in klarer und über- 
sichtlicher Weise weiteren Interessentenkreisen zugeführt zu haben, 


Berlin. Otto Warschauer. 


Kirschberg, Manfred, Der Postscheck. Eine wirtschaft- 
liche und juristische Studie. Mit Berücksichtigung der österreichischen, 
deutschen und schweizerischen Verhältnisse. Leipzig, ©. L. Hirschfeld, 
1906. 

Der Scheckverkehr hat anerkanntermaßen eine hohe volkswirtschaft- 
liche Bedeutung. Er hemmt die unproduktive Ansammlung der Produktiv- 
kapitalien, schafft ein leicht übertragbares Zahlungsmittel, beschränkt 
durch Verrechnung die tatsächlich zu erfolgenden Barzahlungen auf ein 
Mindestmaß und ermöglicht hierdurch ungeheuere durch Edelmetalle 
nicht zu bewältigende Umsätze. Trotz der bestechenden Vorzüge, die 
sich mit ihm verknüpfen, ist er jedoch leider bisher in den verschiedenen 
Kulturländern nicht gleichmäßig zum Durchbruch gelangt, und auch die 
in den Einzelstaaten zirkulierenden Schecks differieren in der Art ihrer 
Erscheinung. So hat namentlich der Postscheck, obwohl er das be- 
rufenste Zahlungsmittel für den Kleinverkehr ist, eine internationale 
Verbreitung bisher nicht gefunden. 

Kirschberg hat es sich zur Aufgabe gemacht, bezüglich der letzteren 
Scheckart das gänzlich zerstreute Material zu sammeln, zu sichten und im 
Hinblick auf die Verhältnisse Oesterreichs, der Schweiz und Deutsch- 
lands kritisch zu würdigen. Die Schrift umfaßt 2 Teile. In dem ersten 
wird die allgemeine wirtschaftliche Bedeutung, sowie die geschichtliche 
Entwickelung des Scheckwesens, mit besonderer Berücksichtigung der 
genannten Länder, geschildert; auch sind die Bestrebungen zur Ein- 
führung des Scheckverkehrs bei der deutschen Reichspost und der 
schweizerischen Post kurz erörtert. Der zweite Teil beschäftigt sich 
mit dem rechtlichen Begriff, den materiellen Voraussetzungen, den wesent- 
lichen Erfordernissen und den Arten des Postschecks, sowie mit allen 
sonstigen hiermit in Frage stehenden Rechtsverhältnissen. In einem 
Anhang sind die in Betracht zu ziehenden Gesetzestexte und Entwürfe 
für Oesterreich, Deutschland und die Schweiz aufgeführt. 

In Deutschland sind die Verhältnisse zur Zeit noch recht uner- 
quickliche. Der Scheck- und Giroverkehr der Reichsbank erstreckt 

Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVII), 36 


562 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 


sich in erster Linie auf die Banken und die Großindustrie, während der 
Kleinverkehr der segensreichen Organisation fast, vollständig entbehrt. 
Hier ist eine bedenkliche Lücke vorhanden, die von vielen Interessenten 
schmerzlich empfunden wird. Bereits vor vielen Jahren hat der Heraus- 
geber dieser Zeitschrift (vergl. J. f. N. u. St., 3. Folge, Bd. X, 
S. 269—275, 1895) auf die Vorzüge namentlich der Postsparkassen und 
des Postschecks überzeugend hingewiesen. In Erkenntnis des unvoll- 
kommenen Zustandes legte auch die deutsche Reichsregierung am 1. De- 
zember 1899 dem Reichstag den Entwurf einer Postscheckordnung vor, 
aber derselbe wurde heftig angefochten und kam schließlich aus fis- 
kalischen Gründen nicht zur Durchführung. Das Bedürfnis nach einer 
interlokalen Zahlungsausgleichung des Kleinverkehrs besteht jedoch nach 
wie vor, und es ist daher nur zu wünschen, daß die Reichsregierung 
den Plan einer Einführung des Postschecks bald wieder aufnimmt. 

Kirschberg hat die bisher in der Literatur vorhandene Lücke gut 
ausgefüllt, wenn auch seine Darstellung teilweise etwas trocken ist 
und einzelne der in Betracht zu ziehenden Fragen vergeistigter hätten 
wiedergegeben werden können. Das ausführliche Literaturverzeichnis, 
welches der Schrift beigefügt ist, umfaßt gleichmälig die volkswirtschaft- 
liche und juristische Literatur und ist gut und zuverlässig. 

Berlin. Otto Warschauer. 


v. Petrazycki, L., ord. Professor an der Universität St. Peters- 
burg. Aktienwesen und Spekulation, Eine ökonomische und 
rechtspsychologische Untersuchung. Aus dem Russischen ins Deutsche 
übertragen unter Redaktion und mit einem Vorwort des Verfassers. 
226 SS. Berlin (H. W. Müller) 1906. Ladenpreis kartoniert M. 4,50. 

Die vorliegende Schrift ist aus den rechtspolitischen Arbeiten des 
Verfassers als Mitglied der russischen „Allerhöchst eingesetzten Kommission 
für Revision der bestehenden Gesetzgebung über Börsen und Aktien- 
gesellschaften“ hervorgegangen; sie erschien zuerst in einer Reihe von 
Artikeln in der Russischen Oekonomischen Rundschau und wurde im 
Jahre 1898 in Buchform veröffentlicht. Sie ist demgemäß vor der 
Krisis des Jahres 1901 herausgegeben, und die für die Bedeutung des 
Aktienwesens so überaus belang- und lehrreichen Ereignisse dieser 
letzteren, sowie die sie bedingenden Ursachen und die Wirkungen, 
welche sie erzielt hat, konnten selbstverständlich von dem Verfasser 
nicht in Betracht gezogen werden. Aber das Buch soll nicht für den 
Augenblick geschrieben sein, sondern Wahrheiten enthalten, die eine 
allgemeine und dauernde Geltung beanspruchen, und es ist daher zu 
untersuchen, ob diesen Erwartungen auch tatsächlich entsprochen ist. 
Die Studie hat in erster Linie einen handelsrechtsphilosophischen Charakter, 
und da es nicht die Aufgabe dieser Zeitschrift ist, derartige Unter- 
suchungen zum Gegenstande ausführlicher Erörterungen zu machen, so 
seien hier nur diejenigen Teile der Schrift berührt, die mit den Inter- 
essen der Volkswirtschaft sich verbinden. 

Das Aktienwesen hat sowohl in Deutschland wie auch bei vielen 
sonstigen hervorragenden Kulturstaaten in den letzten 25 Jahren einen 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 563 


gewaltigen Aufschwung genommen. Die Aktiengesellschaften sind der 
hervorragendste und finanziell bedeutungsvollste Typ der modernen 
Kapitalassociationen, sie lenken und beherrschen einen der wichtigsten 
Teile des Gütererzeugungsprozesses, sie sind Produktionsmittel im 
weitesten Sinne des Wortes, die unverfälscht den jeweiligen Werdegang 
und die Entwicklungsphasen der Industrie abspiegeln, und ihre Anteil- 
scheine sowie Schuldverschreibungen dienen umfangreichen Schichten 
der Bevölkerung zur dauernden Kapitalsanlage. Die sie bedingende 
Gesetzgebung ist ein untrügerisches Zeichen allgemeiner politischer 
Reife oder Unreife und als Gesamterscheinung sind sie als gewaltige 
Träger und Förderer des nationalen Geldverkehrs zu bezeichnen. 
Petrazycki wird der Eigenart dieser wirtschaftlichen Phänomene teil- 
weise gerecht. Mannigfachen Vorwürfen, die unbegründet gegen sie 
erhoben werden, steht er vorurteilsfrei gegenüber und widerlegt sie. 
Er erkennt auch das wahre Wesen der Spekulation und hebt mit Recht 
hervor, daß dieselbe häufig recht mühsam sei und eine erschöpfende 
Arbeit von Geist und Nerven ohne Rast und Ruhe erfordere. Bezüg- 
lich der Generalversammlungen meint er treffend, daß eine wahrhaft 
initiativreiche und gediegene Betriebsleitung der Aktiengesellschaften 
und die direkte Teilnahme der Generalversammlungen an dieser Tätig- 
keit als grundsätzlich unvereinbar hingestellt werden müsse (S. 192). 
Aber diesen gewiß richtigen Auffassungen steht eine Reihe von Be- 
hauptungen gegenüber, die höchst anfechtbarer Natur sind und die den 
Wert der Schrift wesentlich mindern. 

Petrazycki meint, daß eine gewisse Analogie zwischen der Stellung 
des Aktionärs und der eines Lotteriespielers beobachtet werden könne 
(S. 42). Dies ist sehr fraglich. Die Voraussetzung trifft nur dann ein, 
wenn der Aktionär Industriepapiere, über deren wirtschaftliche Be- 
deutung er gar nicht informiert ist, zum Gegenstand der Kapitalsanlage 
oder Spekulation macht. Derartige Fälle treten jedoch in der Praxis 
höchst vereinzelt auf. Der Aktionär ist durchschnittlich durchaus kein 
Roulettespieler, und wenn er dies je einmal ist, so werden ihn unaus- 
bleibliche bittere Erfahrungen, sowie der finanzielle Selbsterhaltungs- 
trieb an der dauernden Entwickelung jener perversen Neigung zweifels- 
ohne hindern. Der ernste Aktionär wägt erst, dann wagt er; er baut 
das System seiner Kapitalsanlage auf Erfahrung und Calcul auf, und 
der Einzelfall leichtsinniger Vermögensverwaltung oder Kreditausnutzung 
darf nicht, wie dies Petrazycki tut, zum Typ von Massenerscheinungen 
gemacht werden. Seine Behauptung ferner, daß allerhand Kunstkniffe 
in Prospekten, auf der Börse, in der Presse etc. angewandt werden, 
um eine Ueberschätzung des Wertes der Aktien durch Mitteilung 
falscher Daten herbeizuführen (S. 53), ist gleichfalls, namentlich soweit 
die Verhältnisse für Deutschland, die er mit besonderer Vorliebe be- 
handelt, in Betracht zu ziehen sind, als eine vollständig verfehlte zu 
bezeichnen. Die großen Effektenbanken, die auch bereits im Jahre 1898 
eine hervorragende Rolle gespielt haben, sind die entscheidenden Träger 
des Emissionsgeschäftes. Einerseits werden sie von den Grundsätzen 


36* 


564 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 


der Moral geleitet, andererseits bestehen seit Erlaß des Reichsgesetzes 
vom Jahre 1884 strenge Vorschriften bezüglich der Prospektangaben, 
und endlich haben die genannten Banken in ihrem ureigensten Interesse 
sich bei der Begebung von Aktien durch Mitteilung des tatsächlichen 
Sachverhalts an die nackte Wahrheit zu halten, um den für sie so 
wichtigen Emissionskredit für die Zukunft nicht zu gefährden. 
Vollständig mißglückt ist auch der Versuch, ein Emissionsgesetz 
ähnlich dem Ricardoschen Rentengesetz begründen zu wollen. Petrazycki 
behauptet (S. 129), „mit dem Zunehmen der Intensität der optimistischen 
Tendenz auf dem Gebiete der Aktiennachfrage werden die Bedingungen 
geschaffen für die Heranziehung immer weniger „fruchtbarer“ Unter- 
nehmungen. Dies entspricht durchaus nicht den Tatsachen. Bei 
steigender Tendenz, günstigen Konjunkturen und sich mehrendem 
Optimismus der Kapitalisten werden nicht die weniger „fruchtbaren“ 
Unternehmungen aufgesucht, sondern höchstens die Agiosätze bei der 
Ausgabe der Aktien seitens der Emissionshäuser gesteigert. Aber auch 
dies ist nicht immer zutreffend. In der jüngsten Zeit wurden z. B. die 
Aktien der Lingelschen Schuhfabrik bei einer voraussichtlichen Dividende 
von 17—19 Proz. zu 210 Proz. an der Berliner Börse eingeführt, und 
der Emissionskurs der Arthur Koppel-Aktien bezifferte sich im Oktober 
1906, bei einer Vorjahrsdividende von 11 Proz., auf 168 Proz. Auch 
die Berufung auf Eisenbahnaktien ist durchaus unbegründet. Petrazycki 
sagt: „Wenn beispielsweise in einem Lande ein starker Optimismus bei 
der Schätzung von Eisenbahnaktien sich geltend macht (wie dies in 
Wirklichkeit viele Länder durchgemacht haben), so werden zunächst 
für den Eisenbahnbau mittels Gründung von Aktiengesellschatten die- 
jenigen Strecken gewählt, die tatsächlich ansehnliche Dividenden zu 
geben versprechen, dann allmälich kommen immer weniger fruchtbare 
Linien an die Reihe, z. B. auch solche, die nach Abzug des optimistischen 
Mehrwertes nur noch 1 Proz. oder O Proz. Dividende versprechen, oder 
es werden selbst solche Eisenbahnlinien gegründet, die bei normaler 
Schätzung nicht nur keine Aussicht auf Ertrag gewähren, sondern gar 
die Wahrscheinlichkeit des Verlustes eines Viertels und mehr des 
Kapitals in sich schließen.“ Petrazycki wird hierbei der Internationalität 
des Geldmarktes nicht gerecht. Wenn das Inland für Eisenbahnunter- 
nehmungen nicht mehr rentabel erscheint, wird das Ausland aufgesucht, 
und nicht zu unterschätzende Prozentsätze des Nationalvermögens sind 
in Deutschland, wo die obige Voraussetzung eintrifft, zur Zeit in aus- 
ländischen Eisenbahnwerten, z. B. in Canadian Pacific, Baltimore-Ohio, 
Pensylvania, Prince Henrybahn Aktien ete. angelegt. Eine große 
Anzahl anderer Behauptungen Petrazyckis könnte gleichfalls mit Recht 
angegriffen werden, doch möge das Gesagte genügen, um die Irrigkeit 
vieler seiner Auffassungen zu beweisen. Eine der wichtigsten Aufgaben 
der modernen Rechtswissenschatft ist es, die Vorgänge des Erwerbslebens 
verständnisvoll zu verfolgen, dieselben ganz zu erfassen, die Erscheinungen 
der Praxis nicht in das Prokrustesbett verkünstelter Theorien zu bringen 
und somit das richtige Verhältnis zwischen Wirtschaft und Recht zu 
finden. Dieser Aufgabe ist Petrazycki nicht gerecht geworden. Er 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 565 


spekuliert in und mit Begriffen, und der Saldo der Erkenntnis, die er 
verbreitet, ist namentlich zu Gunsten der Volkswirtschaftspolitik gering. 


Berlin. Otto Warschauer. 


Funke, Ernst (exped. Sekretär), Das Verhältnis der Ansprüche aus den Arbeiter- 
versicherungsgesetzen zu einander und zu anderen Ansprüchen. Die Ersatzansprüche der 
Krankenkassen, Versicherungsanstalten, Armenverbände u. s. w. Die Rückgriffsansprüche 
der WVeısicherungsträger gegen Dritte. Die Haftpflicht der Betriebsunternehmer und 
Betriebsbeamten. Vorschläge zur Vereinfachung. Berlin, F. Vahlen, 1907. 8. 71SS. 
M. 1,50. 

Lopuszanski, Eugen (Minist.-Sekretär), Das Bankwesen Oesterreichs. 
Wien, A. Hölder, 1907. gr. 8. 32 SS. M. 0,90. 

M onatsblätter für Arbeiterversicherung. Herausgeg. von Mitgliedern des 
Reichs-Versicherungsamts. Verantwortlich: Adolf Behrend. 1. Jahrg. 1907. 12 Nrn. 
(N" 1. 16 SS. mit 1 Taf.) Berlin, Behrend & C°. gr. 8. M. 12.—. 

Mully v. Oppenried, Robert (Prof.), Der IIypothekarkredit-Verkehr. Zur 
Theorie und Praxis der Realitäten-Schätzung, -Besteuerung und -Belehnung. Wien, 
Administration des österreich. Handels-Museums, 1907. gr. 8. 188 SS. M. 2,50. (Aus: 
Jahrbuch der Export-Akademie des österreich. Handels-Museums,) 

Nagl, Alfred, Das Tiroler Geldwesen unter Erzherzog Sigmund und die Ent- 
stehung des Silberguldens. Wien (H. Kirsch) 1906. gr. 8. VI—122 SS. mit Ab- 
bildungen. M. 5.—. (Aus: Wiener numismatische Zeitschrift.) 

Nagl, Alfred, Die Neuordnung der Wiener Mark im Jahre 1767. Wien 
(H. Kirsch) 1906. gr. 8. 40 SS. M. 2.—. (Aus: Wiener numismatische Zeitschrift.) 

Preisarbeiten über die Frage: „Durch welche Mittel läßt sich die Belebung 
des Sparsinnes bei der ländlichen Bevölkerung und die Förderung des Sparbetriebes 
unserer Spar- und Durlehnskassen am zweckmäßigsten und wirksamsten ausgestalten ?“ 
Darmstadt, Reichsverband der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften, 1906. 
8. 1V—178 SS. M. 0,75. (Deutsche landwirtschaftliche Genossenschaftsbibliothek. 
Bd. 10.) 

Schwab, M., Vierter internationaler Kongreß für Versicherungsmedizin zu Berlin 
vom 11.—15. November 1906. Leipzig, B. Konegen, 1907. 8. 2488. M.1.—. (Aus: 
Beichs-Medizinal-Anzeiger.) 

Weise, Johannes, Zinstabelle für jeden Kapitalbetrag, Zinssatz und Zeitraum. 
Leipzig, G. A. Gloeckner, 1907. 8. M. 4.—. 


Vortrag. 


Sayous, André, Les banques de depöt, les banques de credit et les sociétés 
financières. Cours libre, professé A la Faculté de droit de Paris. 2° édition. Paris, 


Larose et Tenin, 1907. 12. fr. 5. (Manuel thĉorique et pratique d'économie politique 
et financière.) 


Prendergast, William A., Credit and its uses. London, Sidney Appleton, 
1907. 8. XII-361 pp. 6/.—. 


Traina, Gaspare, Operazioni di banca. Napoli, tip. A. Trani, 1906. 16. 
136 pp. 1. 2,50. 

9. Soziale Frage. 

Vossberg, Walter, Die deutsche Bau-Genossenschaftsbewegung. 
Berlin (Alfred Unger) 1906. 241 SS. 

Die Wohnungsfrage in den Großstädten wird, je mehr die Mieten 
steigen und die Wohnungsverhältnisse der unteren Klassen sich dadurch 
verschlechtern und ungesünder werden, ein immer wichtigerer Teil der 
sozialen Frage. Dadurch rückt auch das Baugenossenschaftts- 
wesen, das eine Zeitlang mehr in den Hintergrund der öffentlichen 
Diskussion getreten war, wieder mehr in den Vordergrund. 

Vossberg gibt zunächst eine ausführliche geschichtliche Darstellung 
der Entwickelung des Baugenossenschaftswesens. 


566 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Im Jahre 1873 gab es bereits 52 Baugenossenschaften, die zum Teil 
Mietshäuser, zum Teil Erwerbshäuser bauten. Am 1. Januar 1906 bestanden 
nach dem Jahr und Adreßbuch der Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaf- 
ten im Deutschen Reich für das Jahr 1906 641 Baugenossenschaften mit 
122430 Mitgliedern, davon 630 Baugenossenschaften mit 122173 Mit- 
gliedern mit beschränkter Haftpflicht. Die Haftsumme betrug 37,9 
Millionen Mark. Vossberg tritt nun warm dafür ein, daß den Bau- 
genossenschaften, da sie öffentliche Interessen verfolgten, auch öffentliche 
Unterstützung zuteil werde. Solche ist ihnen seitens des Reiches, der 
Einzelstaaten und der Landesversicherungsanstalten auch bereits geworden. 

Trotz dieser Ansätze im einzelnen fehlt es aber nach Vossberg 
diesen Versuchen doch durchaus noch an jener Einheitlichkeit und Voll- 
ständigkeit, die im Interesse der guten Sache erforderlich wäre. 

Die Hauptfrage ist bei den Baugenossenschaften die Beschaffung 
der notwendigen Gelder, die Vossberg sehr ausführlich darstellt. 


Vossberg geht dann noch im einzelnen ein auf die Grundstücks- 
beschaffung, die Bautätigkeit, die Uebermittelung der Häuser und Woh- 
nungen an die Genossenschafter, ferner auf die bisher erzielten Erfolge. 

Unter allem Vorbehalt berechnet Vossberg, daß die deutschen Bau- 
genossenschaften im ganzen vielleicht 9500 Häuser mit 30000 Wohnungen 
im Wert von 150 Millionen Mark hergestellt haben. Er urteilt darüber, 
daß das erzielte Gesamtresultat in Vergleich zum vorhandenen Notstand 
ein traurig geringfügiges ist wenn man bedenkt, daß infolge des jähr- 
lichen Bevölkerungszuwachses im Deutschen Reiche jährlich etwa 125 000 
kleine Wohnungen im Werte von 450—480 Millionen Mark notwendig 
werden, während der gesamte Bestand an kleinen Wohnungen auf rund 
acht Millionen geschätzt werden kann. 

Demnach beträgt die Zahl der von den Baugenossenschaften fertig- 
gestellten Wohnungen ungefähr !/, Proz. sämtlicher kleinen Wohnungen. 

Das Haupthinderungsmoment für eine stärkere Entwickelung der 
Baugenossenschatten ist eben bisher die Knappheit der ihnen zu 
Gebote stehenden Mittel. 

Daß aber die Baugenossenschaften öffentliche und private Unter- 
stützung verdienen, kann keinem Zweifel unterliegen, denn die Beseiti- 
gung der schlechten großstädtischen Wohnungsverhältnisse, die einen 
der größten Krebsschäden an unserem Volkskörper bilden, ist eine 
dringende Notwendigkeit, der wir uns nicht mehr verschließen dürfen. 

Das Buch von Vossberg, das in sehr klarer und übersichtlicher 
Weise den gegenwärtigen Stand der Baugenossenschaftsfrage darstellt, 
verdient, in weitesten Kreisen verbreitet zu werden. 


Berlin. Dr. I. Wernicke. 


Alkoholismus, Der. Seine Wirkungen und seine Bekämpfung. Herausgeg. 
vom Zentralverband zur Bekämpfung des Alkoholismus in Berlin. 3. Teil. Leipzig, 
B. G. Teubner, 1906. 8. 109 SS. M. 1,25. (Aus Natur und Geisteswelt. Bdcehn. 145.) 

Block, Felix (Dr. med.), Die Kasernierung der Prostitution in Hannover. Han- 
nover, M. & H. Schaper, 1907. 8. 15 SS. M. 0,50. 

Imle, Fanny, Kritisches und Positives zur Frage der Arbeitslosenfürsorge. Jena, 
Gustav Fischer, 1907. gr. 8. 71 SS. M. 1,20. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 567 


Miessner, Elisabet, Die erotische Strömung in der Frauenbewegung. Vortrag. 
Berlin, Hermann Walther, 1907. gr. 8. 31 SS. M. 0,60. 

Ostwald, Hans, Das Berliner Dirnentum. 8. Gelegenheitsdirnen. 2. Tausend. 
Leipzig, W. Fiedler (1907). 8. 87 SS. M. 1,50. 

Problem, Das sexuelle. Key, Ellen, Liebe und Ethik. — Stöcker, Helene, 
Mutterschutz. — Hellpach, Willy, Prostitution und Prostituierte. — Bloch, Iwan, Die 
Perversen. Berlin, Pan-Verlag, 1907. gr. 8. 41—28—42—42 SS. M. 3.—. (Ge- 
samtausg. aus: Moderne Zeitfragen.) 

Sohnrey, Heinrich, Aus der sozialen Tätigkeit der preußischen Kreisverwal- 
tungen. Auf Grund von 472 Verwaltungsberichten bearbeitet auf der Geschäftsstelle des 
deutschen Vereins für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege und in dessen Auftrage 
herausgegeben. Mit einem Geleitwort von (Geh. Regierungs-R.) Friedrich v. Schwerin. 
Berlin, Deutsche Landbuchhandlung, 1907. gr. 8. 8—321 SS. M. 5.—. 

Troeltsch, Walter, Das Problem der Arbeitslosigkeit. Kaisergeburtstagsrede. 
Marburg, N. G. Elwerts Verlag, 1907. 8. M. 0,75. 

Verzeichnis der Wohltätigkeits- und Wohlfahrtsanstalten in Breslau. Aufge- 
stellt von der Armendirektion zu Breslau. Breslau, E. Morgenstern, 1907. gr. 8. 
45 SS. M. 0,60. 

Wohltätigkeits-Anstalten und -Vereine im Königreich Württemberg. Bearb. 
von der Zentralleitung des Wohltätigkeitsvereins. Stuttgart (W. Kohlhammer) 1906. 
gr. 8. 100 SS. M. 0,50. 2 


Collin, Paul, Aperçus sur le vagabondage: effets — causes — remèdes. Paris, 
Marcel Rivière, 1907. 8. 86 pag. fr. 1,50. 

Sachet, Adrien, Assistance des vieillards, infirmes et incurables. Commentaire 
de la loi du 14 juillet 1905. Paris, Larose et Tenin, 1907. 8. fr. 7.—. 

Cutten, George B., The psychology of alcoholism. London, W. Scott, 1907. 
8. 376 pp. 5/.—. 

Donaldson, James, Woman: her position and influence in Ancient Greece and 
Rome and among the Early Christians. London, Longmans, 1907. 8. 286 pp. 5/.—. 

Drink Problem, The, in its medico-sociological aspects. By fourteen medical 
authorities, Edited by T. N. Kelynack. London, Methuen, 1907. 8. 308 pp. 7/.6. 

De’ Luna, Antonino Marchese, Il suicidio nel diritto e nella vita sociale. 
Roma, Giovanni Balbi, 1907. 8. VIII—166 pp. 1. 5.—. 


ı10. Gesetzgebung. 

Cahn, Adolf, Der Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft. Berlin, W. Rothschild, 
19807. gr. 8. XVI—272 SS. M. 5,60. 

Entwurf eines allgemeinen bürgerlichen Strafgesetzbuches für das Königreich 
Norwegen. Motive. Ausgearb. von der durch königliche Entschließung vom 14. XI. 
1585 eingesetzten Kommission. Auf Anregung des Reichs-Justizamts übersetzt von 
(Vizekonsul) H. Bittl. Berlin, J. Guttentag, 1907. gr. 8. XIV—227 SS. M. 5.—. 

Haberland, Konrad, Die Feier der Sonn- und Festtage nach preußisch- 
deutschem Recht. Königsberg i./P., Louis Beerwald, 1907. 8. 48 SS. M. 1.—. 

Herr, Paul (Rechtsanwalt), Das moderne amerikanische Besserungssystem. Eine 
Darstellung des Systems zur Besserung jugendlicher Verbrecher in Strafrecht, Strafprozeß 
und Strafvollzug (The Reformatory System) in den Vereinigten Staaten von Amerika. 
Ergebnisse einer Studienreise und zugleich ein Beitrag zur Reform der deutschen Straf- 
gesetzgebung. Berlin, Stuttgart, Leipzig, W. Kohlhammer, 1907. Lex.-8. VII—455 SS. 
M. 9.—. 

Hofmann, Rudolf, Der strafrechtliche Schutz der schweizerischen Eisenbahnen. 
Bern, Stämpfli & C°, 1907. gr. 8. VII—98 SS. M. 2.—. (Abhandlungen zum 
schweizerischen Recht. Heft 19.) 

Krech, J. (Mitgl. des Bundesamts für Heimatwesen), Das Reichsgesetz über den 
Unterstützungswohnsitz erläutert nach den Entscheidungen des Bundesamts für das 
Heimatwesen. 10. verm. Aufl., nebst einem Anhange, behandelnd die für die Armen- 
verbände wichtigsten Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Berlin, Franz Vahlen, 
1907. VIII-304 SS. M. 5.—. 

Riemann, Ernst (Rechtsanwalt), Das Wasserrecht der Provinz Schlesien. 2. verm. 
u. verb, Aufl. Breslau, W. G. Korn, 1907. 8. 230 SS. M. 3.—. 


568 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Schwarz, Ernst, Die kaufmännische und sozialpolitische Gesetzgebung in ihrer 
praktischen Bedeutung für den Handelsstand. Leipzig, G. A. Gloeckner, 1907. $. 
M, 2.—. 

Trutzer, K. (Ministerial-R.), Das Invalidenversicherungsgesetz vom 13. Juli 1889, 
Erläutert und mit den für das Reich und für Bayern erlassenen Ausführungsvorschriften 
herausgeg. als II. Auflage des Invaliditäts- und Alters-Versicherungsgesetzes. Ansbach, 
C. Brügel und Sohn, 1907. 8. VII—855 SS. M. 8.—. (Die Reichsgesetzgebung auf 
dem Gebiete der Arbeiter-Versicherung. Erläutert von bayerischen Verwaltungsbeamten. 
Bd. 5.) 

Wilmowski, B. v. (Regierungs-R.), Das Preußische Einkommensteuergesetz vom 
24. Juni 1891 in der Fassung der Novelle vom 19. Juni 1906. Erläutert. 2. Aufl. 
Breslau, J. U. Kern’s Verlag, 1907. gr. 8. X11—254 SS. M. 5.—. 

Zimmermann, Emil, (Geh. Finanz-R.), Das badische Einkommensteuergesetz 
vom 20. Juni 1554 in seiner neuesten Fassung nebst der Vollzugsverordnung. Erläutert. 
Karlsruhe, J. Lang, 1907. kl. 8. XXVII—348 SS. M. 5,50. (Langs Sammlung 
deutscher und badischer Gesetze. Bd. 13.) 


Bès de Bere, René, La loi du 29 juin 1905 sur la durée du travail dans les 
mines. Paris, Arthur Rousseau, 1906. 8. 310 pag. fr. 6.—. 

Roger, André, Traité élémentaire de droit maritime commercial et de police de 
navigation maritime. Paris, Challamel, 1907. 8. fr. 5.—. 

Hutchins, B. L., and A. Harrison, A history of factory legislation. New edition, 
London, P. S. King, 1907. 8. 3/.6. 

Ringwood, R., Outlines of banking law. London, Stevens & Haynes, 1907. 3. 
b/.—. 
Smith, T. E, A summary of the law of companies. 9%" edition. London, 
Stevens & Haynes, 1907. 8. 9/.—. 

Cimbali, Enrico, La nuova fase del diritto civile nei rapporti 'economici e 
sociali, con proposte di riforma della legislazione civile vigente. 4* edizione. Torino 
1907. 8. XXXI—374 pp. con 1 tavola. 1. 7.—. 

Giannini, E., Il diritto commerciale nella storia e nella legislazione comparata. 
Milano 1907. 8. 60 pp. 1. 2.—. 

Vivante, Cesare, Trattato di diritto commerciale. 3° edizione, riveduta e 
ampliata. Vol, I: I commercianti. Milano 1907. 8. 515 pp. l 15.—. 


11. Staats- und Verwaltungsrecht. 


Arndt, Adolf (Prof.), Verfassung des Deutschen Reichs. Mit Einleitung und 
Kommentar. 3., stark verm. u. verb. Aufl. Berlin, J. Guttentag, 1907. 8. IX— 
426 SS. M. 4.—. 

Austerlitz, Fritz, Das neue Wahlrecht. Eine Erläuterung des allgemeinen 
und gleichen Wahlrechts, der Wablpflicht und des Wahlschutzgesetzes. Nebst dem 
Wortlaut aller einschlägigen Gesetze. Wien, Wiener Volksbuchhandlung, 1907. kl. 8. 
166 SS. M. 1.—. 

Möller, W. H., Verfassungs- und Verwaltungsrecht des Deutschen Reiches. Zum 
unterrichtlichen Gebrauch und zur Selbstbelehrung bearbeitet. Dresden, W. Baensch, 
1907. 8. 168 SS. M. 2.—. 

Müller, Georg, Königsberger Bürger-Buch. Sammlung von Polizei-Vorordnungen, 
Ortsstatuten und Regulativen für die Stadt Königsberg i. Pr. Auf Grund amtlichen 
Materials bearbeitet. I. Teil. Königsberg, Hartung, 1907. kl. 8. 306 SS. M. 2.— 

Verfassung und Verwaltungsorganisation der Städte. Im Auftrag des Vereins 
für Sozialpolitik herausgegeben. 6. Bd. Oesterreich. Mit Beiträgen von J. Redlieh, 
L. Spiegel, L. Vogler, C. Horätek, O. Gluth, B. Kafka, C. Vogel. Leipzig, Duncker & 
Humblot, 1907. gr. 8. VI—142—252 SS. M. 8,80. (Schriften des Vereins für 
Sozialpolitik. Bd. 122.) 

Wettstein, Walter, Die Gemeindegesetzgebung das Kantons Zürich. Kommentar 
Zürich, C. Wettstein, 1907. gr. 8 XL-647—56 SS. M. 8,40. 


Ilbert, Sir Courtenay, The Government of India. Second edition. Oxford, 
The Clarendon Press, 1907. 8. XXXII—408 pp. 10/.6. 
Pacinotti, Giovanni (prof.), L'impiego nelle pubbliche amministrazioni secondo 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 569 


il diritto positivo italiano: trattato generale teorico-pratico. Torino, Unione tipografico- 
editrice, 1907. 8. VIH—491 pp. 1. 8.—. 
4 Pagliano, E. M., La costituzione del Montenegro. Roma 1907. 8. VIII—118 pp. 
12. Statistik. 
Deutsches Reich. 

Croner, Dr. Johannes, Der Grundbesitzwechsel in Berlin und 
seinen Vororten (1895—1904). Eine statistische Studie. Nach dem bei 
den Aeltesten der Kaufmannschaft von Berlin gesammelten Material 
bearbeitet. Berlin 1906. 


Diese Arbeit berücksichtigt weder die Größenverhältnisse der um- 
gesetzten Grundstücke noch die Wertgestaltung des Grund und Bodens 
und der Gebäude, obwohl diese Dinge in Verbindung mit der Statistik 
des Grundbesitzwechsels schon seit einer Reihe von Jahren im Berliner 
Statistischen Jahrbuch und der Charlottenburger Statistik behandelt 
werden. Sie stützt sich ausschließlich auf das Material der Frage- 
bogen, die von den Aeltesten der Kaufmannschaft an die Gemeinde- 
behörden von Berlin und 41 Vororten versandt worden sind. In diesen 
Fragebogen ist lediglich die Zahl, die Gesamtfläche, die Kaufpreis- 
summe und die Umsatzsteuersumme der in den einzelnen Jahren um- 
gesetzten bebauten und unbebauten Grundstücke erfragt. Da die Ver- 
hältnisse der einzelnen Grundstücke ganz unbekannt bleiben, ist jede 
Gliederung derselben nach Größe und Kaufpreis ausgeschlossen. Nicht 
einmal der Rechtsgrund des Eigentumübergangs ist erfragt worden, es 
sind daher die versteigerten, die vererbten, die zwischen Verwandten 
übertragenen und die zu Straßenzwecken abgetretenen Grundstücke und 
Grundstücksparzellen mit den verkauften ungeschieden mitgeteilt. Da- 
gegen hat man beim Unwichtigen größte Genauigkeit walten lassen: 
für jeden Monat der Jahre 1895 bis 1904 mußten die Angaben gemacht 
werden. 29 Gemeinden haben sich bereit finden lassen, diesen mangel- 
haften Fragebogen auszufüllen. 


Wenn man auf Grund dieser Fragebogen die Zahl der Umsätze von 
bebauten und unbebauten Grundstücken in den einzelnen Jahren und 
Orten zusammengestellt hat, so hat man das Material eigentlich voll- 
kommen ausgenutzt. Croner vergleicht aber auch die Entwickelung der 
Kaufpreis- und der Flächengesamtheiten in dem 10-jährigen Zeitraum ; 
ja er scheint die Veränderungen der Kaufpreisgesamtheiten (erfragt sind 
Kaufpreise, es werden aber wohl alle Erstehungspreise angegeben sein) 
für besonders beweiskräftig für die Veränderungen des Grundstücks- 
markts zu halten (S. 13). Im zweiten Teil seiner Arbeit, wo die einzelnen 
Orte behandelt werden, werden die sämtlichen Gesamtheiten auch noch 
nach den Kalendermonaten der einzelnen Jahre unterschieden. Freilich 
sind die in den Fragebogen mitgeteilten Kalendermonate keineswegs 
etwa die Monate des Eigentumsübergangs, auch sind in den meisten 
Orten schon die Gesamtheiten des Jahres wegen ihrer Kleinheit Zu- 
fällen ausgesetzt, aber Croner glaubt (S. 6 u. 7), solche Zufälle am 
besten bemerken zu können, wenn er die Jahresvergleiche immer Monat 
für Monat durchgehe. Die Steigerung der Umsätze in den einzelnen 


570 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Orten hängt zum Teil mit ihrer weiteren baulichen Erschließung zu- 
sammen. Croner macht hierüber verschiedene Angaben. Zum Schluß 
werden auch die Umsatzsteuergesamtheiten mitgeteilt. Es war die Ab- 
sicht der Korporation, gerade die „Verhältnisse der städtischen Umsatz- 
steuern“ darzustellen; das war mit diesem Material natürlich unmöglich. 
Zum Ersatz werden einige finanzpolitische Anschauungen geäußert. 


Dr. Karl Seutemanın. 


Beiträge zur Statistik des Großherzogtums Baden. Herausgeg. vom Statistischen 
Landesamt. Neue Folge. 7. Heft. Die Volkszählung vom 1. XII. 1890. II. Teil. 
Karlsruhe, C. F. Müller (1907). 4. XIX—123 SS. M. 3,50. 

Cahn, Ernst (Sekretär), Wohnungszustände der minderbemittelten Bevölkerungs- 
schichten in Wiesbaden. Eine sozialstatistische Untersuchung. Wiesbaden, J. F. Berg- 
mann, 1906. Lex.-8. 73 SS. M. 1,30. 

Laspeyres, R., und (Sanitäts-R.) Lindemann, Statistische Untersuchungen über 
die Gesundheitsverhältnisse der Bergleute, mit besonderer Berücksichtigung der in Stein- 
kohlenbergwerken beschäftigten Arbeiter. Vortrag. 2 Hefte. Bonn, M. Hager, 1907. 
gr. 8. S. 52—83. M. 2.—. (Aus: Centralblatt für allgemeine Gesundheits-Pflege.) 

Statistik, Preußische. (Amtliches Quellenwerk.) Herausgeg. in zwanglosen 
Heften vom Königlich Preußischen Statistischen Landesamt in Berlin. 172. Die end- 
gültigen Ergebnisse der Vieh- und Obstbaumzählung vom 1. Dezember 1900 im preußischen 
Staate sowie in den Fürstentünmern Waldeck und Pyrmont. Teil III. Der Obstbaum- 
bestand der Gehöfte. Berlin, Königliches Statistisches Landesamt, 1907.  Imp.-4. 
XXII—153 SS. M. 4,60. — 199. Die Sterblichkeit nach Todesursachen und Alters- 
klassen der Gestorbenen im preußischen Staate während des Jahres 1905. Ebend. 
XXVI—210 SS. M. 6,20. 

Öesterreich-Ungarn. 

Hecke, Wilhelm (Magistr.-Oberkomm.), Die Sterblichkeit an Tuberkulose und 
Krebs in Wien im Jahre 1904 nach Berufen. Wien (Gerlach & Wiedling) 1907. Lex.-8. 
XVI—87 SS. M. 1,20. (Mitteilungen der statistischen Abteilung des Wiener 
Magistrates.) 

Italien.) 


Buonvino, Orazio, Il giornalismo contemporaneo. Milano (Remo 
Sandron) 1906. 611 SS, 


Der Verfasser hat es sich zur Aufgabe gemacht, in seinem mit 
mehreren Diagrammen ausgestatteten Buche das Phänomen des Jour- 
nalismus nach den verschiedensten Richtungen hin zu untersuchen. In 
einer Einleitung erörtert er den wissenschaftlichen Wert statistischer 
Daten über die periodische Presse und spricht er auch von der Wich- 
tigkeit der letzteren für das soziale und wirtschaftliche Leben. Darauf 
folgt ein Abriß der Geschichte des Journalismus. 

Im ersten Teil wird dann das Phänomen selbst einer eingehenden 
Erörterung unterzogen, das Verhältnis des Journalismus zur Kultur, zu 
den Kommunikationsmitteln und den einschlägigen Industrien besprochen. 

Im zweiten Teil geht Buonvino zunächst auf die Beziehungen 
zwischen Büchern und Zeitschriften ein; er bestreitet, daß die letzteren 
in einem Unterstützungsverhältnisse zu den Büchern stehen, und be- 
hauptet, daß sie vielmehr ein „autonomes“ Institut darstellen, das m 
seiner Entwickelung den Wegen des Kapitalismus folge, den Staat und 
das öffentliche Leben kontrolliere. Im siebenten Kapitel wird der Zu- 
stand des Journalismus in den verschiedensten Ländern geschildert. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.. 571 


Hierauf folgt eine Darlegung über die Bedeutung der „Auflage“ für 
die Zeitschriften und eine interessante Ausführung über den Journa- 
listen als Subjekt des Journalismus und über die von den Zeitungen 


zu behandelnden Gegenstände, insbesondere über ihre Stellung zur 
Reklame. 


Der dritte Teil bringt massenhaftes statistisches Materiale, der 
vierte endlich wirft einen Blick auf die Zukunft des Journalismus. 

Das Buch ist ausgestattet mit einer umfassenden Bibliographie und 
bringt mehrere instruktive Diagramme. 

Der Autor hat sich redlich Mühe gegeben, seinen Gegenstand 
allseitig zu erfassen; sein Werk wird daher auch für sehr weite Kreise 
Interessantes bieten, vermittelt es doch einen scharfen Einblick in eine 
der charakteristischsten Erscheinungen des modernen Lebens. Ob der 
Verfasser sich in einigen Punkten nicht etwas kürzer hätte halten 
können, mag dahingestellt bleiben. v. Schullern. 


Hollantd. 

Bijdragen tot de Statistiek van Nederland. Uitgegeven door de Centrale 
Commissie voor -de Statistiek. LXXIX. Overzicht betreffende de loonen en den 
arbeidsduur bij rijkswerken in 1905. ’s-Gravenhage 1907. 4. XXIV—94 blz. 
fl. 0,75. 

13. Verschiedenes. 


Assmann, J. (Pfarrer), Der polnische Schulkinderstreik und der Ultramontanis- 
mus. Leipzig (C. Braun) 1907. 8. 17 SS. M. 0,25. (Flugschriften des Evangelischen 
Bundes. 247.) 

Brunhuber, Robert, Das moderne Zeitungswesen. (System der Zeitungslehre.) 
Leipzig, G. J. Göschen’sche Verlagshandlung, 1907. 8. 109 SS. M. 0,80. (Sammlung 
Gösehen. 320.) 

Herbst, Leo (Pastor), Die Fortbildungsschule des Herzogtums Braunschweig. 
Ein Beitrag zu ihrer Förderung. Braunschweig, H. Wollermann, 1907. gr. 8. 47SS. 
M. 0,80. 

Höller, K., Die sexuelle Frage und die Schule. Leipzig,}E. Nägele, 1907. 8. 
M. 1.—. 

Lehmann, Rudolf (Prof.), Die gegenwärtige Entwickelung unserer höheren 
Schulen. Rede. Posen, Merzbach, 1907. gr. 8. 16 SS. M. 0,60. 

Leobner, Heinrich (Prof.), Die Grundzüge des Unterrichts- und Erziehungs- 
wesens in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Eine pädagogisch-didaktische 
Studie. Wien und Leipzig, Franz Deuticke, 1907. Lex.-8. VII—200 SS. M. 5.—. 

Marx, Hugo (Assist. d. Unterrichtsanst. f. Staatsarzneikunde), Einführung in die 
gerichtliche Medizin für praktische Kriminalisten. Vier Vorträge. Mit 14 Textfiguren. 
Berlin, August Hirschwald, 1907. gr. 8. 129 SS. M. 2,40, 

Meier, Ernst von, Französische Einflüsse auf die Staats- und Rechtsentwicklung 
Preußens im XIX. Jahrhundert. 1. Bd. Prolegomena. Leipzig, Duncker & Humblot, 
1907. gr. 8. VIII—242 SS. M. 5,40. 

Rohden, G. v. (Gefängnis-Geistlicher), Erbliche Belastung und ethische Verant- 
wortung. 3 Vorträge. Tübingen, J. C. B. Mohr, 1907. 8. 68 SS. M. 1,50. 

Sabatier, Paul, Zur Trennung der Kirchen vom Staat. Mit Genehmigung des 
Verfassers übersetzt. Berlin, C. A. Schwetschke & Sohn, 1907. gr. 8. 72 SS. M. 1,50. 
(Erweiterter Sonderabdruck aus: Deutschland.) 

Sommer, Robert (Prof.), Familienforschung und Vererbungslehre. Mit 16 Ab- 
bildingani und 2 Tabellen. Leipzig, Johann Ambrosius Barth, 1907. gr. 8. VI—232 SS. 

. 10.—. 

Westermarck, Eduard (Prof.), Ursprung und Entwickelung der Moralbegriffe. 

ae von Leopold Katscher. 1. Bd. Leipzig, W. Klinkhardt, 1907. Lex.-8. VII— 
32 88. M. 11.—. 


572 Die periodische Presse des Auslandes. 


Harper, J. Wilson, Education and social life. London, J. Pitman, 1907. 8. 
XVI—315 pp. 4/.6. 

Lockyer, Sir Norman, Education and national progress. Essays and Addresses 
1870—1905. With an introduction by R. B. Haldane. London, Macmillan & C°, 1908. 
8. X—269 pp. 5/.—. 

De Blasi, L., Igiene scolastica: conferenza tenuta alle maestre. Palermo 1907. 
16. 185 pp. 1. 2,50. 

Pederzolli, F. A., La separazione dello Stato dalla Chiesa ed il pericolo sociale, 
Roma 1907. 8. 1. 1.—. 


Die periodische Presse des Auslandes. 


A. Frankreich. 


Journal des Économistes. 66° Année, 1907, iévrier: La banqueroute du socia 
lisme scientifique, par Yves Guyot. — Une industrie mal protégée: Pindustrie de la soie 
en Italie, par Edoardo Giretti. — L’entrepreneur est-il un quairième facteur de la prè- 
duction, par Maurice Bellom. — Mouvement agricole, par Maurice de Molinari. — Lettre 
des États-Unis, par George Nestler-Tricoche. — Lettre de province, par Courcelle-Seneuil. 
— ete. 

Journal de la Société de statistique de Paris. Année 48, 1907, N° 2, Février: 
Revision de la loi sur les pensions civiles, par Malzac. — Les progrès de l'ile de For- 
mose sous la domination japonaise, par Paul Meuriot. — ete. 

Réforme Sociale, La. XXVI” année, N° 28, 16 février 1907: La supériorité de 
PAsie antique et moderne dans la doctrine et dans les applications de la liberté de 
conscience, par Luigi Luzzatti. — Les retraites ouvriöres et le socialisme chrétien: der- 
nières réflexions d’un contribuable, par René de Kerallain. — Un peuple peut-il avoir une 
vie morale saine si l'État en élimine les religions, par Eugène Rostand. (Dernier ar- 
ticle.) — L’&eole-atelier d'apprentissage de la rue Vercingétorix, par André Vovard. — 
Les lectures populaires, par le Baron de Montenach. — etc. — N° 29, 1% mars 1907: 
De l’origine paternelle du pouvoir, une vieille controverse, par L. Etcheverry. — La 
peur de Penfant (ayec 11 graphiques et cartogrammes), par Bayard. — Les sociétés ano- 
nymes et les réformes nécessaires, par Paul Baugas. — ete. 

Revue économie politique. 20° Année, 1906, N° 12, Décembre: Une campagne 
syndicaliste: les sous-agents des postes, par Pierre Girard. — Les grèves en Italie, par 
Georges François. — Le mercantilisme liberal à la fin du XVII” siècle: les idées écono 
miques et politiques de M. de Belesbat (suite et fin), par Albert Schatz et Robert Caillemer. 
— Chronique ouvrière, par Charles Rist. — ete. — 21° Anne, 1907, N° 1, Janvier: 
Le commerce extérieur de l'Egypte, par Pierre Arminjon et Bernard Michel. — Fonction 
économique du contrat de société, par P. Pie. — Chronique des transports et travaux 
publics, par Marcel Porte. — ete. — N° 2, Février: Les castes de la vie économique, 
par C. Bouglé. — Le commerce extérieur de PÉgypte (suite), par Pierre Arminjon èt 
Bernard Michel. — Chronique ouvrière, par Charles Rist. — ete. 

Revue internationale de Sociologie. 15° Année, 1907, N° 1, Janvier: L'heure 
présente en Russie, par Maxime Kovalewsky. — Le féminisme au point de yue socio- 
logique, par Achile Loria. — Philosophie sociale et religion d’Auguste Comte, par 
Edward Caird. — Les partis et les classes, par Arthur Bauer. — Société de Sociologie 
de Paris. Séance du 12 décembre 1906. Les types professionnels: le magistrat. Obser- 
vations de Paul Vibert, Charles Valentino, Ch.-M. Limousin, Rene Worms. — ete. 


B. England. 


Century, The Nineteenth, and after. N° 361, March 1907: The British fleet and 
the balance of sea power, by Archibald 8. Hurd. — The invasion scare: a new vit", 
by C. W. Radcliffe Cooke. — What shall we do with our Land? By the Lady Saltoun. 
— The birth-rate and the mother, by Mrs. Alfred N. Macfadyen. — The new situation 
in Germany, by Karl Blind. — Women and polities: a reply, by Eva Gore-Bootb. — 
Education, elementary and secondary, by Sir Michael Foster. — The Irish policy of the 
government, by L. A. Atherley Jones. — ete. 


Die periodische Presse des Auslandes. 573 


Journal‘of the Institute of Bankers. Vol. XXVIII, 1907, Part I, January: Our 
gold reserves, by Sir Felix Schuster. — Bankers’ advances upon title-deeds to landed 
property, I, by (Barrister-at-Law) Bernard Campion. — ete. — Part II, February: 
Bankers’ advances upon title-deeds to landed property, II, by Bernard Campion. — 
Notice of suspension of payment as an act of bankruptey, by Eustace H. Barchard. 
— ote; 

Review, The Contemporary. N° 495, March, 1907: The State children of Hungary, 
by Edith Sellers. — Canada, England, and the States, by Goldwin Smith. — The stock 
exchange and the public, by Edgar Crammond. — ete. 

Review, The National. N° 289, March 1907: The Treasury and its critics, by 
Sir Augustus Hemming. — Church and State in France, by Sir Rowland Blennerhassett. 
— ete 


C. Oesterreich. 


Handels-Museum, Das. Herausgeg. vom k. k. österr. Handels-Museum. Bd. 22, 
1907, N° 7: Der Postscheck nach österreichischem Recht, von Adolf Grossmann. — 


Öesterreichisch-marokkanische Handelsbeziehungen. — ete. — N" 8: Industrieförderung 
in Rumänien. — Das internationale Exportgeschäft. — ete. — N" 9: Kommerzielles In- 
formationswesen in der Schweiz. — Die Geschäftslage in Rußland. — ete. — N' 10: Die 
künstlichen Düngematerialien, von (Prof.) S. Feitler. — ete. 


Monatschrift, Statistische. Herausgeg. von der k. k. Statistischen Zentral- 
Kommission. Neue Folge. Jahrg. XII, 1907, Jänner-Heft: Ueber eine bisher übersehene 
Quelle für agrarstatistische Forschungen, von Hermann v. Schullern-Schrattenhofen. — 
Die Wiener Personentransportmittel in den letzten Jahren, von Ed. Bratassevid. — An- 
siedlungsverhältnisse und Viehstand, von Weyr. — etc. 

Rundschau, Soziale. Herausgeg. vom k. k. Arbeitsstatistischen Amte im Handels- 
ministerium. Jahrg. VIII, 1907, Jännerheft: Arbeiterverhältnisse im Östrau-Karwiner 
Steinkohlenreviere. — Löhne und Schicehtdauer beim Bergbau Oesterreichs im Jahre 1905. 
— Der neue ungarische Gesetzentwurf über die Kranken- und Unfallversicherung. — 
Die Streikbewegung in Oesterreich im Jahre 1906. — etc. 


F. Italien. 


Giornale degli Economisti. Serie II, Anno XVII, Dicembre 1906: Nuove pole- 
miche sullo zucchero, di Edoardo Giretti. — L’aumento di popolazione delle grandi 
agglomerazioni urbane in Italia durante il secolo XIX, di E. Raseri. — Le popolazioni 
delle grandi città italiane secondo il sesso e Petà dei loro componenti, di Giorgio Mortara. 
— I coniugati sotto l’etä legale e il censimento 10 febbraio 1901, di Francesco Coletti. 
— etc. 

Rivista Italiana di Sociologia. Anno X, 1906, Fase. II—IV, Maggio—Agosto: 
Augusto Bosco, di Guido Cavaglieri. — Censimenti e popolazione in Piemonte nei secoli 
XVI, XVII e XVII, di Giuseppe Prato. — Elementi costitutivi del comune rurale pri- 
mitivo, di Vittorio Podrecca. — Sociologia ed economia, di Giuseppe Jona. — Le fonti 
del diritto e la credenza, di Michele Colozza. — ete. — Fase. V—VI, Settembre—Dicembre : 
L'opera scientifica di Augusto Bosco, di L. Bodio. — Origine e vicende dei popoli dell’ 
Asia centrale, di C. Puini. — Sociologia e storia, di A. D. Xénopol. — Parallelismi 
psico-demologici, di G. Marpillero. — I movimenti migratori nella popolazione italiana, 
di E. Raseri. — Il metodo negli studi di etnologia giuridica, di G. Mazzarella. — Razze 
inferiori e razze superiori, di G. Mondaini. — ete. 


G. Holland. 
Economist, De, opgericht door J. L. de Bruyn Kops. LVI” jaarg., 1907, Februari: 
De Italiaansche Spoorwegen, door R. W. J. C. van den Wall Bake. — Gewone en buiten- 
gewone uitgaven, II, door S. J. R. de Monchy. — Landbouw en landbouwers in Neder- 
land, door F. B. Löhnis. — De Internationale geldmarkt, door C. Rozenraad. — ete, 


H. Schweiz. 
Blätter, Schweizerische, für Wirtschafts- und Sozialpolitik. Jahrg. XIV, 1906, 
Heft 21/22, 23/24: System und Statistik der Raiffeisenschen Genossenschaftsbewegung 


in der Schweiz, von Eugen Cremer (Bern). — Der Bauarbeiterschutz in der Schweiz, 
von H. Lattmann (Zürich), — ete. 


574 Die periodische Presse Deutschlands. 


Zeitschrift für Schweizerische Statistik. Jahrg. 43, 1907, Bd. I, Lieferung 1: 
Die Tilgungshypothek im Dienste der Landwirtschaft, von Ed. Näf (Zürich). — Mit- 
teilungen über die Preise der wichtigsten Lebensmittel und anderer Bedarfsartikel im 
November 1906, von C. Zuppinger (St. Gallen). — Die geschichtliche Entwicklung der 
appenzellischen Gebäudeversicherung, von J. Merz. — Vergleichung der Fleischpreise 
in den Jahren 1593, 1896, 1900, 1905 und 1906, von C. Zuppinger. — ete. 


J. Belgien. 


Revue Économique internationale. Année 4, 1907, Vol. I, N. 2: Les luttes &eononi- 
ques internationales, par M. von Brandt. — Les chemins de fer vieinaux en Belgique, par 
C. de Burlet. — L'Inde anglaise: la part des Indiens dans l'administration de leur pays, 
par Joseph Chailley. — L'instruction industrielle technique aux États-Unis d'Amérique, 
par Hjalmar Schacht (Berlin). — Le Clearing-House de Londres, par Jules Tillier. — 
La balance commerciale, la marine marchande et les banques, par Léon Hennebicg. — 
Les stations agronomiques allemandes, par Achille Grégoire. — ete. 


M. Amerika. 


Bulletin of the Bureau of Labor. N° 67, November, 1906: Conditions of en- 
trance to the principal trades, by Walter E. Weyl and A. M. Sakolski. — Cost of 
industrial insurance in the District of Columbia, by S. E. Forman. — Digest of recent 
reports of State bureaus of labor statistics: Massachusetts, Michigan, Nebraska, New 
York. — ete, 

Journal, The, of Political Economy. (University of Chicago Press.) Vol. 14, 
1906, N° 6, June: The demand and supply concepts: an introduction to the study of 
market price, by Robert H. Hoxie. — The disastrous results, in Italy, of state railway 
building, by Hugo R. Meyer. — Subsidizing merchant marines, by Frank L. McVey. 
— ete. — N° 7, July: The demand and supply concepts: an introduction to the study 
of market price, II, by Robert H. Hoxie. — Trade combinations in Canada, by William 
Wilkie Edger. — ete. — N° 8, October: The history of industrial employment of women 
in the United States: an introductory study, by Edith Abbott. — etc. — N° 9, Novem- 
ber: Ocean freight rates and their control by line carriers, by J. Russell Smith. — The 
prevention of stock-watering by public-service corporations, by Arthur W. Spencer. — 
Municipal ownership in Germany, by Hugo Meyer. — ete. 


Die periodische Presse Deutschlands. 


Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirt- 
schaft. Jahrg. 40, 1907, N" 2: Das neue französische Gesetz über den wöchentlichen 
Ruhetag der Arbeiter und die Schwierigkeiten bei seiner Ausführung, von (Advokat) 
René Delcourt (Valenciennes). — Die Gewinnbeteiligung der Arbeiter in Deutschland, 
von W. Heissner (Berlin). [Forts] — ete. 

Archiv für Eisenbahnwesen. Herausgeg. im Königlich Preußischen Ministerium 
der öffentlichen Arbeiten. Jahrg. 1907, Heft 2, März und April: Die Verstaatlichung 
der wichtigsten Privateisenbahnen in Japan und der koreanischen Eisenbahn von Söul 
nach Fusan, von (Regierungs- und Bau-R.) Baltzer. — Wohlfahrtseinriehtungen der 
preußisch-hessischen Eisenbahngemeinschaft im Jahre 1905, von (vortr. R.) Rüdlin. 
(2. Abschnitt.) — Die neueste Entwickelung des Eisenbahnnetzes in den Vereinigten 
Staaten von Amerika, von (Regierungsassessor) Wolff (Berlin). -— Die Königlich unga- 
rischen Staatsbahnen im Jahre 1905, von (Eisenbahninspektor) Rudolf Nagel. — ete. 

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Der neuen Folge Bd. VI, Heft 2, 
März 1907: Zur sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung. II. Der Stoff der Sozialwissen- 
schaft, von (Prof.) Friedrich Gottl (Brünn). — Heimstättenrechts-Bestrebungen in Frank- 
reich, von (Prof.) Carl Grünberg (Wien). — Arbeiterbewegung und Arbeiterpolitik in 
Australasien von 1890 bis 1905, von Käthe Lux (Berlin). [Schluß.] — Die Landarbeiter- 
frage. I. Schriften über die Landarbeiterfrage in Ungurn, besprochen von Julius Bunzel 


Die periodische Presse Deutschlands. 575 


(Graz). — Kontrareplik, von Robert Michels (Marburg) (betr. Diehl, Ueber Sozialismus, 
Kommunismus und Anarchismus). — ete. ` 

Blätter, Volkswirtschaftliche. Jahrg. VE, 1907, N’4: Das Problem der Zahlungs- 
bilanz im Lichte der Handelswissenschaft, von (Prof.) Joh. Friedr. Schär (Berlin). — 
Obst- und Gemüsebau, von Carl Kanig (Berlin). — ete. — N’ 5: Das Problem der 
Zahlungsbilanz im Lichte der Handelswissenschaft, von (Prof.) Joh. Friedr. Schär. 
[Schluß.] — Eine Gliederung der Handelswissenschaften als Hochschuldisziplinen, von 
(Prof.) Jos. Hellauer (Wien). — Kursänderung? Von A. de Corti. — ete. 

Export. Jahrg. XXIX, 1907, N’ 8, 9: Die wirtschaftliche Lage in den Ver- 
einigten Staaten. — Der Kolonial-Kongreß zu Marseille, von J.-B. Piolet. — Finanz- 
und Wirtschaftslage des Brasilstaates São Paulo, von Carl Bolle. — N’ 10: Deutscher 
und englischer Zolltarif. — ete. — N’ 11: Deutsch-amerikanische Handelsbeziehungen. 
— etc. 

Jahrbücher, Landwirtschaftliche. Bd. XXXVI, 1907, Heft 1: Zur Frage der 
Konkurrenzfühigkeit von Groß-, Mittel- und Kleinbetrieb in der Landwirtschaft, von 
J. Hoch. — Die Roherträge der deutschen Landwirtschaft im letzten Menschenalter, von 
Emil Wehriede. 

Jahrbücher, Preußische. Bd. 127, Heft 3, März 1907: Strafrechtsreform und 
Strafzwecke, von (Prof.) Robert v. Hippel. — Die Reformvorschläge der Unterrichts- 
kommission der Deutschen Naturforschergesellschaft, von (Bealgymnasialdirektor) Max 
Nath (Nordhausen). — etc. 

Industrie-Zeitung, Deutsche. Jahrg. XXVI, N' 8: Ausfuhr deutscher In- 
dustrie-Erzeugnisse im Jahre 1906. [Forts. u. Schluß.] — Die Entwickelung der 
deutschen Schutzgebiete in Afrika und in der Südsee (1. April 1905 bis 31. März 1906). 
— ete. — N’ 9: Alters- und Invalidenversorgung in Frankreich und England, von 
O. Ballerstedt. — ete. — N’ 10: Zum Gesetzentwurf, betreffend die Abänderung des 
Allgemeinen Berggesetzes vom 24. Juni 1865. — ete. — N" 11: Handel mit industri- 
ellen Erzeugnissen zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika 
1906. — ete. 

Monats-Hefte, Sozialistische. Jahrg. XIII, 1907, Februar: Die sozialistischen 
Minister, von Eugène Fournière., — Der politische Massenstreik in Rußland und seine 
Lehren, von Roman Streltzow. — Die Schulfrage in England, von Philip Snowden. — 
Der Philosoph des Egoismus, von Sigmund Kaff. — ete. — März: Kolonialpolitik und 
Sozialdemokratie, von Richard Calwer. — Europiische Landwirtschaft unter Freihandel 
und Zollschutz, von Max Schippel. — Die genossenschaftliche Entwickelung und das 
sozialdemokratische Programm, von Friedrich Hahn. — Der Erzbergbau im Minette- 
gebiet, von Johann Leimpeters. — etc. 

Oekonomist, Der Deutsche. Jahrg. XXV, 1907, N’ 1261: Die Steuer- und 
Wirtschaftsreformer. — ete. — N’ 1262: Angriffe auf die Reichsbank. — ete. — 
N" 1263: Zu der projektierten Einführung von Kolonial-Aktien in den Börsenhandel. 
— ete. — N" 1264: Zur Reform des Aufsichtsrats der Aktiengesellschaft. — ete. 

Plutus. 4. Jahr, 1907, Heft 8: Filialwucher. — Rechtswissenschaft und Ge- 
richtspraxis, von (Rechtsanwalt) Max Alsberg (Berlin). — ete. — Heft 9: Das Haus 
Mendelssohn, von Siegbert Salter (Berlin). — ete. — Heft 10: Die Getreideernten der 
Welt, von G. B. — Wissenschaft und Praxis, von Alfons Goldschmidt (Charlottenburg). 
— ete. — Heft 11: Bilanzsünde, von (Bankprokur.) Samuel Wallenberg (Berlin). — ete. 

Rechtsschutz, Gewerblicher, und Urheberrecht. Jahrg. 12, 1907, N" 2: Die 
Abhängigkeit im Patentrecht, von (Rechtsanwalt) Isay. — Ueber die Nichtigkeit im 
Patentrecht, von (Justiz-R.) Edwin Katz und (Patentanwalt) Julius Ephraim. — ete. 

Revue, Deutsche. Jahrg. 32, 1907, März: Werden und müssen wir zum Frei- 
handel in Europa zurückkehren? Von (Mitglied des Reichsrats) Max von Kübeck. — 
Ueber die Gefahren beim Bergbau einst und jetzt, von (Bergschuldir.) Stegemann 
(Aachen). — Abessinien, von Graf Eduard Wiekenburg. — etc. 

Revue, Politisch-Anthropologische. Jahrg. V, N’ 12, März 1907: Bemerkungen 
zur Rassetheorie, von Ludwig Woltmann t. — Krieg und Kultur in der Lebensgeschichte 
der Rasse, von Eberhard Kraus. — Die rassenhaften Wurzeln der europäischen Kultur, 
von Ludwig Wilser. — Richtigstellung zu Herrn Dr. W, Borgius’ Artikel „Zur Frage 
der Mutterschaftsversicherung“, von Fr. von den Velden. — ete. 

Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reichs. Herausgeg. vom Kaiser- 
lichen Statistischen Amt. Jahrg. 16, 1907, Heft 1: Anordnungen für die Reichsstatistik 


576 Die periodische Presse Deutschlands. 


bis zum Schluß des Jahres 1906. — Erntestatistik für das Jahr 1906. — Streiks und 
Aussperrungen im 4. Vierteljahr 1906. — Nachtrag zur Statistik der Reichstagswahlen 
von 1903. Die Ersatzwahlen. — Die Selbstmorde 1902 bis 1905. — Konkurse im 4. Vier- 
teljahr 1906. Vorläufige Mitteilung. — Seeverkehr in den deutschen Hafenplätzen 1905. 
— Scereisen deutscher Schiffe 1905. — Die Neubauten auf deutschen Privatwerften und 
auf ausländischen Werften für deutsche Rechnung 1898 bis 1906. — Die überseeische Aus- 
wanderung 1906. — Weinmost-Ernte 1906. — Schlachtvieh- und Fleischbeschau im 
4. Vierteljahr 1906. — Eheschließungen, Geburten und Sterbefälle 1905. — Die Volks- 
zählung am 1. Dezember 1905. (Endgiltige Ergebnisse. 2. Mitteilung.) — Bei deutschen 
Börsen zugelassene Wertpapiere 1906. — Branntweinbrennerei und -besteuerung 
1905/1906. — ete. 

Wirtschafts-Zeitung, Deutsche. Jahrg. III, 1907, N" 4: Die erste Konferenz 
der Mitteleuropäischen Wirtschaftsvereine, von (Prof.) Julius Wolf (Breslau). — Ueber- 
blick über die technischen Fortschritte im Wirtschaftsjahre 1906, von (Ingenieur) J. Koll- 
mann (Ems). — Die deutsche Sozialpolitik im Jahre 1906, von Waldemar Zimmermann 
(Berlin). — Die Schiffbauindustrie im Wesergebiet, von A. Bloem (Hamburg). — Die 
deutschen Auslands-Banken, von Joseph Mendel (Berlin). — ete. — N! 5: Gegen ein 
Scheckgesetz! Von (Kommerzien-R.) Max Richter (Berlin). — Zur Lage der englischen 
Volkswirtschaft, von Otto Most (Posen). — Das (Genossenschaftswesen im Jahre 1906, 
von Crüger (Charlottenburg). — ete. — N’ 6: Zur Reform der Volksversicherung, von 
(Landgerichts-R.) Otto Hagen (Berlin). — Die Textilindustrie im Jahre 1906, von Apelt 
{M. Gladbach). — Die Lederindustrie im Jahre 1906, von Apelt. — Deutschland und 
Kanada, von Max Nitzsche (Berlin). — ete. 

Zeit, Die Neue. Jahrg. 25, 1907, N" 21: Die Arbeiterpolitik der letzten Jahre 
in Rußland, von Paul Dauge (Moskau). [Forts.] — Thüringens Heimarbeiterelend, von 
Paul Sauerbrey (Großbreitenbach), — ete. — N" 22: Rassehygiene und Sozialismus, von 
W. Schallmayer. — ete. — N" 23: Die Arbeiterpolitik der letzten Jahre in Rußland, 
von Paul Dauge (Moskau). [Schluß.] — ete. — N’ 24: Das Maurergewerbe in der 
Statistik, von August Winnig. — ete. 

Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Kolonialwirtschaft. Jahrg. IX, 
1907, Heft 2, Februar: Parlamentarische Studienfahrt nach Deutsch-Ost-Afrika. (1. Forts.) 
— Weitere Entwiekelung der Post- und Telegrapheneinrichtungen und des Post- und 
Telegraphenverkehrs der deutschen Kolonien, von (Ober-Postinspektor) H. Herzog (Berlin). 
— Koloniale Landesvermessung, von (Kgl. Landmesser) H. Assmuth. — Die Religions- 
freiheit in Marokko und das Völkerrecht, von Heinrich Pohl. — Eine Denkschrift des 
Geh. R. A. v. Hansemann über die deutsche Kolonialpolitik, von Heinrich v. Poschinger. 
— ete. 

Zeitschrift für Sozialwissenschaft. Jahrg. X, 1907, Heft 2: Die religiöse Sank- 
tionierung des Eigentums auf tieferen Kulturstufen, von (Prof.) Eduard Westermarck. — 
Die Stadtgemeinschaft in ihren kulturellen Beziehungen, von (Prof.) J. Jastrow. [Schluß.] 


— Die augenbliekliche Finanzlage Rußlands, von Rudolf Martin (Berlin). — E. Vander- 
veldes socialistische Essays, von (Prof.) G. T. Masaryk. — Sollen wir den Steinkohlen- 
bergbau verstaatlichen? Von (Geh. Ober-Finanz-R.) Strutz. — ete. — Heft 3: Die 


Stellung der Frau in der Urgeschiehte der Zivilisation, von (Prof.) Eduard Westermarck. 
— Der Gegensatz der Japaner und der Nordamerikaner im Stillen Ozean, von (Wirkl. 


Geh. R.) M. v. Brandt. — Die schwedische Eisenerzfrage, von Pontus Fahlbeck. — 
Der Entwurf der schweizerischen Kranken- und Unfallversicherung, von (M. d. R.) 
Otto Mugdan. — etc. 


Zeitschrift des Königlich Preußischen Statistischen Landesamts. Jahrg. 47, 1907 
Abt. 1: Die Binnenwanderungen im preußischen Staate, mit 3 Tafeln graphischer Dar- 
stellungen, von Max Broesike (Mitgl. des Königl. Preuß. Statist. Landesamts), — ete. 


Frommannsche Buchdruckerei (Hermann Pohle) in Jena. 


Costantino Bresciani, Ueber die Methoden der Einkommenverteilungsstatistik. 577 


X. 


Ueber die Methoden der Einkommen- 
verteilungsstatistik. 


Dr. Costantino Bresciani, 


Privatdozent der Statistik in Pavia. 


In den zahlreichen statistischen Arbeiten über Einkommen- 
verteilung, die hauptsächlich in Deutschland (aber auch in anderen 
Ländern, namentlich in England) in den letzten Jahrzehnten er- 
schienen sind, wird, zum Zwecke der Vergleichung der Einkommen- 
verteilung an verschiedenen Zeitpunkten, eine Methode angewandt, 
die darin besteht, die prozentuale Zunahme (oder Abnahme) der 
Zensitenzahl in den einzelnen Einkommenstufen festzustellen und zu 
vergleichen. Findet man, daß die Zahl der Zensiten in der Zwischen- 
zeit in jeder Stufe zugenommen hat, und zwar rascher als die 
Bevölkerung des in Betracht gezogenen Staates oder Gebietes, 
so zieht man den Schluß, daß eine allgemeine Einkommen- 
hebung stattgefunden hat (vorausgesetzt natürlich, daß die Zensiten- 
zunahme nicht durch rein formelle Ursachen, wie Verschärfung des 
Einschätzungsverfahrens, Verminderung des Geldwertes u. s. w. 
zu erklären sei). Findet man dann, daß die Zensitenzahl in allen 
Stufen gleichmäßig zugenommen hat, so schließt man daraus, 
daß die Einkommenvermehrung relativ in ähnlichem Maße 
allen Zensiten zu gute gekommen ist, daß also die Art der Ein- 
kommenverteilung sich nicht verändert hat. Wenn dagegen die 
einzelnen Stufen eine verschiedene relative Zunahme auf- 
weisen, so berechtigt diese Feststellung. nach Ansicht der Schrift- 
steller, zu dem Schluß, daß die Einkommenverhältnisse sich bei ge- 
wissen Gruppen rascher gebessert haben, als bei anderen, daß also die 
relative Klassenlage der gesellschaftlichen Schichten 
sich verschoben hat. In dieser Grundauffassung stimmen 
die meisten Schriftsteller überein, darüber aber, wie z. B, eine 
raschere Zunahme der Zensitenzahl in den oberen Stufen im Ver- 
gleich zu den unteren auszudeuten sei, teilen sich die Ansichten. 
Die Mehrzahl neigt doch zu der Auffassung, daß eine raschere Zu- 
nahme der Zensitenzalıl in den oberen Klassen im Vergleich zu den 
unteren, oder in den oberen und unteren im Vergleich zu den 
mittleren auf eine zunehmende Einkommendifferenzierung, 
auf eine ungleichmäßiger werdende Einkommenverteilung, deute. 

Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVII), 37 


578 ` Costantino Bresciani, 


Dieses ist die Ansicht von Engel, F. J. Neumann, Bücher, 
Heil u. a. In neuester Zeit schreibt Ad. Wagner !), die Ergeb- 
nisse seiner Untersuchungen über die Tendenzen der Einkommen- 
verteilung in Preußen zusammenfassend: „(Es ist) beachtenswert, 
daß... . in jedem Zeitraum die Zensitenzahl stärker als die Be- 
völkerung zugenommen hat . . . . das ist ein Zeichen günstiger wirt- 
schaftlicher Gesamtentwicklung .... Es zeigt sich... .. aber als 
ziemlich allgemeine Regel .... daß die Zunahme der Zensitenzahl 
mit der Steigerung des Einkommens, das jede Gruppe umfaßt, 
wächst, also von unten nach oben zu: je größer das Einkommen 
der Zensiten einer Gruppe, je „reicher“, sie, danach bemessen, sind, 
desto mehr vermehrt sich relativ ihre Anzahl .... Das Ergebnis 
im ganzen ist daher: bei unzweifelhaft allgemein gestiegenem Wohl- 
stande (höherem Einkommen) im Volke, jedenfalls in immer 
größer gewordenen steuerpflichtigen Teil desselben (mit über 


900 M. Einkommen des Zensiten) — eine Zunahme, die selbst schon 
ein günstiges Sympton ist — hat zwar jede Gruppe... . auf die 


Dauer ihre Zensitenzahl stark vermehrt, durchweg erheblich stärker 
als der allgemeinen Volkszunahme entspricht. Aber diese Ver- 
mehrung ist am schwächsten beim unteren und mittleren Mittel- 
stande, etwas stärker beim obersten Mittelstande, am stärksten 
jedoch und zwar zunehmend mit steigendem Einkommen von Gruppe 
zu Gruppe beim obersten Mittel- und vollends beim ganzen Oberstande“. 

„Daraus folgt der Schluß, daß die moderne wirtschaftliche Ent- 
wicklung .... allerdings dem gesamten Volke in Einkommen- 
erhöhung und jeder ökonomisch sozialen Klasse in Steigerung ihrer 
Mitgliederzahl zu gute gekommen ist, aber doch in stark ungleichem 
Male, am meisten den reicheren, dann der unteren Klasse, am 
wenigsten den mittleren: daß demnach auch die soziale Klassen- 
differenz, soweit sie auf Größe des Einkommens beruht, sich ver- 
größert hat... .“ 

Für andere Schriftsteller dagegen ist eine raschere Zu- 
nahme der oberen Zensiten vielmehr das Zeichen einer 
günstigen Entwickelung, indem sie nur die Bedeutung hat, 
daß die kleinsten und kleinen Einkommen sich rascher heben, 
als die oberen und infolgedessen eine verhältnismäßige große An- 
zahl von Zensiten von den unteren in die oberen Klassen aufsteigt. 
„Wie anders“, bemerkt Soetbeer, „sollte sich bei den gegebenen 
Bevölkerungs- und Wirtschaftszuständen ein erwünschtes Fortschreiten 
des allgemeinen Wohlstandes und Erwerbs bemerkbar machen, als 
eben dadurch, daß Jahr für Jahr aus den Klassen mit geringeren 
Einkommen eine wachsende Zahl von Familien in höhere Klassen 
einrücken und daß diese somit im Verhältnis zum Gesamteinkommen 
eine steigende Quote aufweisen“? An anderer Stelle schreibt 


1) Zeitschrift des preuß. stat. Bureaus, 1904, S. 85—86. 


Ueber die Methoden der Einkommenverteilungsstatistik. 579 


denn nicht, näher betrachtet, eben hierin gerade ein Beweis für die 
zunehmende Verbreitung des Wohlstandes?... . Das bedeutet, daß 
die kleinen Einkommen rascher wachsen und dadurch in höhere 
Klassen einrücken, daß .... fortdauernd eine beträchtliche Fort- 
schiebung aus den unteren in die höheren Klassen stattfindet !).* 

Julius Wolf hat bekanntlich die geläufige Methode der Berech- 
nung des Zensitenzuwachses in den einzelnen Stufen einer scharfen 
Kritik unterzogen und als „unhistorisch“ und irreführend überhaupt 
verworfen. Wenn man die Entwickelung der Einkommen der 
einzelnen Gruppen verfolgen will, so muß man bedenken, schreibt 
Wolf, daß „jeder Nachweis einer Entwickelung das frühere gegen 
das heutige Verhältnis ins Auge fassen muß und daß das frühere 
Verhältnis der einer Klasse zugewachsenen Zensiten ja ihre Zuge- 
hörigkeit zu einer anderen war“. Es ist deshalb falsch, die Zahl 
der sich in denselben Stufen befindenden Zensiten zu ver- 
gleichen; man muß vielmehr berechnen, wie viele Zensiten aus 
einer Stufe in die oberen aufgestiegen sind und je rascher der 
Aufstieg aus einer Klasse, desto rascher ist die Einkommen- 
hebung der Zensiten dieser Klasse. Wolf gibt folgendes Beispiel 
seiner Methode: „Der Kanton Zürich zählte Inhaber, bez. Steuer- 
pflichtige eines Vermögens von: 


Franken 1848 1888 
100— 2.000 25 991 21108 

2 000—20 000 13 959 24 406 
20 000—25 000 2409 6584 
25 000 und mehr 81 484 


Was wird nach der gegenwärtig üblichen, von uns unhistorisch 
und falsch genannten Methode aus diesen Ziffern herausgelesen ? 
Daß die Zahl der Zensiten sich erhöht hat, in der zweiten Klasse 
um 75 Proz., in der dritten um 174 Proz., in der vierten um 
500 Proz. Die Entwickelung erscheint also eine im höchsten Grade 
ungünstige. Die großen Vermögen sind der Zahl nach im Laufe 
der 40 Jahre außerordentlich gestiegen u. s. w. Nun ziehe man 
aber gegenüber dieser Rechnung die folgende Darstellung in Be- 
tracht. In Klasse II ist die Zahl der Zensiten scheinbar zuge- 
wachsen um 10447. Diese Zahl ist aus der I. Klasse in die II. 
aufgestiegen. Klasse I hat also an die II. 40 Proz. ihres Bestandes 
abgegeben. In Wahrheit nur 40 Proz.? Nein mehr! Denn gleich- 
zeitig sind aus Klasse II in Klasse III 4175 Zensiten aufgestiegen 
und diese haben nun gleichfalls von unten her an die Klasse II 
abgegeben werden müssen. Der Zuwachs daher ist also insgesamt 
1047 + 4175 = 56 Proz. der Angehörigen jener Klasse, aus 
welcher der Aufstieg erfolgte. Macht man die Rechnung in gleicher 
Weise für die beiden anderen Klassen, so ergibt sich, daß aus: 


Klasse I in Klasse II übergingen 14622 Pers. = 56 Proz. 
» ir ” III $ DE EEE n 
oA, 5 IV ş a SSR 


1) Volkseinkommen im preußischen Staate. Conrads Jahrbücher, 1892. 


37* 


580 Costantino Bresciani, 


Das Bild ist also ein dem vorigen vollständig entgegengesetztes, 
Aus den kleinen Vermögen hat der Aufstieg im weitaus größten 
Maße stattgefunden; geringer war der Anwachs der mittleren Ver- 
mögen, und noch mehr steht jener bei den großen Vermögen 
zurück" ....) 

II. Ich halte die Wolfsche Grundauffassung für die einzig richtige 
und ich will im folgenden eine Fortführung seiner Kritik der üb- 
lichen Methode versuchen. Die Statistiker haben merkwürdigerweise 
diese Methode als etwas Selbstverständliches angenommen, ohne eine 
wissenschaftliche Begründung derselben zu geben. 

Wolf selber hat aber meines Erachtens seine Methode teils nicht 
ganz richtig angewandt, teils nicht zu Ende ausgedacht. 

Zunächst bemerke ich, daß, um die Zahl der Zensiten zu er- 
mitteln, die von der ersten Klasse in die zweite aufgestiegen ist, 
nicht nur der Zuwachs der dritten Klasse, sondern auch derjenige 
der vierten dem Zuwachs der zweiten Klasse zuzuzählen ist, wie 
aus folgender Aufstellung erhellt: 

Zahl der Zensiten mit Einkommen über: 


Franken 1848 1888 
100 42 440 52 582 
2 000 16 449 31474 
20 000 2 490 7 068 
25 000 81 484 


Aus der ersten Klasse in die zweite stiegen also 314īņ74— 
16449 Zensiten, d. h. 15025, d. h. 10447 -+ 4175 -+ 403 auf: von 
der zweiten in die dritte: 7068—2490 — 4578 u. s. w. Um also 
die Zahl der aufgestiegenen Zensiten zu ermitteln, muß man be- 
rechnen, wie viele Zensiten in den in Betracht gezogenen Zeitpunkten 
ein Einkommen über eine gewisse Größe besaßen und die Differenz 
zwischen dem Zensitenbestand in den einzelnen Stufen bilden. Das 
tritt noch klarer aus folgendem fingierten Beispiel hervor: 

In Preußen betrug 1905 die Zahl der Zensiten nach dem Ein- 
kommen geordnet: 

in den Einkominengruppen 


M. I II 
900— 3000 3 889 171 
3 000— 6000 326 921 683 146 
6 000— 93500 86 340 110 398 
9 500— 30 500 70 943 72 483 
30 500— 100 000 14 374 20 031 
über 100 000 2859 4 296 


Ich nehme an, daß jede Klasse 10 Proz. ihres Bestandes an 
die obere abgebe; es ergibt sich dann die Reihe von Spalte II. 

Wenn man umgekehrt aus der Vergleichung der beiden Reihen 
untereinander ermitteln wollte, wie viele Zensiten aus einer Klasse 
in die andere aufgestiegen sind, würde es sich, nach Wolfs Rechnung, 
ergeben, daß die erste Stufe an die zweite 330283 (d. h. 35622 
+ 24058) Zensiten abgegeben hat, während die tatsächliche Zahl 


1) J. Wolf, Sozialismus und kapitalistische Wirtschaftsordnung, S. 235. 


Ueber die Methoden der Einkommenverteilungsstatistik. 581 


388917, d. h. !/,, des Bestandes der ersten Stufe, betrug; daß von 
der zweiten Klasse in die dritte 25598 (d. h. 24058 + 1540) 
Zensiten aufgestiegen sind, während die wirkliche Zahl sich auf 32 692 
Zensiten bezifferte, u. s. w. Nach meiner Rechnung ergibt sich 
aber die richtige Zahl der aufgestiegenen Zensiten sofort: 

Es betrug die Zahl der Zensiten mit einem Einkommen über: 


M. in der ersten Reihe in der zweiten Reihe Differenz 
3000 501 437 890 354 358 917 
6000 174 516 207 208 32 692 

u. S. W. u. s. w. 


Gegen Wolf hat man dann auch von anderer Seite das Bedenken 
erhoben, daß er die „große Bedeutung der Klassenabgrenzung zumal 
für seine Rechnungsweise nicht genügend gewürdigt habe“. „Das 
Aufsteigen von 10 Proz. der Steuerpflichtigen aus einer Steuerklasse 
von O bis 500 M. oder von 500—800 M. Einkommen“, bemerkt 
Robert Meyer!) weiter „und aus einer Steuerklasse von 3300 bis 
9500 M. sind doch ganz inkommensurable Vorgänge .... Bei 
Klassen mit so weiten Grenzen bedeutet ein gleiches prozentuales 
Aufsteigen der Zensiten eine viel stärkere Bewegung als bei Klassen 
mit geringerer Spannung.“ 

Die Meyersche Kritik, die ich für ganz zutreffend halte, ver- 
suche ich mit folgenden Betrachtungen zu vervollständigen. Aus 
einer kurzen Erwägung wird sich ergeben, daß damit das Aufsteigen 
einer Anzahl Zensiten aus einer Klasse und das Aufsteigen einer 
Anzahl Zensiten aus einer anderen Klasse kommensurable Vorgänge 
sind, das heißt, damit ein gleiches prozentuales Aufsteigen aus 
allen Stufen als Zeichen einer relativ gleichen Einkommenhebung 
aller Zensiten, ein stärkeres prozentuales Aufsteigen aus einzelnen 
Stufen dagegen als Zeichen einer relativ stärkeren Besserung der 
Einkommenverhältnisse der Zensiten dieser Stufen u. s. w. aufgefaßt 
werden kann, es nötig ist, daß die Grenzeinkommen der 
einzelnen Stufen in gleichen relativen Abständen auf- 
einanderfolgen (d.h. eine geometrische Reihe bilden, so daß alle 
Klassen die gleiche relative Spannung aufweisen). Nehmen 
wir z. B. an, daß sich in den Stufen von 400 bis 600 M., 600 bis 900 M., 
900 bis 1350 M. eine Anzahl von je C,, Ca, C, Zensiten befinde 
und daß diese eine Reihe bilden, die, nach der Höhe des Ein- 
kommens geordnet, mit dem niedrigsten Einkommen beginnt und 
mit dem höchsten endet. Bei einer Einkommenhebung von z. B. 
50 Proz. werden alle C, in die zweite Klasse, alle C, in die 
dritte Klasse, und alle C, in die oberste Klasse aufsteigen, d. h. 
jede Klasse wird an die nächstobere 100 Proz. ihres Bestandes ab- 
geben. Wenn die Zensiten dagegen in den Klassen von 400 bis 600 M., 
600 bis 1500 M. und über 1500 M. abgestuft sind, dann wird bei 
einer Einkommensteigerung von 50 Proz. die erste Stufe wieder 
100 Proz. ihres Bestandes an die nächstobere abgeben und ihre 
Zensiten werden sich nunmehr auf die Strecke von 600 bis 900 M. 


1) R. Meyer, Art. Einkommenverteilung im Handwörterbuch der Staatswissenschaften. 


582 Costantino Breseiani, 


verteilen; die Zensiten C, dagegen werden die Strecke von 900 bis 
2250 M. besetzen, so daß die II. Klasse nicht 100 Proz. ihres Be- 
standes, wie die erstere, an die nächstobere abgibt, sondern viel 
weniger, weil die Einkommenhebung derjenigen Zensiten, die ein 
Einkommen zwischen 600 und 1000 M. besaßen, innerhalb der Grenzen 
derselben Klasse sich vollzieht. Sollte die II. Klasse auch 100 Proz. 
ihrer Zensiten abgeben, so würde dies einer Einkommensteigerung 
ihrer Zensiten nicht von 50 Proz., sondern von 150 Proz. gleich- 
kommen u. s. w. — Diese Bemerkungen vorausgesetzt, wollen wir 
an der Hand von fingierten Beispielen untersuchen, welche Ver- 
schiebungen in der Zensitenzahl der einzelnen Stufen von einem 
gleichen prozentualen Aufsteigen der Zensiten aus einer Klasse in 
die nächstobere hervorgerufen werden. 

In den folgenden Beispielen habe ich die Einkommengrenzen 
so abgestuft, daß alle Klassen, wie der Leser leicht konstatieren 
kann, die gleiche relative Spannung aufweisen. Ich nehme an, daß 
1/ọ der Zensiten einer jeden Klasse in die nächstobere aufsteigt: 
das bedeutet also eine relativ gleiche Einkommen- 
steigerung für alle Zensiten, und die Art der Einkommen- 
oder Vermögensverteilung bleibt natürlicherweise unverändert. 


I. Einkommenverteilungin Holland: 


im Jahre 1904 Zunahme der Zensiten 

Gulden Zensiten Proz. 
625— 1250 276 680 !) 

1 250— 2500 77 420!) 7 346 25,7 

2 500— 5 000 21 606 27 188 258 

5 000 — 10 000 5 961 7525 26,2 

10 000— 20 000 1737 2 150 213 

über 20 000 646 820 26,9 


II. Einkommenverteilung in Hessen: 


im Jahre 1901/02 Zunahme der Zensiten 
M. Zensiten Proz. 
1125— 2250 53 575 ') 
2 250— 4500 18 395 ') 21913 19.1 
4 500— 9.000 6707 7876 17,4 
9 000— 18 000 2174 2627 20,9 
18 000— 36 000 755 > 897 18,8 
über 36 000 418 493 17.9 


III. Einkommenverteilung in Preußen: 


im Jahre 1875 Zunahme der Zensiten 

M. Zensiten Proz, 
900— 1800 1 059 822 

1 Soo— 3 600 250 742 331650 32 
3 600— 7 200 73659 91 367 24,0 
7 200—14 400 21 803 27 042 Par 
14 400—28 800 6674 8 193 a 
über 28 000 3 406 4133 192 


1) Diese Zahl ist interpoliert worden. 


Rn 
= 


Ueber die Methoden der Einkommenverteilungsstatistik. 5 


IV. Vermögensverteilung in Preußen: 


im Jahre 1905 Zunahme der Zensiten 
M. Zensiten Proz. 
I 125— 6 000 1792 279 !) 
6000— 32000 914 273 I 002 073 95 
32 000— 170670 394 900 440 837 13,1 
170 670— 910 200 61451 94 796 542 
910 200—4 854 000 7979 13 326 67,0 
über 4 854 000 618 1416 129,2 
V. Vermögensverteilung in Basel: 
im Jahre 1887 Zunahme der Zensiten 
Franken Zensiten Proz. 
5 000— 20000 1406 
20 000— 80.000 1244 1260 1.2 
80 000— 320 000 730 781 7,0 
320 000— 1 280 000 274 320 16,7 
über 1 280 000 ?) 75 102 36,0 


VI. Einkommenverteilung in Hamburg: 


im Jahre 1901 Zunahme der Zensiten 

M. Zensiten Proz. 

1000— 3165 114 080 
3 165— 10000 18 715 28 232 50,8 
10 000— 31650 5 008 6379 27,0 
31 650— 100 000 1449 1839 26,9 
1 00 000— 3 16 500 302 433 43.3 
über 316 500 54 °) 84 555 


Eine gleiche Einkommenhebung für alle Zensiten 
hat also sehr verschiedene Wirkungen in Bezug auf 
die prozentualeZunahme der Zensitenzahlin den ein- 
zelnen Stufen hervorgerufen. Es hat sich namentlich bei 
den ersten zwei Beispielen und besonders bei den holländischen 
Zensiten einungefähr gleicher prozentualer Zuwachs für 
alle Stufen ergeben, im III. Beispiel dagegen nimmt die 
relative Zunahme mit dem Wachsen des Einkommens 
ab; im Gegenteil im IV. und V. Beispiel wächst die relative 
Zunahme der Zensitenzahl mit der Größe des Ein- 
kommens, und diese Bewegung vollzieht sich mit ununterbrochener 
Regelmäßigkeit und sehr rasch. (Der Zuwachs betrug im IV. Bei- 
spiel für die erste Stufe 9,5 Proz. und stieg bis auf 129,2 Proz. bei 


1) Diese Zahl ist extrapoliert worden; ihr muß sonst keine Bedeutung beigemessen 
werden, Die drei letzten Einkommengrenzen sind in Wirklichkeit: 170.000, 900 000, 5 Mill. M. 

2) Die beiden letzten Vermögensgrenzen sind in Wirklichkeit 325000 und 1300000. 

3) Diese Zahlen sind mittels Interpolation gewonnen worden. Auf die Art, wie 
das geschehen ist, gehe ich nicht ein, weil das für die Zwecke der folgenden Ausfüh- 
rungen ganz gleichgültig ist. Die beobachteten Zahlen sind: von 1000 bis 3000 M. 
112427; von 3000 bis 10000 M. 20368; von 10000 bis 30.000 M. 4568; von 30000 
bis 100 000 M. 1589; von 100000 bis 300000 M. 302; über 300000 M. 54. Siehe: 
Für Holland: Jaareijfers voor het Koninkrijk der Nederlanden — Rijk in Europa, 1904; 
für Hessen: Statistische Mitteilungen des Großherzogtums Hessen, 1903; für Preußen, 
Preußische Einkommen- und Ergänzungsteuerstatistik für 1905 und den vorerwähnten 
Aufsatz Ad. Wagners; für Basel: Bücher, Basels Staatseinnahmen und Steuerverteilung, 
1888; für Hamburg, Statistik des hamburgischen Staates, Heft XXII, 1904. 


584 Costantino Bresciani, 


der letzten Stufe.) Das IV. Beispiel zeigt eine kompliziertere Be- 
wegung. Zunächst nimmt die relative Zunahme der 
Zensitenzahl mit dem Wachsen des Einkommens ab, 
und zwar bis zur Stufe 31 650—100000 M.; von dieser Stufe an 
aber ist der Verlauf der Zunahmeraten gerade der 
entgegengesetzte. 

Der Statistiker, dem diese Aufstellungen über die Verteilung 
der Zensiten an zwei verschiedenen Zeitpunkten zur Prüfung über- 
geben würden und welcher aus den Differenzen der Wachstumsraten 
der einzelnen Gruppen Schlüsse in Bezug auf die Entwickelung der 
Einkommenverteilung ziehen wollte, würde also das Richtige treffen, 
wenn er aus der im I. und II. Beispiel konstatierten ungefähr gleichen 
relativen Zunahme aller Zensiten ableitete, daß die relative Klassen- 
lage der Zensiten ungefähr dieselbe gewesen ist, daß die neuere 
wirtschaftliche Entwickelung allen in ähnlichem Maße zu gute ge- 
kommen ist u. s. w. Aber wenn dieser Statistiker in ähnlicher Weise 
für Beispiel IV, V und VI den Schluß zöge, daß eine Differenzierung 
der Klassenlage der Zensiten stattgefunden hätte, nämlich im ersten 
und zweiten Falle eine mit der Größe des Einkommens zunehmende 
Besserung der Einkommenverhältnisse der Zensiten, und im dritten 
Falle eine relativ beträchtlichere Einkommensteigerung bei den kleinen 
und großen Zensiten als bei den mittleren, so daß die Brücke, die 
die Armen mit den Reichen verbindet, schmäler geworden wäre, u. s w. 
würde er sich arge Fehlschlüsse zu schulden kommen lassen. Ebenso 
wäre es falsch, aus den Zuwachsraten des III. Beispiels, die eine von 
unten nach oben abnehmende Tendenz zeigen, eine relativ günstigere 
Entwickelung der Einkommenverhältnisse der unteren Klassen in 
Vergleich zu den oberen abzuleiten. 

Ich will aber eine, übrigens sehr leichte Erklärung dieser Er- 
gebnisse versuchen und ich glaube, daß ich dabei am besten ver- 
fahre, indem ich solche Vorgänge durch einige graphische Darstellungen 
veranschauliche. 

Pareto istzunächst auf den Gedanken gekommen, die Verteilung 
der Zensiten nach der Größe des Einkommens durch ein loga- 
rithmisches Diagramm darzustellen. Man trägt auf eine 
y-Achse die Logarithmen der Zahlen der Zensiten, die ein Einkommen 
über x beziehen, und auf eine x-Achse die Logarithmen der ent- 
sprechenden Grenzeinkommen ein. 

Wenn man dann eine Kurve sucht, die sich am einfachsten an 
die dadurch bestimmten Punkte anschließt, findet man nach Pareto, 
daß im allgemeinen eine einfache Gerade (manchmal eine Parabel 
zweiten Grades) die Bewegung der Punkte mit befriedigender An- 
näherung wiedergibt. 

Die Gleichung dieser Geraden ist dann: log. N = log. A—e log. x; 
wo N die Zahl der Zensiten bedeutet, die ein Einkommen über x 
beziehen. Die Neigung der Geraden gegen die x-Achse ist negativ, 
d. h. die Gerade fällt bei wachsendem x gegen die x-Achse, weil 
die Zensitenzahl mit dem Wachsen des Grenzeinkommens abnimmt. 


Ueber die Methoden der Einkonmenverteilungsstatistik. 585 


Der Wert von « ist direkt proportional der Größe des Winkels, den 
die Gerade mit der x-Achse bildet, welche Größe die Neigung der 
Geraden auf die x-Achse angibt. Pareto nimmt deshalb den Wert 
von «æ als ein gutes Kriterium einer gleichmäßigeren oder ungleich- 
mäliigeren Einkommenverteilung. 

Dieses zum besseren Verständnis des Nachstehenden vorausge- 
setzt. kehren wir zu unseren Beispielen zurück. 

Folgende Untersuchung geht von dieser Definition aus, mit der 
der Leser, wie ich annehme, ohne weiteres einverstanden sein wird: 
Wenn alle Einkommen der Zensiten in demselben Verhältnis zu- 
nehmen, so bleibt die Art der Einkommenverteilung unverändert. 
Wenn das Einkommen der Zensiten in desto rascherem Verhältnis 
zunimmt, je höher es ist, so wird die Einkommenverteilung ungleich- 
mäßiger. Wenn dagegen das Einkommen der Zensiten in desto lang- 
samerem Verhältnis zunimmt, je höher es ist, so wird die Einkommen- 
verteilung gleichmäßiger. In den folgenden Beispielen bleibt die 
Gesamtzahl der Zensiten, die auf mehrere Einkommenstufen ver- 
teilt sind, konstant, und es wird untersucht, wie, infolge der Ver- 
änderungen der Einkommen derselben, die Zahlen der auf die 
einzelnen Stufen fallenden Zensiten sich verschieben. Dabei muß 
man nicht außer acht lassen. daß in der amtlichen Statistik nicht 
alle Einkommenbesitzer überhaupt, sondern nur diejenigen aufge- 
führt werden. die sich zwischen zwei bestimmten Einkommengrenzen 
befinden (z. B. von 900 bis über 100 000 M.). 

Die Reihe 1 von S. 582 verwandele ich zunächst in folgende 
Reihe (ich nehme diesmal nur beobachtete Zahlen): 


Einkommenklassen Zahl der Zensiten 
über 600 Gulden 310 069 

» 150 „ 70 958 

n 2 500 » 29 950 

n” 5 000 n” 8 344 

„ 10000 7 2 383 

„» 20000 s 646 


Wenn man die Logarithmen der Zensitenzahlen in der oben 
angedeuteten Weise auf die Achse O Y, die Logarithmen der Grenz- 
einkommen auf die Achse O X einträgt, ergibt sich folgendes Dia- 
gramm, woraus man sieht, daß die Bewegung der Punkte durch die 
Gerade a b ganz gut wiedergegeben werden kann!). 


1) Die Annäherung ist zum Beispiel von 2500 Einkommen aufwärts sehr gut. 
Wenn man die beobachteten Zahlen nach der Methode der kleinsten Quadrate interpoliert 
(für die Erklärung und Anwendung der Methode, siehe Pareto, „Tables pour faciliter 
application de la methode des moindres carrés“. Communication présentée A la Société 
suisse de statistique, Lausanne 1898), so ergibt sich folgendes: 


Logarithmen Zahlen 
beobachtete berechnete beobachtete berechnete Diff. 
447639 447711 über 2500 M. 29 950 29 999 + 39 
392137 3 92372 „ 5000 „ 8344 8 389 +45 
377712 3 37034 „ 10000 „ 2383 2 346 = 
2 81323 2 81695 a: 20:000; „, 640 656 — 10 


Diese Uebereinstimmung ändert übrigens nichts an der Tatsache, daß die Paretosche 


586 Costantino Bresciani, 


Bei der Hypothese einer relativ gleichen Hebung aller Ein- 
kommen wird offenbar die Gerade ab einfach nach rechts geschoben 
und nimmt z. B. die Stellung 
von a’b‘, die der Geraden 
ab parallel ist. Ich erinnere 
an die bekannte Eigentün- 
lichkeit der logarithmischen 
Diagramme, die darin be- 
steht, daß gleiche Seg- 
mente, gleichwie in 
welchem Teil der Skala 
siesich befinden, eine 
gleiche prozentuale 
Zunahme bedeuten. 
Wie man sieht, ist infolge 
dieser Einkommenhebung 
die Zensitenzahl in allen 
Klassen!) gewachsen, und es 
At’ istnämlichMN=OP=RS 
"A, ws u.s. W., d. h. dierelative 
Zunahme ist für alle 
Stufen die gleiche’. 
Dagegen in der Hypothese, 
daß das Einkommen der Zensiten sich desto rascher steigerte, je höher 
diese sich auf der Einkommenskala befinden (so daß die Gerade ab 
sich z. B. nach a‘ b‘ verschiebt, hätte man: MN'<OP’'<RS' u.s. w. 
d. h. die relative Zunahme der Zensitenzahl ist desto 
größer, je höher die Klasse. Das umgekehrte Ergebnis hätte 
man in der Annahme einer rascheren Steigerung der unteren Ein- 
kommen. 

Umgekehrt, wenn man setzt : M N = O P = R S u. s. w. so folgt dar- 
aus: E F=GH=IL u.s. w.; wenn man setzt: MN'<OP'’<RY 
u. s. w., so folgt daraus: E F'<GH'<IL'; d.h. wenn die Zen- 
sitenzahl die gleiche relative Zunahme in allen Stufen 


rs 


0 3 


+t 
x 
& 


Formel nur eine empirische ist und uns gar keinen Aufschluß über die Ursacheu 
der Gestaltung der Einkommenverteilung zu geben vermag (vergl. v. Bortkiewiez, 
Die Grenznutzentheorie als Grundlage einer ultraliberalen Wirtschaftspolitik, Schmollers 
Jahrbuch 1898, und Edgeworth, On the representation of statistics by mathematical 
formulae, Journal of the R. Statist. Society, 1898). 


1) Die einzelnen Ordinaten stellen die einzelnen Klassen dar. 


2) Daß die Zensiten in nach oben und nach unten abgegrenzten Gruppen, oder in 
solchen, die nach oben offen sind, geordnet werden, ist für die Wirkung eines Aufrückens 
der Zensiten auf die relative Zunahme der Zensitenzahl in den einzelnen Gruppen gleich- 
gültig; denn es ist klar, daß, wenn die nach der letzteren Art gebildeten Gruppen 
eine gleiche relative Zunahme oder eine mit der Größe des Einkommens größer oder 
kleiner werdende Zunahme aufweisen, dasselbe für die nach der ersteren Art gebildeten 
Gruppen zutreffen wird, wie übrigens die vorigen arithmetischen Beispiele zeigen. 


Ueber die Methoden der Einkommenverteilungsstatistik. 5837 


aufweist, so ist derSchluß richtig, daß allen Zensiten 
eine gleiche Einkommenhebung zu gute gekommen 
ist; wenn dagegen die relative Zunahme der Zensiten 
größer in den oberen Stufen ist, alsin den unteren, 
so deutet das in der Tat auf eine ungleichmäßige 
Entwickelung 
der Einkom- 
men, auf eine 
größere Ditffe- 
renzierung der- 
selben hin. 

Aus diesem 
ersten Beispiel 
scheint also die 
Berechtigungdes 
üblichen Rech- 
nungsverfahrens 
und die Halt- 

losigkeit der 
Wolfschen Kritik 
hervorzugehen. 

Ich greife 
jedoch zu einem 
anderen Beispiel, 
nämlich zu der 
Reihe IV von 
Seite 583, welche 
die Vermögens- 5 

verteilung in 
Preußen (1905) darstellt. Graphisch dargestellt, ergibt diese Reihe 
obenstehendes Diagramm. 

Wie man sieht, genügt in diesem Falle die einfache Interpolation 
nicht, denn wenn nian die Bewegung der Punkte als geradelinig voraus- 
setzen wollte, würde man allzu große Abweichungen erhalten. Ich 
zeichne daher die Kurve ab, die sich mit viel größerer Annäherung 
an die gegebenen Punkte anschließt 1). 


1) Die Interpolation mit der Methode der kleinsten Quadrate ergibt: 


Beobachtete Berechnete Logarithmen 

Logarithmen I Differenzen II Differenzen 
6 13963 6 36162 + 0,22199 6 15716 + 0,01753 
5 66740 551858 — 0,14882 5 62081 — 0,04659 
4 84539 467555 — 0,16984 4 88001 + 0,03462 
3 93434 3 83255 — 0,10179 3 93475 + 0,90041 
2 79098 2 98948 + 0,19850 2 78502 — 0,00596 


Die Spalte I enthält die berechneten Logarithmen, die sich aus einer linearen 
Interpolation ergeben; wie man sieht, sind die Differenzen zwischen ihnen und den 
beobachteten recht bedeutend; sie vermindern sich, wenn man eine Kurve zweiten 


o 
(0 e] 
n 


Costantino Bresciani, 


Wenn nun das Einkommen aller Zensiten sich in demselben 
Verhältnis hebt, verschiebt sich die Linie ab z. B. nach a'b'. 
Man betrachte nun, wie sich infolgedessen die Zahlen der Zensiten ver- 
ändern, welche sich in den Stufen innerhalb der Einkommengrenzen 
x und z befinden. Aus dem Diagramm ist ersichtlich, daß MN < 
OP<RS u. s. w.; d.h. je höher das Einkommen, desto 
größer ist die relative Zunahme der Zensitenzahl in 
den einzelnen Stufen. 

Auch eine Berechnung von a für die beiden Kurvenstücke cd 
und c’d‘ würde einen verschiedenen Wert von at) (für cd’ einen 
kleineren Wert als für cd) ergeben, was auf eine Veränderung der 
Art der Einkommenverteilung deuten würde. Es geht aber sofort 
aus dem Diagramm hervor, daß es (unter der hier gemachten Voraus- 
setzung) methodologisch falsch wäre, die Kurvenstücke 
ed und ¢'d' zu vergleichen und daß ed im Gegenteilmit 
ed" zu vergleichen ist, weil eben nur diese letzteren 
die Bogenstücke sind, welche die Verteilung derselben 
Zensiten an den beiden in Betracht gezogenen Zeit- 
punkten darstellen. Fine Berechnung von «œ würde in der 
Tat, wenn man sie für ed und c” d“ ausführte, dasselbe numerische 
Ergebnis liefern und somit bestätigen, daß unserer Hypothese ge- 
mäß die Art der Verteilung unverändert geblieben ist. Auch das 
Paretosche Kriterium ist also nur mit besonderer Vorsicht anzu- 
wenden. Eine mit der Größe des Einkommens wachsende relative 
Zunahme der Zensitenzahl ist also in diesem Fall und unter den 
hier gemachten Voraussetzungen biszu einem gewissen Punkte 
lediglich die Folge einer für alle Zensiten gleichen Einkommenhebung; 
erst darüber hinaus würde sie auf eine tatsächliche Zunahme 
der Einkommendifferenzierung hindeuten. 

Die graphische Darstellung des VI. Beispiels ergibt nachstehendes 
Diagramm. 

Ich ziehe durch die Punkte, die die tatsächliche Verteilung der 
Zensiten darstellen, die Kurve ab. Bei einer in ähnlicher Weise 
wie in den früheren Beispielen fingierten gleichen Einkommen- 
hebung für alle Zensiten verschiebt sich die Linie ab z. B. nach a’b. 
Wenn man die beiden Kurvenstücke c d und c‘d‘ vergleicht, ist es aus 
dem Diagramm ersichtlich, daß MN<OP u. s. w. und daß dann 
TU<VZ u.s.w, d. h. bei gleicher Einkommenhebung 


Grades interpoliert, wie Spalte II zeigt. Es folgt eine Gegenüberstellung der beobachteten 
und der berechneten Zensitenzahlen: 


Beobachtete Zahlen Berechnete Zahlen 
über 6000 M. 1379 221 1436 200 
„ 32000 „ 464 948 417 650 
» 170670., 70.048 75 860 


» 4854000 „, 618 609 


1) In diesem Fall gibt der Wert von a die Neigung auf die x-Achse der Ge- 
raden an, die das Kurvenstück interpoliert. 


| 
| 


Ueber die Methoden der Einkommenverteilungsstatistik. 589 


füralleZensitenwirddierelative Zunahme der Zensiten- 
zahl in den einzelnen aufeinanderfolgenden Stufen 
zunächst desto klei- 
ner, dann desto grö- 
ßer,jehöher dasEin- 
kommen. 

Es erhellt also auch 
aus diesem Beispiel, daß ,° 
es verfehlt ist, die 
Bogenstücke cd und 
ed‘ zu vergleichen; 
man muß cd mit c"d“ 
vergleichen. Bei unse- , 
rem ersten Beispiel ist 
dieser methodologische Feh- 
ler verdeckt geblieben, weil 
der Wert von « (d.h. die Nei- 


gung der Geraden ab auf T i 

die x-Achse) natürlicher- ? x 
weise derselbe für alle v . 
Stücke der Geraden a b ist, pe ne 


während für die einzelnen 
Stücke einer konvexen oder 073 i 5 
konkaven Kurve der Wert 
von « verschieden ist?!). 

Aus dem Vorstehenden geht also klar hervor, daß es an der 
verschiedenen Form der (logarithmischen) Einkommenkurve liegt, 
wenn eine gleiche Einkommenhebung verschiedene, ja gar entgegen- 
gesetzte Wirkungen in Bezug auf die relative Zunahme der Zensiten- 
zahl in den einzelnen Stufen hat. Diese Wirkungen sind verschieden, 
je nachdem die logarithmische Einkommenlinie die Form einer Ge- 
raden, einer gegen die Achsen konkaven Kurve [Wolfs Kritik bezieht 
sich nur auf diesen Fall?)], oder einer konvexen Kurve aufweist, 
d. h. je nachdem mit dem Wachsen des Einkommens 
die Zensitenzahl in den aufeinanderfolgenden Stufen 
in demselben Verhältnis für die ganze Reihe), oder 
in rascherem Verhältnis, oder in langsamerem Ver- 
hältnis abnimmt. 

Man betrachte die Reihen von Seite 582. Wenn die Abnahme- 


1) Den Leser, dem das Vorstehende nicht ganz klar wäre, muß ich auf das Kapitel 
„La courbe des revenus“ in Paretos Cours d’&conomie politique, Bd. 2, Lausanne 1897, 
verweisen. Ueber die Bedeutung und Berechnung von a siehe: Pareto, „Sul modo 
di figurare i fenomeni economici“ (in „Giornale degli economisti“ 1897). Ferner: 
Benini „Di alcune curve descritte da fenomeni economici“ etc., ebenda 1897, und „I 
diagrammi a scala logaritmica“ (in den Festgaben für Adolf Wagner, 1905). 

2) Seine Reihe (S. 579) würde in der Tat, auf einem logarithmischen Diagramm 
veranschaulicht, eine gegen die Achsen konkave Kurve ergeben. 

3) Bei einem logarithmischen Diagramm bedeutet eine gleiche Neigung eine 
gleiche (positive oder negative) Zuwachsrate. 


590 Costantino Breseiani, 


rate der Zensitenzahl genau dieselbe für die ganze Reihe ist, so 
besteht die Gleichung: 


= = - SS: W: 
N° NET Ni u w. (1) 
wo Nì, N?, NË... . die Zahl der Zensiten bedeuten, die ein Ein- 
kommen zwischen a und b, bezw. b und e, c und d... . beziehen, 
und wo außerdem a<b<e....unda,b,c,d.... eine geo- 
metrische Reihe bilden. Aus (1) folgt z. B.: 
N_NM+mN—mN 
N NtmN—ıkX; 
wo m ein echter Bruch ist. Aus der I. Reihe hat man demgemäß: 


276 680 7740 3 21 606 5961 
er —. 3,0 — = 3,58 —_ = 3,62 - = 3.43 
17 420 i 21 606 a8 5961 36 173 dii 


Daraus folgt: 
77420 7720 4 KENI 680 — o TT 420 9i 
21606 21 606 Æ 74 77420 — Bl 606 271 
und: 
97346 _ 27188 
17420 21606 
Die kleinen Unterschiede in den Quotienten erklären sich eben 
damit, daß bei dieser Reihe die Abnahmerate der Zensitenzahl nicht 
genau, sondern nur annähernd dieselbe für die ganze Reihe ist. 
Im Falle aber, wo die Abnahmerate mit dem Wachsen des Ein- 
kommens zunimmt, hat man: 
x N - Ni 
ESN ON 
Die Reihe IV hehe ein Beispiel dafür. Aus derselben er- 
gibt sich: 


u. S. W. 


1792279 cn. 914273 394 900 o: GLL ai 
bad m . er 3 3 EN =f 49. en 0 
gaa a gonga 

und z. B. 
304900 _ 394.900 + 11 914273 — 115 304900 _ 446837 _ 47] 


61451” 61451 + 15394000 — 7, 61451 94796 
woraus: 
H6837 _ 94796 
394900 ” 61451 
Im Falle endlich, wo die Abnahmerate der Zensitenzahl mit 
dem Wachsen des PAINDIRER) abnimmt, hat man: 


b A 
D N 
>. >- u. 8. W. 


Ueber die Methoden der Einkommenverteilungsstatistik. 591 


Es ergibt sich aus der Reihe III: 


1059 822 250742 73650- aaa PIROS osc 
gore a O Or areg OS po A 
und z. B.: 
250742 _ 2507424 s's 1059822 — 115 200742 _ 331650 _ 3 45 
73659 C 73659475 2072 7, 73659 91367 2 


woraus: 
331650 _ 91367 
250 742° 73659 
Die vorigen arithmetischen Beispiele zeigen auch, daß die von 
Wolf aufgestellte!) und nach ihm von vielen anderen Statistikern 
wiederholte Behauptung, daß die „oberste“ Klasse notwendigerweise 
eine größere Zuwachsrate aufweisen müsse, als die anderen Klassen, 
weil sie nur von unten empfange, aber nach oben nichts abgebe, nicht 
stichhaltig ist. Wolf läßt dabei außer acht, daß, wenn auch dieser 
Umstand dazu beitragen muß, die relative Zunahme der oberen Klasse 
zu vergrößern, andererseits die oberste Klasse, eben weil sie nach 
oben nicht abgegrenzt ist, relativ stärker mit Zensiten besetzt ist, als 
(lie anderen nach unten und nach oben abgegrenzten Klassen, sodaß 
ihr absoluter Zuwachs von Zensiten aufeinen relativ 
größeren Bestand bezogen wird, was natürlicherweise den 
relativen Zuwachs wieder verkleinern muß. 
Aus der I. Reihe ergibt sich wieder: 


737 596 Sr 21 606 N 

- — 2,68; m: IB = 2,55; TAAL zm = 2,60; 

646 17357 +- 646 D961 + 17537 + 646 

17420 > 

snr — — oa aaa == a28 u s. w., und daraus z. B.: 
21 606 + 5961 + 1737 + 646 à 
1737 . ; 1737 7 170561 — qo 1737 _2159 p 
-— ist ungefähr gleich — l , = 203 
a Ze 64641737 = 820 7 


Ich wiederhole, daß die kleinen Unter schiede in den Quotienten 
sich damit erklären, daß die Abnahmerate nicht genau die gleiche 
für die ganze Reihe ist. 

Aus der IV. Reihe ergibt sich dagapen: 

1979 61451 304 900 
a, ILS ri 5 
618 T979 + 618 OTILIEI 8 
und daraus: 


= 5,65 u.s. W. 


7979 _ 7979 + 115 61451 — 15 T979 _ 13326 
ig ő 4 á ZA 
618 7 618 F 47979 Fer 


1) „Die oberste Klasse“ schreibt Wolf „ist nach oben vollständig offen, sie gibt 
von den ihr einmal Zugewachsenen keinen wieder ab. Dadurch unterscheidet sie sich 
aber substantiell von den anderen Klassen, und darf die Steigerung von vornherein, 
auch in bisheriger Weise gemessen, hier größer als in anderen und eigentlichen d. h. 
zweiseitig begrenzten Klassen sein...... Die anderen, wenn sie empfangen, verlieren 
gleichzeitig, geben nämlich nach oben ab..... “ Sozialismus S. 237. 


592 Costantino Bresciani, 


Aus der III. Reihe ergibt sich endlich: 
6674 1.92: 21863 5 15: 73659 — 930 
3466 2 66T4 +3466 021863466744 3466 7 
u. s. w., und daraus: 
6674 6674 + ry 21863 — 15 6674 _ 8193 
3466 T 3466 + ry 6674 "4133 

Wenn also die Zensitenzahl mit dem Wachsen des Einkommens 
in demselben Verhältnis für die ganze Reihe abnimmt, muß bei 
einer für alle Zensiten gleichen Einkommenhebung die relative Zu- 
nahme der Zensitenzahl in der obersten Stufe derjenigen der anderen 
Stufen gleichkommen. Wenn sie dagegen in der Reihe IV größer 
ist als die der anderen Stufen, so hängt das nicht mit ihrer 
Eigenschaft als „oberste Klasse“, sondern mit der Tatsache 
zusammen, daß in diesem Beispiel die Zensitenzahl mit dem 
Wachsen desEinkommensinimmerrascherem Verhält- 
nis abnimmt. Wenn dagegen die Abnahmerate der Zensitenzahl 
mit dem Wachsen des Einkommens abnimmt, ist die relative Zu- 
nahme der obersten Klasse am kleinsten. 

III. Den vorigen Beispielen lag die Hypothese einer konstanten 
Bevölkerung zu Grunde. In Wirklichkeit aber ist nicht der ganze 
Zuwachs an Zensiten, der einer Stufe zugute kommt, auf Einkommen- 
hebung, auf Vermehrung des Wohlstandes u. s. w. zurückzuführen. 
Von rein formellen Ursachen, wie einer schärferen Einschätzung, ab- 
gesehen, hängt die Zunahme der Zensitenzahl auch vor allem mit 
der Zunahme der Bevölkerung, dann aber auch mit der Zu- 
nahme der Erwerbstätigkeit, mit der Verschiebung des Verhältnisses 
der beiden Geschlechter (und speziell der erwerbstätigen Mitglieder 
derselben) zueinander und mit Veränderungen in der Alterszusammen- 
setzung der Bevölkerung zusammen. 

Die Bevölkerung eines Staates ist nicht konstant, sondern nimmt 
infolge des Geburtenüberschusses (von Ein- und Auswanderungen ab- 
gesehen) in allen Einkommenstufen zu; jedes Mitglied einer neuen 
Generation bleibt während einer längeren oder kürzeren Reihe von 
‚Jahren bei seiner Familie, und nachdem es eine der von der wirtschaft- 
lichen Entwickelung fortwährend geschaffenen neuen Stellen besetzt hat. 
erscheint es selbständig auf den Zensitenlisten. Auf diese Weise 
erfährt also jede Stufe einen Zensitenzuwachs, der 
mit allgemeiner Einkommenhebung nichts zu tun hat, 
sondern lediglich von der Bevölkerungszunahme be- 
dingt ist. Deshalb deutet eine Zunahme der Zensitenzahl in allen 
Stufen, nach der berechtigten Ansicht der Statistiker, erst dann aut 
eine allgemeine Besserung der Einkommenverhältnisse hin, wenn in- 
zwischen die Bevölkerung in langsamerem Tempo zu- 
genommen hat. 

Im Diagramm von S. 537 würde man, in der extremen Voraus- 
setzung, daß die Einkommen stabil geblieben wären, und daß die 
Zunahme der Zensitenzahl lediglich mit der (sei es durch natür- 


= 1,98. 


Ueber die Methoden der Einkommenverteilungsstatistik. 593 


lichen Geburtenüberschuß oder durch Einwanderung hervorge- 
rufenen) Bevölkerungszunahme zusammenhinge, die beiden Kurven- 
stücke ed und e‘d’ richtig miteinander vergleichen. Nur in diesem 
Falle also würde die übliche Rechnungsmethole ohne weiteres anwend- 
bar sein; eine für alle Stufen gleiche prozentuale Zunahme würde dann 
bedeuten, daß sich neue Einkommen in allen Stufen gleichmäßig 
gebildet haben; eine kleinere Zunahme in den mittleren Stufen, als 
in den untersten und obersten würde bedeuten, daß neue Ein- 
kommen sich verhältnismäßig weniger in den mittleren Stufen ge- 
bildet haben, als in den anderen, was wohl auch als eine zunehmende 
Differenzierung der Einkommen aufzufassen wäre, u. s. w. 

Daß bei der Berechnung der Zahlen der Zensiten, die von einer 
Klasse in die obere aufgestiegen sind, auf die Tatsache der Be- 
völkerungszunahme Rücksicht genommen werden muß, ist von Wolf 
nicht beachtet worden. Die Art des von ihm begangenen Fehlers ist 
am besten aus folgendem hypothetischen Beispiel ersichtlich. Ich nehme 
wiederum die Reihe IV von Seite 583 und unterstelle, daß gleich- 
zeitig mit einer allgemeinen Einkommenhebung, infolge deren 10 Proz. 
des Zensitenbestandes jeder Klasse in die nächstobere aufsteigen, im 
Zusammenhang mit der Bevölkerungszunahme die Zahl der Zensiten 
in jeder Stufe um 5 Proz. zunehme. Wir haben dann folgende 
Verteilung: (2. Spalte.) 


e Scheinbar aufge- Wirklich aufge- 
Verteilung A F ` k Pafo: 
Stufen ; B stiegene Zensiten stiegene Zensiten 
im Jahre 1905 x 
Proz. Proz. 

6 000— 32000 914 273 1047 787 13,8 10 
32 000— 170600 394 900 466 582 12,5 10 
170 600— 910 200 61451 97 868 10,8 10 
910 200—4 854 000 7979 13,725... 10,7 10 
über 4 854 000 618 1447 10,4 10 


Wenn man nun das relative Aufsteigen der Zensiten von einer 
Klasse in die obere berechnete, ohne zu berücksichtigen, daß ein 
Teil des Zuwachses nicht auf eine allgemeine Ein- 
kommenhebung, sondern lediglich auf die Bevölke- 
rungszunahme zurückzuführen ist, würde man zu den rela- 
tiven Zahlen der Spalte 3 gelangen. Die Nichtbeachtung dieses 
Umstandes hat also in vorliegendem Beispiele zur Folge: 1) daß 
das Aufrücken der Zensiten von unten nach oben, also die allgemeine 
Besserung der Einkommenverhältnisse, beträchtlichererscheint, 
als sie in Wirklichkeit ist; 2) daß das Aufrücken der Zen- 
siten relativ um so kleiner erscheint, je höher die Stufe, daß also 
die unteren Einkommen stärker angewachsen zu sein 
scheinen, als die oberen; während in der Tat die Einkommen- 
hebung die gleiche für alle Zensiten gewesen ist. 

Betrachten wir nochmals das Diagramm von Seite 587. Bei 
einer konstanten Bevölkerung wird man, wie gesagt, 
die Kurvenstücke c d und c” d” vergleichen müssen, 
wenn dagegen die Bevölkerung gleichzeitig mit der Besserung der 
Einkommenverhältnisse zunimmt, und wenn z. B. die Segmente c h 

Dritte Folge Bd. XXXDI (LXXXVIII). 38 


594 Costantino Bresciani, 


und d h’ die relative Zunahme der Zensitenzahl darstellen, welche 
auf die Bevölkerungszunahme zurückzuführen ist, ist nur der Ver- 
gleich zwischen e d und c” d“ der methodologisch richtige. 

Das Vorhergesagte gilt für den Fall, wo die (logarithmische) 
Einkommenkurve, wie in diesem Beispiel, gegen die x-Achse konkav ist. 
Wenn dagegen die (logarithmische) Zensitenlinie eine Gerade ist (also 
im Falle wo: N=Ax-e), würde man bei Nichtbeachtung des ange- 
deuteten Umstandes nur den ersten Fehler begehen. Wenn endlich 
die (logarithmische) Einkommenkurve gegen die Koordinatenachsen 
konvex ist, würde sich, außer einer scheinbar rascheren Einkommen- 
hebung für alle Zensiten überhaupt, ein scheinbar langsameres 
Aufsteigen der Zensiten in den unteren Stufen, alsin 
den oberen, also eine ungleichmäßigere Einkommenverteilung 
herausstellen. 

Das Beispiel zeigt also, daß man, um bei der Berechnung der 
relativen Zahlen der Zensiten, die von einer Klasse in die obere 
aufgestiegen sind, Fehlschlüsse zu vermeiden, auch der in der 
Zwischenzeit erfolgten Bevölkerungszunahme Rechnung tragen mul. 
Praktisch kann man natürlich nicht unterscheiden, wieviel von der 
Zunahme der Zensiten auf diesen Umstand, und wieviel auf eine 
tatsächliche Einkommenhebung zurückzuführen ist; um diese Auf- 
gabe praktisch approximativ zu lösen, kann man von der Annahme 
ausgehen, daß, wenn keine Einkommenhebung stattgefunden hätte, 
in jeder Stufe die Zensitenzahl im gleichen Schritt mit der Be- 
völkerung zugenommen hätte; man müßte also, bevor man nach 
Wolfs Methode die Prozentzahl der aufgestiegenen Zensiten be- 
rechnet, von jeder Stufe der zweiten Reihe die entsprechende An- 
zahl von Zensiten subtrahieren (oder sie zu jeder Stufe der ersten 
Reihe addieren). 

IV. Gegen Wolfs Methode hat Robert Meyer im erwähnten 
Aufsatze folgenden Einwand erhoben: 

„Niemandem ist doch beigefallen, mit den üblichen Vergleichen 
die Bewegung der einzelnen Zensiten in den Klassen messen zu 
wollen, in welchem Falle Wolfs Belehrung allerdings am Platze 

wäre, "sondern man hat den Stand der Verteilung an zwei ver- 
schiedenen Zeitpunkten verglichen und tut das trotz Wolf heute noch.“ 
Wenn man auch die Behauptung Meyers, daß die übliche Rechnungs- 
methode nur ein Bild des Standes der V erteilung an zwei verschiedenen 
Zeitpunkten zu geben bezwecke, gelten läßt (was doch nicht ganz 
zutreffend zu sein scheint, denn die meisten Schriftsteller untersuchen 
vielmehr, wie sich die einzelnen Einkommengruppen entwickeln), so 
bleibt immerhin unsere Kritik bestehen. Den Stand der Verteilung 
könnte man ohne weiteres vergleichen, wenn man für beide in Betracht 
gezogenen Zeitpunkte eine Aufstellung sämtlicher Einkommen, 
vom untersten bis zum höchsten, hätte. Da uns aber die amtliche 
Statistik nicht eine Darstellung der ganzen Einkommenkurve, 
sondern nur begrenzte kleinere oder größere Stücke 
derselben bietet (das heißt, nur die Einkommen der Zensiten) 


Ueber die Methoden der Einkommenverteilungsstatistik. 595 


müssen wir, ehe wir überhaupt zu einer Vergleichung des Standes 
der Verteilung vorgehen können, festzustellen suchen, 
welche Kurvenstücke miteinander vergleichbar sind. 
Gesetzt, wir haben eine Anzahl Zensiten, die an beiden Zeitpunkten 
innerhalb der Einkommen von 900 bis 30000 M. abgestuft sind; es 
ist klar, daß wenn eine allgemeine Hebung des Wohlstandes in der 
Zwischenzeit stattgefunden hat, die beiden Bogenstücke nicht 
mehr vergleichbar sind, weil die relative Lage der 
Zensiten sich im ganzen gehoben hat, wenn auch nicht 
gleichmäßig für alle. Man wird z. B. den „Stand der Verteilung“ für 
die Zensiten, die sich in der ersten Reihe innerhalb der Einkommen- 
grenzen 900 und 30000 M. befinden, mit dem „Stand der Verteilung“ 
für die Zensiten, die sich in der zweiten Reihe auf die Strecke sagen 
wir von 1000 M. bis 33000 M. verteilen, vergleichen müssen. Es 
muß in der Tat an beiden Zeitpunkten der Stand der Verteilung 
unter denselben sozialen Gruppen verglichen werden; es 
hat keinen Sinn z. B. für den ersten Zeitpunkt die Einkommenver- 
teilung unter gelernten Arbeitern, Mittelstand, Reichen, sehr Reichen 
zu ermitteln, und die aus dieser ersten Reihe sich ergebenden 
Relativzahlen mit denjenigen, die sich auf dieselben Einkommenstufen 
beziehen, zu vergleichen, wenn inzwischen eine Verschiebung der 
Einkommen stattgefunden hat, so daß die zweite Reihe nunmehr die 
Einkommen der ungelernten Arbeiter, der gelernten, des Mittelstandes 
und der Reichen umfaßt. Eine Vergleichung von auf diese Weise 
ermittelten Relativzahlen ist von einem allgemeinen Standpunkt aus 
zwecklos und irreführend. (Die übliche Verhältnisberechnung wäre, 
wie oben gezeigt wurde, nur in dem besonderen Falle wo N = Ax-a«, 
brauchbar.) 

Die Aufgabe geht also dahin, die unteren und oberen Grenzen 
der Reihen so zu bestimmen, daß der „Stand der Verteilung“ an den 
in Betracht gezogenen Zeitpunkten vergleichbar sei. Man kann z. B. 
so verfahren: Preußen zählte z. B. im Jahre 1895 9640092 Zensiten; 
im Jahre 1905 13904685 (veranlagte Bevölkerung). Wenn die Be- 
völkerung inzwischen stabil geblieben wäre, müßte man untersuchen, 
wie sich die Verteilung für die gleiche Anzahl von Zensiten 
an beiden Zeitpunkten gestaltete. Dem unteren Grenzeinkommen 
von 900 M. würde im zweiten Zeitpunkt (wie sich durch Interpolation 
ergibt) ein Grenzeinkommen von ungefähr 1200 M. entsprechen. 
Die Zensitenzunahme ist aber nicht lediglich auf eine Einkommen- 
hebung zurückzuführen, weil auch die Bevölkerung gleichzeitig um 
17 Proz. zugenommen hat; der Zahl 9640092 entspricht also im 
zweiten Zeitpunkt eine Anzahl von 11278907 Zensiten (d. h. 9640092 
vermehrt um 17 Proz.); durch Interpolation ergibt sich, daß in 
der zweiten Reihe einem Einkommen von 900 M. ein solches von 
ungefähr 1050 M. entspricht. 

Um dann den Stand der Verteilung zu vergleichen, könnte man 
folgendes Verfahren anwenden, das demjenigen ähnlich ist, das man 
z. B. in der Lolinstatistik mit Erfolg angewandt hat, um die Dispersion 

38* 


596 \ Costantino Bresciani, 


der Löhne in verschiedenen Berufen oder Zeitpunkten zu vergleichen. 
Man berechne die Prozentzahlen der Zensiten der ersten zu ver- 
gleichenden Reihe, die innerhalb bestimmter Einkommengrenzen 
sich befinden, und man untersuche dann, innerhalb welcher Ein- 
kommengrenzen dieselben Prozentzahlen von Zensiten 
fallen. Nehmen wir z. B. an, die Zensiten der ersten Reihe seien 
auf die Strecke von 400 bis über 30 000 M. verteilt, und zwar 60 Proz. 
zwischen 400 und 1000 M., 30 Proz. zwischen 1000 und 4000 M., 
9 Proz. zwischen 4000 und 30000 M., 1 Proz. über 30000 M., und 
man habe gefunden, daß man die Verteilung dieser Zensiten mit 
der Verteilung derjenigen, die in der zweiten Reihe z. B. ein Ein- 
kommen von über OO M. besitzen, vergleichen muß. Man berechne dann, 
innerhalb welcher Einkommengrenzen 60 Proz. bezw. 30 Proz., 9 Proz., 
1 Proz. Zensiten dieser Strecke fallen. Die Vergleichung dieser 
Einkommengrenzen in der ersten und zweiten Reihe und die Fest- 
stellung ihrer relativen Verschiebungen, bietet ein Kriterium 
dafür, ob der Stand der Verteilung unverändert geblieben ist, oder 
ob eine zunehmende Differenzierung der Einkommen u. s. w. statt- 
gefunden hat. 

In ähnlicher Weise ermittelt man bei Vergleichung von Lohn- 
reihen die Quartilen (d.h. jene Werte der Lohnskala, unter welchen 
25 Proz. bez. 50 Proz. (Median) und 75 Proz. der Arbeiter sich be- 
finden), je nachdem die Dezilen, oder auch die Prozentilen +). Diese 
Methode kann man freilich nicht ohne weiteres auf die Einkommen- 
statistik übertragen (wie z. B. Mandello glaubt) ?), weilderen Gebrauch 
sich nur bei Reihen nützlich erweist, wo die Mehrzahl der Fälle sich 
symmetrisch oder fast symmetrisch um einen Normalwert gruppiert, 
was bei der Verteilung der Einkommen, wo die größte Anzahl der- 
selben sich in der untersten Stufe anhäuft, nicht der Fall ist. 

Würzburger, der richtig anerkannt hat, daß die übliche Ver- 
hältnisberechnung zu falschen Resultaten führen kann, schlägt eine 
andere Methode vor, um nachzuweisen, ob der Gegensatz zwischen 
Arm und Reich die Tendenz hat, sich auszugleichen oder nicht. Er 
teilt das Gesamteinkommen in vier gleiche Teile und berechnet, wie 
viele Personen, in Verhältniszahlen, jedes der vier Viertel besitzen. 
Je mehr die Verhältnisziffern der vier Teile einander nähern, desto 
gleichmäßiger wird die Einkommenverteilung. Es ist klar, daß auch 
diese Methode nur dann den von W ürzburger gesteckten Zweck 
zu erreichen vermag, wenn zunächst, wie in dem oben ange- 
geberen Beispiel für Preußen, die Zahlen der Zensiten. auf 
die in den in Betracht gezogenen Zeitpunkten die 
obige Berechnung anwendbarist, festgestellt, und die 
anderen also aus der Rechnung ausgeschaltet werden. 
Würzburger nimmt dagegen sowohl für 1880 als 1390, 1900 u. s. w 


1) Im Band „Wages“ des „Census of United States“ ist zum ersten Male in der 
offiziellen Statistik cin ausgedehnter Gebrauch dieser Methode gemacht worden. 

2) Siche „Zweck und Methode der historischen Lohnstatistik.“ (Bull. de 1’ Inst. int, 
de Statistique, 1903.) 


Ueber die Methoden der Einkommenverteilungsstatistik. 597 


alle Zensiten, die ein Einkommen von über 500 M. bezogen und 
kann deshalb zu keinen sicheren Resultaten gelangen; den Fehler 
hat er selber übrigens geahnt, indem er richtig bemerkte: „Allein 
es ist unverkennbar, daß auch hier leicht eine Täuschung vorliegen 
und nur die vermehrte Zahl kleiner Einkommens- 
bezieher den Anschein einer Vermehrung des Anteils der ärmeren 
Klassen erzeugen kann“ !). 

Man könnte auch bei der Verhältnisberechnung folgendermaßen 
verfahren. Nehmen wir z. B. an, eine Anzahl Zensiten seien so verteilt, 
daß 60 Proz. auf die Stufe zwischen 400 und 1000 M., 30 Proz. auf die 
Stufe zwischen 1000 und 4000 M., 9 Proz. auf diejenige zwischen 
4000 und 30000 M., 1 Proz. auf diejenige über 30000 M. entfallen 
und man habe gefunden, daß das entsprechende niedrigste 
Grenzeinkommen der zweiten zu vergleichenden Reihe z. B. 500 M. 
ist (d. h. ?/ioo höher). Es ist klar, daß, wenn in der zweiten Reihe 
der Stand der Verteilung derselbe wäre, die gleichen Relativ- 
zahlen auf die Stufen 500 — 1250, 1250 — 5000, 5000 bis 
37500, über 37500 (d.h. jedes Grenzeinkommen ist um 25 Proz. 
erhöht worden) entfallen sollten; wenn die Relativzahlen für 
diese Stufen sich dagegen verschoben haben, z. B. zu Gunsten der 
oberen Stufen, so deutet das auf eine zunehmende Einkommen- 
differenzierung hin u. s. w. 

Es ist hier die Stelle, einige beachtenswerte methodologische 
Bemerkungen von W ürzburger, denen derselbe Gedanke zu Grunde 
liegt (d. h. der, daß man auch der Verschiebung der Zensiten 
Rechnung tragen muß), zu erwähnen. „Will man untersuchen“, schreibt 
Würzburger, „wie sich das Verhältnis der verschiedenen Wohlstands- 
klassen zueinander geändert hat, so kann ein Beitrag zur Lösung 
dieser Aufgabe gefunden werden, wenn man statt des absoluten Be- 
trags des Einkommens des einzelnen Eingeschätzten seinen Prozentual- 
anteil am Gesamteinkommen (oder, was die Berechnung vereinfacht 
und zu dem nämlichen Ergebnis führt, sein Verhältnis zum jeweiligen 
Durchschnittseinkommen auf den Kopf der Bevölkerung) zum Maß- 
stab macht.“ 

„Man wird sagen können, daß z. B. den Besitzern eines Ein- 
kommens, welches im Jahre 1878 als ein mittleres zu bezeichnen 
war, heutzutage diejenigen Personen, deren Einkommen im nämlichen 
Verhältnis zum Gesamteinkommen des Eingeschätzten der zum Durch- 
schnittseinkommen eines Einwohners steht, wie das jener früheren 
Einkommensbesitzer, insofern entsprechen werden, als sie im Or- 
ganismus der Gesellschaft an derselben Stelle stehen, wie damals 
jene“. Auf diese Weise findet Würzburger, daß einem als mittleres 
bezeichneten Einkommen von 800 bis 3300 M. am Ausgang der sieb- 
ziger Jahre des vorigen Jahrhunderts jetzt ein Einkommen von un- 
gefähr 1250 bis 5300 M. entspricht ; ebenso entsprechen den früher 
als solche der „wohlhabenden“ Klasse bezeichneten Einkommen von 


1) Zeitschrift des sächs. statist. Bureaus, 1904. Im Original nicht gesperrt. 


598 Costantino Bresciani, 


3300 bis 9600 M. jetzt etwa die von 5300 bis 16000 M. Die Besitzer 
von Einkommen über 9600 M. (früher) und 16000 M. (jetzt) würden 
der reichen Klasse zuzurechnen sein. 

Danach ergibt sich folgendes : 


Zahl Auf 1000 Einwohner 
Angehörige der eingeschätzten kommen eingeschätzte 
der physischen Personen physische Personen 
1878 1902 1878 1902 
mittleren Klasse 224 110 330 371 78,1 76,6 
wohlhabenden Klasse 23 886 29 390 8,3 6,8 
reichen Klasse 4817 7793 1,7 1,8 


` „Kann auch den feineren Zahlenunterschieden zwischen den beiden 
hier verglichenen Jahresergebnissen kein Gewicht beigelegt werden, 
so scheint doch aus der Berechnung im ganzen hervorzugehen, daß 
das zahlenmäßige Verhältnis der verschiedenen, innerhalb der Be- 
völkerung vorhandenen Wohlstandsklassen zueinander trotz der fast 
allgemeinen Einkommenerhöhung keine erheblichen Veränderungen 
erfahren hat.“ 

Indem ich der methodologischen Grundauffassung Würzburgers 
beipflichte, glaube ich doch, daß dieser Schluß nicht richtig ist. Wenn 
1902 auf die Stufen 1250—5300, 5300 —16000 und über 16000 M. 
dieselben Prozentzahlen entfielen, wie 1878 auf die entsprechenden 
Stufen 800—3300, 3300—9600 und über 9600 M., bedeutet das nicht, 
daß die Einkommenverhältnisse der oberen Zensiten 
sich rascher gebessert haben, als diejenigen der un- 
teren, so daß eine zunehmende Differenzierung der Klassenlage zu 
gunsten der oberen Zensiten stattgefunden hat? Die relative Zu- 
nahme der Grenzeinkommen war in der Tat folgende: 

von 800 auf 1 250, d. h. 56,2 Proz. 
» 3300 „ 5300, » » 60,6 » 
„ 9600 „16000, „ „ 66,6 +» 

V. Es ist also, wie ich glaube, bei solchen statistischen Unter- 
suchungen von der größten Wichtigkeit, um Fehlschlüsse zu ver- 
meiden, daß die verglichenen Zensitenreihen von gleichen Real- 
einkommen abgegrenzt seien. Das gilt auch für die Fälle, wo 
man nicht die Verteilung der Einkommen an verschiedenen Zeit- 
punkten, sondern in verschiedenen Staaten oder verschiedenen Pro- 
vinzen desselben Staates an demselben Zeitpunkt vergleicht. Wenn 
man z. B. die Einkommenverteilung in England und Italien ver- 
gleichen wollte, müßten sowohl die unterste als die oberste Grenze 
in der englischen Zensitenreihe viel höher gegriffen werden, als in 
der italienischen, und das aus naheliegenden Gründen. Ich verkenne 
wohl nicht, daß die Feststellung von entsprechenden Realeinkommen 
für verschiedene Länder oder weit voneinander abstehende Zeit- 
punkte, eingehende Studien der Preisstatistik, des „standard of life‘, 
der verschiedenen sozialen Klassen u. s. w. fordern und somit auf 
große Schwierigkeiten stoßen würde. Wenn man diese Schwierig- 
keiten für unüberwindlich hält, muß man darauf verzichten, die Frage, 


Ueber die Methoden der Einkommenverteilungsstatistik. 599 


ob die Einkommenverteilung in den einzelnen Ländern gleichmäßiger 
oder ungleichmäßiger ist, statistisch zu lösen. 

In Bezug auf die Anwendung einer der Fehlertheorie ent- 
nommenen.Maßzahl, der quadratischen durchschnittlichen Abweichung 
(„standard deviation“ der Engländer) vom Durchschnittseinkommen, 
als Kriterium einer gleichmäßigeren oder ungleichmäßigeren Ein- 
kommenverteilung (wie sie v. Bortkiewiez in seiner kritischen 
Besprechung des Paretoschen Werkes gelegentlich empfiehlt !), ist 
meines Erachtens hervorzuheben, daß auch dieses Kriterium, wie 
das Paretosche Kriterium, wenn nicht richtig angewandt, leicht zu 
Fehlschlüssen führen würde. Im Diagramm auf Seite 537 würde 
es sich z. B. für das Kurvenstück cd' eine größere 
„standard deviation“ (in Prozenten des Durchschnittsein- 
kommens ausgedrückt) ergeben, als für ed, und man würde 
daraus schließen, daß die Verteilung ungleichmäßiger ge- 
worden ist, was bei der aufgestellten Hypothese einer für alle 
Zensiten relativ gleichen Einkommenhebung offenbar unrichtig ist. 
Es ist klar, daß man unter dieser Voraussetzung, wie in Bezug auf 
den Wert von a, so auch in Bezug auf die „standard deviation“ die 
Bogenstücke ed und c” d“ vergleichen muß, und daß aus 
der so ausgeführten Berechnung sich eine gleiche „standard deviation“ 
ergeben würde ?). 

Welches Kriterium man auch anwenden will, ist es also immer 
unumgänglich, vorher die vergleichbaren Gesamtheiten der 
Zensiten festzustellen. 

VI. Ich glaube, daß die vorhergehenden Auseinandersetzungen 
gezeigt haben, daß die Resultate, zu denen man bisher auf Grund 
der üblichen Rechnungsmethoden gelangt ist, wenn auch nicht unbe- 
dingt unrichtig, doch wenigstens zweifelhaft und unsicher sind und 
mit Hilfe einer einwandsfreien Methode revidiert werden müssen. 
Meine Beweisführung beruht auf der Hypothese einer allgemeinen 
Einkommenhebung; diese entspricht aber der Wirklichkeit. Die 
statistischen und wirtschaftsgeschichtlichen Forschungen, die bisher 
in den einzelnen Ländern angestellt wurden, haben in der Tat be- 


1) Schmollers Jahrbuch, 1898. Die Methode der ‚standard deviation“ würde zu 
keiner Beanstandung Anlaß geben, wenn wir Aufstellungen sämtlicher Einkommen, 
vom niedrigsten bis zum höchsten, vergleichen könnten. Prof. v. Bortkiewiez denkt 
eben an diesen Fall und nicht an eine Berechnung der „standard deviation“ für be- 
grenzte Strecken. 

2) Denn auch die „standard deviation“ wie der Wert von a ist 
nicht dieselbe für alle Strecken der Kurve — außer im Falle, wo die gra- 
phische Darstellung der Verteilung eine (logarithmische) Gerade ergibt (also im Falle 
wo N = Ax”"%) — sondern ändert sich offenbar mit dem Zu- oder Abnehmen 
der Neigung der Einkommenlinie auf die x-Achse, 

Wenn die Einkommenlinie der x- Achse perpendicular wäre, das heißt, wenn 
alle Zensiten ein Einkommen in gleicher Höhe besäßen, würde völlige Gleichheit der 
Einkommen bestehen, und die Dispersion wäre gleich null. Jekleinerdie Neigung 
der Einkommenlinie auf die x-Achse, desto mehr entfernt man 
sich von diesem Zustande der Gleichheit, desto größer wird also 
die Dispersion und deren Maßzahl, die „standard deviation“. 


600 Costantino Bresciani, Ueber die Methoden der Einkommenverteilungsstatistik. 


wiesen, daß im Laufe des XIX. Jahrh. und besonders in den letzten 
Jahrzehnten desselben, eine mehr oder weniger beträchtliche Ver- 
besserung der Leben(Einkommen)verhältnisse aller Schichten der 
Bevölkerung stattgefunden hat. 

Die übliche Verhältnisberechnung erweist sich also im allgemeinen 
als irreführend und die großen Mengen von Verhältniszahlen, die 
man in den amtlichen Veröflentlichungen vorfindet, sind deshalb wenig 
brauchbar. Es wäre daher vielleicht wünschenswert, daß die deutschen 
statistischen Bureaus (die sich um bedeutende Veröffentlichungen, 
welche die :besten überhaupt in der einkommensteuerstatistischen 
Literatur aller Staaten sind und schon helles Licht auf interessante 
Probleme der Güterverteilung geworfen haben, in dankenswerter 
Weise verdient gemacht haben), die in der Berechnung von 
Tausenden und Tausenden von Verhältniszahlen verwendete Mühe 
und Zeit anderen statistischen Untersuchungen widmeten; z. B. es 
könnte angegeben werden, wie viele Zensiten, die in einem be- 
stimmten Jahr mit einem gewissen Einkommen veranlagt waren, 
jahraus jahrein in höhere Stufen aufsteigen, oder in untere herab- 
fallen u. s. w.; es könnte also eine Statistik der Bewegung 
der Zensiten aufgestellt werden, die, wie jedermann einsielt, 
von großem wissenschaftlichen Wert sein würde. Für die Staaten, 
wo neben einer Einkommen- auch eine Vermögensteuer besteht, 
wären auch Aufstellungen nach Beispiel derjenigen, die Bücher 
für Basel anfertigen ließ, wo die Zensiten zu gleicher Zeit 
nach der Höhe des Einkommens und derjenigen des 
Vermögens unterschieden sind, erwünscht. Dadurch, und 
durch zweckmäßige Bearbeitung des Materials, wäre eine festere 
statistische Grundlage für die Lösung mehrerer Probleme der Ein- 
kommenverteilung und die Prüfung der Schlüsse, zu denen die 
Theoretiker gelangt sind, geschaffen. 


Georg Wermert, Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 601 


XI. 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre 
‘Schäden und die Mittel zur Schaffung der 
Kurszettelwahrheit. 


Von 


Georg Wermert. 


1. Positiv rechtlicher Status der Kursfeststellung. 


An der Börse werden täglich ungeheure Mengen von Werten 
umgesetzt. Der Kurszettel bildet ihren Wertmaßstab. Er gilt aber 
nicht nur für die an der Börse den Besitzer wechselnden Papiere, 
sondern auch für die gesamten Fonds, welche sich in den Händen 
des Publikums befinden. Da nun die an der Börse zugelassenen 
und notierten Effekten einen wesentlichen Teil des deutschen National- 
vermögens darstellen, so ist die unbedingte Richtigkeit der Kurs- 
feststellungen von außerordentlicher Wichtigkeit; denn bei mangel- 
haften, nicht fehlerfreien oder gar gefälschten Kursen vermag das 
Publikum stets um einen Teil seines Besitzes gebracht zu werden. 
Die absolute Genauigkeit der Kursfeststellung liegt daher im öffent- 
lichen Interesse, sie ist ein dringendes Erfordernis unseres gesamten 
wirtschaftlichen Lebens, sie muß verlangt werden zum Schutze des 
Volkes, zur peinlichsten Wahrung der Grenzlinien zwischen Mein 
und Dein. 

Man hat sich der schwerwiegenden Bedeutung dieser Frage bei 
der Börsenreform in den 1800er Jahren nicht verschlossen. Das 
Börsengesetz vom 22. Juni 1506 enthält in seinem zweiten Teile 
entsprechende Vorschriften, welche durch verwaltungsrechtliche Maß- 
nahmen eine weıtere Umkleidung erfahren haben. Ob die bestehenden 
Einrichtungen einen genügenden Schutz des öffentlichen Interesses 
bieten und somit als ausreichend befunden werden können, soll im 
nachstehenden in kurzen Zügen untersucht werden. 

Nach § 29 BG. erfolgt die Feststellung des Börsenpreises bei 
Waren und Wertpapieren für Kassa- und Zeitgeschäfte durch den 
Börsenvorstand, soweit die Börsenordnung nicht die Mitwirkung 
von Vertretern anderer Berufszweige (Landwirte, Müller) vorschreibt. 


602 Georg Wermert, 


Als Börsenpreis ist derjenige Preis festzusetzen, welcher der wirk- 
lichen Geschäftslage des Verkehrs an der Börse entspricht. 

In diesen beiden Sätzen sind die wichtigsten börsengesetzlichen 
Bestimmungen über die Preisnotierung enthalten: Der Börsen- 
vorstand hat die Preise festzustellen, er ist für die Richtigkeit des 
Kurszettels verantwortlich, der ein Bild der wirklichen Geschäftslage 
an der Börse enthalten soll. Der Kurszettel darf daher keine Preise 
angeben, die dem tatsächlichen Geschäftsverkehr nicht entsprechen: 
keine Preise, die durch künstliche Beeinflussung des Börsenhandels 
hervor gerufen worden sind; ferner keine fiktiven, keine nominellen, 
vor allem keine fingierten' Preise; denn sie sind nicht durch die 
wirkliche Geschäftslage des Verkehrs an der Börse bedingt. Das 
Gesetz verlangt vom "Kurszettel absolute Wahrhaftigkeit, für welche 
der Börsenvorstand verantwortlich gemacht wird. 

Damit nicht eine Einwirkung von irgend einer beteiligten Seite 
stattfindet, darf bei der Feststellung der Kurse und Preise außer 
dem Staatskommissar, dem Börsenvorstande, den Börsensekretären, 
den Kursmaklern und den Vertretern der beteiligten Berufskreise 
niemand zugegen sein. Nach $ 35 BG. hat der Bundesrat die Be- 
fugnis: 

1) Eine von den allgemeinen Vorschriften abweichende amtliche 
Feststellung des Börsenpreises von Waren oder Wertpapieren für 
einzelne Börsen zuzulassen; 

2) eine amtliche Feststellung des Börsenpreises bestimmter Waren 
allgemein oder für einzelne Börsen vorzuschreiben; 

3) Bestimmungen über Mengeneinheiten bei Warenpreisen und 
die maßgebenden Gebräuche bei der Kursnotierung zu erlassen. 

Macht der Bundesrat von der Befugnis unter 2 und 3 keinen 
Gebrauch, so kann die Landesregierung entsprechende Anordnungen 
treffen, nur sind sie dem Reichskanzler zur Kenntnisnahme mitzu- 
teilen. Die Befugnis unter No. 1 erwies sich deshalb als erforder- 
lich, weil sich an manchen Börsen, so z. B. an den hanseatischen, 
völlig abweichende Verhältnisse in betreff der Kurs- und Preis- 
notierung entwickelt hatten, die nach der ganzen historischen Ge- 
staltung und Organisation dieser Börsen nicht ohne weiteres aufge- 
hoben werden konnten. 

Zur Unterstützung des Börsenvorstandes bei der Kursfeststellung 
wurde durch das B Örsengesetz eine neue Einrichtung, die der Kurs- 
makler, eingeführt. Das ältere Institut der vereidigten Handels- 
makler, welches die Regierung bereits früher aufheben wollte, aber 
auf den W iderspruch der Aeltesten der Kaufmannschaft zu Berlin bis 
auf weiteres bestehen ließ, wurde hierdurch beseitigt. Es hatte sich 
an den verschiedensten Börsen als überflüssig erwiesen und war 
an denen, die besondere Liquidationskassen einführten, tatsächlich 
verschwunden. Die Börsenenquetkommission erachtete daher dessen 
Stellung für unhaltbar. Es wurde von ihr vorgeschlagen, die Kurs- 
feststellung einem eigenen Bureau zu übertragen, das aus Beamten 
der Acltesten der Kaufmannschaft zu bilden und von den Börsen- 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden etc. 603 


kommissaren zu beaufsichtigen sei. Das Bureau sollte die Aufgabe 
erhalten, sämtliche Angaben über die Kursbewegungen zu sammeln 
und die Kurse festzustellen. Dieser Vorschlag wurde nicht durch- 
geführt. Die Schwierigkeit lag bei ihm in der Kontrolle der ein- 
laufenden Angaben. Die Beamten, welche außerhalb der Handels- 
tätigkeit stehen mußten, wären auf die ihnen mündlich oder schrift- 
lich gemachten Aeußerungen der Banken, Bankiers, Händler, freien 
Makler und sonstigen Hilfspersonen des Handels angewiesen ge- 
wesen, und die wenigen Börsenkommissare hätten unmöglich eine 
Uebersicht über den Verkehr von mehr als zweitausend Papieren, 
Wechseln, Geldsorten ete. haben können. Das Börsengesetz hat 
daher zu dem Institut der Kursmakler gegriffen, denen die Aufgabe 
übertragen wurde, den Börsenvorstand bei der Feststellung der 
Börsenpreise zu unterstützen. Sie sind nach $ 30 BG. Hilfs- 
personen, die zur Mitwirkung bei der amtlichen Festsetzung 
des Börsenpreises von Waren und Wertpapieren ernannt werden. 
Sie sollen mitten im Geschäftsverkehre stehen; denn sie müssen, 
solange sie die Tätigkeit als Kursmakler ausüben, die Vermittelung 
von Börsengeschäften in den betreffenden Waren oder Wertpapieren 
betreiben. Ihre Bestellung und Entlassung erhalten sie von der 
Landesregierung, und sie leisten vor Antritt ihrer Stellung den Eid, 
daß sie die ihnen obliegenden Pflichten getreu erfüllen werden. Ihre 
Stellung sowie ihre Tätigkeit ist in den S$ 32 bis 34 BG. und in 
Artikel 14 des Einführungsgesetzes zum Handelsgesetzbuche näher 
bestimmt worden. Hiernach dürfen die Kursmakler in den Geschäfts- 
zweigen, für welche sie bei der amtlichen Feststellung des Börsen- 
preises mitwirken, nur insoweit für eigene Rechnung oder im 
eigenen Namen Handelsgeschäfte abschließen, oder eine Bürg- 
schaft für die von ihnen vermittelten Geschäfte übernehmen, als dies 
zur Ausführung der ihnen erteilten Aufträge nötig ist. Die Landes- 
regierung bestimmt. in welcher Weise die Beobachtung dieser Vor- 
schrift zu überwachen ist. Die Gültigkeit der abgeschlossenen Ge- 
schäfte wird hierdurch nicht berührt. Um den Kursmaklern eine 
möglichst weitgehende Unabhängigkeit zu sichern, dürfen sie kein 
sonstiges Handelsgewerbe betreiben, auch nicht an einem solchen 
als Kommanditist oder stiller Gesellschafter beteiligt sein; ebenso- 
wenig dürfen sie zu einem Kaufmanne in dem Verhältnisse eines Pro- 
kuristen, Handlungsbevollmächtigten oder Handlungsgehülfen stehen. 

Zur Ueberwachung der Kursmakler dient ihr Tagebuch, das vor 
dem Gebrauche dem Börsenvorstande zur Beglaubigung der Zahl der 
Blätter oder Seiten vorzulegen ist. Beim Tode oder der Entlassung 
des Kursmaklers ist das Tagebuch bei dem Börsenvorstande nieder- 
zulegen. Ferner sind die Kursmakler zur Vornahme von Verkäufen 
und Käufen befugt, die durch einen dazu Öffentlich ermächtigten 
Handelsmakler zu bewirken sind. 

Damit ist die reichsgesetzliche Stellung der Kursmakler dar- 
getan. Sie werden gemäß § 30. Abs. 2 BG. durch eine Makler- 
kammer vertreten, die bei der Bestellung neuer Kursmakler und 


604 Georg Wermert, 


bei der Verteilung der Geschäfte unter die einzelnen Makler gut- 
achtlich zu hören ist. Die näheren Bestimmungen über die Be- 
stellung und Entlassung der Kursmakler und die Organisation ihrer 
Vertretung sowie über ihr Verhältnis zu dem Staatskommissar und 
den Börsenorganen werden von der Landesregierung erlassen. 

Wie das Institut der Kursmakler bei der Kursnotierung mit- 
wirken soll, bestimmt $ 31 BG. Hiernach kann bei Geschäften in 
Waren und Wertpapieren ein Anspruch auf Berücksichtigung bei 
der amtlichen Feststellung des Börsenpreises nur dann erhoben 
werden, wenn sie durch Vermittelung eines Kursmaklers abge- 
schlossen sind. Der Börsenvorstand ist jedoch berechtigt, auch 
andere Geschäfte als diese zu berücksichtigen. 

Die Befugnisse des Börsenvorstandes werden in Berlin in Bezug 
auf die Kursnotierung durch die von der Handelskammer daselbst 
unterm 31. März 1903 erlassene, ministeriell genehmigte Börsen- 
ordnung näher bestimmt. Nach 8 6, Zitfer 5 cit. besorgt er die amtliche 
Notierung der Börsenkurse und deren Veröffentlichung. Nach X10 
erfolgt die amtliche Feststellung der Kurse und Preise namens des 
Börsenvorstandes durch ein oder mehrere Mitglieder der betreffenden 
Abteilung. Die Namen dieser Mitglieder und ihrer Stellvertreter 
sind von den Abteilungen des Börsenvorstandes am Anfange des 
Monats durch einen bis zum Schlusse verbleibenden Aushang in den 
Börsensälen bekannt zu machen. Für den Fall plötzlich erfolgender 
Verhinderung können auch andere Mitglieder des Börsenvorstandes 
eintreten. 

Bei der Preisfeststellung für landwirtschaftliche Produkte sind 
mindestens zwei der als Vertreter der Landwirtschaft, der landwirt- 
schaftlichen Nebengewerbe oder anderen Berufszweige gewählten 
Mitglieder des Börsenvorstandes zur Mitwirkung zu berufen. 

Die Leitung der Preisfeststellung ist jedoch immer einem der 
aus der Mitte der Börsenbesucher gewählten Mitgliede des Börsen- 
vorstandes zu übertragen. Die von der Handelskammer delegierten 
Mitglieder des Börsenvorstandes sind daher von diesem Amte aus- 
geschlossen. : 

Bei Meinungsverschiedenheiten unter den mitwirkenden Mit- 
gliedern des Börsenvorstandes entscheidet die Mehrheit. Bei Stimmen- 
gleichheit gibt die Stimme des die Preisfeststellung leitenden Vorstands- 
mitgliedes den Ausschlag. 

Für die Feststellung der Börsenpreise sind in der Börsen- 
ordnung folgende, die reichsgesetzlichen Bestimmungen erweiternde 
Anordnungen getroffen. Die amtliche Feststellung der Börsenpreise 
erfolgt: 

1) für Münzen, Banknoten, Wertpapiere an einem jeden Börsentage; 

2) für Wechsel auf ausländische Plätze mindestens dreimal 
wöchentlich: 

3) für Getreide, Spiritus, Oel, Oelsaaten, Petroleum, Mehl, Kar- 
toffelstärke an einem jeden Börsentage. Außerdem werden am 
letzten Börsentage jeden Monats die Durchschnittspreise der an dem 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 605 


gedachten Tage über Lieferung auf laufenden Monat an der Pro- 
duktenbörse geschlossenen Geschäfte festgestellt. 

Findet an einem für die Feststellung der Kurse und Preise be- 
stimmten Tage keine Börsenversammlung statt, so erfolgt die Fest- 
stellung am vorhergehenden Tage. 

Nach $ 34 der Börsenordnung ist in Wiederholung der gesetz- 
lichen Vorschrift als Börsenpreis derjenige Preis festzusetzen, welcher 
der wirklichen Marktlage des Verkehrs an der Börse entspricht. 

Die amtliche Feststellung der Kurse und der Preise geschieht 
unmittelbar nach 2 Uhr, an den Sonnabenden unmittelbar nach 
1! Uhr in den dazu bestimmten Räumen. Dort haben die Kurs- 
makler, die in den betreffenden Wertpapieren oder Waren Geschäfte 
vermitteln, an denjenigen Tagen, an denen für ihren Geschäftszweig 
Kurse oder Preise festzustellen sind, pünktlich um 2 Uhr, an den 
Sonnabenden pünktlich um 1%/, Uhr zu erscheinen und anwesend zu 
bleiben, bis sie von den amtierenden Mitgliedern des Börsenvor- 
standes entlassen werden. 

Diese sind berechtigt, von den Kursmaklern wahrheitsgetreue 
und nach dem Ermessen der ersteren ausdrücklich auf ihren Amts- 
eid zu nehmende Auskunft zu forden, zu welchen Kursen und Preisen 
in Effektiv- und Kassa-, sowie in Zeitgeschäften Waren, Wertpapiere, 
Geldsorten und Wechsel gefordert oder angeboten und zu welchen 
Kursen und Preisen und über welche Mengen Geschäfte abgeschlossen 
sind. 

Die Kursmakler sind auch verpflichtet, dem die Preise fest- 
stellenden Mitgliede des Börsenvorstandes nach Maßgabe der Makler- 
ordnung Einsicht in ihre Bücher zu gestatten und ihm auf Erfordern 
gutachtlich Auskunft über die festzustellenden Kurse und Preise zu 
geben. 

Die Entscheidung über die Höhe des amtlich fest- 
zustellenden Kurses oder Preises steht den Mitglie- 
dern des Börsenvorstandes allein zu, und es bleibt 
ihnen überlassen, auf welchem Wege sie sich die zu 
ihrer Entscheidung erforderliche Information, abge- 
sehen von den Angaben der Kursmakler, sonst noch 
verschaffen wollen. 

Gemäß $ 37 der Börsenordnung sind die Protokolle über die Fest- 
stellung der Kurse und Preise von den Börsensekretären zu führen. 

Im Hinblicke auf die entsprechenden reichsgesetzlichen Vor- 
schriften haben die Mitglieder des Börsenvorstandes diejenigen, welche 
sich unbefugterweise bei der Feststellung und Protokollierung der 
Kurse und Preise einfinden. sofort entfernen zu lassen und die zur 
Erhaltung der Ruhe und Ordnung erforderlichen Anordnungen zu 
treffen. 

Nach $ 38 der Börsenordnung werden gleich nach der Fest- 
stellung die Börsenkurse und Preise im amtlichen Kursblatte für 
Wertpapiere, Geldsorten und Wechsel, sowie im amtlichen Preis- 
kurant für Waren gedruckt, mit dem Stempel der betreffenden Ab- 


606 Georg Wermert, 


teilung des Börsenvorstandes und mit der Ueberschrift „Börse zu 
Berlin“ versehen und bereits an demselben Nachmittage ausgegeben. 

Ob und in welcher Weise noch außerdem amtliche Bekannt- 
machungen über festgestellte Kurse und Preise von einer Abteilung 
des Börsenvorstandes zu erlassen sind, bestimmt diese selbst nach 
den Bedürfnissen des Verkehrs. 

In den $S 35 und 36 der Börsenordnung sind noch einzelne 
Sondervorschriften für die Notierung von Getreide gegeben, das bei 
der Börsenreform bekanntlich eine große Rolle spielte. Es wird darin 
bestimmt, daß bei den Notierungen der verschiedenen Getreide- 
gattungen, die nach Lage des Geschäftsverkehrs an der Börse haupt- 
sächlich in Betracht kommenden Sorten mit Unterscheidung nach 
Ursprung (inländisch oder ausländisch), nach Qualitätsgewicht, nach 
Beschaffenheit in Farbe, Geruch und Trockenheit, nach alter und 
neuer Ernte zu bezeichnen sind, soweit diese Unterscheidungsmerk- 
male festgestellt werden können. Für jede Getreidesorte sind die 
wirklich gezahlten Preise zu notieren, soweit dies festzustellen ist. 
Insoweit sich diese Notierungen auf Abschlüsse über besonders geringe 
Mengen beziehen oder sonst besondere Verhältnisse vorliegen, so ist 
dies bei der Notierung kenntlich zu machen. 

In Ergänzung der Börsenordnung bestimmt die Geschäfts- 
ordnung des Börsenvorstandes (Abteilung Produktenbörse) vom 
19. Oktober 1903 in § 9 folgendes: 

„Der Vorstand besorgt die amtliche Feststellung der Börsenpreise 
und deren Veröffentlichung. Die amtliche Notierung erfolgt namens 
des Vorstandes der Produktenbörse durch ein bis höchstens drei 
Mitglieder. Die Namen dieser Mitglieder und ihrer Stellvertreter 
sind vom Börsenvorstande (Abteilung Produktenbörse) durch einen 
vom Anfange des Monats bis zum Schlusse desselben an Ort und 
Stelle verbleibenden Aushang an der Börse bekannt zu machen. 

Bei der Preisfeststellung für landwirtschaftliche Produkte sind 
mindestens zwei der als Vertreter der Landwirtschaft, der landwirt- 
schaftlichen Nebengewerbe oder anderen Berufszweigen ernannten 
Mitglieder des Börsenvorstandes zur Mitwirkung zu berufen. Die 
Leitung der Preisfeststellung jedoch ist immer einem der kaufmänni- 
schen Mitglieder des Börsenvorstandes zu übertragen. Bei Meinungs- 
verschiedenheiten unter den mitwirkenden Mitgliedern des Börsen- 
vorstandes entscheidet die Mehrheit. Bei Stimmengleichheit gibt die 
Stimme des die Preisfeststellung leitenden Vorstandsmitgliedes den 
Ausschlag.“ 

Die Geschäftsordnung des Börsenvorstandes (Abteilung 
Fondsbörse) bestimmt lediglich in § 7 Ziffer II: Der Börsenvorstand 
besorgt durch eine allmonatlich zu wählende Kommission die amtliche 
Notierung der Fondsbörsenkurse und deren Veröffentlichung. 

Dagegen enthalten die „Bedingungen für die Geschäfte an 
der Berliner Fondsbörse* vom 1. April 1905 eine Anzahl von Be- 
stimmungen über die Feststellung des Börsenpreises. Da sie jedoch 
vorwiegend technischer Natur sind, indem sie die Umrechnung ver- 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 607 


schiedener Währungen, die Berechnung der Stückezinsen, die Ab- 
trennung der Dividendenscheine betreffen, so mag hier nur daraus 
angeführt werden, daß nach $ 27 eit. die Preise nach Prozenten fest- 
zustellen sind. Ausnahmen sind zulässig für Versicherungsgesell- 
schaften, Genußscheine, Kuxe, Lospapiere etc. 

Die große Bedeutung, welche die Börse dem amtlichen Kurs- 
zettel beilegt, erhellt aus § 26 cit. Durch ihn kann bei Streitigkeiten 
der Beweis für die Kursnotierung geführt werden. 


2. Positiv-rechtlicher Status der Kursmakler. 


Im Vorstehenden sind sämtliche reichsgesetzliche Bestimmungen, 
landesrechtliche und behördliche Anordnungen wiedergegeben, welche 
sich auf die Tätigkeit des Berliner Börsenvorstandes bei der Kurs- 
notierung beziehen. Für die Kursmakler als Hilfspersonen der No- 
tierung hat das Börsengesetz gleichfalls den Landesregierungen das 
Recht, nähere Anordnungen zu treffen, übertragen. In Preußen 
wurde durch Erlaß des Ministers für Handel und Gewerbe vom 
14. November 1896 Bestimmungen über die Bestellung und Entlassung 
von Kursmaklern getroffen. 

Nach ihnen werden die Kursmakler für die Börse in Berlin 
durch den Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg und der Stadt 
Berlin und für die übrigen Börsen durch den Regierungspräsidenten, 
in dessen Verwaltungsbezirk die Börse gelegen ist, bestellt. Die 
Vereidigung geschieht im Auftrage der genannten Behörden. Die 
Handelsorgane, denen die unmittelbare Aufsicht der Börse übertragen 
ist, sind gleich der Vertretung der Kursmakler, wo eine solche be- 
steht, vor der Bestellung zu hören. Die Entlassung des Kursmaklers 
geschieht gleichfalls durch den Oberpräsidenten, bezw. Regierungs- 
präsidenten. Sie hat zu erfolgen, wenn er sich einer groben Ver- 
letzung der ihm obliegenden Pflichten schuldig macht, oder sich durch 
sein Verhalten in und außer dem Amte der Achtung des Ansehens 
und des Vertrauens, die sein Beruf erfordert, unwürdig zeigt oder zur 
Erfüllung seiner Amtspflicht dauernd unfähig wird. Auch vor der 
Entlassung sind die zuständigen Handelsorgane zu hören. Für die 
Stellvertreter der Kursmakler, falls solche bestellt werden, gelten 
die gleichen Anordnungen, wie sie auch für die Dauer ihrer Stell- 
vertretung die Rechte und Pflichten von Kursmaklern haben. Sie 
können für eine bestimmte Zeit bestellt werden. 

Wenn hiernach dem Kursmakler die Eigenschaft eines Beamten 
gegeben ist, so bleibt er andererseits gleich den übrigen Börsenbe- 
suchern den Vorschriften des Börsengesetzes und der Börsenordnung, 
insbesondere dem ehrengerichtlichen Verfahren, der Zulassung und 
der Ausschließung vom Börsenbesuche und der Handhabung der Ord- 
nung in den Börsenräumen unterworfen. 

Die Rechte und Pflichten der Kursmakler wurden erstmalig in 
der Maklerordnung vom 4. Dezember 1896 festgesetzt. 

Nach dieser haben sie in allen Börsenversammlungen während 


608 Georg Wermert, 


ihrer ganzen Dauer anwesend zu sein. Der Börsenvorstand hat die 
Befugnis, ihnen für eine Woche Urlaub zu erteilen. Eine längere 
Urlaubserteilung kann nur seitens der Aeltesten der Kaufmannschaft 
nach Anhörung der Maklerkammer stattfinden. 

In Ergänzung der reichsgesetzlichen Vorschriften über die Fest- 
stellung der Kurse und Preise haben die Kursmakler den Mitgliedern 
des Börsenvorstandes, die mit der Feststellung der im amtlichen 
Kurszettel zu notierenden Kurse und Preise beauftragt sind, alle 
hierzu von ihnen zu erfordernden Erklärungen nach bestem Wissen 
der Wahrheit gemäß abzugeben. Ergeben sich Zweifel oder 
Differenzen über die Feststellung der Kurse oder Preise, so ist das 
die Feststellung leitende Mitglied des Börsenvorstandes befugt, eine 
ausdrückliche protokollarische Erklärung der Kursmakler über ihre 
Angaben auf ihren Amtseid zu fordern und nach seinem Ermessen 
auch später die Richtigkeit derselben durch Einsicht der Tagebücher 
der Kursmakler oder in anderer Weise zu prüfen. Insoweit hierbei 
die Vorlegung der Tagebücher gefordert wird, ist der Kursmakler 
befugt, die Namen der Kontrahenten zu verdecken. 

Soweit die Kursmakler nach $ 32 BG. ein beschränktes Selbst- 
eintrittsrecht besitzen, müssen die einschlägigen Geschäfte sowie die 
übernommenen Bürgschaften in den Tagebüchern täglich vor Voll- 
ziehung der Unterschrift übersichtlich zusammengestellt werden. 

An der Berliner Börse sind die Kursmakler zu einer Makler- 
kammer zusammengefaßt, durch die sie vertreten werden. Sie be- 
steht aus 11 Mitgliedern und 5 Stellvertretern, die aus ihrer Mitte 
von den Kursmaklern gewählt werden. Zwei Mitglieder und ein 
Stellvertreter müssen der Produktenbörse angehören. Die Makler- 
kammer wählt sich selbst ihren Vorstand, der aus einem Vorsitzenden, 
einem stellvertretenden Vorsitzenden, einem Schriftführer, einem 
stellvertretenden Schriftführer und einem Schatzmeister besteht. Vier 
Mitglieder des Vorstandes müssen der Fondsbörse, ein Mitglied der 
Produktenbörse angehören. 

Die Aufgaben der Maklerkammer bestehen in folgendem: 

1) auf Erfordern des Oberpräsidenten Gutachten über die Be- 
stellung und Entlassung von Kursmaklern und über eine etwaige 
Stellvertretung behinderter Kursmakler abzugeben ; 

2) die Verteilung der Geschäfte unter die einzelnen Kursmakler 
(Gruppenbildung) vorzunehmen und dem Börsenvorstande wie dem 
Staatskommissar mitzuteilen, welche binnen einer Woche Einspruch 
bei den Aeltesten der Kaufmannschaft, denen die Entscheidung obliegt, 
einzulegen befugt sind; 

3) die Aufsicht über die Erfüllung der den Kursmaklern ob- 
liegenden Pflichten auszuüben und bei Pflichtverletzungen die ge- 
eigneten Disziplinarstrafen zu verhängen; 

4) Streitigkeiten unter Kursmaklern auf Antrag zu schlichten; 

5) Streitigkeiten aus dem Auftragsverhältnis zwischen einem 
Kursmakler und dem Auftraggeber auf Antrag des letzteren zu 
schlichten ; 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden etc. 609 


6) aufErfordern der staatlichen Behörden Gutachten, insbesondere 
über Gesetze und Verwaltungsfragen, welche die Interessen der 
Kursmakler berühren, zu erstatten. 

Der Vorstand hat die Maklerkammer nach außen hin zu ver- 
treten, die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben der Makler- 
kammer zu besorgen und ihr über die Verwaltung jährlich Rechnung 
zu legen, die Sitzungen der Maklerkammer vorzubereiten, zu berufen 
und zu leiten und deren Beschlüsse zur Ausführung zu bringen und 
die für die Verwaltung erforderlichen Beamten anzustellen und zu 
beaufsichtigen. 

Die Mitglieder des Vorstandes und der Maklerkammer verwalten 
ihr Amt als Ehrenamt, nur werden bare Ausgaben aus den Ein- 
nahmen erstattet. Auf Antrag des Staatskommissars, der Aeltesten 
der Kaufmannschaft, von fünf Mitgliedern der Maklerkammer oder 
zwanzig Kursmaklern unter Angabe des zu behandelnden Gegen- 
standes hat eine Berufung der Maklerkammer zu erfolgen. Der 
Staatskommissar ist berechtigt, an den Sitzungen mit beratender 
Stimme teilzunehmen. Alljährlich hat der Vorstand dem Staats- 
kommissar und den Aeltesten der Kaufmannschaft über seine Tätig- 
keit und die der Kammer Bericht zu erstatten. Dieser Bericht ist 
sämtlichen Kursmaklern an der Börse in je einem Druckexemplar 
mitzuteilen. Der Voranschlag für die Einnahmen und Ausgaben der 
Maklerkammer ist von ihr zu genehmigen. Die Kosten werden ge- 
deckt durch Beiträge der Kursmakler und die etwaigen Gebühren 
bei Schlichtung von Streitigkeiten. 

Die Maklerkammer hat die Geschäftsverteilung jährlich 
in der ersten Hälfte des Monats Dezember für das nächste Kalender- 
jahr vorzunehmen. Sie kann im Laufe des Jahres abgeändert werden, 
wenn die Zahl der Kursmakler sich verändert. Der Staatskommissar 
und der Börsenvorstand haben jederzeit die Befugnis, eine Aenderung 
der Geschäftsverteilung zu beantragen. Die hierüber gefaßten Be- 
schlüsse unterliegen gleichfalls dem Einspruche bei den Aeltesten der 
Kaufmannschaft. 

In Bezug auf die Aufsicht und Disziplin unterliegen die Kurs- 
makler gleich den übrigen Börsenbesuchern der Börsenleitung des 
Börsenvorstandes und dem Ehrengerichte. Die Aufsicht über sie 
führt jedoch die Maklerkammer und der Staatskommissar. Die 
Aeltesten der Kaufmannschaft können zur Regelung des Geschäfts- 
verkehrs der Kursmakler an der Börse Anordnungen treffen. Der 
Staatskommissar und die Maklerkammer haben jederzeit die Befug- 
nis, in die Hand- und Tagebücher der Kursmakler Einsicht zu 
nehmen, um die Beobachtung der Vorschriften über den Selbstein- 
tritt und die Uebernahme von Bürgschaften zu überwachen. Die 
Kammer ist berechtigt, für die amtliche Tätigkeit der Kursmakler 

Grundsätze und Regeln festzustellen, soweit nicht die Bestimmungen 
des Börsengesetzes, der Börsenordnung und der von der Landes- 
regierung erlassenen Ausführungsverordnungen entgegenstehen. 

Die Maklerkammer hat die Befugnis zur Disziplinarbestrafung, 

Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIII). 39 


610 Georg Wermert, 


falls ein Kursmakler die ihm obliegenden Pflichten oder die von der 
Maklerkammer aufgestellten Grundsätze und Regeln verletzt. Ins- 
besondere kommen die Disziplinarstrafen in Anwendung, wenn ein 
Kursmakler ohne genügende Entschuldigung oder ohne Urlaub die 
Börsenversammlung oder die Festsetzung der Kurse und Preise ver- 
säumt oder aus Fahrlässigkeit bei dieser Feststellung unrichtige 
Angaben macht. Die Disziplinarstrafen bestehen in Warnung, Ver- 
weis, Geldstrafe bis zu 500 M. und zeitweiser Versagung des Zutritts 
zu den Börsenversammlungen bis zur Dauer von drei Monaten. 
Die Geldstrafen dienen zur Unterstützung von Kursmaklern oder 
deren Hinterbliebenen. 

Beschwerden über die Amtstätigkeit der Kursmakler können an 
den Staatskommissar, den Börsenvorstand oder die Maklerkammer 
gerichtet werden. Letztere beschließt über die Eröffnung des Ver- 
fahrens. In Sachen, welche das Ehrengericht betreffen, ist sie nicht 
zuständig. Zu den Disziplinarverhandlungen ist der Syndikus der 
Aeltesten der Kaufmannschaft oder in dessen Behinderung ein 
anderer Rechtskundiger als Beirat der Kammer zuzuziehen. Zur 
Fällung eines Urteils ist die Anwesenheit von mindestens sieben 
Kammermitgliedern erforderlich. Das Verfahren ist nicht öffentlich. 
Der Staatskommissar hat hierbei als Vertreter der Anklage die 
gleichen Befugnisse, wie im ehrengerichtlichen Verfahren. Gegen 
die Entscheidung steht dem Staatskommissar sowie dem Beschul- 
digten binnen 14 Tagen Beschwerde mit aufschiebender Wirkung an 
die Aeltesten der Kaufmannschaft zu. 


3. Bestrebungen der Kursmakler zur Befestigung ihrer Stellung. 


Im Vorstehenden sind die wesentlichsten Bestimmungen über 
die Kursmakler als Hilfspersonen bei der Notierung enthalten. Aus 
ihnen erhellt die große Bedeutung, welche man der Einrich- 
tung der Kursmakler verliehen hat. Sie besitzen gegenüber den 
sonstigen Börsenbesuchern, wie auch gegenüber der unmittelbaren 
Börsenaufsicht eine gewisse Selbständigkeit durch ihre gesetzliche 
Vertretung der Maklerkammer und ihre direkte Unterstellung unter 
den Staatskommissar, wenn sie auch, wie alle Börsenbesucher, dem 
3örsenvorstande und dem Ehrengerichte unterstehen. Allerdings ist 
ihr Charakter ein zwiespältiger: einesteils sind sie Beamte, die 
dem Börsenvorstande bei der Kursfeststellung eine weitgehende 
Hilfe zu leisten haben, während sie anderenteils Kaufleute gleich 
den übrigen Börsenbesuchern bleiben, die durch Vermittelung mög- 
lichst vieler und möglichst umfangreicher Geschäfte ihren Unterhalt 
und Erwerb gewinnen. Diese Zwitterhaftigkeit ihres Wesens ver- 
mochte jedoch ein befriedigendes Ergebnis nicht zu zeitigen. Es 
haben daher fortgesetzt Kämpfe zwischen den Kursmaklern und ihrer 
amtlichen Vertretung einerseits und dem Börsenvorstande anderer- 
seits stattgefunden. 

Die Bestrebungen der ersteren zielten darauf ab, ihre Bedeutung 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 611 


bei der Kursnotierung zu erhöhen, wie auch ihnen tunlichst ein 
Vermittlermonopol zu verschaffen und die freien Makler mehr und 
mehr aus dem Börsenverkehre auszuschalten. Von anderer Seite 
wurde die Maklerordnung angegriffen. Namentlich war es die 
Uebertragung der Geschäftsverteilung (Gruppenbildung) auf die 
Maklerkammer, welche nachhaltigen und heftigen Widerspruch erregte. 
Indem diese Befugnis dem Börsenvorstande genommen und der 
Maklerkammer übergeben wurde, erhielt die Stellung der Kursmakler 
an der Börse eine gewisse Unabhängigkeit und nicht zu verkennende 
Befestigung gegenüber der Börsenleitung und den dort bisher 
herrschenden finanziellen Kräften ; sie bildeten gleichsam die schwachen 
Ansätze einer kleinen Börse innerhalb der Börse; sie waren nicht 
mehr in dem früheren Grade dem Einflusse ihrer Auftraggeber 
unterstellt und besser befähigt, ohne allzu weitgehende Rücksicht- 
nahme auf deren Ansinnen ihres Amtes zu walten. Andererseits 
lag in der Zwitterstellung der Kursmakler nichts Befriedigendes, 
nichts Abgeschlossenes, weshalb es ganz naturgemäß erscheint, wenn 
ihre Vertretung das Amt weiter nach der Seite der Unabhängigkeit 
von der Börsenleitung und der unmittelbaren Börsenaufsicht auszubauen 
versuchte. Dem konnte am wirksamsten vorgebeugt werden, wenn 
man der Maklerkammer die Geschäftsverteilung wieder entwandte. 
Hier setzte daher der Hauptkampf ein. 

Allerdings kann nicht geleugnet werden. daß $ 9b der ersten 
Maklerordnung, der die Verteilung der Geschäfte unter die einzelnen 
Kursmakler der Maklerkammer überträgt, nicht mit Absatz 2 des 
$ 30 BG. in Einklang zu bringen ist, nach der die Maklerkammer bei 
der Verteilung der Geschäfte unter die einzelnen Kursmakler gut- 
achtlich zu hören ist. Hiernach hat eine ungenannte Behörde die 
Geschäftsverteilung zu bewirken, und die Maklerkammer ist nur zu 
einer begutachtenden Tätigkeit berufen. Allerdings ist die Behörde 
im Gesetze nicht näher bezeichnet, welche die Geschäftsverteilung 
vorzunehmen hat. Da aber diese Aufgabe wohl nur einer sachver- 
ständigen Behörde übertragen werden kann und die unmittelbaren 
Aufsichtsbehörden der Börse die erforderliche Sachverständigkeit 
besitzen, so darf im Zweifel angenommen werden, daß dem Börsen- 
vorstande, weil er aus dem Börsenleben hervorgewachsen ist und 
ihm die weitestgehende Sachverständigkeit zuerkannt werden muß, 
diese Aufgabe zukommt. Sollte dagegen die Maklerkammer die un- 
genannte Behörde sein, so müßte sie sich selbst zu einer gutacht- 
lichen Meinungsäußerung auffordern und anhören, eine Aufgabe, die 
widersinnig ist und deshalb vom Gesetzgeber nicht gewollt sein 
kann. Da nun ferner das Reichsgesetz die allgemeine Norm bildet, 
und Reichsrecht nicht durch ein Landesgesetz. noch viel weniger 
durch eine landesbehördliche Anordnung beseitigt werden kann, im 
Gegenteile gemäß Artikel 2 der Reichsverfassung die Reichsgesetze 
den Landesgesetzen vorgehen, letztere demnach beseitigen. so kann 
allerdings geschlossen werden, daß $ 9b der Maklerordnung nicht 
zu Recht besteht und die Geschäftsverteilung der Maklerkammer zu 

39* 


612 Georg Wermert, 


Unrecht übertragen worden ist. Zwar hat $ 30 Abs. 2 BG. der 
Landesregierung den Erlaß näherer Bestimmungen über die Be- 
stellung und Entlassung der Kursmakler und die Organisation ihrer 
Vertretung, sowie über ihr Verhältnis zu den Staatskommissaren 
und den Börsenorganen übertragen, aber diese Bestimmungen 
können nur so weit auf rechtliche Gültigkeit Anspruch erheben, als 
sie sich mit dem Börsengesetze in Uebereinstimmung befinden und 
die einschlägigen Angelegenheiten nicht durch dieses geregelt sind. 
Solches ist durch $ 30 Abs. 2 BG. allerdings geschehen. Hier 
liegt der Stein des Anstoßes, der nicht leicht aus dem Wege ge- 
räumt werden kann. Zwar ist eingewandt worden, daß unter der 
Regelung des Maklerwesens gemäß § 30 Abs. 2 BG. auch die Ver- 
fügung über die Verteilung der Geschäfte eingeschlossen ist. Durch 
die fragliche Bestimmung über die Anhörung der Maklerkammer 
bei der Verteilung der Geschäfte ist die Befugnis der Landes- 
regierung, entsprechende Anordnungen zu treffen, nicht ausge- 
schlossen. Die Landesregierungen können, wenn sie wollen, der 
Maklerkammer nur die Befugnis der gutachtlichen Meinungs- 
äußerung zuweisen, sie bildet gleichsam das Mindestmaß der Rechte 
der Maklerkammer, wie das Börsengesetz sie festsetzt. Da aber 
keine andere Behörde genannt ist, der die Geschäftsverteilung über- 
tragen werden muß, so kann die Landesregierung diese auch der 
Maklerkammer überweisen. — Dem ist jedoch nicht beizutreten. 
Von einem Mindestmaße der Rechte der Maklerkammer ist in 
$ 30 Abs. 2 BG. nicht die Rede, wie sich bei ruhiger Betrachtung 
des Wortlautes ergibt. Fraglich kann es nur sein, welcher Behörde 
die Geschäftsverteilung zukommt. Da beide Aufgaben der Makler- 
kammer, Gutachten bei der Bestellung der Kursmakler und bei 
der Verteilung der Geschäfte zu erstatten, zusammen genannt 
werden und die Bestellung ausdrücklich gemäß $ 30 Abs. 1 BG. 
den Landesregierungen übertragen ist, so kann es fraglich er- 
scheinen, ob die Geschäftsverteilung nicht auch zu den Obliegen- 
heiten der Landesregierung gehört. Es liegt hier eine der vielen 
Unstimmigkeiten des Börsengesetzes vor, die durch dessen viel ge- 
tadelte mangelhafte Fassung hervorgerufen werden. Wenn die 
Regierung die Geschäftsverteilung vorzunehmen hat, so kann sie 
allerdings, da sie in dieser Angelegenheit nicht sachverständig ist, ihre 
Entscheidungen in erster Hinsicht nach dem Gutachten der Makler- 
kammer treffen. Sie würde daher im Grunde nur zu dem Ja sagen, 
was ihr von genannter Stelle unterbreitet wird. Da durch diesen Ge- 
schäftsgang aber unnütze Zeit verloren geht, der Börsenverkehr in- 
dessen rasche Entschließungen und Entscheidungen verlangt, so kann 
es die Regierung als zweckmäßig erachten, auf ihr Recht zu Gunsten 
der Maklerkammer zu verzichten und dieser die Geschäftsverteilung 
vollständig zu übertragen. Solches erscheint um so mehr ange- 
bracht, als die Maklerkammer gleichsam ein Organ der Regierung 
bildet und der Staatskommissar mit ihr in engster Fühlung steht. 
Dazu bleibt dem Börsenvorstande gemäß § 6 Ziffer 6 der Börsen- 
ordnung vom 23. Dezember 1896 die Ueberwachung der von der 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden etc. 613 


Maklerkammer vorzunehmenden Verteilung der Geschäfte unter die 
Kursmakler nach Maßgabe der in der Maklerordnung erlassenen 
Bestimmungen vorbehalten. 

Somit war alles in schönster Ordnung; nur schade, daß dieser 
Verzicht der Regierung auf ein ihr nach obiger Voraussetzung zu- 
stehendes Recht zu Gunsten der Maklerkammer gegen den Wortlaut 
von $ 30 Abs. 2 BG. verstößt, auch die Landesregierung nicht die 
Befugnis hat, auf ein ihr durch Reichsgesetz übertragenes Recht 
entgegen dem Wortlaute des Gesetzes zu Gunsten einer unteren 
Organisation, die gesetzlich in der gleichen Sache mit einer anderen 
Aufgabe betraut ist, zu verzichten. Dazu ist die obige Voraus- 
setzung, die Regierung habe die Geschäftsverteilung zu bewirken, höchst 
anfechtbar und findet im Gesetze keine ausreichende Stütze. Die 
Bestellung und Geschäftsverteilung werden im $ 30 BG. streng aus- 
einandergehalten; nur erstere ist ausdrücklich der Landesregierung 
übertragen. Wenn es seitens der letzteren hätte gleichfalls stattfinden 
sollen, würde der Gesetzgeber dem Ausdruck verliehen haben. 

Bisher hatte der Börsenvorstand die Geschäftsverteilung vorge- 
nommen, sie gehörte zu den laufenden Geschäften des Vorstandes. 
Für die Börse in Berlin war seit längeren Jahren die Verteilung 
deshalb eingeführt worden, weil der große Geschäftsverkehr und die 
Vielheit der gehandelten Papiere sie dringend erforderlich machte. 
Eine ausreichende Kenntnis jeden Papiers war von sämtlichen 
Maklern nicht mehr zu verlangen. Nicht die Kursfeststellungen, 
sondern die Vermittlerfunktionen der Makler hatten die Verteilung 
notwendig gemacht, weil ein Makler sich nur mit einer besonderen 
Gruppe von Papieren befaßte. Daher war die Verteilung der Ge- 
schäfte nicht nur bei den vereidigten Handelsmaklern, die bei der 
Kursnotierung als Gehilfen dienten, sondern auch bei allen sonstigen 
Maklern allgemein durchgeführt. Bisher hatten die Auftraggeber, 
die großen Banken und Bankiers, einen maßgebenden Einfluß auf 
die Geschäftsverteilung, damit die für das jeweilige Papier be- 
fähigsten Personen ausgewählt würden. Dieser Einfluß wurde durch 
den Börsenvorstand, der durch das Vertrauen der Börse berufen 
war, ausgeübt. Deshalb verlangten die Aeltesten der Kaufmann- 
schaft, daß ihm nunmehr nicht die Geschäftsverteilung genommen 
und ihm nicht bloß ein Beschwerderecht gewahrt bleiben sollte. 
Bisher seien nach ihrer Meinung durch diese Tätigkeit des Börsen- 
vorstandes nie Unzuträglichkeiten entstanden. Dazu besitze an 
anderen Börsen, so z. B. in Frankfurt a. M., die Handelskammer 
die Entscheidung über die Geschäftsverteilung. 

Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß das Börsengesetz das 
Börsenwesen einheitlich für das ganze Reich regelt und irgend welche 
historischen Rechte oder Bräuche nach seinem Inkrafttreten entgegen 
dem Willen des Bundesrates ($ 35 BG.) nicht mehr bestehen. Es 
ist daher äußerst zweifelhaft, daß alle Rechte, die nicht ausdrücklich 
im Börsengesetze einer anderen Behörde übertragen sind, dem 
Börsenvorstande zustehen sollen. 

Der preußische Handelsminister zerschnitt indessen den Knoten 


614 Georg Wermert, 


und entschied im Erlasse vom 11. Juni 1397 zu Gunsten der Makler- 
kammer, wobei er sich allerdings über den fraglichen und zu 
Zweifeln Anlaß gebenden Wortlaut des Gesetzes hinwegsetzte. Die 
Stempelvereinigung, eine Verbindung der angesehensten Banken 
und Bankiers von Berlin, hat indessen den Kampf weiter fortge- 
führt und bei Androhung der Entziehung ihrer umfangreichen Auf- 
träge es durchgesetzt, daß die Maklerkammer dem Börsenvorstande 
die in Aussicht zu nehmende Geschäftsverteilung vorlegen muß, 
wobei dieser innerhalb 8 Tagen Einspruch erheben kann. Erst 
wenn in dieser Zeit keine Antwort erfolgt, ist die Maklerkammer 
befugt, die Geschäftsverteillung zu veröffentlichen. Die Makler- 
kammer erklärte sich mit diesem Verfahren unterm 23. Juli 1898 
einverstanden. 

Das war die erste Phase des Kampfes der Kursmakler um die 
Erlangung größerer Selbständigkeit und Geschäftsbetätigung, die für 
sie mit einem Siege endete. Ihr ferneres Streben ging naturgemäß 
dahin, die freien Makler von der Börse zu verdrängen, durch die 
ihnen ein großer Teil der Aufträge genommen wurde. Ferner 
wünschten sie, daß ihnen die Kursfeststellung gänzlich übertragen 
und dem Börsenvorstande abgenommen werde. Durch letzteres sollte 
der bestehende Zustand einfach legalisiert werden; denn de facto 
stellen die Kursmakler die Kurse fest, während die Börsenkommissare 
für sie die Verantwortung tragen. Seitens der Aeltesten der Kauf- 
mannschaft suchte man nicht nur diesen Anforderungen entgegenzu- 
wirken, sondern auch die Geschäftsverteilung der Maklerkammer 
wieder zu entziehen und dem Börsenvorstande zu übertragen. — 

Da kam ein neues Moment in die bisherige Börsenfrage. Lebhafte 
Agitationen innerhalb der Industrie- und Handeltreibenden Berlins, 
vom Handelsministerium begünstigt, bewirkten die Schaffung der 
Handelskammer zu Berlin, worauf die Uebertragung der unmittel- 
baren Aufsicht der Börse an sie erfolgte. Dadurch wurden die 
Aeltesten der Kaufmannschaft aus ihrem alten Erbe geworfen. 
Die bisher keineswegs einfache Situation erfuhr nunmehr eine Ver- 
wickelung in so starkem Maße, daß sie nur unter der Voraussetzung 
einer allseitigen Willensbetätigung bona fide auf die Dauer fortzu- 
führen ist. Bei ernsten Friktionen läßt sich die Börsenorganisation 
in ihrer jetzigen Gestalt wohl kaum aufrecht erhalten. 

Der Börsenunternehmer — das sind die Aeltesten der Kauf- 
mannschaft —, dem das Börsengebäude und alle sonstigen Ein- 
richtungen gehören, hat an der Börse überhaupt nichts mehr zu 
sagen. Er kann sich nur mit den Verwaltungsangelegenheiten, der 
Einziehung der Beiträge und der Bestreitung der Kosten befassen. 
Nach der nunmehr geltenden Börsenordnung vom 31. März 1903 
ist die unmittelbare Aufsicht über die Börse und alle auf den 
Börsenverkehr bezüglichen Einrichtungen der Handelskammer über- 
tragen. Damit begnügt sich aber die Börsenordnung nicht; denn es 
wird der Handelskammer gemäß $ 2 auch ein weit reichender Einfluß 
innerhalb des Börsenvorstandes gesichert. Von 36 Vorstandsmit- 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden etc. 615 


gliedern sind 9 von der Handelskammer aus ihrer Mitte zu wählen. 
Diese werden der Börse demnach von außen oktroyiert, und nur 27 
hat die Gesamtheit der Börsenbesucher zu erküren. Von diesen 
müssen 15 der Fondsbörse und 12 der Produktenbörse angehören. 
Die Aeltesten der Kaufmannschaft haben nichts hinzuzuwählen, nur 
wurde bestimmt, damit sie nicht gänzlich aus dem Börsenvorstande 
verdrängt werden können, daß von den zu wählenden 15 Mitgliedern 
der Fondsbörse 4 und von den zu wählenden 12 Mitgliedern der 
Produktenbörse 2 Mitglieder der Aeltesten der Kaufmannschaft sein 
müssen. Es stehen demnach im Börsenvorstande 6 Aelteste 9 Handels- 
kammermitgliedern gegenüber. Die weiteren 21 Mitglieder des 
Börsenvorstandes werden von den Börsenbesuchern frei gewählt, 
sie können Aelteste der Kaufmannschaft sein, brauchen es aber 
nicht, während sie Mitglieder der Handelskammer nicht sein sollen. 
Bei einer derartigen auf Stelzen ruhenden Anordnung dürfen, wie 
bemerkt, Reibungen ernsterer Natur nicht ausbrechen, wenn nicht 
der gekünstelte Bau gleich einem Kartenhause zusammenfallen soll. 
Das Merkzeichen der Dauerbarkeit trägt er keineswegs in sich. — 

Hierbei vollzog sich ein weiterer Schritt auf dem Wege 
der Selbständigmachung der Kursmakler. Die Ziffer 6 in $ 6 der 
alten Börsenordnung wurde gestrichen, so daß der Börsenvorstand 
nicht mehr die Aufgabe hat, die von der Maklerkammer vor- 
zunehmende Verteilung der Geschäfte unter die Kursmakler nach 
Maßgabe der in der Maklerordnung erlassenen Bestimmungen zu 
überwachen. 

Auf Grund der neuen Börsenordnung mußte die Maklerordnung 
vom 4. Dezember 1896 einer Revision unterworfen werden. Eine 
neue Maklerordnung wurde von der Maklerkammer vorgeschlagen, 
in der die Unabhängigkeit der Kursmakler einen weiteren kräftigen 
Schritt vorwärts machte. Seitens des Börsenvorstandes und der 
Aeltesten erhob man gegen den Entwurf heftigen Widerspruch. Die 
hauptsächlichsten Streitpunkte bestanden in folgendem: 

Die Berufung der Maklerkammer soll nur auf Antrag des Staats- 
kommissars, der Handelskammer, von 5 Mitgliedern der Makler- 
kammer und 20 Kursmaklern erfolgen, dagegen nicht mehr auf An- 
trag der Aeltesten der Kaufmannschaft. Da aber die letzteren in 
Verwaltungsangelegenheiten die letzte Instanz der Börse bleiben, 
wird von ihnen das Recht in Anspruch genommen, über einen Ver- 
waltungsstreitfall einen Beschluß der Maklerkammer herbeizuführen. 

Die Beschwerden über die Amtstätigkeit der Kursmakler sollen 
nicht mehr wie seither an den Börsenvorstand, sondern an den 
Staatskommissar oder an die Maklerkammer gerichtet werden. Dann 
erlangt aber der Börsenvorstand keine Kenntnis mehr von den Be- 
schwerden in Disziplinarsachen, über die von der Maklerkammer zu 
beschließen ist. Die meisten Beschwerden haben jedoch die Fest- 
stellung der Kurse zum Gegenstande, über welche die Börsen- 
kommission zu befinden hat. Letztere hält daher eine Kenntnis der 
Beschwerden für unumgänglich notwendig. Falls hierbei auf die 


616 Georg Wermert, 


Amtstätigkeit der Kursmakler zurückzugreifen ist, ist die Beschwerde 
von dem Börsenvorstande an die Maklerkammer weiterzugeben. 

Bisher bewilligten die Aeltesten der Kaufmannschaft die Urlaubs- 
gesuche der Kursmakler, die beim Börsenvorstande anzubringen 
waren. Das Streben der Kursmakler geht nun dahin, in dieser 
Frage vom Börsenvorstande und der unmittelbaren Aufsichtsbehörde 
gänzlich unabhängig zu werden. Deshalb sollen in Zukunft die Ur- 
laubsgesuche an die Maklerkammer gerichtet und seitens der An- 
stellungsbehörde genehmigt werden. — Nach Ansicht der Börsen- 
kommission verlangt jedoch die ordnungsmäßige Abwickelung des 
Verkehrs die Anwesenheit des Kursmaklers und nicht die seines 
Stellvertreters. Es werden deshalb am geeignetsten die Urlaubs- 
gesuche vom Börsenvorstande genehmigt, da auch den nachträglichen 
Benachrichtigungen über den bewilligten Urlaub ihrer Ansicht zu- 
folge kein erheblicher Wert beizumessen ist. 

Durch die Bewilligung der Urlaubsgesuche seitens der An- 
stellungsbehörde wird allerdings das Verhältnis der Kursmakler 
zum Börsenverkehre etwas gelockert, ihre Unabhängigkeit hebt sich 
gegenüber den vielfach an sie herantretenden Einflüssen. Es konnte 
demnach kaum fraglich erscheinen, was im öffentlichen Interesse 
nach dieser Richtung zu tun war. 

Der wichtigste Streitpunkt lag in der Gestaltung der Kurs- 
notierung. Die Maklerkammer forderte, daß die Feststellung der 
Kurse gänzlich den Kursmaklern übertragen werden möge. Dieser 
Zustand bestehe jetzt schon. eine tatsächliche Aenderung werde da- 
mit also nicht durchgeführt. Der Börsenkommissar spiele nämlich 
bei der Kursfeststellung nur eine überflüssige, stumme Figur, die 
im Interesse der Richtigkeit der Kurse zu entbehren sei. — Tat- 
sächlich bereiten die Kursmakler an der Schranke, d. h. im offenen 
Markte die Kurse vor und geben ihre Feststellungen den Sekretären 
im Notierungszimmer kund. Die amtierende Kommission des Börsen- 
vorstandes kann unmöglich eine Uebersicht über die zahlreichen 
Kurse besitzen, die zu notieren sind, weshalb sie nur dann einzu- 
greifen vermag, wenn von irgend einer Seite Widerspruch erhoben 
wird. Aber selbst bei einem solchen bildet das Maklerbuch die 
sicherste Unterlage für die Gestaltung der Kurse. Nach Ansicht 
der Maklerkammer treten Einsprüche nicht sehr zahlreich hervor. 
In mehreren Fällen wird bereits bei der Vorbereitung der Kurse 
an der Schranke Einspruch erhoben, und falls eine Einigung zwischen 
Kursmakler und Antragsteller nicht zu stande kommt, kann ein 
amtierendes Mitglied des Börsenvorstandes zur endgültigen Ent- 
scheidung an die Schranke gerufen werden. In gleicher Weise 
werden Einsprüche gegen den angeschriebenen ersten Kurs erledigt, 
der, soweit sich nicht Einsprüche geltend machen, als der anerkannte 
erste Kurs gilt. 

Zur Erledigung solcher Streitfälle ließe sich allerdings auch 
wohl eine Kommission aus Mitgliedern der Maklerkammer bilden, 
die täglich zur Stelle sein muß. 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete, 617 


Wenn sonach der Börsenvorstand bei der Kursnotierung ent- 
behrlich erscheinen kann, so ist zu erwägen, ob nicht bei ihrer 
Uebertragung auf die Kursmakler eine Einseitigkeit der Kursfest- 
stellung platzgreifen wird. Ein großer Teil des Verkehrs an der 
Börse vollzieht sich nicht durch die Kursmakler, sondern durch freie 
Makler und Maklerbanken. Wenn der Kurs der wirklichen Ge- 
schäftslage des Verkehrs an der Börse entsprechen soll, dürfen die 
umfangreichen Kassa- und Ultimogeschäfte der freien Makler und 
der Maklerbanken nicht unberücksichtigt bleiben, zumal diese oft 
ein Vielfaches derjenigen der Kursmakler bilden. Die Geschäfte der 
letzteren werden angesagt, um durch die ersteren ihre Korrektur 
zu erhalten. Wird dieser große Verkehr ausgeschaltet, dann treten 
die Fälle immer zahlreicher in die Erscheinung, daß durch Berück- 
sichtigung einiger weniger durch Kursmakler abgeschlossenen Ge- 
schäfte ein nicht zutreffendes Bild von den Kursen gegeben wird, der 
Kurszettel demnach keine objektive Wahrheit enthält. — Ferner ist 
behauptet worden, daß der Kursmakler als Händler bei der Kursfest- 
stellung interessiert sei, der Börsenvorstand dagegen den Kursen 
unparteiisch gegenüberstände. Solches ist aber nur cum grano salis 
zu nehmen; denn die Mitglieder des Börsenvorstandes sind gleich- 
falls Börsenkaufleute, welche die Börse besuchen, um Geschäfte zu 
machen. Auf was für Papiere ihr augenblickliches Interesse sich 
erstreckt, vermag niemand zu sagen. Dazu haben sie hierüber keinem 
Auskunft zu geben. Der Kursmakler ist insofern unparteiischer, als 
sich bei ihm Angebot und Nachfrage ziemlich ausgleichen und er fast 
nur Vermittler von Geschäften ist. Soweit ihm ein beschränktes Ein- 
trittsrecht gewährleistet ist und er hiervon Gebrauch macht, kann 
er zwar auch als Händler in Betracht kommen. Wie stark diese seine 
Interessen sind, ist aus seinem Buche zu erkennen, das auf Ver- 
langen vorgelegt werden muß. Dennoch gibt das Tagebuch des 
Kursmaklers keineswegs eine sichere Gewähr dafür, daß er den 
Kursen objektiv gegenübersteht; denn er kann seine Kenntnis des 
Geschäftsverkehrs, die er durch seine eingehenden Beziehungen zu 
Großbanken und Bankiers erhält, dadurch ausnutzen, daß er durch 
Substituten oder Freunde umfangreiche Geschäfte für eigene Rechnung 
ausführen läßt, bei denen eine gebeugte Kursfeststellung für ihn 
persönlich von Nutzen ist. Dieser Fall würde dem anderen gleich- 
kommen, falls er zu Gunsten der Geber bedeutender Aufträge, die 
seinen Verdienst erheblich erhöhen, eine nicht völlig zutreffende Fest- 
stellung der Kurse bewirkt. Mit diesen Handlungen verstößt er 
aber gegen seinen Eid, die ihm obliegenden Pflichten getreu zu er- 
füllen, weshalb er seiner Stellung unwürdig ist. 

Allerdings ergibt sich die Kursfeststellung aus dem heftigsten 
Widerstreite der Interessen: der Verkäufer wünscht im regelrechten 
Verkehre einen möglichst hohen, der Käufer einen möglichst niedrigen 
Kurs. Da eine unparteiische Instanz nirgends vorhanden ist, weder 
im Börsenvorstande noch innerhalb der Maklerklasse, weder bei den 
Käufern noch bei den Verkäufern oder. bei den Hilfspersonen des 


618 Georg Wermert, 


Handels, so verlangt das öffentliche Interesse eine Kontrolle von 
unparteiischer Seite. 

Zwar behaupten die Aeltesten der Kaufmannschaft, daß die 
Berliner Börse ihre frühere Größe wegen der absolut zuverlässigen 
Kursfeststellung sowohl im Kassa- wie im Ultimoverkehre erlangt 
habe. Durch die Uebertragung der Kursnotierung auf die Kurs- 
makler werde eine Verbesserung nicht hervorgerufen, sondern die- 
jenige, welche das Börsengesetz durchgeführt habe, werde sogar wieder 
in Frage gestellt. Es sind dies jedoch wohlfeile Behauptungen, für 
die kein Beweis erbracht, ja, nicht einmal versucht worden ist, Be- 
hauptungen, die noch zum Teil mit sich selbst im Widerspruche 
stehen. 

Das Börsengesetz betrachtet die Kursmakler nur als Hülfs- 
personen, welche zur Mitwirkung bei der amtlichen Feststellung des 
Börsenpreises berufen sind (§ 30 Abs. 1 BG.). Dennoch ver- 
stößt die gänzliche Uebertragung der Kursnotierung auf die Kurs- 
makler nicht gegen das Gesetz; denn der Bundesrat hat gemäß 
$ 35 BG. die Befugnis, entgegen den Vorschriften der §§ 29, 30 
und 31 BG. eine abweichende amtliche Feststellung des 
Börsenpreises von Waren oder Wertpapieren für einzelne Börsen 
zuzulassen. Der Landesregierung steht indessen die gleiche Be- 
fugnis nicht zu. Soll daher für Berlin eine Uebertragung der Kurs- 
notierung auf die Kursmakler stattfinden, so hat die preußische Re- 
gierung hierüber einen Beschluß des Bundesrates zu extrahieren. 
Ein derartiger Antrag Preußens ist nicht unberechtigt; denn $ 3 
BG. ist nicht nur für die hanseatischen Börsen geschaffen, um 
ihre auf historischer Entwickelung beruhende, abweichende Kurs- 
notierung auch weiterhin zu ermöglichen, sondern er besitzt eine 
allgemeine Bedeutung. Es kann daher auch die Kursfeststellung 
der Berliner Börse, die sich seither auf Grund der gesetzlichen 
Vorschriften entwickelt hat, gemäß Ziffer 1 des $ 35 BG. einer 
Aenderung unterzogen werden, falls eine solche sich als wünschens- 
wert herausstellt, oder sich als notwendig erweist. Es fragt sich 
nur, zu welchem Beschlusse die preußische Regierung auf Grund 
der genauesten Erwägung der vorliegenden . Angelegenheit gelangt. 
Nicht nur an hanseatischen Börsen, sondern auch in Frankfurt a. M. 
besteht keine Mitwirkung des Börsenvorstandes bei der Kursfest- 
stellung. In dieser Stadt hat allerdings keine Gruppenbildung platz- 
gegritien, jeder Makler kann jedes Papier handeln, und die Kurse 
werden von sämtlichen Kursmaklern festgestellt. Die Oeffentlichkeit 
ist daselbst so groß, daß man eine besondere Ueberwachung der 
Notierung nicht für erforderlich hält, trotzdem in jener Stadt be- 
deutende Umsätze stattfinden und die daselbst festgestellten Kurse 
für einen erheblichen Teil des Deutschen Reiches als maßgebend an- 
gesehen werden. 

Eine Etappe zur weiteren Selbständigmachung war der Vorstoß 
der Kursmakler, sich dem Ehrengerichte zu entziehen. Nach $ 10 
BG. hat das Ehrengericht seine Tätigkeit auf alle Börsenbe- 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden etc. 619 


sucher zu erstrecken. Gemäß $ 2 Absatz 2 der Börsenordnung 
gelten als Börsenbesucher, soweit sie zur Börse zugelassen sind: 
gegenwärtige und frühere Inhaber von Handelsfirmen, ferner, soweit 
deren Firmen bezw. Gesellschaften am Börsenverkehr beteiligt sind, die 
Vorstandsmitglieder von Aktiengesellschaften, die persönlich haften- 
den Gesellschafter von Kommanditgesellschaften und Kommandit- 
gesellschaften auf Aktien, die Geschäftsführer und die Gesellschafter 
einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung und die Vorsteher einge- 
tragener Genossenschaften, dann die Prokuristen der vorbezeichneten 
Firmen und Gesellschaften. Die Kursmakler dürfen nach $ 32 BG., 
soweit nicht die Landesregierung Ausnahmen zuläßt, kein sonstiges 
Handelsgewerbe betreiben, auch nicht an einem solchen als Kom- 
manditist oder stiller Gesellschafter beteiligt sein; ebensowenig 
dürfen sie zu einem Kaufmanne in dem Verhältnisse eines Proku- 
risten, Handlungsbevollmächtigen oder Handlungsgehilfen stehen. 
Dagegen sind die Geschäfte der Handelsmakler als Handelsgewerbe 
zu betrachten, sobald sie gewerbemäßig ausgeführt werden. Da nun 
nach $ 1 HGB. derjenige Kaufmann im Sinne des Handelsgesetzbuches 
ist. welcher ein Handelsgewerbe betreibt, und die Handelsmakler als 
Kaufleute ihre Firma in das Handelsregister eintragen lassen müssen, 
so sind auch die Kursmakler gleich den freien Handelsmaklern gemäß 
$ 2 Abs. 2 der Börsenordnung Börsenbesucher im Sinne des Börsen- 
gesetzes und als solche unterstehen sie nach $ 10 BG. dem Ehren- 
gerichte. Sollten sie ihm daher entzogen werden, so werden sie da- 
mit als eine eigene Körperschaft von dem Selbstverwaltungsorganis- 
mus der Börse losgelöst. Ihre Eigenschaft als Börsenkaufleute muß 
dabei zurücktreten auf Grund ihrer Beamtenqualifikation. 

Nach gleicher Richtung zielt das Bestreben der Kursmakler, 
dahin zu wirken, daß die Befugnis, Grundsätze und Regeln für ihre 
Börsentätigkeit aufzustellen, von der unmittelbaren Aufsichtsbehörde 
auf die Maklerkammer übertragen werden soll. Der Börsenvorstand 
wünscht dieses Recht der Handelskammer zu erhalten; denn sonst 
könnten die Anordnungen, die der Börsenvorstand oder die Handels- 
kammer für notwendig erachteten, von der Maklerkammer durch- 
kreuzt werden. Dazu verlangt der Börsenvorstand, daß auch die 
Geschäftsordnung, welche sich die Maklerkammer zu geben befugt 
ist, der Handelskammer zur Genehmigung unterbreitet werden soll 
und daß ferner dieser die Aufsicht über die Maklerkammer über- 
tragen werde, wie ihr auch das Recht zustehen müsse, Mitglieder zu 
den Sitzungen der Maklerkammer zu entsenden. Den Jahresbericht 
soll die letztere wie bisher dem Börsenvorstande, der Börsenauf- 
sichtsbehörde und dazu auch der Börsenverwaltungsbehörde einsenden, 
da dessen Kenntnisnahme für sie notwendig sei. 

Der Vorstoß der Maklerkammer wurde nicht nur mit dieser Ab- 
wehr, sondern auch mit kräftigen Gegenstößen des Börsenvorstandes, 
wie der Börsenverwaltungsbehörde gegen die Kursmakler erwidert. 
Bisher hatte der Börsenvorstand gemäß $ 21 Abs. 2 der Bekannt- 
machung vom 4. Dezember 1896 das Recht, falls sich Zweifel und 


620 Georg Wermert, 


Differenzen bei der Feststellung der Kurse ergaben, die Vorlegung 
der Tagebücher der Kursmakler zu verlangen und unter Verdeckung 
der Namen der Kontrahenten Einsicht von ihnen zu nehmen. Durch 
die Verdeckung der Namen findet sich der Börsenvorstand in der 
Ausübung seiner Pflichten gehindert, auch wird sie von ihm als ein 
Mißtrauen in die Unparteilichkeit der Vorstandsmitglieder aufgefaßt, 
weshalb dieser Vorbehalt verschwinden müsse. 

Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß die Kenntnis der Namen 
nichts mit der Kursnotierung zu schaffen hat, da es sich bei dieser 
Tätigkeit nur um die authentische Feststellung der wirklich bezahlten 
Preise handelt. Durch Offenlegung der Namen werden aber die 
Maklerbücher dem Börsenvorstande gänzlich preisgegeben, was nicht 
statthaft ist, solange die Vorstandsmitglieder selbst Börsenkaufleute 
sind und Gelegenheit nehmen, je nach ihrer Kenntnis der Marktlage 
Aufträge zu Käufen und Verkäufen zu geben. — 

Ferner wünscht der Vorstand eine Beschränkung der Tätigkeit 
der Kursmakler auf Börsenbesucher, die im Besitze einer Börsen- 
karte sind (§ 15 der Börsenordnung). Dieses Verlangen wird damit 
begründet, daß nach der herrschenden Usance die Dreimänner- 
kommission, durch welche Streitigkeiten an der Börse sofort zum 
Austrage gebracht werden, nur gegen Börsenbesucher einschreiten 
kann. Haben daher die Kursmakler Geschäfte vermittelt, bei denen 
nur der eine Teil den Börsenusancen unterworfen ist, so kann bei 
entstandenen Differenzen von diesem äußerst praktischen Hilfsmittel 
kein Gebrauch gemacht werden. Er ist daher auf einen weit 
schwierigeren und kostspieligeren Weg angewiesen. Die Tragweite 
dieses unschuldig aussehenden Antrages wird weiter unten näher 
beleuchtet werden. 

Dann wünscht der Börsenvorstand, daß ihm regelmäßig von 
erheblichen Verfehlungen eines Kursmaklers amtlich Mitteilung ge- 
macht werde. 

Ein anderer bedeutender Vorstoß des Börsenvorstandes richtet 
sich gegen die Verteilung der Geschäfte unter die einzelnen Kursmakler 
(Gruppenbildung) durch die Maklerkammer. Dieses Recht sei auf- 
zuheben und dem Börsenvorstande wieder zu übertragen. Die Makler- 
kammer suche die Verteilung unter dem Gesichtspunkte eines finan- 
ziellen Ausgleiches zu bewirken, damit den Kursmaklern ein möglichst 
gleichmäßiges Einkommen gesichert werde. Solches liege nicht im 
Interesse der Verkehrsentwickelung, nach welcher die in Frage 
kommenden Papiere stets denjenigen Kursmaklern zugeteilt werden 
müßten, welche die für sie erforderlichen Erfahrungen und Geschäfts- 
kenntnisse in größtem Maße besitzen. 

Würde man diesem Ansinnen stattgeben, dann könnten allerdings 
die Banken sich die ihnen gefügigsten Kursmakler bei ihren Emissionen 
aussuchen, damit sie in ihnen willige Helfer betreffs der jeweiligen 
Gestaltung der Kurse fänden! — 

Die ganze Angelegenheit spitzte sich schließlich zu einem Kampfe 
zwischen den großen Banken und Bankiers einerseits und der Kurs- 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 621 


maklervertretung andererseits zu, wobei es sich um die Herrschaft 
über die Kursgestaltung drehte, d.h. umden Kern- und Knoten- 
punkt der gesamten Börse, und es wurden seitens der mäch- 
tigen Hochfinanz nicht mißzuverstehende Drohungen ausgestoßen, 
nämlich, wenn die Kursmakler in diesem Streite siegen würden, dann 
dürfte wohl eine lebhafte Verstimmung gegen sie an der Börse 
hervortreten. — > 

Allerdings haben die Vertreter der Hochfinanz es in ihrer Macht, 
den Kursmaklern viele oder wenige Aufträge zuzuführen. Bei einer 
Steigerung der Gegensätze und einer nachhaltigen Verstimmung ist 
sie tatsächlich in der Lage, die bei weitem überwiegende Mehrheit 
der Aufträge, die von ihr überhaupt an die Börse gelangen, durch 
die Maklerbanken und die freien Makler, d. h. durch die Kulisse 
ausführen zu lassen und die Kursmakler noch mehr, als es seither 
schon geschehen, aufs Trockene zu setzen. Ihnen könnte man sodann 
nur so geringe Mengen von Aufträgen zuerteilen, damit lediglich 
die Kurse in der beabsichtigten Weise beeinflußt werden. Die Ein- 
nahmen der Kursmakler, die sonst infolge der hohen Kurtage statt- 
lich fließen, werden mithin nur noch tropfenweise sickern. Ihre Ab- 
hängigkeit von der hohen Finanz wird ihnen daher recht kräftig zu 
Gemüte geführt. Aber nicht bloß dies, sie werden auch in amtlichen 
Schriftstücken in ihrer geschäftlichen Tätigkeit verdächtigt. Der 
Börsenvorstand deutet an, daß sich die Banken und Bankiers bei 
ihren großen Aufträgen den Kursmaklern anvertrauen müssen und 
nicht verhindern können, daß diese ihre auf solche Weise erlangten 
Erfahrungen trotz des beschränkten Selbsteintrittsrechtes durch Sub- 
stituten oder Gehilfen ausnutzen. Möglich ist es allerdings und 
kann auch in dem einen oder anderen Falle wohl in Wirklichkeit 
vorkommen, trotz der für den Kursmakler hervortretenden Gefahr, 
beim Mißlingen der Spekulation seine ganze Existenz aufs Spiel zu 
setzen. — 

Der Börsenvorstand glaubt, das Wesen der Kursmakler der Re- 
gierung recht kräftig zeichnen zu müssen. Die Kursmakler sind 
nach ihm Börsenkaufleute, die Geld verdienen wollen. Zahlreiche 
Bewerbungen finden um einen erledigten Posten statt. Die Kurtage 
der Kursmakler ist hoch bemessen, sie steht in keinem Verhältnisse 
zum Verdienste des Bankiers, der in der sinkenden Provision liegt. 
Dazu ist der Geschäftsgewinn der Kursmakler ein fast risikoloser, 
während die Banken und Bankiers viel leichter Verlusten ausgesetzt 
sind und dazu noch mit höheren Unkosten zu rechnen haben. Wenn 
nun die Kursmakler ihren Geschäftsverkehr selbst zu regeln berechtigt 
wären, dem Börsenvorstande die Kursfeststellung entzogen und ihnen 
übertragen werden sollte; wenn sie dem Ehrengerichte nicht mehr 
unterworfen wären und die Börsenordnung, sowie das Börsengesetz 
für sie nicht in Frage käme: so müßte sich der Börsenbesucher eine 
Erbitterung bemächtigen, die darauf hinausgehe, Mittel und Wege 
ausfindig zu machen, um die Dienste dieser früher als Hilfspersonen, 
Jetzt aber als die Herren der Börse zu betrachtenden Kursmakler 


622 Georg Wermert, 


entbehrlich zu machen. Es wäre zu erwägen, ob nicht die ganze Ein- 
richtung der Kursmakler zu beseitigen sei, oder ob man dieselben 
der Eigenschaft als Kaufleute entkleiden müßte, um sie in Börsen- 
beamte mit festem Gehalte umzuwandeln. — 

Das Letzte ist wohl als eine nicht unwirksame Drohung aufzu- 
fassen, um die Kursmakler von ihrem weiteren Streben nach Sellst- 
ständigkeit abzuschrecken, weil sie durch Umwandlung ihrer Stellung 
in Börsenbeamte allerdings des größten Teiles ihres bisherigen, nicht 
geringen Einkommens entkleidet werden würden. — 

In ähnlicher Weise betont auch die Börsenverwaltungsbehörde, 
daß es den Gesamtinteressen der Börse zuwiderlaufe, wenn die Ab- 
sicht der Maklerkammer darauf hinausginge, den Wettbewerb der 
freien Makler und der Maklerbanken zu beseitigen und die Kurs- 
makler zu Herren der Börse zu machen. Sie erstreben ein privat- 
wirtschaftliches Monopol, daher entstehen die Reibungen zwischen 
ihnen und den freien Maklern an der Börse. Es dürfen weder die 
Kursmakler in den Hintergrund gedrängt, noch die freien Makler 
ausgeschaltet werden. Die umfassende Vermittlertätigkeit der Börse 
läßt ein Zusammenarbeiten beider zu. Nach den Aeltesten darf ihre 
privatwirtschaftliche Vermittlertätigkeit nicht über diejenigen Befug- 
nisse erhöht werden, die ihnen durch das Privileg der Mitwirkung 
bei der Kursfeststellung gewährt wird. 

Wie sehr die Erbitterung bereits während des Kampfes sich 
geltend gemacht hatte, erhellt aus der Aeußerung der Aeltesten, dab 
die bisherige Unparteilichkeit in der Kursfeststellung in eine Partei- 
lichkeit umgewandelt werde, falls sie den Kursmaklern übertragen 
werden sollte. Die Uebertragung der Geschäftsverteilung an die 
Maklerkammer (Gruppenbildung) habe bereits eine tiefgreifende Miß- 
stimmung unter den Börsenbesuchern und den Kursmaklern selbst (!) 
hervorgerufen. Der Maklerkammer, die wagt, die Interessen der ihr 
unterstellten Kursmakler zu vertreten, wird jegliches Sachverständnis 
von vornherein abgesprochen. Wie darf sich auch dieses Institut 
neben den bisher fast unbeschränkten Herrschern der Börse geltend 
machen wollen! Von ihr wird behauptet, daß sie nicht mit Sach- 
kenntnis und Unbefangenheit urteilen könne über Angelegenheiten, 
die, soweit allgemeine Gesichtspunkte in Frage kommen, die Makler- 
kammer wenig berühren, soweit es sich aber um persönliche Interessen 
handele, die Objektivität der Beurteilung beeinträchtigen. Wann ist 
nun aber die arme Maklerkammer sachverständig? Sie muß wohl 
(da sie es niemals sein kann, denn es wird ihr solches von einer sich 
gewiß für sachverständig haltenden Behörde abgesprochen), wie jener 
Kretin im Salzburgischen, jeden Vorübergehenden um Verzeihung 
bitten, daß Gott sie geschaffen habe? — 

Wenn aber obiges für die Maklerkamm er zutreffend sein dürfte. 
könnte sie unseres Erachtens dasselbe mit gleichem Rechte von der 
Börsenverwaltungsbehörde behaupten. — 

Durch den Erlaß vom 27. November 1897 war bereits, wie be- 
merkt, die Geschäftsverteilung der Maklerkammer etwas modifiziert 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 623 


worden. Die Regierung wich vor der Hochfinanz, die mit ihrem 
vollen Zorne gedroht hatte, ein wenig zurück. Jetzt war die Zeit 
gekommen, die ganze Berechtigung der Maklerkammer wieder zu 
nehmen, weil sie dahin führte, die Auftragegber an der Börse, die 
durch ihre Aufträge die Vorbedingung und die Grundlage der Ver- 
mittlertätigkeit bilden, in den Hintergrund zu drängen zu Gunsten 
der Kursmakler. 

Die Spannung zwischen Kursmaklern und freien Maklern an der 
Börse wurde tatsächlich immer straffer. Erstere weigerten sich ge- 
radezu, Aufträge von diesen entgegenzunehmen. Auf eine Klage 
an die Börsenaufsicht entschied diese gegen die Kursmakler. Die 
Urteilsbegründung führte aus, daß die Börse den gesamten Verkehrs- 
interessen zu dienen habe. Jeder Börsenbesucher besitze das gleiche 
Recht auf Benutzung der Börseneinrichtungen. Diese dienen nicht 
dazu, um einer Gruppe Vorteile auf Kosten einer anderen zu ver- 
schaffen. 

Dieses Urteil dürfte jedoch vor einer strengen Kritik nicht be- 
stehen. Haben doch selbst die Börsenaufsichtsorgane, um den privaten 
Charakter der Kursmakler besonders hervorzuheben, betont, daß sie 
Kaufleute seien, die Geld verdienen wollten und Beamte nur inso- 
weit, als sie Hilfspersonen bei der Kursnotierung darstellen. Als 
Kaufleute haben sie unbestritten das Recht, Geschäfte abzuschließen 
oder Geschäftsabschlüsse zu verweigern, soweit es ihnen nach je- 
weiliger Sachlage tunlich erscheint. Nach dieser Richtung bilden 
sie ebensowenig eine Börseneinrichtung wie die freien Makler oder 
die ganze Kulisse. Da nun die Weigerung, Aufträge eines freien 
Maklers entgegenzunehmen mit der amtlichen Eigenschaft des Kurs- 
maklers als Hilfsperson bei der Kursnotierung nichts zu schaffen 
hat, kann er von Rechts wegen nicht zu einem derartigen Geschäfts- 
abschlusse gezwungen werden. 


4. Die neue Maklerordnung in ihren wesentlichsten 
Grundzügen. 


In der neuen Maklerordnung, die nach dem geschilderten 
Kampfe unterm 9. Juli 1906 erlassen worden ist, sind trotz oder in- 
folge des leidenschaftlichen Streites nur wenige Veränderungen 
gegen früher zu verzeichnen. Die Regierung hat eine durch- 
greifende Umgestaltung des Verhältnisses der Kursmakler zum 
Börsenvorstande und der unmittelbaren Aufsichtsbehörde nicht ge- 
wagt. Einesteils bleiben die Kursmakler die Hilfspersonen bei der 
Kursfeststellung, und diese wichtige Sache ist ferner dem Börsen- 
vorstande überantwortet bezw. den von ihm beauftragten Börsen- 
kommissaren; sie sind auch in Zukunft als Börsenbesucher dem 
Ehrengerichte unterworfen, und ihr Charakter als Kaufleute er- 
fährt keine Wandelung; andernteils wird ihre Eigenschaft als Beamte 
befestigt, ihre Stellung gegenüber dem Selbstverwaltungskörper der 
Börse etwas unabhängiger als seither gestaltet, und der Makler- 


624 Georg Wermert, 


kammer verbleibt die Geschäftsverteilung (Gruppenbildung) der 
Kursmakler. Durchweg ist es die mittlere Linie, welche die neue 
Maklerordnung zwischen den streitenden Parteien verfolgt. 

Die Abhängigkeit der Kursmakler vom Börsenvorstande und 
der unmittelbaren Börsenaufsichtsbehörde besteht gegenwärtig in 
Nachstehendem: Die Kursmakler haben den Mitgliedern des Börsen- 
vorstandes, welche mit der amtlichen Feststellung der Kurse und 
Preise beauftragt sind, die hierzu geforderten Erklärungen nach 
bestem Wissen der Wahrheit gemäß abzugeben. Bei Zweifeln und 
Streitigkeiten ist das die Feststellung leitende Mitglied des Börsen- 
vorstandes befugt, eine ausdrückliche protokollarische Erklärung der 
Kursmakler unter Hinweis auf den geleisteten Eid zu erfordern und 
nach seinem Ermessen die Richtigkeit durch Einsicht in die Tage- 
bücher der Kursmakler oder in anderer Weise zu prüfen. Die 
Kursmakler sind befugt dabei die Namen der Auftraggeber zu ver- 
decken. Dem Ansinnen des Börsenvorstandes, auch von den Namen 
der Auftraggeber Kenntnis zu nehmen, hat die Regierung, wohl- 
bedacht, keine Folge gegeben !). 

Ferner ist der Geschäftsverkehr auf die Börsenbesucher be- 
schränkt worden, die im Besitze einer zum Abschlusse von Ge- 
schäften berechtigenden Karte sich befinden. Sie sind zur Ver- 
schwiegenheit verpflichtet, soweit nicht das Gegenteil durch die 
Parteien zugestanden oder durch die Natur der Geschäfte ge- 
boten ist. 

Gemäß $ 28 der Maklerordnung unterstehen die Kurs- 
makler, wie alle Börsenbesucher, der Börsenleitung und dem Ehren- 
gerichte, während nach $ 13 cit. die Aufsicht über die Kurs- 
makler der Maklerkammer übertragen wird, unbeschadet der Befug- 
nisse, welche dem Staatskommissar, der Handelskammer und dem 
Börsenvorstande zustehen. 

Gutachten sind von der Maklerkammer auf Erfordern außer an 
staatliche Behörden auch an die Aeltesten der Kaufmannschaft zu 
erstatten. 

Mit Vorstehendem ist die Abhängigkeit der Kursmakler von 
dem Selbstverwaltungskörper der Börse und ihr unmittelbares Auf- 
sichtsorgan gekennzeichnet. Ihr Amtscharakter ist dagegen in 
mehrfacher Hinsicht verschärft worden. 

Die Bestellung der Kursmakler erfolgt auch ferner durch den 
Oberpräsidenten. Die Vereidigung vollzieht der Staatskommissar 
in dessen Auftrage. Vor der Bestellung sind Handelskammer und 
Maklerkammer zu hören. Erstere hat eine gutachtliche Meinungs- 
äußerung vom Börsenvorstande einzuholen. Die Berichte sind an 
den Staatskommissar zu richten, der sie dem Oberpräsidenten unter- 
breitet. Hiernach ist die Maklerkammer dem unmittelbaren Auf- 
sichtsorgane der Börse, der Handelskammer, in betreff der Bericht- 


1) § 24 der Maklerordnung für die Kursmakler an der Berliner Börse vom 
9. Juli 1906. 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 625 


erstattung neben geordnet, während der Börsenvorstand als unter- 
geordnetes Organ erscheint. Er hat keinen selbständigen Bericht 
zu erstatten, sondern seine Meinungsäußerung bildet bloß Material 
für das Gutachten der Handelskammer, die seiner Meinung beizu- 
treten vermag, sie aber auch zu verwerfen im stande ist. Im 
letzteren Falle gelangt die Aeußerung der Börsenkommission über- 
haupt nicht bis zum Oberpräsidenten !). 

Die Bestallung der Kursmakler wird durch den Oberpräsidenten 
ausgefertigt. Die Entlassung geschieht gleichfalls durch den Ober- 
präsidenten, der vorher die Handelskammer und die Maklerkammer 
anzuhören hat. Ursachen der Entlassung sind: grobe Verletzung 
der obliegenden Pflichten, ein Verhalten in und außer dem Amte, wo- 
durch er sich der Achtung, des Ansehens und des Vertrauens unwürdig 
zeigt, das sein Beruf erfordert, ferner Unfähigkeit, seinen Beruf zu 
erfüllen. Dem Staatskommissar ist die Befugnis verliehen worden, 
in dringenden Fällen dem Kursmakler vorläufig die Ausübung seines 
Amtes zu untersagen. 

Durch die Bestellung ist der Kursmakler ohne weiteres zum 
Besuche der Börse zugelassen. 

Die Kursmakler müssen in allen Börsenversammlungen während 
ihrer ganzen Dauer zugegen sein. Bei Beurlaubung oder Krankheit 
schlägt der Kursmakler seine Vertretung vor. Die Maklerkammer 
kann ihn in besonderen Fällen von der Vertretung befreien. Die 
Befugnisse des Stellvertreters endigen mit der Erklärung des Kurs- 
maklers, die an die Maklerkammer zu richten ist. Die Beur- 
laubungen sind bei der Maklerkammer zu beantragen und vom 
OÖberpräsidenten zu bewilligen. Ihr Höchstmaß beträgt 2 
Monate im Jahre. 

Demnach sind in diesem Punkte Handelskammer und Börsen- 
vorstand nicht durchgedrungen, und die Beamteneigenschaft der 
Kursmakler ist hierin wesentlich verschärft worden. 

Das Recht, Käufe und Verkäufe gleich den Handelsmaklern 
gemäß dem Handelsgesetzbuche und dem Bürgerlichen Gesetzbuche 
auszuführen, wird den Kursmaklern gewahrt, nur fallen hierunter 
keine Versteigerungen. Um eine bequeme Kontrolle für den Staats- 
kommissar und die Maklerkammer zu ermöglichen, haben die Kurs- 
makler die für eigene Rechnung oder im eigenen Namen abge- 
schlossenen Geschäfte sowie die übernommenen Bürgschaften 
($ 32 Abs. 1 BG.) in ihren Tagebüchern täglich zur Vollziehung 
der Unterschrift übersichtlich zusammenzustellen. 

Die Maklerkammer, der nach wie vor die Geschäftsverteilung 
gewahrt geblieben ist, hat die Gruppenbildung jährlich in der ersten 
Hälfte des Dezember für das nächste Kalenderjahr vorzunehmen. 
Sie kann nach Bedürfnis während des Laufes des Jahres abgeändert 
werden. Die Geschäftsverteilung wie die nachträgliche Abänderung 
ist dem Staatskommissar wie dem Börsenvorstande mitzuteilen. 


LJ 
1) § 2 cit. 
Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVII). 40 


626 Georg Wermert, 


Beide Organe können jederzeit eine Abänderung beantragen, sowie 
Einspruch gegen die Beschlüsse der Maklerkammer bei dieser ein- 
legen, wobei die Handelskammer in letzter Instanz entscheidet. 

Nach $ 28 der Maklerordnung ist die Aufsicht über die Kurs- 
makler der Maklerkammer und dem Staatskommissar übertragen 
worden. Beschwerden über die Amtstätigkeit der Kursmakler sind 
an den Staatskommissar zu richten, welcher der Maklerkammer sowie 
dem Börsenvorstande hiervon Kenntnis gibt. Verletzt ein Kurs- 
makler seine Pflichten, so hat eine Disziplinarbestrafung durch die 
Maklerkammer zu erfolgen mit Ausnahme der Fälle, in denen der 
Oberpräsident wegen Entlassung oder das Ehrengericht zuständig 
sind. Das Disziplinarverfahren tritt dann in Anwendung, wenn ein 
Kursmakler die Grundsätze und Regeln verletzt, welche von der 
Maklerkammer für die Ordnung der amtlichen und geschäftlichen 
Tätigkeit der Kursmakler erlassen worden sind, wenn er ohne ge- 
nügende Entschuldigung von der Börse wegbleibt, oder bei der Proto- 
kollierung der Kurse aus Fahrlässigkeit unrichtige Angaben macht. 
Die Strafen bestehen in Warnung, Verweis, Geldstrafen bis zu 1500 M., 
oder Untersagung der Amtsausübung und des Börsenbesuches bis 
zur Dauer von 3 Monaten. 

Die Maklerkammer beschließt über die Eröffnung des Verfahrens, 
bei dem ein Rechtskundiger als Beirat zuzuziehen ist. Von dem 
Syndikus der Handelskammer kann daher abgesehen werden. Im 
nichtöffentlichen Verfahren muß das Urteil von mindestens 7 Kammer- 
mitgliedern gefällt werden. Der Staatskommissar hat dabei die gleichen 
Obliegenheiten wie beim Ehrengerichte. Beiden Teilen steht eine Be- 
schwerde an den Oberpräsidenten zu. Die kaufmännische Aufsichts- 
behörde ist daher als Beschwerdeinstanz gefallen. Die Stellung der 
Maklerkammer hat sich dadurch wesentlich gehoben. — Das Urteil ist, 
wenn es rechtskräftig geworden, dem Börsenvorstande mitzuteilen. 

Des weiteren hat die Selbständigkeit der Maklerkammer eine 
Stärkung dadurch erfahren, daß der kaufmännischen Aufsichtsbe- 
hörde (Handelskammer) die Befugnis genommen ist, Grundsätze 
und Regeln über die geschäftliche Tätigkeit der Kursmakler aufzu- 
stellen. Solches ist der Maklerkammer übertragen worden, nur 
unterliegen die Anordnungen der Genehmigung der Handeskammer 
nach Anhörung des Börsenvorstandes. 

In betreff der Aufsicht haben Staatskommissar und Makler- 
kammer die Befugnis, Einsicht in die Hand- und Tagebücher der 
Kursmakler zu nehmen. 


5. Kritische Bemerkungen zur Maklerordnung. 


Genügt nun dieser etwas heikel zusammengesetzte Apparat, um 
die Genauigkeit der Kursfeststellung zu gewährleisten? Fast sollte 
man es glauben. Haben sich doch selbst anerkannte Fachmänner, 
die dem Börsenverkehre objektiv gegenüberstehen, nach dieser 
Richtung ausgesprochen: „Die Zuverlässigkeit der von den Maklern 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden etc. 697 


börsentäglich festgesetzten Kurse ist eine unanfechtbare, sie kommen 
zustande unter der eifersüchtigen Kontrolle entgegenstehender 
Interessen“ (Dr. v. Lumm, Mitglied des Reichsbankdirektoriums). 

Allerdings bildet die eifersüchtige Kontrolle gegenseitiger 
Interessen die beste Gewähr für die möglichste Richtigkeit der 
notierten Kurse und Preise. Aus Kauf und Verkauf, aus Angebot 
und Nachfrage setzen sich die widerstreitenden Interessen zusammen. 
Findet aber in Wirklichkeit an der Börse ein solch wohltätiger 
Widerstreit statt? 

Um dieses zu erkennen, müssen wir uns den Vorgang der Kurs- 
notierung etwas genauer ansehen. 

Es werden notiert Einheitskurse für den Kassahandel, differen- 
zierte Kurse für den Ultimohandel und für den Kassahandel im 
freien Verkehre, der bekanntlich als Großkassaverkehr an die 
Stelle des Ultimohandels in Bergwerks- und Fabrikpapieren ge- 
treten ist, nachdem durch § 50 Abs. 2 BG. der Börsenternin- 
handel in diesen Papieren in Wegfall kam. Es werden festgestellt 
„erste Kurse“ unmittelbar nach Beginn der Börse um 12 Uhr, die 
amtlichen Kurse um 2 Uhr, an den Sonnabenden um 1Y, Uhr und 
die Schlußkurse etwa um 21/,—3 Uhr, an Sonnabenden gegen 2 Uhr. 
Die Schlußkurse haben für den Tagesverkehr nur geringe Bedeutung. 
Dagegen vermögen sie die ersten Kurse des folgenden Börsentages 
erheblich zu beeinflussen, wenn nicht inzwischen anderweitige Nach- 
richten von Bedeutung der Marktlage ein verändertes Bild auf- 
drängen. Die ersten Kurse für den Ultimohandel oder für die im 
freien Verkehre per Kassa gehandelten Papiere werden durch die Kurs- 
makler auf Grund der bei ihnen eingegangenen Aufträge an die inner- 
halb der Schranken befindlichen schwarzen Tafeln geschrieben. Falls 
nicht unmittelbar ein Widerspruch gegen diese Anschreibungen er- 
folgt, der eine amtliche Entscheidung erfordert, gilt, wie früher bereits 
angedeutet, der vom Kursmakler festgestelte Kurs als anerkannter 
erster Kurs. Es gelangen nun fortgesetzt im Kassaverkelhr, im 
Ultimohandel sowie in freiem Verkehre der Großkassapapiere Auf- 
träge an die Kursmakler, die sich innerhalb der Schranken befinden, 
Aufträge, die je nach Angebot und Nachfrage ihre Erledigung finden, 
oder, namentlich bei limitierten Aufträgen, als unerledigt bis auf 
weiteres im Markte verbleiben. Für die amtlichen Tageskurse, (die 
um 2 bezw. 1'/, Uhr in einem besonderen Zimmer unter Ausschluß 
der Oeffentlichkeit festgestellt werden, kommen in Betracht die von 
den Kursmaklern vermittelten Geschäfte und die ihnen oder den 
Börsenkommissaren mitgeteilten Geschäfte. Die zahlreichen 
Geschäfte, welche zwischen den freien Maklern oder direkt zwischen 
Käufern und Verkäufern zum Abschlusse gelangen, die zusammen 
den Kulissenverkehr bilden, werden bei der Kursfeststellung nicht 
berücksichtigt, oder doch nur insoweit, als es bei einzelnen Geschäften 
beantragt wird. Der Verkehr der Kulisse, der den Parkettverkehr 
der Kursmakler um ein Vielfaches überragt, kommt bei der Kurs- 
feststellung beinahe gar nicht in Frage. Wenn daher der Kurs- 

40* 


628 Georg Wermert, 


notierung durch die Kursmakler entgegengeworfen wird, daß die 
Kursfeststellung nicht das Ergebnis mechanischer Rechnungsope- 
rationen dieser, sondern ein aus der Kenntnis der Gesamtlage der 
Börse geschöpftes Urteil sein müsse, sò ist ein solches Urteil den 
Börsenkommissaren, welche amtlich die Kurse festzustellen haben, 
noch weniger zuzutrauen, als den vielen vereinigten Kursmaklern, die 
bisher offiziell nur Hilfspersonen bei der Kursnotierung darstellten. 
Der Börsenkommissar kennt nur die Geschäfte, die er selbst abge- 
schlossen hat, bei denen er Partei ist, und diejenigen, die ihm mitgeteilt 
werden. Von einer Beurteilung der Gesamtlage, aus der er seine 
Kenntnis zu schöpfen vermag. kann bei den 2300 Kursen, die täglich 
innerhalb einer kurzen Zeit notiert werden, keine Rede sein. Die 
sicherste Unterlage bleibt fortgesetzt das Maklerbuch, in dem die 
tatsächlichen Abschlüsse sowie die vorliegenden, noch unerledigten 
Aufträge notiert sind. Wenn daher von den Börsenaufsichtsbe- 
hörden behauptet wird, daß nur der Börsenvorstand befähigt sei, die 
Gesamtlage zu überschauen, so ist daß eine Phrase, der ein tat- 
sächlicher Inhalt nicht innewohnt, zumal nach Dr. Dove (Bank- 
archiv) der Umfang der Geschäfte eine kollegiale Tätigkeit des Ge- 
samtvorstandes bei der Feststellung der einzelnen Kurse nicht ein- 
mal zuläßt, weshalb solches einigen Börsenkommissaren überlassen 
ist. Diese, denen auch die Schlichtung der Streitigkeiten über die 
Kurse obliegt, vermögen naturgemäß noch weniger zu überschauen, 
als der Gesamtvorstand. 

Nun die mitgeteilten Kurse! Nicht jeder mitgeteilte Kurs kann 
auf Berücksichtigung bei der amtlichen Kursfeststellung Anspruch 
erheben. Von bloßen Behauptungen bis zu erdichteten Geschäften, die 
lediglich die Kursentwickelung beeinflussen sollen, muß selbstverständ- 
lich abgesehen werden. Es dürften eigentlich nur solche mitgeteilte 
(Geschäfte in Frage kommen, deren tatsächlicher Abschluß durch den 
Schlußschein bestätigt wird. Wie aber, wenn jemand, um die Kurse 
zu beeinflussen, den Schlußschein fälscht, die Steuer ruhig bezahlt, 
da sie gegenüber der erwarteten Kursbeeinflussung vielleicht nicht ins 
Gewicht fällt? In solchem Falle könnte nur durch Zitierung des Gegen- 
kontrahenten der Beweis für die Echtheit des Geschäftsabschlusses 
erbracht werden. Da aber bei den zahlreichen Kursfeststellungen 
und den noch ungleich zahlreicheren Geschäftsabschlüssen, die mit- 
geteilt werden, eine Befragung des Kontrahenten in jedem Falle 
ausgeschlossen ist, so vermag sie nur dann stattzufinden, wenn infolge 
abnormer Preisgestaltung oder sonstiger Momente ein begründeter 
Verdacht der Fälschung vorliegt. Die betrügerische oder illegale 
Beeinflussung des Kurses kann daher bei Papieren mit geringem 
Umsatze längere Zeit hindurch betrieben werden, ehe eine Aufdeckung 
möglich ist. Wie aber, wenn der Gegenkontrahent mit im Kom- 
plotte steckt und beide auf Verabredung fortgesetzt durch fingierte 
Geschäfte unter Zahlung der Steuer und Vorlegung des Schluß- 
scheines den Kurs bestimmter Papiere, die kein großes Absatzfeld 
haben — bei anderen ist es nicht zu ermöglichen —, zu fälschen 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden etc, 629 


sich bemühen? Falls beim Kursmakler Aufträge nicht zur Aus- 
führung gelangen, liegt die Kursgestaltung gänzlich in den Händen 
solcher Fälscher, deren Gewerbe, falls sie sich nicht selbst verraten, 
nicht aufgedeckt zu werden vermag. 

Die mitgeteilten Geschäftsabschlüsse bilden ein etwas unsicheres 
Moment in der Kursfeststellung, da bei ihnen die Möglichkeit der 
Fingierung vorhanden sein kann und schließlich ein erdichtetes von 
einem wirklichen Geschäfte nicht zu unterscheiden ist. Es bleibt 
daher zu erwägen, ob beim Bestehen der jetzt üblichen Kursnotierung 
nicht besser die mitgeteilten Geschäfte gänzlich von der, Berück- 
sichtigung bei der Kursfeststellung auszuschließen sind. Dem Be- 
denken, daß der Kreis der Geschäfte, die der Kursnotierung zu 
Grunde liegen, ein zu beengter werden würde und der Kurszettel so- 
mit kein wahres Spiegelbild der Geschäftslage ergebe, tritt. die Er- 
wartung entgegen, daß Banken, Bankiers sowie die gesamte Kulisse, 
falls man eine Berücksichtigung der eigenen Geschäftsabschlüsse 
wünscht, sich sodann an den Kursmakler zu wenden gezwungen sind 
und somit dessen Buch mehr als seither benutzen. 

Gegenwärtig spielt sich der Vorgang der Kursbildung anders 
ab, als er eigentlich sollte. Etwa eine halbe Stunde vor der amt- 
lichen Feststellung der Kurse erscheinen Banken und Bankiers, so- 
wie sonstige Käufer und Verkäufer an der Maklerschranke zum 
„Kursmachen!* Von den beiden Kursmaklern, die eine „Gruppe“ 
bilden, d. h. die mit dem betreffenden Papiere zu handeln amtlich 
angewiesen sind, wird ihnen der Kurs mitgeteilt, wie er sich auf 
Grund der vorliegenden Abschlüsse und Aufträge stellt, oder er 
wird gar, falls kein Andrang stattfindet und der Makler sich über 
den Geschäftsstand vergewissern will, öffentlich ausgerufen. Die 
Kursmakler nehmen dann Mitteilungen über ausgeführte Geschäfte 
entgegen und verhandeln über die Kursgestaltung. Der Interessent 
an höheren Kursen gibt einen Kaufauftrag, derjenige an niederen 
Kursen einen Verkaufsauftrag. Aus diesem Für und Wider schälen 
die Kursmakler den Preis als amtlichen Kurs aus, bei dem die 
meisten vorliegenden Aufträge erledigt werden können. Die sicherste 
Gewähr für die Erledigung ihrer Aufträge haben hierbei diejenigen 
Verkäufer, die einen niedrigen Preis fordern und diejenigen Käufer, 
die einen höheren Preis bieten, als der Durchsehnittskurs angibt. 
Kann eine Einigung der streitenden Parteien über die Höhe des 
Kurses vor der Schranke nicht stattfinden, so ist es Aufgabe der 
Börsenkommissare zu entscheiden auf Grund der Kenntnisnahme (der 
Maklerbücher und sonstiger vorgetragener Umstände. Bei Papieren 
mit kleinerem Verkehr, wie es z. B. viele Industriepapiere, Stadt- 
anleihen etc. sind. ist oft bloß ein einziger Interessent vor (den 
Schranken, nämlich die Bank, durch die das Papier eingeführt 
worden, oder die durch ein Vorstandsmitglied im Aufsichtsrate der 
betreffenden Gesellschaft vertreten ist. Die Beteiligte hat naturge- 
mäß an möglichst hohen Kursen, oder, wenn kein Auftrag zur Aus- 
führung gelangt, an der Notierung eines Geldkurses Interesse, da- 


630 Georg Wermert, 


mit wenigstens das Papier als gefragt im Kurszettel erscheint. Sie 
gibt daher gewöhnlich einen Kaufauftrag, ohne die Absicht zu 
haben, das Papier zu erwerben. Nur kann sie, falls limitierte Auf- 
träge vorliegen, die bisher nicht erledigt werden konnten, notge- 
drungen in die Lage kommen, die Papiere zu übernehmen, wenn 
sie die vorliegenden Verkaufsaufträge nicht kennt. Der Vertreter 
der Bank sucht daher zuvor festzustellen, welche Aufträge sich im 
Markte befinden und gibt dann einen den Verkaufslimiten möglichst 
nahe kommenden Kaufauftrag, wobei dieser mit dem Zusatze „Geld“ 
zur Notierung gelangt. Erniedrigt nun der Verkäufer seinen Auf- 
trag auf den Geldkurs des vorhergehenden Tages, so bietet die Bank 
wieder einen etwas geringeren Kurs, und es entsteht die Erscheinung 
der „Ausweichkurse“, welche der Börse nicht zur Ehre gereichen 
und in der zweiten Hälfte des Jahres 1906 sogar zu amtlichen Er- 
hebungen geführt haben. Der Kaufauftrag ist keineswegs ernst ge- 
meint, er wird öfters nicht einmal als tatsächlicher Kaufauftrag im 
Maklerbuche vermerkt. Vielfach spielt sich die Angelegenheit in 
folgender salopper Art und Weise ab: Der Vertreter der Bank er- 
scheint um 1Y, Uhr an der betreffenden Schranke, wo sich die beiden 
Kursmakler befinden, «denen das Papier zuerteilt ist. Er fragt: 
„Obligationen Orenstein und Koppel, liegt was vor?“ Der Kurs- 
makler blättert in seinem Buche, bis er die Seite dieser Obligationen 
findet: „Ja, 1000 M. zu 103,30° *. — „Sonst nichts?“ — „„Nein!“" — 
„Notieren Sie 103,20“, Trotz des tatsächlich vorliegenden Ange- 
botes, das unerledigt bleibt, erscheint im Kurszettel die Notiz 
103,20 Geld, ohne daß die Bank im Buche des Kursmaklers als 
Käufer zum Satze von 103,20 aufgeführt wird. 

Nachdem auf diese Weise die Kurse „vorbereitet“ worden sind, 
begeben sich die Kursmakler mit dem Glockenschlage 2 oder an 
den Sonnabenden um 1!, Uhr in das Notierungszimmer, woselbst 
die Kurse in größter Schnelligkeit bei Anwesenheit der Börsen- 
kommissare den Sekretären diktiert werden, um dann sofort in die 
Druckerei zu wandern. Größte Eile ist bei der Feststellung von rund 
2300 Kursen geboten, damit der gedruckte Kurszettel unverzüglich 
zur Ausgabe gelangt. Spätestens um 4 Uhr befindet er sich bereits 
in den Händen der Banken und Bankiers, damit noch am gleichen 
Tage den Kunden eine Anzeige über die Ausführung der Aufträge 
zugehen kann. 

Die Kursfeststellung, die eigentlich keine Feststellung, sondern 
nur eine Diktierung ist, muß hinter geschlossenen Türen stattfinden. 
und niemand außer den im Gesetze bezeichneten Personen hat Zu- 
tritt zu ihr. Damit ist dem Wortlaute des Gesetzes genügt, aber 
nicht seinem Geiste. Die Nichtöffentlichkeit der Kursnotierung ist an- 
geordnet, damit anderweitige Beeinflussungen nicht wirksam werden 
sollen. Diese finden jedoch im stärksten Maße seitens der Kulisse 
an der Schranke statt, da die eigentliche Kursfeststellung aus dem 
Notierungszimmer an die Schranke verlegt worden ist. 

Nachdem die Veröffentlichung der Kurse im amtlichen Kurs- 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 631 


zettel bewirkt worden, sind sie als die gesetzmäßigen festgestellt, 
welche vom Börsenvorstande beglaubigt und von den Kursmaklern 
im öffentlichen Verkehre ermittelt worden sind, so wie es die neue 
Maklerordnung vorschreibt. 


6. Wirkung der Ausweichkurse auf die Kursnotierung. 


Ist nun durch die bestehenden Einrichtungen eine sichere Ge- 
währ gegeben, daß der Kurszettel objektive Wahrheit enthält und 
ein getreues Spiegelbild der geschäftlichen Lage der Börse abgibt? 
Das kann keineswegs behauptet werden, zumal die letzte Anordnung, 
die revidierte Maklerordnung, wesentliche Aenderungen in Bezug auf 
die Notierung nicht aufzuweisen hat. Als ein Zeichen der Fälschung 
des Kurszettels haben wir schon die Ausweichkurse erwähnt. Was 
versteht man unter dieser Bezeichnung? Nehmen wir einige tat- 
sächlich an der Börse zu Berlin vorgekommene und von öftentlichen 
Blättern mitgeteilte Beispiele. 

Jemand gab am 6. September 1906 einen kleinen Posten 3!),-proz. 
Potsdamer Stadtanleihe, deren Kurs mit 96,75 Geld festgesetzt war, 
in Verkaufskommission zum vorstehenden Kurse. Obgleich fortge- 
setzt dieses Angebot im Markte war, wurde der Kurs gestrichen. 
Als am 14. September die Kursnotiz 95,70 Geld erschien, ermäßigte 
der Verkäufer sein Limit am 17. September auf 95,60. Die Kurs- 
notiz lautete nunmehr 95,50 Geld. Hierauf wurde das Limit auf 
95,30 ermäßigt. Es erschien am 18. September keine Kursnotiz, 
dagegen am 19. September 95,20 Geld. Ein fortdauerndes Angebot 
war im Markte, doch der Kurszettel enthielt stets eine Geldnotiz, 
bei der ein Handel nicht stattfand. Er täuschte demnach ununter- 
brochen, er spiegelte Nachfrage wieder, während überhaupt keine 
Nachfrage herrschte und der Interessent lediglich bemüht war, ohne 
den angebotenen Posten abzunehmen, den Kurs möglichst zu halten 
und das Papier als begehrt hinzustellen. 

Ein anderer Fall typischer Natur ereignete sich bei dem Ver- 
kaufe von 4-proz. Obligationen der Neuen Gasaktiengesellschaft 
(Nolte) in einem Posten von nur 500 M. Der Kurs war am 28. Sep- 
tember 1906 99,20, am 29. September 99 und zwar bezahlt und Geld. 
Verkäufer gab den geringen Betrag „bestmöglichst“, also ohne Limit, 
auf. Der Kurs blieb bis zum 26. Oktober gestrichen. Am 27. Ok- 
tober wurde 96,10 bezahlt notiert. Trotz des unlimitierten Auftrages 
verkaufte der Kommissionär bei dem fast um 3 Proz. gefallenen 
Kurse nicht, ohne sich mit seinem Kommittenten ins Einvernehmen 
zu setzen. Es wurde nunmehr das Limit auf 97 festgesetzt. Die 
Wirkung war ein allmähliches Steigen des Kurses von 96,40 Geld 
auf 96,50 Geld, 96,60 Geld. 96,75 Geld, bis am 5. November 96,90 
bezahlt erschien. Vom 6. bis 10. November wurde 96,90 Geld no- 
tiert. Am 12. November 96,90 bezahlt und am 13. 96,90 Geld. Am 
14. wurde das Limit, da der Auftrag von 500 M. nicht auszuführen 
war, auf 96,80 festgesetzt, notiert wurden hierauf 96,70 Geld, des- 


632 Georg Wermert, 


gleichen am 15. und 16. November. Der Verkäufer ermäfigte das 
Limit auf 96,70. Die Folge davon war die Kursnotiz 96,60 Geld. 
Der Kurs wich demnach stets vor dem Limit zurück, und es wurde 
immer 0,10 Proz. Geld weniger notiert, als angeboten wurde! — 

Derartige Fälle, die wiederholt festgestellt wurden, mußten 
naturgemäß ungeheuerliches Aufsehen erregen, zumal sie deutlich 
bewiesen, daß trotz aller gesetzlichen und behördlichen Maßnahmen 
die Kursnotierung fast ganz eine Willkürsache eingeweihter Kreise 
war. Auch die Regierung war genötigt, sich mit ihnen zu befassen, 
zumal sie soeben die neue Maklerordnung erlassen. die, obgleich sie 
noch nicht einmal in Kraft getreten, keine Mittel enthielt, um diesen 
das Publikum irreführenden Uebelstand bei der Kursnotierung zu 
beseitigen. Zunächst wurde die Börsenaufsichtsbehörde zur Bericht- 
erstattung aufgefordert. Der Börsenvorstand hält es im Interesse 
der Besitzer der 2300 zum Börsenhandel zugelassenen Papiere er- 
wünscht, daß über sie in ihrer großen Mehrzahl amtliche Bekundi- 
gungen vorliegen. Dem Bedürfnisse würde nicht genügt werden, 
falls nur dann, wenn wirkliche Umsätze erzielt worden sind, 
Notierungen stattfinden. Die reinen Geld- und Briefnotierungen 
werden oft als wichtiger angesehen, als die Notierungen von Ge- 
schäftsabschlüssen (!), die häufig nur einen kleinen Umfang an- 
nehmen. Der Kursbericht werde brauchbarer, wenn er über Ange- 
bot und Nachfrage Kunde gibt, auch wenn beide nicht befriedigt 
werden könnten. Der Börsenvorstand könne bei der großen Zahl 
der zum Handel zugelassenen Papiere nur dann Kenntnis von Aus- 
weichkursen haben, wenn die Interessenten ihm Anzeige erstatteten. 
Werde ein unzulässiges Ausweichen der Kurse bekannt oder ge- 
meldet, so finde eine sorgfältige Prüfung der Angelegenheit unter 
Anhörung der Beteiligten statt. Erweise sich die Beschwerde dabei 
als gerechtfertigt, so werde den nicht ernst gemeinten, sondern nur 
auf Ausweichung gerichteten Anträgen kein Einfluß auf die Notierung 
zugestanden. — 

Sehr tröstlich fügen die Aeltesten der Kaufmannschaft noch hinzu, 
daß man bei der Unentbehrlichkeit der Geld- und Briefnotierungen 
es mit in den Kauf nehmen müsse, wenn aus der Sachlage sich er- 
gebende unvermeidliche Unvollkommenheiten in der Kursfeststellung 
hin und wieder vorkämen. An ihrer vollen Beseitigung oder wenig- 
stens möglichen Vermeidung arbeite der Börsenvorstand seit langer 
Zeit und werde auch in Zukunft weiter daran arbeiten. 

Demgegenüber ist folgendes zu bemerken: 

Wünschenswert ist allerdings eine Geld- oder Briefnotiz dem 
Publikum über die zahlreichen Papiere, die es besitzt, auch wenn 
ein wirklicher Handel nicht stattgefunden hat, nur müssen die amt- 
lichen Bekundungen auf positiver Wahrheit beruhen. Dagegen ist 
dem nicht beizustimmen, dali die reinen Geld- und Briefnotierungen 
häufig ungleich wichtiger seien, als die Notierung von Geschäfts- 
abschlüssen. Ein wirklicher Marktwert, auch bei kleineren Umsätzen. 
ist immer besser, als die Angabe von Angebot oder Nachfrage, die 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 633 


durch den Verkehr keine Befriedigung erlangen können. Sie ver- 
mögen dem Verkehrsinteresse auf die Dauer in keiner Weise zu 
genügen, es sei denn, daß stets beide nebeneinander zur Notierung 
gelangen. Hierbei würden allerdings die Einheitskurse mit ihren 
Vorzügen verloren gehen. Es fragt sich nur, ob diese Vorzüge 
nicht durch das reale Bedürfnis des Publikums mehr als reichlich 
aufgewogen werden. — 

Wichtig ist das Zugeständnis des Börsenvorstandes, daß er 
zumeist nur dann Kenntnis von unzutreffenden Kursnotierungen 
haben könne. wenn bei ihm Beschwerde erhoben wird. Dadurch 
wird ex officio geleugnet, daß, wie anderweitig behauptet worden, 
nur der Börsenvorstand die gesamte Geschäftslage zu überschauen 
befähigt sei. daß ferner die Kursfeststellung nicht das Ergebnis 
mechanischer Rechenoperationen der Kursmakler, sondern ein aus 
der Kenntnis und richtigen Beurteilung der Gesamtlage geschöpftes 
Urteil sei. Und wenn aus diesen nichtigen Gründen die Not- 
wendigkeit abgeleitet worden ist, dem Börsenvorstande die Kurs- 
feststellung zu belassen, so beweist obiges Zugeständnis, daß eine 
derartige Notwendigkeit keineswegs vorliegt, die Kenntnis der Be- 
urteilung der Gesamtlage und dergleichen Ausflüchte zwar hübsche 
Phrasen darstellen, aber die Kursnotierung in Wirklichkeit lediglich 
das Ergebnis einer nüchternen Rechenoperation ist, weshalb die 
Kursmakler und ihre Vertretung hierzu eher befähigt erscheinen, 
als der betreffs Ausweichkurse nichts ahnende Börsenvorstand. 

Erst wenn an die Börsenkommissare, die mit der Notierung be- 
auftragt sind. Beschwerde gerichtet wird, findet eine sorgfältige 
Prüfung der Sachlage unter Anhörung der Kursmakler und der Be- 
teiligten statt. Eine derartige Prüfung besitzt aber nur geringen Wert. 
Sie hat allein für Börsenbesucher Bedeutung. Diese sind zumeist bei 
den Ausweichkursen nicht beteiligt und haben daher auch kein Interesse 
an der Richtigstellung des Kurszettels. Der Leidtragende befindet 
sicht zumeist außerhalb der Börse, er kann keine Beschwerde an 
den Börsenvorstand richten und eine sofortige Prüfung der Ange- 
legenheit veranlassen. Ihm. ist fast immer die Manipulation der 
Banken unbekannt, er wundert sich, daß er bei fortgesetzter Nach- 
frage des angebotenen Papiers keine Käufer findet, und gelangt 
vielleicht eine Beschwerde an den Provinzbankier, so hat dieser sie 
an die am Sitze der Börse befindliche Bank zu senden, mit der er 
verkehrt. Darüber vergehen zwei Tage und erst am dritten Tage 
ist der Kommissionär des Börsenplatzes in der Lage, eine Beschwerde 
an den Börsenvorstand zu richten, wenn er den Fall für wichtig ge- 
nug hält. Meistens wird die Sache auf den Zwischenstationen be- 
reits einschlummern. Aber selbst, wenn sie nach 3 oder 4 Tagen 
an der Börse erörtert werden sollte, dürfte es sodann schwer sein, 
der interessierten Bank nachzuweisen, daß sie an jenem Tage tatsäch- 
lich ihr Gebot nicht ernstlich gemeint habe. Für die Folgetage ist 
sie an dasselbe nicht mehr gebunden. — 

Das Aushilfsmittel, welches der Börsenvorstand angibt, ist daher 


634 Georg Wermert, 


unzulänglich für das große Publikum außerhalb der Börse, und 
dieses ist es gerade, das durch die Ausweichkurse empfindlich ge- 
schädigt wird und vor derartigen Fälschungen des Kurszettels ge- 
schützt werden muß. Wenn dagegen die Aeltesten der Kaufmann- 
schaft meinen, das Publikum müsse solche Unvollkommenheiten, die 
hin und wieder vorkommen, mit in den Kauf nehmen, so scheint es 
fast, ale wenn man aus der großen Börsenbewegung der 1890er 
Jahre nichts gelernt hat. Die Börse sollte vielmehr aus sich selbst 
heraus und nicht erst auf Anregungen von außen, alles in ihrer 
Mitte mit Stumpf und Stiel ausrotten, was irgendwie auch nur den 
Anschein einer Unreellität besitzt, anstatt solche offensichtlichen 
Fälschungen des Kurszettels, wie sie die Ausweichkurse darstellen. 
noch mit sanften Worten entschuldigen oder gar als unvermeidliche 
Notwendigkeiten ausgeben zu wollen. Doch die Aeltesten geben die 
wünschenswerte Hoffnung zu erkennen: der Börsenvorstand habe 
bereits zur „vollen Beseitigung“ oder „möglichsten Vermeidung“ 
derartiger Unzuträglichkeiten „seit langer Zeit“ gearbeitet. Wenn 
er tatsächlich in diesem Sinne entsprechend gearbeitet hat, so sollte 
man doch annehmen, daß er bei seiner Sachkenntnis schon längst 
ein wirksames Aushilfsmittel gefunden hätte. Da das aber nicht der 
Fall ist. so ist auch für die in Zukunft verheißenen Bemühungen 
leider nichts zu hoffen, weshalb von anderer Seite in entschiedener 
Weise eingegriffen werden muß. 

Dasselbe bestätigen auch die Ausführungen des Mitgliedes des 
Börsenvorstandes Bankier Max Richter, Aeltester der Kaufmannschaft 
zu Berlin, die von ihm zur Beschönigung der Ausweichkurse im 
„Bankarchiv“ gemacht worden sind!). Da genanntem Autor die denk- 
bar größte Sachverständigkeit nicht abzusprechen ist und er selbst 
als Börsenkommissar die Notierung zeitweilig bewirkt, sind wir ge- 
nötigt, uns mit seinen Darlegungen etwas eingehender zu befassen. 

Richter bemerkt, daß, wenn ein Auftrag zu 97 Brief vorliegt 
und der interessierte Bankier 96,90 Geld notieren läßt, er ge- 
halten sei, zu diesem Kurse etwas zu nehmen. Bei größeren Be- 
trägen vermöge der Geld Bietende mit gutem Rechte zu erklären, 
so viel könne er bei 96,90 nicht gebrauchen, weshalb er sein An- 
gebot ermäligen dürfe. — 

Es liegt demnach im angenommenen Falle ein fester Verkaufs- 
auftrag von 97 vor. Der Bankier will, wie unterstellt werden mag, 
das Papier nicht abnehmen zu diesem Kurse, aber den Kurs mög- 
lich hochhalten und dem Kurszettel das Antlitz der fortlaufenden 
Nachfrage in dem fraglichen Papiere geben. Er erklärt sich dem 
Kursmakler gegenüber als Abnehmer bei 96,90. Würde nun im 
gleichen Augenblicke das Limit auf 96,90 ermäßigt, so wäre der Bankier 
hineingefallen. Aber Richter gibt ihm vorsorglich das Mittel an die 
Hand, wodurch er sich zu salvieren vermag. Er übernimmt ein 
Stück zu 200, 300 oder 500 M., denn hierzu kann er gezwungen 


1) Bankarchiv, No. 1 vom 1. Oktober 1906, VI. Jahrgang. 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 635 


werden; das übrige Angebot weist er zurück, weil er es nicht ge- 
brauchen kann. Damit erhellt zur Genüge, daß eine ernstliche Ab- 
sicht zu kaufen gar nicht vorgelegen hat. Derartige Aeußerungen: 
„Notieren Sie 96,90 Geld“, oder „Ich nehme ab zu 96,90 sollten 
überhaupt nicht bei der Kursnotierung berücksichtigt werden, zumal 
der Kursmakler offenbar die Absicht des Bankiers zu kaufen nicht 
ernst nimmt. Er dokumentiert es auch in den meisten Fällen da- 
durch, daß er den Auftrag des Bankiers als solehen überhaupt nicht 
in sein Maklerbuch einträgt. Es sollen daher nur solche Aufträge, 
deren Umfang genau bestimmt ist und die tatsächlich im Makler- 
buche als ernstgemeinte Kauf- oder Verkaufgesuche zum Vorschein 
kommen, bei der Kursnotierung berücksichtigt werden. Die er- 
mittelten Kurse werden in ein Formular eingetragen und sofort an 
der Schranke im freien Verkehre bekannt gegeben. Der Interessent 
erführt dadurch, zu welchem Kurse seine Aufträge ausgeführt sind. 
Mit der Eintragung in das Formular hat sich die eigentliche Kurs- 
notierung vollzogen, der Kurs gilt als festgestellt. Die Börsen- 
kommissare können sodann Aenderungen nicht mehr vornehmen ohne 
Störung des Verkehrs, namentlich der Arbitrage. Auch müßten die 
Geschäfte wieder rückgängig gemacht werden, die auf Grund dieser 
Ermittelungen abgeschlossen sind. Die Unsicherheit des Verkehrs 
würde sich bei nachherigen Aenderungen auf die Zwischenzeit von 
der Niederschrift bis zur Protokollierung im Notierungszimmer er- 
strecken. Die eigentliche Kursfeststellung unter Ausschluß der 
Oetfentlichkeit ist daher nur eine Posse des vom Gesetze Gewollten. 
Die „Kursmacherei“ an der Maklerschranke, wie sie heute besteht, 
muß fallen oder doch wesentlich eingeschränkt werden, soll sich die 
Wahrhaftigkeit des Kurszettels erhöhen und das außerhalb der Börse 
stehende Publikum nicht geschädigt werden. 

Es werden dann aber in überwiegender Zahl Briefnotizen zum 
Vorschein kommen, und der Kurszettel verliert das verlockende An- 
sehen, als wenn fortgesetzt Nachfrage über Nachfrage am Markte ist 
und der Geldmarkt in seiner Plethora zu ersticken droht. Richter 
gesteht selbst zu, daß der jetzige Kurszettel auf Wünschen aufgebaut 
ist. Nach ihm sehen Makler und Bankiers die Briefnotiz ungern, 
und die letzteren verlangen sogar von jenen, dafür zu sorgen, daß 
die Notiz außerhalb des Limits bleibt, wenn nichts verkauft wird. 
Es kommt hierbei aber nicht darauf an, was der Bankier gern oder 
ungern sieht, und wenn der Kursmakler zu abhängig ist vom Bankier 
und ihm willfahren zu müssen glaubt, so dürfte es angezeigt sein, 
für eine größere Unabhängigkeit bei ihm Sorge zu tragen. Jetzt 
soll der Makler zufrieden sein, wenn der Bankier 10 Pfennig unter 
dem niedersten Limit bietet; dann kann er die Notiz 96,90 Geld 
„machen“. Weshalb soll nun 96,90 Geld notiert werden, da der 
wirklichen Marktlage 97 Brief ebensogut entspricht als 96,90 Geld, 
selbst unter der Voraussetzung, daß dieses Angebot ernst gemeint ist? 

Was wird nach Richter bei der Notierung von 97 Brief gewonnen ? 
Der Verkäufer wird die Ware nicht los, die Notiz belehrt ihn, daß 


636 Georg Wermert, 


bei 97 Ware vergeblich angeboten ist, was er bereits weiß, und was 
er auch beim Kurse von 96,90 Geld weiß. — 

Zum mindesten kommt aber bei der Briefnotiz die wahre Markt- 
lage zum Ausdrucke. 

Es handelt sich hierbei ferner nicht allein um die beiden Inter- 
essenten, sondern um das Publikum außerhalb der Börse, das die 
Papiere besitzt, oder in die Möglichkeit kommen kann, sie sich zu 
kaufen. Für dieses wird die Lage irreführend dargestellt, ihm wird 
eine Nachfrage vorgespiegelt, die in Wirklichkeit nicht besteht, es 
wird in einen falschen Glauben eingewiegt, aus dem es bei bewegteren 
Zeiten sehr unsanft stürzen kann, wobei es sein Vertrauen mit 
schweren Verlusten zu büßen hat. Das alles geschieht aus dem 
Grunde, weil der Bankier eine Briefnotiz ungern sieht (!) und eine 
Geldnotiz vom Kursmakler verlangt, welchem Ansinnen dieser dienst- 
beflissen nachkommt. 

Aber nicht nur dieses, sondern auch eine gröbliche Fälschung 
des Kurszettels wird vom genannten Mitgliede der Börsenkommission 
als gebräuchlich hingestellt und mit folgenden Worten verteidigt: 
„Bietet der Interessent nicht 10 Pf. unter dem Limit, sondern viel- 
leicht 25 Pf., so lehrt die Erfahrung, daß dann gewöhnlich eine 
Zwischennotiz wie 96,90 Brief gewählt wird, weil der Makler auch 
mit dieser seinem Auftraggeber gegenüber gedeckt ist. Der Interessent 
ist auch damit zufrieden, weil er für etwa direkt gehandelte 
Posten nicht 06,75 sondern 96,90 erhält. Das müßte nun ganz im 
Sinne des Beschwerdeführers sein, aber es ist nicht ausgeschlossen, 
daß auch hier eine andere Kategorie Unzufriedener den Vorwurf der 
Verlogenheit des Kurszettels erhebt, weil der Makler durch die Notiz 
96,90 Brief öffentlich bekannt gibt, daß zu 96,90 Ware angeboten 
sei, während in Wirklichkeit nur bei 97 Ware zum Verkaufe stand.“ 
Wenn Vorstehendes auf Wahrheit beruht — und Richter muß es 
wissen —, so ist es allerdings einleuchtend, daß der Kurszettel 
Fälschungen auf Fälschungen enthält, daß die „Mache“ sich darin 
recht breit macht und seine Kurse den wirklichen Marktverkehr nicht 
widerspiegeln. Dann ist es im öffentlichen Interesse nicht nur 
erwünscht, sondern geboten, daß in der bisherigen Kursfeststellung 
ein gründlicher Wandel eintritt, durch den der Kulisse die Einwir- 
kung auf die Kursgestaltung, anders als durch positive Aufträge, 
entzogen wird. Im vorliegenden Falle wird ein Kurs notiert. der 
im Verkehre überhaupt nicht vorgekommen ist, es wird ein Angebot 
amtlich festgestellt, das gar nicht vorhanden ist, und dem Bankier 
wird ermöglicht, bei direkt im Kommissionsverkehre gehandelten 
Posten seinen Kunden einen um 0,15 erhöhten Kurs in Rechnung 
zu stellen, als er selbst den Wert der Ware einschätzt. In diesem 
Falle handelt der Kursmakler nicht nur entschieden pflichtwidrig 
und streift in bedenklicher Weise seinen Eid, sondern er bringt sich 
auch in die größte Gefahr; denn wenn plötzlich ein Kaufauftrag zu 
diesem fingierten Kurse, der weder dem Angebote noch der Nach- 
frage gerecht wird, hervortritt, so muß er liefern, was nur unter 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 637 


Verlust geschehen kann. Er darf doch nicht vorgeben, daß das be- 
treffende Angebot plötzlich wieder zurückgenommen ist: denn sein 
Buch wird hierüber Auskunft geben. Wenn aber ein Mitglied des 
Börsenvorstandes, das amtlich mit der Kursfeststellung beauftragt ist, 
dieses Gebahren nicht nur duldet. sondern öffentlich verteidigt und 
als ganz selbstverständlich betrachtet, so zeigt sich eben, daß an ge- 
wissen Stellen die Erfahrungen aus der Antibörsenbewegung der 
1890er Jahre bereits wieder vergessen sind, was wir im Interesse 
einer gesunden und kräftigen Börse und einer gedeihlichen wirtschaft- 
lichen Entwickelung unseres Vaterlandes nur mit Bedauern wahr- 
zunehmen vermögen. — 

Ferner wird nach unserem Autor gegenwärtig, wenn Angebot 
und Nachfrage weit auseinanderliegen, der Kurs gestrichen. Wenn 
notiert würde, schaffe man keinen Nutzen, den Besitzern der Papiere 
werde damit nicht gedient. — 

Es ist das möglich, aber der Oeffentlichkeit würde doch mit der 
Bekanntgabe von Angebot und Nachfrage gedient sein. Die Veröffent- 
lichung der beiderseitigen Aufträge würde auch dazu dienen, um die 
widerstreitenden Interessen rascher zum Ausgleiche zu bringen. Bei 
Streichung des Kurses kann ein Interessent, falls ein Gegenauftrag 
nicht vorliegt, mit der neuen Notierung in gewissem Sinne fast nach 
Belieben einsetzen, bis seiner Absicht durch Gegenoperationen ein 
Ziel gesetzt wird. Mit den Streichungen des Kurses sollte daher 
recht sparsam vorgegangen werden. 

Es verdient noch das Mittel betrachtet zu werden, welches Richter 
gegen die Ausweichkurse angibt. Allgemein bekannt ist es, daß 
niemand dafür eine Gewähr besitzt, am folgenden Börsentage zu den 
Kursen des heutigen Geschäfte abschließen zu können. Ein jeder Tag 
hat seine eigene Plage und auch seine eigenen Kurse. Der amtliche 
Kurszettel soll aber den Zweck verfolgen, ein getreues Spiegel- 
bild des Verkehrs an dem jeweiligen Börsentage bis zum Zeitpunkte 
der Notierung (2 Uhr bezw. 1!, Uhr) zu geben. Das Publikum 
kann sich vermittelst Einsichtnahme des Kurszettels täglich über den 
Marktwert seiner Papiere unterrichten und sich dabei vergewissern, 
ob seine durch Kommissionäre an die Börse gelangten Aufträge 
haben ausgeführt werden können. 

Um nun das Ausweichen der Kurse zu verhindern, rät Richter, 
von seinem Auftrage einen kleinen Posten loszutrennen und diesen 
„bestens“ zum Verkaufe zu bringen. Dann wird der interessierte 
Bankier genötigt, Farbe zu bekennen, und kann nicht 0,10 Proz. unter 
dem limitierten Auftrage notieren lassen. 

Das Mittel verfehlt seines Zweckes, weil es nicht überall anzu- 
wenden ist. Aus den mitgeteilten Beispielen geht hervor, daß bereits 
ein angebotener Posten von 500 M. ein langdauerndes Ausweichen 
des Kurses zur Folge hatte. Bei der Aufgabe „bestens“ sinkt der 
Kurs, wie es jeder täglich an seinem Leibe erfahren kann, plötzlich 
um 2, 3, ja 4 Proz. Der angebotene Posten findet bei dem gesun- 
kenen Kurse Aufnahme und nach wenigen Tagen steht wieder der 


638 Georg Wermert, 


frühere Preis als Geldkurs im amtlichen Kurszettel! Bei der Auf- 
gabe „bestens“ ist das Publikum der interessierten Bank völlig über- 
liefert; bei Papieren mit geringen Umsätzen fehlt jedes Abwehrmittel 
gegen die augenscheinlichste Uebervorteilung. Bei Papieren mit er- 
heblichen Umsätzen ist diese Gefahr stark abgeschwächt, weil die 
von dritter, vierter, fünfter Seite kommenden, sich vielfach durch- 
kreuzenden Aufträge obige Machination weit schwieriger gestalten. 
Im übrigen rühren die Beschwerden über die Ausweichkurse keines- 
wegs, wie Richter uns gern glauben machen möchte, von Dilettanten 
her, sondern sie sind durchaus begründet und zeigen mit größter 
Deutlichkeit, wie wenig die jetzige Kursfeststellung ihrer Aufgabe 
gerecht wird, wie sie nicht dem öffentlichen Interesse dient, weshalb 
es die Pflicht der sachverständigen, namentlich der wissenschaftlichen 
Presse ist, nach dieser Richtung Aufklärung zu bringen und mit ihr 
Wandel zu schaffen. 

Die Handelskammer zu Berlin hat sich in ihrem Berichte an 
den vorgesetzten Minister über die Ausweichkurse nicht mit diesem 
windigen Abhülfemittel befaßt, welches gerade dem interessierten 
Bankier zum Nutzen gereichen wird, sondern sie sucht die ganze 
Angelegenheit als höchst belanglos hinzustellen. Nach ihr kommen 
wohl ausnahmsweise Ausweichkurse vor. Sie sind aber nach den 
Beobachtungen des Börsenvorstandes sehr selten. Deshalb würde 
es nicht gerechtfertigt sein, ihretwegen die bisherige Kursfeststellung 
abzuändern. Wenn dem Börsenvorstande ein nicht ernst gemeinter 
Kaufauftrag bekannt werde, finde er keine Berücksichtigung bei der 
Kursfeststellung. 

Aus den wenigen Beschwerden, die an den Börsenvorstand in 
dieser Angelegenheit gelangen, kann aber keineswegs auf ein aus 
nahmsweises Vorkommen der Ausweichkurse geschlossen werden, da 
das von ihnen betroffene Publikum, wie bereits bemerkt, gar nicht 
im direkten Verkehre mit der Börse steht und keinen Einspruch bei 
der Kursfeststellung erheben kann. Die Handelskammer täuscht sich 
daher über die Bedeutung der Frage. Aber selbst, wenn Ausweich- 
kurse nur in vereinzelten Fällen vorkommen sollten, so darf man 
wohl von dem unmittelbaren Aufsichtsorgane der Börse erwarten, 
daß es mit allen Mitteln auf die Abstellung solcher Kursfälschungen 
dringt, anstatt diese als völlig belanglos zu beschönigen. Das Handels- 
ministerium war daher auch mit Recht unbefriedigt von der Auskunft 
der Handelskammer. Die Maklerkammer wurde aufgefordert, sich 
darüber zu äußern, in wie vielen Fällen während des Zeitraumes zweier 
Monate Geld- oder Briefkurse amtlich zur Notierung gelangt waren, 
ohne daß die entsprechenden Kauf- oder Verkaufsaufträge in die 
Maklerbücher eingetragen wurden). In sämtlichen Fällen haben die 
Kursmakler die entsprechenden Aufträge nicht ernst genommen. 
Trotzdem wurden nach ihnen die Kurse festgestellt. Damit sind 


. ñ 
1) Vom Staatskommissar der Börse wurden die Stichmonate April und Mai 1905 


diesen Erhebungen zu Grunde gelegt. 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 639 


aber die Ausweichkurse in ihrer Gesamtheit keineswegs erfaßt; denn 
auch eine Eintragung in das Maklerbuch kann lediglich die Schaffung 
einer Ausweichnotierung zum Zwecke haben. Wenn nämlich ein 
Bankier an der Schranke an einem Tage bei einem Verkaufslimite 
von 106.50 einen Kaufauftrag zu 106,40 gibt und am nächsten Tage 
bei Ermäßigung des Limits auf 106,40 einen solchen von 106,30 erteilt, 
so muß der Kursmakler wissen, daß ein solcher Auftrag nicht ernst 
gemeint ist und der interessierte Bankier tatsächlich keine Stücke 
aufnehmen will. Sollte jedoch in diesem Falle 106,40 Brief anstatt 
106,30 Geld notiert werden, dann hat das Satyrspiel ein Ende, die 
Beherrschung des Kurses durch den interessierten Bankier hört auf. 
Bei fortgesetzter Briefnotiz wird sich allerdings ein vergrößerter Ver- 
kaufsdrang des Publikums zeigen und der Bankier wird gezwungen, 
falls er den Kurs halten will, Kaufaufträge, die ausführbar sind, zu 
geben, wodurch ein Geschäftsabschluß zur Notierung gelangt. Falls 
keine tatsächlichen Kurse abgeschlossen werden, sinkt das Papier 
von seinem künstlich hochgehaltenen Stande auf seinen wahren Wert 
hinab, auf dem sich Angebot und Nachfrage des Publikums die Wage 
halten. Es ist das kein Schade, weil der Kurszettel dann die wirk- 
liche Marktlage widerspiegelt. Aber das will man gerade nicht. 
Der Bankier oder die Kulisse wünscht keine Briefkurse, der Börsen- 
vorstand wünscht sie nicht, die Börsenaufsicht erst recht nicht, und 
der Kursmakler ist froh, wenn ihm ein Wink vom Bankier zuteil 
wird, damit er mit scheinbarem Rechte einen Geldkurs „machen“ 
kann. — 

Die Handelskammer sieht in einer Briefnotiz eine Verschlimme- 
rung des gegenwärtigen Zustandes. Verkäufer und andere Besitzer 
des Papieres würden darin eine Schädigung ihrer Interessen erblicken. 
Der stärkere Verkaufsandrang und der Kursdruck werden eine Ver- 
schlechterung der künftigen Verkaufsmöglichkeit hervorrufen. — Aller- 
dings, aber das Publikum, das sich das Papier als ein sicheres An- 
lageobjekt erworben hat. wird auch bei etwas größeren Schwankungen 
des Kurses, falls sein Wert nur sonst gut fundiert ist, nicht so leicht 
zum Verkaufe drängen. Der Bankier jedoch, der das Papier an die 
Börse gebracht hat, der gewöhnlich in seinem Portefeuille noch eine 
große Menge davon besitzt, kann dann im direkten Verkehre seinen 
Kommittenten nicht den künstlich hochgehaltenen Geldkurs der Börse 
berechnen und somit das Papier nicht mehr zu einem Satze an den 
Mann bringen, der seinem inneren Werte nicht entspricht, und von 
dem es bei etwas erheblicheren Anspannungen oder gar Erschütte- 
rungen des Geldmarktes ohne Frage sofort stark zurückweichen muß. 

Die vielen Geldkurse des Kurszettels bei ungewöhnlich hohem 
Diskont und stärkster Anspannung des Geldmarktes täuschen daher 
eine lebhafte Nachfrage hervor, die keineswegs besteht, sie zeigen 
die Börse in einer Geldfülle, die gänzlich erdichtet ist. Wenn die 
Briefkurse daher zu einer größeren Wahrhaftigkeit des Kurszettels 
beitragen, so ist solches vom Publikum außerhalb der Börse, das 
für seine Ersparnisse eine gute, dauernde Anlage sucht, durchaus 


640 Georg Wermert, 


erwünscht. Das gilt aber nicht nur für dieses, sondern für jeder- 
mann, der einen auf Treu und Glauben basierten soliden Verkehr 
an der Börse erstrebt. 

Welche Antwort die Maklerkammer auf die Aufforderung des 
Handelsministers gegeben hat, ist nicht bekannt geworden. Sicher 
werden an maßgebender Stelle Mittel und Wege erwogen werden. 
um das Ausweichen der Kurse für die Zukunft nach Möglichkeit zu 
verhindern. Die öffentliche Meinung muß hierauf mit größter Ent- 
schiedenheit dringen. 

Die Maklerordnung vom 9. Juli 1906, die mit dem 1. Januar 
1907 in Kraft getreten ist, bietet hierzu keinerlei Hilfsmittel. Sie 
dokumentiert nach dieser Hinsicht ihre gänzliche Ohnmacht. 


7. Sonstige Mängel der Kursfeststellung. 


Die Fälschungen durch die Ausweichkurse lassen die Frage auf- 
werfen, ob sonst der Kurszettel die Marktlage richtig wiedergibt. 
Der Chor der Presse sucht dieses zum Teil zu bejahen, zum Teil 
zu verneinen, und nach einer genauen Durchsicht der widerstreiten- 
den Stimmen ist unschwer zu erkennen, daß selbst unter den börsen- 
kundigen Blättern die verneinenden Stimmen die Oberhand besitzen. 
Schreiten wir daher zur Prüfung der Sache. 

Die Marktlage ergibt sich aus dem Zusammenwirken der ent- 
gegenarbeitenden Kräfte in Kauf und Verkauf, in Angebot und Nach- 
frage. Der Kurszettel würde auf absolute Richtigkeit Anspruch 
machen können: 

1) wenn in ihm sämtliche an der Börse abgeschlossenen Geschäfte 
berücksichtigt würden; 

2) wenn bei den Papieren etc., in denen Abschlüsse nicht zu- 
stande kommen, Angebot und Nachfrage wahrheitsgetreu zur Dar- 
stellung gelangen. 

Hierdurch würde der Kurszettel zum getreuen Spiegelbilde der 
jeweiligen tatsächlichen Geschäftslage werden, und eine Fälschung 
der Kurse müßte, abgesehen von vereinzelten dolosen oder fahr- 
lässigen Handlungen pflichtwidriger Kursmakler, in das Gebiet der 
Unmöglichkeit verwiesen werden. Wie bereits früher ausgeführt, 
bildet nur ein geringer Teil der an der Börse sich vollziehenden 
Geschäfte oder der an sie gelangenden Aufträge die Grundlage für 
die Kursfeststellung. Der bei weitem größere Teil kommt nicht in 
den Büchern der Kursmakler zum Vorschein, oder wird nicht bei 
ihnen oder den Börsenkommissaren zur Anzeige gebracht. Die Kurs- 
feststellung wird durch sie gar nicht berührt. Die Meinung ist daher 
zu verwerfen, daß der gegenwärtig täglich erscheinende amtliche 
Kurszettel ein wahres Spiegelbild der Geschäftslage der Börse bringt. 

Das würde noch annähernd der Fall sein, wenn, wie es sonst 
im wirtschaftlichen Leben unfraglich überall in die Erscheinung tritt, 
bei den die Maklerbücher durchlaufenden Geschäften der Käufer ein 
Interesse am möglichst niedrigen Einkaufe, der Verkäufer ein Interesse 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden etc. 641 


am möglichst höchsten Verkaufe hätte. Das soll an der Börse nicht 
der Fall sein, wie mehrfach behauptet worden ist. Die Eigenart der 
Lage und die einseitige Zuspitzung des Börsenumsatzes in neuester 
Zeit, wie er sich auf Grund des vielbefehdeten Börsengesetzes ent- 
wickelt hat, soll den Geschäftsverkehr öfters in sein Gegenteil ver- 
wandelt haben. Demnach hat der Käufer in diesem Brennpunkte 
des Handels öfters ein Interesse am möglichst hohen Einkaufe, der 
Verkäufer am möglichst niedrigen Verkaufe. Wie ist dieses möglich, 
da doch sonst im menschlichen Leben niemand sein Geld ohne 
wahrnehmbaren Nutzen auf die Hecken und Zäune hängt? 

Alle diejenigen, welche für eigene Rechnung kaufen, 
haben naturgemäß ein Interesse am niedrigen, und die für 
eigene Rechnung verkaufen, am hohen Kurse auch an der 
Börse. Auf sie kann also die Behauptung von der Umkehrung aller 
geschäftlichen Verhältnisse nicht gemünzt sein. Der größte Teil der 
Geschäfte besteht aber in Kommissionsaufträgen, die auf 
Antrag der Kommittenten von den Banken und Bankiers an der Börse 
ausgeführt werden sollen. Wie stellt sich nun das Interesse der 
Banken am Kommissionsgeschäfte ? 

Der Bankverkehr strebt in der neuesten Zeit einer ungeheuren 
Konzentration entgegen, wie es sonst kaum auf einem andern Ge- 
biete des wirtschaftlichen Geschehens hervortritt. Zwar hat die An- 
zahl der deutschen Banken sich in den letzten 3 bis 4 Dezennien nicht 
nennenswert verändert. Im Jahre 1872 waren 202, 1879 144 und 
1904 220 Banken vorhanden. Auch mag zugegeben werden, daß 
sich die Zahl der Bankiers seit den 1870er Jahren nicht wesentlich 
verwandelt hat. Diese Stabilität beweist aber gegenüber der ver- 
doppelten Bevölkerungsziffer und einer volkswirtschaftlichen Entwicke- 
lung, die ein Vielfaches derjenigen der 1370er Zeit aufweist, eine unge- 
heure Konzentration des Bankverkehrs, die in der neuesten Periode 
auf Grund des Börsengesetzes geradezu lawinenartig um sich greift. 
Bei den großen führenden Instituten überstürzen sich die Kapitals- 
vermehrungen, das Grundkapital häuft sich zu schwindelnden Summen 
zusammen, die Machtmittel der Banken wachsen dadurch 
ins chimärische, durch Fusionen oder Kartellverträge der 
Rieseninstitute wird ihr Herrschaftsbereich fortgesetzt gesicherter, 
und durch Geldhergabe und Eindringen in die Aufsichtsräte der 
bedeutendsten industriellen, bergbaulichen und großgewerblichen 
Unternehmungen haben sie ihre Fäden in allen größeren Werken 
und üben des Kaufmanns Herrschgewalt über unsere gesamte Volks- 
wirtschaft aus, wie in keiner andern Periode unserer ökonomischen 
Entfaltung. Durch den Zusammenschluß der Großbanken unter- 
einander wird eine Macht von fast monopolistischer Wirkung hervor- 
gerufen; eine Geldoligarchie in des Wortes verwegenster Bedeu- 
tung feiert ihre Erstehung, die nicht nur der Industrie gebietet, den 
Bergbau von sich abhängig macht und durch Ankauf großer Güter 
in die Landwirtschaft eindringt, sondern auch die Städteverwaltungen 
und schwächeren Regierungen unweigerlich unter ihre Machtsprüche 

Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIII). 41 


642 Georg Wermert, 


beugt und sie bei Emissionen geradezu zwingt, einen höherprozen- 
tigen Typus der zu begebenden Papiere an den Markt zu bringen, 
ja, vor der selbst die preußische Regierung in Sachen der Kurs- 
makler einen Schritt zurückgewichen ist (Stempelvereinigung). Daß 
eine solche Macht sich nicht leicht die Kursnotierung entwinden 
lassen wird, weil sie ihre Hände fortgesetzt bei diesem wichtigen 
Amte im Spiele zu haben wünscht, ist ganz natürlich. Aber wie 
soll hierdurch eine Umkehrung der Wirkung von Kauf und Verkauf, 
von Angebot und Nachfrage an der Börse hervorgerufen werden’? 
Jede Großbank ist im Besitze einer erheblichen Zahl von Pa- 
pieren, die sie an der Börse eingeführt hat. Sie ist an ihnen nicht 
wenig interessiert, da sie ihre Emissionen allmählich zu plazieren 
gedenkt, wie auch .ihr Interesse an allen industriellen Anstalten und 
Werken ein erhebliches ist, denen sie Betriebsmittel gewährt, oder 
in deren Aufsichtsräten die Bank durch ein Vorstandsmitglied ver- 
treten ist. Die an der Börse gehandelten Papiere aller dieser Unter- 
nehmungen stehen im Schutze der Bank, die bei ihrem großen 
Kundenkreise und ihren vielfältigen Beziehungen und Veranstaltungen 
selbst eine Börse in sich darstellt, da sie aus sich selbst heraus 
oder durch den direkten Verkehr mit den nächst befreundeten Banken 
und Großbankiers die zahlreichen einlaufenden Aufträge zu erledigen 
vermag, ohne der Börse hierbei zu bedürfen. Dennoch kann man 
ihrer nicht gänzlich entraten. Die Bank steht rechtlich ihren Kunden 
gegenüber im Verhältnisse des Kommissionärs zum Kommittenten. 
Durch ihre zahlreichen Zweigniederlassungen und Wechselstuben, die 
den kleineren Bankier allmählich verdrängen, empfängt sie eine statt- 
liche Anzahl von Kommissionsaufträgen, denen sich die Aufträge 
der Provinz zugesellen. Die Kommittenten senden selbstverständlich 
sowohl Kauf- als auch Verkaufsaufträge. Die Bank hat als Kommissionär 
ihnen gegenüber gemäß $ 400 HGB. das Selbsteintrittsrecht. Sie 
kann das Gut, das sie einkaufen soll, selbst als Verkäufer liefern, 
oder das Gut, das sie verkaufen soll, als Käufer übernehmen. Trotz 
des Selbsteintrittsrechtes bedarf die Großbank aber der Börse; denn 
dieses Recht ist daran gebunden, daß für die fraglichen Papiere ein 
Börsen- oder Marktpreis amtlich festgestellt wird. Deshalb hat die 
Bank dafür zu sorgen, daß tatsächlich einige Umsätze in dem Pa- 
piere an der Börse stattfinden, oder wenn nicht, daß durch ihre 
Nachfrage ein Geldkurs zur Notierung gelangt, der das Selbstein- 
trittsrecht ermöglicht, wenn der Kunde keinen Einspruch erhebt. Dieser 
Kurs wird dem letzteren in Rechnung gestellt. Infolge des Selbst- 
eintrittsrechtes ist die Bank dem kaufenden Publikum gegenüber 
Verkäufer, dem verkaufenden Käufer. Da aber bei der Bank es 
sich vielfach um die Uebernahme von Emissionen handelt und sie 
die Papiere ihres Portefeuilles an die Kundschaft zu möglichst 
dauernder Anlage unterbringen will, so weckt sie deren Kauflust 
und sucht die lagernden Werte an sie abzuschieben, wobei sie als 
Kommissionär, der fortgesetzt das Selbsteintrittsrecht ausübt, ihren 
Kunden gegenüber als Verkäufer auftritt. Sie hat in diesem Falle 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden etc. 643 


das Interesse des Verkäufers an hohen Kursen, deshalb tritt sie an 
der Börse als Käufer auf, falls einzelne Posten der abgesetzten 
Papiere an diese zurückfließen. Oder hat die Bank bei einem 
Papiere mit geringem Verkehre überhaupt nicht die Absicht es zu 
kaufen, so gibt sie den bekannten Auftrag zu 0,10 oder 0,20 Proz. 
unter dem limitierten Angebotskurse, damit ein Geldkurs notiert wird. 
Dieser Käufer an der Börse hat daher ein lebhaftes Interesse an 
recht hohen Kursen und im umgekehrten Falle, wenn die 
Bank beabsichtigt, ein Papier zu erwerben, an niedrigen Kursen. 
Sie verkauft dann an der Börse zu möglichst geringem Ertrage eine 
Kleinigkeit, um auf Grund dieses Kurses von der Kundschaft oder 
im freien Verkehre das Papier aufzukaufen. Demnach ist die 
Wirkung von Kauf und Verkauf, von Angebot und Nachfrage ge- 
radezu auf den Kopf gestellt. 

Die mögliche Beherrschung der Kursnotierung durch die Oli- 
garchie der Banken und sonstiger Geldmächte ist aber für die All- 
gemeinheit von größtem Nachteile, sie überschüttet das Publikum 
mit Papieren zu möglichst hohen Kursen, und sie zieht sie wieder 
aus dem Verkehre zurück zu möglichst niedrigen Kursen, weshalb 
das Volk und namentlich das weniger börsenkundige fast immer der 
Leidtragende ist. 

Durch die fortschreitende Konzentration der Banken wird die 
Schädigung erhöht. Für die großen Emissionen bilden sich Konzerne, 
der Wertpapierhandel wird unter den Mitgliedern aufgeteilt. Sie ver- 
fügen auch über den Betrag, der zur Börse gelangen soll. Die meisten 
Abschlüsse werden aber in direktem Verkehre untereinander be- 
wirkt, und die Großbanken stören nicht die Wege der Schwester- 
banken und vergreifen sich nicht leicht an deren Transaktionen. 

Der Privatbankier wird naturgemäß beiseite gedrängt. Er 
muß seine Aufträge an der Börse ausführen und hat demnach Kur- 
tage zu entrichten. Dazu muß er seinen Kunden, will er selbst be- 
stehen, die übliche Provision berechnen. Die selbsteintretende Groß- 
bank ist gemäß $403 HGB. berechtigt, den Kunden die in Kommissions- 
geschäften sonst regelmäßig vorkommenden Kosten in Rechnung zu 
stellen. Die Kurtage fällt daher der Großbank zu. Sie kann deshalb 
die Provision stark ermäßigen, weshalb sich die Kundschaft zu ihr hin- 
überzieht. Dazu tritt die Kulisse den Absichten der Hochfinanz 
meistens nicht entgegen. Wenn die Bank in der Kulisse, abweichend 
vom amtlichen Kurse, kauft oder verkauft, so gelangen diese Geschäfte 
vielfach nicht zur Kenntnis der kursfeststellenden Organe. Der 
Kulissier, der niedriger gekauft hat, als der amtliche Kurs ist, kann 
durch Verkäufe in der nächsten Börsenstunde verdienen; derjenige 
welcher höher verkauft hat, kann sich niedriger eindecken. Warum 
sollen sie also ihre Geschäfte zur Anmeldung und somit zur Be- 
rücksichtigung bei der Kursfeststellung bringen ? Das bleibt besser 
der interessierten Bank überlassen, die ihnen auch Aufträge zu- 
fallen läßt. Da das Börsengesetz die Kontremine ausgeschaltet hat, 
werden diese Bestrebungen gegenwärtig sehr erleichtert. 

41* 


644 Georg Wermert, 


Wie lohnend für die hohe Finanz die Emissionen sind und wie 
sehr bei ihnen auf Kosten des Publikums gesündigt wird, mag nur ein 
Beispiel lehren. Die Kyffhäuserhütte, ein früher sehr ertragreiches 
Werk, hatte im Jahre 1904 ein Aktienkapital von 400000 M. Die 
Dividenden stellten sich folgendermaßen: 1902 45 Proz., 1903 60 Proz., 
1904 20 Proz., 1905 13 Proz., 1906 O Proz. Im Jahre 1904/05 wurde 
auf Anraten der Hochfinanz, die sich des Werkes bemächtigte, das 
Aktienkapital um 600000 M. auf eine Million erhöht, angeblich, um 
besondere Fabrikationen aufzunehmen, in Wirklichkeit, um die Zu- 
lassung der Aktien zum Börsenhandel zu erreichen. Zu diesem 
Zwecke muß bekanntlich das Aktienkapital der Gesellschaft mindestens 
eine Million Mark betragen!) Im Juni 1905 wurden die jungen 
Aktien zu dem ungewöhnlich hohen Kurse von 312,50 an die Börse 
gebracht, was sich wegen der aufsteigenden Konjunktur leicht er- 
möglichen ließ, obgleich der Stand des Werkes bereits in cadente 
domo war und die letzte Dividende nur noch 20 Proz. betragen 
hatte. Um das vermehrte Aktienkapital zu beschäftigen, wurden 
neue Fabrikationszweige aufgenommen. Der neu eingerichtete 
Motorenbau mißglückte gänzlich, und Verluste auf Verluste stellten 
sich ein. Als bekannt wurde, daß für 1906 keine Dividende zur 
Ausschüttung gelangen konnte, sanken die Aktien auf 110,00 am 
25. März 1907. Das Publikum hat daher einen Verlust von rund 
200 Proz. erlitten und zwar nicht nur an den jungen, sondern auch 
an den alten Aktien, demnach in Summa 2000000 M. Dazu ist das 
Werk durch seine Verbindung mit „potenten Geldmächten“ von einem 
soliden, ruhig arbeitenden Unternehmen, das reiche Gewinne ab- 
warf, zu einem unsicheren, wenig gefestigten geworden, dessen sich 
eine wilde Börsenspekulation bemächtigt hat. Die eingeweihten Kreise 
vermochten sehr lange vor dem Bekanntwerden des Mißerfolges à la 
baisse zu spekulieren, um den Verlust des Publikums als reichen 
Gewinn für sich abzuschöpfen und ins Trockene zu bringen. Daß 
dieses tatsächlich geschehen ist, beweisen die heftigen Kursschwan- 
kungen der Kyffhäuserhütte vor Veröffentlichung des mißlichen 
Standes für das Jahr 1906. Die Hochfinanz, die bereits bei der 
Emission der neuen Aktien ein glänzendes Geschäft machte, hat 
demnach eine reichliche Ernte gehalten. Die prekären Zustände, in 
welche das Werk geraten, bieten den finanziellen Kräften wiederum 
willkommenen Anlaß zu neuer Beute. Um weitere Betriebsmittel zu 
schaffen, wird abermals eine Erhöhung des Grundkapitals vorgenon- 
men, die 500000 M. beträgt. Trotz des auf 110,00 gesunkenen Kurses 
verpflichtete sich die sanierende Großbank, die halbe Million neuester 
Aktien zu 150 zu übernehmen und sie zu 155 an die alten Aktionäre 
bezw. das Publikum zum Absatze zu bringen. Nach einem Emissions- 
gewinne von 25000 M. kann daher das alte Spiel von neuem be- 
ginnen. Die Kurse werden weit über 155 getrieben, sodaß für das 


1) $ 1 der Bekanntmachung des Reichskanzlers, betreffend die Zulassung vol 
Wertpapieren zum Börsenhandel vom 11. Dezember 1896. 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden etc. 645 


kaufende Publikum anscheinend ein augenblicklicher Gewinn bevor- 
steht!). Die Kulisse wirft sich auf das Papier, um den kleinen momen- 
tanen Verdienst abzuschöpfen, und das Publikum, das nichts gelernt 
und alles vergessen hat, bleibt später mit dem Papiere behangen. 
Sollten weitere Schiksalsschläge die Kyffhäuserhütte betreffen und 
noch dazu eine absteigende wirtschaftliche Periode, wie sie durch 
nicht zu verkennende Anzeichen bereits recht deutlich verkündigt 
wird, sich eine längere Zeit geltend machen, so kann das Publikum weiter 
trauern, während die eingeweihten Kreise und Faiseure sich rechtzeitig 
aus der Schußlinie begeben. Aber auch ohne derartige Aussichten 
muß es dem Werke schwer werden, auf das fast vervierfachte Aktien- 
kapital eine einigermaßen ausreichende Dividende zu gewähren. Die 
früheren Fleischtöpfe Egyptens sind unwiderbringlich dahin. 

Wir haben dieses Falles unter zahlreichen anderen nur erwähnt, weil 
er ein typischer ist und beweist, daß nicht jedesmal durch das Ein- 
greifen der Hochfinanz eine Förderung der industriellen und gewerb- 
lichen Entwickelung unseres Vaterlandes herbeigeführt wird. Wenn 
auch die vielen Emissionen nicht immer gleich günstige Ausbeute- 
objekte abgeben, so bleibt es doch eine unbestrittene Wahrheit, daß 
die hauptsächlichsten Gewinne der großen Banken aus Emissionen 
herrühren: einem Vorzugsgeschäfte dieser, namentlich zu Zeiten der 
Hochkonjunktur. 

Wie stark die Emissionstätigkeit der Großfinanz ist, mag gleich- 
falls an einem Beispiele, das mit dem vorigen nichts zu schaffen 
hat, gezeigt werden. Nach ihrem Geschäftsberichte für 1906 hat die 
Diskontogesellschaft in Berlin sich im Jahre 1906 an nicht weniger 
als 94 Emissionen beteiligt, unter denen sich 67 industrielle Gesell- 
schaften befanden. Andere Großbanken haben keine geringere 
Tätigkeit auf dem Gebiete der Emissionen entfaltet und aus ihnen 
reiche Gewinne erzielt. — 

Das Schwergewicht bildet bei den geschilderten Uebelständen 
die illegale Beeinflussung der Kursfeststellungen, bezw. die Fälsch- 
ungen des Kurszettels.. Damit soll keineswegs gesagt sein, daß bei 
der Notierung unredlich vorgegangen wird, den beteiligten Personen 
auch nur eine moralische Mitschuld oder gar dolose Handlungen zur 
Last gelegt werden müßten. Das sei ferne! Alles vollzieht sich 
höchst ehrenwert; denn die in Frage kommenden Personen sind alle, 
alle ehrenwert. Die Gesetze sowie die verwaltungsrechtlichen Vor- 
schriften werden durchweg peinlich genau erfüllt, und keiner ver- 
mag irgend jemanden eines Fehls zu zeihen. Dennoch ist das Ergeb- 
nis eine großartige Fälschung der Kurse; denn der Kurszettel 
spiegelt keineswegs die wirkliche Geschäftslage des Verkehrs an der 
Börse wider ($ 29 B.G.), und das außerhalb der Börse stehende 
Publikum kann erheblich geschädigt werden und wird tatsächlich 


1) Am 18. April 1907 waren sie bereits wieder auf den Stand von 150,00 be- 
zahlt und Geld gebracht bei einem Werke, das für 1906, ein Jahr der wirtschaft- 
lichen Hochkonjunktur, keine Dividende zu verteilen vermochte und mit seiner 
Motorenabteilung einen vollen Zusammenbruch erlitten hatte! — 


646 Georg Wermert, 


in stärkstem Grade benachteiligt. Die Oligarchie der Großfinanz er- 
hebt immer stärker ihre Herrschgewalt, und die Börse selbst sinkt 
dabei zur Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit hinab. — 


8. Können die Kursmakler die Kurszettelwahrheit schaffen ? 


Wie kann den geschilderten Uebelständen gesteuert werden? 
Es gibt eine Anzahl Wege, die zu diesem Ziele führen. Von ihnen 
mag derjenige, der mit Hilfe der Kursmakler Wandlung schaffen 
will, im Nachstehenden zuvor betrachtet werden. 

Vor kurzem hat ein offensichtlich den Maklerkreisen der Börse 
angehörender, börsenkundiger Mann unter der Bezeichnung „Prak- 
tiker“ einen Vorschlag der Oeffentlichkeit unterbreitet, der hier zu- 
nächst erörtert werden mag!). 

Die Fälschung der Kurse wird dadurch bewirkt, daß nur ein 
geringer Teil der an der Börse getätigten Geschäfte bei der Kurs- 
feststellung zur Berücksichtigung gelangt. Der größere Teil wird 
nicht zur Kenntnis der feststellenden Organe gebracht. Es muß 
daher ein Mittel gefunden werden, welches tunlichst sämtliche Ge- 
schäfte zur Kenntnis der Kursmakler bringt. Eine Beseitigung 
der Kulisse ist nicht angängig, weil sie zur Verminderung der 
Stöße und Gegenstöße notwendig ist, auch sonst für den Börsen- 
verkehr wichtige Dienste leistet. Dennoch müssen sämtliche Geschäfte 
in den Maklerbüchern zum Vorschein kommen. Das kann geschehen 
durch ihre unterschiedliche Besteuerung. Diejenigen Ab- 
schlüsse, welche durch Kursmakler vermittelt werden, sind mit 
einer wesentlich geringeren Börsensteuer zu belasten als diejenigen, 
welche sich im freien Verkehre vollziehen. Diese Steuerermäßigung 
erstreckt sich auch auf die beiden Kommissionsgeschäfte, welche 
der Vermittlung des Kursmaklers vorhergehen. Dieser stempelt die 
Schlußscheine jener Kommissionsgeschäfte ab mit dem Vermerke: 
„amtlich vermitteltes Börsengeschäft*, wobei er auf seinen Schluß- 
schein bloß einen Vermerk macht, aber den Kommissionären je den 
1!/,-fachen Stempelbetrag und den !/,-fachen Betrag der an ihn zu 
zahlenden Kurtage berechnet. Die im freien Verkehre vermittelten 
Geschäfte können die gleiche Steuerermäßigung genießen, wenn sie 
nachträglich angemeldet werden. Sie gelangen dann mit dem Ver- 
merke zur Abstempelung: „Deklariertes Börsengeschäft“. 

Gewiß werden durch die Steuerermäßigung zahlreiche Geschäfte 
den Kursmaklern zugeführt, wie auch weiter zahlreiche Geschäfte 
durch nachträgliche Anmeldung zur Kenntnis der Kursmakler ge- 
langen und somit bei der Kursfeststellung berücksichtigt werden 
können; aber wenn der „Praktiker“ sich der Hoffnung hingibt, daß 
sodann die Banken ihre Aufträge nicht mehr in sich kompensieren, 
d. h. das Selbsteintrittsrecht aufgeben und mit allen Kommissionen 


1) Wie kann die Börse mehr der Allgemeinheit dienstbar gemacht werden? 
Leipzig 1907. 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 647 


an der Börse als Käufer oder Verkäufer auftreten, so müssen wir 
diese Anschauung leider als einen Irrtum bezeichnen. Die bei der 
Kompensation in sich den Kunden zu berechnende Kurtage nebst 
Provision wiegt die Steuerdifferenz auf. Die Steuerermäßigung für 
amtlich vermittelte und amtlich deklarierte Geschäfte an der Börse 
kann nicht so erheblich ausfallen, daß Kurtage und Provision daneben 
verschwinden. Denn wollte man eine solche stark unterschiedliche 
Steuer einführen, so würde der ganze Wertpapierhandel, der sich 
außerhalb des Rahmens der Börse vollzieht, zu Unrecht belastet 
werden. Man würde den provinziellen Effektenverkehr mit Gewalt 
an die Börse treiben, darunter auch die Papiere der kleineren und 
soliden Werke, die einen sicheren Besitztitel für das Publikum ab- 
geben und an der Börse nicht zugelassen sind, sei es, daß man ihre 
Zulassung nicht nachgesucht hat, sei es, daß wegen des geringen 
Umfanges eine Zulassung nicht möglich ist. Ob eine solche gewalt- 
same Konzentration des Handels mit Werten an der Börse wünschens- 
wert ist, will uns außerordentlich fraglich erscheinen. Wir brauchen 
hierbei nur an unser obiges Beispiel der Kyffhäuserhütte zu er- 
innern, um das Ausreichende gesagt zu haben. Die Werke würden 
mit dem erhöhten Aktienkapitale nichts anzufangen wissen, der 
Markt würde mit Papieren überflutet werden, und dem Provinz- 
bankier der Handel mit diesen Objekten auch noch genommen! 

An dieser Stelle hat der Vorschlag des „Praktikers“ daher be- 
reits ein großes Loch, durch das er zum Scheitern gelangt. Doch 
mögen seine geistvollen Darlegungen noch etwas näher betrachtet 
werden. 

Um die inländischen Börsen zu bevorzugen, sollen die Auslands- 
geschäfte mit der höheren Steuer belastet werden. Weil aber der 
Arbitrageverkehr eine vorzügliche kursausgleichende Wirkung besitzt, 
sollen ihm die jetzigen Begünstigungen (Rückzahlungen) verbleiben. 

Der Verkehr konzentriert sich nach der Einführung der diffe- 
renziellen Besteuerung mehr und mehr bei den Kursmaklern, es 
laufen bei ihnen bereits vor der Börseneröffnung zahlreiche Auf- 
träge ein, weshalb auch stets erste Kurse zu Anschreibung gelangen 
können. Das ärgerliche Leerbleiben der schwarzen Tafeln innerhalb 
der Schranken nach Beginn der Börsenversammlung wird dann ver- 
mieden werden. Dem ist beizustimmen. 

Ferner ist die Möglichkeit gegeben, im Kurszettel nicht nur 
die Kurse, sondern auch die Höhe der Umsätze an der Börse 
anzugeben: eine höchst wünschenswerte Vervollständigung der amt- 
lichen Notierungen, die wir recht eingehender Erwägung anheim 
geben möchten. — 

Der gegenwärtig bestehende Zustand, einen gestempelten Schluß- 
schein eine lange Reihe Kulissiers A bis X durchlaufen zu lassen, 
bleibt bestehen. Die zwischen Anfang und Schluß befindlichen 
Mittelglieder begleichen bloß ihre Differenzen, ohne die Steuer zu 
entrichten. Sie werden dabei als Makler aufgefaßt. Wenn aller- 
dings eine andere Rechtsauffassung durchgreifen sollte, nach der für 


648 Georg Wermert, 


jedes innerhalb der „Kette“ abgeschlossene Geschäft ein neuer 
Schlußschein auszustellen ist, würde ein großer Teil der Kulisse 
unmöglich gemacht werden. Das ist vorerst nicht wünschenswert; 
denn die Kulisse bietet außer den bereits bezeichneten manche 
sonstige Vorteile. Beim Unterbringen der Aufträge in der Kulisse 
bleibt der Auftraggeber leichter verborgen. Große Aufträge werden 
durch die Kulisse rasch in viele kleine zerlegt, wodurch heftigere 
Schwankungen möglichst vermieden werden. Auch ist die Kulisse 
stets geneigt, Geschäfte abzuschließen, da in ihr die gewerbemäligen 
Börsenhändler zusammengefaßt erscheinen. — Es sind das Wahrheiten, 
die zwar bekannt sind, deren wiederholte Betonung jedoch nichts 
schadet. Nun sollen aber nach dem „Praktiker“ die Kursdifferenzen 
bei den Gliedern der „Kette“ die amtliche Kursfeststellung nicht 
berühren, sie bilden eine innere Angelegenheit der Kulisse. Bei der 
Kursfeststellung werden deshalb nur die Preise, die auf den Schluß- 
scheinen zum Ausdrucke gelangen, berücksichtigt. Bei Einbeziehung 
der Mittelglieder würde auch ein zu hoher Umsatz festgestellt werden. 
Hier befindet sich wiederum ein stark wunder Punkt bei dem 
„Praktiker“. Umsätze von Papieren bleiben Umsätze, ganz einerlei, 
unter was für Personen sie sich vollziehen. Umsätze zwischen 
Makler und Makler, oder zwischen Bankier und Bankier, oder zwischen 
Bankier und Makler bezw. Kulissiers bleiben immer die gleichen 
Umsätze. Sie alle gehören zum Gesamtverkehre der Börse, sie wirken 
auf die Geschäftslage ein und summiert bilden sie den Gesamtumsatz 
der Börse. In ihrer wirtschaftlichen Bedeutung kann ein Unterschied 
nicht konstruiert werden. Dazu wirken sie tatsächlich auf die Kurs- 
gestaltung ein, wie an folgendem Beispiele zu ersehen ist: 
Gehandelte Menge 


3'/,-proz. Reichsanleihe Kurs Wert 
10 000 97,50 975 000 
5 000 97,70 488 500 
1.000 97.30 97 300 
©4000 97,50 390 400 
Summa 20 000 I1 951 200 
a 10951200 
Rum ee BR 


Es ist nun für jedermann einleuchtend, wenn jeder Posten an 
der Hand seines Schlußscheines noch mindestens einen zehnmaligen 
Umsatz bei immer wechselnden Kursen erfährt, daß es dann ein 
blinder Zufall sein würde, falls sich der gleiche Kurs ergeben sollte. 
Die Wahrscheinlichkeit ist fast 1, daß sich immer ein abweichender 
Kurs herausschält. Es wirken also nicht bloß diejenigen auf den 
Kurs ein, welche zufällig am Schlusse der Börse mit dem Schluß- 
scheine behaftet bleiben und nun nolens volens Lieferanten oder 
Abnehmer von Effekten werden, sondern sämtliche Glieder der Kette, 
wenn sie auch seither keinen Stempel zu entrichten haben. — 

Unter der Voraussetzung einer differenzierten Börsensteuer würden 
demnach keineswegs alle an der Börse getätigten Geschäfte bei der 
Kursfeststellung berücksichtigt werden, sondern nur diejenigen, über 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 649 


welche ein Schlußschein ausgestellt worden ist, vorausgesetzt, daß 
das Interesse des Auftraggebers an der Geheimhaltung nicht so 
stark ist, um dem höheren Steuerbetrage die Wage zu halten. 

Einige Besserungen werden allerdings erzielt: Die Herrschaft 
der Großbanken über die Kurse wird etwas erschwert werden. Durch 
Berücksichtigung einer größeren Anzahl von Geschäftsabschlüssen 
bezw. Aufträgen wird der Kurszettel einiges an Wahrheit gewinnen, 
wodurch das Provinzgeschäft eine Förderung erfährt. Das ist aber 
auch alles. Keineswegs offenbart der Kurszettel die richtige Ge- 
schäftslage, weil noch immer ein großer Teil der Geschäfte sich der 
Kenntnis der Kursmakler entzieht. Dazu wird die Selbstkompen- 
sation der großen Banken nicht gehindert. Sie bleiben kleine Börsen 
für sich und lassen nur so viele Papiere an die amtliche Börse ge- 
langen, um den Kurs zu regulieren. Die Banken können nach wie 
vor gemäß $ 403 HGB. den Kunden Kosten in Rechnung stellen, 
die sie an der Börse gespart haben, weshalb sie auch im Wett- 
bewerbe mit den kleinen Bankiers eine niedrige Provision zu be- 
rechnen im stande sind. Allerdings muß der Kommissionär gemäß 
$ 15 des Stempelgesetzes, falls er am gleichen Tage eine Einkaufs- 
kommission und Verkaufskommission als Selbstkontrahent ausführt, 
den 1!/;fachen Stempel für jede Kommission entrichten. Dafür fällt 
ihm aber die Kurtage gänzlich in den Schoß. Dazu kann er auch 
noch am Stempel sparen. Führt er den Selbsteintritt erst am näch- 
sten Tage aus, so bedarf es bloß der Entrichtung des einfachen 
Stempels. Dem kleinen Bankier wird daher nach wie vor der 
Wettbewerb recht sauer gemacht. 

Das Mittel des „Praktikers“ ist daher wohl geeignet, den Kurs- 
maklern eine erheblich größere Anzahl von Geschäften zuzuführen, 
weshalb ihr Einkommen aus der Kurtage sich wesentlich erhöht, 
wie auch bald eine größere Zahl von Kursmaklern (gegenwärtig sind 
in Berlin 81 an der Fondsbörse und 4 an der Produktensbörse tätig) 
berufen werden müßte. Der Allgemeinheit würde jedoch diese Neue- 
rung wenig zu gute kommen. 

Zwar läßt sich wohl mit leichter Mühe ein chimärischer Plan, 
durch Begünstigung der Kursmakler zu einem Gegengewichte gegen 
die Oligarchie der Banken, zur Reformation des ganzen Wertpapier- 
handels und schließlich der Aktiengesellschaften zu gelangen, unter 
Beihilfe einer ausschweifenden Phantasie aufbauen, aber wir be- 
zweifeln, ob sich in der nächsten Zukunft eine Regierung finden 
wird, die solches zu unternehmen gewillt ist. Das soll uns aber 
nicht abhalten, den Plan hierselbst in seinen Grundzügen zu skiz- 
zieren. 

Die durch die differenzielle Börsensteuer begünstigten Kurs- 
makler schließen sich zusammen zu einem Maklervereine, der eine 
Gesellschaft mit beschränkter Haftung bildet. Die Maklerkammer 
als dessen Vorstand übt eine scharfe Aufsicht über die ihr unter- 
stellten Kursmakler, die eine einzige Interessengemeinschaft bilden. 
Das Kassenwesen übernimmt die Kammer oder der Vorstand, von 


650 Georg Wermert, 


ihm beziehen die Kursmakler die besonders gefärbten, geringer be- 

werteten Marken, und zu seiner Kenntnis gelangt jedes nachträglich 
deklarierte Börsengeschäft. Da die Maklerkammer der Regierung 
direkt unterstellt ist, so kann sie sich jederzeit über den gesamten 
Börsenverkehr, so weiter in der Steuerermäßigung zum Ausdrucke ge- 
langt, genau unterrichten. 

Der Kursmakler behält ein beschränktes Eintrittsrecht. Er stellt 
die vermittelten Käufe und Verkäufe täglich zusammen, und der 
Rest, der nicht aufgeht, ist für seine Person abgeschlossen. Nimmt 
dieser Rest einen erheblichen Umfang an, so vermag leicht die Ge- 
fahr des Zusammenbruchs über dem Haupte des einzelnen Kurs- 
maklers schweben. Bei der Maklergesellschaft mit beschränkter Haf- 
tung ist solches ausgeschlossen. Nach Lage des Vereinsvermögens 
erhält jeder Kursmakler sein Kontingent, wie weit er das Selbst- 
eintrittsrecht ausüben und die Gesellschaft belasten darf. Der täg- 
liche Abschluß des Maklerbuches und dessen Kontrolle durch die 
Maklerkammer verhindert jeden Mißbrauch und jede Ueberschreitung 
des Kontingentes. Die Mittel der Maklergesellschaft werden ge- 
bildet durch die Einschüsse der einzelnen Makler. Verstärkt werden 
sie durch Anteilscheine, die als Inhaberpapiere gleich den sonstigen 
Inhaberpapieren an der Börse zum Verkaufe gelangen. Statt einer 
Gesellschaft mit beschränkter Haftung, kann die Maklergesellschaft 
auch als eine Kommanditgesellschaft auf Aktien gedacht werden, bei 
der die Kursmakler die persönlich haftenden Gesellschafter und die 
Erwerber von Aktien die Kommanditisten abgeben. Da das Papier 
eine sichere, gut verzinsliche Kapitalsanlage darstellen wird, so dürfte 
es nicht schwer halten, der Maklergesellschaft ein bedeutendes Be- 
triebskapital zuzuführen. Die Einnahmen der Kursmaklergesellschaft 
setzen sich zusammen aus der Kurtage der ihnen zahlreich zu- 
strömenden Geschäfte und dem Gewinne aus dem Selbsteintritts- 
rechte. Da die jetzige Umsatzsteuer rund 20 Millionen Mark ein- 
bringt, wird die Kurtage nach Durchführung dieses Planes wahr- 
scheinlich auf den gleichen Betrag steigen. Die Kursmaklergesell- 
schaft ist daher im stande, den Ausfall zu decken, den die Finanzen 
des Reiches durch die Herabsetzung der Steuer auf die amtlichen 
Börsengeschäfte erleiden. Das Reich verliert nicht nur nichts, son- 
dern kann noch erheblich höhere Beträge aus dem Börsenverkehre 
ziehen, wenn z. B. gesetzlich angeordnet wird, daß gewisse Ueber- 
schüsse und der Agiogewinn bei der Ausgabe der Makleraktien an 
die Reichsfinanzen abgeführt werden, wie solches in ähnlicher Weise 
in betreff des ersten Punktes bei der Reichsbank der Fall ist. 

Dem Kursmakler stehen bedeutende Vorteile zu Gebote bei den 
eigenen Käufen und Verkäufen bezw. der Ausübung des Selbstein- 
trittsrechts. Während für die übrigen Geschäfte Kurtage zu ent- 
richten ist, kommt sie hier in Wegfall. Es können daher auch die 
kleinen Spannungen der Kurse ausgenutzt werden, die sonst an der 
Höhe der Kurtage scheitern. Außerdem ist er stets in der Hinter- 
hand gegenüber den Auftraggebern. Da jedem Kursmakler sein 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden etc. 651 


Kontingent vorgeschrieben ist, kann eine gefahrdrohende Belastung 
der Gesellschaft mit eigenen Geschäften nicht stattfinden. — 

Die Sicherheit, welche die fraglichen Aktien bieten, wird sie zu 
einem beliebten Börsenpapiere machen, die Großbanken werden sich 
dieses Papiers annehmen, um einen Sitz im Ausschusse der Kurs- 
maklergesellschaft — der wie der Reichsbankausschuß gedacht werden 
kann — und somit enge Fühlung mit der Maklerkammer und der 
Regierung zu erhalten. Der Staat vermag durch die Kursmakler- 
gesellschaft allmählich die Aktien eines Unternehmens zu erwerben, 
ohne daß davon in der Oeffentlichkeit auch nur ein Wort verlautet. 
Die Verstaatlichung eines Bergwerkes oder einer großen Anlage der 
schweren Industrie würde sich daher allmählich ohne nennenswerte 
Steigerungen der Kurse durchführen lassen, während sie jetzt bei 
der Hibernia, indem die Hilfe einer Großbank in Anspruch genommen 
werden mußte, trotz starker Kurstreibereien mißlungen ist. — 

Aber die Aussichten für den Staat sind noch weit großartiger. 
Der Kursmakler treibt mit allen an der Börse zugelassenen Papieren 
Handel. Durch Selbsteintritt wird die Gesellschaft Besitzer von 
Aktien und sontigen Effekten. Bei der Bedeutung der Gesellschaft, 
die für den Börsenverkehr erheblicher ist, als die der Reichsbank 
für den Geldverkehr, wird es ihr leicht, in die Aufsichtsräte der 
Aktiengesellschaften einzudringen. Da die Kursmaklergesellschaft 
einen amtlichen Charakter hat, erhält dadurch der Staat die Gelegen- 
heit, in den Aufsichtsräten der Aktiengesellschaften ein gewichtiges 
Wort mitzureden und den daselbst vertretenen Großbanken die 
Stange zu halten. Die Generalversammlungen werden nicht mehr 
durch die Hochfinanz allein beherrscht. Die Abhängigkeit jener von 
dieser, da sie ihnen Geld vorschießt, erfährt ein heilsames Gegen- 
gewicht. 

Durch die Besetzung der Aufsichtsratsstellen vermittelst Per- 
sonen, die der engsten Kontrolle des Staates unterstehen, gewinnt 
er den wünschenswerten Einfluß auf Industriezweige, wie z. B. den 
Steinkohlenbergbau, dessen er jetzt zu seinem Schmerze ermangelt. 
Auf diesem Wege kann der Staat immer weiter in die Verwaltung 
der Aktiengesellschaften eindringen, er kann deren Aktien in immer 
stärkerem Maße erwerben, bis er schließlich das ganze industrielle, 
bergbauliche und gewerbliche Getriebe in seiner Hand vereinigt. 
Er hat unter völliger Beiseiteschiebung des Sozjalismus und der 
Sozialdemokratie eine ungeheuere soziale Tat ausgeführt, und die 
Erträge aus den wirtschaftlichen Unternehmungen fließen nicht ver- 
hältnismäßig wenigen Privatpersonen zu, sondern koumen der Ge- 
samtheit zu gute, indem sie in die Staatskasse abgeführt werden. 
Mit den gewaltigen Mitteln können nicht nur bedeutende Steuerer- 
mäßigungen bewirkt, sondern auch weitgehende sozialpolitische 
und ausgleichende ökonomische Pläne durchgeführt werden. Nicht 
nur kann die soziale Versicherungstätigkeit und Gesetzgebung in 
einer bisher unmöglich erscheinenden Weise ausgebaut werden, 
sondern es vermögen auch zahreiche kleine Besitzer auf staatlich 


652 Georg Wermert, 


erworbenen Ländereien angesiedelt zu werden, damit stets ein 
kräftiger Grundstock der Bevölkerung im ganzen Reiche erhalten 
bleibt, aus dem die übrigen Kreise sich fortgesetzt zu regenerieren 
im stande sind, wie auch für die Schaffung einer stattlichen Flotte 
nicht fortgesetzt ärmliche Mittel aus noch ärmlicheren Steuern, die 
den Verkehr in unzulässiger Weise belasten, gesucht zu werden 
brauchen. Es wird durch diese Maßnahmen von seiten des Staates 
nichts weiter durchgeführt, als was gegenwärtig durch die immer 
mehr überhandnehmende Vertrustung der Industrie seitens kapital- 
kräftiger Mächte erreicht wird, die, anstatt dem freien Spiele der 
Kräfte Bahn zu schaffen, vermittelst monopolartiger Ausgestaltung 
der Unternehmerverbände, durch unnatürliche Preisgestaltung und 
sonstige Maßnahmen die Gesamtheit zu Gunsten einzelner mit ge- 
waltigen Extrasteuern belasten. — 

Die wirtschaftliche Entwickelung tendiert allerdings dahin, wenn 
dem privaten Zusammenschlusse der großen Unternehmungen in Zu- 
kunft kein Einhalt geboten wird, das Erträgnis der Gesamtheit mehr 
und mehr in wenige Kanäle zu leiten: eine völlig umgekehrte Staats- 
ökonomie, die nicht weiter fortgeführt werden darf, da sie im Gegen- 
teile wirken soll, das Erträgnis der Gresamtheit immer stärker der Ge- 
samtheit in tunlichst gleichmäßiger Weise zu gute kommen lassen. — 


9. Mittel zur Schaffung der Kurszettelwahrheit. 


Verlassen wir diese weiten Perspektiven, deren Verwirklich- 
ung, wenn überhaupt je möglich, wohl noch eine recht lange Zeit 
auf sich warten lassen wird und betrachten wir vorerst die Wirkung 
eines engeren Zusammenschlusses der Kursmakler auf den Börsen- 
verkehr, wie er sich in der Gegenwart vollzieht. 

Falls tatsächlich an der Börse nur Aufträge zu Realverkäufen 
und -käufen ausgeführt würden, müßte ein starkes tägliches Schwanken 
der Kurse die Folge sein, wie auch zahlreiche Aufträge unerledigt 
bleiben. Daher ist eine umfassende Tätigkeit der Banken, Bankiers 
und Privatmakler erforderlich, die je nach Bedarf eingreifen, oder 
auch als gewerbsmäßige Börsenhändler täglich im Markte auf dem 
Posten sind. Die Kulisse befriedigt deshalb das herantretende Be- 
dürfnis, sie kauft und verkauft in großen Mengen und gleicht die 
Kursschwankungen namentlich durch einen entwickelten Termin- 
handel aus. Die großen Kurven der Kurse tönen sich dabei ab zu 
kleinen täglichen Vibrationen. Die Kulisse ähnelt einem Schwamme, 
der die Geschäfte an sich saugt und Angebot und Nachfrage sättigt. 
Die Kursmaklergesellschaft, falls sie wirklich auferstehen sollte, ver- 
mag nicht das gleiche zu leisten, da sie bei der notwendigen Kon- 
tingentierung der einzelnen Kursmakler nicht die Dehnbarkeit der 
Kulisse besitzt. Dafür ist aber die Gesellschaft nicht über ihre Kraft 
belastet, weshalb sie sich bei stürmischen Ereignissen widerstandsfähiger 
als jene beweist. Sie wird namentlich dahin einwirken, daß sich bei 
ruhigeren Zeiten die Kurse noch gleichmäßiger bewegen als seither; 
aber ein Eingreifen in gefährlicheren Tagen, um die Ueberlastung 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 653 


der Kulisse auszugleichen, wie es seitens der Banken geschieht, ist 
ihr nicht möglich. Sie kann sonach die Tätigkeit der Großfinanz 
in unruhigen Situationen nicht ersetzen. Der Börse muß daher auch 
in Zukunft die Kulisse wie die Hochfinanz erhalten bleiben. Mithin 
kann die Vereinigung der Kursmakler nicht die gegenwärtige Börse 
ersetzen, wenn sie auch manche gute Dienste zu leisten im stande 
ist. Außer den angeführten mag nur noch auf die Arbitrage hin- 
gewiesen werden, die durch die Kursmakler von Börse zu Börse 
im direkten Verkehre ohne die üblichen Spesen ausgeführt werden 
kann, wodurch die Glättung der Kursdifferenzen an den ver- 
schiedenen Plätzen in weit stärkerem Maße als seither durchgeführt 
wird. Hierbei kommen wir auf einen der ernstlichsten Beachtung 
zu überweisenden Punkt, bei welchem eine Abhilfe nicht nur leicht 
möglich, sondern auch dringend erwünscht ist. 

$ 25 der Maklerordnung bestimmt nämlich, daß die Kursmakler 
Geschäfte nur für diejenigen Börsenbesucher vermitteln dürfen, 
welche im Besitze einer zum Abschlusse von Börsengeschäften be- 
rechtigenden Börsenkarte sind. Damit wird ihre Tätigkeit lediglich 
auf die Börsenbesucher beschränkt, sie dürfen aus der Provinz wie aus 
anderen Börsenplätzen und Börsen keine Aufträge übernehmen. 
Dadurch ist der ganze Eflektenhandel des Landes, soweit er an der 
Börse zum Austrage kommt, auf die Banken und Bankiers ange- 
wiesen, welche am Börsenplatze ihre Niederlassung haben und täg- 
lich an der Börse erscheinen. Sie besitzen dadurch ein Monopol, 
ähnlich den mittelalterlichen Bann-, Stapel- oder Umschlagsrechten, 
die einem zu entwickelnden Handelsverkehr die größten Hindernisse 
bereiteten und wie ein schwerer Albdruck auf dem Hinterlande 
lasteten. Denn der gesamte Umsatz, der von außerhalb kommt, 
muß durch diese Banken und Bankiers vermittelt werden; sie schieben 
sich als nicht zu umgehende Zwischenglieder ein. Der Provinz- 
bankier wird vom Börsenbankier abhängig, letzterer lernt die Auf- 
nahmefähigkeit der Provinz genau kennen, er durchschaut die Be- 
dürfnisse daselbst, kennt die Aufträge und weiß in seinem Interesse 
die erforderlichen Maßnahmen zu treffen. — 

Da nun dieser letzte Ueberrest des Mittelalters, dieses „Börsen- 
stapelrecht“, den Verkehr hemmt und auch belastet, außerdem den 
Provinzbankier dem Börsenbankier unterwirft und einer ungesunden 
Konzentration des Effekten-, Wechsel- und Geldverkehrs den größten 
Vorschub leistet, so ist es erforderlich, es schleunigst zu beseitigen, 
zumal alle ähnlichen Rechte dem freien Verkehre, dem ungehemmten 
Spiele der Kräfte haben weichen müssen. 

An den Börsenplätzen wird man sich naturgemäß hiergegen 
sträuben. Die bisherigen Einwände halten jedoch nicht stand. Der 
Börsenbesucher, der den Kursmaklern Aufträge erteilt, kann vorher 
nicht wissen, mit wem das Geschäft vermittelt werden wird. Wenn er 
nun sieht, daß es mit einem außerhalb der Börse Stehenden abge- 
schlossen ist, vermag er nicht die Börseneinrichtungen, namentlich 
das Börsenschiedsgericht, bei Differenzen anzurufen. Er ist auf den 
gewöhnlichen Weg der Klage verwiesen, weshalb für ihn ein Nach- 


654 Georg Wermert, 


teil gegenüber den zwischen Börsenbesuchern abgeschlossenen Ge- 
schäften besteht. — 

Dieser unschuldige Einwand zur Deckung des „Börsenstapel- 
rechts“ wird einfach dadurch beseitigt, daß man den außerhalb der Börse 
Stehenden, der unmittelbar durch die Vermittelung der Kursmakler 
an der Börse seine Geschäfte auszuführen wünscht, in streitigen 
Fällen usancenmäßig den Börseneinrichtungen unterstellt, wobei der 
das Geschäft vermittelnde Makler ihn vertreten kann. Dadurch sind 
genügende Kautelen für den direkten Verkehr geschaffen, und der 
Dezentralisation des Effektenhandels wird erheblich Vorschub ge- 
leistet. Die Folgen bestehen in dem stärkeren Zusammenlaufen der 
Aufträge bei den Kursmaklern, der wenig leichteren Möglickeit der 
Großbanken, eine Börse durch Selbsteintritt in sich zu bilden. Es 
ergibt sich ferner eine geringere Einwirkung derselben auf die Kurs- 
gestaltung, wie auch durch die stärkere Inanspruchnahme der Kurs- 
makler eine größere Anzahl von Geschäften bei der Kursfeststellung 
Berücksichtigung finden wird. 

Die Beseitigung des „Börsenstapelrechtes“ wird daher zur Besse- 
rung der Kurswahrheit beitragen und den kleinen Provinzbankier 
fördern, wenn auch durch dieses Mittel keine genügende Abhilfe 
für die oben geschilderten Uebelstände gefunden ist. Es gilt daher, 
nach andern Ausschau zu halten. 

Als ein solches Mittel handelsrechtlicher Natur ist die Abände- 
rung von $ 403 HGB. anzusehen. Wenn der Kommissionär bei 
Ausübung des Selbsteintrittsrechtes nicht mehr die bei Kommissions- 
geschäften übliche Provision und die sonst regelmäßig vorkommenden 
Kosten zu berechnen vermag, sondern er selbst als reiner Käufer 
bezw. Verkäufer anzusehen ist, so wird hierdurch der Kleinbankier 
am Börsenplatze gefördert und der überhandnehmenden Konzentration 
des Bankgewerbes entgegengewirkt. Denn die den Kunden in Rech- 
nung zu stellende Kurtage, die bei Ausübung des Selbsteintritts- 
rechtes dem Kommissionär zufällt, vermag dann nicht mehr kom- 
pensierend auf die wirklichen Kommissionsgeschäfte der Großbank 
einzuwirken, weshalb der bisherigen Herabdrückung der Provision, 
die dem kleinen Bankier die Geschäfte entzieht und ihn seiner Existenz 
zu berauben droht, eine Grenze gesteckt ist. 

Ist die Aufhebung von § 403 HGB. aber gerechtfertigt? Die 
Berechnung der regelmäßigen Kosten und der gewöhnlichen Provision 
war dem Kommissionär beim Selbsteintritte bereits im Allgemeinen 
Deutschen Handelsgesetzbuche zugebilligt und ist von diesem in das 
neue Handelsgesetzbuch übernommen worden. Der Grund lag in 
folgendem: Der Kommissionär muß, wenn er dieses Recht ausüben 
will, bereits vorher ähnliche Geschäfte ausgeführt haben, weshalb 
ihm entsprechende Kosten erwachsen sind. Es ist daher billig, sie 
dem Kommittenten in Rechnung zu stellen!). Nach der Entschei- 


1) Staub, Dr. Hermann, Kommentar zum Handelsgesetzbuche, Berlin 1900, Bd.? 
8. 1468. 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 655 


dung des Reichsoberhandelsgerichtes!) ist es dabei gleichgültig, ob ihm 
die Kosten tatsächlich erwachsen sind; sie gelten als ein gesetzlicher 
Zuschlag zum Preise. 

Der Begründung kann nicht beigetreten werden, da durch sie 
das Recht des Kommissionärs einseitig gewahrt, das des Kommittenten 
vernachlässigt wird. Die Aufträge des letzteren können Kauf- oder 
Verkaufsaufträge sein. Nur bei Kaufaufträgen geht tatsächlich im 
Falle des Selbsteintrittes ein Geschäft des Kommissionärs vor- 
her. Bei den Verkaufsaufträgen können die Unkosten sich erst beim 
nachträglichen Wiederverkaufe einstellen. In ganz gleicher Lage be- 
findet sich der Kommittent. Sendet er einen Verkaufsauftrag, so 
hat er früher beim Erwerbe der Papiere die betreffenden Unkosten 
bestreiten müssen; sendet er einen Kaufauftrag, so wird er später 
mit den gleichen Unkosten zu rechnen haben. Darum befindet sich 
der Kommissionär als Selbstkäufer oder -Verkäufer in der gleichen 
Lage wie der Kunde. Jenem nun das Recht zuzugestehen, diesem 
Kosten in Rechnung zu stellen, die bei dem Geschäfte gar nicht 
entstanden sind und entstehen können, ist nicht angängig. Beide 
stehen als Käufer und Verkäufer einander gegenüber, und es wider- 
spricht allen kaufmännischen Regeln, den einen Teil beim Abschlusse 
eines Geschäftes mit einem Zuschlage zum Preise zu belasten zu 
Gunsten des anderen Teiles. 

Mit der Aufhebung oder Aenderung von $ 403 HGB. ist aber 
nichts Ausreichendes geschehen. Der Großbank bleibt noch immer 
die Möglichkeit, nur einen kleinen Teil der Papiere aus Emissionen 
an die Börse zu bringen, um den Kurs entsprechend zu regulieren, 
den anderen größeren Teil aber vom Lager ab im direkten Verkehre 
mit der Kundschaft zu veräußern und im Lande zu plazieren, wenn 
auch hierbei der Nebengewinn der bei der Kommission üblichen 
Kostenberechnung wegfällt. 

Der beklagte Uebelstand, daß die Geschäfte sich von der Börse 
zurückziehen, dieser Brennpunkt des Verkehrs verarmt und blutleer 
wird und jede größere Bank eine Börse in sich bildet, welche die 
wirkliche Börse nur als Popanz der amtlichen Kursnotierung nötig 
hat, beruht nicht nur auf mißgünstigen Aeußerungen der Kulisse, 
sondern tritt immer lebhafter in die Erscheinung, während für unsere 
wirtschaftliche Entwickelung eine starke Börse unbedingte Voraus- 
setzung ist, wie auch nur eine mächtige Börse den Einwirkungen 
der auswärtigen potenten Börsen genügend entgegenzuwirken und die 
Unabhängigkeit des heimischen Geldmarktes zu wahren vermag. 
Zu diesem Zwecke muß sich ein lebhafter Verkehr an der Börse 
konzentrieren, an ihr müssen die gewaltigen Umsätze sich vollziehen, 
che durch die Steinpaläste der Großbanken abgezogen werden 
dürfen. 

Vorstehende Voraussetzungen erscheinen erfüllt, wenn das Selbst- 
eintrittsrecht (§ 400 HGB.) wesentlich erschwert oder beseitigt wird. 


1) Band 6 S. 190, 


656 Georg Wermert, 


Das Selbsteintrittsrecht ist zwar an bestimmte Voraussetzungen 
gebunden. Es darf nicht stattfinden, wenn es seitens des Kommit- 
tenten verboten ist. Das Verbot kann ein ausdrückliches oder still- 
schweigendes sein. Eine stillschweigende Willenserklärung ist zu 
erforschen gemäß §§ 133 und 157 BGB., wie auch dann eine solche 
vorliegt, wenn der Kommittent durch seinen Auftrag auf die Kurse 
einzuwirken wünscht, aus welchem Grunde das Geschäft an der Börse 
zur Abwickelung gelangen muß. Letzteres hat indessen der Kom- 
missionär nicht zu vermuten, sondern es muß ihm ausdrücklich zu 
erkennen gegeben werden. 

Ein Verbot des Selbsteintrittsrechtes findet jedoch nur in selte- 
nen Fällen statt, teils aus Unkenntnis des Kommittenten, teils in 
der Annahme, daß die eigene Angelegenheit bei der Bank, mit der 
man verkehrt, sich in den besten Händen befindet. Daher ist die 
andere Vorschrift wichtiger, nach welcher der Selbsteintritt bei Wert- 
papieren nur dann erfolgen kann, wenn bei ihnen ein Börsen- oder 
Marktpreis amtlich festgestellt wird. Die Kursnotierung hat mangels 
sonstiger Verabredungen am Platze des Kommissionärs stattzufinden!)). 
Demnach ist ein Selbsteintritt in der Provinz und namentlich in allen 
den Städten, in denen Börsen- oder Marktpreise nicht amtlich fest- 
gestellt werden, nicht möglich. Sogar an den Börsenplätzen ist der 
Selbsteintritt nur gestattet, soweit amtliche Kurse im Kurszettel er- 
scheinen. Wird an dem fraglichen Tage der Kurs gestrichen, oder 
wird nur eine Brief- oder Geldnotiz festgestellt, so darf der Kom- 
missionär das Selbsteintrittsrecht nicht ausüben, selbst wenn das 
Interesse des Kommittenten durch die Geldnotiz nicht beeinträchtigt 
erscheint?). Da indessen $ 402 HGB. nur die Absätze 2—5 des $ 400 
als zwingende, als durch Vertrag nicht zu beseitigende erklärt, so 
kann durch ausdrückliche oder stillschweigende Uebereinstimmung 
obige Bedingung umgangen werden. Unter dieser Voraussetzung darf 
der Selbsteintritt auch dann erfolgen, wenn ein Geldkurs oder gar 
ein Briefkurs notiert wird, ja selbst dann, wenn ein amtlicher Kurs 
überhaupt nicht für den Tag besteht. Trotz dieser weitgehenden 
Ausdehnung des Selbsteintrittsrechtes ist der Provinzbankier bei den 
an ihn herantretenden Kommissionsaufträgen nicht ohne Weiteres 
berechtigt, von diesem Rechte Gebrauch zu machen. Geschieht es 
dennoch, verkauft er z. B. die Papiere von seinem Lager dem Kunden 
zu dem vortägigen Kurse des nahen oder fernen Börsenplatzes, s0 
ist er nicht Kommissionär, sondern Proprehändler und ist nicht be- 
rechtigt, dem Auftraggeber Kurtage und Provision zu berechnen, 
was indessen vielfach geschieht und das Publikum sich in größter 
Harmlosigkeit gefallen läßt. — 

Der PW egfall des Selbsteintrittsrechtes trifft somit im Wesent- 
lichen nur die Kommissionäre am Börsenplatze, die Grob- 


1) Breit, James, Das Selbsteintrittrecht des Kommissionärs nach dem neuen 
deutschen Handelsgesetzbuche, Leipzig 1899, S. 70 ff. 
2) Entscheidungen des Reichsgerichts, Bd. 34 S. 120. 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden etc. 657 


banken und Bankiers, bei denen die Aufträge des Landes wegen 
des „Börsenstapelrechts“ zusammenströmen. 

Erscheint es nun berechtigt, diesen bevorzugten Kommissionären 
das Vorrecht des Selbsteintrittes zu nehmen? Durch die Annahme 
des Auftrages ist der Kommissionär verpflichtet, unter der Aufwen- 
dung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmannes mit einem Dritten 
ein Geschäft abzuschließen und die Vorteile des Geschäftes seinem 
Kunden zufließen zu lassen. Er hat bei Erteilung des Auftrages 
seinen Rat mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kommissionärs zu er- 
teilen, er ist gemäß § 78 BG. mit hoher Strafe bedroht, wenn er 
gewohnheitsmäßig in gewinnsüchtiger Absicht andere unter Aus- 
beutung ihrer Unerfahrenheit oder ihres Leichtsinnes zu Börsen- 
spekulationen verleitet, die nicht zu ihrem Gewerbebetriebe gehören; 
er ist gemäß $ 79 BG. mit noch höherer Strafe bedroht, wenn er wider 
besseres Wissen unrichtigen Rat oder unrichtige Auskunft erteilt, oder 
absichtlich zum Nachteile des Kommittenten handelt. 
Demnach hat der Kunde die ausreichende gesetzliche Gewähr, daß der 
Kommissionär nicht zu seinem Ungunsten tätig sein darf. Der Selbst- 
eintritt ändert aber die ganze Sachlage. Er zwingt dem Kommissionär 
einen Doppelcharakter auf, der sich schwerlich mit dem Grundsatze 
von Treu und Glauben vereinigen läßt. Durch den Selbsteintritt wird 
das Geschäft verwandelt, der Kommissionsauftrag wird nicht ausge- 
führt, sondern der Kommissionär schließt auf Grund dieses Auf- 
trages mit dem Kunden ein neues Geschäft ab. Der selbsteintretende 
Kommissionär ist dem Kunden gegenüber bei einem Verkaufsauf- 
trage Käufer, bei einem Kaufauftrage Verkäufer: er handelt nicht 
mehr als Kommissionär, da er nunmehr in dem fraglichen Geschäfte 
seine eigenen Vorteile zu wahren hat. Es ist daher ein Unding, 
ihm gesetzlich zumuten zu wollen, bei der Wahrung seiner eigenen 
Interessen in dem gleichen Abschlusse auch diejenigen seines Kunden 
zu wahren, wozu er noch immer trotz des Selbsteintrittes rechtlich 
gezwungen ist. Vom Kommissionär wird demnach in diesem Falle 
eine ethische Vollkommenheit verlangt, die im Geschäftsleben nirgends 
zu Hause und nicht einmal möglich ist, weil ein gesunder Egoismus 
im Handel und Wandel die Wahrnehmung der eigenen Interessen 
stets in den Vordergrund zu rücken hat. 

Zwar soll der Selbsteintritt die wirtschaftliche Wirkung haben, 
wie es dasjenige Geschäft gehabt hätte, das der Kommissionär für 
Rechnung des Kommittenten mit einem Dritten abzuschließen beauf- 
tragt war. Diese Wirkung läßt sich aber mangels eines tatsächlichen 
Abschlusses nicht feststellen. Es darf jedoch wohl unterstellt 
werden, daß in der Mehrzahl der Fälle dem Kommittenten durch 
den Abschluß des Geschäfts mit einem Dritten, d. h. an der Börse, 
Vorteile erwachsen, die durch den Selbsteintritt verloren gehen; 
denn der Kommissionär wird nur dann in das Geschäft eintreten, 
wenn sich für ihn hieraus Vorteile ergeben. Die Vorteile des 
Kommissionärs unter diesen Umständen sind zumeist Nachteile des 

Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIII). 42 


658 Georg Wermert, 


Kommittenten, wenn letzterer sie auch nicht zu erkennen vermag, 
da der Börsen- oder Marktpreis bei der Abrechnung innegehalten ist. 
Aus den angeführten Gründen erscheint es daher erforderlich, 
den Kommissionär seiner Zwitterstellung zu entkleiden, da sie für 
ihn unhaltbar ist, indem sie von ihm Unmögliches verlangt. Ihm 
ist sonach der unzweideutige Charakter des Kommissionärs oder 
des Proprehändlers zu geben. Solches geschieht durch den Wegfall 
des Selbsteintrittsrechtes, der um so leichter bewerkstelligt zu werden 
vermag, weil von ihm eigentlich nur eine kleine Gattung von Banken 
und Bankiers, nämlich nur solche, die an den Börsenplätzen ihren Sitz 
haben, getroffen wird, für alle übrigen Kommissionäre, wie bereits 
ausgeführt worden, überhaupt nicht recht in Frage kommt. 

Die Folgen des Wegfalls würden sein, daß ein großer Teil der 
täglich einlaufenden Geschäfte nicht mehr in sich von den Banken 
kompensiert werden kann, die Weiterentwickelung der Großbanken 
zu eigenen Börsen erschwert und der Börse durch einen starken 
Zustrom von Geschäften frisches Blut in stattlicher Fülle zugeführt 
wird. Und wenn auch noch ein erheblicher Teil von Aufträgen — 
namentlich in der ersten Zeit — im Proprehandel vom Eftektenbe- 
stande «der Banken erledigt wird, soweit nämlich der Kommittent 
sein ausdrückliches Einverständnis erklärt, so kann doch eine ge- 
waltige Kräftigung des Börsenverkehrs nicht ausbleiben ; die Börse 
gewinnt an Stärke und Nachdruck gegenüber ausländischen Börsen 
und braucht nicht mehr im gleichen Maße wie seither in deren kiel- 
wasser zu plätschern. — 

Nachdem auf diese Weise die Depossedierung der Börse durch 
die Hochfinanz beseitigt worden ist, muß dafür gesorgt werden, da} 
die an der Börse sich vollziehenden Geschäfte zur Kenntnis der 
Kursmakler gelangen, damit sie bei der Kursfeststellung Berück- 
sichtigung finden, die Kurse endlich der wirklichen Marktlage ent- 
sprechen und die Wahrheit des Kurszettels nicht mehr ein bloßer 
Gedanke ist. Dann sind auch die jeden Handelsverkehr auf den 
Kopf stellenden Verhältnisse nicht mehr möglich, nach denen der 
Käufer für seine Ware einen möglichst hohen Preis zu entrichten 
und der Verkäufer einen möglichst niedrigen Preis zu erlangen 
wünscht. Die Berücksichtigung der großen Masse der an der Börse 
vollzogenen Geschäfte kann sich auf zweifachem Wege vollziehen: 

1) durch den Deklarationszwang für die Schlußscheine der 
innerhalb der Kulisse abgeschlossenen Geschäfte, oder 

2) durch unterschiedliche Besteuerung der durch Kursmakler 
vermittelten und der nachträglich deklarierten Börsengeschäfte. 

Ersteres Mittel bringt sämtliche (reschäfte zur Berücksichtigung 
bei der Kursfeststellung mit Ausnahme derjenigen, welche von den 
Zwischengliedern der „Kette“ der um einen Schlußschein abge- 
schlossenen (reschäfte betätigt werden. Von diesen kann nunmehr ab- 
gesehen werden, weil der Börse durch den Wegfall des Selbsteintritts- 
rechtes eine ungeheure Menge tatsächlicher Geschäftsaufträge zutießt. 
Auf dem angegebenen Wege werden bei Berücksichtigung sänt- 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. ' 659 


licher Schlußscheine die Kurse durchweg die Gewähr der Wahrheit 
in sich bergen. Der Kurszettel spiegelt sodann in der Tat die 
wirkliche Geschäftslage des Verkehrs an der Börse wieder ($ 29 BG.). 
Dazu hat dieser Vorschlag den großen Vorzug, daß die Kulisse 
nicht von der Börse verdrängt wird, sie ihre Tätigkeit ungehindert 
entfalten kann. Sie steht in Zukunft nicht außerhalb dieses Ver- 
kehrsinstitutes wie das sonstige spekulative Publikum, sie befindet 
sich im Mittelpunkte des Nachrichtendienstes, und auf Grund rascher 
Informationen ist sie in der Lage, je nach dem schwankendem Ver- 
kehre einzugreifen, ihre Positionen zu lösen oder neue Engagements 
zu schließen, ganz wie es heute der Fall ist. Aber an Stelle der 
einzelnen Personen, welche gegenwärtig um 1!/, oder um 1 Uhr 
zum Zwecke des „Kursmachens* an die Schranke kommen, bemühen 
sich sämtliche Börsenbesucher, die um die genannte Zeit im Besitze 
eines Schlußscheines sind, an die Schranke und deklarieren ihr Ge- 
schäft. Das erscheint uns nicht nur möglich, sondern es wird sich 
noch glatter abwickeln als das gegenwärtige „Kursmachen“, (das 
sich manchmal erst unter Leitung und endgültiger Entscheidung der 
amtierenden Vorstandsmitglieder der Börse zu vollziehen hat. Dazu 
ist jeder illegalen Beeinflussung der Kurse die Spitze abgebrochen, 
jede Willkür bei ihrer Feststellung scheidet aus; denn sie sind nicht 
mehr ein „aus der Gesamtlage geschöpftes Urteil“, sondern, wie es 
gar nicht anders sein darf, „ein Ergebnis mechanischer Rechen- 
operationen der Makler“. Sie bilden das Durchschnittsmaß sämt- 
licher an der Börse abgeschlossenen Geschäfte, weshalb der Kurs- 
zettel ferner nicht mehr ein Urteil, eine Meinungsäußerung über die 
Geschäftslage, sondern die wahre Geschäftslage selbst darstellt. In 
Betreff der Geld- oder Briefkurse, die nur spärlich vorkommen werden, 
genügen die bei den Kursmaklern bis zur fraglichen Zeit eingelaufenen 
Aufträge. 

Dann ist es ziemlich gleichgültig geworden, ob der Börsen- 
vorstand durch seine Kommissarien die Kursfeststellung leitet, oder 
ob solches durch die Maklerkammer geschieht. Die Leitung hat 
nur darauf zu achten, daß keine fahrlässigen oder gar absichtlichen 
Irrtümer bei der Kursfeststellung unterlaufen, wie sie auch bei 
Pflichtwidrigkeiten einzelner Kursmakler streng und unerbittlich ein- 
zuschreiten hat. 

Um den Deklarationszwang durchzuführen, bedarf es einer Ab- 
änderung von § 8 der „Bedingungen für Geschäfte an der Berliner 
Fondsbörse* vom 1. April 1905. Da nämlich nach dem Reichs- 
stempelgesetze ein Schlußnotenzwang nur für stempelpflichtige Ge- 
schäfte besteht und $ 94 HGB. nicht in allen Geschäften die Zu- 
stellung einer Schlußnote anordnet, so ist für die Berliner Börse 
durch $ 8 cit. für jedes Geschäft allerdings eine Schlußnote oder 
eine schriftliche Bestätigung vorgeschrieben. Nur muß bestimmt 
werden, daß die Schlußnote unmittelbar nach Abschluß des Geschäfts 
vom Vermittler auszufertigen und den Parteien zu übergeben ist. 
Kommt das Geschäft ohne Vermittler zu stande, so hat der Ver- 

42* 


660 Georg Wermert, 


käufer die Schlußnote dem Käufer unverzüglich zuzustellen. Die 
vollzogene Deklaration wird durch Abstempelung des Kursmaklers 
vermerkt, der das Papier amtlich zugewiesen erhalten hat. Eine Ent- 
ziehung der Deklarationspflicht ist mit der Verweisung von der Börse 
und entsprechenden Geldstrafen zu ahnden. 

Das zweite Mittel, die differenzielle Behandlung der Geschäfte 
in Betreff der Besteuerung, hat nicht diese vollkommene Wirkung 
und kann daher weniger empfohlen werden. Abgesehen von dem 
Minderertrage der Börsensteuer für die Reichsfinanzen, bleibt ein 
großer Teil der innerhalb der Kulisse betätigten Geschäfte unbe- 
kannt, weswegen dem Uebelstande nicht abgeholfen wird, an der 
Schranke einige wenige Geschäfte zum Zwecke der Kursfeststellung 
abzuschließen, während die größere Menge der in und mit der Kulisse 
getätigten Geschäfte zu verschiedenen Preisen bei der Kursfest- 
stellung keine Berücksichtigung erfährt. Die gelungene Beein- 
flussung des Kurses wird den höheren Stempelbetrag bei weiten 
aufwiegen. Dazu schließt die Durchführung und Handhabung der 
ditferenziellen Besteuerung nicht unerhebliche Schwierigkeiten ein. 
Ferner ist bei ihr auch die Zeitaufwendung größer als bei der all- 
gemeinen Deklarationspilicht. Dazu scheint eine Zweiteilung der 
Börsengeschäfte in amtliche und nichtamtliche nicht angebracht, zu- 
mal der Steuernachlaß nur dazu dient, die Geschäftsvermittelung der 
Kursmakler zu befördern und ihnen ein höheres Einkommen als 
seither zu sichern. 

Die Deklarationspflicht zeigt daher viele Vorzüge. Der Ein- 
wand, den man aus der Beengung des freien Verkehrs durch ihn 
herleiten könnte, ist nicht ernst zu nehmen, da der Börsenverkehr 
sich überhaupt, selbst bei gänzlich unbevormundeten Börsen, unter 
strengen, meistens selbstgeschaffenen Normativbestimmungen voll- 
zieht. Dazu wird nichts Neues gegenüber dem jetzt bestehenden 
Zustande eingeführt. Auch gegenwärtig muß das Kulissengeschäft, 
falls durch es eine Einwirkung auf den Kurs gewünscht wird, an 
der Schranke beim Kursmachen angemeldet werden. Der Deklara- 
tionszwang erweitert lediglich diese Gepflogenheit auf alle Kulissen- 
geschäfte d. h. Schlußzettel zu Gunsten der Kurswahrheit, die 
das öffentliche Interesse gebieterisch fordert. — 

Infolge der Verweisung sämtlicher Kommissionsgeschäfte an die 
Börse werden zahlreiche Geschäftsvermittelungen von vornherein den 
Kursmaklern zufallen, weshalb ihre bisherige Tätigkeit eine starke 
Steigerung erfährt. Durch die in den Maklerbüchern zu Tage tretenden 
Geschäfte und durch die amtlich zu deklarierenden Geschäfte der 
Kulisse gelangt das Parkett zu einer außerordentlich eingehenden 
Kenntnis «der Verkehrsverhältnisse, die, da der Kursmakler noch 
dazu stets dem Angebote und der Nachfrage gegenüber in der 
Hinterhand ist, von ihm in einer nicht wünschenswerten Weise durch 
Spekulationen im eigenen Interesse ausgenutzt werden kann. Es 
fragt sich daher, sind auch gegenüber den Kursmaklern gewisse 
Kautelen erwünscht, damit innerhalb dieser Kreise, denen von Amts 


Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 661 


wegen alle Transaktionen offenbart werden, nicht ein wildes Jobber- 
tum einreißt. Denn wenn die Kursmakler als kapitalschwache 
Elemente sich infolge des gegenwärtig nicht zu umgehenden Selbst- 
eintrittes mit Effekten überlasten, müssen diese Unternehmungen bei 
bewegteren Zeiten heftigen Erschütterungen ausgesetzt werden. Die 
Wellenbewegungen der Kurse verstärken sich daher durch zu viele 
Engagements der Kursmakler. Und da in kritischen Zeiten ander- 
weitige Positionen zu lösen sind, um die gefährdeten Papiere zu 
decken, so muß sich die Baisse über zahlreiche Papiere ausdehnen. 
Die geldschwache Spekulation der Kursmakler wird daher einer 
Deroute der Kulisse nicht entgegenwirken, sondern sie verstärken. 
Die Kursentwickelung wird deshalb gerade durch die Kursmakler be- 
einträchtigt werden, und es ist die Möglichkeit nicht von der Hand 
zu weisen, daß in vereinzelten Fällen eine zu Gunsten der Kursmakler 
gebeugte Kursfeststellung stattfindet. — 

Dazu ist der Kursmakler auch bei ruhigen Zeiten trotz des be- 
schränkten Eintrittsrechtes im stande, durch Substituten, Stellvertreter 
und Freunde die ihm amtlich zur Kenntnis gelangte innere Ge- 
schäftslage der Börse «durch geeignete Spekulationen auszunutzen. 
Wenn über diese Möglichkeit, da die Großbanken und sonstige 
Faiseure sich ihm anvertrauen müssen, schon in der Gegenwart ge- 
klagt wird, so wird sie in Zukunft beim Bestehen des Deklarations- 
zwanges geradezu gefahrdrohend. Diesen Uebelständen muß daher 
vorgebeugt werden. Das kann geschehen durch zwei Mittel: 

1) den Kursmaklern das Selbsteintrittsrecht zu nehmen und 

2) ihnen bei Androhung augenblicklicher Entlassung zu ver- 
bieten, weder selbst noch durch dritte Personen Spekulationen an 
der Börse vorzunehmen, noch andere zu solchen zu veranlassen. 

Das Verbot des bisher bestehenden beschränkten Selbsteintritts- 
rechtes bedarf nicht vieler Worte zu seiner Begründung: denn was 
den Kommissionären recht ist, ist den Kursmaklern billig. Wenn 
auch ein beschränktes Eintrittsrecht bei sich nicht völlig deckenden 
Aufträgen erwünscht wäre, so dient es doch dazu, den Kursmakler 
zum eigentlichen Börsenhändler zu machen, ihn zu waghalsigen Unter- 
nehmungen zu verleiten und seine Stellung zu gefährden, zumal 
das sogenannte beschränkte Eintrittsrecht eine Schranke nicht hat 
und die einschlägige Zusammenstellung im Tagebuche keine Ge- 
währ gegen Spekulationen abgibt. Zur Festigung des Börsenverkehrs 
ist daher beim Kursmakler vom Selbsteintrittsrechte abzusehen. 
Wenn dazu ein strenges Verbot für sie erlassen wird, weder selbst 
noch durch dritte Personen Spekulationen an der Börse vorzunehmen, 
noch andere zu solchen zu bewegen, so wird ihre Eigenschaft als 
Beamte wesentlich gestärkt, wenn auch ihre Kaufmannseigenschaft 
insofern erhalten wird, als sie aus der Kurtage ihr Einkommen be- 


ziehen. Sie werden daher, — was bei ihnen als Beamte mit festem 
Gehalte leicht der Fall sein dürfte — in ihrer Tätigkeit, Ge- 


schäfte zu vermitteln, nicht erlahmen, da sie, je mehr sie sich nach 
dieser Richtung bemühen, ihr Einkommen erhöhen. Der Kurstest- 


662 Georg Wermert, Ueber die Kursnotierung an der Börse, ihre Schäden ete. 


stellung stehen sie aber, da sie eigene Geschäfte nicht eingehen 
dürfen und an dem Laufe der Spekulation wie an den Kursbe- 
wegungen kein persönliches Interesse haben, gleich Beamten gänz- 
lich objektiv gegenüber, was unbedingt verlangt werden muß. Ihre 
Tätigkeit besteht nur noch in der Vermittelung von Aufträgen, 
die nunmehr in großer Fülle an sie herantreten. 

Der ungleich stärker gezeichnete Charakter der Kursmakler als 
Beamte ermöglicht eine bessere Aufsicht der vorgesetzten Behörde, 
welche auch darauf ein wachsames Auge zu werfen vermag, daß bei 
der rechnerischen Feststellung der Kurse keine fahrlässigen oder 
absichtlichen Unregelmäßigkeiten vorkommen. Zu diesem Zwecke 
hat eine Kommission der Maklerkammer unter Vorsitz oder Assistenz 
des Staatskommissars von Zeit zu Zeit stichprobenweise eine Revision 
des amtlichen Kurszettels unter Vorlage und Prüfung der Makler- 
bücher vorzunehmen. Etwaige Verfehlungen werden sich dabei 
recht bald herausstellen, wobei die Schuld mit strenger Strafe zu 
ahnden ist. 

Auf diesem Wege wird man eine kräftige Börse erhalten, welche 
die Geldmächte des Landes in achtungsvoller Weise gegenüber dem 
Auslande darzustellen vermag, während im Inlande die Wahrheit 
des Kurszettels, der die gesamte Geschäftslage der Börse unver- 
fälscht widerspiegelt, in aller wünschenswerten Genauigkeit erzielt 
wird, wie es das öffentliche Interesse gebieterisch verlangt. 

Dagegen muß von sonstigen weitergehenden Plänen, z. B. durch 
die Kursmakler in den Aufsichtsräten der Aktiengesellschaften ein 
staatliches Gegengewicht gegen den überwuchernden Einfluß der 
Hochtfinanz zu schaffen, abgesehen werden. Diesem Einflusse, dem 
das Land nicht zum letzten eine immer wachsende Zahl von Neu- 
gründungen verdankt, wobei der Effektenmarkt eine Ueberschwem- 
mung mit allerlei mehr oder minder guten Papieren zum Nachteile 
der nicht oder nur schwer unterzubringenden Reichs- und Staats- 
anleihen erfährt, kann auf legalem Wege mit einem Schlage besser 
gewahrt werden. Wie von uns an anderer Stelle eingehend ausgeführt 
worden ist, hat sich das Institut der Aufsichtsräte bei den Aktien- 
gesellschaften in keiner Weise bewährt!). Es ist nicht nur aus ge- 
nanntem Grunde, sondern auch im vitalen Interesse der Gesellschaften 
durch das Institut ständiger Revisoren zu ersetzen, die nicht als 
amtliche Organe betrachtet werden, aber doch mehr oder minder 
von der Regierung abhängig sein können. — 

Sind die Aufsichtsräte als eine veraltete Einrichtung beseitigt 
worden, so ist damit auch dem weiteren Vordringen der Hochtinanz 
im industriellen, bergbaulichen und großgewerblichen Leben ein 
Riegel vorgeschoben, wenigstens insoweit, als dieses Vordringen zu 
einem Aufsaugen wird und einer gesunden volkswirtschaftlichen Ent- 
faltung in unserem Vaterlande ernstliche Gefahren bereitet. — 


1) Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Jahrgang 1906, S. 452—514. 


Miszellen. 663 


Miszellen. 


XIV. 
Die finanzstatistische Arbeit in deutschen Städten, 


erläutert an dem Material über die Kostensteigerung der höheren Schulen 
in Barmen. 
Von Dr. Karl Seutemann. 


Der Aufwand der deutschen Stadtgemeinden hat sich während der 
letzten Jahrzehnte in fast allen Verwaltungszweigen außerordentlich ver- 
mehrt und zwar vielerorts weit schneller als die ja ebenfalls bedeutende 
Zunahme des städtischen Wohlstands, so daß eine Anspannung der 
Steuerzuschläge bis zu 200 Proz. und mehr und bei den Betriebswerken 
eine wohl oft zu weitgehende „Fiskalität“ nötig wurde. Handelt es 
sich hier um fortdauernde Steigerungsursachen oder kann einem weiteren 
Anschwellen der Ausgaben und des Mißverhältnisses von Einnahmen 
und Ausgaben vorgebeugt werden? Diese Frage heischt Antwort, nicht 
bloß für eine planmälige Finanzführung, sondern auch für die Beleh- 
rung der Stadtverordneten und der Bürgerschaft; denn wo die finanziellen 
Zusammenhänge nicht sicher überschaut werden können, werden leicht 
einzelne Vorgänge in einseitig-übertriebener, oft gänzlich irriger Weise 
für die Aufwandssteigerung verantwortlich gemacht, und es wird in- 
folgedessen eine mancherlei Verdruß herbeiführende Sparsamkeitspolitik 
an einer Vielheit kleiner, gar nicht ausschlaggebender Posten betätigt. 

Eine befriedigende Aufklärung über die Zusammenhänge und Ur- 
sachen, unter denen die Finanzposten ihre Gestalt gewonnen haben und 
behaupten, vermag nur eine nach statistischen Grundsätzen ausgeführte 
Durcharbeitung des in den Etats vorliegenden Materials zu geben. Zu 
dieser Arbeit ist die Gemeindestatistik berufen, die ja der Ab- 
sicht: Tatsachen gegen Meinungen, umfassende Beobachtung und Be- 
rechnung gegen einseitige Veranschlagung zu stellen, ihre lebhafte Ent- 
faltung in Deutschland verdankt. Die leitenden Gesichtspunkte für eine 
solche Arbeit finden in den bereits vorliegenden gemeindestatistischen 
Untersuchungen aus dem Finanzgebiet nähere Erläuterung. Allgemeine 
Anregungen ohne zu viel Einschlag von bloß lokalem Interesse lassen 
sich namentlich aus dem Barmer Material über die Kostensteigerung 
der höheren Schulen gewinnen. 

Um die eigentümliche Entwickelung der einzelnen Finanzposten 
darstellen zu können, müssen zunächst in grundlegender Arbeit Jahres- 


664 Miszellen. 


reihen der betreffenden Ausgaben und Einnahmen aufgestellt werden. 
Man kann zwei bis drei Jahrzehnte zurückgreifen oder bei einer durch- 
greifenden Aenderung des Etattitels einsetzen. Nach Prüfung der Ein- 
richtung und der zeitlichen Umgestaltungen des Etats müssen die Rech- 
nungsergebnisse früherer Jahre ganz nach dem Schema der späteren 
Etataufstellung umgearbeitet werden, nötigenfalls unter Benutzung der 
Rechnungsbelege. Die tatsächlich zu dem behandelten Spezialtitel ge- 
hörenden Posten, die z. B. unter „allgemeiner Verwaltung“, im „Bau- 
etat“ und in der „Schuldenverwaltung“ gebucht sind, sind von dort 
heranzuziehen; mit Ausgleichsposten (z. B. im Volksschuletat Zahlungen 
an und Erstattungen aus der Alterszulagekasse), mit Uebertrazungen 
aus Vorjahren, mit den Einnahmen aus städtischen Fonds und Kasseı 
u. s. w. ist dem Ziele der Untersuchung entsprechend zu verfahren. 
Diese Aufstellungen müssen insoweit für Unterteile des Titels gesondert 
erfolgen, als hier besondere Finanzerscheinungen vorhanden sind oder 
vermutet werden. So entstehen Reihen von Jahresgesamtheiten, die 
unter sich gleichartig und daher zu statistischen Vergleichen 
geeignet sind. 

Auch bei dem weiteren Fortgang der Arbeit sind die Grundsätze 
der statistischen Methodik sorgsam anzuwenden. Die Finanz- 
statistik benutzt die Reihen der absoluten Finanzsummen nur als 
Ausgangspunkt; durch Beziehung der Finanzsummen auf die Ein- 
wohnerzahl beseitigt sie zunächst den etatsteigernden Eintlub der 
Volksvermehrung. Aber auch der auf den Kopf des Einwohners be- 
rechnete Aufwandsbetrag ist noch das Ergebnis zweier Ursachengruppen: 
der Verteuerung des Aufwands einerseits und des Umfangs des 
Aufwands andererseits. Diese beiden Ursachengruppen können sich 
gegenseitig verstärken, sie können sich aber auch mehr oder weniger 
ausgleichen. Daher bleiben in’ den absoluten und in den auf die Ein- 
wohnerzahl bezogenen Finanzbeträgen wichtige Finanzvorgänge voll- 
kommen oder doch in ihrer Bedeutung verdeckt; nur die die Ursachen 
isolierende Statistik kann sie ans Licht ziehen, Um zunächst die Frage 
der Kostspieligkeit des Aufwands zu erledigen, müssen die Finanz- 
summen auf diejenigen Personenkreise, Vorgänge oder Einrichtungen be- 
zogen werden, von deren Zahl der Umfang des Aufwands abhängt. 
Jndem die Schulausgaben auf die Volksschüler, die Anstaltsausgaben 
auf Pfleglinge und Ptlegtage, die Armenkrankenausgaben auf die Be- 
handlungsfälle bezogen werden, scheidet der Einfluß vollständig aus, 
den die Veränderungen dieser Gruppen innerhalb der Bevölkerung be- 
wirken, und der Einfluß der Kostengestaltung tritt rein bervor. Die 
Feststellung der kostenverursachenden Einheit erfolgt je nach dem 
Untersuchungszweck, so kann man z. B. die Lehrergehaltssumme auf 
die Schulklasse, die Schüler, die Lehrer beziehen; in allen Fällen müssen 
aber diese Personengruppen und die Finanzsummen gleichmälig 
begrenzt sein, d. h. man darf z. B. im Krankenhausetat den Sonder- 
aufwand für Privatpatienten auch nur auf die Gesamtheit der Kranken 
beziehen, unter denen er vorkommt. Die Jahresreihen dieser statistischen 
Kostenausdrücke offenbaren in ihren Wandlungen oft ohne weiteres 


Miszellen. 665 


die Art und Bedeutung der kostenverändernden Einflüsse. Sonst 
lassen diese Einflüsse sich aus dem analogen Verlauf anderer statistischer 
Reihen ableiten. So kann z. B. die Steigerung des Verpflegungs- oder 
Heizaufwands in einer Anstalt aus der analogen Steigerung der Fleisch- 
oder Kohlenpreise erklärt werden. 

Nun ist die zweite Ursachengruppe zu untersuchen: die 
Vermehrung oder Verminderung der Aufwandslast (auf den Kopf des 
Einwohners) durch mehr oder minder große Ausdehnung der den 
Aufwand verursachenden Personenkreise u. s. w. Kann doch die 
Volksschülerzahl im Verhältnis zur Bevölkerung ab- oder zunehmen 
durch die Veränderung der Geburtsziffer, durch die Ergebnisse der 
Wanderungen, durch Einverleibung, durch Errichtung von Mittelschulen, 
durch Abgang an konfessionelle Privatschulen; kann doch der Kreis 
der Armenunterstützten im Verhältnis zur Bevölkerung zurückgehen in- 
folge der Sozialgesetzgebung, der Wirksamkeit kirchlicher Anstalten u.s. w. 
In diesen Fällen verändert sich die Aufwandslast, wenn auch die Kost- 
spieligkeit des Aufwands unverändert ist. Gerade diese Einflüsse werden 
oft nicht genügend erkannt und gewürdigt, und es liegt deshalb dem 
Statistiker ob, die vielfachen Beziehungen aufzudecken, die zwischen 
den scheinbar oft so unpraktischen bevölkerungs-, armen-, schulstatisti- 
schen Ergebnissen und der Finanzgestaltung bestehen. Der Blick wird 
dadurch auf die gesamten Bevölkerungserscheinungen gerichtet, in denen 
oft sowohl der Grund der finanziellen Lasten wie auch die Mittel zur Ab- 
hülfe zu suchen sind. 

Solche finanzstatistische Untersuchungen sind heute freilich in den 
deutschen Städten noch nicht so häufig, wie man nach ihrem praktischen 
Nutzen vermuten sollte. Bisher hat man nämlich die Finanzstatistik 
vorzugsweise auf der Grundlage interlokaler Vergleichung be- 
trieben. Das von Neefe herausgegebene Statistische Jahrbuch deutscher 
Städte ist reich an solchen Materialien; auch in den Veröffentlichungen 
der staatlichen Statistik findet man manches, so die Aufnahmen des 
Kgl. Preuß. Statist. Landesamts über die Volksschulfinanzen; mehreres 
haben auch die einzelnen Statistischen Aemter auf diesem Gebiete ge- 
leistet. Arbeiten wie die von Landsberg über die Kosten des 
höheren Schulwesens in der Stadt Elberfeld zeigen, daß auch aus der 
Beobachtung örtlicher Verschiedenheiten wichtige praktische Gesichts- 
punkte gewonnen werden können. Aber die interlokale Vergleichung 
ist doch unzulänglich, weil in jeder Stadt wieder eigenartige Einflüsse 
wirksam sind; überdies schließt sie regelmäßig eine Vertiefung in Einzel- 
heiten wegen unzureichender Ortskenntnis aus und liefert nur allge- 
meine Gesichtspunkte, die dem praktischen Zwecke oft nicht genügen. 
Zu wie viel reicheren Ergebnissen man mit der zeitlich rück- 
schauenden Finanzstatistik kommen könne, dafür hat das erste über- 
zeugende Beispiel das Dresdner Statistische Amt mit seinem Bericht 
über die außerordentliche Steigerung des Etats des Dresdner Siechen- 
hauses gegeben. Der Bericht ist von dem damaligen Direktor dieses 
Amts, Dr. O. Wiedfeldt, so zweckfördernd, streng methodisch und 
dabei leicht faßlich bearbeitet, daß er als vorbildlich für derartige 


666 Miszellen. 


Arbeiten gelten muß. (Ratsdrucksachen 1903, No. 8.) Nach denselben 
Grundsätzen wurde bald darauf in Dresden mit ebenso befriedigendem 
Ergebnis untersucht, in welchem Umfange die große Steigerung des 
Schuletats und der Schulanlagen durch die Einverleibungen bezw. durch 
in Alt-Dresden wirksame Ursachen veranlaßt war. (Vorbemerkung zum 
Haushaltplane der evangelisch-lutherischen Schulgemeinde 1904.) An- 
regungen waren damit gegeben, aufgenommen sind sie namentlich bis- 
her von dem neu gegründeten Barmer Statistischen Amte. Vorliegen 
dort zur Zeit die finanzstatistischen Uebersichten über die allgemeine 
Entwickelung der sämtlichen Etattitel und die Spezialbearbeitungen des 
Volksschuletats, des Etats der höheren Schulen und des Armenetats!). 
An dem Material über die Kostensteigerung der Barmer 
höheren Schulen lassen sich die allgemeinen Bearbeitungsgrund- 
sätze und die sich aus der finanzstatistischen Arbeit ergebenden prak- 
tischen Anregungen näher erläutern. 


Der Barmer Etat zeigt — nach einheitlicher Bearbeitung der 
einzelnen Etatgruppen für 2 Jahrzehnte — wie sehr fast alle Teile 
des städtischen Etats von der Aufwandssteigerung betroffen werden. 
Es betrugen nämlich: 


die Ausgaben 
= = | der Zuschuß 


; e auf 1 Einwohner 
Etattitel und Rechnungsjahr absolut | | Betrag re in Proz. 
M. M. 1885 | SM (der Au- 
ge m . ge Pe} = 10 | * | gaben 
Te) jıss5| 95 100 0,93 100 87530| 92, 
Allgemeine Verwaltung \1903 | 419 888 2.80 301,0 381 842 | 91.0 
une Lt jı855| 903 279 8,81 100 628 100 69,5 
BeRulrarmalling I 2 457 256 16,40 186,2 | 1622 gg1 66,1 
k é: 1885 | 387 300 3,17 100 275 302 71 
Armenverwaltung 11903 457 566 3,05 80,9 315 237 683 
ET 1885 9 680 0,87 100 | 20 980 30,1 
Krankenanstalten 1903| 314617 2.10 241,4 129 451 ari 
APEE f1885| 170732 1,66 100 151642 88,9 
Bauverwaltúng kas 1010 173 6,74 406,1 | 665 339 65,9 
PERS 1885 153 IQI 1,50 100 147 971 96,4 
Polizeiverwaltung 1903| 424 916 2,84 188,9 421 227 99,1 
RR ERV 1855 12750 0,12 100 12 750 100,0 
Feuerlöschwesen MEE 62 303 | 0,42 350,0 | 53814 80,5 
z y 1885 8 389 0,98 100 5 268 62,5 
Forstverwaltung \1903| 17031 0,11 137,5 10 963 64,5 
ibliothek f 1885 2450 0,02 100 2 450 100,0 
Bibliotheksverwaltung 1903 18 339 018 Eos 17 797 971 
Beiträge für wissenschaftl. [1885 9493 0,09 100 9493 100,1 
u. gemeinnützige Zwecke |1903 61 367 0,41 455,6 60 467 98,5 
et J1885 27 158| 0,86 100 27 158| 100,6 
Oeffentliche Bel. 1903| 131347 0,88 338,5 131347 1o 
Leistungen für Zweeke des |1885 107 592 1,05 100 107 287 | 99,8 
Reichs u. s. w. 1903| 253 724 1,69 160,9 249 047 gr 
i 1885 | 433 661 | 4,23 100 A . 
Se anwes , 
chuldenwesen \1903 | 2 303 829 | 15,38 363,6 | 


4 1) Veröffentlicht im Statistischen Jahrbuch der Stadt Barmen, Jahrg. 1904 u. 
1905, bezw. in den Beiträgen zur Statistik der Stadt Barmen, Heft 1 u. 2. 


Miszellen. 667 


Abgesehen vom Armenaufwand ist also in Barmen die Aufwandslast 
überall bedeutend in die Höhe gegangen, und die erforderlichen hohen 
Zuschüsse haben sich nahezu in gleicher Weise vermehrt. Der Wohl- 
stand ist in Barmen so wenig wie in zahlreichen anderen Städten dem- 
entsprechend gewachsen. Die Aenderung der Steuergesetzgebung läßt 
nur eine Feststellung dieser Dinge bis 1893 zurück zu: es betrug in 
Barmen der Betrag der staatlich veranlagten Steuer auf den Kopf des 
Einwohners 


Grund- Gebäude- Gewerbe- Einkommen- 
Jahr steuer steuer steuer steuer 
M. M. M. M. 
1893 0,05 2,32 1,87 7,27 
1903 0,04 ‚20 1,84 9,07 
1905 0,03 3,41 2,11 9,56 


Infolgedessen betrugen die Barmer Zuschläge zu den Staatssteuern 
in Proz.: 


Jahr ren and Gewerbesteuer Grundsteuer 
ebäudesteuer 

1895 169 169 188 

1903 230!) 200 200 

1905 224?) 200 200 


Neue Einkommensquellen zu erötřnen, sei es durch neue Steuern, 
sei es durch ergiebigere Verwaltung oder auch Preiserhöhung bei den 
Betriebswerken, ist eine jährlich wiederkehrende Sorge; denn wenn man 
in Rheinland-Westfalen auch noch bedeutend höhere Steuerzuschläge 
wie 200 Proz. gewohnt ist, so überschreitet man hier diese Grenze 
ebenso ungern wie in begünstigteren Städten den Zuschlag von 100 Proz. 
in der gewiß richtigen Empfindung, daß diese Zuschläge doch irgend eine 
Grenze haben müssen. 

Die Ausgaben in Barmen für das höhere Schulwesen (es 
werden von der Stadt unterhalten ein humanistisches Gymnasium mit 
Reformabteilung, ein Reformrealgymnasium , eine Öberrealschule, eine 
Realschule und drei höhere Töchterschulen ; Mittelschulen unterhält die 
Stadt nicht) betrugen (einschließlich 6 Proz. der jeweiligen Grund- und 
Gebäudekosten der Schulgrundstücke) 1885 446216 M., 1904 
916634 M., sind also in 2 Jahrzehnten auf mehr als das Doppelte an- 
gewachsen. Im Vergleich mit der Steigerung anderer Etattitel ist die 
Zunahme hier nicht einmal besonders hoch, denn auch die Bevölkerung 
ist in demselben Zeitraum um die Hälfte, von 102000 auf 153000 ge- 
wachsen. Beim Volksschuletat ist das Bild auch ungünstiger: 
Der berechnete Aufwand ist hier in jenem Zeitraum von 730000 M. 
auf 1765000 M., also um mehr als das 1!/,fache in die Höhe ge- 
gangen. Dem Etat für die höheren Schulen sind aber auch zwei 
Dinge zu gute gekommen, die beim Volksschuletat fehlen. Ein- 
mal ist nämlich die Zahl der höheren Schüler nur von 2045 auf 2699, 
also nur um etwa !/, gewachsen, weil etwa 300 Schüler von der Privat- 
mädchenmittelschule und der Privatvorschule aufgenommen sind. Dann 
aber hat sich auch eine stärkere Ausnutzung der Klassen erzielen 
lassen. 1885 hatte man 78 Klassen, 1904 immerhin nur 94, also nur 


1) 3°/,, vom gemeinen Wert. 


668 Miszellen, 


etwa !/, mehr. Hätte man entsprechend dem Wachstum der Bevölke- 
rung auch !/,mal mehr Klassen wie 1884, mithin 117 statt 94 Klassen 
gebraucht, so würde der Aufwand für die höheren Schulen nicht 


916634 M., sondern ie M. = rund 1140000 M. betragen 


haben. Der Etat würde also in 20 Jahren auf fast das Dreifache ge- 
stiegen sein. 
Eine Klasse der höheren Schulen hat jährlich gekostet im: 


| | o niher Hbere 
sal- Höhere Mädchenschulen | e 
Gymn. |Realgymn. ae |Realschule g À i | Sehuler 
SCHUIe Mittelb. | Oberb. Unterb. ‚zusam: 
2 _M M: | Mi. | M | M. oZ M | M IM 
= — L = = u I SP ee 
1885 6.092 6707 6 330 7 800 5057 3 302 3840 |, 579 
1904 12 138 12 086 10 524 11 602 8 148 5 148 7220 | 97% 
| 
Zunah | | | | 
nn 99,3 wi | 80,2 T 66,2 an 48,7 ef; 61,1 JA 55,9 i 88,0 o 70 u 
i | 


Das ist also die wirkliche Kostensteigerung; alle Einflüsse, die sonst 
den absoluten Aufwand bestimmen, wie Schüler- und Klassenzahl, sind 
durch die Beziehung des Aufwands auf die Gesamtheit der Klassen 
ausgeschaltet. Freilich darf man die Unterschiede der Klassenkosten 
und Kostensteigerungen in den verschiedenen Schulen nicht ohne weiteres 
als Ausdruck eines mehr oder minder billigen Schulbetriebs auffassen. 
Auch die Klasse ist noch kein ganz einwandfreier Reduktionsmaßstab, 
da ein Teil der Klassen (namentlich Vorschul- urd Müädchenklassen) 
wegen geringer besoldeter Lehrkräfte von vorn herein billiger ist, und 
da die Kostspieligkeit einer Klasse mit von Dingen abhängt, die in ge- 
wisser Weise zufällig sind, wie der Größe des Schulsystems und den 
baulichen Verhältnissen der Schule (alte, neue Schulgebäude, Raumüber- 
fluß, Raumenge u. s. w.) In allen diesen Dingen hat sich im Laufe 
der 2 Jahrzehnte vieles verändert. So sind beim Gymnasium und der 
Oberrealschule die Vorklassen weggefallen (beim Realgymnasium und der 
Realschule haben sie immer gefehlt), wodurch beim Gymnasium ein 
Raumüberfluß von drei Klassen entstanden’ ist. Die Räume des neuen 
Realgymnasiums und der neuen Realschule waren 1904 noch nicht voll- 
ständig in Anspruch genommen, während sich z. B. die Oberrealschule 
räumlich überaus behelfen mußte. Die Realschule befand sich 1885 in 
Verbindung mit gewerblichen Fachklassen, war also ganz anders orga- 
nisiert. Die Oberrealschule und die Mädchenschnlen haben noch ihre 
alten, baulich mehr oder weniger veränderten Gebäude, während die 
anderen Schulen Neubauten erhalten haben. So viel Umstände bedingen 
also die Kostensätze bei den einzelnen Schulen! In wie viel Irrtümer 
kann da die interlokale Vergleichung, die doch nicht alle Umstände s0 
genau werten kann, verfallen! Bei der Gesamtheit der Schulen einer 
Stadt gleichen sich diese Dinge ja wohl etwas aus, aber doch nicht 


| 
| 
| 
| 


Miszellen. 669 


vollkommen; die Schul- und Klassenorganisation ist stets im Fluß, und 
wir können niemals ganz genau sagen, wie sich die Kostensteigerung 
bei Ausschaltung jener Veränderungen gestaltet haben würde. 

Immerhin kommen wir dem Richtigen näher, wenn wir die ein- 
zelnen Teile des Etats untersuchen; steht doch z. B. der persön- 
liche Schulaufwand und der Aufwand für Schulutensilien in einer viel 
bestimmteren Abhängigkeit von der Klassenzahl als z. B. der Bauauf- 
wand. Wenigstens gilt das für die Gesamtheit der Schulen; die ein- 
zelnen Schulen weichen auch in der Gehaltssumme ab. So kostete 
eine Mädchenklasse an Gehaltsaufwand 1904 nur 4261 M., eine Knaben- 
klasse dagegen 7522 M., auch in den Knabenschulen entstehen Unter- 
schiede durch das verschiedene Dienstalter u. s. w. Der persönliche 
Aufwand ist im Etat ausschlaggebend: er machte 1885 71,1 Proz. (bei 
Einschluß der Pensionen und Witwen- und Waisengelder 74,7 Proz.), 
1904 64,7 Proz. (71,6 Proz.) des gesamten Schulaufwands aus. Er be- 
trug (ohne Pensionen) 1885 für die Klasse 4072 M., 1904 6306 M. 
d. i. eine Zunahme von 55 Proz. Die noch stärkere Steigerung des 
gesamten Schuletats ist durch den zweitausschlaggebenden Posten, den 
Bauaufwand (6 Proz. Zinsen vom Werte der Schulgrundstücke) ver- 
ursacht, der unverhältnismäßig gewachsen ist und früher nur mit 16,9 
Proz., 1904 aber mit 20,9 Proz. am Schuletat beteiligt war. è Mit der 
Steigerung des Gehaltsaufwands hat die Steigerung des Pensions- 
aufwands gleichen Schritt gehalten, während die 1895 von der Stadt 
übernommene Witwen- und Waisenversorgung bis zum. Be- 
harrungszustand noch stark steigende Beträge erfordert. Die Mehr- 
erfordernisse im persönlichen Etat decken sich nicht ganz mit der 
Besserung der Lehrergehälter, da die Mehrausgaben z. T. 
auch durch die Verstärkung des Anteils der akademisch gebildeten und 
fest angestellten Lehrer verursacht sind. Von den voll beschäftigten 
Lehrkräften fielen nämlich Proz. auf 


fest angestellte akademisch Taena l 
; à seminaristisch 
akademisch gebildete N z 
5 der gebildete | Lehrerinnen 
Höhere Schulen gebildete Hilfslehrer Lehrer | 
Lehrer u. dgl. | 
u 1885 | 1904 | 1885 | 1904 | 1885 | 1904 | 1885 | 1904 
nd 0 m + i mern 
Kuabenschulen 61,4 73,6 15,7 6,9 22,9 5 | = | — 
Mädchenschulen 24,1 | 29,5 _ — 31,0 | ra | 449| 591 


Die Dienstaltersverhältnisse müssen hingegen 1904 eher günstiger als 
1885 gewesen sein, da seit 1898 10 neue Klassen hinzugekommen sind. 
Die Gehaltsverbesserungen knüpfen insbesondere an folgende Jahre an: 
1893 Einführung des staatlichen Normaletats; 1898 Gleichstellung der 
Barmer Lehrer mit ihren Kollegen an den Staatsanstalten, deren Bezüge 
bedeutend verbessert waren; 1899 anderweite Regelung der Besoldung 
der Lehrer und Lehrerinnen an den höheren Mädchenschulen; 1901 
und 1902 kleine Verbesserungen infolge Aenderung des staatlichen 
Normaletats; 1904 Gleichstellung der seminaristisch gebildeten Lehrer 


670 Miszellen. 


an den Knabenschulen mit denen an den Mädchenschulen. Besonders 
die Gehaltsregulative von 1898 und 1899, auch das von 1904 haben den 
Gehaltsaufwand sehr emporgetrieben. Diese Gehaltsaufbesserungen haben 
im ganzen mindestens 45 Proz. betragen, da wir nach der obigen Ueber- 
sicht nicht mehr als 10 Proz. auf Verschiebungen im Lehrerkollegium 
rechnen können. Bei den Volksschullehrern hat die Besserung der Be- 
züge in demselben Zeitraum fast 40 Proz. betragen. Diese Mehrbesol- 
dung bedeutet eine beträchtliche Besserung der Lebenshaltung, da die 
Mieten nicht in dem Maße und die Lebensmittel gar nicht oder nur 
wenig teurer geworden sind. 

Wie schon erwähnt, ist der berechnete Mietzins der Schul- 
gebäude ungleich stärker wie der Gehaltsaufwand gestiegen, nämlich 
von 968 M. auf die Klasse bis auf 2039 M., also um mehr als 100 
Proz. Da der Zeitpunkt, wo teure Neubauten erforderlich werden, von 
zufälligen Umständen abhängig ist, so ist dieser Klassensatz und seine 
Steigerung in den Schulen sehr verschieden. Er betrug in der Ober- 
realschule 1904 nur 1433 M. — eine Steigerung war fast gar nicht 
vorhanden — dagegen z. B. im Realgymnasium 3281 M. (Steigerung 
über 200 Proz.). Uebrigens haben auch die nur baulich weiter ausge- 
stalteten Mädchenschulen eine Steigerung des Mietwertes (auf die Klasse 
bezogen) um durchschnittlich 82 Proz. erfahren, so daß die Verteuerung 
der Baukosten einer Klasse um 100 Proz. wegen erhöhter Anforderungen, 
teurerer Grundstückspreise, besserer architektonischer Ausgestaltung wohl 
das Normale ist 

Alle sonstigen Posten des Schuletats sind von keiner aus- 
schlaggebenden Bedeutung mehr. Einige dieser Posten, wie der für 
Reinigung, Heizung und Beleuchtung w achsen zugleich mit der baulichen 
Verbesserung der Schulgebäude. Der kleine Posten: Unterrichts- 
mittel, der 1904 nur 1,3 Proz. des gesamten Schuletats ausmachte, 
der aber doch für einen erfolgreichen Unterrichtsbetrieb (Lehrer-, 
Schulbibliothek, Anschauungsmittel, naturwissensch. u. physikal. Gegen- 
stände u. s. w. u. s. w.) recht wichtig ist, ist am wenigstens gestiegen, 
nämlich von 101 M. auf die Klasse (Knabenschule 113 M., Mädchen- 
schule 71 M.) auf 125 M. (146 M. bezw. 88 M.), also um noch nicht 
24 Proz., und das auch nur, weil 2 Schulen 1885 infolge besonderer 
Umstände ganz niedrige Sätze hatten, nämlich das Gymnasium nur 67 M. 
und eine Töchterschule nur 57 M. Allerdings schwanken die Auf- 
wendungen hier von Jahr zu Jahr, aber 138 M. auf die Klasse im Jahre 
1898 waren der Höchstsatz. Ist es wohl wirtschaftlich, die Schulkosten 
um 70 Proz. anschwellen zu lassen, gerade die Lehrmittel aber äußerst 
sparsam zu behandeln? Das Bewilligungsrecht haftet hier an so vielen 
kleinen Dingen, die ohne Ueberschau über die ganze Etatsontwicklung 
unrichtig bewertet werden. 

Die Ursachen der Kostensteigerungen belehren gewöhnlich darüber, 
daß die Kosten an den entscheidenden Stellen nicht zurückgedämmt 
werden können, daß mit bloßen Sparsamkeit nicht viel auszurichten ist. 
Mit um so größerer Sorgfalt wird daher geprüft werden müssen, ob die 
Schullast nicht durch eine relative Verminderung des Umfangs der 
Schuleinrichtungen, also durch eine Beschränknng der Klassen- 


Miszellen. 671 


oder auch der Schülerzahl erleichtert werden könnte. Die Besucherzahl 
der städtischen höheren Schulen in Barmen hat sich, wie bereits vor- 
hin bemerkt ist, im Verhältnis zur Bevölkerung in dem 20jährigen 
Zeitraum verringert, wohingegen die Klassenfrequenz besser geworden ist, 
so daß die Schullast längst nicht so gewachsen ist, wie es dem kost- 
spieligeren Schulbetriebe entsprochen hätte. Der Schulaufwand auf den 
Kopf des Einwohners betrug 1885 4 M. 38 Pf., 1904 5 M. 98 Pf. 
Nach der Kostensteigerung allein hätte aber 1904 eine Schullast von 
7 M. 45 Pf. vorhanden sein müssen. Mit anderen Worten: eine Last 
von 1 M. 47 Pf. auf den Kopf des Einwohners ist durch den Rück- 
gang der Schülerzahl und die Erhöhung der Klassenfrequenz erspart 
worden. Hier also ist der Schulaufwand nachgiebig. 

Zunächst kann eine Stadtverwaltung die Zahl der höheren 
Schüler bis zu einem gewissen Grade regulieren. Einem uner- 
wünschten Anwachsen der Schülerzahl kann durch die Errichtung oder 
die Förderung von Mittelschulen und Privatinstituten vorgebeugt werden. 
Manches läßt sich auch durch die Aufnahmebedingungen für auswärtige 
Schüler erreichen. Barmen erhebt von auswärtigen Schülern 30 M. 
mehr Schulgeld. Eine noch ungünstigere Behandlung der Auswärtigen 
im Schulgeld oder etwa gänzliche Zurückweisung kann freilich be- 
nachbarten Gemeinden gegenüber, die nicht selbst höhere 
Schulen errichten können, nicht gerechtfertigt werden, denn die 
Städte müssen doch bedenken, wie viel sie als Handels-, Verwaltungs- 
und Vergnügungszentren u. s. w. der ländlichen Umgebung zu verdanken 
haben. Aber bei vielen Auswärtigen treffen die obigen Voraussetzungen 
nicht zu. So hatte z. B. Barmen 1904 auf seinen höheren Schulen 39 
Schüler aus Elberfeld, 4 aus dem hinter Elberfeld liegenden Vohwinkel, 
37 aus der Stadt Schwelm u. s. w. Andere Städte empfangen Schüler 
aus reichen Vororten, denen ohne entsprechende Entgelte eine Mitbe- 
nutzung städtischer Einrichtungen nicht eingeräumt zu werden braucht. 
Andererseits sind natürlich die auswärtigen Schüler sehr willkommen, so- 
lange die bestehenden Klassen noch nicht vollständig ausgenutzt sind. 
Gewöhnlich ist allerdings die Zahl der höheren Schüler fest gegeben, und 
das Augenmerk ist daher mehr auf die Klassenfrequenz zu richten. 
Für eine gegebene Schülerzahl sollen nicht mehr Klassen wie nötig vor- 
handen sein. 

Nach preußischer Ministerialverordnung beträgt die Höchstzahl 
der Schüler in den 3 unteren Klassen 50, in den 3 mittleren 45 
und in den 3 oberen 35. Diese Zahl darf nicht die Normalfrequenz 
sein. Nimmt man aber für jede Klasse 10 Schüler weniger als die 
Höchstzahl, so kommt man pädagogischen Anforderungen entgegen und 
schafft einen hinreichenden Spielraum nach oben für die unvermeid- 
lichen Schwankungen der Schülerzahl. Noch weitergehende pädagogische 
Wünsche verstoßen gegen eine gesunde Finanzpolitik. Wenigstens 
können Städte mit sehr hohen Gemeindesteuern und vielen noch zurück- 
gestellten Gemeindeaufgaben unmöglich über ein billiges Normalmaß 
hinausgehen. Ja selbst begünstigtere Städte werden kaum mit Recht 
die öffentlichen Mittel für eine übernormale Klassenzahl in Anspruch 
nehmen, solange die Frequenzverhältnisse der Volksschulen noch nicht 


672 Miszellen. 


vernünftigen Anforderungen entsprechend geregelt sind. Das ist aber 
nach den Uebersichten des Statistischen Jahrbuchs deutscher Städte 
selbst in manchen reichen Städten, die sich wohl mit Stolz Stadt der 
Schulen nennen, noch nicht der Fall. 

Wenden wir die oben angegebenen „normalen“ Frequenz- 
ziffern (40, 35 und 25) auf die Barmer Schulen an, so ergibt sich 
für 1904 folgender Unterschied der „normalen“ und der tatsächlichen 
Schülerzahl: 


Sehülerzahl bei | Tatsächlich mehr 
Zahl 


1 21 Tatsächliche |, BEER 
der |zormaler Klassen- Schülerzahl CH weniger (—) 
Klassen! besetzung Schüler als normal 
absolut! auf 1 Kl. (absolut auf 1 Kl. absolut auf 1 Kl. 
= — on — 
Gymnasium 18 600 33,3 420 23,3 — 180, — I0, 
Realgymnasium 16 | 560 35,0 457 28,6 — 103 — 6,4 
Oberrealschule 15 535 35,7 538 35,9 + 3 + 02 
Realschule Io | 380 38,0 348 348 |— 32] — 32 
Knabenschulen | 59 |2075 | 352 [1763| 3950 |— 312 — 52 
Mittelb. h. Mädchensch. | 10 370 37,0 283.1 28%. S= 8 
Oberb. ,„ A 15 560 37,3 398 26,5 |— 162| — 10,3 
Unterb. „ i 10 370 | 37,0 255 355 — 15 — 15 
Mädchenschulen | 35 1300 | 37,1 936 | 26,7 = 364| — 10,4 
Es sind also — rein rechnerisch — in den Knabenschulen 312 
Schüler, in den Mädchenschulen 364 zu wenig, oder — was dasselbe 
2 en a 1763 3 
ist — die Knabenschulen haben 9 Klassen (59 — z2) die Mädchen- 
z , 
936 


schulen 10 Klassen (5 — 371 


Knabenschulen 1904 11623 M., der Mädchenschulen 6597 M. kostete, 
so beträgt der Mehraufwand infolge unternormaler Klassenausnutzung 
170577 M.; 18,6 Proz. des gesamten Schulaufwands; 1,12 M. auf den 
Kopf des Einwohners. Ziel des Aufwands ist nicht die Klasse, sondern 
der Schüler, sind nun die Klassen zu schwach besetzt, so ist die 
Nutzwirkung des Aufwands zu gering, oder — was dasselbe ist — 
der einzelne Schüler kostet der Stadt weit mehr als bei normaler 
Klassenbesetzung. Es kostete unter Zugrundelegung des nachgewiesenen 
Aufwands in jeder Schule: 


) zu viel. Da nun eine Klasse der 


ne a | bei normaler tatsächlich 

der Schüler tasichak Klassenbesetzung\also mehr (+) 

non. SL .__Me ___|weniger(—)M: 
im Gymnasium 520 364 + 156 
im Realgymnasium 423 345 + 78 
in der Oberrealschule 293 295 — 2 
in der Realschule 333 306 + 27 
in den Knabenschulen | 389 330 + 59 
in den Mädchenschulen | 247 178 + 69 


Zu ähnlichen Ergebnissen wird man sicher in vielen anderen 
Städten kommen; denn weder die Ueberfüllung der unteren Klassen 


Miszellen. 673 


noch einiger Schulen beweist das Gegenteil. Wie sehr das als etwas 
Unvermeidliches aufgefaßt wird, geht daraus hervor, daß die Aus- 
nutzung der Klassen früher in Barmen noch ungünstiger war als heute, 
und daß in den letzten 7 Jahren jährlich 1 oder 2 neue Klassen ge- 
schaffen sind. Berechnet man aber die finanziellen Folgen genau, so 
wird man doch darüber nachdenken, ob nicht allmählich eine bessere 
Ausnutzung der Klassen herbeigeführt, eine vorzeitige Vermehrung der 
Klassen vermieden werden könne. Eine ganz normale Klassenausnutzung 
scheitert allerdings an der Vıelheit der Schularten, den Rücksichten 
auf die Stadtteile und der Notwendigkeit, neue Klassen schon einzu- 
richten, sobald die Höchstzahl der Schüler überschritten ist. Vieles läßt 
sich aber erreichen durch die Annäherung des Lehrgangs der ver- 
schiedenen Schularten und wohl auch durch die einheitliche Regelung 
der Schulaufnahmen und Umschulungen. 

Die Reformbewegung auf dem Gebiete des höheren Schulwesens, 
die doch zum Teil wenigstens nach einer Vereinfachung der Schul- 
einrichtungen strebt, hat mancherorts das Gegenteil bewirkt, indem 
nun neben die alte Schulart noch die entsprechende Reformschule ge- 
treten ist. Statt eines Gymnasiums hat man nun zwei und ist genötigt, 
auch in den höheren Klassen diese Teilung festzuhalten, selbst wenn 
an sich eine Gymnasialsekunda und -prima, ja womöglich eine Gym- 
nasialsexta genügte. Dabei stimmen die Lehrpläne und die Schulbücher 
in den unteren Klassen der verwandten Schularten oft zu wenig über- 
ein, so daß der Uebergang von einer Schulart zur anderen erschwert 
ist. Je einfacher aber die höheren Schulen einer Stadt gegliedert sind, 
je mehr Anstalten einen gemeinsamen Unterbau aufweisen, um so leichter 
läßt sich eine gleichmäßige und normale Ausnutzung der Klassen er- 
reichen, um so besser läßt sich also der finanzielle Standpunkt wahren. 

Dann wird man auch leichter zu einer einheitlichen Regelung 
der Schulaufnahmen mit Rücksicht auf die Frequenzverhältnisse 
kommen können. Bei den Volksschulen hat man sie schon immer: 
man überweist Schüler der Frequenzverhältnisse wegen an entferntere 
Schulen, ja selbst die Klassenversetzung wird oft nicht bloß nach 
den Leistungen, sondern auch nach der Besetzung der nächstoberen 
und nächstunteren Klasse geordnet. Allerdings sind für die Wahl der 
höheren Schule zum Teil das Berufsziel oder auch grundsätzliche An- 
schauungen maßgebend. Zum Teil hängt die Wahl der Schulart aber 
auch nur von der Nähe der betreffenden Schule oder von zufälligen 
und schwankenden, oft wenig berechtigten Gründen ab, wie z. B. 
Standesvorurteilen, Propaganda für eine bestimmte Schulart, Neuheit 
des Schulgebäudes, Beliebtheit oder Unbeliebtheit der jeweiligen Leitung 
der Schule. Am einfachsten tritt man ja solchen Bevorzugungen einer 
bestimmten Schule entgegen, wenn bei ihr die Aufnahmen geschlossen 
werden, sobald die Klassen gefüllt sind. Aber ein sehr befriedigendes 
Verfahren ist das nicht, denn selbst wenn der Schulleiter auch durch 
Belehrung — so weit das möglich ist — von vornherein eine Auswahl 
herbeiführt, so entscheiden doch für die Aufnahme zufällige Umstände 
wie der Zeitpunkt der Anmeldung. Infolgedessen fallen Schüler bei der 

Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVII). 43 


674 Miszellen. 


Aufnalıme aus, die bei der betreffenden Schule wegen ihrer bisherigen 
Ausbildung und Befähigung, wegen der Berufsabsichten, wegen der Lage 
der Wohnung u. s. w. in erster Linie Aufnahme finden sollten, anderer- 
seits werden Schüler aufgenommen, die für die Schulart ungeeignet sind 
und unterwegs abschwenken. Diese Nachteile können vermieden werden, 
wenn die Aufnahme in die höheren Schulen einheitlich erfolgt, wobei 
der Ausgleich unter den Schulen unter möglichster Berücksichtigung 
persönlicher Umstände und berechtigter Wünsche schließlich durch 
Belehrung der Eltern und nachdem Ergebnisse der Zeugnisse und 
Prüfungen hergestellt wird. Freilich schließt ein Ausgleich der Auf- 
nahmen noch nicht eine gleichmäßige Besetzung der weiteren Klassen 
in sich; bei Gleichheit der Lehrpläne in den unteren Klassen der ver- 
schiedenen Schularten können aber auch bis zur Trennung des Bildungs- 
ganges Umschulungen ohne Verletzung berechtigter Interessen nach den 
für die Aufnahıne geltenden Grundsätzen vorgenommen werden. Ueber- 
haupt ist eine gleichmäßige Besetzung der Klassen viel mehr gesichert, 
wenn die entscheidende Wahl der Schulart erst in einem Zeitpunkt er- 
folgt, wo Neigungen und Anlagen des Schülers besser beurteilt werden 
können. Für die Finanzen ist das höhere Schulwesen eine Einheit, 
und es ist unmöglich, die finanziellen Forderungen vollkommen zu er- 
füllen, wenn man die Eigenstellung jeder Schule allzu rücksichtsvoll 
wahrt. Die Mannigfaltigkeit padigogreihsr Bestätigung braucht 
deshalb nicht beeinträchtigt zu werden. 


Nach der Behandlung des Aufwands ist gewöhnlich auch die Ge- 
staltung und Entwickelung der Einnahmen selbständig zu bearbeiten. 
Doch bestehen in Barmen die Einnahmen der höheren Schulen außer 
10000 M. Staatszuschuß zur Realschule (eine staatliche höhere Schule 
gibt es in Barmen nicht) und außer ganz geringen Stiftungserträgnissen 
nur aus Hebungen von den Schülern; es ist darüber nur wenig zu 
sagen. Es bleibt dann nur die Frage des Zuschusses, der Inan- 
spruchnahme von Steuermitteln für die höheren Schulen. Die Behand- 
lung der Zuschüsse kann freilich — obwohl das häufig geschieht — 
niemals die besondere Untersuchung der Entwickelung der Ausgaben 
ersetzen. Es gilt das nicht bloß von den formellen, etatsmäßigen Zu- 
schüssen, sondern auch von den nach finanzstatistischen Grundsätzen 
berechneten. (Der etatsmälige Zuschuß betrug beim Barmer Gymnasium 
nur 65 Proz. des berechneten, bei einer Töchterschule nur 43 Proz.). Sie 
geben für sich allein ein ganz falsches Bild von der Zunahme der Auf- 
wandslast, weil sie als bloße Differenzgrößen in gar keiner Beziehung 
zu den den Aufwand verursachenden Kreisen stehen und da am meisten 
steigen, wo sie gerade am niedrigsten standen. So ist der Zuschuß bei 
den Barmer höheren Mädchenschulen zufällig um 228 Proz., bei den 
Knabenschulen zufällig nur um 138 Proz. gestiegen. Wohl aber erregt 
der Zuschuß (bezw. die Einnahme), im Verhältnis zu den Aus- 
gaben berechnet, unser finanzstatistisches Interesse, besonders dann, 
wenn die Einnahmen wie bei den Schulen hauptsächlich aus Benutzungs- 
entgelten bestehen. Denn in diesen Fällen kommt die öffentliche 


Miszellen. 675 


Einrichtung tatsächlich nicht oder nicht in gleichem Maße der gesamten 
Bürgerschaft zu gute, und es ist eine finanzpolitisch, sozial und kulturell 
wichtige Frage, in welchem Maße Vorteile, die einzelnen zu teil werden, 
von der Allgemeinheit getragen werden, und welche Bevölkerungsteile 
es sind, denen diese Vorteile vornehmlich zufließen. 

In Barmen sind die Ausgaben für die höheren Schulen — wie wir 
uns erinnern — in dem 20jährigen Zeitraume um 470418 M. gestiegen, 
die Einnahmen aber nur von 212021 M. auf 325932, also nur um 
113911 M. 1885 wurden von 100 M. Ausgaben noch 47 M. 54 Pf. 
durch eigene Einnahmen gedeckt; von je 100 M. Mehraufwand 
konnten indes nur 24 M. 21 Pf. durch Mehreinnahmen gedeckt werden, 
so daß 1904 von 100 M. Gesamtaufwande nur noch 35 M. 58 Pf. durch 
Schuleinnahmen Deckung fanden. Das Schulgeld beträgt in der 
Realschule 80 M., in den drei Vorklassen der Mädchenschule 72 bis 
96 M, in den untern Klassen der höheren Schulen (außer Realschule) 
96 bis 128 bezw. 132 M., in den mittleren und oberen Klassen 144 M. 
Freistellen werden bis zu 8 Proz. der Schulgeldeinnahme gewährt. Die 
Aufnahmegebühr beträgt 6 M. Auswärtige bezahlen 30 M. mehr Schul- 
geld. Die Einnahmen hängen also von der Schülerzahl ab, wenngleich 
natürlich wegen der Abstufung des Schulgelds die Zusammensetzung 
der Schülergesamtheit mit entscheidet. 

Ein höherer Schüler 


brachte Einnahmen kostete 
M. M. 
1885 104 218 
1904 121 340 
1904 mehr 17 122 


Mithin sind von den Mehrkosten nur 14 Proz. durch Steigerung der 
Einnahmen wettgemacht, zu °/, sind sie aus allgemeinen Steuermitteln 
bestritten. Die geringe Einnahmevermehrung ist erzielt durch eine mäßige 
Erböhung der Schulgeldsätze in den drei unteren Klassen im Jahre 
1893 und durch Beschränkung der Schulgeldbefreiungen auf 8 Proz. der 
Schulgeldeinnahmen. Auch hat die Aufhebung der Volksschulklassen 
mit geringerem Schulgeld und die Verbesserung der Klassenfrequenz 
mitgewirkt. Bei dieser Sachlage muß die Kostendeckung von Schule 
zu Schule sehr verschieden sein: wo die Kosten auf den Kopf des 
Schülers stark gestiegen sind, muß der Ausgleich durch eigene Ein- 
nahmen am stärksten heruntergegangen sein: 


Knaben- öh 
1,2% A Real- | Ober- Real- H ere 
Gymnasium n schulen | Mädchen- 
ai gymnasium |realschule | schule 
s | zus. schulen 


Aufwand( 1885 \ | 1885 228M. 248 M. 236 M. |333 M. | 253 M. 156 M. 
auf < 1904 1904 520 M.) 423 M. 293 M. |333 M. | 389 M. 247 M. 
1Se 'hüler|Steigung| 127,9 Proz.| 70,3 Proz. | 24,1 Proz. | O Proz. | 53,7 Proz. | 58,3 Proz. 


Von 100 M. Aus- | 


gaben wurden ge- | 1885 45 M| 42M. 38 M. 35M.! 4ıM. 67 M. 
deckt durch eigene | 1904 26 M.| 29M. 43M. | 32M.| 32 M. 46 M. 
Einnahmen 


43* 


676 Miszellen. 


In den Mädchenschulen wird dasselbe Schulgeld wie in den Knaben- 
schulen erhoben; daher ist die Kostendeckung hier wegen des ge- 
ringeren Aufwands besser. 

Im Volksschuletat sind die eigenen Einnahmen noch geringer. 
Schulgeldeinnahmen gibt es regelmäßig nur noch in den Mittelschulen. 
Die den Städten zufallenden gesetzlichen Staatszuschüsse können kaum 
witgerechnet werden. Wenn also nicht besondere Staatszuschüsse ge- 
währt werden oder ein Mehrempfang aus der Alterszulagekasse zu ver- 
zeichnen ist, gibt es überhaupt nur Ausgaben. In Barmen werden noch 
8,6 Proz. der Ausgaben durch eigene wirkliche Einnahmen gedeckt. 
Auf irgendwelche Deckung des Mehraufwands, der in dem 2Öjährigen 
Zeitraum auf den Kopf des Volksschülers 89 Proz., auf den Kopf des 
Einwohners 62 Proz. betragen hat, ist ebenso vollkommen verzichtet 
wie im Etat der höheren Schulen. Dennoch sind die Aufwendungen 
der Allgemeinheit für die höheren Schüler viel bedeutender als für 
die Volksschüler. Nach genauen Berechnungen kostete ein Volksschüler 
der Stadt Barmen 1904 77 M., ein höherer Schüler hingegen 340 M. 
(Knabenschüler 389 M., Schülerin 247 M.). Durch eigene Einnahmen 
werden bei jenem 8,6 Proz., also 6 M. 62 Pf., bei diesem 35,6 Proz. 
also 121 M. gedeckt. Mithin hat die Einwohnerschaft im ganzen für 
einen Volksschüler noch 70 M., für einen höheren Schüler aber 219 M. 
aufzubringen. 

Welche Kreise sind es nun, denen diese beträchtlichen und stark 
zunehmenden Entgeltsverzichte für die höheren Schulleistungen zu gute 
kommen? In Barmen sind die sozialen Verhältnisse eines Teils der 
höheren Schüler durch persönliche Befragung und Benutzung des Steuer- 
katasters untersucht worden. Dieser Schülerteil ist nach rein zufälligen 
Merkmalen ausgewählt worden (je 5 Schüler aus jeder Klasse nach der 
alphabetischen Namensfolge), und es entspricht statistischen Grundsätzen, 
daß die bei einem erheblichen Teile einer Gesamtheit wahrgenommenen 
Erscheinungen auch bei der Gesamtheit im ganzen vorliegen. Aus den 
Ergebnissen läßt sich folgendes herausziehen: 

(Siehe Tabelle auf S. 677.) 

Die Kinder von Gewerbsgehilfen und Arbeitern sind unter den 
höheren Schülern mit nur sehr geringen Bruchteilen vertreten; etwa !/; 
der höheren Schüler fällt auf die höheren Stände (akademisch Gebildete, 
Fabrikanten und Großkaufleute), 2/, auf den Mittelstand. Auch die 
einzelnen Schulen haben ihr bestimmtes soziales Gepräge. Das Gym- 
nasium wird mehr von den höheren Ständen und den Beamten besucht. 
Die Realschule (80 M. Schulgeld) bleibt vorzugsweise dem Mittelstande 
und dem gehobenen Teile des unteren Standes überlassen. Die höheren 
Schülerinnen sind sozial noch mehr ausgewählt, weil sich die Eltern 
wohl wegen der Berufsabsichten, nicht aber so leicht um bloßer Bil- 
dungszwecke willen Opfer auferlegen. 

Die eingeschätzten Einkommen der Eltern der höheren Schüler 
sind — wie leicht einzusehen ist — nur Minimaleinkünfte; auch hängt 
die finanzielle Lage der Erziehungspflichtigen nicht immer allein von 
ihrem eigenen Einkommen ab. Immerhin können wir doch 40 bis 


Miszellen. i 677 


Von je 100 Schülern waren | Real- | Ober- Neun- 3 höhere 
solche, bei denen der Vater (ev. | Gym- a rg: klassige | Real- | Mädchen- 
der verstorbene Vater) bezw. der | nasium Er tum | schule Schulen | schule | schulen 
Erziehungspflichtige zus, zus. 


angehörte folgender sozialen 


Klasse: 

Akademisch Gebildete 19,1 7153 3,6 9,3 1,9 9,7 
Sonst. Beamte u. semin. gebildete 

Lehrer 27,0 20,9 11,4 19,0 23,5 14,2 
Fabrikanten, Großkaufleute ete. 30,8 25,4 23,6 26,3 11,0 39,9 
Detailkaufleute, selbst. Hand- 

werker etc. 13,1 28,0 35,3 26,5 27,83 19,2 
Technisches, Bureau- und Hand- 

lungspersonal 4,5 8,5 7,4 6,9 7,2 10,4 
Werkmeister u. dergl. 1,2 0,4 4,1 2,1 5,6 iT 
Gewerbsgehilfen und Arbeiter 1,4 3,9 4,3 3,3 7,2 0,6 
Sonstige 2,9 5,7 10,8 6,6 16,3 4,3 


mit folgendem Einkommen z. Ein | 
kommensteuer eingeschätzt war : 


bis 1 500 M. 6,2 13,7 23,6 15,3 34.5 11,8 

über 1500— 3000 , 19,6 23,7 28,5 24,3 43,6 21,5 
» 3000— 4500 „ 20,1 27,4 23,8 23,8 10,9 23,0 
» 4500— 6.000 ” 9,8 10,4 5,2 8,2 9,1 8,6 
„ 6000— 9500 „, 24,3 5,2 5,0 10,7 1,9 11,3 
» 9500—12 500 , 3,1 3,1 = 2,0 i 4,0 
über 12500 „, 16,9 16,5 13,9 | 15,6 => 19,8 


50 Proz. der höheren Schüler zur Klasse der Minderbemittelten (Ein- 
kommen bis 3000 M.) rechnen, wozu dann noch !/, der Schüler aus der 
Gruppe der Mittelbemittelten (über 3000 bis 6000 M.) kommt. Das 
übrigbleibende Viertel rekrutiert sich zum größten Teil aus sehr reichen 
Familien. In der Gesamtbevölkerung kommt auf die Klasse der Minder- 
bemittelten über °/,, der Zensiten, auf die Mittelbemittelten noch nicht 
1/,, und auf die Wohlhbabenden noch weniger. Die höheren Schulen 
kommen also den verschiedenen Schichten der Steuerzahler in ganz ver- 
schiedener Weise zu gute. Der weitgehende Verzicht auf Schulentgelte 
schließt also zweifellos Ungerechtigkeiten in sich; denn die bemittelten 
Klassen können sich nicht darauf berufen, daß sie den weitaus größten 
Teil der Gemeindesteuern aufbrächten. Die stärkere Heranziehung der 
Bemittelten beruht auf dem Steuerprinzip tunlichster Opferausgleichung, 
auf einer Betonung der sozialen Funktion des Reichtums; Sondervor- 
teile können deswegen von den Wohlhabenden nicht in Anspruch ge- 
nommen werden. 

Die Erhöhung der Schuleinnahmen durch eine allgemeine Her- 
aufsetzung der Schulgeldsätze und durch eine Beschneidung 
der Schulgeldbefreiungen beseitigt diese Ungerechtigkeit nicht etwa, 
sondern vermehrt sie noch; denn hierdurch wird die Zahl der minder- 
bemittelten Schüler weiter herabgedrückt, und die Unterhaltung der 
höheren Schulen aus allgemeinen Steuermitteln ist dann immer weniger 
zu rechtfertigen. Im Gegenteil könnte — wenn man diesen Gesichts- 


678 Miszellen. 


punkt einseitig betonen wollte — eher durch eine weitere Herabsetzung 
der Schulgeldsätze (in Bayern erhebt man nur etwa die Hälfte der 
in Preußen üblichen Sätze) geholfen werden. Vollständig kann man 
natürlich die Gebühren nicht abschaffen, wo gleichzeitig eine Leistung 
niederer Art (Volksschule) und eine Leistung höherer Art (höhere Schule) 
geboten wird, es sei denn, man wollte das öffentliche Schulwesen und 
die Aufnahmebedingungen von Grund aus umgestalten. Aber selbst 
eine starke Herabsetzung der Gebühren hat ihre Schattenseiten, indem 
nicht bloß die bisherigen Einnahmebeträge ausfallen, sondern auch die 
Ausgaben infolge größeren Schülerandrangs steigen. Nun ist sicherlich 
die Erleichterung des Aufsteigens von Angehörigen der unteren Klasse 
im sozialen und kulturellen Interesse auch eines großen Opfers wert. 
Dieser Aufstieg wird aber, wenn auch nicht so sprunghaft, so doch 
. sicherer erfolgen bei einer vorzüglichen Ausbildung der Volksschulen, 
bei dem Bestehen von Fortbildungsklassen, Seminaren, Fortbildungs- 
schulen, Fachschulen, Fortbildungskursen, Bibliotheken u. s. w.!), denn 
der Besuch der höheren Schulen und eine höhere Laufbahn erfordern 
doch auch neben dem Schulgeld erhebliche Kosten und regelmäßig 
doch auch relativ günstige häusliche Verhältnisse. Was ist damit ge- 
wonnen, wenn zahlreiche Schüler mitten in der Schullaufbahn wieder 
abschwenken müssen? Dies Abschwenken ist nach der Barmer Statistik 
aber am häufigsten bei den Minderbemittelten: 


Schs er z 
3 neunklassige Knaben- Schüler Schüler, geren Katër 
schulen überhaupt Werkmeister | Einkommen 
oder Arbeiter | bis 1500 M. 
in 3 untersten Klassen 664 59 164 
„ 3 mittleren s5 499 11 44 
„ 3 oberen fi 271 8 12 


Der populäre Ruf nach Gebührenfreiheit und -minderung ist 
sehr kurzsichtig. Was man dem Volke auf der einen Seite gibt, nimmt 
man ihm auf der anderen. Ein die finanziellen Umstände ganz ver- 
vernachlässigendes Entgegenkommen auf dem Gebiete der höheren 
Schulen bewirkt eine Versäumung anderer Gebiete, die den unteren 
Volksschichten vielleicht noch mehr dienen, z. B. der Volkschulen. Die 
Steuerschraube läßt sich eben nicht beliebig anziehen, sicher wenig- 
stens nicht in der Gemeinde, die an die staatliche Steuergesetzgebung 
gebunden ist, und die daher den Reichen nicht stärker belasten kann, 
ohne auch dem Minderbemittelten wehe zu tun. Zu hohe Steuersätze 
und zu einseitige Betonung einzelner städtischer Aufgaben können auch 
leicht die Reichen und das Gewerbe aus der Stadt treiben und so den 
städtischen Wohlstand untergraben. Zwischen ideellen und finanziellen 
Forderungen muß auch hier ein Ausgleich gefunden werden. Durch ein 
nicht zu sehr beschnittenes Maß von Schulgeldbefreiungen und von ander- 


1) Man vergl. die Darlegungen Fr. Paulsens über die Volkshochschule in „Das 
moderne Bildungswesen“ (Die Kultur der Gegenwart, Bd. I, 1906). 


Miszellen. 679 


weiten Unterstützungen können und müssen kulturelle und persönliche 
Nachteile der Gebührenpolitik in geeigneten Fällen beseitigt werden; 
denn allerdings darf ein Volk seinen „kostbarsten Schatz“, die Talente, 
nicht verkümmern lassen. 

Wenn sich nun also auch die Veränderung der allgemeinen Schul- 
geldsätze nach unten aus finanzpolitischen Erwägungen, nach oben aus 
kulturellen Rücksichten verbietet, so können doch durch eine stufenweise 
Erhöhung der Schulgebühren für die Wohlhabenden sowohl die 
finanzielle‘ Forderung besserer Kostendeckung wie die Forderungen 
sozialer Gerechtigkeit befriedigend erfüllt werden. Nachdem auch 
Adickes in seinen „Sozialen Aufgaben der deutschen Städte“ gegen die 
ausgedehnte Gebührenfreiheit, den „völlig unmotivierten Kommunismus 
der bemittelteren Klassen“, mit durchschlagenden Gründen zu Felde gezogen 
ist und unter anderem die nach dem Einkommen abgestufte Gebühr 
empfohlen hat, nachdem weiter im vorigen Jahre diese Gebührennor- 
mierung durch eine authentische Deklaration zum Kommunalabgaben- 
gesetz ausdrücklich für zulässig erklärt ist, wird sich die Praxis 
damit mehr wie bisher befreunden. Zwar hat man bei der Gebühr, die 
besonders ja auch auf dem Gebiete des Schulwesens ganz privatwirtschaft- 
lichen Entgelten ähnelt, stets den Grundsatz: Leistung nach der Gegen- 
leistung betont, und das schließt eine verschiedene Bewertung einer Leistung 
aus, die für alle Empfänger gleichen Wert hat. Es spricht deshalb 
manches gegen eine steuerartige Ausgestaltung der Gebühr mit zu 
weitgehender Progression. Bisher wenigstens kennt man solche auf die 
Leistungsfähigkeit abgestimmte Gebühren nur bei Veranstaltungen 
ganz vorwiegend gemeinnützigen Charakters, so bei Deichver- 
bänden im Falle vorübergehender Gefahr, bei gewissen öffentlichen 
Versicherungskassen und namentlich bei gemeinnützigen Vereinen 1). 
Zwar könnte man mit gutem Grunde auch den gemeinnützigen Charakter 
der höheren Schulen betonen und die Reichen die Einnahmeausfälle, die 
durch die weniger Bemittelten entstehen, mit übernehmen lassen. Das 
ist aber praktisch unausführbar, da sonst gerade viele Schüler wolıl- 
habender Eltern der öffentlichen Schule entzogen und in Privatinstitute 
geschickt werden würden. So kann denn jene Gebührenabstufung nach 
dem Einkommen nur darin bestehen, daß die Schulgebühr zu einer der 
Finanzpraxis längst bekannten „Rahmengebühr“ gemacht wird, bei 
der der Maximalsatz gleich den tatsächlichen Kosten eines höheren 
Knaben- bezw. Mädchenschülers ist, der Minimalsatz ungefähr dem bis- 
herigen Satze entspricht oder etwas niedriger ist. Neu wäre daran nur, 
daß die Abstufung kraft Statuts nach dem Einkommen, nicht 
nach obrigkeitlichem Ermessen erfolgt. Der Minimalsatz sollte hierbei 
ziemlich weiten Kreisen zu gute kommen, damit durch die Schulgeld- 
steigerung möglichst keine Schüler von der höheren Schule abgestoßen 
werden und den besser gebildeten, z. T. mäßig besoldeten Kreisen eine 
gute Ausbildung ihrer Kinder nicht erschwert wird. Also kann die 


1) Vgl. über diese Dinge namentlich Fr. J. Neumann, Die Gestaltung des Preises 
$ 8 ff. in Schönbergs Handbuch der Politischen Oekonomie. 


680 Miszellen, 


Steigerung des Schulgeldsatzes vielleicht bei 6000 M. einsetzen, so jedoch, 
daß in den nächsten Einkommensklassen die Gebühr beim Vorliegen 
persönlicher Verhältnisse um 1 oder 2 Stufen herabgesetzt werden kann 
und überhaupt der erhöhte Satz nur bei einem oder zwei, nicht auch 
bei den weiteren schulbesuchenden Kindern gefordert wird. Bei 9500 M. 
Einkommen könnte die Maximalgebühr ausnahmslos erhoben werden. 

In Barmen müßte die den Kosten entsprechende Maximalgebühr in 
den höheren Knabenschulen etwa 360 M., in den Mädchenschulen etwa 
200 bis 250 M. betragen. Aber schon bei diesen Sätzen wmd bei der 
oben dargelegten milden Anwendung sind in Städten mit ähnlichen Ein- 
kommensverhältnissen wie Barmen erhebliche Mehreinnahmen 
zu erzielen. In Barmen würden sie betragen: in den Knabenschulen 
65 000 M., in den Mädchenschulen 19 000 M., zusammen also 84 000 M. 
Das wäre mehr als !/, der bisherigen Schulgeldeinnahmen. Auf 100 M. 
Ausgaben fielen dann wieder wie früher 45 M. Einnahmen. Durch 
Heraufsetzung der Maximalgebühr könnte der alte Deckungsbetrag auch 
bei weiteren Aufwandsforderungen erhalten bleiben. Denn wenn man 
es einmal für finanzpolitisch richtig und für gerecht hält, bestimmte, 
nicht zu geringe Quoten der Schulkosten durch Hebungen von den 
Schülern zu decken, so darf dieses System der Kostendeckung nicht bei 
Veränderung dieser Kosten verlassen werden. 

Die Einsicht in die charakteristischen Entwicklungszüge der städti- 
schen Finanzen wird hiernach nicht aus der bloßen Zusammenstellung 
und Musterung von Finanzreihen gewonnen, sondern nur mit Hilfe 
einer methodisch vorgehenden Statistik, die überall die rechten Be- 
ziehungen herstellt und eine sorgsame Wertung des Materials nach 
richtigen Gesichtspunkten vorbereitet. Eine solche Untersuchung führt 
von selbst auf schätzbare finanzpolitische Anregungen und ermöglicht eine 
genauere Berechnnng der Wirkungen finanzieller Maßnahmen. Soll aber 
der Statistiker — so wie es hier geschehen ist — die finanzpolitischen 
Folgerungen selbst zu ziehen suchen? Darf er von der strengen Tat- 
sachenschilderung abweichen? Er ist in der Tat dazu genötigt, denn 
er kann unmöglich die Tatsachenschilderung richtig umgrenzen und 
die finanziellen Möglichkeiten berechnen, wenn er sich nicht in die Stelle 
dessen setzt, der die statistischen Ergebnisse zu praktischen Zwecken 
verwertet. Gerade weil das so häufig nicht geschieht, sind viele stati- 
stische Arbeiten praktisch so unfruchtbar: die Darlegung ist lückenvoll 
und dem Praktiker wird zugemutet, statistische Materialien für seine 
Zwecke brauchbar zu machen. Die objektive statistische Darlegung 
leidet nicht, wenn sich die praktischen Erwägungen in dem Rahmen des 
durch die statistische Arbeit Gebotenen halten und nur den Zweck 
haben, die Bedeutung der finanzstatistischen Ergebnisse nach allen Seiten 
klarzustellen. Ist dem Statistiker dies gelungen, so hat er an seinem 
Teil mitgewirkt, daß die Verwaltungsführung immer weniger auf persön- 
liches Meinen als auf ein Studium des Objekts der Verwaltung und des 
Verwaltungsgetriebes selbst gegründet wird. 


Miszellen. 681 


XV. 
Die Baumwollfrage. 
Von Dr. Hans Koch (Cöln). 


Inhalt. 1. Die Bedeutung der Baumwolle für die deutsche Volkswirtschaft und 
die deutsche Baumwollenindustrie. 2. Die Kultur der Baumwolle. 3. Die bisherigen 
Haupt- Baumwollproduktionsgebiete der Erde und die Baumwollproduktion. 4. Die 
Baumwollfrage ist vor allem entstanden aus der Konzentration des Baumwollanbaues 
auf wenige bestimmte Gebiete. Sie richtet sich gegen zwei Momente: 1) den absoluten 
Mangel, 2) die schwankenden Erträge der Rohbaumwolle, hervorgerufen durch a) Speku- 
lation, b) unzureichenden Anbau, e) Ernteschwankungen. 5. Mittel der Abhilfe. Bis- 
herige Bestrebungen: 1) Vereinigung der Baumwollindustriellen, 2) Vereinigungen, 
welche die Erweiterung des Baumwollanbaues zum Ziele haben. 6. Die planmäßige 
Ausdehnung des Baumwollanbaues. 


1. 


Das Problem der Versorgung der Baumwollindustrie mit Rohbaum- 
wolle gehört heute zu den wichtigsten Fragen der Volkswirtschaft, ins- 
besondere in den Ländern, welche mit ihren Fertigerzeugnissen den 
Weltmarkt versorgen. 

Das ist erklärlich einmal aus dem hohen Range, welcher der Baum- 
wolle unter den wirtschaftlichen Gütern zukommt. 

Von den in einem Haushalt zur Lebenshaltung notwendigen Aus- 
gaben pflegt man ein Fünftel bis ein Sechstel auf die Bekleidung zu 
rechnen. Unter den Bekleidungsgegenständen aber nehmen die aus 
Baumwolle hergestellten heute einen breiten Raum ein, so daß auf sie 
allein eine bedeutende Quote der Bekleidungsausgaben fällt. Die Ver- 
wendung der Baumwolle für andere als Bekleidungszwecke tritt hinter 
diesen weit zurück. 

Heute gehören die Baumwollwaren wegen ihrer relativen Wohlfeil- 
heit zu denjenigen Artikeln, welche dem Massenverbrauch dienen und 
bei allen Kulturvölkern als unentbehrlich gelten. Wo immer die Zivi- 
lisation eindringt, sind sie es, deren Verbrauch rasch ansteigt, so daß 
man bis zu einem gewissen Grade den Eigenverbrauch an Baumwoll- 
waren als Gradmesser der Kultur ansehen kann. 

Der Verbrauch an Baumwolle und an Baumwollwaren nimmt be- 
ständig zu, sowohl in den einzelnen Ländern als auch in der ganzen 
Welt. So betrug im deutschen Zollgebiet der Verbrauch an Rohbaum- 
wolle auf den Kopf der Bevölkerung in der Mitte des 19. Jahrhunderts 
nur ca. 0,50 kg und stieg auf 2,84 im Durchschnitt der Periode 1871/75, 
erreichte im weiteren Ansteigen 1901: 5,7 kg, 1902: 5,8, 1903: 6,3, 
1904: 6,4, 1905: 6,5 kg). 


1) Statist. Jahrb. d. Deutsch, Reichs 1906, S. 236. 


682 Miszellen. 


Das Anwachsen des Verbrauchs ist also nicht nur bedingt gewesen 
durch die Bevölkerungszunahme, erfolgte vielmehr in beträchtlich 
schnellerem Tempo; während die Bevölkerung von 1875 bis 1905 von 
40,8 auf 56,3 Millionen gestiegen ist, stieg die Zunahme des Verbrauchs 
in derselben Zeit von 2,3 auf 5,8 kg. Die Bevölkerung also wuchs im 
Verhältnis 2:3, der Baumwollverbrauch in einem solchen von 2:6. 

Zur Beurteilung der Bedeutung des Rohbaumwollbedarfs für die 
deutsche Baumwollindustrie ist ein Blick auf die Stellung dieser Industrie 
nicht zu umgehen. 

Von den Zweigen der Textilgewerbe hat die Baumwollverarbeit- 
ung als letzter Bedeutung in Deutschland erlangt; aber die Erzeugnisse 
des Gewerbes waren zunächst und lange Zeit durchaus Luxusartikel 
An eine Massenverwendung der Baumwolle war erst seit der Entwick- 
lung des modernen Verkehrs und der Großindustrie zu denken. 

Zur modernen Großindustrie entwickelte sich die Baumwollenver- 
arbeitung in Großbritannien; erst bedeutend später folgte Deutschland, 
und zwar Sachsen und das — damals französische — Elsaß. Zwei 
Umstände waren es vor allem, welche die deutsche Baumwollenindustrie 
gegenüber der englischen benachteiligten und ihr heute noch die Konkurrenz 
mit jener erschweren: 1) die Ungunst der klimatischen Verhältnisse, 
das Fehlen der natürlichen Feuchtigkeit Lancashires; was dort die 
Natur umsonst gewährt, muß hier erst künstlich und mit Kosten erzeugt 
werden, 2) der Mangel lokaler Konzentration; während in Großbritannien 
fast die ganze Industrie in einem Gebiete vereinigt ist, haben wir in 
Deutschland u. a. 4 Bezirke: 1) Sachsen—Lausitz— Thüringen (Plauen, 
Chemnitz, Zittau, Leipzig, Eilenburg, Mittweida, Zeitz), 2) Bayern (Hof, 
Augsburg, Kempten), 3) Niederrhein (Barmen, Elberfeld, Duisburg, 
Cöln, Gladbach), 4) Elsaß (Mülhausen, Colmar, Markirch, Breuschtal). 

Auf diese Gebiete verteilt sich die Gesamtspindelzahl von 9,7 Millionen 
(1905) wie folgt: 


Sachsen Be ar Ft ET 
Bayern. var ne re S 1,58 
Niederrhein-Westfalen . . . . 2,73 
Bisai ar en ee ANA 


Summa 7,21 


Der Rest von 2,5 Millionen verteilt sich auf Spinnereien, die in 
anderen Teilen des Reichs zerstreut sind, u. a. in Württemberg, Hohen- 
zollern, Baden, Schlesien, Rheinpfalz, Norddeutschland. 

Die deutsche Baumwollindustrie entwickelt sich gleichzeitig nach 
zwei Richtungen: 

1) sie strebt nach Vermehrung der Zahl der Betriebe, 

2), und dies vor allem, nach Vergrößerung der Betriebe. 

Es bestanden in Deutschland: 1) 


1887: 348 Spinnereien in 167 Orten mit 14500 mittlerer Spindelzahl 
1905: 376 > H300 a sah 23500 i ” 
(+ 28) (+ 29) (+ 9000) 


1) Deutsche Rundschau für Geographie und Statistik 1905, S. 512 ff.: A. Oppel, 
Zur Statistik der Baumwollspinnereien in Mitteleuropa. 


a 


Miszellen. 683 


Welche Stellung die deutsche Baumwollindustrie in der Welt- 
wirtschaft einnimmt, mögen folgende Daten veranschaulichen t): 

Im Jahre 1900 betrug die Zahl der Spindeln in den hauptsäch- 
lichsten Baumwollindustrieländern rund 102 Mill.; von diesen entfielen auf 


Großbritannien 45-Mill. 
den europäischen Kontinent 33 ,„ 
die Vereinigten Staaten 19  „ 
Indien St 


An den 33 Mill. des europäischen Kontinents waren die einzelnen 
Länder wie folgt beteiligt: 


Deutsches Reich 81 Spanien 2,8 
Rußland 7,5 Italien 2,0 
Frankreich 5,5 Schweiz _ 1,5 
Oesterreich 3,5 Belgien 1,0 


Der Rest von 1 Mill. entfällt auf Schweden, die Niederlande, Portugal 
und Griechenland zusammen. 

Deutschland nimmt also unter den Ländern des Kontinents die 
erste Stelle ein und hat allein den vierten Teil der Spindeln des Kon- 
tinents in Betrieb. 

Der Spindelzahl nach rangiert ferner die deutsche Baumwollindustrie 
an dritter Stelle unter den Staaten der Erde; sie überragt um 1,3 Mill. 
Spindeln die Spindelzahl von ganz Asien (6,8 Mill, davon Japan 1,5, 
Indien 4,9). 

Die Bedeutung der Baumwollindustrie für die Volkswirtschaft geht 
auch aus der Ein- und Ausfuhrstatistik hervor. Deutschland führt ein 
Rohbaumwolle und etwas Baumwollgarn, daneben auch ganz wenig 
Baumwollwaren und führt aus Baumwollwaren; sie stehen dem Werte 
nach an erster Stelle der Gesamtausfuhr. (6,5 Proz. der Ausfuhr 1905) ?). 
Der Wert der ausgeführten Baumwollwaren ist in den letzten 8 Jahren 
um 200 Mill. M. gestiegen, nämlich von 181 (1898) auf 380 (1905) 3). 
Die Einfuhr von Baumwollwaren hatte in demselben Zeitraum den Wert 
von 31 (1898) bis 45 (1905) Mill. M. 

Von dem Gesamtwert der im Jahre 1903 ausgeführten Baumwoll- 
waren kamen nach der Berechnung Helfferichs 60—65 Mill. M. auf den 
Rohstoff, 220—225 Mill. M. auf die im Lande bewirkte Verarbeitung, 
so daß eine Werterhöhung von ca. 160 Mill. M. stattgefunden hatte 4). 

Der Wert der nach Deutschland eingeführten Rohbaumwolle nimmt 
ebenfalls die erste Stelle ein ĉ) sowohl nach Mill. M. (398 im Jahre 1905) 
als auch nach Prozenten des Einfuhrwertes (5,4 im Jahre 1905). Von 
den 1905 eingeführten 348000 Tonnen Rohbaumwolle wurden 37 Tonnen 
wieder ausgeführt, so daß 311000 Tonnen im Lande verarbeitet wurden. 


1) E. v. Sehkopp, Die wirtschaftliche Bedeutung der Baumwolle auf dem Welt- 
ee Sonderabdr. a. d. „Tropenflanzer“ 1904, S. 6. Leider fehlt die Quellen- 
angabe. 

2) Stat. Jahrb. 1906, S. 175. 

3) Stat. Jahrb. 1906, $. 174. 

4) Helfferich, Die Baumwollfrage, 1904, S. 642 f. 

5) Stat. Jahrb. 1906, S. 172 f. 


684 Miszellen. 


2. 


In dem Maße, in welchem die Verarbeitung der Baumwolle an Um- 
fang zunahm, mußte auch die Frage der Beschaffung des Rohstoffs an 
Bedeutung gewinnen und zwar um so mehr, als die Industrie in einem 
außerordentlich schnellen Tempo zugenommen hat, nicht allein in 
Deutschland, sondern in allen Ländern, welche überhaupt Baumwolle 
verarbeiten. Ueberall ist die Nachfrage nach dem wichtigen Roh- 
material überaus stark und häufig hat die Rohstofferzeugung mit ihr 
nicht gleichen Schritt halten können. 

Ein Umstand ist für die Rohstoffversorgung der Baumwollindustrie 
ganz besonders charakteristisch: es ist die Tatsache, daß die weitaus 
meisten Baumwollindustrieländer den Rohstoff nicht selbst erzeugen 
können, sondern auf die Einfuhr aus weiter Ferne angewiesen sind. 

Die Produktionsgebiete der Baumwolle fallen im allgemeinen nicht 
zusammen mit denen der Fertigerzeugnisse. Nur die Vereinigten Staaten, 
Mexiko, Indien und Japan sind in der Lage, in ihren Anbaugebieten oder in 
unmittelbarer Nähe derselben eine Baumwollindustrie von nennenswertem 
Umfange zu besitzen. Aber auch in diesen Ländern muß sie auf gewisse 
Gebiete beschränkt bleiben. 

Nur die Vereinigten Staaten und Britisch-Indien sind im stande, 
ihre Industrie nur mit eigener Baumwolle zu versorgen 1). Die Industrie 
dieser Länder aber repräsentiert nur den vierten Teil der 112 Mill. 
Spindeln (1903) der Welt, nämlich 27 Mill, während 85 Mill., also drei 
Viertel der Spindeln 2), welche sich auf die übrigen Industrieländer ver- 
teilen, den Rohstoff nicht in der Nähe haben. Mit anderen Worten: 
die Baumwollindustrie liegt zum überragenden Teile, zu drei Viertel, 
außerhalb der „Baumwollzone“. 

Von den Industrieländern außerhalb der Zone vermag heute nur 
Rußland allein die Baumwolle in erheblichem Umfange, nämlich ein 
Drittel seines Bedarfs, aus eigenem Kolonialgebiet zu beziehen. Alle 
anderen Länder aber, unter ihnen auch Deutschland, sind fast ganz auf 
die Einfuhr aus weiter Ferne und fremden Ländern angewiesen. 

Für eine ganze Reihe von Ländern, und gerade für die wichtigsten, 
wird also die volkswirtschaftliche Forderung, die Fabrikation und die 
Robhstotfgewinnung möglichst nahe beieinander zu plazieren, niemals zu 
erreichen sein. Entweder ist das Industrieland zum Baumwollanbau 
oder das Anbaugebiet für die Industrie ungeeignet. Denn die Tropen, 
auf welche in der Hauptsache der Anbau beschränkt ist, eignen sich im 
allgemeinen nicht für die Fabrikarbeit. So kommen schließlich nur 
wenige subtropische Gebiete in Betracht, welche die Bedingungen für 
das Zusammenwirken von Anbau und Industrie zu erfüllen vermögen’). 


1) Tatsächlich wird aber noch fremde Baumwolle eingeführt; es spricht da u. a. 
die Frage der Qualität mit. 

2) Nach v. Schkopp, a. a. O., S. 8. 

3) Es handelt sich natürlich nur um maschinelle Tätigkeit; Verarbeitung der Baum- 
wolle in irgend einer primitiven Form für den Eigenbedarf kommt fast überall vor, 
wo Baumwolle wächst. 


Miszellen. 685 


Etwas wird das Bild sich in späterer Zukunft vielleicht verändern. 
Denn man strebt dahin, die industrielle Tätigkeit, wo es nur irgend 
möglich ist, in die Nähe der Kulturgebiete zu ziehen. Wo es aber auch 
gelingen mag, wirklich leistungsfähige Industrieen in jenen Gebieten 
ins Leben zu rufen: eine Bedeutung für den Weltmarkt werden sie in 
absehbarer Zeit nicht gewinnen können. 

Die Ursache für die ungünstige Lage der Baumwollindustrie hin- 
sichtlich der Rohstoffversorgung ist zu suchen in den geographischen 
Bedingungen des Baumwollanbaues. 

Ein Blick auf eine kartographische Darstellung der sogenannten 
Baumwollenzone zeigt einen zwar gewaltigen Gürtel rings um die Erde; 
aber in ihm eignet sich nur der weitaus kleinere Teil der Landmasse 
für eine Baumwollkultur. Diese Gebiete aber sind noch dadurch ein- 
zuengen, daß sie nicht alle eine für die Industrie geeignete Sorte er- 
zeugen und in noch höherem Maße dadurch, daß häufig in an sich wohl 
geeigneten Gebieten die Baumwollkultur unterbleibt, entweder, weil das 
Land für andere Zwecke (Nahrung) nötiger gebraucht wird, oder, weil 
besondere klimatische, wirtschaftliche oder Verkehrsverhältnisse eine Kultur 
unrentabel machen. So wird z. B. in der Nähe der Grenzen der Baum- 
wollzone ein Anbau selten empfehlenswert sein, weil die klimatischen 
Verhältnisse hier schon den Anbau riskant machen; ein Nachtfrost kann 
die Ernte mit einem Schlage vernichten, da die Pflanzen sehr empfind- 
lich sind. Nur da, wo die Kultur ohne Besorgnis vor klimatischen 
Ueberraschungen vorgenommen werden kann und wo die wirtschaftlichen, 
insbesondere die Verkehrsverhältnisse günstig oder entwickelungsfähig 
sind, wird sie lohnend sein. Es bleiben ohnehin noch genug Störungen 
des Wachstums und der Ernten übrig, mit denen auch in den günstigsten 
Gebieten gerechnet werden muß. 

Es würde hier zu weit führen, auf die Kultur der Baumwolle ein- 
zugehen!. Nur einige Momente mögen hervorgehoben werden, welche 
für die Lösung der Baumwollfrage beachtenswert sind. 

1) Die Baumwollpflanze bedarf eines gewissen Maßes von Feuchtig- 
keit; dieses fehlt häufig in den tropischen und subtropischen Ländern. 
Durch künstliche Bewässerung, wie sıe in größtem Umfange in Aegypten 
und Russisch-Zentralasien in Gebrauch ist, kann der Mangel zwar völlig 
ausgeglichen werden; da aber die Bewässerungsanlagen sehr kostspielig 
sind, so können sie nur da in Frage kommen, wo der wirtschaftliche 
Zustand des Landes bereits eine gewisse Stufe erreicht hat. Wiederum 
eine Einschränkung der Baumwollkultur! 

2) Die Ernte gestaltet sich ganz besonders eigenartig; denn einmal 
erstreckt sie sich auf demselben Felde über mehrere Monate, weil die 
Samenkapseln ungleichmälig reifen; und dann ist sie in allen Gegenden 
stark variierend. Daher haben wir für die Welternte das bemerkens- 
werte Ergebnis, daß fast in allen Monaten in irgend einem Lande der 
Erde Baumwolle gewonnen werden kann. (Mit alleiniger Ausnahme des 


1) Sehr ausführlich behandelt bei A. Oppel, Die Baumwolle, und H. Semler, 
Tropische Agrikultur (4 Bde. 88.) Bd. 3. 


686 Miszellen. 


Monats Dezember.) Es ist das ein Moment höchster Bedeutung, denn 
bei voller Ausnutzung aller für den Baumwollanbau geeigneten Land- 
strecken der Erde würde sich bis zu einem gewissen Grade eine Gleich- 
mäßigkeit in den Welternten erzielen lassen. 

3) Der Anbau der Baumwolle erfordert keine besonders große Sorg- 
falt, so daß er mit Erfolg auch von Völkern niederer Kulturstufe vorge- 
nommen werden kann. Die Ernte insbesondere, bestehend in dem Ab- 
pflücken der reifen Kapseln, ist eine ganz leichte Arbeit, die keinerlei tech- 
nische Fertigkeit erfordert. Nur etwas Sorgfalt in Bezug auf das Reinhalten 
der geernteten Baumwolle ist erforderlich, da nachlässige Ernten, wie 
sie in Ostindien üblich sind, den Wert der Ware beeinträchtigen. 

Unmittelbar nach der Ernte wird die Baumwolle für den Handel 
vorbereitet; auch hierüber müssen ein paar Worte gesagt werden. 

Zunächst wird, möglichst in unmittelbarer Nähe des Feldes, der 
Prozeß der Entkernung vorgenommen. Hierzu dienen heute allgemein 
besondere Maschinen: denn sie bedeuten eine enorme Arbeitsersparnis, 
während beim Entsamen mit der Hand eine Person für ®/, kg ca. 1 Stunde 
braucht, leistet die Maschine in derselben Zeit 3500 kg). 

Nach der Entkernung erfolgt sogleich das Pressen der Ballen und 
zwar in zwei Stadien: einmal provisorisch auf dem Felde und dann end- 
gültig in der Compress, der eigentlichen Baumwollpresse im Hafenorte, 
von dem aus die Baumwolle über See verschickt werden soll. (Im In- 
landversand begnügt man sich häufig mit der ersten Pressung.) 

Gleichzeitig mit dem Pressen wird die Verpackung in Ballen vor- 
genommen; ihr Gewicht ist verschieden nach den Ursprungsländern; am 
gebräuchlichsten ist der nordamerikanische Ballen zu 500 engl. Pfd.?), 

Auch die Prozesse des Entkernens, Pressens und Packens erfordern 
keine besondere Geschicklichkeit, so daß sie von ganz ungelernten Ar- 
beitern, wie Eingeborenen, versehen werden können, wofern nur sach- 
verständige Leitung vorhanden ist. 

Nunmehr ist die Baumwolle fertig für den Handel. Sie wird be- 
urteilt und klassifiziert nach der Sorte, dann aber auch nach dem Maß 
der Reife, nach der Reinheit (Sorgfalt beim Ernten!) und nach dem 
Grade der guten Erhaltung während des Transports. Besondere Quali- 
tätsmerkmale sind die Länge und Feinheit der Faser und die Farbe. 
Kenner sind im stande, 37 Farbenschattierungen zu unterscheiden. 

Nach der Qualität ist auch der Preis verschieden, der im übrigen 
nach Angebot und Nachfrage geregelt und auf den Börsen von New-York 
und Liverpool festgestellt wird. Ausgangspunkt für die Preisbe- 
stimmung ist ein Pfund (engl.) der Sorte Upland Cotton Middling. 


1) Eckert, Handelsgeographie, II, 441, Anm. 4. Diese Maschine ermöglicht erst 
Baumwollernten von großem Umfange. 

2) Der ägyptische Ballen = ea. 700 engl. Pfd. Der ägyptische und der ameri- 
kanische Ballen schwanken im Gewicht; dagegen ist der indische Ballen regelmäßig 400 
engl. Pfd. schwer; er wird daher Handelsballen genannt. (A. Oppel a. a. ©., 83 f.) 
In statistischen Angaben wird wegen des Ueberwiegens amerikanischer Baumwolle 
gewöhnlich mit amerikanischen Ballen gerechnet, oft aber überhaupt keine nähere An- 
gabe gemacht, so daß stets Vorsicht geboten ist. 


Miszellen. 687 


Die Preise schwanken ganz kolossal, oft von einem Tage zum 
anderr, da die Baumwolle ein hervorragendes Spekulationsobjekt ist. 


3. 


Ich gehe nunmehr zu der Frage über: wie hat bisher die Ver- 
sorgung der Baumwollindustrie mit Rohbaumwolle stattgefunden ? 

Drei Gebiete kamen so gut wie ausschließlich in Betracht: die 
Vereinigten Staaten von Nord-Amerika, Ostindien und Aegypten. Das 
weitaus wichtigste Produktionsgebiet stellen — wie später zu zeigen 
sein wird — die Vereinigten Staaten dar. 

Die geographischen und Kulturverhältnisse der genannten Länder 
sind bekannt, so daß ich mich auf einige charakteristische Momente be- 
schränken zu können glaube. 

Die Vereinigten Staaten. Die zum Baumwollanbau geeigneten Ge- 
biete sind die Südstaaten und zwar vorzugsweise im Südosten Nord- 
amerikas, im Norden etwa bis an den 38. Grad, im Osten und Süden 
ans Meer, im Westen etwa bis an den 100. Längengrad reichend. Das 
Gebiet umfaßt die Staaten: Texas, Georgia, Mississippi, Alabama, Süd- 
Carolina, Arkansas, Louisiana und Nord-Carolina, nach Produktions- 
mengen geordnet. 

Diese Gebiete erzeugen nicht nur die weitaus größte Menge an 
Baumwolle, sondern auch die besten Sorten, u. a. die von der Industrie 
am meisten geschätzte See-Island-Baumwolle, welche in Süd-Carolina, 
Georgia und dem nördlichen Florida gezogen wird:) Für die Süd- 
staaten ist klimatisch charakteristisch die lange Dauer der warmen 
Jahreszeit, ferner häufige Perioden übergroßer Feuchtigkeit abwechselnd 
mit solchen übergroßer Trockenheit. 

Für Getreide, besonders Weizen, sind diese „Baumwollstaaten“ da- 
her weit weniger geeignet als die Nordstaaten. 

Von dem ganzen gewaltigen Gebiet ist aber nur ein kleiner Teil 
mit Baumwolle bebaut. Die Größe der benutzten Fläche schwankt 
außerordentlich: während z. B. 1893 6,4 Mill. ha (= ca. 16 Mill. acres) 
in Gebrauch genommen waren, stieg die Ziffer 1900/1 auf 10 Mill. ha 
(25 Mill. acres)2), 1903 auf rund 29 Mill. acres, 1904 32 Mill. acres. 
Dann aber beschlossen die Pflanzer eine Einschränkung des Anbaues 
um 25 Proz., d. h. von 32 auf 24 Mill. acres. Die tatsächliche An- 
baufläche betrug aber dennoch etwas mehr, nämlich 27 Mill. 

Von 1893 bis 1897 war die Baumwollernte ziemlich stabil, nur wenig 
erhöht gegenüber der Periode 1889/92. Die Ernten selbst waren schwan- 
kend: auf sehr gute, wie 1892, folgten mäßige 1893/97 3). Im ganzen 
genommen stieg aber die Baumwollproduktion an: 1850: 524, 1870: 
06, 1900: 2100, 1903: 2400, 1904: 2500 Mill. kg. 

Aber die Zunahme der Produktionsanschwellung bewegte sich 
in den letzten Jahren in recht bescheidenen Grenzen. Ich sehe von 


1) Die Sea-Island-Baumwolle bedarf eines gewissen Salzgehaltes der Luft. 

2) Das ist nach Oppel eine Fläche, welche der Gesamtfläche der Staaten Bayern, 
Württemberg, Großherzogtum Hessen, Brandenburg, Posen, Pommern entspricht. 

3) H.Dietzel, „Die enorme Ueberbilanz der Vereinigten Staaten“. Conrads Jb. 1905. 


688 Miszellen. 


anderen Umständen, welche die Ernte beeinflußt haben (Mißernten, Schäd- 
linge, Spekulation), hier zunächst ab: so hängt in der Hauptsache die 
zunehmende Ertragmenge mit der Vermehrung der Anbaufläche zusam- 
men. Bis 1904 hat das Areal beständig zugenommen; wenn darum 
auch eine Einschränkung beschlossen wurde, so ist doch nicht wahr- 
scheinlich, daß man dabei bleiben wird, denn es steigt der Bedarf an 
Baumwolle beständig vor allem durch die Weiterentwickelung der eigenen 
Industrie, welche die Tendenz hat, sich von dem bisherigen Zentrum 
nördlich New York in das Baumwollgebiet, vor allem Carolina, zu ziehen. 
Erweiterungsfähig wäre das Gebiet noch sehr, wenn nur das Areal in 
Frage käme, denn bis jetzt sind im änßersten Falle 7—8 Proz. des 
überhaupt anbaufähigen Landes in Kultur genommen. Aber es sprechen 
andere Umstände gewaltig mit, welche einer unbegrenzten Ausdehnung 
entgegenwirken. Einmal ist die Baumwollernte selbst vielfach gefährdet; 
in den letzten Jahren hat sie in weiten Landstrecken, so namentlich 
in Texas, durch Schädlinge gelitten; man meint auch, daß durch die 
lange intensive Baumwollkultur der Boden verschlechtert worden sei. 
Sodann können die Pflanzer nicht alles Land für die Baumwolle ver- 
wenden, sondern müssen wegen der teuren Preise für Nahrungsvegetabilien 
selbst Nahrungspflanzen ziehen. Dann verwendet die eigene Industrie nicht 
ausschließlich amerikanische Baumwolle, sondern zieht für manche Fabri- 
kate fremde vor, so ägyptische und peruanische!). Vor allem aber ist 
die Arbeiterfrage ein Hindernis. Wenn auch einerseits die Bevölkerung 
der Südstaaten durch Einwanderung aus dem Norden zunimmt, so hat 
doch andererseits die wachsende Industrialisierung des Landes eine Land- 
flucht hervorgerufen, welche die Landarbeiterfrage zu einem immer mehr 
an Wichtigkeit zunehmenden Problem macht. Allgemein klagen die 
Pflanzer und behaupten, daß ihr Gewinn gering sei ?). Solche Klagen sind 
ja im allgemeinen mit Vorsicht aufzunehmen; aber wenigstens die kleinen 
Besitzer und Pächter, welche die Mehrzahl bilden, sind in der Tat in 
übler Lage, da sie sich in mehr oder weniger vollständiger Abhängigkeit 
‚vom Händler befinden, welcher die Baumwolle aufkauft. Trotzdem ist 
nach Angaben der dortigen Pflanzer in den eigentlichen Baumwoll- 
gegenden die Baumwollkultur die einzige, welche sich bezahlt macht. 
Abgesehen von den besonders für Baumwolle qualifizierten Gegen- 
den meint man aber?) daß mit zunehmender Bevölkerungsdichtigkeit 
der Südstaaten für die Zukunft eine Zunahme der Getreidekultur t) auf 
Kosten der Baumwollkultur zu erwarten sei. Es läßt sich natürlich 
nicht mit Sicherheit voraussagen, ob dieser Fall eintreten wird: was 
man aber doch wohl mit einiger Sicherheit sagen kann, ist, daß eine 
Zunahme der Baumwollkultur nach Maßgabe des verfügbaren Areals 
keinesfalls, wahrscheinlich aber überhaupt nicht in bedeutendem Um- 
fange stattfinden wird. Das ist eine für die Frage der Rohstofiver- 


1) Oppel, a. a. O., S 470. 

2) Koloniale Zeitschrift, 1904, No. 16 u. 48, 8.304. 

3) Ebenda. 

4) Diese Gefahr scheint mir aber nur für die Randgebiete der Baumwollzone vor- 
zuliegen, nicht im allgemeinen. 


Miszellen. 689 


sorgung der europäischen Industrien sehr bemerkenswerte Tatsache; 
denn sie ist ein Teil der nachher näher zu erörternden „Baumwollfrage“. 

Ostindien ist das zweite alte Baumwollproduktionsgebiet. Hier hat 
der Baumwollanbau seine älteste Stätte. Die Täler des Indus und 
Ganges und die Hochebenen im Innern, insbesondere die Präsident- 
schaften Madras, Bombay und zum Teil auch Bengalen, sowie das Land 
Gudscherat sind im stande, gewaltige Mengen von Baumwolle hervor- 
zubringen. Ceylon ist auch sehr geeignet, hier ist aber der Baumwoll- 
bau fast ganz von der Kaffee-, später der Teekultur zurückgedrängt. 
Auch hier schwankt die Größe der bebauten Fläche: sie betrug im Maxi- 
mum 1891/92 = 18 Mill. acres (7,1 Mill. ha) und erreichte ihren tiefsten 
Stand 1899/1900 mit 12 Mill. acres (4,7 Mill. ha). Die ganze zur Ver- 
fügung stehende — für Baumwolle geeignete — wird auf 40000 qkm 
geschätzt. Seit 1900 stieg die bebaute Fläche wieder auf 13,5, 14,5 
und 15,7 (1902/03) Mill. acres; die Ziffer von 1892 ist bis 1904 nicht mehr 
erreicht worden. Hier also ein Rückgang der Anbaufläche! Neuerdings 
aber scheint wieder eine Ausdehnung stattgefunden zu haben, denn für 
1905/06 wurde von der ostindischen Regierung die Fläche auf 19,6 Mill. 
acres beziffert, zugleich freilich ein Rückgang des Ertrages festgestellt!). 
Die Ernten schwankten bei fast gleicher Fläche aber ganz außerordent- 
lich: sie betrugen 1896/97 bei 15 Mill. acres = 1,9, 1897/98 bei 14,2 
Mill. acres = 2,1, 1902/03 bei 15,7 Mill. acres = 2,7 Mill. Ballen. 
(1905/06 bei 19,6 Mill. acres = 3,2 Mill. Ballen gegenüber 19,1 Mill. 
acres und 3,6 Mill. Ballen im Jahre 1904/05, also ein Minderertrag bei 
vermehrter Fläche; die Zahlen sind aber nur Schätzung.) Der Ertrag Ost- 
indiens ist heute im Steigen begriffen; mehr und mehr Land wird unter 
Kultur genommen, nachdem die Bevölkerung den Nutzen eingesehen hat 2). 

Wenn das aber auch richtig ist, daß in Zukunft der Anbau aus- 
gedehnt werden wird, so ist der Nutzen für den Weltbedarf doch nur 
ein bedingter. Denn die ostindische Baumwolle rangiert sehr tief; 
mangelhafte Kultur, Klima und Bodenbeschaffenheit sind die Ursachen. 
Das Klima ist nicht, die Bodenbeschaffenheit wenig zu ändern und die 
Versuche, den Eingeborenen zu sorgfältigerer Kultur zu erziehen, sind 
— bis jetzt wenigstens — fehlgeschlagen. Auch lassen die Verkehrs- 
verhältnisse noch viel zu wünschen übrig). Die Gesamtausfuhr ist seit 
1890 zurückgegangen, weil die aufblühende eigene Industrie eine immer 
größere Quote der Ernte selbst verbraucht. Die Arealvermehrung kommt 
also ausschließlich der einheimischen Industrie‘) zu gute, so daß auch 
Ostindien für die Frage der Vermehrung des Weltbedarfs ausfällt. 


1) Frankfurter Zeitung, No. 19. vom 20. Januar 1906. — Man darf bei Ostindien 
nicht übersehen, daß bei der großen Bevölkerungsdichtigkeit des Landes eine sehr be- 
Bene Quote des Areals für Brotfrüchte reserviert bleiben muß, vor allem für den 

isbau. 

2) Zeitschrift „Asien“, No.2 v. Nov. 1905, 8. 31. Die bebaute Fläche wird hier 
für 1905 auf 4,5 Mill. ha angegeben, was noch nicht 12 Mill. acres ausmachen würde. 
Die offizielle Angabe scheint aber doch mehr Vertrauen zu verdienen. 

3) Oppel, Die Baumwolle, Kap. 15. 

j 4) Sie beschäftigte 1902 in Fabriken ca. 180000 Arbeiter, im ganzen (mit Haus- 
industrie) ca. 4 Mill. Arbeiter. Eckert, Handelsgeogr. II, 179. 
Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIII). 44 


690 Miszellen. 


Großbritannien hat in dem letzten Jahrzehnt durch Vermehrung der 
Verkehrsmittel, Anlage von Bewässerungsanlagen, Talsperren, Sammel- 
becken, Kanäle, energische Maßregeln zur Vermehrung der Baumwoll- 
kultur ergriffen, bezieht selbst aber heute sehr viel weniger indische 
Baumwolle als früher, während der japanische Bedarf zugenommen hat !). 

Aegypten ist das dritte Hauptland der Baumwollerzeugung. Für 
die Baumwollkultur eignet sich nur das Niltal bis etwa an den Wende- 
kreis und das Nildelta; das Delta umfaßt ®/,,, das Tal !/,, der gesamten 
Anbaufläche. Diese selbst umfaßte 1900/01 nur 1,6 Mill. acres = ca. 
6400 qkm, bildet aber 25 Proz. des überhaupt anbaufähigen Landes 
(in Nordamerika 7 Proz... Die Anbaufläche Aegyptens verhält sich zu 
der Ostindiens und der Vereinigten Staaten = 11 (Aegypten): 160 (Ost- 
indien):211 (Vereinigte Staaten), die Maxima der bisher erzeugten 
Baumwollmengen aber 1:11:16. 

Zur Beurteilung der Intensität des Baumwollanbaues muß man in 
Erwägung ziehen, daß das gesamte Kulturareal Aegyptens ca. 28000 qkm 
beträgt, also etwa der bayerischen Pfalz gleichkommt. Dennoch über- 
trifft Aegypten alle Länder mit Ausnahme von Ostindien und den Ver- 
einigten Staaten an Ausfuhrmenge der Baumwolle. 

Die ägyptische Baumwolle erfreut sich großer Beliebtheit, die sie 
ihren ausgezeichneten Eigenschaften verdankt. 

Eigene Industrie besitzt Aegypten nicht (nur große Dampfbaum- 
wollpressen, vor allem in Alexandria). Für die ganze Fläche ist künst- 
liche Bewässerung notwendig, die in hervorragender Weise durchgeführt 
ist; die Frage einer Ausdehnung der Baumwollkultur hängt allein 
davon ab, ob es möglich sein wird, weitere Landstrecken durch ver- 
mehrte künstliche Bewässerung in Kultur zu nehmen ?). 

Die genannten 3 Länder erzeugten bisher und erzeugen heute noch 
— wie später näher gezeigt werden wird — beinahe den ganzen Welt- 
bedarf. An der Ausfuhr wirkten noch einige Länder mit, aber nur mit 
geringfügigen Zahlen, vor allem Brasilien, Peru, Mexiko, das asiatische 
Rußland, die asiatische Türkei, Persien, China und Japan. 

Nur China allein produziert so erhebliche Mengen, daß es neuer- 
dings Aegypten übertroffen hat. Aber die Baumwolle ist an Qualität 
minderwertig und das meiste dient dem Eigenbedarf; nur wenige 
Bezirke exportieren, und zwar hauptsächlich nach Japan. Der Baum- 
wollanbau in China ist ganz eigenartig; es herrscht ausschließlich Klein- 
betrieb in der allerprimitivsten Form. (Hackbau, die Kultur der Indo- 
germanen vor der Wanderung.) 

Die übrigen Baumwolle erzeugenden Länder sind bis jetzt noch 
nicht für den Welthandel in Frage gekommen. 


4 


Es ist nunmehr zu fragen: Wie hoch beläuft sich die Gesamt- 
baumwollproduktion der Welt und wie sind die einzelnen Kulturgebiete 


1) S. die Tabelle auf S. 25 des Report to the Board of Trade by W. Dunstan 190%. 
2) Ueber die Bewässerung Aegyptens s. Dr. Felix Lampe in der Zeitschr. der 
Gesellsch. für Erdkunde zu Berlin, No. 4/5, 1902. 


Miszellen. 691 


an ihr beteiligt? Die Frage ist die Grundlage für das Problem der 
Versorgung der Baumwollindustrie mit Rohmaterial, der Kern der so- 
genannten Baumwollfrage. 

Ganz genau ist der Umfang der Produktion leider nicht anzugeben, 
da man für eine Reihe von Ländern auf Schätzung angewiesen ist; 
immerhin ist die Situation genügend klar. 

Die Gesamtbaumwollproduktion der Welt betrug im Jahre 1903 
in Ballen (amer., zu 500 engl. Pf.) rund 15,6 Mill, wozu noch 1,6 Mill. 
nach Schätzung kommen (China und Korea). 

An diesen Zahlen sind die Hauptländer wie folgt beteiligt): 


Mill. Ballen Proz. der Gesamt- 
produktion (1902) 


Vereinigte Staaten 10,6 63 
Ostindien 27 15 
Aegypten 1,2 8 É 
14,5 86 
Asiatisches Rußland 0,4 
Brasilien 0,3 
; o 
Mexiko 0,1 4 
Japan 0,1 i 
Asiatische Türkei 0,08 4 
Persien `- 0,03 
Peru 0,01 
Verschiedene Länder 0,01 
15,53 100 
Dazu nach Schätzung 
China 1,2 
Korea 0,2 
17,13 


Also es produzierten, wenn wir die ganz unkontrollierbaren 
Schätzungen fortlassen: 


die Union ıı Mill. Ballen 
Ostindien Br 5 „ 
Acgypten I 


Alle übrigen Länder nur I ,„ o 
16 Mill. Ballen 

Die Vereinigten Staaten produzieren also 3/, der gesamten Baum- 
wollmenge, das an zweiter Stelle folgende Ostindien von dem übrigen 
Viertel etwa die Hälfte, und an dem letzten Achtel beteiligten sich 
alle übrigen Länder einschließlich Aegypten, welches allein die Hälfte 
hervorbringt. Die vielen Länder mit zum Teil gewaltiger Ausdehnung, 
welche sich in den kleinen Rest von !/,, teilen, haben also für den 
Weltbedarf bis heute eine ganz geringe Rolle gespielt. Es besteht also 
bei diesen Ländern ein gewaltiges Mißverhältnis zwischen ihrer Größe 
und ihrer Baumwollerzeugung. 

Die Vereinigten Staaten haben, obwohl sie nur einen geringen 
Teil ihres Baumwollbodens ausgenutzt haben, dennoch nahezu eine 
Monopolstellung innegehabt. Das zeigte sich besonders deutlich, als 


1) Nach v. Schkopp a. a. O., S. 11. 
44* 


692 Miszellen. 


1900 die Baumwollproduktion in den Vereinigten Staaten infolge schlechter 
Ernten um 2,5 Mill. Ballen niedriger ausgefallen war, während die 
Menge der anderen Länder ungefähr gleich geblieben war: eine schwere 
Kalamität der europäischen Industrie war die Folge, denn der Bedarf 
an Baumwolle war sogar noch gestiegen. Europa mußte am meisten ge- 
troffen werden, da es mehr als die Hälfte der ganzen Baumwollmenge 
verbraucht, nämlich 8,1 Mill. Ballen (1902). 

Das Jahr 1900 war zwar ein besonders ungünstiges; aufgehört 
hat aber die Kalamität seitdem keineswegs; denn der Konsum an 
Baumwolle ist beständig angewachsen, die Produktion an Baumwolle 
aber so gut wie gleichgeblieben ; seit 1899 ist sie immer hinter der Nach- 
frage zurückgeblieben. Mit dem Jahre 1899/1900 ist ein Stillstand 
in der Welterzeugung der Baumwolle eingetreten, der durch den Still- 
stand des Anbaues in den Vereinigten Staaten verursacht wurde und 
den die übrigen Baumwollländer nicht auszugleichen im stande waren: 
ob sie es in Zukunft können werden, ist ein wesentlicher Teil der 
Baumwollfrage. Der Vergleich zwischen Ertrag und Verbrauch seit 
1899 ergibt folgendes): 


1899 1900 1901 1902 
Ernte 14,7 12,2 13,6 14,1 
Verbrauch 14,0 13,7 13,4 14,3 
Feblbetrag : — 15 — 0,2 Mill. Ballen 


Der Stillstand in der Baumwollerzeugung äußerte sich um so wirk- 
samer, als das Anwachsen der Produktion bis 1899 in einem sehr 
schnellen Tempo erfolgt ist, nämlich von 3 auf 16 Mill. Ballen von der 
Mitte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Der Fehlbetrag konnte da- 
mals aus dem Weltvorrat gedeckt werden, der aus frühern Jahren, 
in denen der Ertrag den Konsum überwogen hatte, vorhanden war. 
Der Weltvorrat ist aber von 1899 bis 1902 allmählich von 3,2 auf 
2,4 Mill. Ballen zurückgegangen und muß aufgezehrt werden, wenn die 
Produktion andauernd hinter dem Verbrauch zurückbleibt. 

Es herrscht also absoluter Baumwollmangel, der von den Baum- 
wollspinnern hart empfunden wird?) Die Wirkung dieses Mangels 
wird noch erheblich durch den Umstand verstärkt, daß in dem Haupt- 
gebiete, den Vereinigten Staaten, der Eigenverbrauch durch rapide Ent- 
wicklung der Baumwollindustrie bedeutend vermehrt ist. Die Union ver- 
braucht (1903) fast 40 Proz. ihrer eigenen Ernte Die Zahl der 
Spindeln stieg von 14,6 (1890) auf 18,3 (1899) und 22,2 (1903) Mill 
Spindeln. Dabei zeigt sich ein beständig wachsender Anteil an der 
Spindelzahl bei den Baumwollstaaten selbst: 1890 nur 1,6, 1899:4, 
1903 schon 7 Mill. Spindeln. 1904/5 führten die Vereinigten Staaten 
bereits für 55 Mill. Doll. Baumwollwaren aus. 

Dieselbe Erscheinung zeigt sich in dem zweiten Hauptbaumwoll- 
lande, in Ostindien. Auch hier hat die Industrie rasch zugenommen: 


1) Nach v. Schkopp, a. a. O., S. 12. 
2) Vgl. die Rede des Herrn Atkins, Schriftführer der Cotton Growing Association 
auf dem Internat. Baumwollkongreß in Zürich, Mai 1904. Offizieller Bericht S. 15. 


Miszellen. 693 


1890: 2,9, 1900:4,7, 1903 mehr als 5 Mill. Spindeln. Im Jahre 1903 
betrug der Eigenverbrauch 1,4 Mill. Ballen, d. h. ca. 50 Proz. 

Die beständig drohende Gefahr einer Baumwollkrisis mußte um so 
gefährlicher erscheinen, als die natürliche Monopolstellung der Union 
noch verstärkt wurde durch die Bemühungen, den Markt zu beherrschen. 
Eine andauernde Preissteigerung und beständige Preisschwankungen 
waren die Folge. 

Während in der Zeit des schnellen Anwachsens der Baumwollen- 
erzeugung und des Ueberwiegens des Angebots an Baumwolle über die 
Nachfrage der Preis beständig gesunken war, und zwar pro engl. 
Pfund middling von 9 d. (1870/74) auf 4 d. (1895/99), trat natürlich 
mit dem Stillstand der Produktion eine Preissteigerung ein: von 3,8 d. 
(1899) auf 5,5 (1900/08) auf 7—8 d. (1904/05), also fast wieder auf die 
Höhe von 1870/74. Erst der Zusammenbruch der Haussespekulation 
hat die Preise wieder ein wenig fallen lassen, sie sind aber immer 
noch sehr hoch geblieben }). 

Fast noch schlimmer war das heftige Schwanken der Preise. So 
waren die Differenzen zwischen den höchsten und niedrigsten Preisen 
der Jahre 1903, 1904 und 1905 folgende: 1903:45—71, 1904:35—85, 
1905:35—62 Pfennige pro Pfund (deutsch). Das Jahr 1904 weist 
für diese dreijährige Periode zugleich den höchsten und niedrigsten 
Preis und eine Differenz von 50 Pfg. auf. In demselben Jahre schwanken 
die Preise innerhalb weniger Tage beträchtlich. 

Sie betrugen in Bremen in Pfennigen ?): 


15. Januar = 70 13. Februar = 72 
1. Februar = 83°), I6. =, 
3 eh DO > ee 
4. j = 78], 1. März = 76°; 
5. » a 75", 5. » = 78 
8 m = 66 


Deutschland ist heute noch zu 8/, von Amerika (U. S.) abhängig; 
1901 betrug der Anteil der Vereinigten Staaten 77 Proz. (in England 
sogar 84). Von 1891 bis 1900 stieg der Import amerikanischer Baum- 
wolle nach Deutschland von ca. 500 auf ca. 800 Mill. Pfund. 

Unsere Industrie mußte also — ebenso wie diejenige Englands — 
unter jeder Preiserhöhung und Preisschwankung leiden, um so mehr, 
als ein Ersatz der amerikanischen Baumwolle durch andere ausge- 
schlossen war, weil diese Länder nicht genug produzierten. Welche 
Wirkung die Preissteigerung des Rohmaterials hatte, zeigt das Jahr 
1900: Im Jahre 1899 zahlte Deutschland für seinen Bedarf an Rohbaum- 
wolle 228 Mill. M., 1900 für ein sogar geringeres Quantum 318 Mill. M. 

Die Situation für die Baumwollindustrie ist also heute folgende: 

1. Es wird nicht mehr soviel Banmwolle produziert als man braucht. 

2, Das, was produziert wird, kommt zu fast 70 Proz. aus Amerika 
(U. S.) Daraus ergibt sich eine wirtschaftliche Abhängigkeit von 


1) Vgl. Helfferich a. a. O. S. 615. 
2) Plutus v. 19. März 1904. 


694 Miszellen. 


diesem Produktionsgebiete, die auch in der Preisbestimmung ihren Aus- 
druck findet. 

3, Der Baumwollmangel wird dadurch noch fühlbarer gemacht, daß 
die Länder, welche bisher die Hauptlieferanten der Baumwolle gewesen 
sind und vorläufig noch sind, dazu übergegangen sind, selbst Baumwolle 
zu verarbeiten. 

Das hat zur Folge: 

a, daß diese Länder nunmehr einen erheblichen Teil der bei ihnen 
erzeugten Baumwolle selbst verbrauchen, ohne daß die Menge der her- 
vorgebrachten Baumwolle vermehrt wurde, und 

b, daß diese Länder zum Teil als Absatzmärkte für die europäische 
Industrie verloren gehen. Die Vereinigten Staaten exportieren außerdem 
immer mehr Baumwollwaren selbst und treten als Konkurrenten auf 
dem Weltmarkt auf, wenn auch zunächst hauptsächlich nur für gröbere 
Massenartikel. 

Das ist eine Seite der Baumwollfrage. 

Die andere ist ebenfalls eine Folge der Konzentration der Baun- 
wollerzeugung auf einige wenige Gebiete, ja in der Hauptsache, wie 
wir sehen, auf ein einziges Gebiet, die Unionsstaaten. Es sind die 
Ernteschwankungen. Solange die Baumwollproduktion auf ein verhält- 
nismälig enges Gebiet eingeschränkt bleibt, muß jede Störung der Ernte 
durch Schädlinge und Milernten den Weltbedarf aufs äußerste alterieren. 
Es kann ja gar kein Ausgleich stattfinden. Eine Mißernte größeren Um- 
fangs in den Unionsstaaten bedeutet heute sogleich eine Störung der 
ganzen Ernte Der Ausfall der Ernte infolge des amerikanischen 
Bürgerkrieges bedeutete eine Baumwollhungersnot in England. 

Ganz anders würde die Situation sein, wenn neben den Vereins- 
staaten noch andere große Gebiete Baumwolle erzeugten und zwar in 
solchen Mengen, daß die Vereinigten Staaten nicht mehr so ausschliel- 
lich dominierten. Dann bedeutete eine Mißernte an einer Stelle noch 
keineswegs eine Mißernte im ganzen, denn es könnte ein Ausgleich 
stattfinden. Innerhalb des Baumwollgürtels der Welt liegen die Gebiete 
so zerstreut und sind die klimatischen Unterschiede so erheblich, das 
allgemeine Erntestörungen ausgeschlossen sind. 

Welternten sind stets stabiler als territoriale, territoriale stabiler als 
lokale t): „die Gesamternten der Weltwirtschaft variieren weniger als 
die Ernten der einzelnen Volkswirtschaften“. 

Seltsamerweise ist diese Seite der Baumwollfrage bisher in der 
Literatur niemals, oder doch nicht mit genügender Schärfe betont worden; 
man sah immer nur die andere Seite der Frage. 

Und der Gedanke, den Baumwollanbau über die ganze Erde zu 
verbreiten, die vielen gut geeigneten Gebiete auszunützen, ist keines- 
wegs eine Utopie. Die Vereinigungen zur Förderung des Baumwollbaus, 
von denen später die Rede sein wird, sind auf dem richtigen Wege. 
Sie gehen zwar nicht einheitlich vor, aber alle haben dieselbe Idee, 


1) Vgl. H. Dietzel, Weltwirtschaft und Volkswirtschaft. Es gilt hier genau das- 
selbe, was Dietzel über die Getreidearten sagt. S. besonders S. 25, 26. 


Miszellen. 695 


welche auch von der Fabrikantenvereinigung geteilt wird; und wenn 
die Bestrebungen, die noch ganz jung sind, ihrem Ziele merklich näher 
gekommen sein werden, dann wird das Resultat das sein, daß in 
zahlreichen Gegenden der Welt große Baumwollgebiete vorhanden sein 
werden, welche auch nach der Menge der erzeugten Baumwolle wohl 
im stande sein werden, Mißernten an einer Stelle an der andern auszu- 
gleichen, speziell in ihrer Gesamtheit gegenüber den Unionsstaaten ein 
wirksames Gegengewicht zu bilden. 

Nur so kann es geschehen; nur die Gesamtheit aller übrigen Baum- 
wolländer vermag — wenigstens in absehbarer Zeit — der Union 
gegenüber eine Wirkung auszuüben. Konzentration des Baumwollan- 
baues an einer andern Stelle der Welt mit genügendem Baumwollareal, 
so in Englisch-Westafrika, ein Gedanke, der auch vertreten wird, würde 
erst — wenn überhaupt — in Jahrzehnten möglich sein. Es würden 
in diesem Falle wieder die Schäden einer lokalen Konzentration betreffs 
der Ernten auftreten, wenn sich auch immerhin schon eine Verminde- 
rung des Risikos zeigen würde. Aber in dieser Lösung der Baum- 
wollfrage wäre ja noch nicht die Beseitigung des schon jetzt bestehen- 
den absoluten Baumwollmangels enthalten; denn eine solche Massen- 
kultur erfordert Menschenalter, schon wegen der Erziehung der Einge- 
bornen. Wohl aber löst die allgemeine Ausbreitung des Baumwoll- 
anbaues diese Frage; denn mit jedem Schritt vorwärts wird auch dem 
absoluten Mangel abgeholfen; das kann aber nicht geschehen auf dem 
Wege des Großbetriebes, der Großplantagen, sondern auf dem Wege der 
Kleinkultur, der Eingebornenkultur. 

Dieses Ziel wird heute von den Baumwollbau-Vereinigungen als 
das richtige erkannt. 


5 


Die angedeutete Lösung der Frage des Ausgleichs der Ernte- 
schwankungen bedeutet zugleich die Lösung der „Baumwollfrage“ 
überhaupt. 

Auf zwei verschiedenen Wegen ist man an die Lösung herange- 
gangen: 

1) durch Maßregeln von seiten der zunächst gefährdeten Baumwoll- 
industriellen, 

2) durch planmäßiges Vorgehen in der Richtung einer Ausbreitung 
des Baumwollbaues. 

In der letztgenannten Bestrebung führen beide Wege zusammen. 

1) Die Großindustriellen der Baumwollbranche von 9 Staaten Europas 
vereinigten sich, zum ersten Male 1904 in Zürich, um vor allem Maß- 
regeln gegen die amerikanische Spekulation zu treffen ; sie folgten damit 
einer Anregung englischer Spinner und Industrieller, welche 1903 in 
Manchester zusammengekommen waren!). Ihre Bestrebungen gipfelten 
zunächst in den beiden Zielen: 1) Einwirkung auf den Konsum durch 


1) Offiz. Bericht des Intern. Kongresses 1904. Ferner H. E. Thomann: Die Baum- 
wollspekulation und ihre Bekämpfung. (Publikationen der Züricher Handelskammer.) 
Zürich 1905. 


696 Miszellen. 


internationales Zusammenwirken, 2) engere Beziehungen zwischen Fabri- 
kanten und Baumwollbauern. Beide Punkte sind mehr Fragen der In- 
dustrie, können daher hier übergangen werden. Das dritte Ziel der 
Spinnervereinigung aber, Ausbreitung der Baumwollkultur durch Erschlie- 
Bung neuer Gebiete, soll auch auf dem zweiten Wege erreicht werden. 
Letzterem wende ich mich nunmehr zu. 

2) Wenn es sich allein um die Erzeugung der erforderlichen Baum- 
wollmenge handelte (also ohne Rücksicht auf die unerwünschte 
Monopolstellung Amerikas), so läge zunächst die Frage nahe: 

Können denn nicht die alten Baumwollländer mehr produzieren’? 
Vor allem für Nordamerika, das doch nur einen so geringen Bruchteil 
seines verfügbaren Areals verwendet, läge die Frage am nächsten. Wir 
sahen aber schon, welche Hindernisse einer wesentlichen Erweiterung 
des Anbaues entgegenstehen; sie sind nun nicht so beschaffen, daß sie 
sich ohne weiteres und bald beseitigen ließen. 

Ich glaube, daß die Frage für die Union verneint werden muß. Es 
wäre ja übrigens auch eine keineswegs wünschenswerte Lösung. 

Auch Ostindien scheint für eine Produktionsausdehnung nicht in 
Betracht zu kommen aus den bereits angeführten Gründen. Auch hier 
wäre eine solche für den europäischen Bedarf nicht von Interesse, und 
zwar hier aus Gründen der Qualität. 

In Aegypten endlich ist man jetzt so ziemlich an die Grenze des 
Möglichen gelangt. Man hofft ja freilich, später einmal die Bewässerungs- 
anlagen so weit auszudehnen, daß eine bedeutende Vergrößerung der 
Ernte eintreten wird, man hofft sogar, noch 200000 qkm Wüstenboden 
durch geeignete Vorkehrungen in Anbau nehmen zu können. Aber 
wenn das Ziel überhaupt je erreicht wird, so setzt es solche Riesen- 
arbeiten voraus, daß noch für lange Zeit mit den gegenwärtigen Ernte- 
mengen gerechnet werden mul. 

Was die übrigen Gebiete anbetrifft, die bisher schon an der Baum- 
wollproduktion beteiligt waren, so handelt es sich zum Teil um sehr 
ausdehnungsfähige Gebiete, wie China, Mexiko, Peru, Brasilien, Persien, 
Kleinasien. Bisher war ihre Produktion für den Weltbedarf verschwindend 
gering, sie wurde zum Teil im eigenen Lande verbraucht. Ueberdies 
sind in allen diesen die Verkehrs- und allgemeinen Kulturverhältnisse 
noch so rückständig, daß eine Aenderung der Anbauverhältnisse der 
Baumwolle nur sehr allmählich eintreten kann. Das Schlimme ist hier, 
daß man ganz auf die Initiative der Völker selbst angewiesen ist; daher 
dürfen die Erwartungen nicht allzu hoch gespannt werden. 

Immerhin ist hier ein Weg der Abhilfe; namentlich China und 
Brasilien sind im stande, noch bedeutende Baumwollmengen hervor- 
zubringen. 

Aber auch wenn wir annehmen wollen, daß diese Länder gewillt 
sind, ihre Produktion so zu fördern, daß eine volle Ausnutzung der ge- 
eigneten Flächen stattfände, so würde das doch noch keinesfalls genügen. 

Dagegen stehen noch ungeheure Gebiete zur Verfügung, die, vor- 
trefflich für die Baumwolikultur geeignet, noch so gut wie gar nicht aus- 
genutzt sind. Hier bietet sich ein zweiter Weg; er ist aussichtsvoller; 


Miszellen. 697 


denn die Ausbreitung der Baumwollkultur über die noch ungenützten 
Gebiete liegt in der Hand der europäischen Kulturstaaten. Der Erfolg 
ist hier nicht ungewiß, wie bei den oben genannten Ländern, sondern er 
kann planmäßig herbeigeführt werden. Es handelt sich hier um Kolonial- 
gebiete und um eine direkte Förderung des Baumwollanbaues durch 
wirtschaftliche Unternehmungen in Deutschland, England und Frank- 
reich, denen in kleinem Maßstabe die Niederlande, Belgien, Italien und 
Portugal zu folgen im Begriff sind. Die Initiative in diesen Staaten 
ruht in den Händen Privater; der Staat fördert die Bestrebungen nur 
durch pekuniäre Beihilfe und Privilegien. Anders ging man in Rußland 
vor; hier war es allein die Regierung, welche in vorzüglicher Weise 
unter freilich weit günstigeren Bedingungen dem Problem der Baum- 
wollgewinnung nahe getreten ist. 


6. 

Es soll nunmehr auf die planmäßige Förderung des Baumwollbaues 
im einzelnen eingegangen werden. 

Rußland ist mit seinen Bestrebungen, die Baumwollfrage zu lösen, 
vorbildlich geworden. Hier war es die Regierung, welche in muster- 
hafter Weise die Gebiete Transkaukasiens, vor allem aber die seit den 70er 
Jahren eroberten transkaspischen Länder für die Baumwollgewinnung 
in Angriff genommen hat. In wenigen Jahren schon hatte man die 
Kultur so gefördert, daß etwa ein Drittel des Bedarfs der russischen 
Baumwollindustrie hier, also im eigenen Koloniallande, erzeugt werden 
konnte. Dieses Resultat war nur dadurch möglich, daß 

1) die russische Regierung ungeheure Geldmittel aufwandte, insbe- 
sondere für mustergültige künstliche Bewässerung, 

2) daß sie in den Sarten und Tuchmessen eine Bevölkerung von 
Intelligenz und Betriebsamkeit vorfand, 

3) und daß sie den Eisenbahnbau gewaltig förderte, wodurch es 
erst möglich war, die erzeugte Baumwolle in den Handel zu bringen. 

Man ging vor auf dem Wege der Eigenkultur. Jeder Einwohner, 
welcher Baumwolle bauen wollte, erhielt einen Vorschuß von 100 Rubeln 
und einen Sack amerikanischen Baumwollensamens; nach 2 Jahren hatte 
er das Gelddarlehn zurückzuzahlen. Die Einwohner waren sehr bereit, 
die neue Kultur zu pflegen, denn sie erhöhte den Wert ihres Landes 
um das Dreifache. à 

Erschwerend wirkt in Zentralasien der Umstand, daß überall künst- 
liche Bewässerung notwendig ist, welche sehr bedeutende Kapitalanlagen 
beansprucht. Daher konnten Kleinkulturen nur deshalb Baumwolle 
pflanzen, weil die Regierung mit Staatsmitteln für die Bewässerungsan- 
lagen sorgte. In den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts aber 
fanden sich auch einige Großkapitalisten und Aktiengesellschaften, welche 
Großkulturen anlegten !). Die Frage der Kapitalbeschaffung ist zum 
Teil das größte Hindernis für eine wesentliche Ausbreitung des Baum- 


1) Franz v. Schwarz, Turkestan. Freiburg i. Br., 1900, S. 357. 


698 Miszellen. 


wollanbaues !); aber die Schwierigkeit wird nicht unüberwindlich sein, 
da bei der steigenden Prosperität der Kultur zweifellos ausländisches 
Kapital wird herangezogen werden können. 

1897 waren nur ca. 3 Proz. des Gesamtareals (d. h. des für Baun- 
wolle geeigneten) mit Baumwolle bepflanzt 2); aber die Anbaufläche ver- 
größert sich parallel der Erweiterung der künstlichen Bewässerung. 
Denn die Baumwollkultur ist hier weit lohnender als die Getreidekultur, 
die hier — des Klimas wegen — keine günstigen Aussichten hat 3). 

Von Baumwollsorten wird zwar auch eine einheimische Art ge- 
pflanzt; sie ist aber für gewisse Industrieerzeugnisse nicht geeignet. 
Der eigentliche Aufschwung der Kultur begann erst mit der Einführung 
amerikanischer Sorten, die vorzüglich gedeihen 4) (seit Anfang der 80er 
Jahre). Fast die ganze Ernte wird nach Rußland ausgeführt, fast aus- 
schließlich vermittelst der transkaspischen Bahn, deren Baumwolltrans- 
portziffer sich von 1889 bis 1893 mehr als verdoppelt hat. (1889: 26, 
1893: 59 Mill. kg) 5). 

Die übertriebenen Erwartungen aber, welche man gewöhnlich von 
der Ausdehnungsmöglichkeit der russischen Baumwollkulturen hat, müssen 
doch eingeschränkt werden. 

Die Schwierigkeit der Kapitalbeschaffung ist ein Hiudernis, dazu 
kommt eine weitere Kalamität, der teure Preis der Baumwolle, verur- 
sacht durch die unmäßig hohen Versicherungsprämien auf dem Wege 
Kokan—Nischnij-Nowgorod und durch die außerordentliche Langsamkeit 
des Kisenbahntransports 6, Durch weitere umfangreiche Bahnbauten, 
die man geplant hat, wird sich wohl eine Besserung erzielen lassen; 
aber die Verwirklichung der Pläne wird durch die momentanen Schwierig- 
keiten im russischen Reiche wohl noch in weite Ferne hinausgeschoben 
werden. Damit aber wird auch der Wunsch, daß einstmals ganz Trans- 


1) Paul Rohrbach, In Turan und Armenien. Berlin 1898, S. 147. 

2) E. Davidson, Die wirtschaftliche Bedeutung Turkestans. Conrads Jahrb., 1897, 
S. 270 ff. 

3) Ebenda S. 272. Ferner Krahmer, Rußland in Mittelasien. Leipzig 1898, S. 112 
(a. u. d. T.: Rußland in Asien, II). 

4) Insbesondere: Upland-Baumwolle, 


Anwachsen der Baumwollkultur: Ertrag Wert 
1884 ca. 500 ha in Millionen. 
1885 ER 1200 ,, kg Rubel 
1887 » 16000 „, 
1888 » 74000 „(!) 
1889 » 94 000 ” 20 7 
1890 „ 103000 „ 26 10 
1891 „ 140000 ,„ 33 13 
1892 „ 152000 „ 36 12 
1893 » 149000 „, 36 15 


(Nach Krahmer a. a. O., S. 113. Ich gebe die Zahlen abgerundet wieder.) 

In Samarkand soll die Anbaufläche 1903—4 um ca. 40 Proz. zugenommen haben. 
Zeitschr. Asien, No. 2 v. Nov. 1905, 8. 31. 

5) Krahmer a. a. O., S. 115. 

6) Krahmer a. a. O., 8. 116. Dauer des Transports: Linie Kokan—Moskau 90 Tage (!); 
dagegen Amerika—Moskau 30—40 Tage. Man pflegt in der Literatur diese Schatten- 
seite gern zu übersehen. n 


Miszellen. 699 


kaspien für den Baumwollanbau ausschließlich wird in Benutzung ge- 
nommen werden können, während die Getreideversorgung des Landes 
von Sibirien her erfolgen soll, noch für lange Zeit der Erfüllung harren 
müssen. Ob der Gedanke überhaupt realisierbar ist, ist mir übrigens 
recht fraglich; bei einer umfangreichen Mißernte in Baumwolle könnten 
die Baumwollbauern Russisch - Asiens doch in eine recht mißliche Lage 
kommen; der Boden ließe sich dann nicht sogleich für andere Erzeug- 
nisse nutzbar machen. Es geht in Gegenden mit zurückstehender All- 
gemeinkultur und immerhin doch noch ungünstigen Verkehrsverhältnissen 
nicht an, die landbauende Bevölkerung — und das ist fast die gesamte 
— auf die Kultur einer einzigen Pflanze zu setzen. Die Bevölkerung 
hat übrigens auch keine Veranlassung dazu, sich einer Kultur allein zu 
widmen; denn auch andere Kulturen sind sehr lohnend, namentlich der 
Weinbau, der immer mehr zunimmt. 

Die hohen Kosten des Bahntransports hat die Regierung allerdings 
durch Einführung direkter Tarife nach dem europäischen Rußland wesent- 
lich herabgemindert; aber die Baumwolle ist immer noch teurer als die 
amerikanische (die man natürlich durch Zölle fernhalten muß), und der 
russischen Industrie kommt der Rohstoff vorläufig noch teurer zu stehen 
als der westeuropäischen. 

Ich möchte noch erwähnen, daß auch in Turkestan von russischen 
Baumwollspinnereien Versuche gemacht sind, auf selbsterworbenen 
Territorien Baumwolle anzupflanzen. Die Versuche sind aber milglückt 
und man hat sie fallen gelassen, um nunmehr die Baumwolle von den 
einheimischen Bauern zu kaufen 1). 

Zu erwähnen ist noch, daß die Rentabilität des Baumwollbaues hier 
mehr als anderswo dadurch gesteigert wird, daß eine umfangreiche 
Nebenverwendung des Baumwollsamens stattfindet und zwar nicht nur zu 
Oel — wie es auch sonst geschieht — sondern vor allem als Viehfutter, 
dann auch als Düngemittel und als Brennmaterial. 

Wenn auch schon früher hier und da Anbauversuche mit der 
Baumwolle gemacht worden sind, so ging man doch nirgends in plan- 
mäßiger Weise und in großem Mafßstabe vor. Das Verfahren der russi- 
schen Regierung in Zentralasien ist in dieser Hinsicht vorbildlich ge- 
wesen. Der Gedanke, den sie in den achtziger Jahren zur Ausführung 
brachte, wurde Anfang des neuen Jahrhunderts auch in den westeuro- 
päischen Ländern mit reger Baumwollindustrie aufgenommen: Erweite- 
rung der Baumwollkulturgebiete. 

Hier ist Deutschland vorangegangen; England, Frankreich, Italien, 
Portugal, Holland, Belgien und Spanien folgten. 

In Spanien ist es, wie in Rußland, die Regierung, welche die Ini- 
tiative ergriffen hat, Sie beabsichtigt die Wiederaufnahme des Baum- 
wollbaues im eigenen Lande und ermuntert durch Prämien, Steuerfrei- 
heit u. dgl. die Einwohner, sich der neuen Kultur zuzuwenden. Aber, 
ganz abgesehen von dem spanischen Volkscharakter, wird ein namhafter 
Erfolg nicht zu erreichen sein, da das zur Verfügung stehende Gebiet 


1) Krahmer a. a. O., S. 117. 


700 Miszellen. 


(im äußersten Süden und Südosten) zu klein ist und vor allem für andere 
ebenso und besser lohnende Kulturen verwandt werden kann. 

Für die übrigen Länder kommen nur die Kolonien in Betracht. 
Italien wäre zwar ebenfalls in der Lage, in Sizilien Baumwolle zu pflanzen, 
hat sich aber ebenfalls dem Kolonialgebiete zugewandt, da der früher 
in Sizilien betriebene Baumwollbau andern Kulturen hat Platz machen 
müssen. Die Bestrebungen, die sich auf die Erschließung neuer Anbau- 
gebiete richteten, sind in den erwähnten Staaten von privater Seite aus- 
gegangen; die Regierungen beteiligen sich nur insofern, als sie mehr 
oder weniger fördernd zur Seite stehen. 

Es haben sich Vereinigungen gebildet, welche zwar in nationalem 
Sinne wirken, sich aber gegenseitig durch Austausch ihrer Erfahrungen 
u. dgl. unterstützen und vor allem ein gemeinsames Endziel haben: 
möglichste Ausdehnung des Baumwollbaues in allen zur Verfügung 
stehenden und geeigneten Gebieten der Erde und damit möglichste Un- 
abhängigkeit von der Monopolstellung der nordamerikanischen Südstaaten. 

In diesen Zielen treffen sie zusammen mit einem Teile des Pro- 
gramms der oben erwähnten Vereinigung der Baumwollindustriellen. 

Alle diese Vereinigungen haben stets nachdrücklich zum Ausdruck 
gebracht, daß, wenn auch die Wege der einzelnen Nationen verschiedene 
seien, dennoch große gemeinsame Interessen zu einem Vorgehen in der- 
selben Richtung nötigten, so daß man sagen kann, dab die Gesamt- 
wirkung ihren Bestrebungen fast der einer europäischen internationalen 
Koalition gleichkommt. „Es ist ein Irrtum“, sagte man sehr richtig, 
„anzunehmen, daß jede Nation bloß die in ihren eigenen Kolonien ge- 
wonnene Baumwolle kaufen werde. Der Baumwollmarkt ist ein univer- 
seller und wird immer ein solcher bleiben. Jede Nation wird ihre Baum- 
wolle da kaufen, wo sie am vorteilhaftesten erhältlich ist“!). 

Die praktischen Baumwollkulturversuche in den Kolonien sind 
im einzelnen in den periodischen Veröffentlichungen der Vereinigungen 
sehr ausführlich dargestellt worden. Es kann daher von einer Be- 
sprechung dieser hier um so eher abgesehen werden, als sie sich alle 
noch im Anfangsstadium befinden und für die Frage der Versorgung 
des Baumwollmarktes bisher noch keine praktische Bedeutung gewonnen 
haben. Aber die Versuche sind doch schon so weit gediehen, daß sie 
einen Schluß auf die Zukunftsaussichten zulassen. Es ist also die Frage 
aufzuwerfen, ob in nicht allzuferner Zukunft die begonnenen Kultur- 
bestrebungen einmal zu dem Ziele kommen werden, den Baumwollmarkt 
erheblich zu versorgen und ein wirksames Gegengewicht gegen Amerika 
zu bilden. 

Für den Weltmarkt haben nur die Versuche Deutschlands, Englands 
und Frankreichs Bedeutung. Nur diese drei Staaten haben große für 
Baumwolle geeignete Landkomplexe. In ihnen nur ist man schon 
zu Resultaten gekommen, die für die Zukunft viel erwarten lassen. Die 
Versuche in Italien (Eryträa), Belgien (Kongostaat), den Niederlanden 


1) Referat der Association Cotonni®re Coloniale v. 15. Mai 1904, verlesen von M 
Berger auf dem ersten internat. Kongreß in Zürich 1904. S. offizieller Bericht S. 33 f. 


Miszellen. 701 


(in den asiatischen Kolonien) und Portugal (Angola) sind vorläufig noch 
nicht weit gediehen, kommen daher in absehbarer Zeit gar nicht in 
Betracht. 

Aber schon, wenn Deutschland, England und Frankreich ihre Kolo- 
nien in erreichbarem Maße zur Baumwollkultur ausnutzen, wird der 
größte Schritt zur Lösung der Baumwollfrage geschehen sein. Das 
kolonialwirtschaftliche Komitee zu Berlin, die Cotton Growing Association 
in Manchester und die Association Cotonniere Coloniale zu Paris sind 
die Urheber und Träger der Bestrebungen!). 

Sie richten sich in erster Linie, wenn auch nicht ausschließlich, auf 
Afrika. Hier vor allem sind Gebiete von genügender Größe vorhanden, 
die auch sonst für die Erzeugung einer guten Baumwollsorte vorzüglich 
geeignet sind. Aber erst wenn gewisse Vorbedingungen erfüllt sind, 
werden sie für den Weltmarkt in Frage kommen. Es handelt sich bei 
allen Baumwollkulturen, abgesehen von den geographischen Bedingungen, 
immer um die Lösung von zwei großen Fragen: die Arbeiterfrage und 
die Verkehrsfrage. Dazu tritt noch, im Zusammenhange mit beiden, 
eine dritte, die Frage der Produktionskosten. Denn alle Bestrebungen 
werden nur dann Erfolg haben, wenn die in den neu erschlossenen Ge- 
bieten erzeugte Baumwolle nicht teurer ist als die des Weltmarktes und 
wenn sie von einer für die Industrie nicht minder geeigneten Qualität 
ist. Die Arbeiterfrage ist fast überall, auch in Afrika, eine Frage der 
Erziehung der Eingeborenen zur Eigenkultur; für eine Europäer-Einwande- 
rung in großem Stile eignen sich gerade die Kolonien, in denen die Baum- 
wolle wächst, nicht. Von einer Plantagenwirtschaft unter Leitung von 
Europäern, in großem Umfange aber hat man fast gänzlich abgesehen, 
denn da, wo sie heute noch allein am Platze sein könnte, in Afrika, fehlt es 
an Arbeitern; beider schwachen Bevölkerung — ca. 6 pro qkm — des Erdteils 
herrscht fast überall Arbeitermangel, so daß man sich z. B. in Natal mit 
indischen Kulis helfen muß. Mit der Eigenkultur aber hat man über- 
all sehr gute Erfahrungen gemacht. Freilich, von der Möglichkeit, einst 
ganz Europa von Afrika aus mit Baumwolle zu versorgen, — einem 
Wort Lord Palmerstons zufolge — sind wir noch unendlich weit entfernt. 
Erst dann werden die Eingeborenenkulturen erhebliche Mengen von 
Baumwolle für den Markt produzieren können, wenn die Verkehrsver- 
hältnisse andere geworden sind. Nirgends spielt gerade diese Frage 
eine so bedeutende Rolle wie im schwarzen Erdteil. Deshalb sind die 
drei Staaten bemüht, Eisenbahnen von der Küste nach dem Innern her- 
zustellen; das aber, was bisher erreicht ist, genügt noch lange nicht für 
eine wirksame wirtschaftliche Erschließung des Innern. Einmal sind die 
gewaltigen Entfernungen ein großes Hindernis für die Verkehrsent- 
wickelung des Kontinents; die Entfernung von Kapstadt zur Nilmündung 
beträgt 7300 km, die Breite am Aequator 3800 km. Vom Wasser- 


1) Aehnliche Vereinigungen bestehen in den anderen Staaten: Für Italien: Asso- 
eiazione tra gli Industriali Cotonieri e Borsa Cotoni in Mailand; Niederlande: Ver- 
eeniging ter ontwickkeling der Katoencultuur in de Nederl. Kolonieen in Hengelo; 
Belgien (für den Kongostaat): Association Cotonnitre in Gent; Portugal: Associação 
Industrial Portugueza in Lissabon. 


702 Miszellen. 


transport muß bei der Armut des Erdteils an schiffbaren Flüssen fast 
ganz abgesehen worden ; nur der Nil, Niger und Sambesi kommen strecken- 
weise für eine Dampferverbindung in Betracht. So ist man einstweilen 
immer noch in der Hauptsache auf die landesüblichen Transportwege 
angewiesen: Karawanenstraßen im Norden, Trägerpfade in der Mitte 
und Karrenwege im Süden. Immerhin aber ist heute der Eisenbahn- 
bau in Afrika schon so weit gefördert, daß man von einem beginnenden 
Einfluß desselben auf die Entwickelung des Innern zu sprechen be- 
rechtigt ist 1). 

Die Erträge an Baumwolle in den neu in Kultur genommenen Ge- 
bieten sind bis jetzt noch ganz minimal im Vergleich zur Welternte. 
Aber sie sind in den wenigen Jahren beständig angewachsen und die 
Qualität der in Afrika wachsenden Baumwolle ist gut. Die Erwartun- 
gen, die man gerechterweise an die Bestrebungen knüpfen konnte, sind 
durchaus in Erfüllung gegangen. Daher hegen sowohl die Kulturver- 
einigungen als auch die Spinnervereinigung große Hoffnungen für die 
Zukunft und das durchaus mit Recht. Verfehlt aber ist es, übertriebene 
Erwartungen an das schnelle Anwachsen der Kolonialkulturen zu knüpfen; 
denn noch sehr lange Zeit wird es dauern, bis die geernteten Mengen 
ein bemerkenswertes Plus auf dem Weltmarkt ausmachen, und das Ziel, 
Amerika entbehrlich zu machen, ist überhaupt noch gar nicht abzusehen. 

Gleichwohl bin auch ich der Ansicht, daß die Baumwollfrage auf 
dem beschrittenen Wege gelöst werden kann. Aber die Baumwollfrage 
kann ihre Lösung nur von der Zukunft erwarten. Die Lösung der 
Baumwollfrage ist stets zu optimistisch dargestellt worden. Die bloßen 
Berechnungen über die Anbaumöglichkeiten und möglichen 
Erträge führen gänzlich irre. Wenn die 30 Mill. acres in Englisch- 
Westafrika einmal bebaut werden können, wie es jetzt in Amerika ge- 
schielit, so werden sie vielleicht einmal die 10 Mill. Ballen ergeben, die 
man errechnet hat?); aber wann dieses Ziel einmal der Verwirklichung 
entgegengeführt werden kann, ist noch gar nicht abzusehen. Mit Be- 
rechnungen in dieser Art ist daher nichts anzufangen. Selbst wenn 
man die notwendigen Verkehrswege gebaut haben wird, wird das ganze 
tropische Afrika bei der geringen Leistungsfähigkeit der Negerkultur 
(Hackbau) nur ca. 600000 Ballen produzieren 3). Bei intensiver Kultur 
freilich würde sich das 25-fache erzielen lassen, also 15 Mill. Ballen. 
Mit dieser Aussicht kann aber noch gar nicht gerechnet werden; denn 
es gehören große Zeitperioden dazu, um ein Volk zu einer höheren 
Wirtschaftsftorm zu erziehen. Man wird also einstweilen noch recht 


1) Folgender Vergleich zeigt, wie bedeutend die Transportkosten durch Eisenbahn- 
bau herabgemindert werden: Auf der Bahn Swakopmund— Windhoek (382 km) würde 
der Transport einer Gewichtstonne kosten: (nach dem Tarif der preußischen Staatsbahn 
42 M.), nach dem dortigen Eisenbahntarif 114 M., mit Ochsenwagen 335—435 M., mit 
ostafrikanischen Trägern ca. 870 M. 

2) J. Arthur Hutton, The work of the British Cotton Growing Association. Man- 
chester 1904. 

3) Nach Prof. Warburg, Vortrag auf dem Kolonialkongreß in Berlin, 5. Okt. 1905. 
Der Hackbau ist der Ackerbau der Germanen zur Zeit der prähistorischen Wanderung 
gewesen. 


Miszellen. 703 


lange mit der bisherigen Superiorität Amerikas zu rechnen haben. Der 
Teil der Baumwollfrage, welcher die Unschädlichmachung des ameri- 
kanischen Uebergewichts erstrebt, ist also in absehbarer Zeit noch nicht 
zu verwirklichen; Vermutungen über die Möglichkeit eines Erfolges in 
dieser Richtung kann man heute noch gar nicht aussprechen. Wohl 
aber ist der andere Teil der Baumwollfrage in der Gegenwart schon 
lösbar, d. i. die Frage der Beseitigung des absoluten Baumwollmangels. 
Ueber je mehr Gebiete der .Baumwollbau sich erstreckt, desto 
schneller wird das Ziel erreicht sein. Zugleich wird auf diesem Wege 
der wünschenswerte Ausgleich der Ernteschwankungen angebahnt, und 
wenn man damit rechnen will, in Zukunft der Vormachtstellung Amerikas 
wirksam zu begegnen, so ist das ebenfalls nur auf diesem Wege mög- 
lich. Es gibt kein Gebiet der Erde, welches bei Berücksichtigung der 
gegenwärtigen allgemeinen Kulturverhältnisse in der Lage ist, so viel 
Baumwolle zu erzeugen, wie erforderlich wäre, um Amerika aus dem 
Felde zu schlagen. Daher besteht die einzige Möglichkeit der Lösung 
' der Baumwollfrage darin, daß man auf allen Gebieten des Baumwoll- 
gürtels, welche zur Erzeugung einer guten Baumwolle geeignet sind, 
die Baumwollkultur in ähnlicher Weise fördert, wie die Kolonialver- 
einigungen in Afrika es getan haben. Für die Beseitigung des Baum- 
wollmangels sind selbst kleine Erfolge schon von Wert, wie sie von 
den Gebieten geringeren Umfanges zu erwarten sind, denn sie vermehren 
immerhin den Weltvorrat. Eine erhebliche Vermehrung der Ge- 
samtproduktion und zugleich eine allmähliche Verschiebung der Pro- 
duktionsgebiete wird aber erst dann eintreten, wenn die Hauptbaumwoll- 
gebiete der Kulturwelt: Argentinien, Brasilien, Kleinasien, Persien, 
Mesopotamien und China und die hauptsächlich in Frage kommenden 
Kolonialgebiete Hinterindien, der Sudan, Deutsch- und Englisch-Ostafrika 
und Englisch-Westafrika, so ausgenützt werden, wie es bei den günstigen 
klimatischen Verhältnissen dieser Länder möglich wäre. 

Ich behalte mir vor, auf die Frage der Erweiterung der Baum- 
wollkultur noch zurückzukommen. 


704 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands 
und des Auslandes. 


1. Geschichte der, Wissenschaft. Encyklopädisches. Lehrbücher. Spezielle 
theoretische Untersuchungen. 


Kautsky, Karl, Thomas More und seine Utopie. 2., durchgesehene Aufl. 
Stuttgart, J. H. W. Dietz Nachf., 1907. 8. VIII—322 SS. M. 2,50. 

London, J., Munizipalsozialismus in England. Leipzig, Fel. Dietrich, 1907. 8. 
28 SS. M. 0,50. (Sozialer Fortschritt. 97. 98.) 

Schwechler, K. (Chefredakteur), ' Die österreichische Sozialdemokratie. Eine 
Darstellung ihrer geschichtlichen Entwicklung, ihres Programms und ihrer Tätigkeit. 
2., veränderte Aufl. Graz, Styria, 1907. 8. VIII—210 SS. M. 1,80. 

Bougl&, C. (Prof. à l’Univ. de Toulouse), Le Solidarisme. Paris, V. Giard & 
E. Brière, 1907. 8. 338 pag. fr. 3,50. (Collection des doctrines politiques publiée 
sous la direction de A. Mater. IV.) 

Fourni®re, Eugène, L’individu, lassociation et l'État. Paris Felix Alcan, 
1907. 8. 260 pag. fr. 6.—. (Bibliotheque generale des sciences sociales. XXIX.) 

Guillaume, James, L’internationale. Documents et souvenirs (1864—1878). 
Tome II. Avec un portrait de Michel Bakounine. Paris, Ed. Cornély et C™, 1907. 
8. X—356 pag. fr. 6.—. 

Malato, Charles, Les classes sociales au point de vue de l’&volution zoologique. 
Paris, V. Giard & E. Brière, 1907. 8. 162 pag. fr. 2.—. 

Sabatier, Camille, Le Morcellisme. Avec une introduction par Maurice-Faure. 
Paris, V. Giard & E. Brière, 1907. 8. 178 pag. fr. 2.—. (Collection des doctrines 
politiques publiée sous la direction de A. Mater. III.) 

Davies, R. E., The life of Robert Owen, philanthropist and social reformer. An 
appreciation. London, R. Sutton, 1907. 16. 34 pp. 1/.6. 

Fawcett, Henry, Manual of political economy. 8* edition. London, Macmillan 
and C°, 1907. 8. XXVII—652 pp. 12/.—. 

Hardie, J. Keir, From serfdom to socialism. London, G. Allen, 1907. 18. 
xXI—130 pp. 1/.—. 

Mac Cunn, John, Six radical thinkers: Bentham, J. S. Mill, Cobden, Carlyle, 
Mazzini, T. H. Green. London, Edward Arnold, 1907. Cr. 8. 274 pp. 6/.—. 

Manning, Miss A., The household of Sir Thomas More. With an introduction 
by (Rev.) W. H. Hutton. London, Routledge, 1907. 18. 191 pp. 1/.—. (New Uni- 
versal Library.) 

Smith, Goldwin, Labour and capital. A letter to a labour friend. London, 
Macmillan and C°, 1907. Cr. 8. V—38. pp. 2/.—. 

Socialism, Modern. As set forth by socialists in their speeches, writings, and 
programmes. Edited, with an introduction, by R. C. K. Ensor. 2°"! edition, revised 
and enlarged. London, Harper, 1907. Cr. 8. 444 pp. 5/.—. 

Biblioteca di storia economica diretta dal Prof. Vilfredo Pareto. Vol. II, Parte 1: 
E. Ciccotti, Tratti caratteristici dell’ economia antica. E. Meyer, L’evoluzione economica 
dell’ antichità. A. Dickson, L’agricoltura degli antichi. G. Roscher, Sull’ economis 
agricola degli antichissimi Tedeschi. U. Blümner, L’attività industriale dei popoli del- 
P antichità classica. Fustel de Coulanges, Il podere presso i Romani. Milano, Società 
Editrice Libraria (1907). 8. XXVIII—731 pp. 1. 16.—-. 

Croce, Benedetto, Materialismo storico ed economia marxistica: saggi critici. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 705 


‚2* edizione, con l’aggiunta di nuovi saggi sul principio economico. Palermo, R. Sand- 
ron, 1907. 16. 316 pp. 1. 4.—. (Biblioteca di scienze sociali e politiche, n° 32.) 
Magnaghi, Alberto, Le relazioni universali di Giovanni Bottero e le origini 
della statistica e dell’ antropogeografia. Torino 1907. 8. VIII —371 pp. 1. 7,50. 
Napodano, Angelo Vittorio, Le leggi del moto economico secondo la teorica 
spenceriana. Napoli, Detken e Rocholl (G. M. Priore), 1906. 8. 35 pp. l. 1.—. 
Trucco, A. M., Il governo economico internazionale. Vol. I. Milano 1907. 
16. 400 pp. 1. 3.—. 


2. Geschichte und Darstellung der wirtschaftlichen Kultur. 


Annalen, Wirtschaftspolitische. Ein Kalendarium der Wirtschafts-, Sozial- und 
Finanzpolitik der Kulturstaaten, ihrer Kolonien und Dependenzen für das Jahr 1906. 
Herausgeg. von F. Glaser. Stuttgart, J. G. Cotta Nachf., 1907. gr. 8. M. 8.—. 

Hamm, Franz, Hunsrücker Wirtschaftsleben in der Feudalzeit. Mittelalterliche 
Epoche der Markgenossenschaft Rhaunen. (Die Wirtschaftsentwiecklung der Markge- 
nossenschaft Rhaunen II.) Trier, F. Lintz, 1907. gr. 8. VII—107 SS. M. 3,50. 
(Trierisches Archiv. Ergänzungsheft VIII.) 

Lage, Die wirtschaftliche, der Privatangestellten. Denkschrift über die im Oktober 
1903 angestellten Erhebungen. Bearb. im Reichsamt des Innern. Berlin, C. Heymann, 
1907. Imp.-4. 116 SS. M. 1,50. 

Lau, Friedrich, Quellen zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte der rheinischen 
Städte. Bergische Städte. I. Siegburg. Bonn, P. Hanstein, 1907. Lex.-8. XXI— 
V—89—236 SS. M. 12.—. (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichts- 
kunde XXIX.) 

Laughlin, J. Laurence, Aus dem amerikanischen Wirtschaftsleben. Leipzig, 
B. G. Teubner, 1907. 8. M. 1.—. 

Markgraf, Bruno, Das Moselländische Volk in seinen Weistümern. Gotha, 
Friedrich Andreas Perthes, 1907. gr. 8. XV-—538 SS. M. 12.—. (Geschichtliche 
Untersuchungen, herausgeg. von Karl Lampreeht. Bd. 4.) 

Meyer, Christian, Geschichte der Stadt Augsburg. Tübingen, H. Laupp, 1907. 
gr. 8. III—VIII—130 SS. M. 2,60. (Tübinger Studien für schwäbische und deutsche 
Rechtsgeschichte. Bd. I. Heft 3.) 

Nübling, Eugen, Die Reichsstadt Ulm am Ausgange des Mittelalters. (1378— 
1556.) Ein Beitrag zur deutschen Städte- und Wirtschaftsgeschichte. 2 Bde. 2. Bd. 
Darstellung. Ulm, Gebr. Nübling, 1907. 8. VIII—572 SS. Cpl. M. 24.—. 

Rosen, Felix, Eine deutsche Gesandtschaft in Abessinien. Leipzig, Veit & C°, 
1907. Lex.-8. XII—496 SS. mit 160 Abbildungen und 1 Karte. M. 10.—. 

Schipper, Ignaz, Anfänge des Kapitalismus bei den abendländischen Juden im 
früheren Mittelalter (bis zum Ausgang des XII. Jahrhunderts). Wien, W. Braumüller, 
1907. Lex.-8. 66 SS. M. 1,80. (Aus: Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik 
und Verwaltung. Bd. XV. Heft 5. u. 6.) 


Cotton, Sir Henry, New India or India in transition. Revised and enlarged. 
London, Kegan Paul, Trench, Trübner, & C°, 1907. IX—302 pp. 3/.6. 

Eliot, Sir Charles, Letters from the Far East. London, Edward Arnold, 1907. 
8 188 pp. 8/.6. 

George, W. L., Engines of social progress. London, Black, 1907. 8. 312 pp. 
5/.—. 
Joyce, P. W., The story of ancient Irish civilisation. London, Longmans, 1907. 
12. 188 pp. 1/6. 

Life and labour in Germany. With an appendix: infirmity and old age pensions 
in Germany. (Reports of the Gainsborough Commission.) London, Simpkin, Marshall, 
Hamilton, Kent & Co. (1907). 8. XXIV—286 pp. 2/.—. 

Pares, Bernard, Russia and Reform. London, Archibald Constable & C°, 1907. 
8. XIV—576 pp. 10/.6. 

Italia, L’, economica. Annuario statistico-economico dell’ industria, del commercio, 
della finanza, del lavoro. Anno I (1907). Milano, Società ed. di annuari (Como, 
R. Longatti), 1907. 16. XII—532 pp. 1. 2.—. 

Nathan, Ernesto, Vent anni di vita italiana attraverso all’ Annuario. Note e 


Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII). 45 


706 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


commenti. Roma-Torino, Casa ed. Nazionale Roux e Viarengo, 1907. 8. 412 pp.. 
1. 5.—. (Biblioteca di scienze sociali e politiche, n° 52.) 

Zacco, G., Cooperazione e socialismo in rapporto al problema economico siciliano. 
Modica 1907. 8. X—11s pp. 1. 2,50. 


3. Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik. Auswanderung 

und Kolonisation. 

Deutschland und seine Kolonien im gleichen Größenverhältnis zum Mutterland, 
1:3,800,000. Farbendruck. Mit Text an den Seiten, Diessen, J. C. Huber (1907). 
52,5%60 em. M. 0,20. 

König, Friedrich (Hydrotekt), Die Wasserversorgung von Deutsch-Südwest- 
Afrika. Ein Beitrag zu ihrer Lösung auf Grund geologischer, klimatischer und hydro- 
logischer Studien. - 1—3. Tausend. Leipzig, O. Wigand, 1907. 8. 65 SS. M. 1,50. 

Kolonialpolitik, nicht Kolonialskandale und Nebenregierung! Ein Rückblick 
auf die letzten Reichstagsverhandlungen. Berlin, Buchhandlung der nationalliberalen 
Partei, 1907. gr. 8. 69 SS. M. 0,20. 

Lohmüller, Albert (Mathematiker), Sterblichkeitsuntersuchungen auf Grund 
des Materials der Stuttgarter Lebensversicherungsbank a. G. (Alte Stuttgarter) 1854— 
1901. Jena, Gustav Fischer, 1907. gr. 8. V-—171 SS. mit 3 Abbildungen und 3 Tafeln. 
M. 6,50. 

Preuss, Eduard (Hauptmann a. D.), Kolonialerziehung des deutschen Volkes, 
Leitende Ideen und Material. Berlin, A. Duncker, 1907. 8. 7688. M. 1.—. 

Rautenberg-Garezinski, Paul v. (Major a. D.), Holländisch-Indien. Ein 
Reisebericht. Leipzig, Thüringische Verlagsanstalt, 1907. 8. 77 SS. mit Abbildungen. 
M. 1,50. 

Roller, Otto Konrad, Die Einwohnerschaft der Stadt Durlach im 18. Jahr- 
hundert in ihren wirtschaftlichen und kulturgeschichtlichen Verhältnissen dargestellt aus 
ihren Stammtafeln. Im Auftrage des Großherzoglich Badischen Ministeriums der Justiz, 
des Kultus und Unterrichts bearbeitet. Karlsruhe i. B., Braunsche Hofbuchdruckerei, 
1907. gr. 8 XXII—424—272 SS. mit 3 Tafeln. M. 9.—. 

Sprigade u. M. Moisel, Wirtschafts-Atlas unserer Kolonien zu Grotewold, 
Unser Kolonialwesen und seine wirtschaftliche Bedeutung. Herausgeg. vom Kolonial- 
wirtschaftlichen Komitee. Stuttgart, E. H. Moritz (1907). Fol. 6Bl. M. 2.—. 


Siger, Carl, Essai sur la colonisation. Paris, Société du Mercure de France, 1907. 
8 190 pag. fr. 3,50. 

Munro, William Bennett, The seigniorial system in Canada. A study in 
French colonial policy. New York, Longmans, Green, and C°, 1907. XIII—296 pp. 
10/.6. (Harvard historical studies. Vol. XIIL.) 

Contro l’immigrazione nel Brasile. Mantova, tip. dell’ Università popolare, 1907. 
16. 51 pp. 


4. Bergbau. Land- und Forstwirtschaft. Fischereiwesen. 


Bassermann-Jordan, Friedrich, Geschichte des Weinbaues unter besonderer 
Berücksichtigung der bayerischen Rheinpfalz. Mit 140 Textillustrationen und 20 Tafeln. 
3 Bde. Frankfurt a./M., H. Keller, 1907. 4. X—962 SS. M. 24.—., 

Einecke, G. (Bergassessor), Der Eisenerzbergbau und der Hüttenbetrieb an der Lahn, 
Dill und in den benachbarten Revieren. Eine Darstellung ihrer wirtschaftlichen Ent- 
wicklung und gegenwärtigen Lage. Jena, Gustav Fischer, 1907. gr. 8. VI—68 88. 
Mit einer Karte. M. 2,40. (Mitteilungen der Gesellschaft für wirtschaftliche Ausbildung. 
Neue Folge, Heft 2.) 

Goltz, Theodor Freiherr v, (weiland Prof.), Leitfaden der landwirtschaftlichen 
Betriebslehre. 3., neu bearb. Aufl., herausgeg. von (Prof.) C. v. Seelhorst. Berlin, 
P. Parey, 1907. 8. VI—202 SS. M. 2,50. (Thaer-Bibliothek. 93.) 

Handbuch der gesamten Landwirtschaft. Herausgeg. von (Priv.-Doz.) Karl Stein- 
brück. (Billige Lieferungsausg. in etwa 40 Lieferungen.) 1. Lief. Hannover, M. Jänecke, 
1907. 8. 64 SS. mit Abbildungen. M. 0,50. 

Hausrath, Hans, Der deutsche Wald. Leipzig, B. G. Teubner, 1907. 8. M. 1.—. 

Hink, August (Zuchtinspektor), Einträgliche Rindviehzucht, nebst einer Be- 
lehrung über Währschaftsrecht und Gewährsfehler, Seuchen und andere Krankheiten. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 707 


Nach seinen Vorträgen bearbeite. Mit 6 Tierbildern und 9 Abbildungen im Text. 
$ roi u. verb. Aufl. Freiburg i./B., P. Waetzel, 1906. gr. 8. VIII—198 SS. 
. 3,80. 

Junack (Oberförster), Die Dürre des Sommers 1904 im deutschen Walde. Neu- 
damm, J. Neumann, 1907. 8. 32 SS. mit 2 Karten. M. 1.—. 

Lorentz, R. (Gärtnerlehranstalts-Lehrer), Rätsel im Obstbau. Praktisch-wissen- 
schaftliche Erklärung der natürlichen Ursachen früher Tragbarkeit, sowie der künstlichen 
Mittel zur Erzielung derselben, des Nichtwachsens von Veredelungen ete., mit besonderer 
Parickeithtigung des Erwerbs-Obstbaues. Halle, H. Gesenius, 1907. gr. 8. VI—146 SS. 

. 1,50 

Lüstner, Gustav (Versuchsstations-Vorsteher), Die wichtigsten Feinde der Obst- 

er 3 Vorträge. Stuttgart, E. Ulmer, 1907. 8. IV—47 SS. mit 30 Abbildungen. 
. 1.—. 

Mitteilungen des Verbandes landwirtschaftlicher Maschinen-Prüfungsanstalten. 
1. Jahrg. April 1907—März 1908. 4 Hefte. (Heft 1. 48 SS.) Berlin, P. Parey. 
Lex.-8. M. 4.—. 

Mitteilungen der k. bayrischen Moorkulturanstalt. Herausgeg. von Baumann. 
1. Heft. Stuttgart, E. Ulmer, 1907. gr. 8. III—122 SS. mit 1 Tabelle und 1 gra- 
phischen Tafel. M. 5.—. 

Renner, V. (Landwirtschafts-Lehrer), Kurze Fütterungslehre mit Anleitung zur 
Aufstellung von Futterrationen. Stuttgart, E. Ulmer, 1907. gr. 8. IV—68 SS. M. 1,50. 

Steiner-Wischenbart, Josef, Eine Studienreise steirischer Landwirte in die 
Schweiz. (1906.) Graz, P. Cieslar, 1907. gr. 8. 82 SS. mit 2 Abbildungen und 
2 Tafeln. M. 1.—. 

Strakosch, Siegfried, Das Problem der ungleichen Arbeitsleistung unserer 
Kulturpflanzen. Berlin, P. Parey, 1907. gr. 8. IX—110 SS. M. 2,50. 

Taschenbuch für landwirtschaftliche Genossenschaften. Herausgeg. von dem 
Reichsverband der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften zu Darmstadt. (3. Aufl.) 
Darmstadt, Reichsverband der. deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften, 1907. 
kl. 8 XI—500—XIV SS. M. 3.—. 

Wagner, C., Die Grundlagen der räumlichen Ordnung im Walde. Mit 44 Figuren 
im Text und 1 farbigen Tafel. Tübingen, H. Laupp, 1907. Lex.-8. VIII—320 SS. 
M. 7.—. 

Beuret, L., et R. Brunet, Manuel pratique de l’agrieulteur. Paris, Mulo, 1907. 
12. Avec 117 figures. fr. 5.—. (Encyclopédie Roret.) 

Grandeau, L., L’agrieulture et les institutions agricoles du monde au commence- 
ment du XX” siècle. 4 vol. Paris, Marcel Rivière, 1907. 8. Avec illustrations et 
cartes. fr. 50.—. 

Roequigny, C* de, Les syndicats agricoles et leur oeuvre. 2° édition augmentée 
d’une préface exposant le mouvement syndical agricole de 1900 A 1906. Paris, Ar- 
mand Colin, 1906. 8. XXXIX—412 pag. fr. 4.—. (Bibliothèque du musée social.) 

Collins, T. B., The new agriculture. London, Paul, Trübner & Co., 1907. 8. 
10/.—. 

Guarneri, Felice, Le basi della rendita ricordiana ed il progresso agricolo. 
Verona-Padova, fratelli Drucker, 1907. 8. XII—205 pp. 1. 2,50. 

Lizier, Angelo (prof.), L’economia rurale dell’ età prenormanna nell’ Italia meri- 
dionale: studi su documenti editi dei secoli IX—XI. Palermo, A. Reber, 1907. 8. 
XU—189 pp. 1. 8.—. 


5. Gewerbe und Industrie. 

März, Joh., Die Fayencefabrik zu Mosbach in Baden (aus „Volks- 
wirtsch. u. wirtschaftsgesch. Abhandl.“, herausgeg v. W. Stieda, Neue 
Folge, Heft 7). Jena (Gustav Fischer) 1906. 110 SS. 

Diese wirtschaftsgeschichtliche Arbeit aus dem Gebiet der Stieda- 
schen Spezialstudien schildert in einem recht lebendigen Zeitbilde die 
Gründung und Verwaltung der Mosbacher Fayencefabrik unter merkan- 
tilistischem und dann liberalem Regime. Als Anhang zu der histo- 

45* 


708 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


rischen Darstellung werden eine Beschreibung der Fabrik, ihrer Arbeit 
und ihres Absatzes sowie Aktenstücke gebracht. Die Fabrik war eine 
der kurzlebigen, von der Weisheit des grünen Tisches betriebenen 
Staatsgründungen des Merkantilismus, ein totgeborenes Kind, das schnell 
verschwand, als es von einer liberalen Regierung zur Existenz aus 
eigener Kraft getrieben wurde. 

Sorau N.-L. Fritz Schneider. 


Behrens, S. (Redakteur), Krebsschaden des Ausstellungswesens. Berlin (G. Nauck) 
1907. 8. 51 SS. M. 1.—. 

Bürner, R. (Syndıkus), Die Geschäftslage der deutschen elektrotechnischen In- 
dustrie im Jahre 1906. Berlin (G. Siemens) 1907. Lex.-8. 90 SS. M. 1,50. (Verein 
zur Wahrung gemeinsamer Wirtschaftsinteressen der deutschen Elektrotechnik. No. 10.) 

Denkschrift über das Kartellwesen. Bearb. im Reichsamt des Innern. 3. Teil. 
Berlin, C. Heymann, 1907. Imp.-4. 420 SS. M. 8.—. 

Forschner, C. (Diözesan-Präses), Der christliche Gewerkschaftsgedanke. (Briefe 
an einen Arbeiterfreund.) Mainz, Kirchheim & Co., 1907. 8. VIII—135 SS. M. 1,50. 
(Soziale Briefe. III.) 

Frank, Alfons (Amtsgerichts-R. a. D.), Die Maschinenindustrie und ihre Ge- 
fährdung durch die Rechtsprechung. Freiburg i./B., J. Bielefeld, 1907. 8. 16 SS. 
M. 0,60. 

Gilman, Nicholas P., Wege zum gewerblichen Frieden — Methods of industrial 
‘peace —. Autorisierte Uebersetzung von Bernhard Franke. Berlin, C. Heymann, 1907. 
Lex.-8. XI—347 SS. M. 8.—. (Moderne Wirtschaftsprobleme. Internationale Bei- 
träge zur neueren Wirtschaftsentwickelung. Herausgeber: (Regierungs-R.) Viktor Leo 
(Berlin). 1907. Bd. I.) 

Kapital und Erfindung. Zeitschrift für Erfindungs-Schutz und -Verwertung, 
Handel, Industrie und Technik. Organ des Erfindungs-Propaganda- und Schutz-Verein 
(Sitz Berlin). Red.: Otto Wiesner. April 1907”—März 1908. 12 Nummern. (No. 1. 
44 Sp. mit Abbildungen.) Berlin, Expedition von Kapital und Erfindung. Lex.-8. M. 4.—. 

Koch, Waldemar, Die Konzentrationsbewegung in der deutschen Elektroindustrie. 
München und Berlin, R. Oldenbourg, 1907. gr. 8. 119 SS. M. 2,50. 

Most, Otto, Arbeiterfrage und Arbeiterpolitik im Gewerbe. Leipzig, Fel. Diet- 
rich, 1907. 8. 32 SS. M. 0,50. (Sozialer Fortschritt. 99. 100.) 

Rocke (Privat-Dozent), Ueber Tarifgemeinschaften. Vortrag. Leipzig, W. Diebener 
(1907). gr. 8. 32 SS. M. 0,60. 

Skarzynski, Graf Louis, Streik und Organisation. Aus dem Russischen von 
R. Clauss. Berlin, C. Heymann, 1907. gr. 8. M. 9.—. 

Verhandlungsbericht der 4. Generalversammlung des Komitees der inter- 
nationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz, abgehalten zu Genf vom 26.—29. 
September 1906, nebst Jahresberichten der internationalen Vereinigung und des inter- 
nationalen Arbeitsamtes und synoptischen Uebersichten. Herausgeg. vom Bureau der 
internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz. Jena, Gustav Fischer, 1907. 
gr. 8 XVI—157 SS. M. 3.—. (Schriften der internationalen Vereinigung für gesetz- 
lichen Arbeiterschutz. No. 5.) 


Bourgin, Hubert, L'industrie de la boucherie dans le département de l'Oise 
au dix-neuvième siècle. Beauvais, Imprimerie centrale administrative, 1907. 8. 178 pag. 
fr. 4.—. (Publication de la Société d’études historiques et scientifiques du département 
de l’Oise. I.) 

Langlois, Henri G., Une étape de l’évolution sociale: le contrat de travail. Paris, 
F. Pichon et Durand-Auzias, 1907. 8. 431 pag. fr. 8.—. 

Milhaud, Caroline, L’ouvri®re en France. Sa condition présente — les ré- 
formes nécessaires. Paris, Félix Alcan, 1907. 8. 204 pag. fr. 2,50. 

Roguenant, A., Patrons et ouvriers. Paris, Lecoffre, 1907. 12. fr. 2.—. 

Vandervelde, Emile, La Belgique ouvrière. Paris, Édouard Cornély & C*, 
1906. 8. 192 pag. fr. 1.—. (Bibliothèque socialiste. N" 39—40.) 

Artifex and Pontifex, The Causes of decay in a British industry. London, 
Longmans, 1907. 8. 7/.6. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 709 


Bell, Lady, At the works. A study of a manufacturing town. London, Edward 
Arnold, 1907. 8. XV—272 pp. 6/.—. 

Schloss, David F., Methods of remuneration. 3"! edition, revised and enlarged. 
Popular re-issue. London, Williams & Norgate, 1907. Cr. 8. 466 pp. 3/.6. 

Lavoro, Il, notturno dei panettieri in Milano: risultato di un’ inchiesta statistica 
e igienica. Milano, tip. Operai, 1907. 8. 79 pp. (Pubblicazione dell’ ufficio del 
lavoro della Societä Umanitaria, n° 14.) 


M usto, Raffaele, Sulle organizzazioni operarie: studio sociologieo-giuridico. Napoli 
1907. 8. 133 pp. 1. 2.—. 


6. Handel und Verkehr. 


Ebeling, Ph. (Direktor), Handelsbetriebslehre. Die Lehre vom Wesen und von 
der Technik des Handels. In 4 Teilen. I. Teil: Wesen und Technik des Handels. 
II. Teil: Der kaufmännische Briefwechsel. Leipzig, B. G. Teubner, 1907. gr. 8. 
X—158 SS. VI—136 SS. M. 1,80. M. 1,60. 

Engel, August, Detaillisten-Fragen. Neue Aufgaben des Kleinhandels. 2. verm. 
Aufl. (3.—5. Tausend.) M. Gladbach, Zentralstelle des Volksvereins für das katholische 
Deutschland, 1907. 8. 131 SS. M. 1.—. (Soziale Tages-Fragen. Heft 33.) 

Hildebrandt, A. (Hauptmann im Luftschiffer-Bataillon), Die Luftschiffahrt nach 
ihrer geschichtlichen und gegenwärtigen Entwicklung. Mit 1 Titelbild, 230 Textabbil- 
dungen und 1 Tafel. München und Berlin, R. Oldenbourg, 1907. gr. 8. V—426 SS. 
M. 15.—. 

Lietz, Ernst, Inventur und Bilanz. Berlin, Schnetter & Lindemeyer (1907). 
gr. 8. 30 SS. M. 0,60. (Ergänzter Abdr. aus: Zeitschrift für das gesamte Fortbildungs- 
schulwesen.) 

Paquet, Alfons, Anatolien und seine deutschen Bahnen. Vortrag. München, 
Süddeutsche Verlags-Anstalt (1906). Lex.-8. 15 SS. mit 2 Abbildungen und 1 Karten- 
skizze. M. 1.—. (Aus: Bayerisches Industrie- und Gewerbeblatt.) 

Passow, Richard (Priv.-Dozent), Die wirtschaftliche Bedeutung und Organisation 
der Aktiengesellschaft. Jena, Gustav Fischer, 1907. gr. 8. VII—238 SS. mit 1 Tabelle. 
M. 5.—. 

Reisch, Richard (Ministerial-R.), und (Handelsakademie-Dir.) Josef Klemens 
Kreibig, Bilanz und Steuer. Grundriß der kaufmännischen Buchführung unter be- 
sonderer Würdigung ihrer wirtschaftlichen und juristischen Bedeutung. 2., wesentlich 
umgearb. u. erweiterte Aufl. 1. Bd.: Einfache und doppelte Buchführung bei Privat- 
unternehmungen. Wien, Manz, 1907. Lex.-8. VIII—395 SS. M. 8,50. 

Sachsse, Rudolf (Handelslehranstalts-Oberlehrer), Einführung in die Waren- 
kunde. Ein Buch für Schule und Geschäft. Bautzen, E. Hübner, 1907. gr. 8. VIH 
—296 SS. mit 137 Abbildungen. M. 3,60. 

Winterstein, Franz, Winke für junge Kaufleute, die im Auslande Stellung 
suchen. (England, Frankreich, Spanien, Rußland und Italien.) (2. u. 3. Tausend.) 
Hamburg, H. Paustian (1907). 8. 70 SS. M. 1,20. 

Zeitschrift für allgemeine Warenkunde, unter Mitwirkung zahlreicher hervor- 
ragender Fachschriftsteller und Männer der Praxis herausgeg. von C. Hacnig. 1. Jahrg. 
April 1907—März 1908. 12 Nummern. (No. 1. 64 SS.) Leipzig, O. Wigand. gr. 8. 
Halbjährlich M. 7,50. 


Handelsberichten. Wekelijs uitgegeven door het Ministerie van Landbouw, 
Nijverheid en Handel, met medewerking van het Ministerie van Buitenlandsche Zaken. 
1° Jaarg. N° 1, 21 Maart 1907. ’s Gravenhage, F. J. Belinfante. Imp.-4. 8 blz. 
fl. 0,20 met bijlagen: Economische Verslagen van Nederlandsche Diplomatieke en Con- 
sulaire Ambtenaren. 


7. Finanzwesen. 


Bosc, L., Zollallianzen und Zollunionen in ihrer Bedeutung für die Handelspolitik 
der Vergangenheit und Zukunft. Uebersetzt von S. Schilder. Berlin, E. Staude, 1907. 
gr. 8. 376 SS. M. 9.—. 

Kumpmann, Karl, Die Wertzuwachssteuer, ihre prinzipielle und ihre praktische 
Bedeutung. Tübingen, H. Laupp, 1907. 8. 

Piloty, Robert (Prof.), Das Recht der Schiffahrtsabgaben in Deutschland. 
Tübingen, H. Laupp, 1907. gr. 8. VIII-80 SS. M. 1,50. (Staat und Wirtschaft. 


710 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Sammlung von Vorträgen und Schriften aus dem Gebiete der gesamten Staatswissenschaft, 
Herausgeg. von (Prof.) Bernhard Harms. 1.) 


Mansion, Alfred, Notre système d’impöts directs — améliorations réalisables, 
Paris, Arthur Rousseau, 1907. 8. 48 pag. fr. 2.—. 

Saint-Maurice, Comte de, La fortune publique et privée au Japon. Paris, 
Georges Roustan, 1907. 8. 60 pag. fr. 1,50. (Bibliothèque des études économiques 
et financières.) 

Powell, B. H. Baden-, A short account of the land revenue and its admini- 
stration in British India. With a sketch of the land tenures. 24 edition, revised by 
T. W. Holderness. Oxford, Clarendon Press, 1907. Cr. 8. 270 pp. 5/.—. 

Caronna, F., La conversione della rendita. Palermo 1907. 8. 283 pp. 1. 5.—. 

Vignali, G., Le tasse di registro nella teoria e nel diritto positivo italiano. 2* 
edizione rifusa ed ampliata. Vol. I. Milano 1907. 8. 484 pp. 1. 10.—. 


8. Geld-, Bank-, Kredit- und Versicherungswesen. 


Fischer, Alfons, Die Mutterschafteversicherung in den europäischen Ländern. 
Leipzig, Fel. Dietrich, 1907. 8. 16 SS. M. 0,25. (Kultur und Fortschritt. Neue 
Folge der Sammlung „Sozialer Fortschritt“. 101.) 

Harms, Bernhard, Die Münz- und Geldpolitik der Stadt Basel im Mittelalter. 
Mit 2 Diagrammen. Tübingen, H. Laupp, 1907. gr. 8. XII—254 SS. M. 6,50. 
(Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. Ergänzungsheft XXIII.) 

König, Wilhelm, Barzahlung und Banktrennung. Eine Streitfrage des öster- 
reichisch-ungarischen Ausgleiches im Lichte der Theorie. Wien, Manz, 1907. 8. 
16 SS. M. 0,35. 

Loeper, H. von (Regierungs-R.), Die Versicherung der Arbeiter-Witwen und 
-Waisen in Deutschland. Berlin, C. Heymann, 1907. Lex.-8. VII—176 SS. M.4—. 

März, Johannes, und Harry Buschmann, Handbuch der sicheren und ge- 
winnbringenden Kapitalanlage. 2., verm. Aufl. Leipzig, H. Buschmann, 1907. Lex.-s. 
XIV—284 SS. M. 5.—. 

Manasse, L., Lebensversicherungs-Gesellschaften und Aerzte. Berlin, J. Gold- 
schmidt, 1907. Lex.-8. 4 SS. M. 0,60. (Aus: Deutsche medizinische Presse.) 

Tischert, R., Wie lege ich mein Geld an? Essen, Fredebeul & Koenen (1907). 
8 95 SS. M. 1.—. 


Assicurazioni, Le, agricole in alcuni stati europei. (Ministero di agricoltura, 
industria e commercio: ispettorato generale del credito e della previdenza.) Roma, tip. 
Nazionale di G. Bertero e C., 1907. 8. LXIII—418 pp. 1. 5.—. (Annali del credito 
e della previdenza, anno 1907, n° 69.) x 


9. Soziale Frage. 

Bericht über die VIII. Generalversammlung des rheinischen Vereins zur Förde- 
rung des Arbeiterwohnungswesens und über die IV. Generalversammlung des Verbandes 
rheinischer Baugenossenschaften am 17. und 18. November 1906 im Ständehause zu 
Düsseldorf. Berlin, C. Heymann, 1907. 8. 132 SS. M. 1,60. 

Damaschke, Adolf, Die Bodenreform. Grundsätzliches und Geschichtliches zur 
Erkenntnis und Ueberwindung der sozialen Not. 4. durchgesehene Aufl. Berlin-Schöne- 
berg, Hilfe, 1907. 8. XII—352 SS. M. 2,50. 

Dühring, E., Soziale Rettung durch wirkliches Recht statt Raubpolitik und 
Knechtsjuristerei. Leipzig, Th. Thomas, 1907. gr. 8. VIII —315 SS. M. 6.—. 

Frauen-Führer. Auskunftsbuch über Vereine, Ausbildungsangelegenheiten und 
Wohlfahrtseinrichtungen in Berlin. 6. Aufl. Berlin, Carl Habel, 1907. 8. VIU- 
128 SS. M. 1,20. i- 

Kubatz, Alfred, Akademiker und Alkoholismus. Berlin, C. Heymann, 1807. 
8 46 SS. M. 0,60. (Burschenschaftliche Bücherei. Bd. III, 3.) 

š Lemp, Eleonore, Frauenberufe. Halle, Buchhandlung des Waisenhauses, 1907. 
. M. 1.—. 

Pütter, Ernst (Verwaltungs-Dir.), Die Bekämpfung der Tuberkulose innerhalb 
der Stadt. Ein Beitrag zur Wohnungsfrage. Erfahrungen aus den Berliner Auskunfts- 
vr Fürsorgestellen für Lungenkranke. Berlin, R. Schoetz, 1907. gr. 8. 28 $8. 
1. 0,60. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 711 


Siegert, Rudolf, Die Wohnungsfürsorge im Großherzogtum Hessen. Nach 
juristischen und nationalökonomischen Gesichtspunkten bearbeitet. Giessen, Alfred Töpel- 
mann, 1907. gr. 8. VI—15) SS. M. 3.—. 

Wolfring, Lydia von, Die Kindermißhandlungen, ihre Ursachen und die 
Mittel zu ihrer Abhilfe. (Erster österreichischer Kinderschutzkongreß. Wien 1907.) 
Wien, Manz, 1907. Lex.-8. 125 SS. mit 3 Tafeln. M. 3,40. 

Zentralstelle, Die, für Volkswohlfahrt. (Antrag Douglas.) Eın Aufruf an alle 
für das Wohl des Volkes tätiren Vereine im deutschen Reiche. Im Auftrage des vor- 
bereitenden Ausschusses der Wohlfahrtsvereine herausgegeben. Berlin, Schriftenvertriebs- 
anstalt G. m. b. H., 1907. gr. 8. 30 Ss. M. 0,30. 


Goyau, Georges, Autour du catholieisme social. 3° serie. Paris, Perrin, 1907. 
2. fr. 3,50. 
l Muller-Simonis, Réforme de Passistance publique en Alsace-Lorraine. Straßburg, 
Schlesier & Schweikhardt, 1907. gr. 8. VII—207 SS. M. 2,50. 

Harthill, Isaae, Work among the London poor. London, E. Stock, 1907. Cr. 8. 
00 pp. 1/.—. 
x3 Heath, H. Llewellyn, The infant, the parent, and the state. A social study 
and review. With an introduction by (Prof.) G. Lewis Woodhead. London, P. S. King, 
1907. Cr. 8 XV-—191 pp. with illustrations. 3/.6. 

Sherard, Robert H., The white slaves of England. 6* edition. London, Fifield, 
1907. 12. 1/.6. 

10. Gesetzgebung. 

1) Liebmann, Dr. J., Justizrat, Rechtsanwalt und Notar in 
Frankfurt a. M., Kommentar zum Gesetz betr. die Gesell- 
schaften mit beschränkter Haftung. Fünfte, gänzlich neube- 
arbeitete und vermehrte Auflage nebst einem Anhange: Die Einkommen- 
besteuerung der Ges. m. b. H. in Preußen und die Reichsstempelabgabe 
auf die Tantiemen. Berlin 1906, Verlag von Otto Liebmann. X, 
260 SS., M. 4,80, geb. M. 5,60. 

2) Riesser, Dr., Geh. Justizrat und ordentl. Honorarprofessor a. 
d. Univ. Berlin Das Bankdepotgesetz (Gesetz betr. die Pflichten 
der Kaufleute bei Aufbewahrung fremder Wertpapiere, v. 5. Juli 1896). 
Für die Praxis erläutert. Zweite, völlig umgearbeitete Auflage. Berlin 
1906, Verlag von Otto Liebmann. X, 128 S5., M. 3,—, geb. M. 3,60. 

Die beiden hier in neuen Auflagen vorliegenden Kommentare zu 
wichtigen wirtschaftlichen Gesetzen sind für Juristen der Praxis unent- 
behrlich, aber auch für Nationalökonomen von großer Wichtigkeit. 
Beide Bücher haben durch die hervorragende Sachkunde ihrer Verfasser 
eine gewisse autoritative Bedeutung gewonnen. Liebmanns Kommentar 
des Gesetzes über die G. m. b. H. hat — vornehmlich durch die Hin- 
zufügung des Anhangs, wieder an Umfang beträchtlich gewonnen; aber 
der Anhang (s. oben) ist für den praktischen Gebrauch des Buches recht 
nützlich, und der Verfasser hat sich in dankenswerter Weise bemüht, 
an anderen Stellen, wo es nur irgend angängig erschien, zu kürzen. So 
hat z. B. die Einleitung eine prägnantere Gestalt erhalten. Nach wie 
vor ist den Ausführungen dieser Einleitung, wie ich schon bei der Be- 
sprechung der vorigen Auflage in diesen Jahrbüchern hervorhob, durch- 
aus zuzustimmen. Was die Kommentierung des Gesetzestextes im einzelnen 
betrifft, so ist überall in anerkennenswerter Genauigkeit bei streitigen 
Fragen der Gegenmeinung Beachtumg geschenkt und überall der maß- 
gebenden richterlichen Entscheidungen Erwähnung getan. Auch die 
im Anhang mitgeteilten Gesetze sind eingehend kritisch kommentiert. 


712 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Ein gut gearbeitetes Sachregister beschließt das Werk, das sich so wie 
bisher auch weiter vorzüglich bewähren muß, weil es die Mitte hält 
zwischen den ausführlichen, umfangreichen Bearbeitungen und den Text- 
ausgaben und so für die meisten am brauchbarsten ist. 

Für das Bankdepotgesetz dürfte Geheimrat Riesser als der wohl 
zur Zeit beste Kenner gelten. Da die erste Auflage vor dem Inkraft- 
treten des Bürgerlichen Gesetzbuches und des neuen Handelsgesetz- 
buches erschienen ist, bedingte schon dieser Umstand eine neue Durch- 
und Umarbeitung des Werkes. War dieses damals nach Vorträgen 
niedergeschrieben und, wie der Verfasser im Vorwort sagt, „nur not- 
dürftig in die äußere Form des Kommentars gebracht worden“, so ist 
in dieser zweiten Auflage der Kommentar von vornherein als solcher 
organisch angelegt und erfüllt um so besser die vom Verfasser seiner 
Arbeit gestellte Aufgabe, „für Juristen sowohl wie für den Handels- 
stand die in Rechtsprechung und Literatur seit Erlaß des Gesetzes auf- 
getauchten Fragen zu erörtern und die schon in der ersten Auflage be- 
sprochenen Fragen zu vertiefen und nachzuprüfen“. Der Kommentar 
ist gerade auch hinsichtlich der Rechtsprechung in der Literatur über- 
aus sorgfältig gearbeitet, und auch hier ist überall, wo es erforderlich 
war, eine Auseinandersetzung mit abweichenden Ansichten erfolgt. In 
den Anlagen sind Formulare und die einschlägigen Bestimmungen des 
BGB. und HGB. abgedruckt. Quellenverzeichnis und Sachregister 
fehlen nicht. A. Elster. 


Damme, Dr. F., Geh. Reg.-Rat, Direktor im Kaiserlichen Patent- 
am zu Berlin, Das deutsche Patentrecht. Ein Handbuch für 
Praxis und Studium. Berlin (Otto Liebmann) 1906. XIV, 549 SS. 
10 M., geb. 11 M. 

Bei der Schnelligkeit des technischen Fortschritts ist das gewerb- 
liche Urheberrecht mit Recht ein Gegenstand besonderen Interesses für 
die praktische Jurisprudenz. Eine große Fülle von Werken, in syste- 
matischer oder kommentierender Form, existiert bereits über das Patent- 
recht. Der Verfasser, der diese Werke genau kennt, muß also be- 
sondere Gründe gehabt haben, um mit einem neuen Buch über das Patent- 
recht hervorzutreten. Die Gründe erscheinen bei näherem Zusehen 
durchaus stichhaltig. Es handelte sich für ihn darum, neben den aus- 
führlichen und kritisch-wissenschaftlich tiefgrabenden Monographien 
(Kohler) und den eingehenden Kommentaren (Landgraf, Robolski u. s. w.) 
ein in systematischer Form geschriebenes kürzeres Werk zu schaffen, 
welches als Lehrbuch für das Studium und als Handbuch für die 
ausführende Praxis seine Dienste tut. Dabei ist nicht etwa nur eine oben- 
hin gehende Belehrung über die Hauptzüge, sondern eine gründliche Ein- 
führung und sorgsame Behandlung des ausgedehnten Gegenstandes gegeben. 
Die wissenschaftliche Kritik bildet zwar hier nicht den Hauptinhalt, ist 
aber stets das Mittel der Behandlung auch hier geblieben; man ver- 
gleiche z. B. das vortreffliche Kapitel über den Begriff der Neuheit. 
Verfasser verfügt über eine durch reiche praktische Betätigung ge- 
wonnene scharfe juristische Kritik; daß er trotzdem in diesem Hand- 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 713 


und Lehrbuche fast durchweg die herrschende, die Mittelmeinung, 
eine mit kritischer Ueberzeugung gewonnene praktische Vernunft- 
meinung, zur Darstellung bringt, gibt diesem Werke seine besondere 
Gestalt eben als Lehr- und Handbuch. Die auferlegte Beschränkung der 
Literaturnachweise im einzelnen Fall wird manchem Benutzer freilich 
nicht ganz willkommen sein; aber man mag zugeben, daß der Zweck 
des Buches dies gerade erforderte Die ausführliche Heranziehung der 
richterlichen und patentamtlichen Entscheidungen ist dagegen für den 
praktischen Gebrauch besonders wichtig, und Verfasser hat hierin 
meines Erachtens das Richtige getroffen. Es ist anzunehmen, daß dank 
dieser Vorzüge für die Praxis sich das Werk in den interessierten 
Kreisen Eingang verschaffen und namentlich von solchen, die ein hand- 
liches Lehrbuch des Patentrechts in zuverlässiger und möglichst über- 
sichtlicher Darstellung suchen, gern benutzt werden wird. Ein Anhang 
bringt den Wortlaut der einschlägigen Gesetze und ein Sachregister. 
A. Elster. 


Bruck, Ernst (Gerichtsassessor), Die Jagd- und Vogelschutz-Gesetzgebung in 
Elsaß-Lothringen. Straßburg, Karl J. Trübner, 1907. 8. 216 SS. M. 3,50. 

Freese, Heinrich (Fabrikbesitzer, Berlin), Das neue Baupfandgesetz. (Jena, 
Gustav Fischer, 1907.) gr. 8. 44 SS. (Abdruck aus: Jahrbuch der Bodenreform. 
Bd. 3.) 

Geller, Leo (Hof- u. Ger.-Adv.), Oesterreichische Gewerbeordnung, nebst ein- 
schlägigen Vorschriften. Mit Erläuterungen aus den Materialien, der Verwaltungspraxis 
und der Rechtsprechung. 7., auf Grund der Gewerbenovelle von 1907 neu bearb. Aufl. 
Wien, M. Perles, 1907. kl. 8. VIII—312 SS. M. 4.—. 

Hoppe, Hugo (Nervenarzt), Der Alkohol im gegenwärtigen und zukünftigen Straf- 
recht. Halle a. d. S., Carl Marhold, 1907. gr.8. 78 SS. M. 2.—. (Juristisch- 
psychiatrische Grenzfragen. Bd. V, Heft 4/5.) 

Kalckstein, W. (Hauptmann a. D.), Die im Deutschen Reiche erlassenen Vor- 
schriften über die Benutzung und über Beschaffenheit von Wohnungen. Auf Grund der 
Sammlungen des Bremer sozialen Museums bearbeitet und herausgegeben. Bremen, 
G. Winter, 1907. Lex.-8. 36 SS. M. 5.—. 

Meili, Fr. (Prof.), Die Kodifikation des Automobilrechts. Eine Studie. Wien, 
Manzsche Buchhandlung, 1907. gr. 8. 183 SS. M. 4,30. 

Michaelis, Heinrich, Das deutsche Gewerbe- und Arbeiterversicherungsrecht. 
Bremen, G. Winter, 1907. gr. 8. VIII—100 SS. M. 1,50. 

Nöll, F., Das Kommunalabgabengesetz vom 14. Juli 1893, nebst Ausführungsan- 
weisung vom 10. Mai 1894 und Mustersteuerordnungen. Erläutert. Nach dem Tode 
des Verfassers bearb. von F. Freund. 6. völlig veränderte Aufl. Berlin, C. Heymann, 
1907. gr. 8. XII—646 SS. M. 12.—. 

Schmid, Paul (Rechtsanwalt), Der gesetzliche Schutz der Fabrik- und Geschäfts- 
geheimnisse in Deutschland und im Ausland. Tübingen, J. C. B. Mohr, 1907. Lex.-8. 
vIII—234 SS. M. 5.—. 

Stein, Friedrich (Prof.), Zur Justizreform. 6 Vorträge. Tübingen, J. C. B. Mohr, 
1907. gr. 8. III—109 SS. M. 2.—. 

Stein, Friedrich, und Richard Schmidt, Aktenstücke zur Einführung in 
das Prozeßrecht. Civilprozeß. Bearb. von Friedrich Stein. 6. Aufl. Tübingen, 
J. C. B. Mohr, 1907. Lex.-8. VIII—176 SS. M. 2,20. 

Stillmark, Friedrich (Rechtsanwalt), Aus dem Rechtsleben Chinas. Vortrag. 
Reval, F. Kluge, 1907. 8 51 SS. M. 1.—. 


Armbruster, L. (avocat), Le repos hebdomadaire. Commentaire de la loi du 
13 juillet 1906. Préface de F. Dubief. Paris, Nancy, Berger-Levrault & C', 1907. 8. 
XI—370 pag. fr. 3,50. 

Child Labor Legislation. Schedules of existing statutes and the standard 


714 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


child labor law embodying the best provisions of the most effective measures now in 
force. Handbook 1907, compiled by Josephine C. Goldmark. Philadelphia, The 
American Academy of Political and Soeial Seience (1907). 8. 64 pp. (Supplement to 
The Annals of the American Academy of Political and Social Science. January, 1907.) 

Smith, James Walter, A handy book on the law of banker and customer. New 
edition, thoroughly revised. London, E. Wilson, 1907. Cr. 8. VII—197 pp. 2/.6. 

Walley, J. F., The laws of debtor and creditor. Together with the laws of bank- 
ruptey by W. A. Holdsworth. New and revised edition. London, Routledge, 1907. 12. 
412 pp. 1/.—. 

11. Staats- und Verwaltungsrecht. 

Altmann, P. (Landrichter), Die Verfassung und Verwaltung im Deutschen Reiche 
und Preußen. Handbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart. II. Bd. Preußen. 
Berlin, C. Heymann, 1907. gr. 8. M. 8.—. 

Brauchitsch, M. von, Die neuen Preußischen Verwaltungsgesetze. Nach dem 
Tode des Verfassers umgearb., fortgeführt und herausgeg. von von Studt und von Braun- 
behrens. 5. Bd. 8. Aufl. 4. Bearbeitung. Berlin, C. Heymann, 1907. gr.8. M. 10.—. 

Dochow, Franz, Vereinheitlichung des Arbeiterschutzrechts durch Staatsverträge. 
Ein Beitrag zum internationalen Verwaltungsrecht. Berlin, C. Heymann, 1907. gr. 8. 
111 SS. M. 2,50. 

Gumplowiez, Ludwig, Allgemeines Staatsrecht. 3. verm. u. verb. Aufl. Inns- 
bruck, Wagner’sche Universitäts-Buchhandlung, 1907. gr. 8. XV—540 SS. M. 12.—. 

Gumplowiez, Ludwig, Das österreichische Staatsrecht (Verfassungs- und Ver- 
waltungsrecht). Ein Lehr- und Handbuch. 3., in Verbindung mit (Stadt-R.) Rudolf 
Bischoff bearb., verm. u. verb. Aufl. Wien, Manz, 1907. gr. 8. XIV—714 SS. 
M. 10,50. 

Köhn, Theodor (Stadt-Bau-R. a. D.), Wie ist die Schaffung von Groß-Berlin 
durchführbar? Vortrag. Berlin, C. Heymann, 1907. gr. 8. 32 SS. M. 0,60. 

Krause, Friedland, Die englische Volksschul-Gesetzgebung, mit besonderer Be- 
rücksichtigung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche dargestellt. Berlin, C. Hey- 
mann, 1907. gr. 8. 99 SS. M. 2.—. 

Netolitzky, August (Landes-Sanitäts-Referent), Oesterreichische Sanitätsgesetze. 
Wien und Leipzig, Wilhelm Braumüller, 1907. Lex.-8. M. 18.—. 

Schreiber, Karl (Öber-Reg.-R. a. D.), Beteiligung des Staates an den Volks- 
schullasten in Preußen. Breslau, M. '& H. Marcus, 1907. gr. 8. 60 SS. M. 1,60. 
(Abhandlungen aus dem Staats- und Verwaltungsrecht. Heft 13.) 

Werner, Adolf, Die Verfassungsfrage in Mecklenburg. Berlin, W. Rothschild, 
1907. 8. 24 SS. M.1.—. 

Odgers, William Blake, Local government. 2° edition, by the author and 
E. J. Naldrett. London, Macmillan, 1907. Cr. 8. 306 pp. 3/.6. (English Citizen.) 

Thorbecke, J. R., Aanteekening op de Grondwet. Tweede uitgave. 2 dln. 
’s-Gravenhage, Martinus Nijhoff, 1907. 8. XIV—355, VI—342 blz. fl. 8,50. 


12. Statistik. 
Allgemeines. 

Virgilii, Filippo (prof.), Statistica, 4° edizione rifatta. Milano, U. Hoepli, 
1907. 16. XIX—225 pp. (Manuali Hoepli.) 

Webersik, Gottlieb, Geographisch-statistisches Welt-Lexikon. Ein Nachschlage- 
buch über die Länder, Staaten, Kolonien, Gebirge, Flüsse, Seen, Inseln, Städte, Markt- 
flecken, Badeorte, Post- und Telegraphenämter, Häfen, Eisenbahnstationen ete. der Erde. 
(In 20 Lieferungen.) 1. Lief. Wien und Leipzig, A. Hartleben, 1907. Lex.-8. 48 SS. 
M. 0,75. 

Deutsches Reich. 

Beiträge zur Arbeiterstatistik Nr. 6. Die Regelung des Arbeitsverhältnisses bei 
Vergebung öffentlicher Arbeiten insbesondere in deutschen Städten. Bearb. im Kaiser- 
lichen Statistischen Amt, Abteilung für Arbeiterstatistik. Berlin, C. Heymann, 1907. 
gr. 8. VIII—400 SS. M. 4.—. 

Drucksachen des Kaiserlichen Statistischen Amts, Abteilung für Arbeiterstatistik. 
Erhebungen Nr, 4. Erhebung über die Arbeitszeit der in Plättanstalten und in nicht 
als Fabriken und Werkstätten mit Motorbetrieb anzusehenden Waschanstalten beschäftigten 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.. 715 


Personen. Veranstaltet im Oktober 1905. Berlin, C. Heymann, 1907. Imp.-4. V— 
88—256 SS. M. 3.—. — Nr. 5: Erhebung über die Arbeitszeit der Gehilfen und Lehr- 
linge im Fleischergewerbe. 2. Teil. Veranstaltet im Sommer 1905. Bearb. im Kaiser- 
lichen Statistischen Amt, Abteilung für Arbeiterstatistik Abschnitt I—V, im Kaiserlichen 
Gesundheitsamt Abschnitt VI. Berlin, Ebend., 1907. Imp.-4. VI—103 SS. M. 1.—. 

Gnauck-Kühne, Elisabeth, die deutsche Frau um die Jahrhundertwende. Sta- 
tistische Studie zur Frauenirage. Mit 6 farbigen Diagrammen, 2. Aufl. Berlin, O. Lieb- 
mann, 1907. gr. 8. VII—163 SS. M. 3,50. 

Handbuch, Statistisches, für das Deutsche Reich. Herausgeg. vom Kaiserlichen 
Statistischen Amt. 1. Teil. Berlin, C. Heymann, 1907. Lex.-8. XII—750 SS. M. 7.—. 

Statistik des Deutschen Reichs. Herausgeg. vom Kaiserlichen Statistischen Amt. 
Neue Folge. 170. Bd. Die Krankenversicherung im Jahre 1904. Berlin, Puttkammer 
& Mühlbrecht, 1907. Imp.-4. XII—52—192 SS. M. 5.—. 

Woerner, Otto, Die Frage der Gleichmäßigkeit der Strafzumessung im Deutschen 
Reich. Auf kriminalstatistischer Grundlage bearbeitet. München, E. Reinhardt, 1907. 
Lex.-8. 107 SS. M. 4.—. (Statistische und nationalökonomische Abhandlungen, ins- 
besondere Arbeiten aus dem statistischen Seminar der Universität München. Heft 3.) 


Oesterreich- Ungarn.‘ 


Städtebuch, Oesterreichisches. Statistische Berichte von größeren österreichischen 
Städten, herausgeg. durch die k. k. statistische Zentral-Kommission. XI. Bd. Redigiert 
unter der Leitung des Präsidenten Franz Ritter von Juraschek von Rudolf Riemer. 
Wien, k. k. Hof- und Staatsdruckerei, 1906. 4. XXXVI—1266 SS. M. 12.—. 


Italien. 


Movimento della popolazione secondo gli atti dello stato civile nell’ anno 1904: 
nascite, morti e matrimoni. (Ministero di agricoltura, industria e commercio: direzione 
generale della statistica.) Roma, tip. Nazionale di G. Bertero e C., 1906. 8. LXXX—67 pp. 
1. 1,50. 


Schweiz. 


Mühlemann, C. (Vorsteher), Bericht über die Anordnung und Durchführung 
sowie über das vorläufige Ergebnis der eidgenössischen Betriebszählung vom 9. August 
1905. Bern (A. Francke) 1906. gr. 8. 24 SS. M. 0,80. 

Statistik, Schweizerische. Vom statistischen Bureau des eidg. Departements des 
Innern. 151. Lieferung. Die Ergebnisse der eidgenössischen Volkszählung vom 1. De- 
zember 1900. 3. Bd. Die Unterscheidung der Bevölkerung nach dem Berufe. Bern, 
Buchdruckerei Gustav Grunau, 1907. 4. 48-460 SS. mit 4 Karten. fr. 10.—. 


13. Verschiedenes. 


Bendel, Heinrich, Zum Ausbau des gewerblichen Fortbildungsschulwesens in 
der Schweiz. Ein Beitrag. Zürich-Selnau, Gebr. Leemann & C°, 1907. gr. 8. 74 SS. 
M. 1. 

” Berberich, Alois (Gesundheitsingenieur), Bau- und Wohnungshygiene. 2. verm 
Aufl. Mit 38 Abbildungen. Stuttgart, E. H. Moritz, 1907. kl. 8. 222 SS. M. 2.— 
(Illustrierte Bibliothek der Rechts- und Staatskunde, in Einzeldarstellungen. Bd. 27.) 

Berger, Heinrich (Kreisarzt), Sozialhygienischer Rückblick und Ausblick 1906/07 
Unsere Volksvertretung. Leipzig, B. Konegen, 1907. 8. 26 SS. M. 0,50. 

Bresler, Johannes (Oberarzt), Greisenalter und Criminalität. Halle a. S., Carl 
Marhold, 1907. gr. 8. 58 SS. M. 1,80. (Juristisch-psychiatrische Grenzfragen. Bd. V, 
Heft 2/3.) 

Dolle, Ernst (Bremen), Wohin treiben wir? Unparteiisches Gegenwarts- und 
Zukunftsbild. Bremen, Eigener Verlag, 1907. gr. 8. 126 SS. M. 1,50. 

Ganz, Hugo, Die Preußische Polenpolitik. Unterredungen und Eindrücke. Frank- 
furt am Main, Rütten & Loening, 1907. gr. 8. 96 SS. M. 1,50. 

Gleichen-Russwurm, Alexander von, Bildungsfragen der Gegenwart. Vor- 
trag, gehalten im Zweigverein Berlin des Schwäbischen Schillervereins. Berlin, Karl 
Curtius, 1907. 8. 55 SS. M. 1.—. 

Gottstein, Adolf, Die soziale Hygiene. Leipzig, F. C. W. Vogel, 1907. gr. 8. 
72 88. M. 1,50. 

Reuter, Gabriele, Das Problem der Ehe. (Veröffentlichung der Lessing-Gesell- 


716 Die periodische Presse des Auslandes. 


schaft für Kunst und Wissenschaft, E. V., Berlin.) Berlin, E. Kantorowiez (1907). 8. 
67 SS. M. 1,50. 

Reventlow, Graf E., Weltfrieden oder Weltkrieg! Wohin geht Deutschlands 
Weg? Politisch-militärische Betrachtungen vor der Haager Friedenskonferenz. Berlin, 
Karl Curtius, 1907. 8. 148 SS. M. 1.—. 

Revue für Internationalismus, herausgeg. vom Bureau der Stiftung für Inter- 
nationalismus im Haag. Deutsche Ausgabe. Jahrg. 1, No. 1, April 1907. Leipzig— 
Amsterdam, Maas & van Suchtelen. Lex.-8. 98 SS. M. 2,50. 

Rodić, Ignaz (k. und k. Hauptmann im Generalstabskorps), Die Aussichten eines 
amerikanisch-japanischen Krieges. Leipzig, Friedrich Engelmann, 1907. gr. 8. 2658. 
M. 0,80. 

Stern, Bernhard, Geschichte der öffentlichen Sittlichkeit in Rußland. 2 Bde. 
I. Kultur, Aberglaube, Kirche, Klerus, Sekten, Laster, Vergnügungen, Leiden. Mit 29 
teils farbigen Illustrationen. Berlin, H. Barsdorf, 1907. gr. 8. V—502 SS. M.7.—. 

Wochenschrift, Internationale, für Wissenschaft, Kunst und Technik. Herausgeg. 
von P. Hinneberg, redigiert von W. Paszkowski. 1. Jahrg. 1907/1908. 52 Nummern. 
München, Bayerische Druckerei u. Verlagsanstalt. 4. Je M. 0,25. 


Allemand, L&on, Les souffrances des juifs en Russie et le devoir des États 
civilisés. (Thèse refusce par la Faculté de Droit de Paris.) Paris, Édouard Cornély 
et C", 1907. 8. XXIX—228 pag. fr. 3.—. 

Année, La première, de la révolution russe. Résumé des événements jour par 
jour du 22 octobre 1905 au 30 octobre 1906. Paris, Librairie Stock, 1906. 8. 109 pag. 
fr. 0,60. (N° 11 des Publications périodiques de la Société des amis du peuple russe.) 

Constantin, A. (Capitaine), Le rôle sociologique de la guerre et le sentiment 
national. Suivi de la guerre, moyen de sélection collective, par S. R. Steinmetz. Traduit 
de l’allemand par le Cap. Constantin, avec l'autorisation de l'auteur. Paris, Félix Alcan, 
1907. 8. 291 pag. fr. 6.—. (Bibliothèque scientifique internationale. CVIII.) 

Crouzet, Paul, Pour et contre le Baccalauréat. Paris, Colin, 1907. 8. fr. 1,50. 

Tardieu, André, La Conférence d’Algesiras. Histoire diplomatique de la crise 
marocaine 15 Janvier—7 Avril 1906. Paris, Félix Alcan, 1907. 8. III—554 pag. 
fr. 10.—. (Bibliothèque d’histoire contemporaine.) 


Die periodische Presse des Auslandes. 


A. Frankreich. 

Annales des Sciences Politiques. XXII’ année, 1907, I, janvier: Le commerce 
britannique en temps de guerre, par H.-R. Savary. — Le cadastre et les livres fonciers, 
par J. de la Chaise. — Les vieissitudes du peuple allemand (1848—1870), par Paul 
Matter. — Chronique des questions industrielles (1906), par D. Bellet. — ete. — II, mars: , 
Questions ouvriöres et industrielles en France depuis 1870, par Émile Levasseur. — 
Le parti du centre en Allemagne et les élections de janvier-février 1907, par G. Isam- 
bert. — Les débuts de l’expansion coloniale de la France moderne, par Paul Lavagne. 
— Chronique des questions ouvrières (1906), par O. Festy. — ete. 

Bulletin de Statistique et de Législation comparée. XXXI’ année, 1907, février: 
Le sucrage des vins avant la fermentation. — Les opérations de la Banque de France 
en 1906. — ete. x 

Journal des Feonomistes. 66° Année, 1907, mars: Thöorie de l’&volution, par 


G. de Molinari. — Le rachat des chemins de fer, par Georges de Nouvion. — L’impöt 
sur le revenu et liberté individuelle, par Albert Revillon. — Correspondance: contrat 
économique et contrat politique, par P. Aubry, Joseph Nipour; réponses par Rouxel. 
— etc. 

Réforme Sociale, La. XXVI" année, N° 30, 16 mars 1907: Le Play et le christia- 
nisme, par P. Imbart de la Tour. — Une enquête sur la Belgique, par Louis Rivière. 
— L'école de la paix sociale: sa vie, ses oeuvres, par F. Auburtin. — ete. — N° 31, 
1” avril 1907: Les institutions locales de l’Angleterre, I, autrefois, par F. Auburtin. — 
Études de vie rurale: un bon placement, par Victorin Vidal. — La Société pour las- 


sistance paternelle aux enfants employés dans les industries des fleurs et des plumes, 


Die periodische Presse des Auslandes. TII 


par André Vovard. — Le problème des habitations ouvrières à Venise, par F. Lepelletier. 
— ete. 

Revue générale d'administration. XXX° année, 1907, février: Sur la condition 
juridique du fonctionnaire, par G. Demartial. — Le domaine des hospices de Paris 
depuis la Révolution (suite), par Amédée Bonde. — ete. 

Revue d’Economie Politique. 21° Année, 1907, N° 3, Mars: La progression des 


grèves en France et sa valeur symptomatique, par Charles Rist. — Les castes et la vie 
économique (suite), par C. Bouglé. — Une nouvelle application de la coopération de 
production en agriculture, par Joseph Hitier. — ete. 

Revue internationale de Sociologie. XV° Année, 1907, N° 2, Février: La méthode- 
d’enseignement en économie politique, par Emile Worms. — Le bonheur comme phéno 
mène social, par Gabriel Prévost. — Séance de la Société de Sociologie de Paris du 


7 janvier 1907 : Les types professionnels: le magistrat. Communication de Léon Philippe. 
Observations de P. Bertulus, Ch. Limousin, L. Tanon, René Worms, Oscar d’Araujo, 
Paul Vibert, Ch. Valentino, H. Monin. — ete. 


B. England. 
Century, The Nineteenth, and after. No. 362, April 1907: Egypt to-day, by Sir 
Auckland Colvin. — A colonial study of London civilisation, by Mrs. Grossmann. — 


Women and politics: a rejoinder, (1) by Caroline E. Stephen, (2) by Mrs. Chapman. 
— etc. 

Journal of the Institute of Actuaries. Vol. XLI, 1907, Part II, April: Further 
notes on some legal aspects of life assurance practice, by Arthur Rhys Barrand. — An 
investigation into the mortality among Scandinavian Emigrants to the Congo, by Paul 
Bergholm. — ete. 

Journal, The Economic. No. 65, March, 1907: The congress of The Royal Eco- 


nomic Society, by F. Y. Edgeworth. — The social possibilities of economic chivalry, by 
(Prof.) Alfred Marshall. — Land value taxation and the use of land, by Charles Tre- 
velyan. — The proposed relief of buildings from local rates, by Edwin Cannan. — 
India’s present monetary condition, by * * *. — Cotton supplies, by (Prof.) S. J. Chap- 
man & J. Mc Farlane. — Labour exchanges and the unemployed, by W. H. Beveridge. 
— ete. 


Review, The Contemporary. No. 496, April, 1907: Liberal colonial policy, by 
E. T. Cook. — The investments of the masses, by Jesse Quail. — ete. 
Review, The National. No. 290, April, 1907: Some reflections on the coming 


conference, by Viscount Milner. — Time and the contract, a foreword to the colonial 
conference, by J. L. Garvin. — Extracts from a diary in Morocco, by Mrs. Gerard 
Lowther. — The germanisation of the Poles, by M. Beer. — Japan in Manchuria, by 


Dalni Vostock. — ete. 


C. Oesterreich. 


Handels-Museum, Das. Herausgeg. vom k. k. österr. Handels-Museum. Bd. 22, 
1907, Nr. 11: Die künstlichen Düngematerialien, II, von (Prof.) S. Feitler. — ete. — 


Nr. 12: Englands Außenhandel. — ete. — Nr. 13: Verpackung und Zollbehandlung 
im Uebersee-Export. — Das internationale Exportgeschäft. — ete. — Nr. 14. 15: Die 
Enquete über das kommerzielle Unterrichtswesen, I. II, von Schmid. — Unruhen und 
Geschäftsverhältnisse in Rumänien. — ete. 


Mitteilungen des k. k. Finanzministeriums. Redigiert im Präsidialbureau des 
k. k. Finanzministeriums. Jahrg. XII, 1906, Heft 3, ausg. im Dezember 1906: Ergeb- 
nisse der Verzehrungssteuer in der österreichisch-ungarischen Monarchie sowie in Bosnien 
und der Herzegowina im Jahre 1903. — Darstellung der Besteuerungsgrundlage der 
Aktiengesellschaften, Kommanditgesellschaften auf Aktien und Gewerkschaften. — Statistik 
über die Erwerbssteuer von den der öffentlichen Rechnungslegung unterworfenen Unter- 
nehmungen für die Jahre 1903 und 1904. — Statistik über die auf die direkten Steuern 
in den Jahren 1903 und 1904 für diese Jahre umgelegten Zuschläge. — ete. 

Monatsschrift, Statistische. Herausgeg. von der k. k. Statistischen Zentral- 
Kommission. Neue Folge, Jahrg. XII, 1907, Februar-Heft: Die Methoden der medi- 
zinischen Statistik, von Ferdinand Winkler (Wien). — Oesterreichs Sparkassen im Jahre 
1905, von H. Ehrenberger. — Aufnahmen in den Staatsverband der im Reichsrate ver- 
tretenen Königreiche und Länder und Entlassungen aus demselben in den Jahren 1901 
—1905, von Adalbert Rom. — Der Verkehr auf den österreichischen Binnenwasser- 


718 Die periodische Presse des Auslandes. ` 


straßen und dessen Bedeutung für den Inlandsverkehr und den Außenhandel, von Ru- 
dolf Kriekl. — ete. 

Rundschau, Soziale. Herausgeg. vom k. k. Arbeitsstatistischen Amte im Handels- 
ministerium. Jahrg. VIH, 1907, Februarheft: Kollektive Arbeitsverträge in Oesterreich 
im Jahre 1906. — Arbeitsverhältnisse bei den österreichischen Haupt- und Lokalbahnen 
im Jahre 1905. — Die Arbeitslosenversicherung in Straßburg i. E. — Gesetzentwürfe, 
betreffend die Kranken- und Unfallversicherung in der Schweiz. — Sozialpolitische Ge- 
setze und Verordnungen aus der XVII. Reichsratssession. — ete. 

Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung. Organ der Ge- 
sellschaft österreichischer Volkswirte. Bd. XVI, 1907, Heft 1: Zur neuesten Literatur 
über Kapital und Kapitalzins (Forts. u. Schluß), von Eugen v. Böhm-Bawerk. — Ueber 
österreichisches Bankwesen, von Karl Morawitz. -— Eine Darstellung der Belastung durch 
eine Einkommensteuer, von Richard Lieben. — Die Statistik der österreichisch-ungarischen 
und polnischen Auswanderung nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika, von 
Leopold Caro. — Das Naphtagesetz, von Siegmund Grünberg. 


F. Italien. 


Giornale degli Economisti. Serie seconda, Anno XVIII, Gennaio 1907: Sull’ inter- 
pretazione e comparazione di seriazioni di redditi o di patrimoni, di Costantino Bres- 
ciani. — D’ inesistenza di plus-valore nel lavoro e la fonte del profitto, di (Prof.) Emilio 
Cossa. — La tensione monetaria in Europa, negli Stati Uniti d’America e l’organizzazione 
delle banche, di U. Spillmann. — Il fenomeno migratorio e intervento dello stato, di 
G. Montemartini. — etc. 

Rivista Italiana di Sociologia. Anno XI, 1907, fasc. I, Gennaio-Febbraio: La 
concezione naturalistica dell’ universo e la sociologia, di L. Gumplowiez. — Tendenze 
socialistiche nella Persia del medio evo, di I. Pizzi. — Lotta di classe e pensiero 
moderno, di M. A. Vaccaro. — La forza di attrazione delle grandi città, di G. Mor- 
tara. — Intorno alla popolazione del Piemonte nel secolo XVII, di G. Prato. — ete. 

/ 


G. Holland. 

Economist, De, opgericht door J. L. de Bruyn Kops. LVI® jaarg., 1907, Maart: 
Rotterdam’s Gemeenteschuld, door C. van Dorp. — De Geldmarkt op het einde van 
1906, door G. M. Boissevain. — „Pro en Contra“, Vrijhandel, door A. Heringa. — ete. 

H. Schweiz. 
Blätter, Schweizerische, für Wirtschafts- und Sozialpolitik. Jahrg. XV, 1907, 


Heft 1: Patentschutz für Heilmittel in der Schweiz, von Paul Ruben (Bern). — Ueber- 
sicht über die Feuerversicherung der Gebäude, sowie des Mobiliars in der Schweiz und 
im Auslande, von (Groß-R.) Kurt Demme (Bern). — etc. 


Monatschrift für christliche Sozialreform. Jahrg. 29, 1907, März: Einfache 
oder komplizierte Wirtschaftsordnung? Eine Studie über Mittelstandspolitik, von F. Norikus 


(Kaiserslautern). — Die III. deutsche Kunstgewerbeausstellung Dresden 1906 und ihre 
soziale Bedeutung, von H. Rodewald (München). [Forts.] — Zur Wirtschaftsgeschichte 
des Kongostaates, von Max Büchler (ehem. Justizbeamten im Kasai-Distrikt). — ete. 


J. Belgien. 


Revue Économique internationale. 4° Année, 1907, Vol. I, N. 3, Mars: La régle- 
mentation de la distribution du revenu par la politique économique, par Eugene 
Philippovich von Philippsberg. — De quoi se compose le commerce extérieur de la 
Belgique? Par Armand Julin. — Les ouvriers étrangers dans l’agrieulture française, 
par Maurice Lair. — L/’orientation nouvelle des régies communales, par Ernest Brees. — 
Note sur le caoutchouc, par Émile Levasseur. — Le budget de l’Empire allemand et 
les dernitres réformes financières, par Jules Wathelet. — Les voies de la colonisation 
allemande, par A. Aupetit. — etc. 


g M. Amerika. 

Annals, The, of the American Academy of Political and Social Science. Vol. 
XXIX, No. 1, January, 1907: Child labor: The awakening of the South against child 
labor, by A. J. MeKelway. — The extent of child labor in the anthracite coal industry, 
by Owen R. Lovejoy. — The enforcement of child labor legislation in Ilinois, by Ed- 
gar T. Davies. — Child labor and the nation, by Albert J. Beveridge. — Reports from 
state and local child labor committees and consumers’ leagues. — ete. 


Die periodische Presse Deutschlands. 719 


Journal, The Quarterly, of Economics. Published for Harvard University, 
Boston. Vol. XXI, 1907, No. 2, February : The taxation of corporations in Massachusetts, 
by Charles J. Bullock. — Capital and interest once more: II, a relapse to the producti- 


vity theory, by E. Böhm-Bawerk. — Constant and variable railroad expenditures and 
the distance tariff, by M. O. Lorenz. — The socialist economies of Karl Marx and his 
followers, II, by Thorstein Veblen. — Labor organization and labor polities, 1827—37, 
by John R. Commons. — etc. 


Political Science Quarterly. Edited by the faculty of political science of 
Columbia University. Vol. XXII, 1907, Number I, March: British colonial policy, 
1754—1765, by George L. Beer. — The alien contract labor law, by Samuel P. Orth. — 
The variability of wages, by Henry L. Moore. — Inflation and prices, by Ernest Ho- 
ward. — The concentration of German banking, by H. A. Schumacher. — The Philip- 
pines and the Filipinos: a reply, by H. Parker Willis; a rejoinder, by James A. Le 
Roy. — ete. 

7 Review, The Yale. A quarterly journal for the scientific discussion of economic, 
political, and social questions. Vol. XV, n° 3, November, 1906: The feeding of school 
children, by C. S. Loch. — An American state-owned railroad by Ulrich B. Phillips. — 


The depreciation of gold, by J. Pease Norton. — ete. — n° 4, February, 1907: 
A German solution of the slaughter-house problem, by Robert C. Brooks. — Industrial 
arbitration in New York State, by George Gorham Groat. — ete. 


Die periodische Presse Deutschlands. 


Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft. 
Jahrg. 40, 1907, Nr. 3: Die Gewinnbeteiligung der Arbeiter in Deutschland, von W. 
Heissner (Berlin). [Schluß.] — Der Außenhandel Japans, von (Prof.) Karl Theodor 
von Eheberg. — Die Verkehrsverhältnisse der deutschen Binnenschiffahrt, von Hermann 
Röder (Berlin-Schöneberg). — ete. 

Blätter, Volkswirtschaftliche. Jahrg. VI, 1907, Nr. 6: Der Unternehmer und 


seine Stellung in der heutigen Wirtschaftsordnung, von (Prof.) Brentano. — Einige Ge- 
danken über volks- und privatwirtschaftliche Praxis und Wissenschaft, von J. Wernicke 
(Berlin). — Das Rentabilitätsproblem in der Bevölkerungsfrage, von (M. d. R.) Heinz 


Potthoff (Düsseldorf). — ete. — Nr. 7: Das Wahlverfahren der preußischen Handels- 
kammer, von M. Kandt (Bromberg). — Handelskammern und Zweckverbände, von (M. d. R.) 
Heinz Potthoff. — Die amtlichen Organe (Mitteilungen) der Handelskammern, von 
Gottfr. Leuckfeld (Halensee, Berlin). — Die Handelskammern und ein Jahrbuch der 
deutschen - Volkswirtschaft, von Rud. Dietrich (Höchst a. M.). — Die Abänderung des 
Pensionsstatutes für die Beamten der Wiener Handels- und Gewerbekammer, von G. 
Schwalenberg (Dessau). — etc. 

Export. Jahrg. XXIX, Nr. 12: Die afrikanischen Eisenbahnen. — Die Lage 
in Guatemala, eine Warnung für das deutsche Kapital. — ete. — Nr. 13: Wirtschafts- 
bericht aus Rumänien. — Die afrikanischen Eisenbahnen. (Forts.) — ete. — Nr. 14: 
Brasiliens auswärtiger Handel, von Carl Bolle. — Die afrikanischen Eisenbahnen. (Forts.) 
— ete. — Nr. 15: Die afrikanischen Eisenbahnen. (Forts.) — ete. — Nr. 16: Die 
Flüssigmachung der Bankmittel und die Geldnot. — Die afrikanischen Eisenbahnen. 
(Forts.) — ete. 

Jahrbücher, Preußische. Bd. 128, Heft 1, April 1907: Die Volksschule im 
System des Staatsrechts, von Johannes Kretzschmar (Leipzig). — Amerikanisches und 
deutsches Verfassungsleben, von Wolfgang Max Schultz (Chicago). — Die Eisenbahn- 
Betriebsmittelgemeinschaft, von R. v. Kienitz (Posen). — ete. 

Industrie-Zeitung, Deutsche. Jahrg. XXVI, 1907, Nr. 12. 13: Zur Berufs- 
und Betriebszählung im Jahre 1907, von Arnold Steinmann-Bucher. — ete. — Nr. 14: 
Die Denkschrift über die Versicherung der Privatbeamten. — ete. — Nr. 15: Die Groß- 
banken im Jahre 1906, von Steinmann-Bucher. — Die britische Kolonialkonferenz, von 
Georg Koch. — ete. 

Mitteilungen des Handelsvertragsvereins. (Jahrg. 6.) 1907, N" 5: Wirtschafts- 
politische Aussichten im neuen Reichstage, von Rud. Breitscheid. — Einzelvertrüge oder 
Unionsverträge? Von P. Wangemann. — Ueble Erfahrungen bei der Rechtsverfolgung 
im Auslande, von Borgius. — ete. — N" 6: Die Zollbelastung in England und Deutsch- 


720 Die periodische Presse Deutschlands. 


land, von (M. d. R.) Georg Gothein, — ete. — N" 7: Der Stand des Kampfes um die 
Schiffahrtsabgaben, von Rud. Breitscheid. — Das Seebeuterecht, von Rud. Breitscheid. 


— etc. 
Monats-Hefte, Sozialistische. Jahrg. XIII, 1907, April: Agrarkrisis, Industrie 
und Industriearbeiter, von Max Schippel. — Das zweite russische Parlament, von Roman 


Streltzow. — Die gegenwärtige Lage des amerikanischen Sozialismus, von Morris Hill- 
quit. — Frauenfrage und Kultur, von Ernst Schur. — ete, 

Oekonomist, Der Deutsche. Jahrg. XXV, 1907, No. 1265: Vom volkswirt- 
schaftlichen Wert des Exporthandels, von Philipp Stauff. — ete. — No. 1266: Depo- 
sitenbankwesen in Amerika und Deutschland. — ete. — No. 1267: Für ein Scheck- 
gesetz! Von F. Maeder (Iserlohn). — ete. — No. 1268: Das Schicksal der Börsengesetz- 
reform. — etc. 

Plutus. Jahr 4, 1907, Heft 12: Kalikämpfe, von G. B. — ete. — Heft 13: 
Unsere Großbanken, von G. B. — ete. — Heft 14: Kalifriede, von (Bankier) Emil 


Wechsler (Berlin). — Trust oder Kartell? I: Der Anlaß zum Streit, von G. B. — ete. 
— Heft 15: Trust oder Kartell? II: Etwas über Nützlichkeit und Schwierigkeit der 
Definitionen, von G. B. — Rechtswissenschaft und Gerichtspraxis, von (Rechtsanwalt) 


Max Alsberg (Berlin). — ete. — Heft 16: Die Spezialisierung auf Handelshochschulen, 
von F. R. Krossing (Berlin). — ete. 

Rechtsschutz, Gewerblicher, und Urheberrecht. Jahrg. 12, 1907, Nr. 3, März: 
Zeichen- und Musterschutz, von Jos. Schlossmacher (Frankfurt a. M.). — Preisschleuderei, 
von (Rechtsanwalt) Ludwig Fuld (Mainz). — ete. 

Revue, Deutsche. Jahrg. 32, 1907, April: Abessinien, von Graf Eduard Wicken- 
burg. [Schluß.] — ete. 

Revue, Politisch-Anthropologische. Jahrg. VI, N" 1, April 1907: Ludwig Wolt- 
mann. Die Persönlichkeit und ihr Werk, von Raoul Richter. — Ludwig Woltmann, 
ein Bahnbrecher der Sozialanthropologie, von G. de Lapouge. — Ludwig Woltmanns 
Beziehungen zur Sozialdemokratie, von Ed. Berustein. — cte. 

Wirtschafts-Zeitung, Deutsche. Jahrg. III, 1907, Nr. 7: Die Haftung des 
Staates für die Beamten, von (Prof.) Stier-Somlo. — Der Entwurf einer neuen Eisen- 
bahn-Verkehrsordnung und die Wünsche der Verkehrsinteressenten, von (Geh. Reg.-R.) 
K. Stieler (Berlin). — Reform des Wechselprotestes, von Wilh. Bernstein (Berlin). — 
ete. — Nr. 8: Für ein Scheckgesetz! Von F. Thorwart (Frankfurt a. M.). — Die Mittel 
zur Bekämpfung der Geldnot, von Ludwig Bendix (Berlin). — Praktische Probleme der 
internationalen Handelsstatistik, von Victor Heller (Wien). — Die Entwicklung der 
englischen Baumwoll-Industrie, von (Handelskammersyndikus) Apelt (M. Gladbach). — 
Ein Beitrag zur Frage der Streikklausel, von Walter Abelsdorff (Berlin). — ete. 

Zeit, Die Neue. Jahrg. 25, 1907, N" 25: Die Produktionsverhältnisse der Petrol- 
industrie in Oesterreich, von Pius Julmann (Berlin). — ete. — N’ 26: Die Dumawahlen 
und die Taktik der russischen Sozialdemokratie, von A. Linitsch (Petersburg). — ete 
— N" 27: Positive Leistungen der Sozialdemokratie, ein Beitrag zur Geschichte der 
Gesetzgebung, von Hermann Molkenbuhr. — ete. — N’ 28: Hausindustrie und Heim- 
arbeit in Baden, von A. Weissmann (Karlsruhe). — ete. 

Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Kolonialwirtschaft. Herausgeg. 
von der Deutschen Koloniulgesellschaft. Jahrg. IX, 1907, Heft 3. März: Die südwest- 
afrikanische Entschädigungsfrage, von (Generalmajor z. D.) von Francois. — Die Fort- 
schritte der deutschen Kolonialrechtsliteratur im Jahre 1905, von Friedr. Giese. — 
Koloniale Probleme, von (Prof.) C. Ballod (Berlin). — Die wirtschaftliche Entwicklung 
Australiens, von Erich Prager. 

Zeitschrift für Sozialwissenschaft. Jahrg. X, 1907, Heft 4: Die Verstaatlichungs- 
frage beim Kalibergbau, von (Geh. Ober-Finanz-R.) Georg Strutz. — Der weltwirtschaft- 
liche Ausgleich zwischen Landwirtschaft und Industrie, von 8. Schilder (Wien). — 
Heiratsbeschränkungen, I, von Max Marcuse (Berlin). — Der Sklavenhandel im mittel- 
alterlichen Italien, von Karl Schneider (München). — ete. 


Frommannsche Buchdruckerei (Hermann Pohle) in Jena. 


Otto Schwarzschild, Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 721 


XII. 
Die Grossstadt als Standort der Gewerbe’). 


Mit besonderer Berücksichtigung von Berlin. 
Von 


Otto Schwarzschild. 


Inhalt: I. Einleitung. II. Das Standortproblem. III. Das Wesen der Stadt. 
IV. Die moderne Großstadt. V. Die den Standort bestimmenden Momente in der 
modernen Großstadt, besonders in Berlin. VI. Das gewerbliche Leben Berlins unter dem 
Gesichtspunkte des Standortproblems. VII. Schluß. 


I. Die Großstadt ist ohne Zweifel eines der wichtigsten und 
interessantesten Phänomene unseres Zeitalters; kein zweites, das für 
dessen wirtschaftliche und soziale Eigenart charakteristischer wäre. 
Denn fast alle seine Züge schließt es in sich. Und unsere ganze 
Kultur scheint in zunehmendem Maße großstädtisch zu werden. 

Die heutige Entwickelung ist noch keinem Nachdenklichen als 
etwas durchweg Erfreuliches erschienen. Was ist nicht alles über 
die damit verbundenen sozialen, sittlichen, politischen und hygienischen 
Nachteile geklagt worden! Man denke nur an die Wohnungsnot; 
keineswegs ausschließlich in großen Städten auftretend, erreicht sie 
hier doch schon durch die quantitative Ausdehnung eine besondere 
Dringlichkeit. 

Höchst bedenklich für den ganzen nationalwirtschaftlichen 
Organismus ist die Entvölkerung des platten Landes auf Rechnung 
der Großstädte. So verkennt auch, wer, wie Bücher, der ganzen Ent- 
wickelung sympathisch gegenübersteht, die großen Schattenseiten 
nicht ?). Bei rein theoretischer Betrachtung fällen selbst die, deren 
Lehre unter zusammengeballten Menschenmassen erwuchs und dort 
ihren Nährboden hat, ein absprechendes Urteil: Friedrich Engels 
beklagt aufs bitterste die Zerreißung der Gesellschaft, die den Land- 
bewohner verdumme, den Städter unter sein Einzelhandwerk ge- 
knechtet habe. Der Zukunftsstaat soll wieder Stadt- und Landleben 
zu harmonischer Einheit verschmelzen — ein Gedanke, der in vielen 
Utopien wiederkehrt). Wie aber verläuft die Entwickelung der 
Wirklichkeit? Am Beginn des 19. Jahrhunderts gab es im Gebiete 
des heutigen Deutschen Reiches zwei Großstädte, mit zusammen 
372000 Einwohnern t), am Ende des Jahrhunderts waren es 33, auf 


1) Berliner Dissertation von 1906. 

2) Vergl. „Die wirtschaftlichen Aufgaben der modernen Stadtgemeinde“, Leipzig 1898. 

3) „Herrn Eugen Dührings Umwälzung u. s. w.“, S. 277 ff. vergl. Vandelvelde, 
„Die Rückkehr nach dem Lande“ im Archiv f. Sozialwissenschaften, 1903. So noch in 
der jüngsten: Anatole France „Sur la pierre blanche“, Paris 1905. 

4) Paul Meuriot, „Des agglomerations urbaines dans l’Europe contemporaine“, Paris 
1907, S. 169. 


Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIII). 46 


722 Otto Schwarzschild, 


die 9120280 Einwohner, das sind 16,2 Proz. der Bevölkerung, ent- 
fielen. In den übrigen Gebieten europäischer Kultur ist es nicht 
anders. Wird sich die Amassierung immer größerer Bruchteile der 
Bevölkerung weiter und weiter fortsetzen? Es ist undankbar zu 
prophezeien; allein, wo sich die Tendenzen der Entwickelung 
herausschälen und erkennen lassen, immerhin möglich, ein Urteil 
über deren Tragweite abzugeben. 

Eine gewisse Dezentralisation vollzog sich in der Bildung der 
Villenvororte; doch ist dies nur ein innenstädtischer Vorgang, nur 
eine Auflockerung des engen Gefüges an den Grenzen; die Macht 
der Stadt wird dadurch nicht beschränkt, sondern ausgedehnt. Auch 
findet die Entwickelung bald ihre Grenzen und kommt nur einem 
Teil der Bevölkerung zu gute. 

Nun ist in neuester Zeit in wachsendem Maße der Auszug ge- 
werblicher Betriebe, oft ganzer Industrien aus der Großstadu fest- 
gestellt worden. Man hat an diese Erscheinung vielfach die weitest 
gehenden Hoffnungen geknüpft: Sollte nicht mit dem Erlöschen der 
Anziehungskraft großer Agglomerationen auf die Industrie ein er- 
heblicher Faktor ihres hypertrophischen Anwachsens ausgeschaltet 
sein? — 

Waentig macht auf ein Zurückbleiben zwar nicht des Bevölke- 
rungszuwachses, wohl aber der Zunahme der industriellen Eta- 
blissements, deren Arbeiter und der Produktwertsumme in den 
100 größten Städten der Vereinigten Staaten gegenüber der des ganzen 
Landes von 1890 bis 1900 aufmerksam — eine Tatsache, welche 
das amerikanische Zählwerk selbst hauptsächlich auf die Verlegung 
industrieller Betriebe zurückführt ). Die preußische Statistik weist 
auf das prozentuell stärkere Wachstum der Landgemeinden gegen- 
über den Städten in demselben Zeitraum hin und glaubt daraus ent- 
nehmen zu können, daß zwar auch heute noch die ganz überwiegend 
auf der industriellen Bevölkerung beruhende starke Zunahme der 
Städte anhalte, sich aber „sehr viel schneller“ eine Rückwanderung 
der städtischen Industrie nach dem platten Lande vollziehe?). Der 
belgische Sozialist Emile Vandevelde behandelt ausführlich die „Rück- 
kehr nach dem Lande“ in seiner Heimat 3). 


Der amerikanische Statistiker A. F. Weber sagt: „The centrali- 
zation of manufacturing system has reached its limits“ 4), und ähnlich 
spricht Hobson in seinem Buche „The evolution of capitalism“ *) 
von der „decentralisation of manufacturing system“. Weit übers 
Ziel hinaus schießen vielfach die Hoffnungen der Freunde der 


1) In „Die Großstadt“, Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung in Dresden 1903. 

2) Zeitschrift des Kgl. Preuß. Statist. Bureaus, Jahrg. 1901, S. XXIX. Ueber 
dieses oberflächliche Urteil s. u. 8. 782. 

3) „Die Rückkehr nach dem Lande“, im Archiv f. Sozialwissenschaft 1903, auch 
„Essais zur la question agraire en Belgique“, Paris 1902, 

4) Adua Ferrin Weber „The growth of the cities in the XIX. century“, New York 
1899, S. 202 ff. 

5) London 1899, S. 345 ff. 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 723 


„Landindustrie“, wie sie z. B. in einem Artikel von Thiess in der 
Zeitschrift gleichen Namens zu Tage traten. Am besten orientieren 
wohl Sombarts Ausführungen im „Modernen Kapitalismus“ !). Ihr 
Vorzug ist, es die Frage des Augenblicks in den Zusammenhang des 
umfassenden Problems gestellt zu haben, wie denn überhaupt die 
Großstadt zum Standort der Gewerbe tauge. 

Es lohnt wohl der Mühe, darauf einmal näher einzugehen, den 
Versuch zu machen, schlechthin festzustellen, welche Kräfte die 
Industrie an die große Stadt fesseln, welche sie von dort vertreiben 
können. Das Auge wird so auf den werdenden Prozeß der „Ent- 
industrialisierung“ richtig eingestellt, indem es ihn als eine Einzel- 
phase der allgemeinen Entwickelung ergreift; — dann aber kann 
auch die Funktion, welche die Großstadt innerhalb des volkswirt- 
schaftlichen Organismus als Erzeugerin gewerblicher Produkte spielt, 
näher bestimmt werden, und eine der wichtigsten Tatsachen, der 
räumlichen Anordnung der Industrie wird verständlich. 

Es ist nur auf die modernen Großstädte abgesehen, da sowohl 
das Städtewesen wie die ganze wirtschaftliche Struktur anderer 
Zeiten zu verschieden sind. 

II. Da bedarf es zunächst einer Untersuchung, welche Momente 
für die Ansiedelung eines Gewerbes überhaupt in Betracht kommen. 

Das bedeutet ganz allgemein die Erörterung des Standortproblems 
für die stoffveredelnde Tätigkeit. Sombart hat nun, nachdem er die 
allgemeine Frage aufgeworfen, es dennoch unterlassen, sie genauer 
zu bestimmen, und kommt daher für den Einzelfall zu einem, 
mindestens sehr einseitigen, Ergebnis. Er sagt freilich ausdrücklich, 
es handle sich bei ihm nur um eine Skizze; dann hätte er aber 
auch Schäffle nicht vorwerfen dürfen, seine „feinsinnigen Ausfüh- 
rungen“ seien nicht genug durchdacht. Denn trotz manchem, was 
sich dagegen sagen ließe, bieten diese die umfassendste Behandlung, 
die dem Problem zuteil geworden ist ?). 

Schäffle behandelt es in engem Anschluß an die berühmten 
Ausführungen Thünens in dessen „Isoliertem Staat“, an die man 
überhaupt zu denken pflegt, wenn vom Standorte die Rede ist. Es 
dürfte daher am Platze sein, einmal klarzustellen, um was für ein 
Standortproblem es sich dort handelt und welches andere noch da- 
neben besteht. 

Die Frage, die Thünen beantworten will, ist von der unseren 
wesentlich verschieden. Sein Hauptzweck ist es, die Abfolge der 
Betriebssysteme und ihre Relativität darzulegen. Infolge der Eigen- 
tümlichkeit der Landwirtschaft ist es nun möglich, die zeitliche oder 
besser sachliche Entwickelung dieses Produktionszweiges auf die Fläche 
zu werfen, auf dem Kreisrund des isolierten Staates die Intensifika- 
tionsphase in einer räumlichen Sphäre zu treffen. Denn die landwirt- 
schaftliche Produktion haftet am Boden; sie stellt Produkte von 


1) Bd. 2. 
2) „Das gesellschaftliche System des menschlichen Wirtschaft“, Bd. 3, S. 274 ff. 


46* 


724 Otto Schwarzschild, 


geringem spezifischen Wert her, weshalb die Transportkosten der 
fertigen Erzeugnisse von ausschlaggebender Bedeutung sind. Sie 
zehren in wachsender Entfernung vom Markt immer bedeutendere 
Teile der gesamten Kosten auf, so daß bei einem festen Absatzpreise 
die eigentliche Herstellung immer billiger werden muß. Nun ist 
aber die Intensität des Betriebes im Agrarwesen an die Höhe eben 
der eigentlichen Herstellungskosten der Produkteneinheit gebunden: 
muß man diese proportional zur Entfernung vom Absatzorte immer 
mehr herunterdrücken, so heißt das mit anderen Worten: Die Be- 
triebsintensität nimmt in demselben Verhältnisse ab. 

Im Gewerbewesen liegen diese Dinge alle anders. Die Pro- 
duktion ist beweglich, da sie den Boden nur als Standort, nicht als 
Behälter von Stoffen und Vermittler von Stoffumformungen benutzt. 
Man könnte sie, wenn die Transportkosten eine wesentliche Ver- 
teuerung hervorrufen würden, am Absatzmarkt selbst vor sich gehen 
lassen. Der entfernter liegende Betrieb der die Produkteinheit 
billiger herstellen müßte, würde aber vermutlich gar nicht der exten- 
sivere, sondern der intensivere sein, da ja nicht das Gesetz der 
steigenden, sondern das der sinkenden Kosten herrscht. Schließlich 
aber sind die Transportkosten des fertigen Produktes bei dem 
hohen spezifischen Werte desselben überhaupt so gut wie belanglos !). 

Man sieht, die Thünensche Gleichung müßte nicht nur erheb- 
lich umgestaltet werden, ihre mathematische Methode führt hier ad 
absurdum. Induktive Lehren müssen den Gang der Intensifikation 
des Gewerbewesens darlegen. Mit einer ideellen räumlichen Anord- 
nung fällt er nicht zusammen. 

Uns kommt es aber gar nicht auf eine solche, sondern auf die 
Lage in der Wirklichkeit an. Wenn wir die Großstadt als Standort 
der Gewerbe untersuchen, soll eine Feststellung der Wirtschafts- 
geographie erklärt werden. Ein analoges Problem würde die Klein- 
stadt, der Zwerggütlerdistrikt u. s. w. als Standort der Gewerbe 
bilden und im Agrarwesen das Vorkommen dieser und jener Kultur 
in einem bestimmten Gebiet, wie etwa das des Kaffeebaues in den 
tropischen Republiken Amerikas. Diese Tatsachen, wie sie jedes 
geographische und kaufmännische Handbuch, wie sie aber ‘auch 
Roscher in zusammenhangsloser Massenhaftigkeit vorsetzt?), müssen 
analysiert und zu kausalem Verständnis gebracht werden. Landen 
wir so nicht in geographischen Einzelforschungen ? Wir wären an 
eine fremde Küste verschlagen. Die Geographie hat hier nur als 
Hilfswissenschaft zu dienen. Aber selbst im Gebiete der Urpro- 
duktion, wo der physikalische Faktor die erste Rolle spielt, lassen 
sich derlei Fragen nicht mit ihren Mitteln allein lösen: rein tech- 
nisch ist es keineswegs notwendig, daß in Venezuela und Columbien 
der Kaffeebau dominiert, daß der Boden Altenglands mit Wiesengras 
statt mit Weizen bedeckt ist. Bei aller Produktionstätigkeit handelt 


1) Was die Transportkosten der Rohmaterialen und Halbfabrikate angeht s. S. 735 ff. 
2) Ansichten der Volkswirtschaft aus dem geschichtlichen Standpunkt II, 1. 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 725 


es sich um eine Lenkung der Naturkräfte seitens des Menschen. 
Neben den natürlichen tritt der gesellschaftliche Faktor; er wird 
um so bedeutungsvoller, je unabhängiger sich die Produktion vom 
Boden macht. Da nun auch der Zweck der Produktion überall der- 
selbe ist, so lassen sich von vornherein die Faktoren in abstracto 
feststellen, welche jene konkreten Einzeltatsachen bedingen. 

Der wirtschaftliche Standort ist dort, wo die Lage dem Zweck 
am besten entspricht und zugleich die Mittel am günstigsten dar- 
bietet. Wie Schäffle es ausdrückt, ist er im Gewerbe, wie in der 
Urproduktion „von der örtlichen Gestaltung der Nachfrage und der 
Kosten bedingt“. Bei der Nachfrage ist die örtliche Bedarfsbildung, 
die unmittelbare, wie die durch den Handel gegebene mittelbare zu 
untersuchen. Bei den Kosten unterscheidet Schäffle Fälle vor- 
wiegenden Kapital und vorwiegenden Arbeitsbedarf. Das ist nicht 
klar genug. Zu jeder Produktionstätigkeit sind drei Faktoren not- 
wendig: „die natürlich gegebene räumlich unveränderte Grundlage, 
das Land; die produzierten beweglichen oder doch nach mensch- 
lichem Willen räumlich fixierten Sachgüter, das Kapital; daß diese 
toten Faktoren belebende Element, die Arbeit“ 1). 

Wir haben also zu fragen: Wie sind in einem bestimmten Ge- 
biete diese drei Faktoren vertreten; wie bedarf ihrer das einzelne 
Gewerbe und die einzelne Betriebsform ? 

III. Nach dieser Formulierung der Standortfrage ist das Wesen 
des in Betracht kommenden Gebietes näher ins Auge zu fassen. 

Die moderne Großstadt ist nun nicht eine nur einmal, sondern 
in zahlreichen Einzelfällen vorkommende Erscheinung. Und diese 
Einzelfälle sind von grundsätzlich so gleichartigem Charakter, daß 
ein bestimmter Typus ohne weiteres feststeht. Es ist daher mög- 
lich, die den Standort bedingenden Momente an diesem Typus zu 
untersuchen und damit die Frage für den einzelnen Fall wenigstens 
insoweit zu lösen, als die typischen Züge durch örtliche Zufällig- 
keiten nicht kompliziert und korrigiert werden. 

Um aber das Wesen der modernen Großstadt zu verstehen, 
bedarf es zunächst der Klarheit darüber, was eine Stadt über- 
haupt sei. 

Die Statistik hat sich über die Schwierigkeit, den Begriff zu 
definieren, hinweggesetzt, indem sie nur noch von mehr oder minder 
großen Agglomerationen spricht; von ihrem Standpunkt handelt 
es sich nur um quantitative Verschiedenheiten derselben Erscheinung. 
Kann sich die politische Oekonomie in derselben Weise zufrieden 
geben ? ?) 

Ohne Zweifel liegt auch für sie in der Größe der Siedlung das 
nächste Kriterion; Orte, auf die, wie auf industrielle Dörfer und 


1) Philippovich, Grundriß, I, S. 111. 

2) Adolph Wagner gesteht Grundlegung, I, 2, S. 478 die Unzulänglichkeit des 
statistischen und verwaltungsrechtlichen Begriffes zu und betont demgegenüber „die 
wirtschaftliche und kulturelle lokale Gemeinschaft“. Worin aber besteht diese, wie weit 
erstreckt sie sich ? 


726 Otto Schwarzschild, 


kleine Badeorte im übrigen der Begriff Stadt anzuwenden wäre!), 
nennen wir doch nicht so, weil ihre Bevölkerung zu gering ist. Aber, 
Agglomeration ist eben noch nicht alles. Noch an etwas anderes 
wird gedacht, wenn wir von Städten sprechen. Ohne Zweifel „Stadt“, 
das ist das Gegenteil von Land. Die Stadt stellt ihren Unterhalt 
nicht selbst her, sondern bezieht ihn von draußen. In diesem für 
den Statistiker irrelevanten Bezug von Erzeugnissen der Urproduk- 
tion liegt ein Moment, das allen Siedlungen, auf die es zutrifft, eine 
Eigentümlichkeit verleiht, die sie vor allen anderen grundsätzlich 
kenntlich macht, und in der wir daher das zweite Kriterion des Be- 
griffes Stadt zu sehen haben. 

Als drittes gesellt sich der soziale Zusammenhang der Ein- 
wohnerschaft hinzu, welcher die Stadt z. B. von einem Heerlager 
unterscheidet?). Für uns ist vor allem das zweite von Bedeutung. 
Es drückt bereits etwas Qualitatives und, wenn auch zunächst ganz 
allgemein und bloß negativ die volkswirtschaftliche Funktion der 
Stadt aus: „It is the surplus of the country only... . that con- 
stitutes the subsistance of the town“). Man könnte diesen alten 
Satz, der hier in der von Sombart hervorgehobenen Smithschen 
Formulierung gegeben ist, im Zeitalter des Dampfes, wo die ganze 
Erde zum Unterhaltsgebiete jeder Stadt geworden ist, für eine 
Trivialität halten; er hat sicher nicht mehr die methodologische 
Fruchtbarkeit, wie früher, als Petty und Hume nach ihm die Masi- 
malgröße einer Siedlung zu bestimmen suchten‘). Aber er weist 
auf die Funktion der Stadt innerhalb des gesamten volkswirtschaft- 
lichen Organismus hin, indem sich ganz ungezwungen die Frage an 
ihn schließt: Auf welche Weise, kraft welcher Rechte wird das Ueber- 
schußprodukt bezogen ? 

Hier liegt mehr als eine Möglichkeit vor. Und Roschers An- 
sicht, der Unterschied zwischen Stadt und Land laufe im wesent- 
lichen auf den zwischen Gewerbe und Ackerbau hinaus, ist dem- 
gegenüber viel zu eng). So einfach lagen die Verhältnisse schließ- 
lich nur in der frühmittelalterlichen Stadt, wie sie uns Bücher ge- 
schildert hat. Ihr Wesen macht es aus, der Standort der Gewerbe 
zu sein, soweit sich diese von der Urproduktion getrennt und ver- 
selbständigt hatten; ja, sie ist es in einem so entschiedenen Sinne, 
daß sich die beiden Begriffe für dieses Zeitalter nahezu decken. Aber 
es ist irrig, die Stadt ausschließlich auf gewerblichem Unternehmer- 
gewinn und Arbeitslohn beruhen zu lassen. Sie kann vielmehr auf 
jeder Einkommenart beruhen: auf Grundrente, Kapitalzins, Handels- 
profit, Tribut u. s. w. 


1) Wie aus dem weiteren folgt. 

2) Diese läßt sich demnach definieren als eine relativ große, sozial in sich zu- 
sammenhängende Agglomeration, die ihren Unterhalt aus fremder landwirtschaftlicher 
Produktionstätigkeit bezieht. Den Hinweis auf das Moment des sozialen Zusammen- 
hanges verdanke ich dem Buche von Paul Sander: Feudalstaat und bürgerliche Ver- 
fassung, Berlin 1906. 

3) Adam Smith, „Wealth of nations“, III, 1. 

4) A. F. Weber, S. 458 ff. 

5) System, III, S. 28. 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 727 


Und zwar muß sie diese Einkommen stets als Entgeld für irgend 
welche wirtschaftliche, politische, religiöse Tätigkeit für ein weiteres 
Gebiet beziehen; sei es als Werkstatt für die Bannmeile, als Fabrik 
oder Geldmarkt für einen Erdteil, als fürstliche Residenz, als völki- 
sches Heiligtum; in sich selbst vermag sie nie ökonomische Be- 
friedigung zu finden. — Nun verlangt aber ein großer Teil der 
menschlichen Bedürfnisse nach Sachgütern und persönlichen Diensten 
deren Herstellung und Leistung am Orte des Bedarfes selbst. 


Die Tätigkeiten, welche diesen Zweck verfolgen, sind an das 
Drinnen gebunden, und nur dies kann für sie als Standort in Be- 
tracht kommen. Sie finden ihre Beschäftigung nur im lokalen Be- 
darf, haben nur lokale Bedeutung; wir können sie daher lokal- 
wirtschaftliche Tätigkeiten nennen. Für sie, daher auch 
für die loekalwirtschaftlichen Gewerbe, besteht kein Stand- 
ortproblem, sie können nur dort existieren, wo ihre Produkte, ihre 
Dienste am Platze verlangt werden, denn sie sind ökonomisch ganz 
und gar auf die Klassen angewiesen, die das Ueberschußprodukt des 
Landes an die Stadt ziehen. In dem Rechtsgrund dieses Bezuges 
liegt die volkswirtschaftliche Funktion der Stadt. Mag der lokal- 
wirtschaftliche Teil der Bevölkerung auch der numerisch überwiegende 
sein, es ändert nichts daran, daß er ganz und gar von dem volks- 
wirtschaftlichen abhängig ist; sein Einkommen ist nur eine Quote 
des von draußen hereinfließenden gesamten Stadteinkommens, die 
ihm von jener Klasse abgetreten wird!). Indem so das Wesen des 
in Betracht kommenden Gebietes näher erkannt wird, vereinfacht 
sich von selbst das Problem, für welche Gewerbe es einen Standort 
bietet. Der Umkreis, innerhalb dessen das letztere allein von In- 
teresse ist, beschränkt sich auf die volkswirtschaftlichen Gewerbe. 
Wäre es doch eine Trivialität, noch besonders nachweisen zu wollen, 
daß eine große Agglomeration viele Schuster und Schneider nötig 
hat; — wenn sich aber die Bewohnerin entfernter Erdteile in Paris 
ihre Kleider machen läßt, lohnt es der Mühe, zu fragen, weshalb die 
Schneiderei als ein volks-, besser weltwirtschaftliches Gewerbe dort 
ihren Standort hat. 


Wenden wir uns nun der konkreten historischen Entwickelung 
zu, so fragt es sich, ob die mittelalterliche Stadt Standort der Ge- 
werbe geblieben ist. Für die Bannmeile konnte sie es jedenfalls 
nicht mehr sein. Denn die kleinen Wirtschaftsorganismen werden 
gesprengt: das stadtwirtschaftliche System ward durch die Wirtschaft 
eines konsolidierten Staates ersetzt; damit tritt, wie Bücher sagt, 
„an Stelle der lokalen Arbeitsteilung der autonom wirtschaftenden 
Stadtgebiete eine nationale Arbeitsteilung, welche allen Produktions- 
zweigen denjenigen Standort anzuweisen strebt, wo die Bedingungen 


1) Man vergegenwärtige sich das an einem konkreten Beispiel. Ein Konsumtions- 
zentrum, wie etwa Wiesbaden, beruht auf den Renten, die von draußen bezogen werden 
und auf den Gewinnen der Fremdenindustrie; verschwände der diese Einkommen be- 
ziehende Teil der Bevölkerung, könnte der verbleibende nicht weiter existieren. — 
Städtische Grundrente z. B. würde sich nicht bilden. 


728 Otto Schwarzschild, 


für ihr Gedeihen am günstigsten sind“ 1). Jetzt kommt es also darauf 
an, wo innerhalb des ganzen Staatsgebietes der vorteilhafteste Platz 
für dieses oder jenes Gewerbe ist. Daher wird erst mit der Ent- 
stehung einer eigentlichen Staats- und Volkswirtschaft die Standort- 
frage zu einem wirklichen Problem, das dann für ihre organische 
Zusammensetzung von höchster Bedeutung ist. 

Es soll uns hier nicht in seinem ganzen Umfange beschäftigen. 
Nur inwiefern die große Agglomeration als solche Bedingungen 
schaffe, welche der Niederlassung volkswirtschaftlicher Gewerbe- 
betriebe günstig oder ungünstig sind, ist zu untersuchen. Dabei 
wird auch die umgekehrte Frage, wie die auf irgend einem anderen 
Grunde beruhende Konzentration der Industrie ihrerseits eine Groß- 
stadt hervorzurufen im stande sei, ausgeschaltet. Diese Herauslösung 
des Problems geschieht keineswegs aus einem rein theoretischen 
Interesse. Die großen Mittelpunkte des Landes, die Handelsmetro- 
polen und großen Verkehrszentren verdanken gewiß ihre Bedeutung 
zum guten Teil ihrem gewerblichen Leben, aber das Vorhandensein 
eines Zentralpunktes und einer Bevölkerung von gewisser Größe ist 
dennoch zeitlich und auch sachlich das Primäre. Die rein durch 
die örtliche Konzentration der Industrie entstandenen Städte nehmen 
dazu bei weiterem Wachstum die typischen Züge jener eigentlichen 
Großstädte an, die Industrie hat daher auch hier bei ihrer Nieder- 
lassung auf die eigentümlichen Bedingungen Rücksicht zu nehmen, 
welche ohne weiteres durch eine zahlreiche amassierte Bevölkerung 
gegeben sind. Wie die letztere an sich auf die Industrie wirkt, läßt 
sich daher um so unbefangener ermitteln, je größer die Siedlung ist °). 

Die modernen Großstädte sind nun ursprünglich Konsumtions- 
zentren und Handelsstädte: Grund- und Kapitalrente, Handels- und 
Bankprofite ermöglichen ihnen den Bezug des ländlichen Ueberschuß- 
produktes. Die großen Nationalökonomen des 18. Jahrhunderts, auf 
die Sombart in beredten Worten zurückweist®), haben uns ein Bild 
der Großstadt in ihren Anfangsstadien gezeichnet. Es ist der „Wohn- 
sitz der Verzehrer“, derjenigen, „die da wohnen können, wo es ihnen 
beliebt“ $), zunächst der Regierung und der Grundrentner. 

Dieser Stadttypus hat eine lebhafte Anziehungskraft auf die ver- 
schiedenen Industrien ausgeübt, ohne seine grundsätzliche Eigenart 
im wesentlichen zu ändern. 

Für den Beginn des Eisenbahnzeitalters, in dem das am deut- 
lichsten bemerkbar wird, liegt z. B. die Schätzung vor, daß sich von 
1816 bis 1847 die Fabrikarbeiterschaft in Berlin um 170,41 Proz. 
stärker vermehrt habe, als die gesamte Bevölkerung’). Der äußere 
Charakter der Stadt änderte sich in einer Weise, daß die Meinung 


1) Bücher, Art. Gewerbe im Handwörterbuch der Staatswissenschaften. 

2) „ ... it is not so much manufacturing industry as commerce that builds up 
great cities.“ A. F. Weber, S. 404. 

3) Mod. Kap. II, S. 196ff. 

4) James Stewart „Grundsäze“ Stuttgart 1769, S. 62 ff. 

5) Kommunalblatt des Magistrats von 1860, zit. Hirschberg. „Die soziale Lage 
der arbeitenden Klassen in Berlin, Berlin 1897, S. 6. 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 729 


entstehen konnte, ihre Bedeutung und ihr Wachstum beruhe auf der 
großen Industrie. Diese Ansicht wird beispielsweise für Berlin 1868 
von Engel!) vertreten. Engel, der den Unterschied zwischen „vor- 
herrschend für den örtlichen Bedarf beschäftigten Gewerbetreibenden“ 
und „vorherrschend für den Großhandel beschäftigten Gewerbs- 
anstalten“ macht, berechnet die Zahl der ersteren auf 

69 186 
gegenüber 43 584 
beschäftigten Personen in der zweiten Kategorie. 

Die sich sogleich an diese Berechnung anschließende Behauptung, 
„sonach“ sei Berlin im wesentlichen eine Industriestadt und „ihr 
rapides Wachstum eine Folge dieser Eigenschaft“, können wir an der 
Hand der Engelschen Zahlen selbst mit Sombart als „entschieden 
falsch“ bezeichnen. — Wie ursprünglich die moderne Großstadt ein 
selbständiges Gebilde ist, so ist sie dies auch trotz des lebhaften 
Zuzugs der Industrien bis heute geblieben. Die Grundrentner spielen 
nicht mehr die Rolle wie früher. Aber der wachsende Machtbereich 
des Staates macht die Hauptstädte zu immer wichtigeren Organen 
des gesamten nationalen Lebens; das moderne Verkehrswesen fand 
in den Zentren des Landes seine natürlichen Ausgangspunkte; das 
Bankwesen der Großstädte erlangte das Uebergewicht innerhalb der 
ganzen Volkswirtschaft. 

Heute, wie einst, ist die Großstadt nicht auf das Vorhandensein 
großer Industrien angewiesen. Daß solche, sind sie einmal da, einen 
bedeutenden Einfluß auf innere und äußere Gestalt der Siedlung 
ausüben, soll gewiß nicht bestritten werden. Vorerst aber handelt 
es sich darum, wie sie überhaupt hinkommen, weshalb, inwieweit 
sie sich dort halten. Diese Frage wird durch die oben geäußerten 
Ansichten über die „Entindustrialisierung“ der Großstadt besonders 
interessant. Sombart führt aus, daß hauptsächlich aus folgenden 
Gründen die große Stadt dem gewerblichen Unternehmer als Stand- 
ort günstig erscheine: 

1) wegen der Nähe der Handels- und Kreditunternehmungen; 

2) wegen der Sicherheit, hochqualifizierte Arbeiter (oder über- 
haupt Arbeiter in genügender Menge) am Platze zu finden; 

3) wegen der Nähe wissenschaftlicher und technischer Hilfskräfte ; 

4) wegen des Angebots besonders billiger Arbeitskräfte. 

Aber infolge der „zunehmenden Intensität der kapitalistischen 
Wirtschaftsweise‘“ seien diese günstigen Bedingungen nicht mehr 
städtisches Monopol, andererseits mache sich mehr und mehr un- 
günstig bemerkbar „die Verteuerung des Standortes in den größten 
Städten . . . . infolge rapiden Steigens der städtischen Grundrente‘ 
„und die Verteuerung der qualifizierten Arbeitskraft‘ 2). Treffen 
die angeführten Punkte auch im großen und ganzen das Richtige, 
so greifen sie doch die wirksamen Momente zu sehr aus dem Zu- 
sammenhange heraus, ihre begriffliche Anordnung ist zu zufällig und 


Q 
1) Gemeindekalender und städtisches Jahrbuch für 1868, S. 134 ff. 
2) S. 218 ff. 


730 Otto Schwarzschild, 


für die Weiterführung des Gedankens unfruchtbar. Wir wollen uns 
an das oben entworfene Schema der den Standort bestimmenden 
Momente halten und zunächst auf die Gestaltung in der Großstadt 
im allgemeinen eingehen, wobei aber auch schon berücksichtigt 
werden soll, wie die typischen Züge in der größten deutschen Stadt, 
in Berlin, zu Tage treten. Im Anschlusse daran soll dann das ge- 
werbliche Leben “dieser Stadt unter dem Gesichtspunkte des Stand- 
ortproblems betrachtet werden. Daß gerade Berlin gewählt wurde, 
ist beinahe selbstverständlich; es ist die größte deutsche Stadt, der 
ausgesprochenste Typus der Großstadt in Deutschland. Zweifellos 
hätten Paris und London aus manchen Gründen noch besser für 
eine derartige Untersuchung getaugt. Sie sind noch mehr Welt- 
stadt, stellen einen ausgereiften Typus vor — das Ueberschnelle, 
Parvenühafte fehlt; andererseits spielt in London der Seeverkehr 
eine Rolle, die wesentlich neue und abweichende Gesichtspunkte in 
die Betrachtung bringt. Paris ist in ausgesprochenerem Sinne Landes- 
zentrum als Berlin, aber die Volkswirtschaft dieses Landes befindet 
sich in einer gewissen Stagnation. Besonders interessant ist eine 
Betrachtung der großen amerikanischen Städte von unserem Stand- 
punkte aus. Sie ist vor Jahren von Laspeyres unternommen worden !); 
für die heutige Zeit liegen das vorzügliche Buch von A. F. Weber 
und wertvolle Bemerkungen von Waentig vor?) (der aber auch die 
europäischen Städte mit betrachtet), die uns gestatten, einen ver- 
gleichenden Blick auf die dortigen Verhältnisse zu werfen. 

Berlin ist natürlich, wie jede gedeihende Siedelung mit genauer 
Rücksicht auf die geographische Lage angelegt). Die außerordent- 
lich wichtige Lage für den Wasserve erkehr kommt in erster Linie in 
Betracht. "Aber hätten die märkischen Fürsten ihre Residenz in 
Brandenburg belassen oder in Köpenick oder Rathenow gewählt, so 
stände Berlin heute auf der Stufe dieser Städte; auch der idealste 
Verkehrsmittelpunkt eines Landes würde nicht zur Millionen bergenden 
Kapitale ohne den kräftigen Willen des Staates und des Volkes. Heute 
münden die wichtigsten Eisenbahnlinien Norddeutschlands in Berlin, 
ist es der Mittelpunkt eines großen Wasserstraßennetzes; das mag für 
diese oder jene Industrie Grund genug sein, sich dort niederzulassen; 
aber Kanäle und Eisenbahnen sind erst Folgen des Vorhandenseins 
der Stadt. Die aber verdankt ihr Dasein und ihre Bedeutung allein 
dem Staate, der sich zum ersten in Deutschland und Mitteleuropa 
zu machen wußte. Es bedarf hierüber keiner weiteren Ausführungen. 

IV. Berlins Industrie ist zum größten Teile von dem merkan- 
tilistischen Staat des 18. Jahrhunderts unmittelbar hervorgerufen 
worden. 

Eine Eigentümlichkeit der früheren brandenburgisch-preußischen 


1) E. Laspeyres, Die Gruppierung der Industrie innerhalb der nordamerikanischen 
Union, Vierteljahrsschrift für Volkswirtschaft, 1870/71. 

2) „Die Großstadt“. 

3) Speziell behandelt bei Roscher, Ansichten, I, S. 356, Meuriot, S. 69. „ Vegl 
auch Ratzel in „Die Großstadt“. 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 731 


Politik kommt hier besonders in Betracht. War es im Mittelalter 
selbstverständlich gewesen, daß ein auf eigenen Füßen stehendes 
Gewerbe in die Stadt gehöre, so ist das von dem Augenblick, wo 
sie jene eigentümliche politisch ökonomische Rolle ausgespielt hatte, 
prinzipiell nicht mehr der Fall. Das platte Land mußte, seitdem 
auch die Herstellung ordinärerer Produkte dem Großbetrieb anheim- 
fiel, als Standort der Industrie mehr und mehr in Betracht kommen. 
In England hat sich die alte scharfe Scheidung zwischen Stadt und 
Land früh verwischt, in Brandenburg wurde sie durch das zwiefache 
Steuersystem künstlich aufrecht erhalten. In der Stadt aber wurden 
die Gewerbe, vollends in ihrer neuen ÖOrganisationsform, auf alle 
Arten gefördert und vielfach erst durch das direkte Eingreifen des 
Staates begründet. Wiedfeldt nennt zwei Wurzeln für die Ent- 
wickelung des Großbetriebes in Berlin, „die Staatstätigkeit, welche 
den Absatz schuf, den Verlag besorgte — durch Konzessionen, 
Prämien, Zollpolitik und direkte Geldunterstützungen die neuen Be- 
triebsformen einführte und förderte“ und „die Einwanderung, welche 
das hierzu erforderliche, technisch geschulte, unternehmungslustige 
und freidenkende Menschenmaterial lieferte“ 1). Aber auch diese ist 
ja auf das Bemühen des Staates zurückzuführen, die wirtschaftlichen 
Kräfte des Landes zu steigern. 

Auch späterhin, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hat 
es nicht an direkter Staatshilfe gefehlt. 

Diese Konzentration der staatlichen Macht hat aber mittelbar 
noch viel stärker auf das gewerbliche Leben gewirkt! Sie schuf mit 
der Millionenstadt eine unerhörte Bedarfskonzentration, die stärkste 
in Deutschland. Die großen, am Platz vereinigten Menschenmassen 
machen eine starke Entwickelung der lokalwirtschaftlichen Gewerbe 
notwendig. Nun sind aber die Grenzen der beiden, begrifflich streng 
zu scheidenden Gewerbekategorien in der Wirklichkeit schwimmend. 
Die Entstehung und allmähliche Entwickelung eines lokalwirtschaft- 
lichen Gewerbes zum volkswirtschaftlichen ist sehr wohl möglich; 
— um so eher, je umfangreicher und differenzierter das Gebiet der 
ersteren ist, je leichter sich Verbindungen mit der Volks- und Welt- 
wirtschaft anknüpfen lassen — also gerade in der großen Stadt. 
Die Hauptstadt wird zum Mittelpunkt eines weit verzweigten 
Schienennetzes, das ihr einen immer wachsenden Fremdenstrom zu- 
führt, Gegenstände, nach denen die Nachfrage sonst zu verzettelt 
ist, werden nur hier feilgeboten, an den direkten Verkauf an Aus- 
wärtige schließt sich der Versand an. Und so wird es bald schwierig, 
zu beurteilen, ob diese oder jere Unternehmung mehr lokal- oder 
volkswirtschaftlicher Art ist. Zahlreiche heimische Großindustrien 
sind volkswirtschaftliche Industrien auf lokalwirtschaftlicher Basis. 
Die ersten, die sich in den Hauptstädten niederließen, haben Luxus- 
artikel hergestellt, wie sie die höfische Gesellschaft des ancien régime 


1) Statistische Studien zur Entwickelungsgeschichte der Berliner Industrie von 
1720 bis 1890. Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen, Bd. 18, Heft 3, S. 62. 


132 Otto Schwarzschild, 


verlangte; hier entstanden die „Prachtfabriken“, die ersten Seiden- 
webereien und Porzellanmanufakturen. Hier versorgt sich noch 
heute der Provinziale mit den Neuheiten der Mode, ist der beste 
Platz, den Ruf eines auf den Markt gebrachten Artikels zu ver- 
breiten. So findet sich bei Industrien, deren Produkte in der Groß- 
stadt konsumiert und von dort versandt werden, eine starke Tendenz, 
sich am Platze anzusiedeln. Und an diejenigen, welche genußreife 
Güter herstellen, schließen sich die der Halbfabrikate und Werk- 
zeuge leicht an. Dazu tritt nun wieder der direkte Bedarf der 
öffentlichen Körper, der sich, ohne daß damit, wie einst, eine be- 
sondere wirtschaftspolitische Maßregel verknüpft sein sollte, in der 
Millionenstadt, der Hauptstadt des Landes, naturgemäß konzentriert. 
Was Wunder, daß hier für die Versorgung der Armee produziert 
wird, daß die Waffenfabrikation, der Lokomotivbau aufblüht u. s. w. 

Noch wichtiger, als die unmittelbare Nachfrage der Massen und 
des Staates mag die des in der Metropole konzentrierten Großhandels 
sein. Sie ist in der heutigen Volkswirtschaft, wo die Entscheidung 
über den volkswirtschaftlichen Produktionsprozeß in den Händen 
des kaufmännischen Unternehmers liegt, von durchschlagender Be- 
deutung. Somit ist in der Großstadt, dem Zentrum der Bevölkerung, 
des Handels und Verkehrs, die Absatzmöglichkeit überhaupt am 
größten, und daher, wenn man nur die eine Seite der unser Problem 
bestimmenden Faktoren in Erwägung zieht, geradezu der beste 
Standort für die gewerbliche Produktion. Das tritt historisch darin 
zu Tage, daß neu ins Leben tretende Industrien sich mit Vorliebe 
hier niederlassen. Die Anziehungskraft der alten staatswirtschaft- 
lichen Metropole erscheint ganz unbegrenzt. Betriebe siedeln sich 
an, für die aus anderen Gründen die Stadt das denkbar ungünstigste 
Pflaster ist, wie z. B. Zuckerfabriken. 

Es werden sich nun die durch die Konzentration des Bedarfes 
an genußreifen Gütern, durch die des Handels u. s. w. in der Haupt- 
stadt domizilierten Gewerbe so lange dort halten, als die Vorteile 
eines glatten Absatzes und einer schnellen Ausbreitung ihres Rufes 
die Nachteile überwiegen, die ihnen durch die mit geringeren Pro- 
duktionskosten arbeitende Konkurrenz in der Provinz bereitet wird. 
Mag sein, daß manche über diesen Zeitpunkt hinaus verharren, weil 
sich die Unternehmer mit geringeren Gewinnsten begnügen, denn 
„der Standort bleibt bei den alten Geschäften der meisten Industrien 
mehr oder weniger dauernd bestimmt durch die Konjunktur der Ent- 
stehungsperiode“ 1). Am längsten können es die Gewerbe aushalten, 
die am ehesten die erhöhten Produktionskosten auf die Käufer ab- 
zuwälzen imstande sind — vor allem die Luxusgewerbe. Für sie ist 
aber auch die Gestaltung der Produktionsfaktoren — die vom Stand- 
punkte des Unternehmens Kostenfaktoren sind — in der Großstadt 
besonders günstig. Auf diese gilt es nunmehr genauer einzugehen, 
denn wie Schäffle sagt, „der wirtschaftliche Gesichtspunkt geringster 


1) Schäffle, S. 288. 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 733 


Kostspieligkeit wird mit fortschreitender Entwickelung maßgebend 
für die Wahl des Standortes gewerblicher Betriebe“ !). 

Dafür ist, wie Roscher, wenn auch ziemlich unklar, ausführt ?), 
„ein sehr allgemeiner, tief in der Natur jeder volkswirtschaftlichen 
Entwickelung liegender Grund“ vorhanden. Es ist nämlich bei zu- 
nehmender Differenzierung und Integrierung des Wirtschaftslebens 
bei der Herstellung reproduzibler Güter allemal der Betrieb maß- 
gebend, der dasselbe Produkt mit den geringsten Kosten herstellt. 
Also einfach eine Anwendung des mit zunehmendem Verkehr auf 
die Dauer ausschlaggebenden Kostengesetzes auf unser Problem °)! 


Wie gestalten sich nun die Produktionsfaktoren in der großen 
Stadt? Man muß sich bei dieser Frage gewissermaßen auf den 
Standpunkt des Unternehmers stellen, der in der Hauptstadt ein 
Gewerbe betreiben will und ohne sich über das Was und Wie noch 
entschlossen zu haben, die einzelnen Produktionsfaktoren prüft, um 
zu beurteilen, in welcher Richtung und Kombination er sie am besten 
verwenden kann. 

Grund und Boden kommt in Betracht vermöge seiner Trag- 
fähigkeit, als Standort menschlichen Lebens überhaupt +). Es handelt 
sich um die Nutzung dieser ursprünglichsten, unerschöpflichen Eigen- 
schaft. Infolge der Beschränktheit des städtischen Gebietes und des 
Umfanges der Nachfrage tritt hier die Grundrentenbildung „am 
reinsten und am wenigsten durch störende Einflüsse getrübt“ 5) zu 
Tage. Die Nachfrage verlangt nun Böden zu folgenden Zwecken: 

1. zu Wohnzwecken, 
2. zu gewerblichen Zwecken, 
a) zu Zwecken des Absatzes, in Läden u. s. w. 
b) zu Zwecken der Anlage von gewerblichen Betrieben. 


Am stärksten ist die Grundrentenbildung auf dem unter 2a an- 
geführten Boden, denn er ist der räumlich beschränkteste, die Nach- 
frage danach aber am leistungsfähigsten, weil hier vor allem die 
günstige Lage als wertbildender Faktor in Betracht kommt®). Daß 
auch auf dem Boden die Grundrentenbildung in der Großstadt äußerst 
stark ist, ist eine bekannte und oft genug beklagte Tatsache; jedoch 
erreicht hier die Rente nie eine solche Höhe, wie in den Geschäfts- 
vierteln. Auf dem Boden 2b kann es zu einer selbständigen Grund- 
rentenbildung nur ausnahmsweise kommen: etwa in unmittelbarer 
Nachbarschaft von Häfen, Wasserstraßen, Eisenbahnen. Indem sich 


1) S. 278. 
2) Ansichten, II, S. 68. 
3) Vergl. Wagners Grundlegung, I, S. 340. 


4) Vergl. Mithoff, Art. Grundrente, auch Wagner, Art. Grundeigentum im Hdwb. 
der Staatsw. 


5) Mithoff. 

6) Vergl. Paul Schwarz, „Die Entwickelung der städtischen Grundrente in Wien‘. 
Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 94, bes. S. 47 ff., A. Voigt, „Die Boden- 
besitzverhältnisse, das Bau- und Wohnungswesen in Berlin“, ebenda S. 203, 228. 


734 Otto Schwarzschild, 


nun mit dem Wachstum der Stadt der zu Geschäftszwecken ge- 
brauchte Boden auf Kosten des Wohnbodens, dieser wieder auf 
Kosten anderer billigerer Böden, wie etwa von Ackerland und auch 
von unter 2b aufgeführtem Boden erweitert, vollziehen sich die 
beiden wichtigsten morphologischen Veränderungen der modernen 
Großstadt: die Citybildungs- und die Peripheriewanderung der In- 
dustrie. Von ihnen interessiert uns hier nur die letztere. Es ist 
aller Nachdruck darauf zu legen, daß es sich dabei um einen rein 
innerstädtischen Vorgang handelt. Daß ein industrielles Etablisse- 
ment auf einem Grundstück, das, zu Wohn- oder Geschäftszwecken 
verwertet, einen hohen Profit abwerfen würde, sich nicht halten 
kann, ist selbstverständlich. Bleibt einmal ausnahmsweise ein Betrieb 
auf zu teurem Boden aus besonderen Gründen stehen, so verbietet 
sich jede Erweiterung; will man eine solche vornehmen, so findet 
bei dieser Gelegenheit schließlich doch der Abzug statt. Nun ist aber 
der Bedarf der Industrie an Raum ungemein verschieden; je geringer 
er ist, um so weniger treffen die „Geißelschläge der Grundrente* 
(Sombart); die Bildung der Rente verläuft ja auch nicht schematisch 
vom Mittelpunkte nach der Peripherie; selbst in aufblühenden Städten 
sind Quartiere, in denen sie stockt oder zurückgeht, möglich‘). In 
zahlreichen Fällen weichen inmitten der Stadt, wenn nicht die Laden- 
so doch die Wohnungsmietpreise?); das ganze Haus ist aber nicht 
zu Verkaufszwecken zu benutzen ; man vermietet an kleine Betriebe 
(die deshalb durchaus nicht handwerksmäßige Kleinbetriebe zu sein 
brauchen). Gerade in Berlin, der Stadt der großen Baublöcke, der 
hohen Häuser und der Hinterhöfe findet sich das in fast allen Stadt- 
teilen. So wird die Ritterstraße zur Gegend der Lampenfabriken, 
und in alte Häuser der Gitschinerstraße, die der Lärm der Hochbahn 
noch .unwohnlicher machte, siedeln zahlreiche kleine Betriebe ein. 
Vielfach wird ein umfangreicher Teil eines größeren Gebäude- 
komplexes eigens von einem Unternehmer für kleinere und mittel- 
große Betriebe aller Art bereitgestellt und mit Dampf- und elektri- 
scher Kraft, Aufzügen u. s. w. vermietet (sog. Handelsstätten). So 
bleibt selbst inmitten der Stadt noch Raum genug für industrielle 
Tätigkeit. 

Wo nun die „Geißelschläge der Grundrente“ wirklich treffen, 
genügt es, den Betrieb außerhalb des städtischen Wohn- und Ge- 
schäftsbodens zu legen, um sich vor ihnen zu retten. Ein Unter- 
nehmer, der auf die Großstadt angewiesen ist, hat durchaus keine 
Veranlassung, bloß weil er zuviel Geld in seinem Grundstück stecken 
hat, deren Bereich ganz und gar zu verlassen. Außerhalb des 
Häusermeeres und an seinen Ufern ist ja Land genug. So wird die 
Grundrente zum Agens der Hinausverlegung der großen Fabrik- 
etablissements in die Peripherie, diekein Aufgeben des Stand- 
ortes in der Großstadt, sondern eine Ausdehnung 


1) Vergl. Schwarz 1. e, S. 71 ff. 
2) Von A. Voigt für zahlreiche Berliner Quartiere nachgewiesen, 1l. e. S. 224 ff. 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe, 735 


ihres Wirtschaftsgebietes bedeutet. Im Gegensatz zum 
wirklichen Exodus, mit dem sie von Sombart u. A. durcheinander 
geworfen wird, sprechen wir hier von einer Peripheriewande- 
rung der Industrie. Für einen Exodus kann die Grundrente 
höchstens den zufälligen Anlaß, die Nebenursache, abgeben. 

Die Produktionsfaktoren sind hier so behandelt, wie sie sich 
dem Leiter der Produktion als Kostenelemente direkt gegenüber- 
stellen. Indirekt begegnet uns nun der Einfluß der Grundrente, in- 
dem sie die Lebenshaltung der großstädtischen Arbeiter durch die 
hohen Mieten verteuert und auf diese Weise lohnsteigernd wirkt. 
Darauf soll bei der Betrachtung des Produktionsfaktors Arbeit ein- 
gegangen werden. 

Im Gegensatz zu Bedarf und Kosten von Grund und Boden, 
können sich Bedarf und Kosten an Sachgütern so gestalten, daß 
ein Aufenthalt in der Großstadt unmöglich wird. Es ist eine bekannte 
Tatsache, daß die sogenannten schweren Industrien, d. h. diejenigen, 
welche große Mengen voluminöser, aber spezifisch geringwertiger, 
sogenannter sperriger Güter verarbeiten, deren Fundort aufsuchen, 
weil diese Güter wirtschaftlicherweise einen längeren Transport nicht 
vertragen können. Derartige Industrien gehören zweifellos nicht 
in die Stadt, sagen wir besser, heute nicht mehr. Denn hier trifft 
eben zu, daß der natürliche Vorzug des einen oder des anderen 
Ortes erst dann bemerkbar wird, wenn die zunehmende Verknüpfung 
des Wirtschaftslebens einen Wettbewerb hat aufkommen lassen. 
Wiedfeld erzählt ), wie seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die drei 
Zuckersiedereien der Splittgerberschen Erben in Berlin neben zwei 
anderen derselben Familie gehörenden auswärtigen Siedereien faßt 
den ganzen preußischen Staat mit Zucker versorgt hätten. Seit 1882 
wird keine Zuckerfabrik mehr in Berlin gezählt. Die den Rohr- 
zucker verdrängende Rübenzuckerproduktion schließt sich der Rüben- 
kultur an. Aehnlich mußte die im Anfange des 19. Jahrhunderts 
in Berlin blühende Branntweinbrennerei den Kartoffelspritbrennereien 
auf dem platten Lande das Feld räumen ?). 

Die Anzahl der in der Industrie der Steine und Erden be- 
schäftigten Gewerbetätigen nahm in Berlin von 1882 bis 1895 
um 22 Proz. zu, der Zuwachs ist aber auf Konto der Gewerbe zu 
setzen, die Qualitätsware herstellen, wie Marmorsägerei, Porzellan, 
Fayencefabrikation u. a. ?). 


1) S. 137 ff. 

2) Wiedfeld, S. 150 ff. 

3) Von denen aber wegen der Verteuerung der Arbeitskräfte auch auf die Dauer 
ein großer Teil die Stadt verläßt. Die bekannte Firma Ernst March Söhne droht, 
Bericht der Aeltesten für 1900, S. 73, mit ihrer Verlegung hauptsächlich wegen der 
hohen Löhne. Vergl. auch B. d. Aelt. für 1906, S. 152. Sogar die Ofenfabriken in 
Velten klagen darüber, daß ihnen die an der Bahn Berlin-Tegel neu entstandenen 
Fabriken die Arbeiter wegfangen, „obgleich die Lohnverhältnisse nur anscheinend günstiger 
als in Velten waren“. B. d. Aelt. für 1900, S. 75. [,Berichte über Handel und Industrie 
von Berlin, erstattet von den Aeltesten der Kaufmannschaft von Berlin“, seit 1902 
„Berliner Jahrbuch für Handel und Industrie“ (B. d. Aelt.), (seit 1898 stets Teil II).] 


736 Otto Schwarzschild, 


Die wichtigste Umschichtung, welche die Industrie überhaupt 
im 19. Jahrhundert erfahren hat, ist die auf die wachsende Bedeutung 
von Kohle und Eisen zurückzuführende Konzentration in den Montan- 
bezirken. 

So wurden Ende der 60er Jahre Puddel-Stabeisen und Blech- 
walzwerk der Firma Borsig von Berlin nach Oberschlesien verlegt. 
Dieser Prozeß, der immer weitere Produktionsstadien der Eisen- 
industrie an den Fundort der Rohmaterialien zu ziehen versucht, 
ist heute noch nicht ganz abgeschlossen. Man zählte in Berlin: 

1887 4 Schweißeisenwerke mit 89 Arbeitern 
1888 3 A „4 y 
1889 1 Schweißeisenwerk „ 22 E) ) 

Dies letzte hat 1899 zu existieren aufgehört. 1903 gab es noch 
ein Flußeisenwerk mit einer durchschnittlichen täglichen Arbeiter- 
zahl von 24 Köpfen. Eisengießereien gab es 1899—1902 24, 1903 
noch 22, davon waren nur einige lediglich zur Herstellung von Guß- 
waren zweiter Schmelzung angelegt, die übrigen an sonstige Fabrik- 
betriebe angeschlossen ?) 3). 

Schießlich findet sich heute bei faßt jeder Industrie eine ge- 
wisse Tendenz, in die Montanbezirke abzurücken, welcher, wo sie 
nicht zur Geltung kommt, nur durch andere Kräfte die Wage ge- 
halten wird. Ist aber ein Gewerbe in der Großstadt aus anderen 
Gründen der Provinzkonkurrenz gegenüber im Nachteil, so fällt 
deren Ueberlegenheit infolge der Nähe von Kohlenlagern doppelt 
schwer in die Wagschale, wie z. B. bei manchen Zweigen der Textil- 
industrie ®). 

Nun kann die Zentripetalkraft, die in den geschilderten Ver- 
hältnissen begründet ist, zum Teil wettgemacht werden durch sehr 
billige Transportmöglichkeiten auf den Wasserstraßen. In dieser 
Beziehung ist Berlin in einer besonders glücklichen Lage. Man 
kann sich aus den Klagen, die sofort ertönen, wenn einmal der 
Wassertransport versagt, ein Bild davon machen, was dieser für 
Berlins Industrie bedeutet5). Doch darf dies Moment sicher nicht 
überschätzt werden. Es mag wenig Betriebe geben, die wirklich 
unbedingt darauf angewiesen sind. Denn die Berliner Industrie stellt 
hauptsächlich Qualitätsgüter her ê). 


1) Wiedfeldt, S. 260. 

2) Stat. Jahrbuch der Stadt Berlin für 1905, S. 139. 

3) Ganz ähnlich berichtet Weber „of 65 iron foundries in New York only fifteen 
now remain‘, S. 203. 

4) Jahresberichte der Berliner Handelskammer (Hkb.) für 1904, S. 303. Vorteil- 
hafte Nähe der Braunkohlenlager in der Lausitz! 

5) Die Tafelglasfabriken verlangen Bahnfrachtvergünstigungen, um den natürlichen 
Vorteil der englischen und belgischen Konkurrenz, die „fast durchweg in der Nähe der 
Häfen“ produziert, zu beseitigen, (Hkb.) S. 176. 

6) Herr Kommerzienrat Conrad Borsig machte mich freundlichst darauf aufmerk- 
sam, daß infolge der besseren Ladegelegenheit sich der Preis der Rohmaterialien in 
seinem neuen Werk in Tegel zwar etwas verbilligt habe, ein solcher Gesichtspunkt 
jedoch für die Verlegung eines derartigen Betriebes, der hochwertige Ware herstelle, 
nicht maßgebend sein könne. Das neue Werk der Akt.-Gesellsch. für Feld- und Klein- 
bahnbedarf Orenstein & Koppel in Drewitz liegt nicht am Wasser. 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 737 


Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß man sich im ge- 
gebenen Falle die günstigen Verhältnisse nicht möglichst zu nutze 
mache, wie die Errichtung großer Betriebe an den Wasserstraßen 
beweist !). 

Nicht die Verbilligung von Rohmaterialien und Halbfabrikaten, 
sondern die Möglichkeit einer sofortigen und reichhaltigen Assortie- 
rung kann für Industrien in Betracht kommen, die hochwertige, 
einem schnellen Modewechsel unterliegende Artikel herstellen. Wollen 
diese, um Zinsverluste zu vermeiden, die nötigen Läger nicht selbst 
halten, so kommt die Konzentration des Großhandels in jenen 
Artikeln (Baumwolle, Wolle, Seide, Leder u. s. w.) immerhin in Be- 
tracht, wenn auch dies Moment im großen und ganzen von geringer 
Bedeutung ist?). 

„Volkswirtschaftlich betrachtet ist die Bevölkerung eines Volks- 
wirtschaftsgebietes in ihren arbeitsfähigen, arbeitswilligen und tat- 
sächlich arbeitenden Gliedern der Vertreter des Faktors „wirt- 
schaftliche Arbeit“ in der Produktion der Güter). Bei der 
Frage, inwiefern sich die Großstadt zum Standort der Gewerbe eigne, 
gilt es also festzustellen, ob ihre Bevölkerungsverhältnisse eine be- 
sondere Eigenart aufweisen, und inwiefern diese auf die Zahl der 
Arbeitswilligen, die Güte ihrer Leistungen und die Höhe ihres Lohnes 
von Einfluß ist. Tatsächlich finden sich Eigentümlichkeiten von aus- 
schlaggebender Bedeutung. 

Wenn auch erst eine weitausholende induktive Beschreibung, 
eine umfassende „Eigenschaftsstatistik* (Wagner), bei der die Er- 
gebnisse des nachfolgenden Ueberblicks über die einzelnen Industrien 
zum Teil vorweggenommen werden müßten. ein vollständiges Bild 
zu geben vermöchte, so ist es doch durch eine Untersuchung der 
einfachen quantitativen Verhältnisse der Bevölkerung und ihres Be- 
dürfnisstandes schon möglich, die Linien anzugeben, innerhalb deren 
sich die Gestaltung des wichtigsten Produktionsfaktors bewegt. Durch 


1) Auch nicht, daß die großstädtische Agglomeration den Standort der schweren 
Industrieen überhaupt nicht beeinflusse. Sie ist vielmehr deren Hauptabsatzmarkt, 
Es gelten dann für diese Verhältnisse die von v. Thünen für das Agrarwesen festge- 
stellten Standortregeln. Wenn Neisser in seinen Untersuchungen über die wirtschaft- 
lichen Verhältnisse des Handelskammerbezirks Potsdam (die wirtschaftliche Entwickelung, 
Lage und Leistungsfähigkeit von Handel, Gewerbe und Industrie im Bezirke der 
Handelskammer zu Potsdam, bearbeitet von G. J. Neisser, Berlin 1903) ausführt, 
„daß die Millionenstadt vermöge ihrer starken Konsumtion ein außerordentlich wichtiges 
und selten stockendes Absatzgebiet für den Handelskammerbezirk“ darstelle, so gilt das 
keineswegs nur für die landwirtschaftliche Produktion. Die Zahl der Gewerbtätigen in 
der Industrie der Steine und der Erden nahm im Handelskammerbezirk von 1882—95 
um 85,5 Proz. zu gegen eine Zunahme der gewerbtätigen Personen überhaupt um 
37,8 Proz. Von 1000 Gewerbtätigen sind 210,9 in dieser Industrie beschäftigt. (Nur 
in der Maschinenindustrie mehr. Spandau !) Zu der starken Besetzung der Industrie tragen 
besonders Ziegelfabrikationen und Öfenindustrie bei. Ihr Emporblühen ist auf zwei 
Momente zurückzuführen: die geologische Beschaffenheit des Gebiets und die Nähe Berlins. 
S. ebenda S. 28, 29 und 33*. 

2) s. S. 758. 

3) Wagner, Grundlegung, S. 466. 

Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIII). 47 


738 Otto Schwarzschild, 


diese abstrahierende Herauslösung der grundlegenden Tatsachen ge- 
winnen wir erst den richtigen wissenschaftlichen Einblick. 

Betrachtet man die Bevölkerung eines Gebietes vom Stand- 
punkte des Produktionsinteresses, „so hängt die Produktionsfähig- 
keit und die wirkliche Produktionsleistung . . . . von der Größe und 
der Zusammensetzung (Gliederung) der Bevölkerung ab“ }). 

Ueber die Größe einer weltstädtischen Agglomeration sind 
nicht viel Worte zu verlieren. Berlin zählte 


1800 172132 Einwohner 1860 493 429 Einwohner 
1810 162971 N 1870 774 489 å 
1820 199510 Pr 1880 1123749 A 
1830 247 500 R 1890 1578516 Pr 
1840 322 626 P 1900 1888 574 si 
1850 418733 ” 1905 2040 222 FR 


Berlin mit dem vormaligen weiteren Polizeibezirk: 
1875 1070798 Einwohner 
1890 1847 301 
1900 2528730 , 

Die gesamte Agglomeration nähert sich heute der dritten Million. 

Betrachten wir nun in verschiedener Hinsicht die Gliederung 
dieser gewaltigen Masse, so zeigen sich die charakteristischen Eigen- 
tümlichkeiten der Großstadtbevölkerung besonders scharf ausgeprägt: 
zunächst die den Landesdurchschnitt weit übersteigende stärkere 
Vertretung des weiblichen Geschlechts. 

„Here one observes a regular increase in the proportion of 
women to men, as one ascends from the smaller to the larger cities.“ 
Dieser Satz, den A. F. Weber mit den Ergebnissen der deutschen 
Volkszählung belegen kann?) trifft freilich nicht im einzeln so zu, 
daß in jeder größeren Stadt auch der weibliche Bevölkerungsanteil 
größer wäre. Jedenfalls ist er in Berlin von einer unvergleichlichen 
Bedeutung durch die Quantitäten, um die es sich handelt. 

Auf 100 männliche Personen kamen 1900 weibliche 


im Reich 103,2 
in Berlin 109,2 °) 
» Charlottenburg 120,5 
„ Berlin mit den*) 23 Vororten 109,4 


(mehr als 120,5 in keiner Großstadt, mehr als 109,4 noch in Aachen, Breslau, Crefeld, 
Königsberg). 


Das weibliche Geschlecht war stärker vertreten 


in Berlin um 82 766 Personen 
„ Charlottenburg 17 625 x 
„ Berlin mit den 23 Vororten 113 710 ar 


1) Wagner, ebenda. 
2) S. 286. Auf 1000 Männer kamen 1890 


im Deutschen Reich 1040 Frauen 
in den Kleinstädten 994 » 

» » Mittelstädten 1004 en 
» » Großstädten 1057 


3) Die Zahlen gelten mit Einschluß der aktiven Militärbevölkerung. 
4) Die gesamte Agglomeration ist noch größer, 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 1739 


Noch schärfer tritt eine zweite wichtige Besonderheit der groß- 
städtischen Bevölkerungsgliederung in Berlin hervor: der eigenartige 
Altersaufbau. Statt des normalen pyramidalen Aufbaues, der sich 
von der breiten Basis der Neugeborenen bis zu den höchsten Alters- 
stufen allmählich verjüngt, zeigt sich hier ein „zwiebelförmiger“ 
Aufbau (v. Mayr). Die mittleren Lebensepochen sind überstark 
besetzt. 

Von 1000 der Gesamtbevölkerung entfallen 1900 auf die einzelnen 


Altersstufen 
im Reich in den 33 Großstädten in Berlin 


unter 16 368 305 274 

16 bis unter 30 245 301 301 
30, cm 50 232 264 289 
B0' +5 m 70 128 III 117 
70 und mehr 27 29 19 
1000 1000 1000 


Nach Wiedfeldt sind die produktiven Altersklassen in Berlin 
um 12,5 Proz. stärker vertreten, als in ganz Preußen, was eine um 
25 Proz. günstigere wirtschaftliche Stellung bedinge t). 

Was nun zum dritten die soziale Schichtung anlangt, so 
ist die Zahl der auf Erwerb durch Lohnarbeit angewiesenen Per- 
sonen gewiß außerordentlich groß. Aber dennoch ließe sich die in 
der Reichsstatistik ausgesprochene Ansicht, „daß die Klasse der Ab- 
hängigen..... um so mehr Erwerbstätige auf sich vereint, je größer 
die Orte sind, welche die Kategorie umfaßt, während das Umge- 
kehrte von den Selbständigen gilt“, mit den Zahlen der Statistik 
selbst widerlegen. Auf 100 Erwerbstätige kamen 1895 in Landwirt- 
schaft, Industrie, Handel und Verkehr: 


; x in den in den P 

im Reich  MWittelstädten Großstädten Berlin 
Selbständige 28,94 23,08 24,27 24,98 
Angestellte 3,29 A 6,59 8,45 7,41 
Arbeiter 67,77 21308 70,38 76,98 63,28 75,13 67,61 75,02 


Aber die Unterschiede sind doch nur sehr geringfügig: Die 
Zahlen der Mittel- und Großstädte sind durch die der ausgesprochenen 
Industriestädte stark beeinflußt; vor allem sind die Berliner Vororte 
nicht mit in Betracht gezogen. 

Sicher ist mit der zunehmenden Größe der Agglomeration der 
Einzelne um so mehr darauf angewiesen, selbst für seinen Unterhalt 


zu sorgen. 
Von 100 Personen sind 1905 

Erwerbstätige Dienende Angehörige a 
davon davon davon davon 
weibl. weibl. weibl. weibl. 
in den Kleinstädten 38,27 7,68 2,81 2,77 53,82 36,86 5,10 2,52 
» „ Mittelstädten 39,54 7,85 3,64 3,59 51,43 35,59 5,39 2,87 
v » Großstädten 41,38 9,75 4,12 4,06 49,61 34,89 4,89 2,80 
in Berlin 43,33 11,32 3,78 3,65 48,85 35,02 4,04 2,28 
im Reich 40,12 10,17 2,59 2,54 53,15 36,06 4,14 2,16 


1) S. 106, vergl. die dortige Tabelle. 
47* 


740 Otto Schwarzschild, 


Diese Zahlen veranschaulichen aufs deutlichste die mit der Größe 
der Stadt zunehmende Atomisierung der Gesellschaft: Die Zahl der 
ohne eigenen Erwerb dem Familienhaupte zur Last fallenden Ange- 
hörigen nimmt entsprechend ab; — die der Erwerbstätigen steigt; 
die relative Zahl der weiblichen Erwerbstätigen erreicht in der 
Millionenstadt ihren Höhepunkt. — Die Zahl der Dienenden hat, 
wenigstens im Stadtkern, im Verhältnis abgenommen. Von 100 Er- 
werbstätigen überhaupt (einschließlich der Dienenden) sind Dienende 

in Berlin 1882 10,9 

1895 8,0 

in Charlottenburg freilich 1895 16,9. 

Durch einen Blick auf die Entstehung dieser eigenartigen Be- 
völkerungszusammensetzung wird sie in ihren charakteristischen 
Zügen und in ihrer Gesetzmäßigkeit als notwendiges eigenartiges 
Produkt eines großen gesellschaftlichen Prozesses verständlicher. 

„Als allgemeines Ergebnis — so sagt die Reichsstatistik — ist 
. . . festzustellen, daß die gesamte großstädtische Bevölkerung nur 
zum kleineren Teil in der Aufenthaltsstadt selbst geboren ist“). 
Die Bevölkerung der deutschen Großstädte setzte sich 1900 aus 


43,29 Einheimischen und 
56,61 Zugezogenen 


zusammen. Die Zahl der letzteren machte aus in 


Berlin 59,09 Proz. 
(Charlottenburg 81,10 „) 
Dadurch wird manches klarer. 

Was zunächst den Fı 'auenüberschuß angeht, so beruht dieser 
in Berlin zum größeren Teile auf der Einwanderung, nämlich zu 
56,9 Proz. [47128 von 82766]. Die Einwandernden gehören über- 
wiegend dem weiblichen Geschlechte an. Von 100 Personen der 
ortsanwesenden, außerhalb geborenen Bevölkerung sind 1900 in Berlin: 

männlich 47,9 Proz. (534 468) 

weiblich 52,1 „ (581596) 
Dennoch ist der Ueberschuß damit nicht ganz erklärt. Die orts- 
gebürtige Bevölkerung der Großstädte „hat die Tendenz, aus sich 
selbst heraus einen den Landesdurchschnitt übersteigenden Frauen- 
überschuß zu erzeugen“ (Bücher). Von 100 der ortsanwesenden, 
ortsgebürtigen Bevölkerung sind 1900 in Berlin: 

männlich 47,4 Proz. (368 573) 

weiblich 526 „ (404 211) 
Diese merkwürdige Tatsache ganz aufzuhellen, muß der Biologie 
überlassen bleiben ?). 

Um so vollständiger läßt sich der großstädtische Altersaufbau 


1) Bd. 150, S. 159. 

2) Vergl. Bücher, „Die Bevölkerung des Kantons Basel-Stadt am 1. Dez. 1888*, 
Basel 1890. „Die Verteilung der beiden Geschlechter auf der Erde“, im Allg. Statist. 
Archiv, II, 390, A. F. Weber, S. 289 ff. 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 741 


auf die Zuwanderung zurückführen. Von 100 der ortsanwesenden 
Bevölkerung sind 1900 in Berlin: 


Einheimische Zugezogene 
unter 16 81,0 19,0 
16 bis unter 30 34,9 65,1 
30 w w 50 20,0 80,0 
50 „ a 70 17,9 82,1 
70 und mehr 20,1 79,9 
zusammen Jahre 40,9 59,1 


Ueber die soziale Schichtung der Zuziehenden sind schwerlich 
genaue Ziffern beizubringen. Auch orientiert ein Blick ins Leben 
besser, als der Umweg über die Statistik. 

Der Charakter des Zuzugs ist etwas Qualitatives, das durch 
Zahlen nicht erklärbar ist; er wird erst deutlich, wenn man sich die 
Motive veranschaulicht, die ihn treiben. 

Weshalb ziehen diese Massen in die Stadt? — Oben ist ausge- 
führt worden, daß die Großstadt ein von der Niederlassung von In- 
dustrien im wesentlichen unabhängiges Gebilde sei, wenn auch in 
zweiter Linie eine Rückwirkung durchaus nicht bestritten wurde. 
Hier gilt es, sich das noch einmal zu vergegenwärtigen. Nicht etwa 
die höheren Löhne der städtischen Fabriken bilden die Anziehungs- 
kraft der Agglomeration; die Stadt als solche ist es, welche die 
Menschen unwiderstehlich an sich reißt, sie, die Heimstätte zugleich 
der stärksten individualistischen und kommunistischen Kräfte, ein 
großes Zusammensein, ein großes Auseinander und Ineinander zahl- 
loser Individuen. Gefühlsmomente, die in den Tiefen der intellek- 
tualistischen und individualistischen Weltanschauung einer ganzen 
Geschichtsperiode beruhen, verleihen ihr einen seltsamen Nimbus, 
und den unwiderstehlichen Zauber der „ville tentaculaire“. Von 
berufener Seite ist das des näheren auseinandergesetzt worden !). 
Daß diese seelische Stimmung einen quantitativ so gewaltigen Aus- 
schlag geben konnte, liegt an der starken natürlichen Vermehrung 
der ländlichen Bevölkerung, an der begrenzten Aufnahmefähigkeit 
der Landwirtschaft für die großen Greburtenüberschüsse, an der voll- 
kommeneren Ausnützung der Menschenkraft durch die Industrie, an 
dem durch die veränderte Technik hervorgerufenen Untergang zahl- 
reicher ländlicher Nebengewerbe und schließlich an der durch die 
modernen Kommunikationsmittel gegebenen Möglichkeit, große Men- 
schenmassen zu transportieren. Das alles greift ineinander, wirkt 
zurück, verbindet sich, hebt sich auf zu einem schier unübersehbaren 
sozialen Geschehen. Der Lohn mag höher sein in der Stadt; stets 
erwartet man dort besseren Verdienst. Aber ob das gerade in der 
Fabrik sein muß, ist gleichgültig. Erst wenn sich einmal durch den 
gleich darzulegenden Entwickelungsgang die vornehmsten Betriebe 


1) Vergl. Meuriot, S. 281 ff.; Sombart, S. 223; A. F. Weber, S. 160 ff.; Simmel, 
in „Die Großstadt“; Kuczynsky, „Der Zug nach der Stadt“, 1897; Vandevelde, „Ein 


Sal zur Aufsaugung des Landes durch die Stadt“, Arch. f. erz. Gesetzgeb., Bd. 14, 
3. 99. 


742 Otto Schwarzschild, 


des ganzen Landes in der Hauptstadt zusammengefunden haben, 
kommt wohl von hier oder dort ein gelernter Arbeiter mit dem 
klaren Bewußtsein her: Da vermag ich mein Können besser zu ver- 
werten und stehe mich um so und soviel vorteilhafter. Die große 
Masse kennt solche Ueberlegungen nicht; sie treibt der instinktive 
Drang zu freieren Lebensverhältnissen dunkel vorwärts. Gerade 
die Antipoden der individualistischen Gesellschaft werden am stärksten 
mitgerissen, die Tüchtigen, denen Freiheit freie Selbstbestimmung, 
und anderseits die, denen sie Zügellosigkeit bedeutet oder die Mög- 
lichkeit, sich im Menschenschwarm vor Menschen zu verstecken. Diese 
letzteren, entgleiste Existenzen aller Art, machen sicher einen ge- 
wissen Teil der Zuwandernden aus. Wenn aber A. F. Weber sagt: 
„Ihe large eity contains a large population that is unducated, un- 
shilled and poverty — sticken. Incapable of organization it sells its 
energy to the bidder at starvation wages . . . .1)“, so hat er wohl 
die amerikanischen Städte mit ihren Juden-, Italiener- und Chinesen- 
quartieren im Auge, in Westeuropa kennt man mit Ausnahme von 
London derartige Amassierungen verkommensten Volkes in gleichem 
Maße nicht. Was sich in unseren Großstädten an ähnlichen Elementen 
herumtreibt, kommt jedenfalls für die gewerbliche Arbeit so gut wie 
gar nicht in Betracht, nur hier und da etwa in der Hausindustrie, 
als Aushilfe u. s. w.?). 

Um so mehr aber die übrigen, das Gros, das nicht die Stadt auf- 
sucht, um seine Vergangenheit zu verstecken, sondern um seine 
Zukunft zu suchen. Zahlloses Volk, jung, arbeitsfähig, seinen Ver- 
dienst suchend. Wo fände die Industrie einen besseren Arbeitsmarkt! 
Man könnte glauben, die Ansprüche dieser bunten zusammenhang- 
losen Schar seien nicht besonders hoch. Das mag auch auf viele, 
welche eben erst in die Stadt gekommen sind, zutreffen. Aber die 
Art der Lebenshaltung bleibt auf die Dauer hier am wenigsten in 
das Belieben des Einzelnen gestellt. Es zeigt sich bald, daß selbst 
ein Existenzminimum in der Großstadt höher zu stehen kommt als 
draußen. Dann aber wird jeder halb bewußt, halb unbewußt in 
klassenmäßige Zusammenhänge gezogen, die bald seine gesamten 
Daseinsbedingungen in ausschlaggebender Weise bestimmen. Und 
so wird man sich überzeugen, daß der Produktionsfaktor Arbeitskraft 
in der Großstadt zwar reichlich, aber durchaus nicht billig zur Ver- 
fügung steht. 

Ein Blick auf den großstädtischen Bedürfnisstand bietet die 
beste Maßgabe, die Grundlagen der Lohnverhältnisse, dann auch die 
Qualität und Verwendungsmöglichkeit des Arbeitermaterials zu be- 
urteilen: 

Das vornehmste Lebensbedürfnis, das nach Nahrung, kann hier 
heute verhältnismäßig billig befriedigt werden. In Berlin sind die 
Lebensmittel wohlfeiler als in der Provinz, ganz entlegene Gegen- 


0 


. 8. 762. 


=N 


1) 8. 
2) S. 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 743 


den ausgenommen‘). Aehnlich verhält es sich mit dem Bedarf an 
Kleidung, wenn man nur das unbedingt Notwendige in Betracht zieht ?). 

Um so ungünstiger liegen die Wohnungsverhältnisse! Wird der 
direkte Einfluß der Grundrente auf unser Problem wohl überschätzt, 
so äußert er sich indirekt um so nachdrücklicher, indem er durch 
die hohen Mietpreise den wesentlichsten Anteil an der Verteuerung 
der großstädtischen Lebensführung hat. 

Schon 1867 ist, wie Alfred Weber bemerkt), das Arbeiterbudget 
doppelt so hoch mit Miete belastet, als es nach Engel für normal 
gilt, mit 22—24 Proz. statt 12 Proz. Die Tabelle zeigt die Höhe 
der Mieten in Berlin gegenüber anderen großen Städten. Selbst in 
der armen Vorstadt Wedding stand der Mietpreis doch noch über 
dem Durchschnitt des wohlhabenden Frankfurt a. M. Durch die 
Wohnungsaufnahme Ende 1900 ist für 230306 Wohnungen mit einem 
heizbaren Zimmer und Küche ein Durchschnittspreis von 289 M. 


Tabelle I. 
Durchschnittlicher Mietwert in Mark von Wohnungen mit... heizbaren Zimmern 1890; 
nach Lindemann, Wohnungsstatistik in S. d. V. f. S., Bd. 94, S. 375. 


Anzahl der heizbaren Zimmer 


Stadt I 2 
Berlin 299 379 Wohnungen ohne Gewerberäume 
Breslau 143 244 Mietwohnungen ohne gewerbliche Benutzung 
Dresden 374 305 bewohnte Wohnungen 
Frankfurt a. M. 173 280 1895. Sämtliche Wohnungen 
Hamburg 222 323 ausschließlich als Wohnung benutzte Gelasse 
Leipzig 200 344 Mietwohnungen überhaupt 
Lübeck 117 206 Mietwohnungen 
München 150 279 abgerundete Mittelwerte 
Berlin-Wedding 189 Hirschberg, Die soziale Lage der arbeitenden Klassen in 
Berlin, Berlin 1897. 
Tabelle I. 


Jährlicher Durchschnittspreis eines heizbaren Zimmers in Mietwohnungen ohne gewerb- 
liche Nebenbenutzung am 1. Dez. 1900 nach dem Statistischen Jahrbuch 
deutscher Städte, X1. Jahrg., S. 89. 


Berlin 235 M. Hamburg 181 M. 
Charlottenburg 246 „ Breslau 164 » 
Dresden 204 »„ Leipzig 163 „ 
Königsberg 185 „ Straßburg i. E. 113 „ 


1) Markt und Ladenpreise der wichtigsten Lebensmittel in Berlin und Spandau im 
Durchschnitt der Jahre 1889/1900 nach Neissen a. a. O, S. 46/47. Tab. 17. 
Preis für 1 kg bezw. Schock in S. 
Fleisch im Kleinhandel 


Ger. 
Rind Speck Schweine- 
v.d. vom (in- EB- Weizen- Roggen- schmalz 
Keule Bauch Schweine Kalb Hammel länd.) butter Eier mehl mehl (inländ.) 
Spandau 156 120 142 141 141 171 234 398 36 30 132 
Berlin 138 III 133 130 124 149 231 349 35 30 137 


Freilich sind die Lebensmittelpreise in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 
überhaupt stark gesticgen (vergl. Wiedfeldt, S. 107). 

2) Vergl. A. F. Weber S. 218. 

3) Alfred Weber, „Die Entwickelungsgrundlagen der großstädtischen Frauenheim- 
industrie“, Bd. 85 der Schriften des Vereins für Sozialpolitik, S. XXXVI. 


744 Otto Schwarzschild, 


(85 M. auf den Bewohner) an Jahresmiete berechnet worden !). Eine 
solche Ausgabe würde, wenn der Engelsche Normalsatz angenommen 
wird, die Möglichkeit einer jährlichen Gesamtausgabe von 2408,83 M. 
erheischen! Den etwas billigeren Mieten in den Vororten stehen 
die bedeutende Verteuerung der Lebensmittel und die Kommuni- 
kationskosten gegenüber. 

Die Berliner Mieten sind die höchsten im ganzen Reiche, obwohl 
der Boden durch den Mietskasernenbau aufs äußerste ausgenutzt 
wird. Sie ständen bei extensiverer Bauweise vielleicht noch höher, 
immerhin eine sehr umstrittene Frage. Es ist also auf den für die 
Wohnung zu machenden Aufwand zurückzuführen, wenn schon die 
Befriedigung der reinen Existenzbedürfnisse bedeutende Mittel er- 
heischt. Damit ist es aber nicht getan. Innerhalb der sozialen Ge- 
meinschaft, die den Einzelnen umschließt, erweitern und verfeinern 
sich diese Bedürfnisse so schnell und unmerklich wie nirgends sonst. 
Bald umgibt eine Hülle von verwöhnten Wünschen und Ansprüchen 
das grobe Verlangen nach dem unbedingt Notwendigen. Manch 
reines Kulturbedürfnis stellt sich daneben ein. Die Reize sind 
stärker, die Nerven reagieren leichter. Wozu lebt man in der großen 
Stadt, wenn man nicht an ihren Genüssen teilnehmen soll! Welcher 
Magnet war es, der die meisten hierher zog? 

Die relative Höhe der Lebenshaltung schafft härtere Bedingungen. 
mit denen der einzelne sich abzufinden hat. Wer nicht eine ge- 
wisse Summe verdienen kann, gerät in Gefahr, mehr und mehr zu 
verkommen und schließlich unterzugehen. Daher heißt es zunächst 
etwas Tüchtiges zu leisten, dann einen möglichst hohen Anteil am 
Ertrage für sich behaupten. Wie aber nirgends das Bedürfnis 
brennender, so ist auch nirgends das Bestreben, dem Mangel abzu- 
helfen, regsamer, energischer und disziplinierter; nirgends findet es 
eine günstigere Gelegenheit, sie durchzusetzen. 

Das letztere ist schon deshalb der Fall, weil der reine Platz- 
konsum Qualitätsarbeiter gebraucht und hoch entlohnt. Und zwar 
Qualitätsarbeiter der verschiedensten Art! Ein sehr wichtiger Um- 
stand: In einem Industriebezirk von durchweg einheitlichem Charakter, 
wo immer nur für die gleiche Beschäftigung Hände gesucht werden, 
kann zwar eine hohe spezialistische Ausbildung ganzer Generationen 
erreicht werden, aber nur auf Kosten der manuellen und auch der 
geistigen Versatilität. Ein einziges Gewerbe stellt ganz bestimmte 
Ansprüche an die Arbeitskraft; es gibt ein Leistungsmaximum, dem 
ein Lohnmaximum entsprechen muß. Ganz anders hier, wo mehrere 
entwickelte Gewerbe an demselben Platze bestehen. Werden an 
einem Platze überhaupt einmal qualifizierte Arbeiter verlangt und 
entsprechend entlohnt, so wirkt das fermentierend auf die ganze 
Klasse. Durch besseres Können ist es möglich, die höheren Löhne 
des einen Gewerbes gegen die niedrigen des anderen auszuspielen. 
Jeder sucht in der Industrie und dem Betriebe Platz zu finden oder 


1) Vergl. Hirschberg, „Bilder aus der Berliner Statistik“, Berlin 1904. 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 745 


doch seine Kinder hineinzubringen, wo am besten gezahlt wird. Nicht 
‚so, als wenn sich das von heute bis morgen regulierte, wie die 
britische Doktrin derlei Dinge anzusehen liebte, aber doch im Laufe 
von Jahren und Jahrzehnten. Durch diese Sachlage wird die geistige 
Regsamıkeit des Arbeiters noch gesteigert. Er wird nicht so leicht 
eine Möglichkeit, sein Einkommen zu erhöhen, vorübergehen lassen. 
Das Streben nach einem bloßen Auskommen hat nirgends weniger 
eine Heimstätte als hier. Das zieht denn auch aus dem ganzen 
Lande die Fähigsten und Strebsamsten herbei, so daß man wohl von 
einem Ausleseprozesse nach der Seite der qualifizierten Arbeit 
sprechen kann, der in der Großstadt seinen Ausgangspunkt nimmt: 
und sich dort in der schärfsten Form vollzieht. Die Entwickelung 
seiner Fähigkeiten verschafft dem Arbeiter auch die Möglichkeit, eine 
unabhängigere Position einzunehmen und sich seine Ueberlegenheit 
über die Arbeiter anderer Volkswirtschaftsgebiete in wachsendem 
Maße zu gute kommen zu lassen. 

Dazu ist vor allem die straffe Organisation behilflich, welche 
für den Unternehmer die Schwierigkeit, sich mit ihm abzufinden, 
am meisten verstärkt. Berlin hat heute mehr koalierte Arbeiter, als 
das Königreich Sachsen und die Provinz Westfalen zusammen. 
12,5 Proz. aller gewerkschaftlich Organisierten des Reiches, 13,4 Proz. 
aller in den sozialdemokratischen Gewerkschaften vereinigten kommen 
auf die Reichshauptstadt. (Auf das Rheinland 17,5 Proz.). Der Holz- 
arbeiterverband zählt 17,5 Proz. seiner Mitglieder in Berlin (ohne viele 
Vororte), während die Zahl der in den Berufen tätigen, über die er 
sich erstreckt, 6,9 Proz. der Gesamtzahl des Reiches ausmacht. Im 
Metallarbeiterverband machte die Berliner Mitgliederzahl 22,4 Proz. 
aus (6,3 Proz. der Berufsangehörigen in Berlin). Die Gesamtheit der 
sozialdemokratischen Verbände nahm von 1896—1900 zu 


im Reich um 288,3 Proz. 
in Preußen 3.24. ur ı) 
Berlin n» 371,6 ” 


In dieses Bild der Entwickelung der großstädtischen Arbeiter- 
schaft fügt sich das weite Gebiet der Frauenarbeit nicht ohne 
weiteres ein. Es muß unter einem besonderen Gesichtspunkt be- 
trachtet werden. Man hat danach gefragt, weshalb Frauenarbeit ge- 
ringer entlohnt werde als Männerarbeit — eine Tatsache, die fast 
überall zutrifft, auch da, wo es sich um gleiche Leistungen handelt. 
Sie ist nicht anders zu erklären, als durch die Auffassung dieses 
Erwerbes als Zulage, als Aushilfe seitens der überwiegenden Zahl 
der Erwerbenden selbst. Das tritt in anderen Gebieten kaum so 


1) Troeltsch u. Hirschfeld, Die deutschen sozialdemokratischen Gewerkschaften. 
Untersuchungen und Material über ihre geographische Verbreitung 1896—1903, Berlin 
1905, S. 119 ff. Der Verband der Vergolder zählte 46 Proz. der Organisierten in Berlin 
(14,5 Proz. der Berufsangehörigen), der der Lederarbeiter 16,4 Proz. (4). Das Zentrum 
der Organisation der Sattler ist hier, ähnlich das der Buchbinder. Charakteristischer- 
weise sind Tabak- und Zigarettenarbeiter nur relativ gut organisiert, die Organisation 
der Textilarbeiter ist vollends nicht glänzend. 


746 Otto Schwarzschild, 


deutlich zu Tage. wie gerade in der Großstadt. Die vornehmlichste 
Ursache des großen Umfanges der städtischen Frauenarbeit liegt in 
dem oben besprochenen Frauenüberschuß. Wie hier alles vor- und 
rückwärts wirkt, so ist der starke Anteil des weiblichen Geschlechts 
am Zuzug zum Teil durch die Möglichkeit der Beschäftigung in der 
Stadt hervorgerufen, aber doch auch hier wieder nur in zweiter 
Linie. Auch beruht ja der Frauenüberschuß zum guten Teil auf der 
weiblichen Geburtsbevölkerung der Stadt selbst. Er ist eine ge- 
gebene Tatsache. Mit ihr liegt die Notwendigkeit vor, eine größere 
Anzahl von Menschen zu ernähren und mithin die Tendenz zu 
eigener Erwerbstätigkeit bei einer wachsenden Anzahl von ihnen. 
Verstärkt wird diese durch die außerordentlich hohe Lebenshaltung 
von Familien, deren Haupterwerbsquelle die Tätigkeit eines männ- 
lichen Mitgliedes bildet. Die Arbeiterschaft ist gerade hier so 
rationell, so „kapitalistisch“, daß sie auch das in der menschlichen 
Arbeitskraft beruhende Kapital nicht unbenützt liegen lassen mag. 
Dazu tritt die größere Teilnahme der Frau an höherer intellektueller 
Erholung, wie an roheren Vergnügen und vor allem ihre unab- 
hängigere Stellung innerhalb der stärker individualistischen Umwelt. 
Sie kann auf eigene Faust etwas unternehmen, ohne erst bei Vettern 
und Basen Rats erholen zu müssen. Die weiblichen Familienange- 
hörigen des Mittelstandes verschmähen dazu ein kleines selbst- 
erworbenes Taschengeld hier am wenigsten. Und schließlich ist es 
die ausgedehnte Prostitution der Großstadt, die Nebenverdienste be- 
ansprucht, wenn auch im einzelnen die Verhältnisse meist umgekehrt 
liegen: die gewerbsmäßige Dirne scheut die Arbeit durchaus, während 
die gewerbliche Arbeiterin sich durch Prostitution gelegentlich Neben- 
verdienste erwirbt!) So kommt die Notwendigkeit eines Supple- 
mentärerwerbes für breite Schichten zu stande. Die hauswirtschaft- 
liche Nachfrage, die eher ab- als zunimmt, vermag das Angebot nicht 
mehr zu absorbieren. Aber es stellt sich einer solchen auch gar 
nicht mehr zur Verfügung, wie die Dienstbotennot heute deutlich 
beweist. Die Ansprüche liegen in einer ganz anderen Richtung. 
Als charakteristischer Beleg mag die Mitteilung dienen, daß auf 
Grund des bei der Landesversicherungsanstalt Berlin bearbeiteten 
Beitragmaterials in den Jahren 1904 und 1905 nicht weniger als 
5000 Dienstmädchen in den Beruf der gewerblichen Arbeiterin über- 
gegangen sind). Die zahllosen Scharen junger Mädchen, die vom 
Lande hereinkommen, würden zum Teil gar nicht von Hause weg- 
kommen, wenn sie die Absicht äußerten, gleich in die Fabrik gehen 
zu wollen; denn weite Kreise der ländlichen Bevölkerung sehen die 
Fabrikarbeiterin ohne weiteres als Gefallene an. Der in die Massen 
getragene individualistische Trieb macht aber bald der Dienstmagd 
ihren Beruf unleidlich; er nimmt vielleicht gerade in der unge- 


1) Vergl. Grandke, Berliner Kleiderkonfektion in Schriften des Vereins für Sozial- 
politik, S. 273 ff. 
2) Soziale Praxis, 16. Jahrg., No. 8. 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 747 


bildeten Frau die niedrigsten Formen an. Die gewerbliche Arbeit 
wird aufgesucht, weil man dabei sein Leben möglichst frei einrichten 
zu können vermeint. 

Alice Salomon führt die geringere Entlohnung darauf zurück, 
daß es sich bei dem Erwerb der meist recht jugendlichen Arbeite- 
rinnen nur um ein „Provisorium“ handle !); bei dem anderen großen 
Teil der weiblichen Arbeiterschaft ist das Schlagwort Supplement 
am zutreffendsten, denn er rekrutiert sich aus schon verheirateten 
Frauen, denen es nur um eine Zulage zum Verdienst des Mannes 
zu tun ist. Aufs deulichste zeigt sich dieser Supplementärcharakter 
in den Tabellen der Enquete über die Heimarbeit, welche kürzlich 
von der Berliner Handelskammer veranstaltet worden ist ?). 

Das Vorherrschen der hausindustriellen Betriebsform ergab sich 
demnach unmittelbar aus der Art, wie sich der Produktionsfaktor 
Arbeit zur Verfügung stellte, und nicht wie Alfred Weber meint, 
in erster Linie aus dem Entwickelungsstadium der Industrie, die 
ihn hauptsächlich benutzte 8). Wir sehen vielmehr, wie diese In- 
dustrie heute stellenweise noch künstlich in jenem Entwickelungs- 
stadium festgehalten wird, bloß weil ihre Arbeiterschaft nicht kräftig 
genug ist‘). Ja, es darf nicht außer acht gelassen werden, daß 
allein die Heimarbeit den Wünschen, ja vielfach den wirklichen Be- 
dürfnissen weiter Kreise der großstädtischen Bevölkerung entspricht. 
Nur sie scheint das zu garantieren, wonach so viele verlangen: ein 
größeres Maß individueller Freiheit. Wenn auch die unverheirateten 
Frauen schließlich zum größten Teil für Werkstättenarbeit zu haben 
wären, sicher, — besonders bei den Entfernungen der Großstadt — 
nur ein kleiner Bruchteil der verheirateten. Manche würden sich 
auch einfach deshalb nicht darauf einlassen, weil sie ohne einen Zu- 
schußverdienst auskommen könnten. Grandke trifft daher den Nagel 
auf den Kopf, wenn er „die bedauerliche“ Tatsache feststellt, „daß 
eine Hausindustrie unter den derzeitigen Verhältnissen in Berlin 
für breite Volksschichten unumgänglich nötig ist* 5). Mit ihrer Not- 
wendigkeit aber ist auch ihr größter Mangel gegeben: der Lohn wird 
gedrückt, auch die große Anzahl derjenigen, denen es nicht darauf 
ankommt, für ein paar Groschen billiger zu arbeiten. Kann doch 
der niedrige Verdienst verheirateter Frauen tatsächlich ein Zeichen 
der guten wirtschaftlichen Lage der ganzen Familie sein®); um so 
schlimmer für diejenigen, für die es sich um die einzigste Erwerbs- 
quelle handelt! 

Zugleich mit der vorherrschenden Betriebsform ergab sich die 


1) Alice Salomon, „Die Ursachen der englischen Entlohnung von Männer- und 
Frauenarbeit‘‘, Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen, Bd. 122. 

2) Die Heimarbeit in Berlin. Bericht der Handelskammer, Berlin 1906. 

3) Alfred Weber, „Die Entwickelungsgrundlagen der großstädtischen Frauenheim- 
industrie, Bd. 85 der Schriften des Vereins für Sozialpolitik. 

4) 8. 29, 45; s. u. 8. 755 ff. 

5) Grandke, Berliner Kleiderkonfektion in S. d. V. f. S., Bd. 85, S. 388. 

6) S. u. S. 756. 


748 Otto Schwarzschild, 


Industrie, für welche diese Arbeitskräfte hauptsächlich zu benutzen 
waren, aus deren sozialem Charakter. Es muß eine Tätigkeit sein, 
welche auch zu Hause ausgeübt werden kann, eine, die keinen 
längeren Lehrgang voraussetzt. Die große Mehrzahl ist zu nichts 
anderem zu gebrauchen, als wozu weibliche Hände stets geschickt 
sind, zum Schneidern und Putzen. Da aber hat die Großstädterin 
eine ganz natürliche Monopolstellung. Sie hat allemal eine flinkere 
Hand und auch im großen und ganzen den besseren Geschmack. 
Wenigstens besitzt die Qualitätsarbeiterin in letzterer Beziehung 
eine Ueberlegenheit, die ihr von der Kollegin draußen nie strittig 
gemacht werden kann. Denn sie beruht auf der Einzigartigkeit der 
Umwelt. Ein Gang an den Schaufenstern der Rue de la Paix, der 
Leipziger Straße vorbei, gibt Anregungen, die anderswo umsonst 
gesucht würden. Das Supplementäre und Provisorische des Er- 
werbes und die Zusammenhanglosigkeit der Einzelnen läßt es nicht 
zur Behauptung eines adäquaten Urteils am Ertrage kommen; aber 
dennoch fangen auch diese Schichten an, sich zu regen, und ihre 
Organisation hat in der großen Stadt die besten Aussichten. Viel- 
leicht wird sie eine grundsätzliche Aenderung der Bedingungen her- 
beiführen, zu denen sich das Arbeitermaterial stellt, wobei freilich 
ein Teil desselben ganz ausgeschaltet werden würde. Jedenfalls 
vermöchte sie die Löhne erheblich zu steigern, und damit würde 
das Bild dieser Industrien schließlich dem derjenigen immer ähn- 
licher werden, deren Arbeiter nicht bloß Zuschüsse und Aushilfen 
verdienen wollen. 

Es entspricht diesem aber auch heute schon insoweit, als erstens 
trotz der absoluten Niedrigkeit der Löhne diese dennoch in der 
Großstadt vielleicht im gleichen Verhältnis der Provinz gegenüber 
höher stehen, wie die der männlichen Arbeiter, und zweitens die 
großstädtischen Arbeitskräfte alle im Tempo der Arbeit und die 
meisten in Chick und Grazie eine unbedingte Ueberlegenheit über 
die draußen befindlichen besitzen. Der Unternehmer wird sich 
daher am besten stellen, wenn er diese Eigenschaften seines Arbeiter- 
materials gegen die Provinzkonkurrenz ausspielt. 

Wie wird er sich überhaupt der eigenartigen Gestaltung des 
Produktionsfaktors Arbeitskraft in der Großstadt gegenüber verhalten ? 
Es ist die Frage, auf die alles ankommt. Wird er nicht auf dem 
platten Lande, in Mittel- und Kleinstädten billige Arbeiter genug be- 
kommen können, die gleich Gutes leisten und den Fabrikherren nicht 
mit lästigen Plackereien behelligen. Ohne Zweifel liegt in der Ver- 
teuerung der großstädtischen Arbeitskraft und in der unabhängigen 
Gesinnung der sie vertretenden Klasse eine gewaltige Zentrifugalkraft, 
die ständig bestrebt ist, die Betriebe hinauszuziehen und zwar nicht 
etwa in die Bannmeile, sondern in entfernte Gegenden, wo jeder 
Kontakt mit dem ehemaligen Standort unmöglich ist. Diese Zentri- 
fugalkraft ist weit stärker, als die durch die Transportkosten von 
tohmaterialien und Halbfabrikaten hervorgerufene. Wird sie im- 
stande sein, die Großstadt zu entindustrialisieren? A. F. Weber 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 749 


sagt: On the whole the great city seems now to be at a disadvantage 
in manufacturing... .1). 

Er hält dafür, daß die Unternehmer vor der Macht der Gewerk- 
schaften in kleine Orte fliehen müssen, bis auch dort die Köpfe 
revolutioniert sind. Das Verbleiben führt er auf folgende Gründe 
zurück: 

1) mehr zufälligen Konservatismus, 

2) das Angewiesensein auf Arbeitskräfte, die sich nur am Platze 
finden, 

3) auf lokalen Absatz ?). 

Das ist ohne Zweifel richtig. 

Es frägt sich nur, wenn wir von dem ersten Grunde absehen 
und bei den auf den lokalen Absatz angewiesenen Gewerben die 
rein lokalwirtschaftlichen ausscheiden, bis zu welchem Punkte der 
Unternehmer großstädtische Arbeitskräfte nötig hat, bis zu welchem 
er durch die lokale Bedarfskonzentration festgehalten wird. Wie 
lange behalten die zentrifugalen Kräfte das Uebergewicht? So lange, 
als der Unternehmer die Lohnsteigerungen irgendwie wieder wett- 
machen kann! Wie aber ist ihm das möglich? Nach der Formu- 
lierung von Philippovich erstens da, „wo der Betrieb auf einem 
rechtlichen, natürlichen oder tatsächlichen Monopol beruht, oder doch 
in einem Lande oder lokalen Gebiete, das anderen Gebieten gegen- 
über besondere Vorzüge besitzt“ oder wo er Produkte herstellt, 
„die infolge zunehmenden Reichtums oder wachsender Zahl der 
Kunden in steigendem Maße nachgefragt werden“ oder schließlich 
solche, „bei denen durch Organisation der Produktion (Uebergang 
zum Großbetrieb) oder durch verbesserte Maschinen oder Arbeits- 
prozesse die relativen (auf die Einheit entfallenden) Produktions- 
kosten trotz Erhöhung der Löhne gemindert oder noch nicht ge- 
steigert werden“). Das sind einmal Produkte der allerqualifizier- 
testen, spezialistisch geschulten Arbeitskraft, Produkte „gebildeter 
Arbeitskraft“, dann solche „gebildeter Kapitalkraft“ (Schäffle). 

Da aber, wo kein Monopol besteht, wo der spezifische Wert der 
Produkte nicht hoch genug ist, die Lohnsteigerungen unmöglich 
sind, das ist meistens da, wo bei der Kostenberechnung ein über- 
wiegender Posten auf ordinäre Arbeit zu rechnen ist, vermögen sich 
die Betriebe in der Großstadt nicht zu halten. Sie müssen un- 
weigerlich in Gegenden mit billigeren Produktionsbedingungen ab- 
rücken. Ebenso wird die Herstellung der Mittelsorten von der 
Provinz bedroht. Alle Massenwaren und Stapelartikel sind auf die 
Dauer gefährdet. Ist es möglich, den Produktionsprozeß so weit zu 
zerlegen und zu mechanisieren, daß man die einzelnen Verrichtungen 
auch ungelernten Händen anvertrauen kann, so ist das auch für 
bessere Qualitäten der Fall. So schließt sich an den aus den härteren 


1) S. 205 ff. 
2) Sombart durchaus ähnlich. 
3) Grundriß, S. 310, 


750 Otto Schwarzschild, 


Lebensbedingungen der Großstadt erwachsenen Ausleseprozeß unter 
der Arbeiterschaft ein solcher unter den Unternehmungen an; sie 
müssen durch Herstellung von monopolartigen und hochwertigen 
Artikeln sich über Wasser zu halten suchen, wodurch sie ihrerseits 
jenen Prozeß noch mehr verschärfen. 

Es frägt sich, wie radikal diese Entwickelung werden kann. 
Denkbar ist es, daß kein einziger volkswirtschaftlicher Betrieb mehr 
im Bereiche der Stadt bleibt, weil draußen alles ebenso gut, aber 
billiger herzustellen ist. Ob und wann das hauptsächlich eintritt, 
muß der Betrachtung konkreter Einzelheiten überlassen bleiben. 
Es wird sich nur von Fall zu Fall entscheiden lassen, da die tech- 
nischen Aenderungen innerhalb der einzelnen Gewerbe und das Fort- 
schreiten der Kultur in entlegenere Teile des Volkswirtschaftsge- 
bietes die Sachlage täglich ändern können. 

VI. Es soll sich daher ein Ueberblick über das gewerbliche 
Leben Berlins anschließen, daraufhin, welche Industrien und In- 
dustriezweige für die Großstadt taugen und welche nicht. Besondere 
Aufmerksamkeit soll dabei der Frage des Exodus zugewandt sein. 
Es wird sich so zeigen, ob der Gang der konkreten Entwickelung 
dem Bilde entspricht, das wir uns durch eine mehr allgemeine Be- 
trachtung machen zu können geglaubt haben. 


Zahl der Gewerbtätigen in Gehilfenbetrieben. 
V.ohne V.c.6. Metallverarbeitung ausschließlich Eisendrahtzieherei. 


1882 1895 
Stadt Berlin 19 392 29 980 In Berlin 1882 8,0 Proz. 
Brandenburg 14 398 20 141 1895 8,1, 25; 
Schlesien 28 714 37 092 der in Preußen Gewerbtätigen. 
Westfalen 39 042 59 632 
Rheinland 56 945 87 293 
Preußen 242 500 345 797 

VI. Industrie der Maschinen, Instrumente. 

Berlin 22439 41615 In Berlin 1882 12,9 Proz. 
Brandenburg 14 558 32135 1895 13,6 v5 
Rheinland 25755 56 624 der in Preußen Gewerbtätigen. 
Preußen 173 596 306 218 


Sämtliche preußische Provinzen außer Rheinland und alle Bundesstaaten mit Aus- 
nahme von Sachsen und Bayern (rechts und links des Rheins) haben 1882 wie 1895 
weniger Gewerbtätige als die Stadt Berlin. 


Papierindustrie. 


Berlin 10575 15 523 In Berlin 1882 23,1 Proz. 
Brandenburg 2 384 4081 1895 22.5 i 
Preußen 45 850 69 145 


Berlin wird nur durch das Königreich Sachsen an Zahl der Gewerbtätigen über- 


troffen. 
Industrie der Holz- und Schnitzstoffe. 


Berlin 21 424 30 603 In Berlin 1882 12,1 Proz. 
Brandenburg 15 461 24 902 1895 IIT j 
Schlesien 25 178 37 084 der in Preußen Gewerbtätigen. 
Rheinland 25 896 40 809 


Preußen 176491 262 237 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 751 


Es handelt sich hier nicht um eine umfassende Darstellung des 
gewerblichen Lebens der Weltstadt, sondern nur um die Prüfung 
einer Reihe der wichtigsten Gewerbe nach den uns interessierenden 
Tendenzen. 

Welche Rolle Berlin heute im gewerblichen Leben Deutschlands 
spielt, zeigt im allgemeinen die Tabelle. Daß die Industrie im 
engeren Sinne noch in stetem Wachstum begriffen ist, lehren die 
von der Gewerbeinspektion mitgeteilten Daten. Sie gelten nicht 
nur für Berlin, sondern auch für Charlottenburg, Schöneberg und 
Rixdorf, was jedoch nur ein Vorzug ist. Es betrug die Anzahl der 
in Fabriken und diesen gleichgestellten Anlagen beschäftigten Ar- 
beiter in den genannten Städten 

1901 226 691 1904 272 768 
1902 216 541 1905 285915 
1903 246 845 

Das Krisenjahr 1902 bringt eine starke Abnahme. Sonst ge- 
rade in den letzten Jahren eine bedeutende Zunahme, die zwar 
nicht ganz so stark ist, da 1903 und 1904 zahlreiche Betriebe in 
der Kategorie Bekleidung und Reinigung neu ermittelt und einge- 
gestellt wurden !) ! 


Lederindustrie. 


Berlin 7 406 9 780 In Berlin 1882 13,2 Proz. 
Brandenburg 4 100 5837 1895 73.3» -.,, 
Rheinland 10 279 13 943 der in Preußen Gewerbtätigen. 
Preußen 55 841 74 354 


Von den Bundesstaaten beschäftigen nur Bayern und Sachsen mehr Gewerbtätige 
als Berlin. 
Bekleidungs- und Reinigungsgewerbe. 


Berlin 40 773 72 314 In Berlin 1852 ‚12,5 Proz. 
Brandenburg 26 318 35 645 1895 1750: yr 
Schlesien 46 720 56 149 der in Preußen Gewerbtätigen. 
Rheinland 42 189 61 672 

Preußen 325 194 426 149 

Polygraphische Gewerbe. 
Berlin 8 858 16 358 In Berlin 1882 25,95 Proz. 
Brandenburg 1754 3 580 1895 25,0 z 
Preußen 34 128 65 338 der in Preußen Gewerbtätigen. 
Textilindustrie. 

Berlin 13 500 13 358 In Berlin 1882 4,3 Proz. 
Preußen 311439 333 392 1895 FE 


der in Preußen Gewerbtätigen, 
Chemische Industrie. 


Berlin 1 863 2797 In Berlin 1882 4,9 Proz. 

Brandenburg 3 506 11437 1895 E %, 

Preußen 37 801 65 117 der in Preußen Gewerbtätigen, 
Industrie der Leuchtstoffe, Seifen, Fette, Oele. 

Berlin 3 168 3 084 In Berlin 1882 12,5 Proz. 

Brandenburg 1740 3 062 1895 EN, 

Preußen 25 348 34 542 der in Preußen Gewerbtätigen. 


1) Jahresberichte der kgl. preuß. Regierungs- und Gewerberäte und Bergbehörden, 
1902—1906. 


752 Otto Schwarzschild, 


Wenden wir uns nunmehr der Betrachtung der Industrien im 
einzelnen zu. 

Die festeste lokalwirtschaftliche Basis besitzen zweifellos solche 
Gewerbe, die den unmittelbaren Bedarf der Stadt an 
genußreifen Gütern befriedigen. Zum größten Teile rein 
lokalwirtschaftlich, können sie doch auch volkswirtschaftliche Bedeutung 
erlangen. Nicht durch eigene Produktion, aber durch Angliederung 
einer Komplementärindustrie vermögen das z. B. die Gasanstalten. 
In London betreiben diese eine bedeutende chemische Industrie. 
In Berlin findet sich ein Ansatz zu einer derartigen Entwickelung 
in der Ammoniakfabrik der Imperial Continental-Gas-Association 
in Nieder-Schöneweide. 

Die Herstellung von Nahrungs- und Genußmitteln ist groß- 
gewerblich am vollkommensten organisiert in der heute fast durch- 
weg städtischen und großstädtischen Brauindustrie. Der lokale 
Bedarf der Großstadt bildet die Basis, auf der sie sich am vor- 
trefflichsten entwickelt. Schäffle weist darauf in seinen Untersuch- 
ungen über den Standort der Gewerbe besonders hin; es ist das 
einzige Mal, daß er so sehr ins konkrete Detail geht, Namen be- 
rühmter Londoner und Wiener Brauereien zu nennen. Die große 
Masse der städtischen Bevölkerung ist auf das am Platze gebraute 
Bier angewiesen; je größer der Bedarf, um so besseres kann geleistet 
werden, und der Ruf verbreitet sich schnell im Lande weiter. 


Die Bedeutung des Exportes für die Berliner Brauindustrie. 
Es betrug 


die Einfuhr nach Berlin die Ausfuhr aus Berlin 
in Proz. der Berliner Produktion in Proz. der Berliner Produktion 
1888 9,23 8,30 
1859 8,10 8,26 
1890 8,85 9,12 
1891 9,18 9,47 
1892 9,40 11,47 
1893 9,12 11,29 
1894 11,71 13,11 
1505 10,56 15,58 
1896 10,38 13,21 
1897 9,84 13,57 
1898 10,01 13,75 
1899 14,52 14,99 
1900 15,00 15,30 
1901 14,00 15,00 
1902 13,00 16,50 


nach den Berichten der Aeltesten der Kaufmannschaft für 1893, S. 76, für 1898, S. 87 
für 1902 II, S. 22. 

So wird der Export immer wichtiger. Welche Ausdehnung 
trotz des zunehmenden Exportes die lokalwirtschaftliche Basis be- 
sitzt, zeigt die Tabelle. Es scheint daher wohl ausgeschlossen, daß 
der Export dem Platzkonsum gegenüber so die Vorhand gewinnen 
könne, daß, wenn etwa wegen Erhöhung der Produktionskosten die 
Tendenz zum Exodus auftreten sollte, die Rücksicht auf die lokal- 
wirtschaftliche Basis nicht mehr mitsprechen würde. Daß dies, wie 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 753 


bei der Tabakindustrie, durch steuerliche Maßregeln möglich sein 
könnte, ist aber höchst unwahrscheinlich; sicher würde damit eine 
bedeutende Qualitätsverschlechterung eintreten müssen. Denn die 
Vorzüglichkeit des Produktes beruht auf der Tätigkeit eines trefflich 
geschulten, wirtschaftlich und geistig hochstehenden Arbeitermaterials. 
Die Zahl der in Brauereien gewerbtätigen Personen nahm von 
1882 bis 1895 in Berlin von 1812 auf 4310 Personen zu, d. i. um 
137,3 Proz. gegen 47,9 Proz. im Reichsdurchschnitt. Durch Ver- 
legung der Malzfabrikation in die Nähe des Fundorts der sperrigen 
Braugerste (Schultheißsche Malzfabrik in Fürstenwalde) oder an 
Schiffahrtsstraßen lassen sich die Produktionskosten eventuell etwas, 
jedoch nicht erheblich, verbilligen. 

Die Tabakindustrie, bei der sich eine ähnliche Tendenz 
zur Ansiedlung in der Großstadt vermuten ließe, ist heute in Berlin 
ziemlich unbeträchtlich. Früher eine exportierende Großindustrie, 
sah sie sich zur Einführung der Gewichtssteuern von 1879 veranlaßt, 
die Produktionskosten herabzusetzen; seitdem ist die Frauenarbeit 
im Vordringen begriffen, und ein Zug aufs platte Land allgemein 
zu konstatieren'). Auch in der Reichshauptstadt wurden die Zigarren- 
fabriken zum Teil aufgelöst und Heimarbeit eingeführt. Dies fand 
sich aber noch billiger in den kleinen Landstädten der Mark, Trebbin, 
Finsterwalde, Schwedt u. s. w., in die daher ein großer Teil der 
Berliner Fabrikation verlegt wurde?). Ueber die Zustände in der 
Stadt selbst hören wir: „Charakteristisch für die Branche ist es, daß 
sich unter ihren Heimarbeitern zahlreiche Leute befinden, die wegen 
Alters, körperlicher Gebrechen etc. in anderen Branchen keine Ver- 
wendung finden können ë)“. Zigaretten werden meistens in Fabriken 
hergestellt; nur zum Hülsenkleben benutzt man Heimarbeit ®). 
Frauenarbeit herrscht vor, die Löhne sind gedrückt. Von volks- 
wirtschaftlicher Bedeutung der ganzen Industrie kann kaum gesprochen 
werden 5). 

Ganz andere Verhältnisse finden sich im Druckereigewerbe, 
bei dem auch die starke Bedarfskonzentration der Großstadt in erster 
Linie mitspricht. Die Stellung der Hauptstadt im geistigen Leben 
der gesamten Nation bedingt es, daß dies Gewerbe hier eine große 
volkswirtschaftliche Bedeutung einnimmt. „Das in einer Zeitung an- 
gelegte Kapital braucht den großstädtischen Markt, um sich zu ver- 
zinsen“ ®). Die Berliner Zeitungen und Zeitschriften spielen freilich 
nicht die Rolle in unserem Vaterland, wie die Londoner und Pariser 


1) Jaffe, Hausindustrie u. Fabrikbetrieb in der deutschen Zigarrenfabrikation in 
S. d. V. f. S., Bd. 56, bes. S. 259 ff. dort zahlenmäßig belegt. 

2) Wiedfeld, S. 154 ff. und B. d. Aelt. f. 1895, S. 120. 

3) Bericht der Handelskammer über die Heimarbeit. 

4) Ebenda. 

5) Troeltsch-Hirsehfeld, S. 147 ff., auch Thiess, „Die Lohnverhältnisse in Berlin 
seit 1832“, Heidelberger Dissertation 1594, passim. 

6) Petermann in „Die Großstadt“. Dort auch interessantes Detail. 

Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVID, 48 


754 Otto Schwarzschild, 


in dem ihren, denn das deutsche Geistesleben ist dank der ganzen 
geschichtlichen Entwickelung dezentralisiertt und wird es auch in 
gewissem Maße bleiben. Die Herstellung der Zeitungen ist natur- 
gemäß ganz an den Platz gefesselt. 

Neben dem Bedarf des Volkes an holzpapierner Geistesnahrung 
spielt der des Staates an Erzeugnissen der Druckerpresse eine große 
Rolle (Reichsdruckerei). 

Als Verlagsorte kommen die Hauptstädte ebenfalls in erster 
Reihe, wenn auch nicht in gleichem Maße), in Betracht. Man läßt 
dann aber vielfach draußen drucken. Beträgt doch der Lokalzu- 
schlag in Berlin 25 Proz. Drei Berliner Firmen haben auswärts 
Druckereien errichtet: Imberg & Lefson in Nowawes (10 Proz. Lokal- 
zuschlag), Georg Reimer in Trebbin und Wagner in Zossen (kein 
Lokalzuschlag), doch ist diesen Verlegungen, die schon eine Reihe 
von Jahren zurückdatieren, keine weitere gefolgt. Die von Wied- 
feldt erwähnte Tendenz: „Die Buchdruckerei, die Kunstbuchdruckerei, 
die Lithographie, ja sogar auch die Schriftgießerei in großen Be- 
trieben zu vereinigen“, kommt der Großstadt zu gute. Charakte- 
ristisch für die Entwickelung eines lokalwirtschaftlichen Gewerbes 
zum volkswirtschaftlichen ist es, daß heute die meisten Fahrkarten 
der preußischen Staatsbahn von einer Berliner Firma gedruckt werden 
sollen, eine andere den Druck für Theaterbillets auch für weit ent- 
fernte Orte als Spezialität betreibt. In der schönen und sorgfältigen 
Ausführung von Wertpapierdrucken haben London und Paris noch 
immer die Vorhand. 

Die ausgedehnte Berliner „Papierindustrie* ist ein gra- 
phisches Gewerbe; sie beschäftigt sich ausschließlich mit der Weiter- 
verarbeitung des fertigen Papiers (sogenannte Luxuspapierindustrie), 
ist daher ebenso wie die eigentliche Druckerei auf hochwertige 
männliche Arbeiter angewiesen; daneben benutzt sie ein großes 
Heer von weiblichen Hilfskräften, die dem charakteristischen Bilde 
der weiblichen Arbeiterschaft in der Großstadt vollauf entsprechen’). 

Aus der lokalen Bedarfskonzentration entsprang auch die größte 
Industrie, welche Berlin heute besitzt, zugleich diejenige, welche von 
allen die spezifisch großstädtischeste ist, die Konfektion. Ein un- 
gemein ausgedehnter und bis zu einem gewissen Grade uniformierter 
Bedarf hatte sich gebildet; ein Heer geeigneter Arbeitskräfte war 
entstanden. Wo sich diese beiden Elemente in der konzentriertesten 
Form gegenübertraten, entsprang aus ihrer Verbindung die neue 
Großindustrie. 

Schon früh wurden künstliche Blumen, Federputz u. dergl. in 


1) Vergl. Petermann 1. c. 

2) Siehe den schönen Aufsatz von Elisabeth Gnauck Kühne: „Die Lage der Arbei- 
terinnen in der Berliner Papierwarenindustrie“, im Jahrbuch für Gesetzgebung. Verwal- 
tung und Volksw., 1896, S. 373ff., besonders die Mitteilung über den Altersaufbau, 
S. 38 ff., Lohnverhältnisse, S. 41 ff., Lohnunterschiede, S. 74, das Verhältnis von Heim- 
arbeit und Fabrikarbeit, S. 75 u. s. w. 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 755 


der Großstadt auf Absatz hergestellt. Jetzt trat eine Revolutionie- 
rung ein, welche die hauswirtschaftliche Eigenproduktion nahezu 
vernichtete, die ehrbare Nahrung der Handwerksmeister mehr und 
mehr in die Fesseln kapitalistischer Großunternehmungen schlug. 
Die ungeheuere Nachfrage, welche die wirtschaftlich rationellere Or- 
ganisation der letzteren besser zu befriedigen verstand, ging einmal 
aus von der in Großstädten und Industriebezirken akkumulierten 
Gesellschaft von Minderbemittelten, denen teils die demokratischen 
Tendenzen des Jahrhunderts geboten, sich in der Form der Tracht 
nicht mehr von anderen Klassen zu unterscheiden, die zum anderen 
Teil besonderer Kleidung für ihre Werktätigkeit bedurften. Doch 
ist es einseitig, in diesen Massen die ersten und hauptsächlichsten 
Abnehmer der neuen Industrie zu sehen!). Auch den besser ge- 
stellten Schichten wurde es willkommen, wenn ihnen ein Kleidungs- 
stück nach dem andern in fertigem Zustande angeboten wurde, das 
der Unternehmer nach Typen hatte arbeiten lassen können. Das 
war zuerst der Damenmantel. Die Bekleidungsgroßindustrie hat mit 
der Damenmäntelkonfektion begonnen, und heute noch ist diese ihr 
blühendster Zweig. Und wenn, wie versichert wird, die Berliner 
Industrie erst durch die Ausschaltung der französischen Konkurrenz 
während des Krieges, einen Platz auf dem Weltmarkte eroberte, hat 
sie wohl nicht nur für die Arbeitsbevölkerung produziert ?). Sie 
dehnte vielmehr ihre Klientel nach allen Seiten aus. Die Kostbar- 
keiten der Mode gerade in der Hauptstadt zu pflegen, wird dem 
Unternehmer schon ohne weiteres nahegelegt, auch wenn man von 
der Rücksicht auf ein günstiges Arbeitermaterial vorerst absieht. 
Denn das zahlreiche und zahlungsfähige Publikum, dem er sich hier 
unmittelbar gegenüber befindet, ist ihm nicht nur der Abnehmer 
seiner Artikel, es schafft auch für ihn oder doch für den eigent- 
lichen Produktionsleiter die einzigartige Umwelt, innerhalb deren 
allein seine geistige Produktivität genügend frisch bleibt. Er hat 
mit der Mode zu rechnen. Diese hat zwar Uniformierung vorge- 
schrieben, aber in gewissen Grenzen verlangt sie ebenso eine indi- 
viduelle Willkür. Sie will stets nachgemacht und stets neu ge- 
schaffen werden. Wo ist das anders möglich, als in der Großstadt: 
Welt und Halbwelt müssen in Theater und Salon, auf Promenade 
und Rennplatz beobachtet, ihre Launen befriedigt, ihre Wünsche er- 
raten werden. Nicht jede große Stadt, nur die Zentren des Welt- 
verkehrs bieten dazu Gelegenheit. 

Kein Hexenmeister hätte nun dem Unternehmer ein erwünsch- 
teres Arbeitermaterial vorzaubern können, als es gerade hier die 
Bevölkerungsverhältnisse geschaffen hatten. Die Frau des Arbeiters, 
der es um ein Zuschußverdienst zum Lohne des Mannes zu tun ist, 


1) Wie Alfred Weber, S. XL. 
2) Vergl. Berlin und seine Arbeit. Amtlicher Bericht der Berliner Gewerbeaus- 
stellung, 1896. S. d. V. f. S., Bd. 85, S. 425, 428, 510 ff. St. 243, 226, 246, 248. 
48* 


756 Otto Schwarzschild, 


die Beamtentochter, die sich ein Taschengeld verdienen will!), was 
haben sie anderes auszuspielen als ein wenig Fingerfertigkeit und 
Chik! Und mit welchen erbärmlichen Löhnen sind sie schon zu- 
frieden. Die Schwachheit, die Zusammenhangslosigkeit, kurz der 
ganze soziale Typus dieser Schichten, forderte die hausindustrielle 
Betriebsform ja (wie schon oben dargelegt wurde) geradezu heraus. 

Die Unternehmer wußten sich diese ungesunden sozialen Ver- 
hältnisse sehr zu nutze zu machen. Zwar waren auch auf diesem 
(rebiete Maschinen erfunden worden, welche die Leistung verviel- 
fältigen und mechanisierten, zwar hat auch hier ein selbst ohne 
maschinellen Antrieb auf Produktionszerlegung beruhender Groß- 
betrieb bedeutende technische Vorteile, allein man, hatte privat- 
ökonomisch schwerwiegende Gründe, es vorerst bei der volkswirt- 
schaftlich rückständigen, sozialpolitisch verwerflichen Betriebsform 
bewenden zu lassen. So nämlich ist es möglich, Regiespesen zu 
sparen, die Wirkung der Grundrente zu umgehen, die Löhne auf ein 
Minimum zu drücken, kurzum die Produktionskosten enorm zu be- 
schränken und die Anlage von fixem Kapital nahezu zu vermeiden. 
Daraus ergaben sich noch zwei weitere private Vorteile, die zu den 
erößten volkswirtschaftlichen Schäden zu rechnen sind: Man konnte 
die Spannung zwischen dem im Gebiete der Mode so starken Auf 
und Ab, zwischen haute saison und saison morte ganz und gar auf das 
Arbeitermaterial zurückschnellen lassen und — man brauchte von 


1) „Die Salonheimarbeit kommt lediglich für Stickerei noch in Betracht.“ Die 
Heimarbeit in Berlin, Bericht der Handelskammer, Berlin 1906. 

Derselbe Bericht gibt folgende Statistik über die wichtigeren Branchen der 
Berliner Heimarbeit. Es kommen Heimarbeiter auf die i 


Damen- und Kinderkonfektion 52 000 
Herren- und Knabenkonfektion 22 000 

Wäschefabrikation und Konfektion, Weißwaren- 
konfektion, Kravattenkonfektion ete. 47 000 

Hutfabrikation, Blumen-Federfabrikation, Mützen- 
fabrikation 6 000 
Schuhfabrikation 2 000 

Papier- und Lederwaren-, „Galanteriewaren - In- 
dustrie ete. 5 000 
Zigarren- und Zigarettenindustrie 3 000 
140 000 


Es wird daran die Betrachtung geknüpft, die Zahlen zeigten die Schwierigkeit der 
Ueberführung in den Fabrikbetrieb. „Der Umstand, daß in Berlin, d. h. einem Platze, 
dessen gewerbliche Verhältnisse sich unter schärfster Einwirkung der modernen tech- 
nischen und kommerziellen Errungenschaften entwickeln und dessen Erwerbsleben rück- 
sichtslos alle veralteten Produktionsformen auszuscheiden pflegt, sich die Form der 
Heimarbeit neben der Form der Fabrikarbeit in erheblichem Umfange behauptet, ja 
sogar im Laufe der letzten Jahre weiteres Terrain erobert hat, legt den Gedanken nahe, 
daß die Art der Heimarbeit, wie sie in unserer Stadt und an ähnlichen Zentralpunkten 
des wirtschaftlichen Verkehrs sich ausgebreitet hat, in mancher Hinsicht eine andere 
Beurteilung verdient, als die alteingesessene Hausindustrie in kleinen Ortschaften, in 
denen der Zudrang der Bevölkerung weniger durch den Zwang des ökonomischen Be- 
dürfnisses als durch die Macht alter Gewohnheit (?) bestimmt wird.“ 

Man kann sich diesen Worten nur anschließen, ohne deshalb aufzuhören, der 
Kasernierung wenigstens eines Teils der Hausindustrie das Wort zu reden. 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 757 


der Technik der Fabrikation so gut wie gar nichts zu verstehen !), 
sondern konnte das dem eigentlichen Produktionsleiter dem Zwischen- 
meister überlassen ?2). Schließlich war es auf diese Weise möglich, 
eine chamäleonhafte Versatilität an den Tag zu legen und die ver- 
schiedenartigsten Dinge im gleichen Betriebe herzustellen, was be- 
sonders in der Damenkonfektion, wo schnelle Anpassung an den 
Modewechsel selbst der Solidität vorgezogen wird, den Wünschen 
entsprach. 

Nicht in allen Großstädten der Welt hat man dies günstige Zu- 
sammentreffen der stärksten Bedarfskonzentration und der er- 
wünschtesten Produktionsmöglichkeit so ausgenutzt, wie in Berlin: 
Das englische Bekleidungsgewerbe vor allem hat von vornherein 
große Werkstättenbetriebe errichtet. Seine Erzeugnisse sollen zwar 
vielfach solider gearbeitet, sogar billiger sein, als die deutschen 
Fabrikate, diesen aber in der Variabilität durchaus nachstehen, so 
daß man in London, wie schon früher in Paris, jetzt auch zum Ver- 
lagssystem übergeht. 

Berlins Stellung in der Konfektion ist heute einzigartig. Die 
deutsche Damenmäntelkonfektion sitzt zu 90 Proz. in der Reichs- 
hauptstadt. In der Herstellung von Herrenkleidern kommt reichlich 
ein Viertel, in der Herstellung von Knabenkleidern kommen drei 
Viertel der gesamten deutschen Produktion auf sie). In Neben- 
branchen ist nahezu ein Monopol erreicht. In der besseren Damen- 
und Kinderkonfektion wird diese Stellung auch nicht erschüttert 
werden. Denn sie beruht hier durchaus auf der Einzigartigkeit des 
Standortes, die Produktionsleiter und Arbeiter mit einer unver- 
gleichlichen Ueberlegenheit ausstattet*,. Diese Ueberlegenheit 
kommt aber um so weniger in Betracht, je geringer und je stabiler 
die Qualität des Hergestellten ist, und je mehr durch Arbeits- 
zerlegung die Anforderungen an die einzelne Arbeitskraft herunter- 
geschraubt werden können. 

Das erstere tritt am klarsten zu Tage. Der Unternehmer wird 
sich schon ohne weiteres den Verhältnissen anpassen, und dort, wo 
er Originelles und Gutes leisten kann, es auch von vornherein 
darauf absehen. Er wird sich nicht selbst außerhalb des Monopols 
setzen wollen, das durch den besonderen Charakter der örtlichen 
Lage schon ohne weiteres gegeben ist. Es wird aber für ihn 
schließlich in dieser Hinsicht geradezu ein Zwang bemerkbar, weil 
Artikel, in die der Chick der Großstädterin nicht hineinzufließen 
braucht, draußen auf die Dauer billiger hergestellt werden können. 
Denn mögen die Löhne in der Berliner Hausindustrie noch so 
grauenhaft niedrig sein, sie sind trotz alledem höher als in Breslau 
und Erfurt, erst recht als in Stettin und Aschaffenburg. Grandke 


1) Davon, wie oft dies zutrifft, kann ein Blick in die Praxis unschwer überzeugen. 

2) Die Heimarbeitenquete der Handelskammer spricht von der „schöpferischen 
Aufgabe“ der Zwischenmeister. 

3) Bericht der Handelskammer. 

4) Vergl. z. B. 8. d. V. f. S., Bd. 85, S. 425. 


758 Otto Schwarzschild, 


hält mit Recht die Behauptung, Berlin wollte mit den letzteren 
beiden Plätzen konkurrieren, für ungerechtfertigt!. Das kann 
höchstens einmal vorübergehend der Fall sein. Schließlich aber 
setzt die Konkurrenz an einem gewissen Punkte aus, und es tritt 
vollständige Arbeitsteilung ein. 

Die geringwertigeren Sachen, und neben diesen Stapelartikel, 
die vielleicht sogar solider, aber durchaus schablonenmäßig ge- 
arbeitet sind, werden mehr und mehr in der Provinz hergestellt. 
In der Herrenkonfektion wird in Frankfurt a. M. durabler gearbeitet, 
aber nicht so elegant, wie in Berlin. Die Schürzenkonfektion in 
Plauen stellt Stapelartikel, meist guter Qualität, her; Berlin macht 
in stetem Wechsel alle Qualitäten, wobei der Rückhalt an den großen 
Stofflägern, besonders bei schnellem Modewechsel, den Unternehmern 
sehr zu statten kommt. „Die Tendenz geht offenbar dahin, daß in 
Berlin die Herstellung der geringeren Waren allmählich zurücktritt, 
sie geht in Gegenden mit billigerer Lebenshaltung. Nur die Kon- 
fektionshäuser, deren Inhaber einen mehr industrieritterhaften 
Charakter haben, versuchen es noch mit minderwertiger Konfektion“ ?). 

In der Herstellung künstlicher Blumen macht Sachsen für ein- 
fachere Sorten Konkurrenz). In Berlin lassen nur die feinsten 
Sorten einen hinreichenden Nutzen übrig, wobei den tüchtigen 
Arbeitern gerne höhere Löhne bewilligt werden +). Stapelartikel der 
Phantasiefederbranche lassen Berliner Fabrikanten in Oranienburg, 
Mittenwalde, Friedeberg in der Neumark herstellen 5). Im Stickerei- 
gewerbe ist eine Konkurrenz mit Plauen auf die Dauer unmöglich ê). 
Man geht nun vielfach zuerst nur in entferntere Vororte; aber das 
großstädtische Wirtschaftsgebiet dehnt sich aus, und das Bleiben 
wird unmöglich. So sind in Cöpenick wegen der Nähe der Spind- 
lerschen Färberei „nur sehr wenig, fast gar keine“ Arbeiterinnen 
für die Putzfederbranche zu haben. Gerade die Putzbranchen haben, 
wie Neuhaus erzählt, darunter zu leiden, daß „in anderen haus- 
industriellen Beschäftigungen teilweise ohne Vorbildung ein leichterer 
Verdienst zu erwerben ist“ 7). Aeußerst charakteristisch ist es, was 
er über Verlegungen in dieser Branche mitteilt. „Um sich die 
nötigen Arbeiter zu suchen, machten die Fabrikanten die größten 
Anstrengungen. Verheiratete Federarbeiterinnen, deren Männer zum 
Aufgeben ihres Berufes und zum Federarbeiten bewogen waren, 
wurden mit ihrer ganzen Familie auf Kosten der Unternehmer nach 
kleinen Orten, die zur Federarbeit geeignet waren, hingeschickt. 
Mann und Frau erhalten festes Monatsgehalt, ihnen werden sämt- 
liche Kosten des Hin- und Herfahrens von und nach Berlin nebst 


1)8S.d. V. f. S., Bd. 85, S. 337. 

2) Grandke, in S. d. V. f. S., Bd. 85, S. 383. 
3) Neuhaus, ebenda S. 31. 

4) Hkb. für 1905, S. 281 ff. 

5) Neuhaus, S. 45. 

6) Helene Simon, ebenda S. 516. 

7) Neuhaus, S. 47, 52. 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 759 


Spesen ersetzt. Meist ergibt sich dabei, daß dieses Unternehmen 
nur an Orten glückt, in denen keine oder nur geringe Industrie 
vorhanden ist.“ Es gelang z. B. nicht in Trebbin, wo die Löhne 
der Tabakfabriken zu starke Konkurrenz machten !). 

Diese Verdrängung von geringwertiger Ware und Stapelartikeln 
scheint in der Herren- und Knabenkonfektion am weitesten gehen 
zu wollen. Daß die Arbeiterkonfektion Berlin ganz und gar ver- 
lassen hat, ist kein Wunder ?). Aber auch bei besseren Sachen läßt 
sich eine zentrifugale Tendenz erkennen, die ohne Zweifel in ganz 
kurzer Zeit noch bedeutend an Kraft gewinnen wird: Die Unifor- 
mierung des Bedarfes geht hier so weit, daß trotz aller privatöko- 
nomischen Vorteile der Heimarbeit der arbeitsteilige Werkstattbetrieb 
schließlich doch als das Gegebene erscheint. Ist die Arbeitszer- 
legung dann genügend fortgeschritten, kann auch die Mechanisierung 
einzelner Produktionsstadien Platz greifen. Das so oft verwünschte 
Verlagssystem ist durch die innere, technisch-ökonomische Entwicke- 
lung des Gewerbes überwunden und durch die geschlossene Fabrik 
ersetzt worden. Dieser Umbildungsprozeß hat sich heute nur in 
einem Gebiete des Bekleidungsgewerbes voll durchgesetzt: in der 
Wäschefabrikation; er hat mit verheißungsvollen Anfängen in der 
Herren- und Knabenkonfektion begonnen ê). In Stettin gibt es heute 
schon richtige Konfektionsfabriken; eine führende Firma der Knaben- 
konfektion fabriziert in Berlin und Brandenburg. In der Damen- 
und Kinderkonfektion aber scheint die Heimarbeit noch große Vor- 
teile für sich zu haben: hier ist jedes Stück noch so individuell, 
daß man es lieber ganz und gar von einer Hand arbeiten läßt, wo- 
mit der Zwang zur Einrichtung einer Werkstatt ausgeschaltet wird. 
Einen großen technischen Vorteil bietet die letztere freilich immer, 
indem sie das Ineinanderarbeiten von Näherin und Büglerin bei 
jedem einzelnen Teil ermöglicht; daher man auch die allerfeinste 
Arbeit von jeher in kleinen Werkstätten vorgenommen hat, 
während das Gros fertig genäht wird und dann erst unter das 
Bügeleisen kommt. Die in der Betriebstechnik selbst liegenden 
Gründe zu ihrer Umwandlung kommen nun nicht allein in Betracht; 
wie ihr Vorhandensein auf den sozialen Charakter des Arbeiter- 
materials zurückzuführen ist, so ist auch ihre Ueberwindung durch 
dessen Umänderung möglich. Nicht nur die Uniformierung des Be- 
darfes drängt auf die Einführung des Fabriksystems, sondern auch 
das erwachende Klassenbewußtsein der Arbeiter und die Sozialpolitik 
des Staates. 

Es darf daher der Frage nicht aus dem Wege gegangen werden, 
wie die Aufhebung der Heimarbeit die räumliche Anordnung der 
Industrie beeinflussen würde: Bei den feinsten Sachen wäre keine 


1) Ueber einen ganz ähnlichen Vorgang in der Metallindustrie s. u. S. 775. 

2) Grandke, S. 136. 

3) Deshalb kann andererseits die Konfektionsmaßarbeit zunehmen, wie der Be- 
richt der Handelskammer feststellt. Das Handwerk wird auch hier immer mehr auf- 
gesogen. 


760 Otto Schwarzschild, 


Aenderung der Sachlage zu erwarten: der Werkstattbetrieb ist heute 
schon da; die Arbeitszerlegung wird hier nie so weit gehen, daß die 
einzelne Arbeiterin das Bewußtsein verlöre, an einem Ganzen zu 
schaffen; die Anforderungen bleiben hoch, und die Großstädterin 
behält ihre Monopolstellung. Anders bei der breiten Masse der 
Produkte: die Arbeitszerlegung wird die Einzelhantierung zu einer 
immer unselbständigeren und automatischeren machen. Die An- 
forderungen sinken stark und können daher draußen sicher ebenso 
gut befriedigt werden, wie in der Stadt. 

Darin liegt zweifellos eine bedeutende Tendenz zum Exodus, 
die durch die jetzt mit ganz anderer Macht einsetzende Organisation 
der Arbeiterschaft noch bedeutend verstärkt würde. Indes — auch 
so würde noch manches für ein Verbleiben am Platze sprechen: 
Qualifizierte Kräfte zum Entwerfen und Leiten braucht man immer 
noch, der Produktionsleiter selbst wird den Anregungen der Groß- 
stadt schwer entraten, die stete Berührung mit dem kaufenden 
Publikum bliebe erwünscht. 

Schließlich muß noch einmal betont werden, daß die neue Be- 
triebsform nur dann das Gewerbe in seiner Gesamtheit ergreifen 
würde, wenn sie zwangsweise angeordnet werden würde. Denn für 
einen großen Teil der städtischen Bevölkerung wird allem zum Trotz 
der hausindustrielle Supplementärerwerb nach wie vor die einzig 
mögliche Form gewerblicher Betätigung bleiben, und daher wird es 
auch stets Unternehmungen geben, die sich das zu nutze machen, 
solange es der Staat nicht radikal verbietet. Daß auch die fabrik- 
mäßig organisierten Betriebe die Heimarbeit gerne zur Ergänzung 
mit herbeiziehen, zeigt sich in der Wäscheindustrie. 

Auf diese soll noch etwas näher eingegangen werden, weil in 
ihr die Verhältnisse am übersichtlichsten liegen. und die für die Zu- 
kunft ausschlaggebenden Tendenzen sich am klarsten erkennen lassen !). 

Man muß hier die Wäschefabrikation und die Wäschekonfektion 
unterscheiden. Die erstere stellt die Herrenwäsche her, daneben 
auch Waschblusen für Damen; die Wäschekonfektion die übrige zum 
Teil ungewaschen zum Verkauf gelangende Damenwäsche. Sie ist 
Domäne der Heimarbeit, während die Wäschefabrikation sich, wie 
der Name besagt, in Fabrikbetrieben vollzieht. Der Bedarf ist 
nämlich stark uniformiert; auf individuelle Eigentümlichkeit des 
einzelnen Stückes wird kein Wert gelegt, um so mehr auf Solidität 
der Arbeit; das Meiste wird nach festen Typen und in verschiedenn 
Größen nach Nummern hergestellt. Der Produktionsprozeß zerlegt 
sich in drei Stadien: Zuschneiden, Nähen und Plätten. Das Zu- 
schneiden wird von gelernten männlichen Arbeitern vollzogen, wie 
sie nur in der Großstadt in genügender Qualität zu finden sind; das 
gilt selbst für die Herstellung geringwertiger Ware, erst recht natür- 


1) Ueber die Anfänge dieser Industrie unterrichtet H. Grandke, „Die Entstehung 
der Berliner Wäscheindustrie im 19. Jahrhundert“ im Jahrbuch für Gesetzgebung, Verw. 
und Volksw., 1896, 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 761 


lich da, wo genaue Anpassung an die Mode, Entwerfen neuer Muster 
u. s. w. verlangt wird. Das Waschen und Plätten kann nur im Groß- 
betrieb vollzogen werden, wenn genügende Schnelligkeit, Sauberkeit 
und Uniformität der Leistungen erreicht werden soll. Die in der 
Mitte liegende Näharbeit aber verlangt weder besonderes Können 
und persönliche Initiative, da sie nur das vom Zuschneider Ange- 
ordnete ausführt, noch läßt sie sich automatisch einem Maschinen- 
betrieb überantworten; sie wird ausschließlich von Frauen vollzogen 
und kann auch zu Hause vorgenommen werden !). In der Massen- 
fabrikation ist man dazu übergegangen, in der Provinz nähen zu 
lassen. Die entlassenen Strafgefangenen in Brandenburg und Luckau 
sollen eine besonders hohe Zahl Näherinnen stellen. Daß die ganze 
Fabrikation hinausverlegt wird, ist auch schon mehrfach vorgekommen. 
In Cottbus, Rathenow, Ziegenhals sind von Berliner Unternehmern 
Wäschefabriken errichtet worden 2). Ein starker Arbeiterinnenmangel, 
der vor einigen Jahren, als die Warenhäuser und die Elektrizitäts- 
industrie große Mengen weiblicher Arbeitskräfte an sich zu ziehen 
begannen, eintrat, soll die besondere Veranlassung dazu gebildet 
haben). Aber auch hier ist es nur die Herstellung von geringeren 
Waren und Massenartikeln, die unter Umständen in der Provinz 
wirtschaftlicher von statten geht. Bei den ersten Häusern Berlins 
wird der größte Teil des Produkts in der Fabrik selbst genäht, ein 
Teil wird an verheiratete frühere Fabrikarbeiterinnen in der Stadt 
ausgegeben und nur ein geringer Teil in die Provinz. Von einer 
Verlegung des gesamten Betriebes wird nie die Rede sein können. 
Ein Zeichen, auf welcher Höhe die Berliner Wäschefabrikation steht, 
ist es, daß trotz der enormen Zölle noch immer feine, mit der Hand 
gearbeitete Artikel nach den Vereinigten Staaten ausgeführt werden. 

In der Wäschekonfektion ist Berlins Suprematie noch unbe- 
dingter. Sie erstreckt sich, eben der Organisationsform wegen, auch 
auf Mittelware und schlechte Artikel. Nur Dutzendsachen und Stapel- 
ware werden in Schlesien, Westfalen und am Rhein, und nicht in 
Berlin produziert. Hier will das Monopol der Versatilität ausgenutzt 
sein. Für die feinsten Sachen hat sich eine Elite gebildet. Eigen- 
tümlich ist ein auch in anderen Zweigen der Konfektion unter Um- 
ständen hervortretender Unterschied zwischen Stadtkern und Vor- 
orten. Die ferner Wohnenden können nicht den engen Kontakt mit 
der Firma wahren, wie diejenigen, für die ein öfterer Hin- und Her- 
weg bedeutungslos ist. Daher finden sich draußen wenig qualifizierte 
Arbeitskräfte, und zwar schiebt sich dann stets ein Zwischenmeister 


1) „Die Mädchen und namentlich die verheirateten Frauen, welche Heimarbeit leisten, 
haben früher häufig in einer Wäschefabrik gearbeitet, sind somit über die Arbeitsbe- 
dingungen informiert. Die Schulung, die sie mitbringen, befähigt sie zu guten Leistungen ; 
daraus erklärt sich die Tatsache, daß die direkten Heimarbeiterinnen auch zur Her- 
stellung bester Ware herangezogen werden, während geringere Ware der Vermittelung 
der Zwischenmeister zufüllt.“ 

2) Bericht der Handelskammer über die Heimarbeit. 

3) Der B.d.Aelt. f. 1504, S. 232 beklagt die Verdrängung der Wäscheindustrie für 
die große Zahl von Wäschenäherinnen, deren Nebenverdienst ganze Familien erhalte. 


762 Otto Schwarzschild, 


ein 1). Nach auswärts soll nicht viel Arbeit ausgegeben werden, doch 
kommen Potsdam und Brandenburg immerhin in Betracht ?). 

Die früher blühende Wäschestickerei ist der Plauener Konkurrenz 
erlegen ê), was sich behauptet, ist „pressante Kundenarbeit“, kostbare 
Stickereien und kleine, mehr nebenher verrichtete Arbeiten an ge- 
wöhnlichen Sachen). 

Aehnliche Verhältnisse herrschen in den dem Bekleidungsgewerbe 
naheliegenden, gleichfalls meist in Form des Verlages betriebenen 
Industrien. In der Schirmbranche gibt es in der Provinz ge- 
schlossene Fabrikbetriebe, aber die Löhne sind dort auch um 10 Proz. 
niedriger als in Berlin). 

Ein ziemlich trübes Bild entwirft Roehl) von der Heimarbeit 
in der Ledergalanteriewarenindustrie. Eine Exportindustrie — aber 
was sie exportiert ist Schund! Dominiert Offenbach in guten Waren, 
so Berlin in schlechten. Für Stapelartikel herrscht das Sweating- 
System mit jugendlichen männlichen und weiblichen Arbeitskräften. 
Das in der Heimarbeit beschäftigte Arbeitermaterial, „eher ®/, als ?/,* 
des gesamten wird treffend geschildert. Es „sind alle möglichen 
Berufe vertreten, Steinträger, Barbiere, Drechsler, Maurer, Musiker, 
Maschinenbauer, kurz alle Arten verunglückter oder entgleister 
Existenzen, die in dieser Branche zu argen Lohndrückern werden, 
auch alle Gattungen von Krüppeln, nur mit gesunden Händen, ja 
sogar ein Blinder“). Qualifizierte Arbeit wird demgegenüber wenig 
verlangt®). Doch werden heute auch feine Lederwaren in Berlin 
verfertigt. Muß auch für jene untersten Schichten der Großstadt 
immer da und dort eine Beschäftigung abfallen®), so erscheint es 
doch — dazu bedarf es nur eines Blickes auf die Tabak-, auf die 
Textilindustrie — sehr gefährlich und auf die Dauer nicht durch- 
führbar, sich ausschließlich auf sie zu stützen, und eine Industrie, 
die nur „Schund* produziert, in der Weltstadt halten zu wollen. 
Denn die Provinz kann derlei allemal billiger herstellen. 

Bei der Betrachtung der Berliner Hausindustrie ist zu beachten, 
daß seit 1901 durch Ortsstatut die Krankenversicherung auch auf 
Heimarbeiter ausgedehnt ist. Da die Vororte die gleiche Maßregel 
leider noch nicht getroffen haben, tritt dort eine Verbilligung der 
Arbeitskräfte ein, die unter Umständen ganz beträchtlich sein kann 
und es bedingt, daß in wachsendem Maße Arbeit in die Vororte 
gegeben wird. Das ist natürlich ein ganz zufälliger Ausnahmezustand. 

Auch die Holzindustrie stellt heute in Berlin hauptsächlich 


1) Diese Verschiedenheit wird durch das Krankenversicherungsortsstatut der Stadt 
Berlin natürlich noch verschärft, 

2) 8. d. V. f. S, Bd. 85, S. 395. 

3) Ebenda S. 566, 516. 

4) B. d. Aelt. f. 1894, S. 232. 

5) S. a. V. f. S., Bd. 85, S. 447; vergl. auch S. 453ff. 

6) S. d. V. f S., Bd. 85, S. 459 ff. 

7) S. d. V. f£. S., Bd. 85, S. 470, 472. 

8) Ebenda. 

9) Vergl. die charakteristische Schilderung der Kürschnergesellen bei Rosenberg 
8. d. V. f. S, Bd. 85, S. 126 ff. 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 763 


konsumreife Produkte her. Bei der Gewerbezählung von 1895 hatte 
die Gruppe der Tischlerei und Parkettfabrikation ein bedeutendes 
Uebergewicht, das indes durchaus auf Rechnung der ersteren zu 
Setzen ist. Die „Fabrikation von Spiegeln und Bilderrahmen“ stand 
an zweiter Stelle. 


Die gröberen Verrichtungen der Holzbearbeitung werden kaum 
mehr in der Stadt vorgenommen. Sie sind unter die Industrie der 
sperrigen Güter zu rechnen; heute kommt fast nur noch geschnittenes 
Holz nach Berlin, welches der ersten rohen Zurichtung in den 
großen Umschlageplätzen des ostdeutschen Wasserverkehrs unter- 
zogen wurde, vor allem in Oderberg an der Liepe. Der Handels- 
kammerbericht für 1905 nennt die Vergrößerung der Holz- und 
Fourniermessereien bei dem großen städtischen Laubholzbedarf eine 
wirtschaftliche Notwendigkeit, fügt aber hinzu, daß die Zahl der 
Berliner Schneidemühlen sich „infolge des teueren Grundes und 
Bodens“ eher vermindert als vermehrt habe!). Hier wird, wie so 
oft, die Schuld für das Zurückgehen von hauptstädtischen Betrieben 
der Grundrente gegeben. Entspräche das den Tatsachen, so wäre 
dem durch Peripheriewanderung längst abgeholfen. Hier können 
aber nicht die hohen Grundstückpreise verantwortlich gemacht 
werden, sondern nur die Transportkosten und die Arbeitslöhne. — 
Die Färberei von Holz und Fournieren ist an die süddeutsche 
Konkurrenz übergegangen, „welche bei billigen Holzfrachten leistungs- 
fähiger ist“ ?). 


Die Indusrie der Holz- und Schnitzstoffe in Berlin nach den Gewerbezählungen 
von 1882 und 1895. 


Zahl der der gewerbtätigen 

Hauptbetriebe Personen 
1882 1895 1882 1895 
a 1 Sägemühlen 32 i 378 
a 2 Sonstige Holzzurichtung ' 93 78 Í 1096 757 
b 1 Holzdraht, Holzstifte 2 5 21 88 
b 2 Grobe Holzwaren 230 240 811 1143 
b 3 Tischlerei u. Parkettfabrikat. 2907 3187 12680 19775 
e  Bötteherei 270 229 609 538 
d Korbmacher und Flechter 487 418 839 812 
e _Strohhutfabrikation N 180 39 } Sag 233 
f Sonstige Flechterei v. Holz ete. 18 í 60 
g 1 Drechslerei 623 2034 
g 2 Spielwaren aus Holz ete. 10 4775 16 
g 3 Sonstige Dreh- und Schnitz- 934 367 2320 

waren 

g 4 Korkschneiderei 30 26 83 78 
h 1 Kammmacher l 348 39|\ fòt 146 
h 2 Bürsten-, Pinselmacher f 4 224 j ? 645 
h 3 Stöcke, Schirme 324 253 806 1464 
i  Spiegel-, Bilderrahmen 491 408 2193 2553 
Sa. | 4093 6196 17825 33040 


1) Hkb. f. 1905, S. 137. 
2) Ebenda, S. 136. 


764 Otto Schwarzschild, 


Wenden wir uns nun der wichtigsten Gruppe, der Tischlerei, zu. 
Die Reichshauptstadt war hier früher berüchtigt wegen des von ihr 
produzierten „Berliner Schundes“ ; besonders bildet die Fabrikation 
der sogenannten Berliner Möbel kein Ruhmesblatt in ihrer Gewerbe- 
geschichte. Aehnlich wie in der Konfektion, folgte auf die Belage- 
rung von Paris und die deutschen Siege eine Epoche der Hoch- 
konjunktur und des Massenexportes, die dann, wie so mancher 
Freudentaumel der Gründerzeit, mit dem Krach ein jähes Ende 
nahm !). 

Was geliefert wurde, war weder geschmackvoll, noch solide genug, 
um sich auf dem Weltmarkt zu behaupten. 

Heute haben sich die Verhältnisse gründlich geändert. Man 
kann gewiß von einem Ausleseprozeß sprechen, der die mittleren und 
schlechteren Qualitäten aus der Stadt verdrängt hat und die am Platze 
verbliebenen zur schärfsten Anspannung ihrer Kräfte nötigt. Nach 
dem Handelskammerbericht für 1902 ist das Geschäft in billigen und 
geringen Qualitäten zwar flott; aber es ist, wie es weiter heißt, höchst 
unlohnend und wird von „kümmerlichen Existenzen“, kleinen Gewerbe- 
treibenden in den Vororten „zu Hungerpreisen“ betrieben ?). Das 
sind Ausnahmeverhältnisse, die von der nicht zu verkennenden 
Tendenz der ganzen Entwickelung über kurz oder lang hinweggefest 
werden müssen. Heißt es doch in demselben Bericht, daß es mit 
den Betrieben, die ausschließlich Mittelware herstellen, nicht glänzend 
bestellt sei. Sie „... hatten einen scharfen Kampf mit der billiger 
arbeitenden Provinz zu bestehen ... weite Gebiete sind verloren 
gegangen.“ 

Diese Worte geben die allgemeine Signatur der Entwickelung: 
Die Herstellung geringerer Qualitäten rückt unweigerlich hinaus. 
Was will es nicht alles besagen, wenn für Arbeiten an besseren 
Möbeln der Stundenlohn sich in Berlin auf 75, in Cottbus auf 40 Pf. 
bemißt!?). 

Eilenberg und Luckenwalde sind heute Hauptfabrikationsstätten 
der Berliner Möbel. Die ihren Namen mit Unrecht tragende Luxus- 
möbelindustrie, d. i. die Fabrikation von Rauch- und Spieltischehen 
undanderen Holzgalanteriewaren, ist ganz und gar verdrängt worden. 
Der Spreewald übt auf sie die größte Anziehungskraft aus, wor- 
auf Paul Voigt schon 1897 aufmerksam macht‘). Die Galanterie- 
möbelfabrikanten dieses enorm billigen Produktionsgebietes befinden 
sich in vollkommener Abhängigkeit von Berlin. Neben dem Spree- 
wald kommen Luckenwalde, Trebbin, Finsterwalde in Betracht, in 
den letzten Jahren in wachsendem Maß die Ortschaft Schönlanke iu 
Posen, wo 400 Arbeiter in 10 Fabriken beschäftigt sind. Es ist zum 
Teil auf diese Entwickelung zurückzuführen, wenn die Zahl der 
Drechsler in Berlin bedeutend abgenommen hat; daneben freilich 


1) Vergl. Wiedfeld, 8. 333. 

2) S. 127 ff., vergl. auch Hkb. f. 1904, S. 146. 

3) Mitteilung des Gauvorstandes des Deutschen Holzarbeiterverbaudes. 

4) Untersuchungen über die Lage des Handwerks. Berliner Dissertation 1897. 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 765 


auf die Verfeinerung des modernen Geschmacks, der die früher so 
beliebten tausenderlei Zierarten, Simse und Säulchen verbannte. 
Der Holzarbeiterverband zählte in der Hauptstadt 1900 etwa 1200, 
1905 etwa 800 Drechsler zu seinen Angehörigen !). Gardinenstangen 
und Rosetten, früher ebenfalls Berliner Artikel, werden heute in 
Bernau hergestellt. 


Eine Gefährdung des Gewerbes auch in besseren Qualitäten 
liest gerade hier in dem Vordringen der Produktionszerlegung, der 
„Leilarbeit“. Der großstädtische Arbeiter sträubt sich von vorn- 
herein gegen die zu weitgehende Mechanisierung und Schablonisierung 
des Produktionsprozesses, der auf diese Weise uninteressant wird, 
indes das Streben der qualifizierten Kräfte „dahingeht, sich unter 
möglichster Vermeidung physischer Anstrengung ... geistig zu be- 
tätigen“ ?). 

Ungelernte, besonders Frauen, können jetzt an seine Stelle 
treten — und damit ist die Ueberlegenheit der Provinz entschieden. 
In Frankfurt a. d. O. wird in diesem Jahre die größte Möbelfabrik 
Deutschlands eröffnet werden, die auf vollkommener Durchführung 
der Teilarbeit beruht °). 


Trotzdem braucht die Tischlerei in der Hauptstadt nicht trübe 
in die Zukunft zu schauen. Unter dem eisernen Zwange der Not 
hat die Berliner Möbelindustrie heute wieder eine Weltstellung ge- 
wonnen, deren Grundlagen wesentlich zuverlässiger sind, als zur 
Gründerzeit. Die Herstellung von fournierten Möbeln in immer 
soliderer und künstlerisch wertvollerer Ausführung bildet heute die 
stärkste Seite der gesamten Holzindustrie überhaupt. Der Kontakt 
mit dem zahlungsfähigen Publikum, die stete Unterstützung und 
Befruchtung durch die Kunst — gerade heute bei dem großen Auf- 
schwung des Kunstgewerbes —, und nicht zuletzt die ausgezeichneten 
Leistungen des großstädtischen Arbeiters machen die Großstadt 
dauernd zu einem einzigartig günstigen Standort für die Herstellung 
feiner Möbel. Darüber ist man sich auch durchaus klar und weiß, 
wie die gewonnene Position zu behaupten ist. „Die Hebung der 
qualitativen Leistungsfähigkeit durch ständig neue Muster und Zeich- 
nungen, welche einen Fortschritt auf Vertiefung und Veredlung ... 
erkennen lassen, ist bei den hiesigen hohen Löhnen eine gebieterische 
Notwendigkeit, wenn die Berliner Möbeltischlerei dem außerordent- 
lich rührigen Wettbewerb der Berliner Provinz überlegen bleiben 
will“ 4). Die Herstellung von Massenartikeln kann sich der Provinz 
gegenüber nur dadurch halten, daß ständig neue Muster auf den 
Markt geworfen werden). „Die ganze Zukunft der Berliner Möbel- 
industrie aber liegt — wie die Handelskammer sagt — auf der quali- 


1) Vergl. Hkb. für 1905, S. 136. 

2) Hkb. f. 1905, S. 120. 

3) Vergl. Hkb. f. 1904, S. 145. 

4) Hkb. f. 1904, II, S. 144, vergl. B. d. Aelt. f. 1898, S. 223. 
5) Bericht des Holzarbeiterverbandes 1906, S. 82. 


766 Otto Schwarzschild, 


tativen Leistungsfähigkeit der Arbeiter“ !). Gute Arbeiter, nament- 
lich solche, die nach Zeichnung arbeiten können, sind andauernd 
gesucht ?), die aus der Provinz kommenden Arbeiter weisen aber 
eine „so geringe Ausbildung auf, daß längere Zeit erforderlich ist, 
bis sie den Ansprüchen der hiesigen Werkstätten genügen“). Man 
sucht daher das Fortbildungsschulwesen weiter auszubilden. Auf 
solche Weise sind zufriedenstellende Ergebnisse, ja Triumphe er- 
reicht worden). Auch alle sonstigen Qualitätsbranchen der Holz- 
industrie bleiben der Stadt erhalten. In charakteristischer Weise 
zeigt sich das an den Erlebnissen einer Berliner Leistenfabrik, die 
vor längerer Zeit von Berlin nach Eberswalde verzog, weil sie dort 
billiger zu produzieren gedachte. Das Experiment glückte jedoch 
nicht; der Betrieb wurde wieder nach der Hauptstadt zurückverlegt, 
wo die Firma kurz darauf an den Folgen des doppelten Umzugs 
zusammenbrach. Heute macht indes schon Guben in der Leisten- 
fabrikation bedeutende Konkurrenz. 

Durchaus parallel verläuft die Entwickelung in der Bautischlerei; 
man sollte meinen, dieser Zweig der Holzindustrie sei nur im engsten 
Anschluß an den Bedarf möglich. Dem ist aber zum großen Teile 
nicht mehr so. Die Mietskaserne verlangt keine individuellen Fenster 
und Türen. Die billige Massenfabrikation ist ausschlaggebend ge- 
worden; Landsberg a. d. W., Hohenholm b. Bromberg, Czersk i. 
Westpreußen, Köslin und Großenhain i. Sachsen haben sie an sich 
gerissen. In Kottbus soll eine große Firma ausschließlich für den 
Berliner Bedarf arbeiten — ein lokalwirtschaftlicher Betrieb außer- 
halb der Stadt! Keineswegs aber ist die gesamte Berliner Bau- 
tischlerei von einer derartigen Konkurrenz bedroht. Sie erstreckt 
sich vielmehr durchweg auf geringwertige Waren und Massenartikel, 
die in Berlin herzustellen oft gar nicht möglich wäre. So kommt 
es, daß man die Versorgung von auswärts sogar als willkommen 
bezeichnet), denn nur dadurch, daß der Mehrbedarf von draußen 
gedeckt wird, gelingt es die Kundschaft zufriedenzustellen. Möglich, 
daß sich durch weitere Ausgestaltung der Teilarbeit der Bereich der 
Provinz noch weiter ausdehnen ließe. Daß man aber auch hier an 
eine Grenze kommt, zeigen die trüben Erfahrungen auswärtiger 
Firmen bei der Anbringung ihrer Bautischlerarbeiten in Berlin. 
Die hergeschickten Arbeiter verlangten alsbald höhere Löhne, die 
am Platze angeworbenen ließen sich nicht von draußen dirigieren; 
fast immer hatte man in Verkennung der großstädtischen Verhält- 
nisse zu niedrig kalkuliert. Obwohl es sich um die Anbringung von 
Schabloneartikeln in Schablonehäusern handelt, ergeben sich doch 
Unannehmlichkeiten die Menge; es finden sich kleine Unterschiede 


1) Hkb. f. 1902, S. 127. 

2) Vergl. Hkb. f. 1904, S. 146. 

3) Ebenda. 

4) Hkb. f. 1903, II, S. 206. Die Innenausstattung der großen Ozeandampfer wird 
vielfach in Berlin hergestellt. Große Hoteleinrichtungen gehen nach dem Ausland. 

5) Hkb. f. 1904, S. 136 ff. u. 151. B. d. Aelt. f. 1905, S. 463. 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 767 


in den Ausmessungen, das Holz wird, um Zinsverluste zu ver- 
meiden, zu frisch geliefert, biegt sich und birst. Manche Firmen 
sollen so in große Schwierigkeiten geraten sein und diese Tätigkeit 
aufgegeben haben ; es kommen aber immer wieder neue in die Bresche. 

Daher kann es keinen wunder nehmen, wenn feinere Arbeiten 
dauernd am Platze hergestellt werden. 

Die Parkettfabrikation ist schon lange aus Berlin verschwunden, 
ja selbst die Anbringung der Parkettfußböden droht in fremde Hände 
zu geraten. Auswärtige Firmen senden ihre Leute zum Legen der 
Fußböden her, was die Berliner Arbeiterschaft natürlich auf alle 
Weise zu hindern sucht 1). 

Paul Voigt hat diese ganze Entwickelung schon Mitte der 90er 
Jahre folgendermaßen gekennzeichnet: 

„In der Bautischlerei und in der Fabrikation der „weißen Möbel“ 
werden die mechanischen Betriebe in Form kombinierter Betriebe 
noch sehr bedeutend zunehmen und die Handarbeit auf der ganzen 
Linie zurückdrängen, und hier werden die auswärtigen Fabriken mit 
ihren billigen Löhnen, billigen Mieten und billigem Holz den Ber- 
linern den größten Teil dieser Produktionsgebiete entreißen. Da die 
Handarbeit des Tischlers in den Hintergrund tritt, dürfte die Be- 
schaffung der Arbeitskräfte für die auswärtigen Fabriken keinerlei 
Schwierigkeiten machen; zur Bedienung wird man Weiber und 
jugendliche Arbeiter heranziehen, wie es jetzt schon teilweise ge- 
schieht‘ ?). 

Die ganz ordinären Zweige der Industrie der Holz- und Schnitz- 
stoffe sind natürlich längst aus Berlin verschwunden. Eine ausge- 
dehnte Korbindustrie z. B., die ganz von Berliner Unternehmern 
abhängig ist, sitzt heute südlich von Frankfurt a. O. in Fürsten- 
berg, Neuzelle u. s. w., einem der billigsten Produktionsgebiete 
des ganzen Reiches. 

Ein Zweig der Holzindustrie, der besonders betrachtet zu werden 
verdient, ist die von der Reichsstatistik in die Industrie der Maschinen 
und Instrumente versetzte Pianofortefabrikation. Wenn irgendwo, 
so kommt es hier auf die individuelle Leistung des Arbeiters an: 
Das Material ist besonders kostbar; der Bereich der Maschine sehr 
eng begrenzt. Daher befindet sich der Pianofortebau außer in den 
Großstädten nur noch in Gegenden, in denen er seit langem heimisch 
ist und auf einen genügenden Arbeiternachwuchs rechnen kann. Ein 
solches Gebiet ist z. B. das Wupperthal. Trotzdem sah sich vor 
kurzem die größte dortige Firma veranlaßt, eine Fabrik in Berlin 
zu eröffnen, weil sich nur hier für die feinen und feinsten Arbeiten 
geeignete Kräfte in genügender Zahl finden®). Die Berliner Klavier- 
branche beschäftigt heute mit den Nebengewerben 8000 Personen 4). 


1) Ber. des Deutschen Holzarbeiterverbandes, 1906, S. 22. 

2) S. d. V. f. S., Bd. 65, S. 433/34. 

3) Die Instrumente, nur Flügel, kommen in roher Form von Barmen. 

4) Hkb. f. 1902, S. 327 ff. Es bestehen 11 große Fabriken von Flügeln und 
Pianomechaniken mit etwa 2000 Arbeitern. 


768 Otto Schwarzschild, 


Die Gesamtproduktion wird auf 40000 Flügel und Piano angegeben, 
darunter 3000 erstklassige Instrumente im Werte von 3/,—4 Mill. M. 
Die Hälfte des Jahresproduktes gelang zum Export. Die Fabrikation 
der geringwertigen Musikinstrumente, der Akkordions, Orchestrions, 
Automaten u. s. w. ist infolge der billigen Löhne der sächsischen 
Hausindustrie ganz zurückgegangen }). 

Welche einzigartige Bedeutung Berlin in der Branche hat, geht 
daraus hervor. daß von den im Pianoforte- und Orgelbau im Deutschen 
Reich Gewerbtätigen 30,7 Proz., von den in Preußen Gewerbtätigen 
53,99 Proz. in Berliner Betrieben beschäftigt sind (4695 von 9714 
bezw. 15291 Gewerbtätigen: Zählung von 1895) ). 

Von den Gewerben, die genußreife Produkte herstellen °), wenden 


1) Hkb. f. 1902. 

2) Eine vom Deutschen Holzarbeiterverband 1902 aufgenommene Statistik: „Die 
Lage der Arbeiter in der Holzindustrie“, im Verlage von H. Leipart, Stuttgart 1904, 
beleuchtet sehr gut das Verhältnis der Reichshauptstadt zu den billigen Produktions- 
gebieten der Mark und der Lausitz, wie zu den in Qualitätswaren konkurrierenden übrigen 
Großstädten Deutschlands. Ich lasse hier einige charakteristische Daten folgen. Die durch 
die willkürliche Anzahl von erfaßten Personen hervorgerufene Unsicherheit nimmt natür- 
lich mit der Höhe dieser Zahl ab. 

Es betrug bei sämtlichen erfaßten Kategorien 


die Zahl der die Arbeitszeit pro der Wochenver- 

erfaßten Personen Woche in Stunden dienst in Mark 
Berlin und Umgebung 12 355 52,5 26,56 
Dresden 2085 57 22,89 
Frankfurt a. M. 1515 56,4 25,74 
Hamburg 2 160 56,0 27,31 
Leipzig 2529 55,1 23,72 
München 1489 56,3 22,30 
Brandenburg 300 59,7 18,85 
Cottbus 101 58,9 19,50 
Finsterwalde 104 59,0 16,43 
Frankfurt a. O. 223 59,3 17,97 
Landsberg a. W. 70 60,1 19,21 
Gau Berlin insgesamt 14 990 54,4 25,02 


Bei den Tischlern betrug 


der durchschnitt- 
liche Wochenver- 
dienst in Mark 


die Zahl der die Arbeitszeit pro 
erfaßten Personen Woche in Stunden 


Berlin 9108 52,3 27,13 
Dresden 1737 56,9 23,32 
Frankfurt a. M. 1132 55,7 26,71 
Hamburg 1628 54,5 28,30 
Leipzig 1908 54,3 24,42 
München 1056 55,6 23,01 
Eilenburg 193 59,7 23,16 
Frankfurt a. O. 185 59,1 18,15 
Görlitz 632 59,7 17,33 


Dort auch gute Mietpreisstatistiken. 


3) Die starke Ausbildung der Gewerbe, welche durch die Herstellung konsum- 
reifer Artikel eine besonders solide lokalwirtschaftliche Grundlage besitzen, zeigt sich 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 769 


wir unsern Blick denjenigen der Halbfabrikate und Werk- 
zeuge zu. Unter ihnen nehmen die metallverarbeitenden Gewerbe 
und darunter die Eisenindustrie den ersten Platz ein. 

Auch hier spricht der lokale Bedarf etwas mit. Man darf immer- 
hin nicht übersehen, daß die Aufstellung von Maschinen, die Aus- 
führung von Eisenkonstruktionen u. s. w., kurz die ganze Anbringung 
am Platze und ebenso die Reparatur einer rationellen Organisierung 
und Leitung seitens der Fabrik bedarf!). Doch kann dieser Ge- 
sichtspunkt nicht ausschlaggebend sein. 

Die Entwickelung und Blüte des Berliner Maschinenbaues 
hängt eng zusammen mit der beherrschenden Stellung der Landes- 
hauptstadt?). Mehr als in anderen Gewerbszweigen gingen hier die 
entscheidenden Anregungen von der Staatstätigkeit aus. Den beiden 
ersten Berliner größeren Maschinenfabriken, den heute noch blühenden 
Firmen Freund und Hummel war die Kgl. Eisengießerei, die erste 
und bis 1828 die einzige, eine unentbehrliche Hilfsanstalt è). Noch 
bedeutender und fruchtbarer war die Tätigkeit des Kgl. Gewerbe- 
instituts (seit 1828) unter Beuth. 

Die kgl. Seehandlung betrieb selbst eine Maschinenfabrik, die 
dann von dem alten Borsig übernommen wurde und so gewisser- 
maßen heute noch fortlebt. Ein ungemeiner Aufschwung setzt mit 
dem Bau der Eisenbahnen ein. Borsig u. A. bringen den Loko- 
motivbau zu hoher Blüte. Der Aufschwung hält bis in die Gründer- 
zeit an, dann folgt seit dem Krach eine Periode der Depression. 
Heute hat der Berliner Maschinenbau die alte glänzende Position 
wieder eingenommen und wird sie aller Voraussicht nach auch weiter- 
hin behaupten. Die Tendenz der Eisenindustrie, die Montanbezirke 
aufzusuchen, macht sich zwar seit langem nachdrücklich bemerkbar t), 
erweist sich jedoch für die letzten Stadien des Produktionsprozesses, 
wenigstens, wenn Qualitätsgüter hergestellt werden, nicht mehr als 
durchschlagend 5). Die Fabrikanten klagen freilich über die billiger 
arbeitende Konkurrenz in Schlesien und im Rheinland; so Hein, Leh- 
mann & Co. (Träger, Wellblech und Signalbau) im B. d. Aelt. für 
1903 über die günstigere Position der dortigen Werke, selbst für 


auch in New York. Die „six leading industries“ nach dem Nettowerte ihres Produktes 
sind dort 
. Mens clothing factory product, 
. Newspapers and periodicals, 
. Womens clothing factory product, 
. Tobacco, cigars and cigarettes, 
. Malt liquors, 
. Book and job printing and publishing. 
A. F. Weber, S. 206. 

1) Vergl. z. B. B. d. Aelt. f. 1897, S. 167; 1899, S. 107; Hkb. f. 1904, II, 
S. 210. 

2) Vergl. Wiedfeldt, S. 254 ff. 

3) Berlin und seine Arbeit, X. 505 ff. 

4) Vergl. Wiedfeldt, S. 255. 

5) 8. oben S. 736. 

Dritte Folge Bd, XXXIII (LXXXVIII). 44 


sum ove 


770 Otto Schwarzschild, 


Arbeiten in Berlin und Umgebung !). Diese Firma hat sich die 
Vorteile eines in größerer Nähe der Montanbezirke stehenden Be- 
triebes insofern zu nutze gemacht, als sie eine Fabrik für Eisen- 
konstruktion in Düsseldorf übernahm. Ebenso übernahm 1904 die 
Berlin-Anhaltische Maschinenfabrik die Benrather Maschinenfabrik. 
Eigene Hüttenwerke besitzt Borsig in Oberschlesien. Die „Panzer“ 
A.-G. f. Geldschrank-, Tresorbau und Eisenindustrie gliederte sich 
1898 das Gußstahlwerk Wolgast an, das vorher im Besitz der Berliner 
Firma Artur Koppel gewesen war?) Von Verlegungen Berliner 
Betriebe in den letzten 10 Jahren ist mir nichts bekannt’). 

Denn die ungünstigeren Produktionsbedingungen lassen sich 
durch Herstellung von Qualitätsprodukten und durch große Versa- 
tilität ausgleichen. Wiedfeldt erzählt, daß eine Berliner Firma in 
25 Jahren 4mal ihren Betrieb wechselte, indem sie erst Nähmaschinen, 
dann Waffen, dann Elektrizitätsapparate und schließlich Fahrräder 
herstellte‘). Die Maschinenfabriken haben ihre Spezialität nach wie 
vor besonders in Lokomotiven, doch stellt man auch mannigfache 
andere Produkte her (z. B. Torpedos bei Schwartzkopff). Ein Bild 
von der Bedeutung Berlins in der Eisenindustrie gibt eine Auf- 
stellung der Nordöstlichen Stahl- und Eisenberufsgenossenschaft, die 
im B. d. Aelt. f. 1896 angeführt ist’). Die übrigen 3 Sektionen 
der Genossenschaft (Brandenburg, Pommern, beide Preußen) beschäf- 
tigten zusammen 

36 933 Arbeiter, 
die Sektion Berlin allein 

31 175 Arbeiter. 
Die Summe der anrechnungsfähigen Löhne in der Hauptstadt be- 
trug aber 5 Mill. M. mehr als in den anderen Sektionen zusammen, 
nämlich 33750555 M. gegen 283766 746 M. Das zeigt schon, wie 
man auf qualifizierte Arbeiter angewiesen ist). Dies tritt auch 
deutlich hervor bei den Peripheriewanderungen großer Berliner Be- 
triebe, zugleich ein Beweis, wie verschiedenartig solche Verlegungen 
von dem wirklichen Exodus sind. Denn der Kontakt mit der Groß- 
stadt darf nicht verloren gehen. So getraute sich die Firma Schwartz- 
kopff nicht, in dem gar nicht einmal so sehr entfernten Staaken an 
der Lehrter Bahn, wo sie ein umfangreiches Terrain besaß, eine 
Fabrik zu errichten, weil dort, wie es im Geschäftsbericht von 
1895/96 heißt’), auf eine feste Arbeiterschaft nicht zu rechnen war. 


1) S. 180. 

2) Salings Börsenjahrbuch, 2. Teil. Ueber auswärtige Komplementärindustrie der 
Elektrizitätsindustrie, s. u. S. 90. 

3) Die Peniger Maschinenfabrik und Eisengießerei A.-G. wurde 1890 nach Penig 
verlegt. 

4) S. 259. 

5) S. 173. 

6) Beispielsweise existiert in Oberbarnim eine alte, auf dem Vorkommen von 
Ton- und Raseneisenerz beruhende Eisenindustrie; es handelt sich aber fast nur um 
ne Die Spezialität von Eberswalde liegt in Hufnägeln. Vergl. Neisser, 
rE S 2 

7) Geschäftsber. d. Berl. Maschinenbau A.-G. vorm. L. Schwartzkopff f. 1895/96. 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 771 


Man errichtete den neuen Betrieb in Wildau an der Görlitzer Bahn, 
zwar in etwas größerer Entfernung von Berlin, aber mit Stadtbahn- 
anschluß. Ebenso wie in der Borsigschen Fabrik in Tegel, wie bei 
der von Orenstein & Koppel in Drewitz handelt es sich durchaus 
um großstädtische Betriebe mit großstädtischen Löhnen; ja ein mehr 
oder weniger bedeutender Teil der Arbeiter wohnt in Berlin selbst. 
Sogar in dem nahen Reinickendorf, heute dem bevorzugten Quartier 
der Maschinenfabriken, hatten Hein, Lehmann & Co. 1899 Schwierig- 
keiten, ihren Arbeiterbestand der großen Entfernungen wegen fest- 
zuhalten !) ?). 


Die großen Eisenwerke sind schon wegen der Quantität des 
Arbeiterbedarfs auf bevölkerte Distrikte angewiesen °). 


Nächst dem Maschinenbau ist. besonders die Waffenfabri- 
kation in Berlin erwähnenswert. Neben den staatlichen Werken 
in Spandau steht hier die Weltfirma Ludwig Loewe & Co. Sie hat 
heute die Waffenfabrikation an ihre Tochtergesellschaft, die Deutschen 
Waffen- und Munitionsfabriken abgegeben, ebenso wie die elektro- 
technische Produktion an die Allg. Elektrizitätsgesellschaft, und 
sich selbst ganz auf die Fabrikation von Präzisionswerkzeugmaschinen 
verlegt. Ueberhaupt ist ja die Anwesenheit eines oder mehrerer 
solcher Riesenbetriebe, bei der herrschenden Tendenz nach Ver- 
trustung, der Einrichtung weiterer mehr oder weniger angegliederter 
Betriebe derselben oder einer anderen Branche am gleichen Platze 
besonders günstig‘). 


Dies tritt besonders in der Elektrizitätsindustrie zu 
Tage. Berlin hat hier stets die erste Stellung eingenommen. — Es ist 
charakteristisch, daß der Begründer des Hauses Siemens Artillerie- 
leutnant war und die erste Telegraphenleitung im Auftrage des 
großen Generalstabes legte. Auf der Firma Siemens & Halske be- 
ruht die ganze Entwickelung; die Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft 
ist ursprünglich ihre Tochtergesellschaft. Die Union Elektrizitäts- 
gesellschaft, die 1904 ganz in die Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft 
aufging, war eine Gründung von Loewe. Seit die Aktiengesellschaft 
vorm. Schuckert & Co. in Nürnberg 1903 ihre gesamte Starkstrom- 
abteilung nach Berlin verlegte und mit der von Siemens & Halske 
zu den Siemens-Schuckertwerken vereinigte, wodurch sie und ihre 
Tochtergesellschaften doch mehr oder weniger in Abhängigkeit von 


1) B. d. Aelt. f. 1899, S. 113. 

2) Der Charlottenburger Magistrat motiviert den Plan, ein im Nordwesten der 
Stadt gelegenes Gebiet planmäßig zu einem Industriebezirk auszugestalten, damit, daß 
der durch den wachsenden Bodenwert hervorgerufene Prozeß der Verlegung großer ge- 
werblicher Unternehmungen aus dem Innern der Stadt in die Umgebung aller Voraus 
sicht nach noch nicht abgeschlossen sei, seine Begrenzung aber in der Schwierigkeit 
finde, in den weiter entfernten Vororten geeignete Arbeiter zu erhalten. — Hkb. f. 
1904, I, S. 56 ff. 

3) Vergl. Sombart, S. 218 Anm. 

4) Vergl. hierzu u. a. Jeidels, Das Verhältnis der deutschen Großbanken zur In- 
dustrie u. s. w., Staats- und sozialwissenschaftliche Forschnngen, XXIV, $. 2. 


49* 


TAEA Otto Schwarzschild, 
Siemens & Halske und den mit ihnen verbündeten Berliner Banken 
geriet, ist Berlin in der Industrie beinahe alleinherrschend. 

Wenn aber auch der weit überwiegende Teil der Produktion 
heute hier vorgenommen wird, so lagen dafür die politischen und 
finanziellen Verhältnisse zwar äußerst günstig, der springende Punkt 
ist aber wieder der, daß allein in der Großstadt auf eine genügende 
Zahl hochwertiger Kräfte zu rechnen ist; ja von aller Qualität ab- 
gesehen, nur bei einer derartig dichten Bevölkerung auf die ge- 


Die Zahl der Arbeiter und Angestellten bei der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschafi. 


Geschäfts- Gesamt- Maschinen- Apparate- Kabel- Auto- Nernstlampen- Turbinen- 
jahr zahl fabrik werk mobilfabr. fabrik fabrik 
1889/90 2 100 
1890/91 2 898 
1891/92 3385 
1893/94 5 121 
1895/96 6711 
1896/97 9817 
1597/98 ca. 12 000 
1898/99 13 382 6o11 1987 
1899/1900 17361 6513 2808 
1900/01 14 644 3386 3232 2551 
1901/02 14 897 4100 4433 2606 
1902/03 2 5500 4767 2745 
1903/04 27 487 7080 5585 4085 
1904/05 30366!) 7252 6405 5634 663 837 1568 


Nach Fasolt S. 44 und den Jahresberichten. 


Zahl der Gewerbebetriebe und der beschäftigten Personen in der Elektrizitätsindustrie 
nach der Gewerbezählung von 1895 (Gruppe VIi?). 


VIi im ganzen: 


Zahl der Be- der gewerbtätigen 
triebe Personen 
Stadt Berlin 176 8551 
Brandenburg 64 3 930 
Preußen 685 17 662 
Deutsches Reich 1336 26 321 
VIi 1. 
Herstellung von Stromerzeugungsmaschinen, Elektromotoren, Umformern. 
Zahl der Be- der gewerbtätigen 
triebe Personen 
Stadt Berlin 2 559 
Brandenburg 2 392 
Preußen 20 1465 
Deutsches Reich 35 4162 
VI i2. 


Herstellung von Akkumulatoren und galvanischen Elementen. 


Zahl der Be- der gewerbtätigen 
triebe Personen 
Stadt Berlin 9 151 
Brandenburg — — 
Preußen 20 918 
Deutsches Reich 27 985 


1) Darin sind nicht enthalten die Angestellten der außerdeutschen Fabriken, wohl 
aber die der ausländischen Verkaufsorganisationen. In Deutschland besitzt die Allge- 
meine Elektrizitätsgesellschaft außerhalb Berlins keine Fabrik. 

2) Mit Benutzung von Fasolt S. 195 ff. 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 773 


nügende Quantität. Das rapide Wachstum der Zahl der Angestellten 
und Arbeiter der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft und das plötz- 
liche Sinken zur Zeit der Krisis zeigen, wie ein derartiges Unter- 
nehmen auf ein großes Reservoir angewiesen ist, aus dem man be- 
liebige Massen schöpft, wenn man sie braucht, in das man sie aber 
auch ohne Schwierigkeiten zurückgießen kann, wenn man sie nicht 
mehr braucht). Man vergegenwärtige sich hier überhaupt einmal 
die unüberwindlichen Schwierigkeiten, welche einem solchen Riesen- 
werk in abgelegenen Landesteilen entstehen würden, welche Summen 


VIi 3. 
Herstellung von elektrischen Telegraphen, Fernsprechapparaten u. s. w. 


Zahl der Be- der gewerbtätigen 


triebe Personen 
Stadt Berlin 46 1403 
Brandenburg — — 
Preußen 120 1843 
Deutsches Reich 283 2754 
VIi 4. 


Herstellung von elektrischen Apparaten anderer als der vorgenannten Art. 
Zahl der Be- der gewerbtätigen 


triebe . Personen 
Stadt Berlin 69 3 923 
Brandenburg 29 3 395 
Preußen 205 8 924 
Deutsches Reich 390 10 803 


VIi5. 
Herstellung von elektrischen Anlagen (Installationsanlagen). 
Zahl der Be- der gewerbtätigen 


triebe Personen 
Stadt Berlin 33 2100 
Brandenburg = a 
Preußen 178 3381 
Deutsches Reich 389 5718 
VIi 6, 


Betriebe für Elektrizitätserzeugung. 
Zahl der Be- der gewerbrätigen 


triebe . Personen 
Stadt Berlin 17 415 
Brandenburg — 
Preußen 82 1131 
Deutsches Reich 212 1899 


Die großen und größten Betriebe liegen sämtlich in großen Städten und deren 
Bannkreis. 

Von den 15 Betrieben, in denen mehr als 200 Personen beschäftigt sind, kommen 
6 auf Berlin, 4 auf Brandenburg, je einer auf Westfalen (Hagener Akkumulatorenfabrik), 
Rheinland (Köln?), Hessen-Nassau (Lahmeyer in Frankfurt), Bayern (Schuckert) und 
Württemberg (Cannstatt-Stuttgart). Von der Gesamtzahl der Betriebe kommen auf Berlin 
13,2 Proz., von der der Beschäftigten 32,6 Proz., ein Satz, der sich nach Fasolts 
Schätzung auf etwa 44 Proz. erhöht, wenn das Charlottenburger Werk von Siemens & 
Halske hinzugerechnet wird. In der Kategorie i 2 ist Berlin durch die Monopolstellung 
der Hagener Akkumulatorenfabrik an die zweite Stelle gerückt. Nur bei der Kategorie 
i 6 wird vermutlich mit der Zeit das „platte Land“ sich stärker bemerkbar machen 
und die Großstadt demgegenüber zurücktreten ?). 


1) S. Tabelle. 
2) Vergl. Fasolt ebenda. 


774 Otto Schwarzschild, 


man etwa flüssig halten müßte, um die Lohnzahlung pünktlich zu 
erledigen, ein Moment, das schon bei Fabriken, die sehr entfernt 
in der Peripherie liegen, lästig werden kann. Wie sehr man auf 
technische und kaufmännische Hilfskräfte angewiesen ist, zeigt eine 
Berechnung von Kreller'!), nach der in der Weberei auf 34, in der 
Eisenindustrie auf 24, in der elektrotechnischen Industrie aber schon 
auf 4 Arbeiter ein Beamter kommt. Die Arbeiter selbst bilden heute 
die höchste Schicht der ganzen Klasse. Die Nachfrage nach ge- 
schulten Leuten ist so ungemein groß, daß z. B. selbst zur Zeit der 
Krisis großer Mangel an Starkstrommonteuren herrschte 2). 

Damals schreibt die Aktiengesellschaft Mix & Genest, Telephon- 
und Telegraphenwerke: „Die Eigenart unserer Branche, welche auf 
gut eingearbeitete Kräfte besonderen Wert legen muß, bringt es 
mit sich, daß für gute Arbeit auch die gleichen Löhne gezahlt werden 
müssen, wie zu den geschäftlich besten Zeiten“ 3). 

So wird denn auch, wie in einer sehr instruktiven Studie von 
Fasolt gesagt wird), der ökonomische Satz, daß technische In- 
dustrien, welche auf ein hochqualifiziertes Arbeitermaterial angewiesen 
sind, in anderer als Großstadtluft nicht gedeihen können, durch die 
Gewerbestatistik bewiesen. 

Heute ist Berlins relative Bedeutung noch gewachsen infolge jener 
erwähnter Vertrustungstendenz. Durch Spezialisation und Ausnutzung 
von Erfindungen entstehen neue Gewerbezweige von eigener Wachs- 
tumstendenz, die sich entweder in die bestehenden Unternehmungen 
eingliedern, oder als Komplementärindustrien an deren Seite treten. 
Die interne Differenzierung zeigt sich bei den beiden Berliner Häusern 
besonders stark, da sie es von Anfang an auf das gesamte Gebiet 
der Elektrotechnik abgesehen hatten’). Von den Komplementärbe- 
trieben siedeln sich manche an den Fundorten der wichtigsten Roh- 
materialien an®), andere bleiben städtisch °). Die Nebenbetriebe er- 
weisen sich infolge ihrer engen Anlehnung an die gesamte Riesen- 
unternehmung besonders leistungsfähig, wie denn z. B. die Metallwerke 
Oberspree in kostbaren Ladenfenstereinfassungen den Manstedter 
Werken in Düren, die bis vor kurzem eine Art Monopol für diesen 
Artikel besassen, bedeutende Konkurrenz machen 8) und ebenso das 


1) Die Entwickelung der deutschen elektrotechnischen Industrie u. s. w. Staats- 
und sozialwissenschaftliche Forschungen, XXII, 2, S. 40. 

2) Loewe, Elektrotechnische Industrie in: Die Störungen im deutschen Wirtschafts- 
leben während der Jahre 1900 ff. 8. d. V. f. S., Bd. 107, S. 90/91. 

3) B.. d. Aelt. f. 1902, S. 57. 

4) Fasolt, „Die sieben größten deutschen Elektrizitätsgesellchaften, ihre Entwicke- 
lung und ihre Unternehmertätigkeit‘“, Dresden 1904. 

5) S. Loewe, S. 79. Die Spezialisierung innerhalb d. A. E. G. zeigt die letzte 
Bilanz (1904/05). Man unterschied: Die Glüh- und Nernstlampenfabrik, Maschinen- 
fabrik, Kabelfabrik, Automobilfabrik, Signalfabrik, Schreibmaschinenfabrik. 

6) Die Planiawerke in Ratibor, die elektro-chemischen Werke in Bitterfeld, beides 
Tochtergesellschaften der A. E.-G. 

7) Gebrüder Siemens & Co., A.-G. f. Fabrik. v. Beleuchtungskohlen, Tochtergesell- 
schaft von S. & H., Metallwerke Oberspree (A. E.-G.) u. a. 

8) Hkb. f. 1905, S. 197. 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 7 


Walzen und Ziehen von Aluminiumblechen aufgegriffen haben, einen 
Fabrikationszweig, der bisher ganz in den Händen einiger weniger 
Firmen des rheinisch-westfälischen Industriebezirks lag. 

Nicht besonders glänzend ist in den letzten Jahren die Lage 
der Metallindustrie im engeren Sinne, unter der die weltbekannte 
Berliner Lampenindustrie die erste Stelle einnimmt. Die großen 
Metallarbeiterstreiks von 1898/99 und 1903 haben besonders den 
Firmen mit kleineren Kapitalien viel zu schaffen gemacht und der 
ganzen Industrie großen Abbruch getan. Ein derartiges Verhalten 
der Arbeiterschaft, heißt es in dem B. d. Aelt. für 19041), führe 
zum Erliegen der Berliner Industrie gegenüber der Provinz. Eine 
altangesehene Lampenfirma liquidiert 1903, „ein schlagender Beweis, 
wie unrentabel das Geschäft unter den jetzigen Bedingungen und 
der übermächtigen Konkurrenz geworden ist“ ?). Führende Häuser 
geben in den letzten Jahren keine oder nur geringe Dividenden ë). 

Ernstlich gefährdet sind diese Zweige der Metallindustrie wohl 
nur, wenn sie sich den Bedingungen der Großstadt auf die Dauer 
nicht anpassen können. Charakteristischerweise will die Firma 
Stobwasser (A.-G. vorm. C. H. Stobwasser & Cie.), die im letzten 
Jahre ebenfalls keine Dividende verteilt hat, künftig besonders den 
Absatz von Spezialitäten pflegen. Andere Häuser kommen ohne 
nennenswerten Schaden über die Streiks hinweg. 

Verlegungen sind in geringem Maße vorgekommen. Die 
Reichelt Metallschraubenfabrik A.-G. verlegte ihren Betrieb von 
März 1903 ab vollständig nach Finsterwalde, wo sie schon eine Fabrik 
besaß; der Berliner Betrieb war in gemieteten Räumen untergebracht, 
die Lohnsätze erheblich höher. Vermutlich wird die Firma etwas 
höhere Löhne zahlen, als die Finsterwalder Textilindustrie und dieser so 
die Arbeiter wegfangen. Die „Industria“, Blechwarenfabrik G. m. b. H., 
verlegte ihren Betrieb nach Luckenwalde; sie läßt Arbeiter von 
Berlin herüberkommen, um ihr dortiges Personal anlernen zu lassen, 


der Erfolg soll aber — wie mir, freilich von Arbeiterseite, erzählt 
wurde — bis jetzt minimal sein. 


Die eigentliche Papierfabrikation, „die erste Herstellung 
von Papier aus Fasernstoffen“ t), hat ihren Standort am Wasser und 
in der Nähe des Fundorts der Rohmaterialien. In Berlin findet sie 
sich seit geraumer Zeit nicht mehr. Eine große Papierfabrik ist vor 
Jahren nach Hohenofen bei Neustadt a./D. ausgewandert. Betrieben 
wird noch die Pappefabrikation, für welche die Abfälle der Groß- 
stadt ein schätzenswertes Rohmaterial abgeben. 1906 hat nun die 
Elberfelder Papierfabrik A.-G. einen großen Betrieb in Zehlendorf 
am Teltowkanal eröffnet; man motivierte dies mit der Rücksicht 
auf die Nähe des Hauptabsatzmarktes Berlin; — allerdings spielen 


1) 8. 235. 

2) Ebenda, S. 211. 

3) So Schäffer & Walcker, Spinn, Kammerich. In den meisten Geschüftsberichten 
werden die schechten Ergebnisse direkt auf die Streiks zurückgeführt, ef. Saling. 

4) Otto Luegers Lexikon der gesamten Technik, Bd. 6. 


776 Otto Schwarzschild, 


die Transportkosten des fertigen Produktes hier einmal eine gewisse 
Rolle!). Die Arbeiterschaft rekrutiert sich zum größten Teil aus 
Teltow und der umliegenden Gegend, also aus einer Bevölkerung, 
die gerade im Begriffe ist, sich aus einer solchen ländlichen Charakters 
in eine großstädtische umzuwandeln. Qualitätsarbeiter wurden zum 
Teil aus Elberfeld mitgebracht. Bei der Erwägung, was alles die 
Errichtung des neuen Betriebes veranlaßt haben mag, muß es immer- 
hin mit Erwähnung finden, daß ein Teil des ausgedehnten Terrains 
von dem Vorsitzenden des Aufsichtsrats erworben wurde. -Man ist 
in Interessentenkreisen sehr gespannt, ob das Experiment der Elber- 
felder Fabrik glücken wird, und sieht in diesem Falle der weiteren 
Ansiedelung von Papierfabriken in und um Berlin entgegen ?). 

In der Lederfabrikation (Loh- und Weißgerberei) herrscht 
der fabrikmäßige Großbetrieb vor. 

Berlin nimmt eine bedeutende Stellung ein, besonders in der 
Weißgerberei. Die Entwickelung der Industrie beruht ursprünglich 
auf dem hier stets bedeutenden Handel mit den aus Osteuropa 
kommenden Häuten. In den meist ziemlich großen Betrieben in 
Berlin und den Vororten werden gute großstädtische Löhne bezahlt. 
Es handelt sich um qualifizierte Arbeit; längere Vorbildung (3 bis 
4 Jahre) ist notwendig. Die Arbeiter sind gut organisiert, es sind 
Tarifverträge geschlossen worden. Verlegungen nach auswärts sind 
bis jetzt noch nicht vorgekommen, doch hat man bei Lohnstreitig- 
keiten schon damit gedroht. Auch höre ich, daß das Arbeitermaterial 
sich überwiegend aus Zugezogenen rekrutiert, da dem geborenen 
Großstädter die Hantierung zu schmutzig ist. Daher ist es nicht 
ausgeschlossen, daß sich die Tendenz zum Exodus eines Tages in 
die Tat umsetzt, denn handelt es sich um qualifizierte Arbeit, so 
doch kaum um so hochstehende, spezialistische, daß sie sich anders- 
wo nicht auch finden ließe. Die Lohnunterschiede zwischen Berlin 
und den übrigen Produktionsorten sind indes nocht nicht sehr 
erheblich. 

Das einzige Gewerbe, das in Berlin wirklich in starkem Maße 
zurückgegangen, ja zum großen Teile verschwunden ist, ist die 
Textilindustrie, früher die erste Industrie der Hauptstadt. Die 
Tabelle zeigt deutlich den starken Rückgang. Daß auch keine 
Peripheriewanderung vorliegt, beweist das äußerst geringe Wachs- 
tum der Industrie in den Kreisen Teltow und Nieder-Barnim *). 
Sicher wird die nächste Gewerbezählung eine weitere Abnahme fest- 
stellen können, denn hier liegt eine Entwicklung vor, die seit Jahr- 
zehnten unaufhaltsam im Gange ist und, wie schon Wiedfeldt *) be- 


1) Der Transport von Elberfeld nach Berlin soll die fertige Ware um ca. 8 Proz. 
verteuern, 

2) Dividenden von 1899—1906: 7'/,, 10, 12'/,, 18, 20, 20,7 Proz. Das starke 
Sinken im letzten Geschäftsjahr berechtigt indes noch zu keiner Prognose. 

3) Die Zahl der Gewerbtätigen in der Textilindustrie in beiden Kreisen nahm von 
1882 bis 1895 nur um 24,8 Proz. zu, gegen eine Zunahme der Gewerbtätigen über- 
haupt von 152 Proz. 

4) S. 158. 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 717 


Die Berliner Textilindustrie nach den Gewerbezählungen 
von 1882 und 1895. 
Zahl der 


Zahl: der Haupibeiriebe gewerbtätigen Personen 


1852 1895 1882 1895 

a) 2 Wollbereitung 2 8 34 156 
b) 2 Seidenspinnerei 17 12 294 342 
3 Wollspinnerei 296 37 1059 1013 

4 Mungo Shoddy-Spinnerei 4 I 356 48 

7 Baumwollspinnerei 64 18 245 247 

9 Spinnerei anderer Stoffe — 12 — 123 
c) 1 Seidenweberei 115 34 252 117 
2 Wollweberei 1005 555 3456 2712 

5 Baumwollweberei 31 4 1034 1041 

6 Weberei anderer Stoffe 188 74 1318 349 

e)  Strickerei, Wirkerei 575 316 1232 1392 
f) 1 Häkelei, Strikerei 525 854 1359 2 903 
2 Spitzen- Weißzeugstickerei 1113 323 1 228 409 
g) 2 Wollfärberei, Druckerei 61 47 1 203 899 
4 Baumwollbleicherei u. -Fiirberei 6 7 149 92 

7 Sonstige Färberei u. Bleicherei 55 52 978 809 
h)  Posamenten 516 294 2433 2 188 
Sa. 4827 2797 17 174 15 266 


merkt, „diese große Industrie, die über 100 Jahre der wichtigste 
Zweig der Berliner Gewerbe war, ... bis auf spärliche Reste“ aus 
Berlin hat verschwinden lassen. Zweifellos ein Exodus allergrößten 
Stils! Es fragt sich, ob die Textilindustrie sich aus besonderen 
lokalen Gründen in Berlin nicht lebensfähig erwies, oder ob sie 
überhaupt nicht in eine Großstadt paßt. 

Der Zweig, der früher in Berlin besonders in Flor stand, war 
die Verarbeitung der Wolle. Die Baumwollspinnerei ist nie recht 
heimisch geworden, auch die Weberei dieses Stoffes hat nur in der 
Mitte des Jahrhunderts eine kurze Blüte erlebt; später gingen die 
Webstühle zum großen Teil zur Wollverarbeitung über. Die Woll- 
industrie aber stand mit anderen Zweigen der Textilindustrie ehemals 
an der Spitze der Berliner Gewerbe!). 

Weshalb ist dem heute nicht mehr so? — Die Gründe für den 
Niedergang lassen sich unschwer aus den jährlichen Berichten der 
Aeltesten der Kaufmannschaft herauslesen, die in den betreffenden 
Abschnitten seit Jahren ein ununterbrochenes Klagelied darstellen. 

Wir hören mehrfach, daß die Berliner Industrie auf Nouveautés, 
auf Phantasiewaren angewiesen sei, „welche bei der Eigenart ihrer 
Fabrikation und ihres Konsums schnell entstehen und schnell ver- 
gehen und eine leichtere Beweglichkeit bedingen ?), In Schals und 
Tüchern ist man genötigt, „auf die Anfertigung von Neuheiten sein 
Augenmerk zu richten, da nur dann der Geschäftsbetrieb einiger- 
maßen lohnend bleibt“ °). 

Ebenso erwartet man in wollenen und halbwollenen Plüschen 


1) Ebenda S. 167. 
2) B. d. Aelt. f. 1898, S. 177. 
3) B. d. Aelt. f. 1903, S. 280. 


778 Otto Schwarzschild, 


Günstiges von den sogenannten Berliner Spezialitäten, während es 
in Stapelartikeln unmöglich sein soll, gegen die Konkurrenz der 
Lausitz u. s. w. aufzukommen. So heißt es 1896!) hoffnungsvoll, es 
sei durchaus „nicht ausgeschlossen, daß diese Spezialitäten eine 
derartig herrschende Rolle in der Mode einnehmen können, daß die 
Berliner Fabrikation, wie vor Jahren, den Markt der Stoffe für die 
Damenkonfektion beherrscht und die früheren lukrativen Resultate 
wieder erreicht“. 1904 ist nur für die Phantasiewaren die Lage 
leidlich ?). 

Weshalb ist nun die Fabrikation von Stapelartikeln in Berlin 
nicht möglich? Nach Wiedfeldt ist ein Hauptmoment des Nieder- 
ganges „der früher schon schwer empfundene Mangel in der Orga- 
nisation der Berliner Textilindustrie, daß die einzelnen Arbeitsprozesse 
(Weben, Appretieren) in gesonderten Betrieben erfolgen, und die 
hieraus resultierende Schwerfälligkeit der Industrie und Ungleichı- 
mäßigkeit der Waren“). Derselbe Umstand wird auch in den B. d. 
Aelt. des öfteren verantwortlich gemacht und die Ueberlegenheit von 
Cottbus, Spremberg u. s. w. auf die dort herrschenden gemischten 
Betriebe zurückgeführt, die alle Produktionsprozesse in sich vereinigen 
und die rohe Schafwolle bis zum völlig fertigen Stoff verarbeiten t). 
Diese haben es nicht nötig, an den einzelnen Prozessen des Spinnens, 
Webens, Appretierens, Färbens gesondert zu verdienen, während in 
Berlin die ökonomische Verselbständigung der einzelnen Stadien des 
Arbeitsprozesses die Produktion ungemein verteuert. 

Bei der Schiebung der Ware von einem Betrieb zum andern 
stellen sich die größten Schwierigkeiten ein. So verbinden sich 1893 
die Berliner Appreteure zu einer Preiskonvention und setzen die 
Appretierlöhne um 10—35 Proz. herauf’). Die Fabrikanten, die 
ihrerseits die Preise nicht erhöhen dürfen, wenn sie überhaupt ihre 
Ware abgenommen haben wollen, sehen sich genötigt, auswärts 
appretieren zu lassen, ja einige „verlegten ihre Fabrikation nach 
Spremberg, Cottbus, Grünberg u. s. w. und fingen selbst an zu 
spinnen und zu appretieren“®). Im folgenden Jahre klagen die 
Appreteure dann ihrerseits über die ihnen untreu gewordenen Kunden, 
und in dieser Tonart geht es fort. Die Konvention geht am 1. Dez. 
1896 zu Ende. Die Preise erreichen infolgedessen das niedrigste 
Niveau. So geraten nicht nur die eigentlichen Textilbetriebe, sondern 
auch die Supplementärindustrien in eine immer peinlichere Lage’). 
Den Lohnfärbereien und -appreturen werden die letzten Kunden 
entzogen und die Situation wird für sie doppelt gefährlich, als sie 


1) B. d. Aclt. S., 217. 
2) B. d. Aelt. S., 313. 

3) S. 160. 

4) Vergl. auch B. d. Aelt. f. 1894, S. 211. 
5) B. d. Aelt. f. 1893, S. 183. 

6) B. d. Aelt. f. 1894, S. 214. 

7) B. d. Aelt. f. 1904, S. 313. 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 7179 


auch sonst unter denselben schlechten Bedingungen arbeiten müssen 
wie die Webereien selbst 1). 

Worin bestehen diese nun? Wir kommen hiermit auf das 
Moment, das uns auch erklärt, weshalb man sich denn über- 
haupt nie von der alten Organisation getrennt hat, weshalb denn 
nie ein tatkräftiger Unternehmer die Kombination durchgeführt hat. 
Da muß zunächst festgestellt werden, daß eine solche vollständige 
Kombination sich nur lohnt für die Verarbeitung von Streichwolle 
und von Kunstwolle.e. Die Kammwolle wird wirtschaftlicherweise 
in selbständigen Spinnereien versponnen. Denn das Kapital, das 
eine Kammgarnspinnerei beansprucht, bringt erst bei einem Absatz 
Protit, der über den Bedarf einer einzelnen Weberei weit hinaus- 
geht. Die Appretur läßt sich dagegen an die Kammgarnweberei 
angliedern. 

Die für die Textilindustrie grundlegenden Arbeiten des Spinnens 
und Webens stellen an die einzelne Arbeitskraft relativ recht geringe 
Ansprüche, weshalb diese auch nur einen entsprechend niedrigen 
Lohn erhalten kann. Es sind daher Arbeiter für diese elementaren 
Prozesse in der Großstadt sehr schwer zu finden. So muß man 
diese Tätigkeiten immer mehr und mehr auswärts vornehmen lassen. 
Und daher wird eine Produktionsvereinigung von vornherein unmög- 
lich. In Berlin sind zwar die Löhne in der Textilindustrie besser 
als im Erzgebirge u. s. w.?), aber weder Fabrikant noch Arbeiter ist 
mit ihnen zufrieden °). 

Die Arbeiter strömen sofort wieder in andere Berufe ab, die 
ihnen höhere Löhne in Aussicht stellen. So hören wir von der 
Färberei: „Man ist gezwungen, höhere Löhne, als die Färberei ver- 
tragen kann, zu zahlen, um zu verhindern, daß die Arbeiter sich 
lohnendere Beschäftigung in anderen Betrieben suchen, wozu die 
flottgehenden Metallgewerbe Veranlassung geben *)“. Vor einigen 
Jahren gründete ein Cottbuser Tuchfabrikant, der aus einer dortigen 
Firma ausgetreten war, eine Tuchfabrik in Berlin. Er nahm sich 
die Arbeiter zum großen Teil aus der Heimat mit; es gelang aber 
nicht, den Betrieb aufrecht zu erhalten — mit den gleichen Löhnen 
fanden jene ihr Auskommen in Berlin nicht. Vermutlich sind auch 
manche geblieben und in andere Berufe übergegangen. 

Die Erkenntnis, daß hier der wirkliche Grund zu dem Elend 


1) Aehnlich heißt es im Handelskammerbericht für 1904 über die Seidenfärberei. 
„Man vertritt in den beteiligten Kreisen die Auffassung, daß die Zeit an Prosperität 
der Berliner Seidenfärberei endgültig vorüber ist.“ S. 222 ff. Vergl. B. d. Aelt. f. 
1905, S. 341. 

2) B. d. Aelt. f. 1900, S. 148; f. 1594, S. 232. 

3) Vergl. Thiess, a. a. O., S. 35 über „die entsetzlich niedrigen Löhne“ der Ber- 
liner Textilindustrie. Die Wochenlöhne der Webergesellen betragen 1889/91 12—15 M. 
Dazu erklärt 1891 eine Innung, jeder sei ?/; des Jahres beschäftigungslos. Tuch- 
machergesellen verdienen 1591 bei 13—14-stündiger Arbeitszeit mit 2 Stunden Pause 
8 M. in der Woche! Ebenda S. 36. 

4) B. d. Aelt. f. 1905, S. 338. 


780 Otto Schwarzschild, 


der Berliner Textilindustrie liege, tritt in den B. d. Aelt. durchaus 
zu Tage. So wird erwähnt, daß z. B. das Weichen der Garnpreise 
gar nicht helfe; die Produktion geht unweigerlich in Distrikte „ver- 
loren, die infolge billigerer Arbeitslöhue und geringerer Spesen 
leistungsfähiger sind“ 1). 

Dasselbe Bild also, wie in der Metall-, wie in der Holzindustrie! 
Aber anders, als dort ist auch in der Produktion von Spezialitäten 
und hochwertigen Artikeln mit sehr wenig Ausnahmen die Großstadt 
der Provinz gegenüber im Nachteil. Denn gerade die Spezialitäten 
der Textilindustrie suchen mit Vorliebe Distrikte auf, in denen sie 
allein herrschen, und wo gewissermaßen der ganze Habitus der Be- 
völkerung für sie zurechtgeschnitten ist (Crefeld, Barmen, Mülhausen, 
Annaberg). Dazu war das, was man früher Berliner Spezialitäten 
nannte, zum Teil gar nicht hochwertig, sondern „Berliner Schund*. 
Jene 1896 ausgesprochene Hoffnung, daß sich die Fabrikation wieder 
heben werde, hat sich nicht bewährt. 1903 heißt es, das sehnlich 
erwartete Aufleben der Berliner Industrie habe einige Monate Arbeit 
gebracht, das Geschäft sei aber nicht lohnend gewesen ?). 1904 ist 
die Hoffnung schon wieder begraben ë). Was sich hält, ist allein 
das, was sonst nicht nachgemacht werden kann und qualifizierter 
und gutgelohnter Arbeitskräfte bedarf t). Dahin gehört die blühende 
Teppichweberei, welche der künstlerischen Beihilfe des Muster- 
zeichners benötigt, und an deren Webstühlen nur männliche Arbeiter 
zu gebrauchen sind; dahin auch die Veredelung baumwollener Ge- 
webe (Ausrüstung) für die u. a. der bedeutende Betrieb von Anton 
und Alfred Lehmann in Nieder-Schöneweide besteht. Hier hat 
jede Fabrik ihre Spezialität und ist ganz auf diese einge- 
richtet). Sonst sind die textilindustriellen Betriebe Kleinbe- 
triebe, die sich völlig in der Abhängigkeit der großen Konfektions- 
und Möbelhäuser befinden. Man schickt ihnen etwa Muster zu 
Posamenten für eine bestimmte Zimmereinrichtung und verlangt die 
Fertigstellung auf bestimmte Zeit: derlei Sachen, die vielleicht nur 
ein einziges Mal hergestellt werden, und dann oder dann vollendet 
sein müssen, kann man nicht in Gera machen lassen. Es ist der 
Uebergang zur Hausindustrie. So ist denn auch seitens der Statistik 
von 1882 bis 1895 eine erhebliche Zunahme nur bei der Häkelei 
und Stickerei festzustellen, die durchaus zur Konfektion zu rech- 
nen sind. 

Die eigentliche Textilindustrie ist für Berlin verloren: der 


1) B. d. Aelt. f. 1894, S. 206: vergl. B. d. Aelt. f. 1903 S. 278. 

2) B. d. Aelt., S. 278. 

3) B. d. Aelt., S. 313. Hkb. S. 261. 

4) Die Berliner Jutespinnerei und -weberei A.-G. betreibt noch ihre Fabrikation in 
dem früher von der Textilindustrie bevorzugten Stralau, Sie kaufte aber 1598 einen 
Betrieb in Bautzen hinzu, „um für den in Stralau herrschenden Arbeitermangel einen 
Ausgleich zu schaffen“. Nachdem 8 Jahre lang keine Dividende ausgeschüttet worden 
war, gab die Gesellschaft 1905 auf Vorzugsaktien — 1902 war eine Sanierung vorge- 
nommen — ? Proz. (Saling). 

5) Siehe B. d. Aelt. f. 1896, S. 225. 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. T81 


Abzug ist allgemein; noch 1904 verlegten zahlreiche Schal- und 
Tücherfabrikanten ihre Betriebe nach Sachsen und Bayern +1). Man 
kann deutlich verfolgen, wie die Ausdehnung des Berliner Wirt- 
schaftsgebietes sich für Betriebe bemerkbar macht, die bisher noch 
keinen Konnex mit der Stadt hatten. So wurde 1899 die Fabrik 
für Klein- und Feldbahnbedarf von Orenstein & Koppel nach Drewitz 
in nächster Nähe des Weberortes Nowawes-Neuendorf verlegt, wo 
seit 150 Jahren eine rege Textilindustrie herrscht. Die höheren 
Löhne der Fabrik entziehen nun die Weber mehr und mehr ihrem 
alten Beruf, viele kehren freilich zum Webstuhl zurück, weil sie 
den körperlichen Anstrengungen der neuen Arbeit nicht gewachsen 
sind, — begreiflich bei einer Bevölkerung, die seit Generationen 
jenes Handwerk übte. Trotzdem dürfte Nowawes, wo heute jeden 
Tag eine neue großstädtische Fabrik entstehen kann, auf die Dauer 
nicht das alte Weberdorf bleiben. Neue Betriebe werden in der 
vorhandenen Bevölkerung ein willkommenes Arbeitermaterial finden, 
und die Textilindustrie wird günstigere Produktionsstätten aufsuchen 
müssen. 

VII. So hat sich denn auf der ganzen Linie die Ansicht be- 
stätigt, daß mit dem Ausleseprozeß unter der Arbeiterschaft auch 
ein solcher unter den Unternehmungen verknüpft ist, und mit 
den schweren Industrien alle diejenigen aus der Stadt hinausgedrängt 
werden, die sich auf ordinäre oder auf nur mittelmäßige Arbeits- 
kraft stützen. Die kleinen abgelegenen Landstädtchen der Mark 
und der Lausitz sehen wir geradezu überschwemmt von Betrieben, 
die vor den hohen Löhnen Berlins fliehen müssen. Demgegenüber 
besitzt die Großstadt ihrer vorzüglichen Arbeitskräfte wegen in 
manchen Branchen geradezu ein Monopol, und daher liegt ihre 
Entindustrialisierung vorerst ganz außer dem Bereiche der Mög- 
lichkeit. Sie ist vielmehr der Standort der Elite der volkswirt- 
schaftlichen Gewerbe. 

Im richtigen Lichte erscheint dieser Ausleseprozeß aber erst, 
wenn wir einen Blick auf die weitere Gruppierung der aus der 
Großstadt vertriebenen Zweige in der gesamten Volks- und Welt- 
wirtschaft werfen. Da zeigt sich, daß die primitiven, nur ungeübter 
und darum schlecht entlohnter Arbeitskraft bedürfenden Werkver- 
richtungen immer weiter abgedrängt werden von den Zentren der 
nationalen Kultur in mehr entlegene Gebiete, mit meist auf unge- 
sunder Agrarverfassung beruhender niedriger Lebenshaltung. Wenn 
Berlin in billiger Ware mit Cottbus nicht konkurrieren kann, so ist 
das in ganz billiger für Cottbus wieder Spremberg und Finsterwalde 
gegenüber nicht möglich, — ein Cottbuser Tuchfabrikant sagte mir, 
die Differenz zwischen diesen Orten sei stellenweise so groß, daß sie 
allein wegen der Lohnunterschiede 20 Pfg. auf den Meter ausmache. 
Kann Berlin in Stapelartikeln mit Annaberg nicht mitkommen, so 
zieht Annaberg seinerseits in Schundwaren ganz weltentlegenen 


1) B. d. Aelt., S. 313. 


782 Otto Schwarzschild, 


Nestern gegenüber den Kürzeren. Nun beachte man das Aufkommen 
einer Textilindustrie in wirtschaftlich rückständigen Ländern, wie 
neuerdings so besonders stark in Italien und Indien t). 

Es handelt sich hier um einen volks- und weltwirtschaftlichen 
Ausleseprozeß größten Stils. Volkswirtschaftlich entwickelte Gebiete 
suchen Gewerbezweige, die auf der Nutzung geringwertiger Arbeits- 
kraft beruhen, in minder entwickelte abzustoßen. Dieser Auslese- 
prozeß aber nimmt in dem am rationellsten funktionierenden Organ 
der Volkswirtschaft, in der Großstadt, der Weltstadt, dem Mittel- 
punkte des Landes und seines Verkehrs seinen Ausgangspunkt. 
Konnten wir es doch überall verfolgen, wie die Herstellung der 
Qualitätswaren, der Spezialitäten, aller der Produkte, die nicht nur 
anderswo nicht gemacht werden, sondern überhaupt nicht gemacht 
werden können, es eigentlich allein ist, die dort einen unbedingt 
gesicherten Standort hat und der Großstadt wiederum einen sicheren 
Platz innerhalb der gewerblichen Produktionssphäre bietet. Diese 
Qualitätswaren und Spezialitäten sind aber auch schließlich für eine 
Gesamtvolkswirtschaft, wenn sie denn einmal auf Export angewiesen 
ist, die einzigen gewerblichen Produkte. auf deren Absatzmöglichkeit 
sie sich unbedingt verlassen kann, mit denen sie in vernünftiger 
Weise an einer Weltarbeitsteilung teilzunehmen vermag. Die Groß- 
stadt leitet diesen zunächst volks-, dann weltwirtschaftlichen Aus- 
leseprozeß ein. Selbst in den Gebieten der Hausindustrie lassen sich 
trotz der trüben Verhältnisse solche Entwickelungstendenzen be- 
merken. 

Es zeigt sich so, daß die Rolle der Großstadt im industriellen 
Leben der Volkswirtschaft keineswegs ausgespielt, sondern nach wie 
vor von der größten Bedeutung ist. In der Industrie finden sich 
keine Tendenzen, welche der Anziehungskraft der Stadt auf die Be- 
völkerung und ihrem weiteren Wachstum irgendwie erheblichen Ab- 
bruch tun könnten; die Abwanderung der ordinäreren Betriebe wird 
vollauf kompensiert. Daher auch Sombarts Wort, die Großstadt 
entwickele sich mehr und mehr zum Konsumtionszentrum, wiederum 
nur eine sehr einseitige Richtigkeit haben kann; nach wie vor beruht 
sie zum großen Teil auf volkswirtschaftlichem Unternehmergewinn, 
volkswirtschaftlichem Arbeitslohn. 

Dagegen entwickelt die Industrie wohl eine Tendenz, die Schäden 
der übermäßigen Amassierung am Platze selbst wettzumachen, in- 
dem sie diese durch die Peripheriewandeung der großen Betriebe 
auflockert. Neben den Villenvororten erstehen Fabrik- und Arbeiter- 
wohnvororte. Auf diesen Dezentralisationsprozeß ist natürlich auch 
das starke Wachstum der preußischen Landgemeinden zurückzu- 
führen 2); die über 20000 Einwohner zählenden sind sämtlich Vor- 
orte von Großstädten und ökonomisch als „industrielle Vollstädte* 
(Sombart) anzusehen. „The significance of this tendency is that is 


1) Stickerei auf Madeira, vergl. Helene Simon, S. d. V. f. S., Bd. 85, S. 575. 
2) Siehe unten S. 722. s 


Die Großstadt als Standort der Gewerbe. 783 


denotes not a cessation in the movement toward concentration but 
a diminution in the intensity of concentration“ (A. F. Weber). 

Jeder Gang in die Berliner Vororte, mit Ausnahme des Südwestens, 
zeigt die zunehmende Industrialisierung der Bannmeile. Immer 
weiter dehnt sich der wirtschaftliche Machtbereich der Stadt aus; er 
nimmt von neuen Gebieten Besitz und verdrängt die Betriebe, die 
sich den städtischen Lebensbedingungen nicht anpassen. Daß sich 
stellenweise in den Vororten billigere Arbeitskräfte finden, als im 
Stadtkern, widerlegt die Auffassung von der Gleichartigkeit des 
städtischen Wirtschaftsgebietes und der nur internen Bedeutung der 
Peripheriewanderungen nicht; denn einmal beruht das auf Zufällig- 
keiten (Berliner Krankenversicherungs-Ortsstatut), dann muß man 
verschiedene Vororte als billigere Quartiere des Gesamtgebietes auf- 
fassen, wie andere wieder die teuersten sind; es handelt sich dabei 
ausschließlich um Hausindustrie und Kleinbetriebe. Die große In- 
dustrie im Umkreis der Stadt zahlt großstädtische Löhne. Sie wirkt 
bei ihrer Niederlassung denn auch fermentierend auf vorhandene 
rückständige Verhältnisse. 

Es würde einer umfassenden Untersuchung bedürfen, den durch 
die Peripheriewanderung hervorgerufenen Dezentralisationsprozeß 
im einzelnen klarzulegen. Dabei gilt es, diese begrifflich von der 
vollständigen Abwanderung scharf zu scheiden und seine räumliche 
Maximalausdehnung, die, wie oben einmal angedeutet wurde, auch 
von der Praxis übersehen werden kann, annähernd zu bestimmen. 

Es wird aber auch eine der wichtigsten Aufgaben der kommunalen 
Politik der Zukunft sein, die Entwickelung in die richtigen Wege 
zu leiten !). 


1) Siehe A. F. Weber, S. 446 ff., besonders den schönen Schluß des Buches. 


784 Albert Hesse, 


XIII. 


Die Auskünfte der Arbeitgeber für Steuer- 
zwecke und ihre Verwendung für die Fin- 
kommen- und Lohnstatistik. 


Von 


Dr. Albert Hesse, 


Direktor des städtischen statistischen Amts, Privatdozent an der Universität Halle a./S. 


Unter den zahlreichen Problemen, die die soziale Frage uns 
stellt, nimmt die Lohnfrage eine hervorragende Stelle ein: der 
Arbeitslohn ist der Kern der Arbeiterfrage, ein großer Teil unseres 
Volkes ist in seinem ganzen materiellen Leben von ihm abhängig, 
er bildet den Gegenstand zahlreicher Streitigkeiten und Verein- 
barungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. So steht die 
Lohnfrage im Mittelpunkte der sozialpolitischen Betrachtungen und 
Diskussionen. 

Diese können nur gedeihen auf dem Boden sicher ermittelter 
Tatsachen. Wir brauchen zuverlässiges Material um so mehr, als 
gerade in diesen Fragen der Parteien Gunst und Haß die Verhält- 
nisse leicht entstellen. Das Bedürfnis nach umfassenden, sicheren 
zahlenmäßigen Darstellungen ist immer lebhafter geworden, und die 
Statistik hat verschiedene Wege eingeschlagen, um diese Unterlagen 
zu schaffen. Sie bietet eine Fülle lohnstatistischen Materials, das von 
den Regierungen, den Stadtverwaltungen, von Korporationen, Wirt- 
schaftsorganisationen und Privaten zusammengestellt ist. Aber die 
Schwierigkeiten sind groß, sie wachsen mit der Ausdehnung der 
Erhebungen; das Material ist verschiedenartig und von ungleichem 
Wert, und einer strengen Kritik halten die Untersuchungen oft 
nicht stand. 

So bleibt denn die Aufgabe, nach neuen Wegen zu suchen, die 
uns näher und leichter zum Ziele führen als die bisher betretenen, 
und es erscheint von Wert, auf einen Weg hinzuweisen, den das 
Einkommensteuergesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 
19. Juni 1906 eröffnet. 


I. 
1. 


~. In $ 23, Abs. 3 und 4 und $ 74 des Einkommensteuergesetzes 
ist bestimmt: Wer für die Zwecke seiner Haushaltung oder bei Aus- 


Die Auskünfte der Arbeitgeber für Steuerzwecke. 785 


übung seines Berufes oder Gewerbes andere Personen gegen Gehalt 
oder Lohn beschäftigt, ist verpflichtet, über ihr Einkommen, sofern 
es den Betrag von jährlich 3000 M. nicht übersteigt, der mit der 
Aufnahme des Personenstandes betrauten Behörde auf deren Ver- 
langen binnen einer Frist von mindestens zwei Wochen Auskunft 
zu erteilen. Diese Pflicht liegt auch den gesetzlichen Vertretern 
nichtphysischer Personen ob. Wer die in Gemäßheit des § 23 ge- 
forderte Auskunft verweigert oder ohne genügenden Entschuldigungs- 
grund in der gestellten Frist gar nicht oder unvollständig oder un- 
richtig erteilt, wird mit einer Geldstrafe bis 300 M. bestraft. 

In Artikel 42 Abs. III der Ausführungsanweisung vom 
25. Juli 1906 wird diese Verpflichtung zur Auskunftserteilung näher 
bestimmt, wird ausgeführt, daß sie sich sowohl auf die in bar, als 
auch auf die in freier Wohnung, Verpflegung oder Naturalien be- 
stehenden Vergütungen erstreckt, welche der Angestellte von dem 
Arbeitgeber in dem dem Steuerjahre unmittelbar vorangegangenen 
Kalenderjahre bezogen hat, sofern der Gesamtwert des Bezugs die 
Summe von jährlich 3000 M. nicht übersteigt. Weitere Aus- 
führungsbestimmungen sind in mehreren Verfügungen des Finanz- 
ministers gegeben. Diese behandeln den Umfang der Auskunfts- 
pflicht, den Begriff der dauernden Beschäftigung, die Ausübung des 
Fragerechts durch die Gemeindevorstände, betonen, daß die Aus- 
kunftspflicht sich nur auf die zur Zeit der Frage tatsächlich be- 
schäftigten Personen erstreckt, daß also das Einkommen, welches 
die Arbeiter oder Angestellten an einer früheren Arbeitsstelle be- 
zogen haben, ausgeschlossen ist, und nehmen endlich Stellung zu 
verschiedenen Beschwerden und Wünschen, die seitens der Arbeit- 
geber vorgebracht sind. 

In Ausführung der gesetzlichen Bestimmungen haben die Ge- 
meindevorstände den Arbeitgebern Formulare zugesandt mit dem Er- 
suchen, auf diesen den Namen, die Wohnung, die berufliche Stellung 
und die Lohnverhältnisse ihrer sämtlichen Arbeiter anzugeben. Die 
Ausfüllung dieses Formulars hat nun den Unternehmern große 
Schwierigkeiten gemacht, um so mehr, je zahlreicher die Arbeiter- 
schaft des Betriebes war. Einmal war die Zeit ungünstig, in 
der diese Zusammenstellungen verlangt wurden: der Monat Oktober. 
Es mußten jetzt für 3, Jahre die Lohnangaben besonders ermittelt 
werden, und es konnten andere Zusammenstellungen, besonders die für 
die Berufsgenossenschaften alljährlich im Januar für das abgelaufene 
Jahr erstatteten Uebersichten nicht ohne weiteres benutzt werden. 
Die Angabe der Wohnungen machte weitere Schwierigkeiten. Da 
die Fabrikleitung diese nicht kennt, werden Rückfragen bei den 
Arbeitern nötig, die durch den häufigen Wohnungswechsel der Ar- 
beiter noch vermehrt werden. Dazu kommen weitere Umständlich- 
keiten, wenn die Arbeiterschaft in mehreren Gemeinden wohnt, 
also besondere Listen für jede dieser Gemeinden aufgestellt werden 
müssen, und nun wegen des häufigen Wohnungswechsels ein um- 
fangreicher Schriftwechsel mit den einzelnen Gemeinden nötig wird. 

Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII). 50 


186 Albert Hesse, 


Weiterhin war die Frist von zwei Wochen besonders für große 
Betriebe sehr kurz bemessen, um so mehr, als die geforderten Zu- 
sammenstellungen gerade das erste Mal mehr Arbeit verursachten. 
Diese Unzuträglichkeiten haben mehrere Vertretungen der Arbeit- 
geber in Eingaben an den Finanzminister hervorgehoben und zugleich 
die Ansicht vertreten, daß generelle Auskünfte über sämtliche Ar- 
beiter und im besonderen eine Angabe der Wohnung nicht verlangt 
werden könnten. Diese Meinung ist unterstützt worden durch den 
Abgeordneten, auf dessen Antrag die Bestimmungen in das Gesetz 
aufgenommen sind!). Er hat ausgeführt, daß ihm bei seinem An- 
trage nur eine Auskunftserteilung auf Anfrage mit Namensnennung 
der einzelnen Arbeiter vorgeschwebt habe, nicht eine generelle Aus- 
kunft, wie sie jetzt von den Behörden verlangt werde. Er sei von 
den Bestimmungen des sächsischen Einkommensteuergesetzes aus- 
gegangen, habe aber diese absichtlich nur zum Teil herübergenommen, 
die Detailbestimmungen absichtlich fortgelassen. Und diese be- 
gründen in Absatz III des $ 36 ausdrücklich die Verpflichtung, die 
Auskünfte, nach dem Wohnort der beschäftigten Personen geordnet, 
zu erteilen. 

Auf diese Eingaben gehen die Verfügungen des Finanzministers 
ein. Sie führen aus, daß der Zweck des Gesetzes sei, das Veran- 
lagungsverfahren zu verbessern und die Heranziehung des Arbeits- 
einkommens zur Einkommensteuer gerechter und gleichmäßiger zu 
gestalten. Dies sei auch aus dem Inhalt der Verhandlungen des 
Landtages bei Beratung der Novelle zu entnehmen. Die Vorschriften 
des § 23 könnten aber ihren Zweck nur erreichen, wenn die Arbeit- 
geber Auskunft über das Einkommen aller bei ihnen beschäftigten 
Angestellten und Arbeiter erteilten. Die Mitteilung des Einkommens 
einzelner von der Steuerbehörde bestimmt bezeichneter Arbeitnehmer 
würde den Zweck der neuen Vorschrift deshalb unerreicht lassen, 
weil der Steuerbehörde in den meisten Fällen unbekannt sei, bei 
welchem Unternehmer der Arbeiter in Lohn steht. 

Dies ist richtig. 

Nach $ 23 I, II des Einkommensteuergesetzes sind bei der 
Personenstandsaufnahme nur Angaben über Namen, Beruf oder Er- 
werbsart, Geburtsort, Geburtstag und Religionsbekenntnis zu fordern. 
Die Steuerbehörde kann Angaben über den Beschäftigungsort nicht 
verlangen, sie kann wohl in den Hauslisten diese Fragen stellen, 
aber ihre Beantwortung nicht erzwingen, wird also in den meisten 
Fällen diese Angaben auch nicht erhalten. Es kann also die Steuer- 
behörde gar nicht, wie die Arbeitgeber dies fordern, die Namen der 
einzelnen Arbeiter dem Betriebsleiter mit dem Ersuchen um An- 
gabe der Löhne vorlegen, weil das Bestehen des Arbeitsverhältnisses 
ihr in zahlreichen Fällen unbekannt ist. Der Zweck des Gesetzes 
kann also nur durch generelle Auskünfte erreicht werden. Dieser 
Interpretation steht der Wortlaut nicht entgegen. Und die ab- 
weichende Absicht des Gesetzgebers kann eine Auslegung nicht ver- 


1) Mitteilungen der Handelskammer zu Halle a./S., III. Jahrg., S. 2 ff. 


Die Auskünfte der Arbeitgeber für Steuerzwecke. 787 


bieten, die der Wortlaut des Gesetzes gestattet und dessen Zweck 
erfordert. 

Es ist auch in den Kreisen der Arbeitgeber die Ansicht der 
Regierung immer mehr durchgedrungen. Es sind mehrfach Verein- 
barungen mit den Behörden getroffen, in denen sich die Arbeitgeber 
zur Erteilung solcher genereller Auskünfte bereit erklären, die Be- 
hörden weitgehendes Entgegenkommen zusichern. 

Es ist also jetzt in Preußen möglich, regelmäßig von den Ar- 
beitgebern Auskünfte über die Gehälter und Löhne ihrer sämtlichen 
Angestellten zu erlangen, wie dies in Sachsen, ebenso auch in Braun- 
schweig und Anhalt, schon der Fall war. 

Sollen diese für die Statistik verwendet werden, so ist von 
Wichtigkeit einmal die Form, in der sie geliefert werden. Und 
sollen aus Angaben über das Einkommen lohnstatistische Erkennt- 
nisse gewonnen werden, so ist auf den Inhalt der Auskünfte be- 
sonderes Gewicht zu legen. 


2. 


Eine Rundfrage bei sämtlichen Großstädten hat eine große Ver- 
schiedenheit der verwendeten Erhebungsformulare ergeben: 
verschiedene Formen von Listen, Individualblättern, Kombinationen 
beider und Kartenblättern. Die Individualblätter sind den Listen 
vorzuziehen. Sie sind einmal für die Steuerverwaltung praktisch, 
da dann den einzelnen Bureaus das Material "gesondert zugewiesen 
werden kann. Sie sind ferner für statistische Auszählungen ohne 
weiteres zu verwenden, während aus den Listen erst Zählblätter 
ausgeschrieben werden müssen. Die Listen sind teilweise so ange- 
lest, daß sie zerschnitten oder durchgetrennt werden und so Indi- 
vidualblätter gewonnen werden können. Diese Kombination von 
Liste und Individualblatt ist zu empfehlen, sie hat die Vorzüge 
beider, sie gestattet eine schnelle Zusammenfassung und bietet 
fertiges Material zur Auszählung. Zudem bringt sie insofern weniger 
Mühe für den Unternehmer mit sich, als dieser nicht auf den 
einzelnen Individualblättern die Angaben über sein Unternehmen 
zu machen hat, sondern nur am Kopf der Liste; diese Angaben 
werden dann beim Auseinandernehmen der Listen auf die einzelnen 
Blätter übertragen. Die Kartenblätter sind zur Aufnahme des 
Materials für mehrere, gewöhnlich 10 Jahre bestimmt. Ihre Ver- 
wendung wird durch den häufigen Wechsel des Beschäftigungsortes 
seitens des Arbeiters erschwert, wenn nicht ganz in Frage gestellt. 
In der Rubrik, welche die Angaben über das Unternehmen aufnimmt, 
werden häufige Korrekturen nötig. Dann wird die Steuerbehörde die 
Karte der Firma zusenden, die zuletzt die Auskünfte erteilt hat, von 
dieser bei einem Stellungswechsel des Arbeiters zumeist die neue 
Arbeitsstelle nicht erfahren, also gar nicht in der Lage sein, die 
gleiche Karte weiterzugeben. 

Die Individualblätter und die Listen, welche in Individualblätter 
zerlegt werden können, sind mithin als am besten geeignetzu empfehlen. 


50* 


788 Albert Hesse, 


3. 


Hinsichtlich des Inhalts der Formulare ist zunächst grundsätz- 
lich hervorzuheben, daß nur die wirklichen Verdienste, nicht die 
Lohnsätze zu erfragen sind. Einmal ist nach dem Gesetz der Unter- 
nehmer nur zur Angabe des tatsächlichen Arbeitseinkommens ver- 
pflichtet. Vor allem aber haben die Angaben der Lohnsätze für die 
Ermittelung des Jahreseinkommens ganz geringen Wert. Es sind 
Umrechnungen nur möglich bei Angabe der Arbeitsdauer und der 
Beschäftigungsdauer. Diese fehlen. Akkordlohnsätze sind generell 
überhaupt nicht umzurechnen. Ueberstunden können ebensowenig 
sicher eingesetzt werden wie Ausfälle bei Krankheit und Rückgang 
der Konjunktur. Es muß also unter allen Umständen das wirkliche 
Einkommen erfragt werden. Dies ist zumeist auch geschehen. 
Dabei ist die Anordnung und Detaillierung verschieden. Getrennt 
ist immer zwischen Geldeinnahmen und Naturalbezügen. Die ersteren 
sind zum Teil unterschieden in die feststehenden Bezüge, die in 
Tantièmen, Remunerationen, Gratifikationen bestehenden Einnahmen 
und die Verdienste durch Ueberstundenarbeit und Akkordarbeit. 
:Eine solche weitgehende Spezialisierung der Angaben ist für lohn- 
statistische Zwecke wünschenswert. Zu bedenken ist jedoch, daß 
der Arbeitgeber nur zur Angabe des gesamten Geldeinkommens ge- 
setzlich verpflichtet ist. Auch für die Angabe der Naturalbezüge 
sind zum Teil sehr detaillierte Fragestellungen vorgesehen worden, 
was zweifellos wünschenswert ist, aber auf die gleichen rechtlichen 
Schwierigkeiten stößt. Es ist jedoch anzunehmen, daß eine ge- 
schickte Detaillierung der Fragestellung auch spezialisierte Antworten 
erlangen läßt, zu deren Erteilung eine gesetzliche Verpflichtung nicht 
vorliegt. Der Arbeitgeber, der nur zur Angabe des gesamten Ein- 
kommens verpflichtet ist, muß ja dieses selbst erst aus den ver- 
schiedenen Elementen zusammenrechnen, so daß eine Spezialisierung 
ihm die Arbeit nicht erschwert. 

Nach den gesetzlichen Bestimmungen hat der Arbeitgeber den 
wirklichen Verdienst anzugeben, den der Angestellte in dem dem 
Steuerjahr unmittelbar vorangegangenen Kalenderjahre bezogen hat. 
Wegen des Umfanges der Vorbereitungen der Veranlagung ist es 
jedoch erforderlich, schon vor Ablauf dieses Kalenderjahres die Aus- 
künfte einzuziehen; gewöhnlich sind sie im Monat Oktober verlangt 
worden. Es können daher die tatsächlichen Angaben nur für die 
Zeit vom 1. Januar bis 30. September, bezw. wenn die Arbeitnehmer 
nicht vom Anfang des Jahres an im Unternehmen beschäftigt sind, 
für die Zeit vom Beginne der Beschäftigung bis 30. September er- 
stattet werden. Für das letzte Vierteljahr hat die Steuerverwaltung 
das Einkommen zu schätzen. Als Anhalte für ihre Schätzungen 
haben einzelne Steuerbehörden sich seitens der Arbeitgeber schätzungs- 
weise Angaben für das letzte Vierteljahr erstatten lassen. Diese 
sind gewiß von Wert, können aber gesetzlich nicht gefordert werden. 
‚Einzelne Städte haben diesen Weg nicht eingeschlagen, sondern 


Die Auskünfte der Arbeitgeber für Steuerzwecke. 789 


schätzungsweise Angaben für das ganze Jahr eingefordert. Dies 
Verfahren entspricht nicht den gesetzlichen Bestimmungen. Die 
Arbeitgeber sind nur zur Mitteilung der tatsächlich gezahlten Be- 
träge verpflichtet. Es heißt auch den Wert und die Brauchbarkeit 
des Materials geradezu vernichten, wenn die Tatsachen in Schätzungen 
aufgelöst werden, die der Willkür die Türe öffnen und schwer kon- 
trolliert werden können. Hinsichtlich der Naturalbezüge sind von 
einzelnen Verwaltungen allein Angaben über die tatsächlichen Ver- 
hältnisse, von der Mehrzahl noch Schätzungen des Wertes der Be- 
züge gefordert worden. Eine Verpflichtung zur Erteilung schätzungs- 
weiser Angaben besteht auch hier nicht. Liegt der Steuerbehörde 
daran, für ihre Schätzung des Wertes dieser Bezüge sowie für die 
erwähnten Schätzungen des Einkommens für das letzte Vierteljahr 
Anhalte in Urteilen der Arbeitgeber zu erhalten, so ist sie auf Ver- 
einbarungen mit den Arbeitgebervertretungen angewiesen und durch 
ministerielle Verfügungen auch hingewiesen. 

Die Formulare einzelner Städte enthalten zuletzt noch Fragen 
über etwaige Ausfalltage durch Krankheit und Urlaub, deren Be- 
antwortung für die Statistik der Einkommen nicht erforderlich, für 
die Verwendung zu lohnstatistischen Zwecken aber wünschenswert 
ist. Auch zur Erstattung dieser Angaben besteht keine gesetzliche 
Verpflichtung. 


II. 
1. 

Diese Angaben der Arbeitgeber sind vertraulicher Natur. Daraus 
können Bedenken hergeleitet werden und sind solche erhoben worden 
gegen ihre Verwendung für statistische Zwecke und gegen ihre Ver- 
öffentlichung. Diesen ist nicht stattzugeben. Das Gesetz sichert 
strengste Geheimhaltung der Verhältnisse der Steuerpflichtigen zu 
— z. B. § 57 des preußischen, § 32 des sächsischen Gesetzes. — 
Aber diese wird durch die statistische Verarbeitung nicht verletzt. 
In den großen Zahlen gehen nicht nur die Namen, sondern auch die 
Details unter, die Einzelheiten verschwinden vollkommen. Nur wenn die 
Statistik weit in die Details geht, z. B. die Berufsgruppen sehr eng 
faßt, die räumlichen Grenzen sehr eng zieht, dann kann es geschehen, 
daß die Zahlen sehr klein werden und es möglich wird, aus ihnen 
persönliche Verhältnisse zu erkennen. Eine solche Detaillierung 
verbietet sich also. Es geben auch Rücksichten auf die Arbeitgeber 
Veranlassung, in der Zusammenfassung so weit zu gehen, daß die 
persönlichen Verhältnisse verschwinden. Wenn z. B. die Einteilung 
der Gewerbegruppen sehr differenziert wird, dann wird es in Städten 
nicht selten vorkommen, daß nur ein Betrieb in eine Gruppe fällt, 
dann also die Verhältnisse dieses einen Unternehmers dargestellt 
werden, was wiederum dem vertraulichen Charakter der Auskünfte, 
vielleicht auch dem Interesse des Unternehmers widerspricht. Es 
ist gewiß gerade in der Lohnstatistik eine Spezialisierung nicht zu 
vermeiden, da die Verhältnisse der einzelnen Berufsgruppen sehr 


790 Albert Hesse,| 


ungleich sind und eine Zusammenfassung zu großen Kategorien leicht 
die Details erdrückt, Gesamtzahlen ergibt, aus denen ein Urteil über 
die wirklichen Verhältnisse nicht gewonnen werden kann. Es ist 
aber dann mit diesem berechtigten Bestreben jene Rücksicht auf 
den vertraulichen Charakter des Materials zu verbinden. Dieses ist 
auch nicht schwer und die statistische Verarbeitung leidet darunter 
nicht. Eine Spezialisierung, die die individuellen Verhältnisse noch 
erkennen läßt, geht zu weit: die Statistik hat Massenerscheinungen 
darzustellen, die Erscheinungen zu Massen zusammenzufassen. Und 
ist der Umfang des Materials so gering, daß die individuellen Details 
durch Zusammenfassung und Gruppierung gar nicht verwischt werden 
können, dann lohnt sich eine statistische Bearbeitung des Materials 
nicht, und wird sich kaum eine Stelle finden, die es auszählt und 
veröffentlicht. Es ist also keine Gefahr, daß durch Indiskretionen 
der Statistik die Interessen der Beteiligten geschädigt werden. 


2. 


Das Material ist für eine Statistik der Einkommen zunächst zu 
verwenden. Es fragt sich aber, ob darüber hinaus nicht auch lohn- 
statistische Kenntnisse gewonnen werden können. So ist die Brauch- 
barkeit der Angaben nach diesen beiden Richtungen hin zu prüfen. 
Erforderlich ist zunächst die Angabe des Geschlechts der Arbeit- 
nehmer. Diese ist vorhanden. Weiterhin kommen die Angaben über 
das Alter in Betracht. Diese können von einer umfassenden Lohn- 
statistik nicht immer in detaillierter Weise gefordert werden. Die 
Kombination einer größeren Zahl von Berufskategorien, Lohnstufen 
und Altersklassen wird leicht unübersichtlich. Es ist eine eingehende 
Unterscheidung der Altersjahre auch gewöhnlich nicht erforderlich, 
da ja die Löhne nur in beschränktem Maße durch das Alter der 
Arbeitnehmer bedingt sind. Es ist aber zum mindesten zu verlangen, 
daß die jugendlichen Arbeiter erkennbar gemacht werden und ebenso 
die alten, deren Arbeitsfähigkeit gemindert ist. Für diese Angaben 
sehen die Formulare keine Rubriken vor. Dieser Nachteil wird da- 
durch nicht ausgeglichen, daß der Arbeitnehmer als Lehrling be- 
zeichnet wird, oder angegeben ist, daß er Altersrente bezieht. Diese 
Angaben sind durchaus nicht allgemein gemacht, andererseits ist die 
Altersgrenze, die den Bezug der Rente begründet, für die Zwecke 
‘der Lohnstatistik zu hoch. Es sind auch seitens der Arbeitgeber 
spezialisierte Auskünfte über das Alter ihrer Arbeitnehmer auf Grund 
der gesetzlichen Bestimmungen nicht zu erlangen, ebensowenig An- 
gaben, ob der Arbeiter eine bestimmte Altersgrenze noch nicht er- 
reicht oder überschritten hat. Es würden diese Auskünfte ferner 
das Maß der Arbeit für die Unternehmer wesentlich erhöhen. Es 
sind diese Angaben aber auch nicht erforderlich, weil die Steuer- 
behörde in der Lage ist, sie den Ergebnissen der Personenstands- 
aufnahme zu entnehmen. Unter den Fragen, deren Beantwortung 
gemäß § 23 I, II des Einkommensteuergesetzes gefordert werden 
kann, befindet sich auch die Frage nach dem Geburtsjahr. Es 


Die Auskünfte der Arbeitgeber für Steuerzwecke. 791 


kann also aus diesem Material das Alter in die Formulare für die 
Auskünfte eingetragen werden. Es wird dann, wenn die Statistik 
zahlreiche Berufe umfassend darstellen will, die Angabe jener er- 
wähnten beiden Altersgrenzen genügen. Und sofern die Alters- und 
Lohnverhältnisse in detaillierter Gegenüberstellung behandelt werden 
sollen, ist für diese die Grundlage durch Eintragung der Altersjahre 
leicht zu gewinnen. 

Von größerer Wichtigkeit sind die Auskünfte, ob es sich um 
gelernte, angelernte oder ungelernte Arbeiter handelt. Diese Unter- 
scheidung ist in der Praxis überaus schwierig durchzuführen. Es 
entstehen in vielen Fällen Zweifel, und diese werden von ver- 
schiedenen Personen in ungleicher Weise erledigt. Es sind auch 
seitens der Arbeitgeber Angaben, ob der Arbeiter z. B. eine Lehr- 
zeit durchgemacht hat und von welcher Dauer sie gewesen ist, 
nicht zu verlangen. Es bleibt also nur übrig, aus den Auskünften 
über die Beschäftigungsart, über die berufliche Stellung diese An- 
gaben zu entnehmen. Dies wird um so leichter sein, je detaillierter 
die Angaben über die berufliche Stellung sind. Und dies ist un- 
schwer zu erreichen, wenn die Arbeitgeber auf möglichste Speziali- 
sierung hingewiesen werden, da ja die genauere Angabe keine größere 
Arbeit verursacht. 

Allen diesen Anforderungen vermag also das Material zu ge- 
nügen, und soweit es zunächst versagt, können Ergänzungen vorge- 
nommen werden. Auf eine der wichtigsten Fragen aber bleibt es 
die Antwort schuldig, und es ist unmöglich, aus den Ermittelungen 
der Steuerbehörde hier eine Ergänzung zu schaffen. Dies ist die 
Frage nach der Arbeitszeit. Hier können nur durch besondere An- 
fragen die Angaben gewonnen werden. Ohne solche besonderen 
Feststellungen ist das Material nur für Zwecke der Einkommens- 
statistik zu verwenden und für die Lohnstatistik ungeeignet. Ob 
die Frage nach der Arbeitszeit zugleich mit den durch das Gesetz 
vorgesehenen gestellt, also in das Formular für die Auskünfte auf- 
genommen wird, ist aus Gründen der Zweckmäßigkeit und unter 
Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse zu entscheiden; be- 
denklich ist immer, daß durch diese Angabe die Mühe für die Arbeit- 
geber zweifellos wesentlich erhöht wird und also überlegt werden 
muß, ob dann nicht die Sorgfalt und Genauigkeit der Gesamtangaben 
gefährdet wird. Zu bedenken ist weiterhin, daß eine Pflicht zur 
Erteilung der Antwort auf diese Frage nicht vorliegt, daß anderer- 
seits die Steuerbehörde kein unmittelbares Interesse an diesen An- 
gaben hat. Gelingt es nicht, aus den Formularen der Steuerver- 
waltung auch über diese Fragen Auskünfte zu erlangen, so muß 
eben die Verwertung dieses Materials sich auf eine statistische Dar- 
stellung der Einkommensverhältnisse beschränken und versucht 
werden, durch besondere ergänzende Feststellungen Anhalte zu ge- 
winnen, um Schlüsse auf die Lohnverhältnisse zu ziehen. Ob hier 
der Weg der Enquete eingeschlagen oder eine selbständige statistische 
Erhebung der Arbeitszeit angestellt wird, ist dann wieder im be- 


792 Albert Hesse, 


sonderen zu entscheiden. Die Enquete ist viel leichter durchzu- 
führen, liefert aber weder so exaktes noch so individuell eingehendes 
Material, wie die statistische Feststellung. Die Verbindung einer 
detaillierten Statistik der Arbeitszeit mit der Statistik der Eınkommen 
stößt jedoch wiederum auf besondere Schwierigkeiten, so daß dieser 
Vorteil der statistischen Feststellung kaum zur Geltung kommt. 
Dann aber lohnen sich die großen Umständlichkeiten einer detaillierten 
statistischen Feststellung nur zur Ergänzung anderen Materials nicht 
mehr, und die Enquete bietet bei viel geringerem Aufwand genügen- 
den Ersatz. 

Endlich sind für lohnstatistische Verwertung der Auskünfte noch 
Angaben erforderlich über die Lohnart und den Umfang der Ueber- 
stundenarbeit. Wenngleich die gesetzlichen Bestimmungen auch diese 
Frage nicht vorsehen, ist doch in der Mehrzahl der Erhebungsformu- 
lare nach dem Ertrag der Extraarbeit gefragt worden. Die Beant- 
wortung dieser Fragen ist auch leicht zu erlangen, da ja doch der 
Arbeitgeber, der zur Angabe des gesamten Arbeitsverdienstes ver- 
pflichtet ist, diesen aus den einzelnen Bestandteilen zusammenrechnen 
muß, daher deren Angabe keine besonderen Schwierigkeiten macht. 
Welche Lohnart in dem betreffenden Berufe vorherrscht, ist dann 
wieder durch ergänzende Untersuchungen festzustellen. Und hier 
ist wieder auf den Weg der Enquete zu verweisen, die ohne große 
Schwierigkeiten genügende Angaben zu liefern vermag. 

Es können also, soweit das Material nicht selbst schon für lohn- 
statistische Verwertung die erforderlichen , Angaben enthält, durch 
ergänzende Rundfragen die nötigen Angaben erlangt werden. 


3. 


Außer diesen allgemeinen Gesichtspunkten für eine Kritik des 
Materials hinsichtlich seines Wertes für lohnstatistische Unter- 
suchungen kommen noch besondere Momente in Betracht, die in der 
Eigenart des Materials begründet sind. 

Der Arbeitgeber ist verpflichtet zur Angabe des wirklichen Ver- 
dienstes für das dem Steuerjahr vorhergehende Kalenderjahr. Da 
nun die Veranlagung der Personen mit einem Einkommen unter 
3000 M. schon im letzten Vierteljahr vorgenommen wird, werden 
die Auskünfte im Oktober eingefordert, und infolgedessen sind die 
Angaben der tatsächlichen Arbeitsverdienste nur für drei Viertel- 
jahre zu erhalten. Für das letzte Vierteljahr muß eine Schätzung 
eintreten. Und diese ist immerhin nicht leicht. Es sind die Ein- 
kommensverhältnisse in den Monaten Oktober bis Dezember nicht 
ohne weiteres denen der früheren Monate gleichzustellen. In ein- 
zelnen Berufen gehen die Einnahmen zurück, besonders in den 
Saisongewerben, in anderen sind sie höher, besonders im Dezember, 
da die Weihnachtsgratifikationen, Prämien, Gewinnanteile und andere 
Nebeneinnahmen gerade in diesem Monat das Einkommen zum Teil 
sehr wesentlich erhöhen. Die Einforderung der Auskünfte im Monat 
Januar würde diese Schwierigkeiten sofort beseitigen, außerdem die 


Die Auskünfte der Arbeitgeber für Steuerzwecke. 793 


Mühe für die Arbeitgeber vermindern, die dann auf die Zusammen- 
stellungen für die Berufsgenossenschaften unmittelbar zurückgreifen 
könnten. Es ist aber den Steuerbehörden nicht möglich, in der 
Zeit von Januar bis März zugleich mit der Bearbeitung der Steuer- 
deklarationen auch diese Auskünfte für die Veranlagung zu verwerten. 
Zudem kommt es der Steuerverwaltung gar nicht auf eine absolut 
genaue Feststellung des Einkommens an, sondern nur auf die Ein- 
reihung des Einkommens in eine Einkommensgruppe. Und hierfür 
bietet auch eine Schätzung genügende Unterlagen. Es ist also 
nicht zu erwarten, daß die Auskünfte im Januar eingefordert werden 
und daher Angaben für das ganze Jahr bieten können. 

Diese Fälle, in denen für drei Vierteljahre der wirkliche Arbeits- 
verdienst angegeben ist, sind aber noch die günstigsten. Der Arbeit- 
geber ist nur zur Auskunft über die bei ihm zur Zeit dauernd beschäf- 
tigten Arbeiter und zur Angabe des Einkommens, das sie in seinem 
Betriebe bezogen haben, verpflichtet. So ist über vorübergehend be- 
schäftigte Aushilfspersonen überhaupt nichts zu erfahren. Und wenn 
ein Arbeiter oder Angestellter nicht seit 1. Januar im Unternehmen 
beschäftigt ist, fehlen die Angaben für die Zeit vor dem Eintritt in 
das Unternehmen: der jetzige Arbeitgeber gibt nur das Einkommen 
an, das er gewährt hat, und der frühere Arbeitgeber ist zu Angaben 
überhaupt nicht verpflichtet, da der Arbeiter zur Zeit der Anfrage 
von ihm nicht mehr beschäftigt wird. Es wird also nur für einen 
Teil der drei Vierteljahre der wirkliche Verdienst angegeben, und es 
muß die Schätzung des Einkommens auf einen größeren Zeitraum 
noch erstreckt werden. Dadurch wird der Wert des Materials em- 
pfindlich beeinträchtigt, um so mehr, je zahlreicher die Fälle des 
Wechsels sind, und die bisher angestellten Untersuchungen und die 
Erfahrung lehren, daß der Arbeiter verhältnismäßig häufig seine 
Stellung wechselt, und daß hier bedeutende Unterschiede zwischen 
den einzelnen Gegenden und den einzelnen Berufsgruppen sich zeigen. 

Gegenüber diesen Bedenken treten die anderen Einwendungen 
gegen das Material zurück. Wir erfahren nur das Einkommen des 
Mannes, nicht das der Angehörigen, welche mitverdienen; wir 
erfahren auch nur das Arbeitseinkommen des Mannes, nicht etwaige 
sonstige Einnahmen; wir erfahren endlich dies Einkommen nur, so- 
fern es den Betrag von 3000 M. nicht übersteigt. Diese Fragen 
sind von geringerer Bedeutung. Auf sie ist bei der Verwertung 
des Materials Rücksicht zu nehmen. Geschieht dies, dann sind zu 
weitgehende Interpretationen und unrichtige Schlußfolgerungen nicht 
zu befürchten. 

Gegenüber diesen Momenten ist jedoch endlich auf einen Um- 
stand hinzuweisen, der den Wert des Materials sicherstellt und die 
Unsicherheit der Schätzung ausgleicht. Die Angabe des Arbeitgebers 
und die Schätzung der Steuerbehörde werden durch den Arbeiter 
indirekt kontrolliert. Dieser erfährt durch die Steuerverwaltung, in 
welche Gruppe er eingereiht ist, und wendet nun Rechtsmittel an, 
wenn er diese Veranlagung für unrichtig hält. Es wird dann nur 


794 Albert Hesse, Die Auskünfte der Arbeitgeber für Steuerzwecke. 


erforderlich, die im Rechtsmittelverfahren vorgenommenen Korrek- 
turen in den Erhebungspapieren nachzutragen. So wird durch die 
beiden Parteien des Arbeitsverhältnisses unter Leitung einer un- 
parteiischen Behörde dem Statistiker das Material geliefert. Diesem 
haften gewiß Mängel an, aber sie sind durch ergänzende Unter- 
suchungen leicht auszugleichen. Doch auch soweit dies nicht mög- 
lich ist, bleibt das Material noch wertvoll genug, so daß es eine 
Verarbeitung lohnt. 
Wie hat diese nun vorzugehen ? 


III. 


Die Bearbeitung des Materials wird vor keine besonderen Pro- 
bleme gestellt. Sie hat nur zu entscheiden, ob das ganze Material 
oder allein ein Teil ausgezählt werden soll. Da ist zunächst eine 
Ausscheidung der Einkommen, welche Naturalbezüge umfassen, zu 
empfehlen, da hier die Schätzung des Wertes der Naturalien die 
Höhe des Einkommens wesentlich bestimmt und so einen breiteren 
Raum einnimmt als in den Fällen, die nur Barbezüge enthalten. 
Weiterhin werden diejenigen Personen auszuschalten sein, die kurz 
vor Erteilung der Auskünfte ihre Arbeitsstelle gewechselt haben, 
so daß die tatsächlichen Verdienste nur für kurze Zeit angegeben 
sind und die Schätzung wiederum einen großen Raum einnimmt. 
Welche Zeit hier als genügend angesehen werden kann, ist Sache 
praktischer Erwägung im konkreten Falle. Diese Personen, welche 
ihren Arbeitsplatz gewechselt haben, für die daher nicht die tatsäch- 
lichen Verdienste vom Beginn des Jahres vorliegen, ganz fortzu- 
lassen, ist nicht ratsam. Sofern allein die Einkommen derjenigen 
Personen ausgezählt werden, die seit 1. Januar an ihrer Arbeitsstelle 
verblieben sind, wird unwillkürlich eine Auslese der besseren Arbeiter 
getroffen, das Bild also zu günstig werden. 

Für die Bildung der Berufsgruppen und Einkommensstufen ist 
zunächst möglichst weitgehende Spezialisierung zu empfehlen, die 
alle Einzelheiten hervortreten läßt. Die Zusammenfassung ist so 
vorzunehmen, daß die Unterschiede sich gegenseitig nicht ausgleichen, 
sondern erkennbar bleiben. Dabei sind die Rücksichten auf die oben 
geforderte Diskretion des Statistikers nicht zu vergessen. 

Besondere Schwierigkeiten stellen sich also einer Verarbeitung 
des Materials nicht entgegen. Diese ist daher zu empfehlen. Gewiß 
hat das Material Mängel, diese sind aber teils durch geschickte 
Fragestellung zu vermeiden, teils durch weitere Untersuchungen zu 
ergänzen. Es ist jedenfalls ein Material, welches dem Statistiker 
fertig vorgelegt wird, dessen Vollständigkeit durch die Steuerbehörde 
geprüft, dessen Richtigkeit durch den Arbeitnehmer kontrolliert ist, 
also nach diesen Richtungen hin größere Garantien bietet, als andere 
Angaben dieser Art. Es ist für Zwecke der Einkommenstatistik 
ohne weiteres brauchbar, aber auch als Grundlage für lohnstatistische 
Untersuchungen wohl zu verwenden. 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 795 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 


V. 
Die wirtschaftliche Gesetzgebung der deutschen Bundes- 


staaten im Jahre 1906. 
Von Dr. Albert Hesse, Halle a. S. 


Preußen. 
(Fortsetzung.) 


Gesetz, betr. Vermehrung der Mitglieder des Hauses der Abgeord- 
neten und Aenderungen der Landtagswahlbezirke und Wahlorte. Vom 
28. Juni 1906, S. 313. 


§ 1. Die Zahl der Mitglieder des Hauses der Abgeordneten (Art. 69 Satz 1 
der Verfassungsurkunde) beträgt fortan vierhundertdreiuudvierzig. 

§ 2. Die Aenderungen der Wahlbezirke, der Wahlorte und der Zahl der in 
jedem Bezirke zu wählenden Abgeordneten, welche aus Anlaß dieser Vermehrung 
der Mitglieder des Hauses der Abgeordneten (§ 1) eintreten, werden nach Inhalt 
eines Verzeichnisses festgestellt. 

3. In den Wahlbezirken, die in dem Verzeichnisse B aufgeführt sind, werden 
die Wahlorte anderweitig bestimmt. 

8 4. Die Garnison von Mainz wird in Ansehung der Wahlen zum Hause der 
Abgeordneten von.dem dritten Wahlbezirke des ki eh ena Coblenz abge- 
trennt und dem neunten Wahlbezirke des Regierungsbezirkes Wiesbaden zugewiesen, 

§ 5. Dieses Gesetz findet zuerst bei der ersten, nach seinem Inkrafttreten 
stattfindenden Neuwahl des Hauses der Abgeordneten Anwendung. 


Gesetz, betr. Abänderung der Vorschriften über das Verfahren bei 
den Wahlen zum Hause der Abgeordneten. Vom 28. Juni 1906, S. 318. 


Artikel 1. Die Verordnung vom 30. Mai 1849 wird durch nachstehende Vor- 
schriften abgeändert: 

$ 1. Der Protokollführer und die Beisitzer für den Wahlvorstand bei der 
Wahl der Abgeordneten ($ 30 Abs. 2 der Verordnung) werden durch den Wahl- 
kommissarius aus der Mitte der Wahlmänner ernannt. 

Wr . Haben bei der ersten Abstimmung nur zwei Personen oder, wenn von 
einer Wählerabteilung bei der Urwahl zwei Wahlmänner zu wählen sind, nur vier 
Personen, und zwar lach viel Stimmen erhalten, so entscheidet das Los darüber, 
wer gewählt ist (§§ 21, 23 § 30 Abs. 3, 4 der Verordnung). 

$ 3. In Gemeinden, deren Zivilbevölkerung nach de letzten Volkszählung 
mindestens 50 000 beträgt, findet die Abstimmung bei der Wahl der Wahlmänner 
in einer nach Anfangs- und Endtermin festzusetzenden Abstimmungsfrist (Frist- 
wahl) an Stelle der Abstimmung in gemeinschaftlicher Versammlung der Urwähler 
zu bestimmter Stunde (Terminswahl) statt. Abteilungen, die 500 oder mehr 
Wähler zählen, können in Abstimmungsgruppen geteilt werden ($$ 19, 21 der Ver- 
ordnung). Abs. 2. Auf den An des (emeindevorstandes kann der Minister 
des Innern anordnen, daß bei der Wahl der Wahlmänner die Abstimmung auch 
in Gemeinden mit 50 000 oder mehr Einwohnern in der Form der Terminswahl oder 
in I oean mit geringerer Einwohnerzahl in der Form der Fristwahl vorzu- 
nehmen ist. 


796 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


$ 4. Der Minister des Innern kann anordnen, daß in Wahlbezirken, in welchen 
die Zahl der Wahlmänner 500 oder mehr beträgt, die Wahl der Abgeordneten in 
Gruppen der Wahlmänner vorzunehmen ist, und dabei die Orte innerhalb des 
Wahlbezirks bestimmen, an denen örtlich getrennte Gruppen der Wahlmänner zu 
versammeln sind. An Stelle dieser Bestimmungen kann unter der gleichen Voraus- 
setzung von dem Minister auch angeordnet werden, daß in dem Wahlbezirke die 
Abstimmung bei der Wahl der Abgeordneten in der Form der Fristwahl stattfindet 
($$ 27, 30 der Verordnung). Ab. 2. Ueber die Gültigkeit der Wahlmännerwahlen, 
welche der Wahlkommissarius für ungültig erachtet hat, und über die Ausschließung 
der Wahlmänner, deren Wahl für ungültig erkannt wird ($ 27 Abs. 1 der Ver- 
ordnung), entscheidet, wo Gruppen der Wahlmänner gebildet sind, die Gruppe, zu 
welcher der Wahlmann gehört, dessen Wahl beanstandet ist, wo Fristw statt- 
findet, der Wahlvorstand mit Stimmenmehrheit. Bei Stimmengleichheit ist der 
Wahlmann zur Wahl der Abgeordneten zuzulassen. 

Artikel II. Der Verordnung vom 30. Mai 1849 tritt folgende Vorschrift hinzu: 

$ 3la. Die Urwähler sind verpflichtet, das Ehrenamt des Wahlvorstehers, 
des Protokollführers oder eines Beisitzers im Wahlvorstande bei der Wahl der 
Wahlmänner, die Wahlmänner sind verpflichtet, das Ehrenamt des Protokollführers 
oder eines Beisitzers im Wahlvorstande bei der Wahl der Abgeordneten zu über- 
nehmen. Abs. 2. Zur Ablehnung ist berechtigt, wer das 65. Lebensjahr über- 
schritten hat oder durch Krankheit, Abwesenheit in dringenden Privatgeschäften, 
durch Dienstgeschäfte eines öffentlichen Amtes oder durch sonstige besondere Ver- 
hältnisse, welche nach billigem Ermessen eine genügende Entschuldigung be- 
gründen, an der Wahrnehmung der Obliegenheiten der im Abs. 1 bezeichneten Ehren- 
ämter verhindert ist. Abs. 3. Wer die Uebernahme dieser Obliegenheiten ohne 
zulässigen Grund ablehnt oder sich ihrer Wahrnehmung ohne ausreichende Ent- 
schuldigung entzieht, kann mit einer Ordnungsstrafe bis zu 300 M. belegt 
werden. Abs. 3. Wird nachträglich eine genügende Entschuldigung geltend gemacht, 
so kann die verhängte Strafe ganz oder teilweise zurückgenommen werden. Abs. 4. 
Die Festsetzung und die Zurücknahme der Strafe steht in Landkreisen dem Land- 
rat, in Stadtkreisen dem Bürgermeister zu. Gegen seine Verfügung ist binnen 
zwei Wochen nach der Zustellung Beschwerde an den Regierungspräsidenten und 
gegen dessen Bescheid binnen gleicher Frist Beschwerde an den Oberpräsidenten 
zulässig, welcher endgültig entscheidet. 

Artikel III. Die näheren Bestimmungen zur Ausführung der vorstehenden 
Vorschriften sind durch das Reglement ($ 32 der Verordnung) zu treffen. 

Artikel IV. Bis zum Erlasse des Wahlgesetzes (Artikel 72 der Verfassungs- 
urkunde) treten'!die Vorschriften des Artikels 115 der Verfassungsurkunde, insoweit 
sie den Vorschriften dieses Gesetzes entgegenstehen, außer Kraft. Dieses Gesetz 
tritt mit dem 1. Oktober 1906 in Kraft. 


Gesetz, betr. die Abänderung des Artikels 26 und die Aufhebung 
des Artikels 112 der Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Vom 
10. Juli 1906, S. 333. 


$ 1. Der Artikel 26 der Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850 erhält 
folgende Fassung: Das Schul- und Unterrichtswesen ist durch Gesetz zu regeln. 
Bis zu anderweiter gesetzlicher Regelung verbleibt es hinsichtlich des Schul- und 
Unterrichtswesens bei dem geltenden Rechte. 

$ 2. Der Artikel 112 der Verfassungsurkunde wird aufgehoben. 


Gesetz, betr. die Unterhaltung der öffentlichen Volksschulen. Vom 
28. Juli 1906, S. 335. 


Erster Abschnitt. Träger der Schullast. § 1. Die Errichtung 
und Unterhaltung der öffentlichen Volksschulen liegt vorbehaltlich der besonderen 
Vorschriften dieses Gesetzes, insbesondere der darin geordneten Beteiligung des 
Staates an der Aufbringung der Kosten, den bürgerlichen Gemeinden und selb- 
ständigen Gutsbezirken ob. Abs. 2. Gemeinden (Gutsbezirke) bilden entweder 
einen eigenen Schulverband oder werden behufs Unterhaltung einer oder mehrerer 
Volksschulen zu einem gemeinsamen Schulverbande esse Rulverbande) vereinigt. 
Abs. 3. Eine Gemeinde (Gutsbezirk) kann mehreren Gesamtschulverbänden ange- 
hören. Sie kann, auch wenn sieeinen eigenen Schulverband bildet, zugleich einem 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 797 


oder mehreren Gesamtschulverbänden angehören. Abs. 4. Gutsbezirke als Träger 
der Schullasten sowie Gesamtschulverbände haben die Rechte der Körperschaften 
des öffentlichen Rechtes. 

§ 2. Jede Stadt bildet in der Regel einen eigenen Schulverband. Stadt- 
gemeinden mit mehr als fünfundzwanzig Schulstellen können mit anderen Gemeinden 
oder Gutsbezirken nur unter Zustimmung aller Beteiligten (Gemeinden, Gutsbe- 
zirke) zu einem Gesamtschulverbande vereinigt werden. 

$ 3. Ueber die Bildung, Aenderung und Auflösung der Gesamtschulverbände 
beschließt bei Zustimmung der Beteiligten (Gemeinden Gutsbezirke) nach Anhörung 
des Kreisausschusses, sofern eine Stadt beteiligt ist, des Bezirksausschusses, die 
Schulaufsichtsbehörde. Bei Widerspruch von Beteiligten (Gemeinden, ei sen) 
kann auf Antrag der Schulaufsichtsbehörde die Zustimmung durch Beschlu 
des Kreisausschusses, sofern eine Stadt beteiligt ist, des Bezirksausschusses, ergänzt 
werden. Abs. 2, Gegen den Beschluß des Kreisausschusses oder des Bezirksaus- 
schusses steht der Schulaufsichtsbehörde und den Beteilgten binnen zwei Wochen 
die Beschwerde an den Provinzialrat zu. 

$ 4. Ueber die Vermögensauseinandersetzung, welche infolge der Bildung, 
Aenderung oder Auflösung der Schulvorstände notwendig wird, beschließt die Schul- 
aufsichtsbehörde. Gegen deren Beschluß steht den Beteiligten gegeneinander innerhalb 
zwei Wochen die Klage im Verwaltungsstreitverfahren beim Bezirksausschusse zu. 

85. Die Schulaufsichtsbehörde kann nach Anhörung der beteiligten Schul- 
verbände Schulkinder eines Schulverbandes gastweise der Schule eines anderen zu- 
weisen, sofern dieser dadurch nicht zur Beschaffung weiterer Schulräume oder zur 
Vermehrung der Lehrkräfte genötigt wird. 

In Abs. 2—6 folgen nähere Bestimmungen. 

$ 6. Der Schulverband kann für den Besuch der Schule durch nicht ein- 
heimische Kinder ein Fremdenschulgeld verlangen. Abs 2. Als einheimisch gelten 
Kinder, welche reichsangehörig sind und im Schulverband oder im Gastschulbe- 
zirke ($ 5) entweder an dem Wohnorte dessen, welchem die Sorge für die Person 
des Kindes obliegt oder oblag, wohnen oder von Privatpersonen unentgeltlich in 
Pflege und Kost genommen sind. Das Fremdenschulgeld darf den im Durch- 
schnitte der drei letzten Rechnungsjahre auf jedes Schulkind entfallenden Betrag 
der dem Schulverbande erwachsenen Schulunterhaltungskosten nicht übersteigen. 

In Abs. 2—4 folgen nähere Bestimmungen. 

Zweiter Abschnitt. Verteilung der Volksschullasten. Schul- 
haushalt. Baufonds. Staatsleistungen. 

§ 7. In den Gemeinden werden die Schullasten als Gemeindelast aufgebracht. 
Abs. 2. Die Verpflichtung der nach § 40 Abs. 1 No. 1 und Abs. 3 sowie $ 41 
des Kommunalabgabengesetzes vom 14. Juli 1893 von der Gemeindeeinkommensteuer 
befreiten Personen, zu den Volksschullasten beizutragen, wird durch Gesetz geregelt. 

§ 8. In den Gutsbezirken werden die Schullasten vom Gutsbesitzer getragen. 

Abs. 2 und 3. Besondere Regelung, sofern der Gutsbezirk nicht ausschließlich im 
Eigentum des Gutsbesitzers sich bejindet, und entsprechende Fülle. 

$ 9. Verteilung der Schulunterhaltungslasten in Gesamtschulverbünden. 

$ 10. Die Vorschriften des $53 des Kommunalabgabengesetzes vom 14. Juli 
1893 finden, insoweit Mehrausgaben für Zwecke des öftentlichen Volksschulwesens 
in Betracht kommen, zu Gunsten der Gutsbezirke entsprechende Anwendung. 

$$ 11 und 12. Schulhaushalts- Etat. 

$ 18. Kleine bauliche Reparaturen. 

{ $ 14. Jeder Schulverband mit 25 oder weniger Schulstellen ist verpflichtet, 
Jährlich 60 M. für die einzige oder erste, 50 M. für die zweite, 40 M. für die dritte 
und je 30 M. für jede weitere Stelle des Schulverbandes zur Bestreitung der Kosten 
von Volksschulbauten, welche nicht zu den laufenden kleineren Reparaturen gehören, 
anzusammeln und verzinslich zu belegen. Abs. 2. Sind die im Abs. 1 gedachten 
Baukosten ganz oder teilweise von Dritten zu decken, so sind die Schulverbände 
zu der Ansammlung überhaupt nicht oder in entsprechend geringerer Höhe anzu- 
halten. Die Schulaufsichtsbehörde entscheidet endgültig darüber, ob und inwieweit 
hiernach von der Anforderung der Ansammlung Abstand zu nehmen ist. Abs. 3. 
Die Schulaufsichtsbehörde ist befugt, auf Antrag eines Schulverbandes eine Aus- 
setzung oder Minderung der Ansammlung zuzulassen. 

Folgen nähere Bestimmungen. 


798 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


$ 15. Belegung der angesammelten Mittel. 

$ 16. Erhebung der angesammelten Beträge. 

$ 17. Der Staat erstattet den Schulverbänden mit nicht mehr als sieben Schul- 
stellen ein Drittel desjenigen Teilbetrages der durch notwendige Bauten für Volks- 
schulzwecke Ausschließlich des Grunderwerbes entstandenen Kosten, welcher im 
Etatsjahre 500 M. für die Stelle überstiegen hat und weder Dritten zur Last fällt, 
noch auch durch Brandschadensversicherung gedeckt wird. Bei Berechnung des staat- 
lichen Baubeitrages dürfen etwaige Naksraldienste nur bis zum Höchstwerte von 
funfzehn vom Hundert der Gesamtsumme in Ansatz gebracht werden. Der staatliche 
Baubeitrag wird nicht gezahlt, soweit der Aufwand für Bauten dadurch entstanden 
ist, daß der Schulverband seine Gebäude seit Inkrafttreten des Gesetzes nicht mit 
der gebotenen Sorgfalt unterhalten hat. Abs. 2. Bei Streitigkeiten über die Ver- 

flichtung zur Zahlung des staatlichen Baubeitrages oder über seine Bemessung 

schließt auf Anrufen der Beteiligten, zu denen in Gesamtschulverbänden auc 
die einzelnen Gemeinden (Gutsbezirke) gehören, der Kreisausschuß, sofern eine Stadt 
beteiligt ist, der Bezirksausschuß. Gegen den Beschluß des Kreisausschusses oder 
des Bezirksausschusses steht den Beteiligten binnen zwei Wochen die Beschwerde an 
den Provinzialrat zu. Abs. 3. Die Schulverbände haben, sofern die Kosten der 
baulichen Herstellungen im Einzelfalle 2000 M. übersteigen, vor Beginn des Baues 
einen Bauplan mit Kostenanschlag der Schulaufsichtsbehörde zur Genehmigung 
vorzulegen. Diese ist befugt, einen staatlichen Baubeamten mit der Beaufsichtigung 
des Baues zu betrauen. 

§ 18. Im Falle des nachgewiesenen Unvermögens der Schulverbände zur Auf- 
bringung der Volksschullasten werden ihnen in den Grenzen der durch den Staats- 
haushalts-Etat bereitgestellten Mittel Ergänzungszuschüsse gewährt. Bei der Be 
willigung kann angeordnet werden, daß die Zuschüsse zur besonderen Erleichterung 
bestimmter Kreise von Abgabeppflichtigen zu verwenden sind. Abs. 2. Ein An- 
spruch gegen den Staat kann weder im Rechtswege noch im Verwaltungsstreit- 
verfahren geltend gemacht werden. 

$ 19. Zur Unterstützung von Schulverbänden mit fünfundzwanzig oder weniger 
Schulstellen, welche zur Aufbringung der Volksschullasten unvermögend sind, wird 
durch den Staatshaushalts-Etat der Betrag bereitgestellt, welcher am 31. März 148 
für diesen Zweck den Regierungen überwiesen ist. Der Unterrichtsminister, der 
Finanzminister und der Minister des Innern bestimmen die auf die Provinzen und 
die Hohenzollernschen Lande entfallenden Anteile nach Maßgabe der bisher über- 
wiesenen widerruflichen Staatsbeihilfen. Abs. 2. Innerhalb der Provinzen erfolgt 
die weitere Verteilung auf die Landkreise unter Berücksichtiung der bisher auf sie 
entfallenden Beträge durch den Oberpräsidenten nach Anhörung des Provinzialrats, 
in den Hohenzollernschen Landen durch den Unterrichtsminister nach Anhörung 
des Bezirksausschusses. 

§ 20. Außerdem werden für Schulverbände mit fünfundzwanzig oder weniger 
Schulstellen, welche zur Aufbringung der Volksschullasten unvermögend sind, zum 
Zwecke der Ausgleichung unbilliker Verschiäungen in der Aufbringung der Volks- 
schullasten, welche infolge dieses Gesetzes entstehen, sowie sonstiger unbilliger Un- 
gleichheiten in der Höhe der Volksschullasten durch den Staatshaushalts-Etat all- 
jährlich 5 000 000 M. bereitgestellt und auf die Provinzen (Hohenzollernschen Lande) 
und Landkreise auf dem im $ 19 bezeichneten Wege verteilt. 

$ 21. Dem Unterstützungsfonds der einzelnen Kreise wachsen die Ergänzungs- 
zuschüsse zu, welche aus Zentralfonds Schulverbänden des Kreises mit fünfund- 
zwanzig oder weniger Schulstellen zur Errichtung neuer Schulstellen laufend be- 
willigt werden. Abs. 2. Im übrigen ändern sich, abgesehen vom Falle des F 22, 
die den Kreisen überwiesenen Beträge nur 1) bei dem Uebertritt eines Schulver- 
bandes mit fünfundzwanzig oder weniger Schulstellen in die Reihe derjenigen mit 
mehr als fünfundzwanzig Schulstellen; 2) bei dem umgekehrten Vorgange; 3) in- 
folge von Umgemeindungen und Veränderungen der Landkreise mit derselben 
Wirkung. Abs. 3. Im ersten Falle geht vom Anfange des nächsten Etatsjahres 
der dem Schulverbande bewilligte Ergänzungszuschuß auf den Zentralfonds zur 
Unterstützung von Schulverbänden mit mehr als fünfundzwanzig Schulstellen über, 
im zweiten wächst von demselben Zeitpunkt ab der der Gemeinde etwa aus dem 
Zentralfonds bewilligte Ergänzungszuschuß dem Unterstützungsfonds des Kreises 


zu. Im Falle der No. 3 finden diese Bestimmungen sinng Anwendung. 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 799 


§ 22. Behufs Gewährung widerruflicher Ergänzungszuschüsse an unvermögende 
Schulverbände mit fünfundzwanzig oder weniger Schulstellen wird für jeden Kreis 
eine Summe in Höhe der Hälfte der von seinen Schulverbänden gemäß $ 14 an- 
zusammelnden Beträge aus Staatsmitteln bereitgestellt. 

$ 23. Für die Unterverteilung der Staatsmittel ($$ 19, 20, 21, 22) auf die 
Schulverbände ist vom Kreisausschusse nach Anhörung des Kreisschulinspektors 
für je fünf Jahre ein Verteilungsplan aufzustellen, der der Feststellung durch die 
Schulaufsichtsbehörde bedarf. Die Feststellung tritt in Kraft, wenn nicht inner- 
halb vier Wochen von dem Kreisausschusse dagegen Beschwerde bei dem Unter- 
richtsminister erhoben ist. Dieser entscheidet endgültig. Abs. 2. Die den einzelnen 
Schulverbänden bewilligten Ergänzungszuschüsse können durch den Kreisausschuß 
während der Bewilligungszeit nur gekürzt werden wegen Aufhebung oder Verände- 
rung des Schulverbandes, wegen Aufhebung einer Schulstelle, wegen gänzlichen 
oder teilweisen Fortfalls der Verpflichtung zur Ansammlung eines Baufonds. ($ 14). 
Abs. 2. Der Beschluß des Kreisausschusses bedarf der Genehmigung der Schul- 
aufsichtsbehörde. Gegen ihn steht den Beteiligten binnen zwei Wochen die Be- 
schwerde an den Provinzialrat zu. Abs. 3. In dem Verteilungsplan ist ein an- 

emessener Betrag, mindestens fünf vom Hundert, zur Gewährung einmaliger 
rgänzungszuschüsse vorzusehen. Dem Betrage wachsen die heimgefallenen Er- 
gänzungszuschüsse zu. Die Bewilligung erfolgt durch den Kreisausschuß mit Ge- 
nehmigung der Schulaufsichtsbehörde Gegen die Versagung der Genehmigung 
steht dem Kreisausschuß innerhalb vier Wochen die Beschwerde an den Unter- 
richtsminister zu. Wird die Beschwerde abgelehnt, so wird nach dem Beschlusse 
der Schulaufsichtsbehörde verfahren. 

Dritter Abschnitt. Schulvermögen. Leistungen Dritter. 

$ 24. Die besonderen Schulgemeinden (Sozietäten) sowie diejenigen Schulen, 
welche bisher als selbständige Rechtssubjekte Träger der Volksschullasten waren, 
werden, unbeschadet des Fortbestehens dieser Schulen als Lehranstalten, aufgehoben. 
Abs. 2. Das Vermögen einer aufgehobenen Schulgemeinde (Schule) geht als Ganzes 
auf den Schulverband (§ 1, Abs. 2) über. Abs. 3. Hat der Bezirk der aufgehobenen 
Schulgemeinde (Schule) sich über den Bereich mehrerer Schulverbände erstreckt, 
so treten die mehreren Verbände als Rechtsnachfolger ein. Ueber die Auseinander- 
setzung zwischen den beteiligten Schulverbänden beschließt die Schulaufsichts- 
behörde. Die Vorschriften des $ 4 finden Anwendung. 

§ 25. Ueber das auf den Schulverband übergegangene Vermögen ist ein 
genaues Verzeichnis (Matrikel) aufzustellen. Das Vermögen bleibt den allgemeinen 
oder stiftungsmäßig besonderen Zwecken derjenigen öffentlichen Volksschule er- 
halten, für welche es bestimmt war. 

Folgen Bestimmungen, betreffend Verfügungen über dieses Vermögen. 

$ 28. Die selbständigen Schulstiftungen mit Einschluß der unter die Ver- 
waltung Dritter, insbesondere kirchlicher Organe gestellten Stiftungen bleiben als 
solche stehen: ihr Vermögen und die sonstigen zu Schulzwecken bestimmten 
Vermögensstücke, welche im Eigentume von Dritten, insbesondere kirchlichen Be- 
teiligten stehen, bleiben ihren Zwecken erhalten. 

$ 29. Unberührt bleiben die Rechte Dritter, insbesondere der Kirchenge- 
meinden und sonstigen kirchlichen Beteiligten avn den den Schulzwecken gewidmeten 
oder gleichzeitig Schul- und kirchlichen Zwecken dienenden Vermögensstücken. 
Abs. 5 Das gemeinschaftlich zu Schul- und anderen Zwecken dauernd gewidmete, 
den bisher Unterhaltungspflichtigen oder der Schule selbst mitgehörige Vermögen 
bleibt nach Maßgabe des bisherigen Verhältnisses ein gemeinschattliches Vermögen. 
Als Teilnehmer Sarai treten an Stelle der bisher Unterhaltungspflichtigen oder der 
Schule selbst die Schulverbände. Abs. 3. 

§ 30. Wo mit dem Volksschulamt ein kirchliches Amt dauernd vereinigt 
ist, tritt der Schulverband kraft des Gesetzes an die Stelle des bisherigen Trägers 
der Schullast; die Vorschriften des $ 26 finden sinngemäß Anwendung. Abs. 2. 
Die Vermögensstücke, welche schon seither zugleich für Schul- und für kirchliche 
Zwecke bestimmt gewesen sind, bleiben diesen Zwecken erhalten. Abs. 3. Hin- 
sichtlich der Leistungen der kirchlichen Beteiligten behält es bei den bestehenden 
Vorschriften über den Bau und die Unterhaltung der Gebäude und Nebenanlagen 
sein Bewenden. Abs. 4. Die von den Kirchengemeinden und sonstigen kirchlichen 
Beteiligten für das vereinigte Amt nach Gesetz, Provinzial-, Bezirksrecht, Her- 


800 Nationalökonomische Gesetzgebung. 


kommen oder Ortsverfassung zu erfüllenden Verpflichtungen werden durch dieses 
Gesetz nicht berührt. Abs. 5 bis ?. 

$ 31. Soweit eine anderweite Ordnung der Verhältnisse der ganz oder teil- 
weise Schulunterhaltungszwecken gewidmeten nichtstaatlichen Fonds, welche nicht 
unter $ 28 fallen und nicht für eine besondere Schule bestimmt sind, durch dieses 
Gesetz erforderlich wird, erfolgt sie mit Rücksicht auf die bisherige Zweckbestim- 
mung mit Königlicher Genehmigung durch den Unterrichtsminister und den Finanz- 
minister. Soweit an diesen Fonds kirchliche Rechte bestehen, ist vor Erwirkung 
der Königlichen Genehmigung die kirchliche Oberbehörde zu hören. Abs. 2. 

N 32. Die bisher auf allgemeiner Rechtsnorm (Gesetz, Provinzialrecht, Orts- 
oder Schulverfassung, Gewohnheitsrecht oder Herkommen) beruhenden Verptlich- 
tungen für die Zwecke der Volksschule kommen, soweit sie nicht durch dieses 
Gesetz aufrecht erhalten werden, in Fortfall. Dies gilt auch von den laufenden 
Verpflichtungen, welche die nach allgemeiner Rechtsnorm für Schulzwecke Ver- 
pflichteten mit Rücksicht auf diese Verpflichtung über das durch die Norm ge- 
gebene Maß hinaus freiwillig übernommen haben. Abs. 2. Dagegen bleiben die 
auf besonderen Rechtstiteln beruhenden Verpflichtungen Dritter fur die Zwecke 
der Volksschule bestehen. Abs. 3. Soweit die Verpflichtungen des Fiskus nicht 
auf einem guts- oder grundherrlichen oder Domanialverhältnisse beruhen, gilt die 
Vermutung, daß sie auf besonderen Titeln (Abs. 2) beruhen. Abs. 4 und 5. 

Vierter Abschnitt. Konfessionelle Verhältnisse. 

Fünfter Abschnitt. Verwaltung der Volksschulangelegen- 
heiten und Lehreranstellung. 

1. Stadtgemeinden. 

$ 43. Den Gemeindeorganen bleibt nach den Bestimmungen der Gemeinde- 
verfassungsgesetze und dieses Gesetzes die Feststellung des Schulhaushalts, die Be- 
willigung der für die Schule erforderlichen Mittel, die Verwaltung des Schulver- 
mögens, die vermögensrechtliche Vertretung nach außen und die Anstellung der 
Beamten vorbehalten. Abs. 2. Im übrigen wird für die Verwaltung der der Ge- 
meinde zustehenden Angelegenheiten der Volksschule eine Stadtschuldeputation ge- 
bildet, welche Organ des Gemeindevorstandes und als solches verpflichtet ist, seinen 
Anordnungen Folge zu leisten. Abs. 3. Die Schuldeputation übt zugleich die nach 
dem Gesetze vom 11. März 1872 den Gemeinden und deren Organen vorbehaltene 
Teilnahme an der Schulaufsicht aus. Sie handelt dabei als Organ der Schulauf- 
sichtsbehörde und ist verpflichtet, insoweit ihren Anordnungen Folge zu leisten. 

$ 45. Durch einen Gemeindebeschluß, welcher der Genehmigung der Schul- 
aufsichtsbehörde bedarf, können als Organe der Schuldeputation für eine oder 
mehrere Volksschulen Schulkommissionen eingesetzt werden, welche die besonderen 
Interessen dieser Schulen wahrzunehmen, in Ausübung der Schulpflege die Ver- 
bindung zwischen Schule und Eltern zu fördern haben und berechtigt sind, An- 
träge an die Schuldeputation zu stellen, auch verpflichtet sind, deren Aufträge 
auszuführen. Abs. 2 bis 5. 

2. Landgemeinden und Gutsbezirke. 

$ 46. Die Feststellung des Schulhaushalts, die Bewilligung der für die Schule 
erforderlichen Mittel, die Rechnungsentlastung und die vermögensrechtliche Ver- 
tretung nach außen erfolgt in Landgemeinden, welche einen eigenen Schulverband 
bilden, durch deren veriassungsmäßige Organe nach Maßgabe der Landgemeinde- 
ordnungen, in Gutsbezirken, die einen eigenen Schulverband bilden, durch den 
Gutsvorsteher, im Falle des $ 8 Abs. 2 durch eine zu diesem Zwecke zu bildende 
Gutsvertretung. Abs. 2 und 8. 

$ 47. In Landgemeinden, welche einen eigenen Schulverband bilden, ist für 
die Verwaltung der der Gemeinde zustehenden Angelegenheiten der Volksschulen aus- 
schließlich der im $ 46 Abs. 1 bezeichneten ein Schulvorstand einzusetzen. Abs. 2 f. 

3. Gesamtschulverbände. 

$ 19. Die Verwaltung der im § 43 Abs. 1 und 2 und $ 47 Abs. 2 bezeich- 
neten Angelegenheiten erfolgt in Gesamtschulverbänden durch den Schulvorstand 
und den Verbandsvorsteher. Letzterer ist die ausführende Behörde. 

` 850. Der Schulvorstand besteht aus Vertretern der zum Schulverbande ge- 
hörigen Gemeinden und Gutsbezirke. Jede Gemeinde und jeder Gutsbezirk sind 
wenigstens durch einen Abgeordneten zu vertreten. Die Gesamtzahl der Vertreter 
muß mindestens 3 betragen. Abs. 2 Satz 1. Das Verhältnis, in welchem die zum 


Nationalökonomische Gesetzgebung. 801 


Schulverbande gehörigen Gemeinden und Gutsbezirke im Schulvorstande zu ver- 
treten sind, and das den Vertretern beizulegende Stimmrecht bemißt sich nach 
dem Gesamtbetrage der von den Gemeinden und Gutsbezirken für die Verbindlich- 
keiten des Schulverbandes zu entrichtenden Abgaben. 

§ 51 Abs. 1 Satz 1. Der Verbandsvorsteher sowie ein Stellvertreter für ihn 
werden von der Schulaufsichtsbehörde aus der Zahl der Mitglieder des Schulvor- 
standes ernannt. 

4. Gemeinsame Bestimmungen (Lehrerberufung). 

$ 58. Bis zum Erlaß eines allgemeinen Gesetzes über die Lehreranstellung 
finden die folgenden Vorschriften (§§ 58 bis 62) Anwendung: Abs. 2. Die Rek- 
toren, Hauptlehrer, Lehrer und Lehrerinnen an den öffentlichen Volksschulen 
werden von der Schulaufsichtsbehörde unter der durch dieses Gesetz geordneten 
Beteiligung der Schulverbände aus der Zahl der Befähigten angestellt. 

F 59. Die Lehrer und Lehrerinnen an den öffentlichen Volksschulen werden 
von der Gemeindebehörde aus der Zahl der Befähigten innerhalb einer von der 
Schulaufsichtsbehörde zu bestimmenden Frist gewählt; jedoch erfolgt in Schulver- 
bänden mit 25 oder weniger Schulstellen die Wahl aus 3 von der Schulaufsichts- 
behörde als befähigt Bezeichneten. Abs. 2. Abs. 3. Die Gewählten bedürfen der 
Bestätigung der Schulaufsichtsbehörde und werden von ihr unter Ausfertigung der 
Ernennungsurkunde für den Schulverband angestellt. Die Bestätigung darf nur 
aus erheblichen Gründen versagt werden. Abs. 4. Versagt die Schulaufsichts- 
behörde die Bestätigung, so fordert sie unter Mitteilung hiervon zu einer ander- 
weitigen Wahl binnen einer von ihr zu bestimmenden Frist auf. Abs. 5. Das 
Wahlrecht erlischt für den betreffenden Fall, wenn die Fristen nicht innegehalten 
werden, oder wenn die Schulaufsichtsbehörde zum zweiten Male die Bestätigun 
des Gewählten versagt. Die Anstellung erfolgt in diesem Falle unmittelbar durc 
die Schulaufsichtsbehörde für den Schulverband. 

60. In Stellen, deren Inhabern Leitungsbefugnisse zustehen (Rektoren, 
Hauptlehrern u. s. w.), sind solche Lehrer zu berufen, welche den besonderen, auf 
Gesetz oder rechtsgültigen Verwaltungsanordnungen beruhenden Voraussetzungen 
entsprechen. Hierbei hat eine angemessene Berücksichtigung auch der im Schul- 
dienst außerhalb des Schulverbandes angestellten und bewährten Lehrpersonen, 
insbesondere von Hauptlehrern und Präparandenlehrern zu erfolgen. 

Die Besetzung dieser Stellen erfolgt durch die Schulaufsichtsbehörde nach An- 
hörung der das Wahlrecht ausübenden Organe. 

§ 61. In den einen eigenen Schulverband bildenden Gemeinden, in welchen 
bisher die bürgerliche Gemeinde Trägerin der Schullast gewesen ist, und die Ge- 
meindeorgane ein Recht auf weitergehende Mitwirkung bei der Berufung der Lehr- 
kräfte besessen oder eine solche weitergehende Mitwirkung bei der Berufung aus- 
geübt haben, bewendet es hierbei. 

Folgen entsprechende Bestimmungen für die Gutsbezirke. 

Sechster Abschnitt. Schluß- und Uebergangsvorschriften. 

$ 63. Alle diesem Gesetze entgegenstehenden Bestimmungen treten außer 
Kraft, mögen sie in allgemeinen Gesetzen, in Provinzialrechten, Bezirks-, Orts- 
oder Schulverfassung, Herkommen, Gewohnheitsrecht oder in allgemeinen auf Grund 
der Gesetze getroffenen Anordnungen beruhen. Auch werden alle bisherigen Rechte 
zur Ernennung, Anstellung, Berufung, Wahl oder Präsentation von Lehrern und 
Lehrerinnen an öffentlichen Volksschulen, soweit sie mit diesem Gesetz in Wider- 
spruch stehen, aufgehoben, ohne Unterschied, ob sie auf Gesetz, Gewohnheitsrecht, 

erkommen oder auf besonderen Rechtstiteln beruhen. 

865 Abs. 1. Soweit in diesem Gesetz nichts anderes bestimmt ist, bleiben 
die der Schulaufsichtsbehörde und den Schulverbänden nach dem bisherigen Rechte 
zustehenden Befugnisse unberührt. Abs. 2. 


Gesetz über die Befähigung zum höheren Verwaltungsdienst. Vom 
10. August 1906. S. 378. 
(Fortsetzung folgt). 


Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII). 51 


802 Miszellen. 


Miszellen. 


XVI. 


Zur Versicherung der Privatbeamten. 
Von Dr. Moritz Wagner, Berlin. 


Von den Ergebnissen der letzten Berufszählungen sowohl in 
Deutschland als auch in den Hauptkulturstaaten ist wohl das wichtigste 
und auffälligste die Bewegung der großen Berufsgruppe der Privat- 
beamten. Hatte sich die Zahl der selbständigen Personen von der Be- 
rufszählung des Jahres 1882 bis zu derjenigen des Jahres 1895 nur 
um 1,3 Proz, und die Zahl der Arbeiter um 62,6 Proz. vermehrt, so 
stieg die Zahl der Privatbeamten in dem gleichen Zeitraum um rund 
119 Proz. Man geht nicht fehl, wenn man annimmt, daß die nächste 
Berufszählung zu dem Ergebnis kommen wird, daß die Zahl von einer 
Million, welche die letzte Berufszählung aufwies, weit überschritten, 
wenn nicht gar mehr als verdoppelt sein wird. An und für sich ist 
diese starke Vermehrung vom Standpunkte des Volkswohls aus sehr zu 
begrüßen. Indessen hat sie Begleiterscheinungen gezeitigt, die jedem 
Volkswirt bedenklich erscheinen müssen. War es vor einigen Jahr- 
zehnten einem erheblichen Teil der Privatbeamten noch möglich, nach 
geraumer Zeit in eine selbständige Stellung einzurücken, so hat es die 
wachsende Konzentrationsbewegung auf allen Gebieten der Industrie, 
des Handels und des Verkehrs mit sich gebracht, daß den meisten 
Privatbeamten der Weg in eine selbständige Stellung verschlossen ist. 
Schon von vornherein muß daher die große Masse der Privatbeamten 
damit rechnen, für ihr ganzes Leben in abhängiger unselbständiger 
Stellung zu bleiben. 

Hinzu kommt, daß der Stand der Privatbeamten vielleicht noch 
mehr als der der Arbeiter unter unsicheren Einkommens- und Arbeits- 
verhältnissen leidet. Die Berufszählung vom 14. Juni 1895 und die 
Volkszählung vom 2. Dezember 1895 für Deutschland hat ergeben, daß 
arbeitslose Angestellte vorhanden waren: 

im Juni im Dezember 
überhaupt 16 381 25 237 
davon wegen Krankheit 4 288 6 196 
andere 12 093 19 041 
Man kann es daher begreiflich finden, wenn das Streben der Privat- 
beamten darauf gerichtet ist, eine möglichst sichere Berufsstellung zu 


Miszellen. 803 


erringen. Leider steht diesem Streben eine unsichere und ungleich- 
mäßige Behandlung der Privatbeamten durch das Gesetz im Wege. 
Wiederholt ist daher angeregt worden, die Dienst- und Anstellungsver- 
hältnisse, die Gehaltszahlung in Krankheitsfällen, die Konkurrenzklausel 
sowie die Beschreitung des Rechtsweges möglichst einheitlich für die 
Privatangestellten zu regeln. Zu diesen Forderungen kommt noch die 
außerordentlich wichtige, die Privatbeamten einer staatlichen Versiche- 
rung zu unterstellen, die gerade in den letzten Jahren und gegenwärtig 
von den Organisationen der Privatbeamten eifrig propagiert wird. Es 
soll nicht geleugnet werden, daß große industrielle Unternehmungen, 
Bankinstitute, Genossenschaften etc. in recht ausgiebiger und aner- 
kennenswerter Weise für ihre Privatangestellten und deren Hinter- 
bliebene im Falle der Erwerbsunfähigkeit und des Alters gesorgt haben. 
Die Segnungen der sozialpolitischen Gesetzgebung Deutschlands haben 
auch nach dieser Richtung hin dafür gesorgt, das „soziale Gewissen“ 
der Unternehmer zu schärfen. Indessen ist man sich in den beteiligten 
Kreisen darüber klar, daß, wenn eine derartige Versorgung die volle 
Zufriedenheit der Privatangestellten erlangen soll, diese sich auf keiner- 
lei Abhängigkeitsverhältnissen aufbauen darf. So erheben beispiels- 
weise die Bankbeamten seit Jahren die Forderung nach Schaffung 
einer allgemeinen neutralen Pensionskasse für alle Bankbeamten. Und 
wenn man sich schließlich auch auf den Standpunkt stellt, es sei ganz 
einerlei, ob die Versorgung auf Grund von Abhängigkeitsverhältnissen 
erreicht werde oder nicht, so bleibt doch noch immer der wesentliche 
Mißstand, daß die kleineren Unternehmungen, namentlich die kleineren 
Geschäfte, die nur wenige Privatangestellte beschäftigen, gar nicht gewillt 
und fähig sind, eine ausreichende Versorgung derselben zu schaffen. 

Aus dieser Erkenntnis heraus hat Oesterreich sich zuerst von 
allen Kulturstaaten entschlossen, den Weg einer staatlichen Pensions- 
und Reliktenversorgung zu beschreiten. 

Der österreichische Regierungsentwurf zur Versicherung 
der Privatbeamten hat ein wechselvolles Schicksal durchgemacht. 
Der im Jahre 1901 eingebrachte Entwurf begegnete sowohl auf seiten 
der Arbeitgeber als auf seiten der Privatbeamten den allerschärfsten 
Angriffen. Es setzte auf beiden Seiten eine äußerst rege Agitation ein, 
die sich mit allen Mitteln bemühte, den Entwurf nicht zum Gesetz 
werden zu lassen. Einen Hauptangriffspunkt bildete das Fehlen spe- 
zialisierter Vorschriften über die Gehaltsklassen. Es waren nämlich 
nur 3 Gehaltsklassen vorgesehen, die naturgemäß eine auch nur 3-fache 
Abstufung der Renten mit sich brachten. Außerdem rückte der Ent- 
wurf die Altersrente an die erste Stelle. Die Arbeitgeber machten 
Front gegen das Beitragssystem, das ein kombiniertes Prämien- und 
Umlageverfahren darstellte. Selbst die in dem Entwurf vorgesehene 
Versicherung gegen Stellenlosigkeit fand nicht einmal prinzipiell auf 
seiten der Privatbeamten Anerkennung. Der im sozialpolitischen Ausschuß 
des Parlaments nach den verschiedensten Richtungen hin abgeänderte 
Entwurf fand keine Billigung, weshalb ein zweiter Entwurf ausgearbeitet 
wurde, der nach mancherlei im Herrenhaus angenommenen Abänderungen 


51* 


804 Miszellen. 


schließlich die Billigung des Abgeordnetenhauses bis auf einige un- 
wesentliche Bestimmungen fand. Allein es bedurfte noch einer ziem- 
lich aufregenden 5-jährigen parlamentarischen Tätigkeit, um den ge- 
meinsamen Entwurf der beiden gesetzgebenden Faktoren zum Gesetz 
werden zu lassen. 

Da Oesterreich mit diesem Gesetz in ein ganz neues Stadium der 
sozialpolitischen Gesetzgebung eintritt, indem hier zum erstenmal mit 
dem Prinzip gebrochen wird, daß nur „Arbeiter“ im eigentlichen Sinne 
des Wortes einer öffentlichrechtlichen Versicherung unterstellt werden 
sollen, so dürfte es sich empfehlen, an dieser Stelle die wesentlichsten 
Grundzüge des Gesetzes näher zu erörtern. 

Der Kreis der versicherungspflichtigen Personen er- 
streckt sich auf alle vom vollendeten 18. Lebensjahre in privaten 
Diensten Angestellte, für deren Entlohnung ein Monats- oder Jahres- 
gehalt üblich ist und deren Bezüge (einschließlich der Naturalbezüge 
u. s. w.) bei einem und demselben Dienstgeber mindestens 600 K. jähr- 
lich erreichen, ferner auf solche in öffentlichen Diensten Angestellte, 
sofern sie keine normalmäßigen Ansprüche auf Pensionen für sich und 
ihre Hinterbliebenen besitzen. Als Angestellte gelten alle Bediensteten 
mit Beamtencharakter sowie überhaupt alle jene bediensteten Personen, 
welche ausschließlich oder vorwiegend geistige Dienstleistungen zu ver- 
richten haben. Der Versicherungspflicht unterliegen nicht Personen, 
welche erst nach Vollendung des 55. Lebensjahres eine die Versiche- 
rungspflicht begründende Anstellung erhalten oder beim Inkrafttreten 
des Gesetzes das 55. Lebensjahr überschritten haben oder sich bereits 
im Genusse einer Invaliditäts- und Altersrente (Pension, Provision u.s. w.) 
in der Mindesthöhe der vom Gesetze vorgesehenen niedrigsten Renten- 
leistungen befinden oder dauernd außerhalb Oesterreichs beschäftigt 
oder endlich bei einer öffentlichen Eisenbahn angestellt sind. Als An- 
gestellte gelten nicht jene Bediensteten: a) welche unmittelbar bei der 
Warenerzeugung und sonstigen vorwiegend physischen Arbeitsverrich- 
tungen als gewerbliche (im weiteren Sinne), bergbauliche, land- und 
forstwirschaftliche Arbeiter, bezw. Lehrlinge und Diener verwendet 
werden; b) auf welche die Gesindeordnungen Anwendung finden oder 
welche ausschließlich oder doch vorwiegend Gesindedienste verrichten. 
Weiterhin soll das Gesetz keine Anwendung finden auf Personen der 
vorher näher bezeichneten Art: 1) männlichen bezw. weiblichen Ge- 
schlechts, die bei Inkrafttreten des Gesetzes oder später beim Antritt 
einer die Versicherungspflicht begründenden Anstellung das 50. bezw. 
40. Lebensjahr vollendet haben; 2) solche, die auf Grund einer früheren 
Dienstleistung sich bereits im Genusse einer den Anforderungen des 
Gesetzes entsprechenden Invaliditäts- und Altersrente befinden; 3) die 
dauernd außerhalb des Geltungsgebietes des Gesetzes beschäftigt werden. 

Für die Eisenbahnbediensteten sollen im Verordnungswege 
durch das zuständige Ministerium Vorschriften erlassen werden. Für 
die Angestellten im Bergbau werden mit Rücksicht auf die eigen- 
tümliche Entwickelung des Unterstützungswesens in diesem Berufe be- 
sondere Bestimmungen getroffen. 

Als Ersatzinstitute sollen gelten private Versicherungsinstitute, 


Miszellen. 805 


Pensionsinstitute, Pensions- und Provisionskassen, registrierte Hilfs- 
kassen u. dergl. unter folgenden Voraussetzungen: 1) Die dem Ver- 
sicherten und ihren Hinterbliebenen zugesicherten Ansprüche müssen 
im Durchschnitt den gesetzlichen Mindestleistungen gleichkommen; die 
Beiträge der Versicherten dürfen jene des Dienstgebers und die Lei- 
stungen der Angestellten nur dann und nur in jenem angemessenen Ver- 
hältnis übersteigen, als die Leistungen höher sind als jene des Gesetzes; 
2) für den Fall des Uebertrittes eines versicherungspflichtigen Mitgliedes 
zu der Pensionsanstalt oder einem anderen Ersatzinstitute muß dieser 
ein Betrag überwiesen werden, welcher der Prämienreserve gleich- 
kommt, welche für diese Person im Falle ihrer Versicherung bei der 
Pensionsanstalt anzusammeln gewesen wäre; 3) die Errichtung des In- 
stitutes muß den versicherungstechnischen Grundsätzen entsprechen, 
und es müssen noch weitere Garantien gegeben sein, die in dem Gesetz 
aufgeführt sind. Damit hat das Gesetz der Tatsache Rechnung getragen, 
daß, wie sich aus den statistischen Erhebungen ergab, für einen großen 
Teil der Privatbeamten bereits Pensionskassen etc. bestanden, die deren 
Beifall gefunden hatten und deren Beseitigung von den Privatbeamten 
als ein großer Nachteil emptunden worden wäre. Die deutsche Arbeiter- 
versicherungs - Gesetzgebung schließt eine derartige Versicherung bei 
einem Ersatzinstitute vollständig aus. Indessen wird gerade bei der 
Privatbeamtenversicherung auch der deutsche Gesetzgeber nicht umhin 
können, die weitgehende Fürsorge der deutschen Arbeitgeber für ihre 
Privatbeamten für die Zukunft illusorisch zu machen, worauf ich unten 
noch näher zurückzukommen gedenke. Andererseits wird zu be- 
rücksichtigen sein, was in der österreichischen Erhebung speziell her- 
vorgehoben wird, „daß durch diese Versicherungen in der überwiegen- 
den Mehrzahl der Fälle eine dauernde und ausreichende Versorgung 
der Angestellten und ihrer Angehörigen nicht herbeigeführt wird. Für 
die Witwen- und Waisenversorgung kommt nämlich nur die Kapital- 
versicherung in Betracht, die Höhe des versicherten Kapitals ist aber 
meist so gering, daß dasselbe bei Ermangelung sonstiger Einkünfte in 
wenigen Jahren aufgebraucht wird, und somit höchstens über die mo- 
mentane Notlage nach dem Ableben des Familienvaters bis zu der 
etwaigen Aufschließung neuer Einnahmequellen hinweghilft, nicht aber 
eine dauernde Versorgung sichert; allerdings wird die Aufschließung 
neuer Einnahmequellen (Errichtung eines Geschäfts durch die Witwe, 
Vollendung der Erziehung der Kinder bis zu deren Erwerbsfähigkeit 
und ähnliches) in vielen Fällen erst durch die Auszahlung des ver- 
sicherten Kapitals an die Hinterbliebenen ermöglicht oder zum minde- 
sten sehr erleichtert. Aehnliches gilt von den zu Gunsten der Ange- 
stellten versicherten Kapitalien auf den Erlebensfall 1)“. 

Was die Leistungen angeht, so sieht das Gesetz vor: Invalidi- 
tätsrenten, Altersrenten, Witwen- und Waisenrenten (Erziehungsbei- 
träge). 

Die Erlangung des Anspruchs auf eine Invaliditäts- und Witwen- 


1) Vergl. Erhebungen über die Standesverhältnisse der Privatangestellten. (I. u. 
II. Teil, Wien 1898.) 


806 Miszellen. 


rente oder auf Erziehungsbeiträge ist an die Zurücklegung einer 
Wartezeit von 120 Beitragsmonaten geknüpft. Von dem Ablauf der 
Wartezeit wird nur abgesehen, wenn die Erwerbsunfähigkeit oder Tod 
des Versicherten infolge eines in Ausübung des Dienstes erlittenen, mit 
dem Dienste in Zusammenhang stehenden Unfalles eintritt. 


Das Gesetz sieht 6 Gehaltsklassen vor: 


I. Gehaltsklasse mit Jahresbezügen von 600 bis 900 K 
II. i n j „ mehr als 900 , 1200 „ 
III. ” ”» ” ”» ” n 1200 ” 1800 ” 
IV. n ’ » ” n n 1800 ” 2400 ” 
V. ” » ” n» n » 2400 »” 3000 n” 
VI. n n» n » EAJ »”» 3000 K 


Die Invaliditätsrente setzt sich zusammen aus einem Grund- 
betrage und einem Steigerungsbetrage. Ersterer wird bestimmt von der 
Gehaltsklasse, welcher der Versicherte im Zeitpunkte des Ablaufes der 
Wartezeit bezw. des erlittenen Unfalles angehörte und beträgt je nach 
der Gehaltsklasse 180, 270, 360, 540, 720 und 900 K pro Jahr. Auch 
der Steigerungsbetrag entspricht nach Ablauf der Wartezeit der betref- 
fenden Gehaltsklasse und beträgt 9, 13,50, 18, 27, 36 und 45 K. Da- 
bei wird als erwerbsunfähig derjenige angesehen, der infolge eines 
körperlichen oder geistigen Gebrechens seinen bisherigen Berufs- 
pflichten nicht mehr nachzukommen vermag. 

Bezüglich der Altersrente bestimmt das Gesetz, daß die In- 
validitätsrente nach Ablauf von 480 Beitragsmonaten als Altersrente 
auch ohne Nachweis der eingetretenen Erwerbsunfähigkeit bezogen 
werden kann. Allerdings kann der Versicherte den Bezug der Alters- 
rente nach seinem Belieben aufschieben und erhält einen höheren Be- 
trag, der dem versicherungstechnisch ermittelten Zuwachs der Prämien- 
reserve entspricht. Leuckfeld bemerkt hierzu sehr richtig: „Vor- 
läufig wird zwar, solange der Eintritt in die Versicherung meist erst 
in höheren Altern erfolgt, der Ablauf der 480 Beitragsmonate erst in 
recht hohem Alter erreicht werden, aber es wird doch später, wenn die- 
jenigen in den Genuß von Altersrenten kommen, die jetzt mit 18 Jahren 
in die Versicherung eintreten und infolge der mit dem Gesetz bezweckten 
größeren Stabilität in den privaten Dienstverhältnissen ohne besondere 
Unterbrechungen ihre 40 Dienstjahre zurücklegen, der eigene Fall ein- 
treten, daß die dann 58—60-jährigen Angestellten sich ohne Nachweis 
einer Erwerbsunfähigkeit pensionieren lassen können und gleichzeitig 
eine andere, ihren noch bei weitem nicht verbrauchten Kräften ent- 
sprechende neue Beschäftigung gegen verhältnismäßig geringes Entgelt 
übernehmen können, wodurch sie nicht nur sich selbst in den Bezug 
eines höheren Einkommens, als sie früher hatten, setzen können, sondern 
ganz besonders infolge davon, daß sie die ihnen noch zur Verfügung 
stehende Kraft verhältnismäßig billig anbieten können, dem Nachwuchs 
empfindliche Konkurrenz bereiten werden“ 1). 

Die Witwenrente stellt sich auf die Hälfte der von dem ver- 


1) Vergl. Zeitschr. f. Versicherungswissensch., 1906, Heft 1, S. 41. 


Miszellen. 807 


storbenen Ehegatten bezogenen Rente bezw. der von ihm zur Zeit des 
Ablebens erworbenen Anwartschaft auf eine solche. 

Der Erziehungsbeitrag war in dem Regierungsentwurf auf 
10 Proz. für jedes Kind, für jede Doppelwaise auf 20 Proz. der be- 
zogenen oder zu beanspruchenden Invaliditätsrente festgesetzt. Nunmehr 
beträgt sie 25 Proz. resp. 50 Proz. des nach 120 Beitragsmonaten er- 
worbenen Pensionsanspruches des verstorbenen oder versicherten Eltern- 
teils. Die für den Bezug der Erziehungsbeiträge für mehrere Kinder 
vorgeschlagenen Bestimmungen sind einigen Abänderungen unterworfen 
worden. Kinder, deren versicherte Mutter gestorben ist, erhalten eben- 
falls Erziehungsbeiträge. War in dem Regierungsentwurf das Erlöschen 
des Bezuges des Erziehungsbeitrages auf das 14. Lebensjahr festgesetzt, 
so jetzt auf das 18. oder auf den früher eintretenden Tod des Kindes. 
Bei doppelt verwaisten Kindern, deren beide Elternteile versichert 
waren, werden die Erziehungsbeiträge nur nach jedem Elternteil beur- 
teilt, der die höhere Anwartschaft hat. Unehelichen Kindern einer männ- 
lichen versicherten Person steht ein Anspruch auf Erziehungsbeiträge 
nicht zu. Daneben wird sowohl für die Witwe als auch für die hinter- 
bliebenen Kinder eine einmalige Abfindung vorgesehen. Diese beläuft 
sich natürlich auf den doppelten Betrag des nach 120 Beitragsmonaten 
erworbenen Pensionsanspruches des Verstorbenen. Im Regierungsent- 
wurf waren 50 Proz. der fälligen Invalidenrente vorgesehen. Weiter- 
hin wird auch ein Rückerstattungsanspruch für solche Versicherte ge- 
geben, deren Versicherungspflicht infolge Dienstaustrittes oder infolge 
dauernder Verwendung im Auslande erloschen ist, statuiert. Weiblichen 
Mitgliedern steht ein Anspruch auf die volle Prämienreserve zu, falls 
sie innerhalb 2 Jahren nach Abschluß der Ehe aus der Versicherungs- 
pflicht ausscheiden. 

Eine freiwillige Fortsetzung der Versicherung hatte der 
Regierungsentwurf nicht vorgesehen. Die Motive bemerken hierzu: 
„Von der Zulässigkeit der freiwilligen Fortsetzung der Versicherung 
mußte aus zwei Gründen abgesehen werden. Erstens würde eine Fort- 
setzung der Versicherung eine nicht unwesentliche Komplikation im 
Betriebe zur Folge haben und diese hierdurch verteuern, was unbedingt 
vermieden werden muß. Zweitens aber würden durch die Zulässigkeit 
der freiwilligen Fortsetzung der Versicherung die Dienstgeber zur Ver- 
sorgung von Personen herangezogen werden, die ihre Arbeitskraft viel- 
leicht nur zum geringen Teile in unselbständiger Stellung als Angestellte 
aufgebraucht haben. Eine solche Belastung des Dienstgebers müßte un- 
bedingt hintangehalten werden, soll das Prinzip, das die Belastung 
des Dienstgebers ökonomisch und sozial begründet erscheinen läßt, nicht 
eine Durchbrechung erfahren.“ Da nunmehr die erwähnten Erziehungs- 
beiträge der Dienstgeber fortgefallen sind, greift eine freiwillige Fort- 
setzung der Versicherung Platz, wenn der freiwillig Versicherte die ge- 
samte Prämie zahlt. Ueber das Erlöschen der freiwilligen Versicherung 
sowie über die nach dem Erlöschen bestehen bleibenden Ansprüche sind 
besondere Bestimmungen getroffen. Dem freiwillig Versicherten wird 
auch Gelegenheit gegeben, eine Erhöhung seiner Anwartschaften über 


808 Miszellen. 


das gesetzliche Maß mit oder ohne Anrechnung von Dienstjahren zu 
erwerben, wenn er einen Betrag zahlt, welcher der entfallenden 
Prämienreserve gleichkommt. Allerdings soll eine Anrechnung der 
Dienstjahre nur auf Grund der tatsächlich zurückgelegten Dienstjahre 
und nur innerhalb eines Jahres nach Beginn der Versicherungspflicht 
Platz greifen. 

Für die Sicherstellung der Leistungen wird das Kapital- 
deckungsverfahren in Anwendung gebracht. Für jeden Ver- 
sicherten wird aus festen Prämien eine individuelle Pràmienreserve an- 
gesammelt. Für jeden Gehaltsmonat betragen die festen Prämien: 


in der I. Gehaltsklasse 6 K 


”„ » I. 1 In 
” ”„ II. » 12 „ 
” » IV. ” 18 n 
n ” V. » 24 y 
» n VI. n 30 » 


Hiervon hat in den ersten vier Gehaltskiassen der Dienstgeber ?/,, der 
Versicherte !),, in den höheren Gehaltsklassen beide je die Hälfte zu 
zahlen. Ein eigentlicher Zuschuß seitens des Staates ist nicht vorge- 
sehen. Vielmehr gewährt der Staat lediglich jährlich den Betrag von 
100000 K, der zur Bestreitung der Gehälter der leitenden Beamten 
der Pensionsanstalt und deren Landesstellen verwendet werden soll. 
Daneben ist die Erwerbs- und Rentensteuerfreiheit der Pensionsanstalt 
sowie die Stempelfreiheit für alle Urkunden konzediert. 

Die Durchführung der Versicherung ist der schon währen 
Pensionsanstalt in Wien und deren Landesstellen übertragen, und 
zwar mit der Maßgabe, daß das erste Statut der Pensionsanstalt im 
Verordnungswege erlassen wird und eine Abänderung jedesmal der 
staatlichen Genehmigung bedarf. Als Regel soll gelten, daß in jedem 
Kronland eine Landesstelle errichtet wird. Der Vorstand der Pensions- 
anstalt setzt sich zusammen aus einem von der Regierung ernannten 
Präsidenten und aus 20 Mitgliedern, die je zur Hälfte von Dienstgebern 
und von Versicherten aus ihrer Mitte zu wählen sind, wie überhaupt 
der Gesetzgeber durchweg an der paritätischen Besetzung der Verwal- 
tungsstelle festgehalten hat. Dementsprechend setzt sich auch der Aus- 
schuß der Landesstellen zusammen. Bei jeder Landesstelle wird auch 
ein Schiedsgericht errichtet, daß in allen auf die Versicherung 
bezüglichen strittigen Punkten zu entscheiden hat. 

Der Regierungsentwurf hatte auch eine Versicherung gegen 
Stellenlosigkeit vorgesehen. In den Motiven wird darauf hinge- 
wiesen, eine Fürsorge für die Privatbeamten dürfe sich nicht nur darauf 
beschränken, dieselben gegen die Nachteile der verlorenen oder vermin- 
derten Arbeitsfähigkeit zu schützen, sondern es müsse auch hauptsäch- 
lich dafür gesorgt werden, daß die Privatbeamten in Fällen mangelnder Er- 
werbsunfähigkeit nicht auf eine tiefere Stufe des Berufslebens und damit 
ihrer Lebensführung herabsinken würden. „Nicht ein bloß platonischer 
Wunsch ist es, der zu diesem Gedanken führt, sondern tatsächlich ge- 
radezu ein Bedürfnis. Die starke Verbreitung unverschuldeter Stellen- 


Miszellen. 809 


losigkeit — und nur um diese kann es sich selbstverständlich handeln 
— wurzelt zum großen Teil in der allenthalben zu beobachtenden Un- 
zulänglichkeit der Bestimmungen der Dienstverträge, bezw. dem Fehlen 
einer ausreichenden Dienstespragmatik. Die unwillkürliche Entlassung 
des Angestellten ohne ein Verschulden auf dessen Seite wird auch bei 
sehr eingehend stipulierten Dienstverträgen möglich sein, ohne daß dem 
Angestellten ein rechtlicher Anspruch auf Ersatz des ihm dadurch er- 
wachsenden Schadens zustehen würde Auch die für manche Dienst- 
verhältnisse ex lege geltende sechswöchentliche Kündigungsfrist kann 
selbstverständlich nicht als ein zulänglicher Schutz gegen die bedenk- 
lichste ökonomische Schädigung des Angestellten angesehen werden. 
Insofern der vorliegende Gesetzentwurf nun überhaupt schon die Ten- 
denz verfolgt, im Wege positiver Gesetzesnormen eine gewisse Rechts- 
sicherheit für Verhältnisse zu schaffen, die eigentlich durch den Ab- 
schluß des Dienstvertrages geregelt werden müßten, entspricht es ganz 
dem Geiste desselben, auch diesen Nachteil des Mangels einer Dienstes- 
pragmatik als Korrelat der Existenzsicherung durch die Unterstützung 
im Falle der Stellenlosigkeit nach Möglichkeit zu paralysieren. Für die 
Bestimmung der Höhe der zugesicherten Unterstützung war die Erwä- 
gung entscheidend, daß der Zweck derselben zunächst darin besteht, 
dem Stellenlosen einen solchen Rückhalt zu bieten, welcher ihn instand- 
setzt, Stellungsangebote auszuschlagen, durch welche er auf ein nied- 
rigeres Maß der Lebensführung herabgedrückt würde, die er aber, dem 
Zwange der Not folgend, annehmen müßte, wenn er der vollständigen 
Mittellosigkeit gegenüber stünde“ 1). 

Die Unterstützung im Falle der Stellenlosigkeit sollte für jeden 
Monat der Stellenlosigkeit !/,, der Invaliditätsrente betragen, auf welche 
der Versicherte Anspruch gehabt hätte, wenn er im Zeitpunkte des Be- 
ginnes der Stellenlosigkeit invalide geworden wäre. Der Anspruch 
wurde an folgende Voraussetzungen geknüpft: 1) die letzte Bedienstung 
darf nicht infolge freiwilligen Austrittes aus dem Dienstverhältnisse 
oder infolge einer durch grobe Verletzung wesentlicher Dienstpflichten 
verschuldeten Entlassung verloren gegangen sein; 2) Nachweis der Sub- 
sistenzlosigkeit; 3) seit Auflösung des Dienstverhältnisses müssen 3 Mo- 
nate vergangen sein, in denen der Versicherte ohne sein Verschulden 
keine Anstellung oder Beschäftigung gefunden hat, die ihm mindestens 
einen Abzug in der Höhe der niedrigsten Invaliditätsrente, wenn auch 
nur vorübergehend, bietet. 

Dieser von dem Regierungsentwurf vorgeschlagene Weg begegnete 
sowohl auf seiten der Arbeitgeber als auf seiten der Privatbeamten 
dem heftigsten Widerspruch. Die Arbeitgeber sträubten sich gegen 
jede weitere Belastung, die sie besonders drückend in Zeiten wirtschaft- 
lichen Niedergangs empfinden würden. Die Privatangestellten wollten 
von der Versicherung gegen Stellenlosigkeit nichts wissen, weil die 


1) Leuckfeld, Zum gegenwärtigen Stand der Frage einer Pensions- und Hinter- 
bliebenen-Versicherung der Privatangestellten. Zeitschrift f. d. ges. Versich.-Wissensch., 
1906, 8. 52 ff. 


810 Miszellen. 


Lasten, die ihnen auferlegt würden, in keinem Verhältnis zu den zu 
erwartenden Leistungen stünden, zumal nur selten ein Privatbeamter 
die Stellenlosigkeitsunterstützung zu beziehen in die Lage käme. Der - 
soziale Ausschuß des österreichischen Abgeordnetenhauses hat daher auch 
die Versicherung gegen Stellenlosigkeit beseitigt. 

Oesterreich kann für sich den Ruhm in Anspruch nehmen, auf 
diesem Gebiete der sozialen Versicherung bahnbrechend gewirkt zu 
haben. Welche Wirkung allerdings das Gesetz haben wird, kann man 
noch nicht voraussagen. Jedenfalls werden die in Oesterreich gewon- 
nenen Erfahrungen von der allergrößten Wichtigkeit für das Vorgehen 
Deutschlands in dieser Frage sein. Meines Erachtens haftet dem öster- 
reichischen Gesetz der wesentliche Mangel an, daß sowohl Dienstgeber 
als auch Dienstnehmer durch dasselbe außerordentlich belastet worden 
sind, da die Regierung sich nicht dazu verstanden hat, einen staatlichen 
Zuschuß zu jeder einzelnen Rente zu gewähren. 

Wie schon oben hervorgehoben, hat erfreulicherweise auch in 
Deutschland die ÖOrganisationsbewegung unter den Privatbeamten 
außerordentliche Fortschritte gemacht. Mit dem Erstarken dieser Or- 
ganisationsbewegung setzte auch eine immer kräftigere Agitation ein, 
welche eine öffentlich-rechtliche Versicherung für die Privatbeamten 
forderte. Die Organisationen der einzelnen Berufszweige schlossen sich 
zusammen, um durch gemeinsames Vorgehen auf Parlament und Regie- 
rung einzuwirken. Es kam zur Gründung des „Hauptausschusses für 
die staatliche Pensions- und Hinterbliebenen-Versicherung der Privat- 
angestellten“, der in seiner Sitzung vom 16.—18. Januar 1904 einheit- 
liche Vorschläge für die obligatorische staatliche Invaliden-, Alters- und 
Hinterbliebenen-Versicherung der Privatangestellten formulierte, die sich 
in folgenden Punkten zusammenfassen lassen: 1) Es ist für die obli- 
gatorische Invaliden-, Alters- und Hinterbliebenen -Versicherung der 
Privatangestellten eine besondere Kasseneinrichtung gemäß $ 10 des 
Invalidenversicherungsgesetzes zu schaffen. 2) Gewährung des Reichs- 
zuschusses von 50 M. für jede von der besonderen Kasseneinrichtung 
im Rahmen des Invalidenversicherungsgesetzes zu gewährende Rente. 
3) Die Beiträge werden von den Privatangestellten und den Arbeit- 
gebern je zur Hälfte getragen. 4) Als Privatangestellte im Sinne dieses 
Gesetzes gelten Personen, welche gegen Gehalt im Privatdienste oder 
bei staatlichen, kommunalen oder kirchlichen Behörden in noch nicht 
mit Pensionsberechtigung ausgestatteten Stellen beschäftigt sind, soweit 
sie nicht als gewerbliche Arbeiter (Gesellen, Gehilfen, Lehrlinge, Fabrik- 
arbeiter u. s. w.), als Tagelöhner und Handarbeiter oder als Gesinde 
Dienste verrichten. 5) Der Versicherungspflicht unterstehen alle Privat- 
angestellte ohne Unterschied des Gehaltes. 6) Als Altersgrenze gilt 
nach unten 18 Jahre, nach oben 40 Jahre. 7) Folgende Personen sind 
befugt, freiwillig in die Versicherung einzutreten, solange sie das 
40. Lebensjahr nicht vollendet haben: a) kaufmännische Agenten, Kom- 
missionäre, Bücherrevisoren und nicht fest angestellte Buchhalter; 
b) Lehrer, welche, ohne fest angestellt zu sein, wissenschaftlichen oder 
künstlerischen Unterricht erteilen, Musiklehrer, Sprachlehrer, Repetitoren, 


Miszellen. 811 


Lehrer in gewerblichen und technischen Fertigkeiten und anderen Unter- 
weisungen; c) Privatgelehrte, Schriftsteller, Korrektoren, Personen, welche 
freie Künste ausüben (Schauspieler, Pianisten u. s. w.), ohne sich in fester 
Stelle zu befinden. 8) Weiterversicherung auch der Stellenlosen wie im 
Invalidenversicherungsgesetz. 9) Die Versicherungspflichtigen werden in 
mindestens fünf Klassen eingeteilt. 10) Gegenstand der Versicherung 
ist a) für den Versicherten der Anspruch auf Gewährung einer Invaliden- 
bezw. Altersrente; b) für die hinterlassene Witwe und die Waisen eine 
Witwenrente bezw. ein Erziehungsbeitrag für die Waisen. Invaliden- 
rente erhält der Versicherte nach Maßgabe des Invalidenversicherungs- 
gesetzes. Altersrente erhält, ohne daß es des Nachweises der Erwerbs- 
unfähigkeit bedürfte, derjenige Versicherte, welcher das 60. Lebensjahr 
vollendet hat. Der Anspruch auf Witwenrente erlischt im Falle der 
Wiederverheiratung. Die Erziehungsbeiträge werden bis zum 16. Lebens- 
jahr der Waisen gezahlt. 11) Der Ausschuß wünscht, daß die Leistungen 
der Versicherung annähernd die Höhe der Pensions- und Hinterbliebenen- 
bezüge der Staatsbeamten der entsprechenden Gehaltsklassen erreichen. 
12) Behandlung der Kranken sowie Uebernahme des Heilverfahrens wie 
im Invalidenversicherungsgesetz. 13) Angestellte, die bei einer vom 
Reichsaufsichtsamte für die privaten Versicherungen zugelassenen Klasse 
versichert sind, sind von der Zugehörigkeit zur staatlichen Pensions- 
anstalt für Privatangestellte befreit, sofern jene Kasse die Mindest- 
leistungen der staatlichen Anstalt erfüllt. 

Die Agitation der Privatbeamten in dieser Frage bewirkte, daß 
auch die Regierung und die größeren Parteien des Reichstages sich für 
die außerordentlich wichtige Angelegenheit interessierten. Letztere 
haben sogar die Frage der Versicherung der Privatbeamten zu einem 
festen Punkt ihres Parteiprogramms gemacht. Um nun die erforder- 
lichen statistischen Unterlagen zu erhalten, haben die Organisationen 
der Privatbeamten auf Veranlassung und unter Beratung der Reichs- 
behörde im Oktober 1903 eine allgemeine Umfrage erlassen, deren Er- 
gebnisse in Form einer dem Reichstag vorzulegenden Denkschrift be- 
arbeitet wurden. Auf diese Denkschrift werde ich unten noch näher 
zurückkommen. In der Folgezeit verfehlten die Parteien des Reichs- 
tages, namentlich die nationalliberale, die konservative und die Zentrums- 
partei nicht, die ganze Bewegung durch immer wieder gestellte Anträge 
weiter in Fluß zu bringen und möglichst positiven Maßnahmen entgegen- 
zuführen. Die Regierung verhielt sich vorläufig noch abwartend, wie 
die Aeußerungen des Staatssekretärs des Innern am 10. Mai 1904 im 
Reichstage erkennen ließ. „Welche gesetzlichen Folgerungen daraus 
gezogen werden könnten oder gezogen werden müßten, darauf kann ich 
mich heute in keiner Richtung festlegen; das müßte Gegenstand sehr 
eingehender künftiger Beratung sein.“ 

Einen kräftigen Stoß erhielt die Bewegung durch die Interpellation 
des Abgeordneten Freiherrn Heyl zu Hernsheim im Reichstage 
am 14. März ds. Js.!). Die großen Parteien des Reichstages benutzten 


1) Vergl. Stenographische Berichte des deutschen Reichstages, S. 466 ff. 


812 Miszellen. 


wiederum diese Gelegenheit, um ihrer Sympathie für die Versicherung 
der Privatbeamten Ausdruck zu verleihen. Es sei hier daran erinnert, 
daß bei dieser Gelegenheit sich ein ergötzlicher Streit unter den Par- 
teien entspann, welche Partei denn eigentlich als Vater des Gedankens 
der Versicherung der Privatbeamten gelten könne. Hoffentlich sind die 
Privatbeamten hierbei der tertius gaudens. Auch die Regierung ließ 
erklären, daß es ihr mit der Versicherung der Privatbeamten durchaus 
ernst sei!). 

Einige Tage nach dieser Interpellation erschien auch endlich die 
längst erwartete Denkschrift über die Lage des Privatbe- 
amtenstandes. Die Grundlagen dieser Denkschrift entstammen be- 
kanntlich einer privaten Erhebung, die von den Organisationen der 
Privatbeamten in die Wege geleitet wurde. Unter Mitwirkung der zu- 
ständigen Stellen des Reichsamts des Innern wurde nämlich im Herbste 
1903 von diesen Organisationen 200000 Fragebogen versandt, von 
denen 157390 ausgefüllt zurückgesandt wurden. Eine Reihe von 
Fragebogen mußte wegen Unvollständigkeit oder Unrichtigkeit der ge- 
machten Angaben aus der Bearbeitung ausscheiden, so daß schließlich 
154 843 als für die Bearbeitung geeignet übrig blieben. Demjenigen, 
der mit den Ergebnissen der Berufszählung von 1895 vertraut ist, 
dürften beim Lesen dieser Zahlen sofort erhebliche Bedenken aufstoßen. 
Denn die 154 843 bearbeiteten Fragebogen stellen etwa den 5. Teil 
aller Privatangestellten dar, die von der Berufszählung von 1895 er- 
faßt wurden (621 825). Diesen Bedenken verschließt sich naturgemäß 
auch der Verfasser der Denkschrift nicht. Indessen kann man dem- 
selben zustimmen, wenn er behauptet, daß die Denkschrift geeignet sei, 
einen Einblick in die Lage der Privatbeamten zu tun, der die Frage 
nach der Notwendigkeit einer staatlichen Versicherung der Privatbeamten 
berechtigt erscheinen lasse. 

Daß seit der Berufszählung von 1895 ganz erhebliche Verschie- 
bungen stattgefunden haben, zeigt sich in den Ergebnissen der Denk- 
schrift, welche sich mit der Verteilung der befragten Personen auf die 
einzelnen Berufsgruppen beschäftigen. Die Uebersicht läßt erkennen, 
daß die große Masse der an der Ausfüllung der Fragebogen beteiligten 
männlichen Privatangestellten der Berufsgruppe Bergbau, Hütten- 
wesen, Industrie angehört. - Auf diese kommen 62 Proz.; dann folgt die 
Berufsgruppe Handelsgewerbe mit 22 Proz., während die nächsthöhere 
Gruppe Freie Berufsarten nur mit rund 4 Proz. an den Erhebungen be- 


1) Graf von Posadowsky: „Die verbündeten Regierungen werden es sich angelegen 
sein lassen, auf Grund der Denkschrift diese schwierigen Fragen eingehend zu prüfen, 
und ich werde sehr bald die Gelegenheit ergreifen, die Auffassungen der verbündeten 
Regierungen einzuholen, ob sie bereit sind, in den von den Privatangestellten ge- 
wünschten Richtungen den Weg der Gesetzgebung zu beschreiten, auf welchen Grund- 
lagen diese Gesetzgebung aufgebaut werden soll. Ich glaube, ehe man endgültig Be- 
schlüsse in dieser Frage faßt, wird es auch für die Mitglieder des hohen Hauses und 
für die Privatangestellten selbst nützlich sein, sich in die verwickelten Einzelheiten der 
Denkschrift zu vertiefen und sich hierbei auch klar zu werden, inwieweit sie im stande 
sein werden, den finanziellen Anforderungen einer solchen Zwangsversicherung zu ge- 
nügen.“ 


Miszellen. 813 


teiligt ist. Beim weiblichen Geschlecht hat die Gruppe Handels- 
gewerbe mit 54 Proz. den größten Anteil an den Erhebungen. Ihr folgt 
die Gruppe Bergbau, Hüttenwesen, Industrie mit 23 Proz.; hier herrscht 
also fast das umgekehrte Verhältnis wie beim männlichen Geschlecht. 
Die zum Ausdruck gekommenen Gesamtergebnisse nähern sich daher für 
das männliche Geschlecht mehr der durchschnittlichen Lage der im 
Bergbau, Hüttenwesen und in der Industrie, und für das weibliche 
Geschlecht mehr der durchschnittlichen Lage der im Handelsgewerbe 
tätigen Privatangestellten. 

Faßt man die Privatangestellten, welche sich an der Erhebung 
beteiligt haben, nach der Stellung in den einzelnen Berufsarten zu- 
sammen, so ergibt sich, daß beim männlichen Geschlecht etwa 50 Proz. 
als kaufmännisches und 37 Proz. als technisches Personal — darunter 
24,5 Proz. als Werkmeister — beschäftigt sind; beim weiblichen Ge- 
schlecht gehört die überwiegende Mehrheit der Beteiligten, nämlich 
72 Proz., dem kaufmännischen Berufe an. 

Die Altersgliederung der an den Erhebungen beteiligten 
männlichen Privatangestellten schließt sich im allgemeinen an die Alters- 
gliederung der Berufsstatistik an. 

Ein nicht zu unterschätzender Umstand, der nicht von äußerlichen 
Momenten betrachtet werden darf, ist der, daß beim männlichen Geschlecht 
die verheirateten Personen in erheblich höherem Maße sich bei der Aus- 
füllung der Fragebogen beteiligt haben, als ihrem Verhältnis zur Gesamt- 
zahl nach den berufsstatistischen Erhebungen entspricht. Wie die Denk- 
schrift richtig hervorhebt, kann dieses Ergebnis nicht überraschen. 
„Denn da die Erhebungen in erster Linie darauf abzielten, eine Grund- 
lage für eine bessere Fürsorge für die Privatangestellten abzugeben, 
mußte von vornherein damit gerechnet werden, daß die verheirateten 
Personen wegen ihres unmittelbaren Interesses an der Hinterbliebenen- 
versorgung viel mehr geneigt sein würden, die Fragebogen auszufüllen, 
als solche, bei denen die Familienfürsorgepflicht erst später in Frage 
kommt. Beim weiblichen Geschlecht trifft dieses weniger zu; die Zahlen 
zeigen wohl hauptsächlich aus diesem Grunde das umgekehrte Verhält- 
nis.“ Hieraus erklärt sich auch, daß die auf Grund der Zahl über den 
Familienstand bewirkte Belastungsberechnung der gewünschten Fürsorge 
etwas zu hoch ausfällt und in Wirklichkeit sich niedriger stellen wird. 
Allein, wie die Denkschrift bemerkt, dürfte dies unter Berücksichtigung 
der übrigen für die Berechnung in Betracht kommenden Faktoren 
(Sterbe- und Invaliditätstafeln) kein Fehler sein. Weiterhin führt die 
erwähnte Tatsache zu der Folgeerscheinung, daß sich das Bild über 
den Umfang der bereits bestehenden Fürsorge, worauf ich unten noch 
näher zurückkomme, verhältnismäßig günstiger stellt. 

Ueberraschende Ergebnisse liefert die Denkschrift über die bisher 
noch unbekannten Verhältnisse betreffend Zahl und Alter der 
Kinder der Privatangestellten auf den einzelnen Altersstufen. Von 
den 150056 männlichen Privatangestellten waren rund die Hälfte, nämlich 
72030 verheiratet, die insgesamt 186 686 Kinder unter 18 Jahren hatten. 
Auf einen Vater entfielen demnach durchschnittlich 2,59 Kinder unter 


814 Miszellen. 


18 Jahren. Dies ist ein ganz bedenkliches Ergebnis, das, vom Stand- 
punkte des Volkswohls aus betrachtet, recht bedauerlich erscheint. 
Noch ungünstiger stellt sich das Ergebnis, wenn man die Aufnahme 
über die Zahl der Väter unter den Beamten bei der Bergisch-märkischen 
Eisenbahn heranzieht, die in der Denkschrift erwähnt wird. Es muß 
allerdings dabei berücksichtigt werden, daß durch diese Aufnahme nur 
die Kinder bis zum 15. Lebensjahr betroffen sind. Immerhin fällt der 
Vergleich recht zu Ungunsten der Privatangestellten aus. Es entfielen 
nämlich auf 100 Privatbeamte 35,6 Väter, dagegen auf 100 Bahnbeamte 
75,4 Väter. „Man kann diese Feststellung wohl mit Recht als einen 
Beleg für die außerordentlich mißlichen Existenzverhältnisse unter den 
Privatbeamten, dann auch für die scharfe Inanspruchnahme der Be- 
teiligten durch die Berufsarbeit ansehen. Eine Ermittelung der Zahl 
der Witwen war hier natürlich ausgeschlossen, weil die Fragebogen 
diese ja nicht erreichen konnten. In dieser Beziehung wird der Gesetz- 
geber sich also auf die allgemeinen Ermittelungen darüber stützen 
müssen“ !),. Erwähnt sei auch noch, daß die Zahl der zu versorgenden 
Kinder in der Altersklasse 40—45 Jahre ihren Höhepunkt erreicht, um 
dann allmählich wieder abzunehmen. Ein sehr vorsichtig aufzunehmen- 
des Ergebnis haben die Erhebungen über das Alter der Privatange- 
stellten gezeitigt. Hatte die Berufszählung von 1895 gezeigt, daß 16,9 Proz. 
der Privatbeamten über 50 Jahre alt waren, so gibt die Denkschrift 
diesen Prozentsatz nur mit 12,1 an. 

Wenn Arens in seinem zitierten Aufsatze hieraus schließen will, 
daß bei den älteren Privatbeamten sich immer noch im starken Maße 
das Bestreben geltend mache, eine selbständige Existenz zu erreichen, 
so dürfte das meines Erachtens eine Ansicht sein, die mit der rauhen 
Wirklichkeit nicht in Einklang gebracht werden kann. Es soll nicht 
geleugnet werden, daß es auch im Alter von über 50 Jahren einer ganzen 
Reihe von Privatbeamten gelingt, eine selbständige Existenz noch zu 
erringen. Allein es ist zu berücksichtigen, daß es den älteren Privat- 
beamten in den meisten'Fällen an der erforderlichen Initiative mangelt. 
Vor allem jedoch kommt in Betracht, daß die Konzentrationsbewegung 
wie die Spezialisierung der Berufe im gewerblichen Leben es dem 
Privatbeamten in der Regel unmöglich machen, eine selbständige Existenz 
zu erringen?). Zweifelloes wird die nächste Berufszählung einen noch 
niedrigeren Prozentsatz als der in den Denkschrift mit 12,1 angegebenen 
liefern. 

Recht mangelhafte Ergebnisse hat die Frage nach dem Einkommen 
geliefert. Schon von vornherein rechneten die beteiligten Faktoren damit, 
daß ein großer Teil der Privatangestellten sich weigere, überhaupt An- 
gaben über diese Frage zu machen. Es ist dies ja begreiflich, da bei 
derartigen Gelegenheiten immer der Verdacht besteht, daß die gemachten 
Angaben zu steuerlichen Zwecken verwendet werden könnten. Wenn 


1) Arens, Soziale Praxis, No. 28, Sp. 723. 

2) Vergl. Dilloo, Wilhelm, Pensionseinriehtungen für Privatbeamte. Ein Weg- 
weiser zur Schaffung und Reorganisierung von Beamten - Pensionseinrichtungen bei 
Privatunternehmungen (Schriften der Zentralstelle für Volkswohlfahrt 32), Berlin 1907. 


Miszellen. 815 
auch in den Fragebogen die Garantie gegeben war, daß die gemachten 
Angaben unter keinen Umständen zur Kenntnis der Steuerbehörde ge- 
langen würden, so scheint dies doch eine große Anzahl von Privatan- 
gestellten nicht abgehalten zu haben, die Fragebogen nicht oder unvoll- 
ständig auszufüllen. Weiterhin hat eine ganze Reihe von Privatbeamten 
ihre Nebenbezüge überhaupt nicht oder zu niedrig angegeben, so daß. 
ein objektives Urteil über die Einkommensverhältnisse der Privatbeamten 
durch die Ergebnisse der Denkschrift wenn nicht ganz unmöglich, so 
doch recht zweifelhaft erscheint. Immerhin liefern die Ergebnisse einen 
wertvollen Beitrag zu der längst bekannten Tatsache, daß die Ein- 
kommensverhältnisse der Privatbeamten sowohl in ihrer Höhe als auch 
in ihrer Beständigkeit keine günstigen sind. Nachfolgende Tabelle gibt 
über die Einkommensverhältnisse Aufschluß: 


Anzahl der befragten Privatangestellten in neben- 
bezeichneten Einkommensstufen 


Einkommensstufen überhaupt von 100 der Gesamtzahl 

männlich weiblich männlich weiblich 
ON 1; rr ob 4 5. 

unter 1000 M. 4777 ı 860 3,18 38,86 
1000 bis unter 1250 M. 17 235 1410 11,49 29,45 
1250 „ „1800, 18 568 693 12,37 14,48 
1500 „ ss. 1800: s 23 871 460 15,91 9,61 
1800 „ » 2100 „ 24 410 202 16,27 4,22 
2100 „ ay AOD a 17 155 6r 11,43 1,27 
2400 „ m 2700 „ 15 254 47 10,17 0,98 
2700 „ w 13000 ú 6 239 I 4,16 0,02 
3000 „ a 3600 4, 10016 16 6,67 0,83 
3600 und darüber 11544 5 7,69 0,10 
Ohne Angabe 987 32 0,66 0,68 
Zusammen | 150 056 | 4787 7 100,00 5, | 100,00 


Bei den männlichen Personen ist also die Einkommenstufe von 
1800—2100 M. mit 16,27 Proz. am stärksten besetzt; ihr folgt die 
Stufe von 1500—1800 M. mit 15,91 Proz., dann 1250—1500 M. mit 
12,87 Proz., während 11,49 Proz. der Stufe von 1000—1250 M. und 
fast ebenso viel (11,43 Proz.) der Stufe 2100—2400 M. angehören. 
7,69 Proz. haben ein Einkommen von über 3600 M. Bei den weib- 
lichen Personen gehört die höchste Zahl der ersten Stufe unter 1000 M. 
mit 38,86 Proz. an. Dann folgt die Stufe 1000—1250 M. mit 29,45 
Proz., dann die Stufe 1250—1500 M. mit 14,48 Proz., während 17,21 
Proz. ein Einkommen von über 1500 M. beziehen. Bringt man als 
Durchschnitt der einzelnen Stufen für die männlichen Personen in der 
ersten Stufe 764 M., in der höchsten Stufe 3800 M. und im übrigen 
das Mittel in Ansatz, und entsprechend für die weiblichen Personen 
710 M. in der untersten Stufe, 3700 M. in der höchsten Stufe und im 
übrigen gleichfalls das Mittel und läßt man die ohne Angabe der Ein- 
kommensstufen nachgewiesenen Personen aus der Berechnung heraus, 


816 Miszellen, 


so ergibt sich als Einkommensdurchschnitt für die männlichen Personen 
2064,51 M., für die weiblichen Personen 1135,58 M. In der Alters- 
gruppe von 30—35 Jahren wird dieses Durchschnittsgehalt erreicht. 
In der Altersgruppe von 40—45 Jahren ist dagegen ein Sinken des 
durchschnittlichen Gehaltes wahrnehmbar. Recht beachtenswert ist hier- 
bei, daß das Durchschnittsgehalt der sogenannten „Freien Berufsarten“ 
am niedrigsten ist, nämlich 1790 M. Die Berufsgruppe Bergbau und 
Industrie weist ein Durchschnittsgehalt von 2156 M. auf. Haben die 
Mitglieder der Freien Berufe ihr Höchstgehalt in der Altersklasse 35 
bis 40 Jahre erreicht, so ist dies für die Landwirtschaft erst in der 
Altersgruppe 45—50 Jahren der Fall. Sehr beachtenswert ist auch, 
daß mit dem Alter von 70 Jahren und darüber das Durchschnittsgehalt 
sehr sinkt, nämlich auf 1879. 

Wenn von den Organisationen der Privatangestellten die Forde- 
rung einer staatlichen Versicherung erhoben wird, so war es zur Be- 
urteilung der Berechtigung dieser Forderung unumgänglich notwendig, 
festzustellen, in welchem Umfange eine Fürsorge durch Ab- 
schluß von Versicherungen bereits besteht. 

Zunächst war festzustellen, in welchem Umfange die Privatbeamten 
an der Reichsinvalidenversicherung beteiligt sind. Der Kreis 
der invalidenversicherungspflichtigen Personen umfaßt bekanntlich alle 
bis zu 2000 M. entlohnten Angestellten in den meisten Berufsarten. 
Die Erhebung hat ergeben, daß von den durch dieselbe betroffenen 
Personen beim männlichen Geschlecht 58,12 Proz. zwangsweise, 
10,17 Proz. freiwillig, zusammen also 68,29 Proz., beim weiblichen 
Geschlecht 92,44 Proz. zwangsweise, 1,13 Proz. freiwillig, zusammen also 
93,57 Proz. versichert waren. 

Bezüglich der privaten Versicherung sei hervorgehoben, daß 
von der Gesamtzahl der befragten männlichen Privatangestellten 28,2 
Proz. eine Lebensversicherung, 7,9 Proz. eine Pensionsversicherung, 
7,9 Proz. eine Witwenversicherung abgeschlossen haben; 26,1 Proz. sind 
bei einer Berufsgenossenschaft und 15,6 Proz. bei einer privaten Ver- 
sicherungsgesellschaft gegen Unfall versichert. Außerdem sind 9086 
Personen oder 6,1 Proz. an Pensions- und Witwenkassen beteiligt, welche 
von der anstellenden Firma eingerichtet sind. Von diesen zahlen 7796 
selbst Beiträge; soweit darüber Angaben gemacht sind, zahlen hiervon 
7085 Beiträge in einer Gesamthöhe von jährlich 469751 M. —, somit 
kommen im Durchschnitt auf jeden Angestellten 66,30 M. Daneben leisten 
die Firmen noch für 5271 Angestellte Beiträge in Höhe von 439172 M. 
oder im Durchschnitt für jeden jährlich 83,32 M. Endlich sind noch 
2706 — 1,8 Proz. der befragten Angestellten anderweitig durch ihre 
Firma auf Pension versichert; davon leisten 1913 eigene Beiträge in 
Höhe von jährlich 127504 M. oder im Durchschnitt auf den Kopf 
66,65 M., während von den Firmen für 2205 Angestellte Beiträge in 
Höhe von 184495 M. oder im Durchschnitt für jeden 83,67 M. jährlich 
gezahlt werden. 

Die von den Firmen eingerichteten Pensions- und Witwenkassen 
gewähren 5274 = 58,0 Proz. der bei ihnen Versicherten einen Rechts- 


Miszellen. 817 


anspruch auf die Versicherung, während von den von ihren Firmen 
anderweit auf Pension Versicherten 1926 = 72,5 Proz. einen solchen 
Rechtsanspruch haben. Die Gesamthöhe der jührlichen Versicherungs- 
beiträge ist von 34077 Privatangestellten oder 22,71 Proz. aller be- 
fragten angegeben und beträgt zusammen 4641831 M., so daß im Durch- 
schnitt jeder dieser Privatangestellten einen jährlichen Versicherungs- 
beitrag von 136,22 M. zahlt. 

Auffälligerweise rühren die höchsten Aufwendungen für Lebens- 
versicherungszwecke von den landwirtschaftlichen Privatangestellten her, 
die im Durchschnitt pro Jahr 169,50 M. aufwenden. Hieran schließen 
sich die Privatangestellten im Zeitungswesen mit 150 M., diejenigen 
im Bergbau und im Handel mit durchschnittlich 134—137 M. 

Sehr wichtige Ergebnisse haben die Erhebungen über die Stellen- 
losigkeit geliefert. In den 5 Jahren von 1899—1903 waren zu- 
sammen 16229 männliche Personen insgesamt 22121mal stellungslos, 
demnach war jeder Stellungslose im Laute der 5 Jahre durchschnittlich 
1,4mal ohne Stellung. Bei dem weiblichen Geschlecht stellte sich diese 
Zahl auf 990 Personen mit 1523 Fällen, durchschnittlich pro Person 
1,5 Fälle. Was die Dauer der Stellenlosigkeit angeht, so betrug diese 
bei 16229 männlichen Personen 2452978 Tage, d. h. durchschnittlich 
im Jahre pro Person 30,2 Tage, bei 989 weiblichen Personen zusammen 
181815 Tage, d. h. durchschnittlich im Jahre pro Person 36,8 Tage. 
Die Erhebungen bestätigen auch die täglich gemachte Erfahrung, daß 
die Stellungslosigkeit mit dem Alter außerordentlich zunimmt. Die Alters- 
klasse 14 bis unter 20 Jahren weist eine Stellungslosigkeit von 19,8 
Tagen auf, die bis zur Altersklasse bis zu 70 Jahren und darüber auf 
nicht weniger als 105,0 Tage steigt, d. i. eine Vermehrung um fast das 
Fünffache. Recht auffälligerweise ist die Berufsgruppe: Landwirtschaft 
mit der höchsten Prozentziffer, nämlich mit 18,64 Proz. beteiligt, von 
den landwirtschaftlichen Beamten, welche den Fragebogen austüllten, 
ist durchschnittlich jeder pro Jahr 6!, Tage stellungslos, im Zeitungs- 
wesen 4,4, beim Handel 3,7. Der Bergbau und die Industrie weisen 
die günstigste Ziffer, nämlich 2,9 Proz. auf. 

Wenn diese Ergebnisse wesentlich günstiger sind als etwa die Er- 
gebnisse der österreichischen Denkschrift, so kann das nur freudig be- 
grüßt werden. Andererseits kann man sich jedoch nicht der Ansicht 
verschließen, daß die Zitier ein beredtes Zeugnis ablege von der Un- 
sicherheit der Stellung der Privatbeamten. 

Die Berechnung über die Kosten einer Pensions- und Hinter- 
bliebenenversorgung der Privatbeamten geht von der Forderung der 
Privatangestellten aus, daß ihnen und ihren Angehörigen für den Fall 
der Erwerbsunfähigkeit oder des Todes tunlichst die gleiche Fürsorge 
zugesichert werde, welche für die Reichs- und Staatsbeamten besteht. 
Zur Orientierung seien die in Frage kommenden Bestimmungen hier 
angeführt *). 


*) 1) Jeder Beamte, welcher sein Diensteinkommen aus der Reichskasse bezieht, er- 
hält aus der letzteren eine lebenslängliche Pension, wenn er nach einer Dienst- 
Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIIN). 52 


818 Miszellen. 


Da einwandfreie Grundlagen für die Invaliditäts- und Sterblichkeits- 
verhältnisse der Privatbeamten nicht vorliegen, ist in der Denkschrift 
die Invaliditäts- und Sterblichkeitstafel für das Nichtzugpersonal der 
Eisenbahn zu Grunde gelegt worden, wie dies auch in Oesterreich ge- 
schehen ist. Die Ausführung der Berechnung mußte einerseits von einem 
für die ganze Versicherungsdauer gleichbleibenden Gehalt, anderer- 
seits von einem steigenden Gehalt ausgehen. Für diese beiden 
Annahmen sind sodann die Beiträge ermittelt worden, welche bei reiner 
Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung, sowie für den Fall erforder- 
lich sind, daß die Invalidenpension nach Ablauf der 10-jährigen Warte- 
zeit bei Vollendung des 65. bezw. 60. Lebensjahres auch dann gewährt 
wird, wenn von einer Erwerbsunfähigkeit im einzelnen Falle noch nicht 
die Rede ist. Für die erste Berechnung legt die Denkschrift ein durch- 
schnittliches Jahreseinkommen von rund 2100 M. zu Grunde. Die Höhe 
der Invalidenpension, Witwen- und Waisengeldbezüge würden sich dann 
folgendermaßen stellen: 


Nach Ablauf der nebenbezeichneten Versicherungsdauer 
Dauer der berechnet sich der Jahresbetrag des Anspruchs in 
Zugehörigkeit Mark auf 
no yer Waisengeld | Waisengeld 
sicherung in iden- A ek ser 
vollen Jahren ae Witwengeld | ` für für jede 
jede Waise | Doppelwaise 
1 2 3 4 5 
10 525 210 42 70 
15 700 280 56 931%, 
20 875 350 70 116°), 
25 | 1050 420 84 140 
30 1225 490 98 163'/, 
35 1400 560 112 186°), 
40 1575 630 126 210 


zeit von wenigstens 10 Jahren infolge eines körperlichen Gebrechens oder 
wegen Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte zu der Erfüllung 
seiner Amtspflichten dauernd unfähig ist und deshalb in den Ruhestand ver- 
setzt wird. 

2) Bei denjenigen aus dem Dienste scheidenden Beamten, welche das 65. Lebens- 
jahr vollendet haben, ist eingetretene Dienstunfähigkeit nicht Vorbedingung 
des Anspruchs auf Pension. 

3) Die Pension beträgt, wenn die Versetzung in den Ruhestand nach vollendetem 
10., jedoch vor vollendetem 11. Dienstjahr eintritt, '°/,, und steigt von da ab 
mit jedem weiter zurückgelegten Dienstjahr um '/,, des Diensteinkommens, 
Ueber den Betrag von *°/,, des Einkommens findet eine Steigerung nicht statt. 

4) Der Berechnung der Pension wird im allgemeinen das von dem Beamten zu- 
letzt bezogene Diensteinkommen zu Grunde gelegt. 

5) Das Witwengeld besteht in 40 v. H. derjenigen Pension, zu welcher der Ver- 
storbene berechtigt gewesen ist oder berechtigt gewesen sein würde, wenn er am 
Todestage in den Ruhestand versetzt wäre, 

6) Das Waisengeld beträgt: 

a) für Kinder, deren Mutter lebt und zur Zeit des Todes des Beamten zum 
Bezuge von Witwengeld berechtigt war, '/, des Witwengeldes für jedes Kind, 
b) für Kinder, deren Mutter nicht mehr lebt oder zur Zeit des Todes des Be- 


Miszellen. 819 


Nimmt man einen Zuschlag für Verwaltungskosten hinzu, so würden 
hierfür zu zahlen sein bei einem Eintrittsalter von 20 Jahren 11,78 Proz., 
25 Jahren 13,25 Proz., 30 Jahren 14,28 Proz., 35 Jahren 15,30 Proz., 
40 Jahren 16,25 Proz. des Gehaltes. 

Geht man dagegen von einem steigenden Gehalte aus, so ergeben 
sich für einen im Alter von 25 Jahren in die Versicherung eintretenden 
Privatangestellten folgende Gehalts- und Pensionssätze: 


Nach Ablauf der nebenbezeichneten Versicherungsjahre beträgt 
Dauer der der Anspruch in Mark auf 
Zugehörigkeit das Jah 
zur Ver- Se ; Waisengeld 
sicherung in | einkommen Invaliden- 7s Waisengeld für jede 
vollen Jahren gehn Witwengeld für Doppelwaise 
M. jede Waise 
10 | 1 300 325,00 130,00 26,00 43,33 
15 1450 483,33 193,33 38,67 64,45 
20 1 600 666,67 266,67 53,33 88,89 
25 1750 875,00 350,00 70,00 116,67 
30 1 900 I 108,33 443,33 88,67 147,78 
35 2050 1 366,67 546,67 109,33 182,22 
40 2 200 1 650,00 660,00 132,00 220,00 


Entsprechend den obigen Eintrittsaltern sind hiervon zu zahlen 
17,42 Proz., 18,48 Proz., 19,04 Proz, 19,52 Proz, 20,21 Proz. Die 
Denkschrift hält es für fast ausgeschlossen, eine obligatorische Pensions- 
und Hinterbliebenenfürsorge aller Privatangestellten einzuführen, die 
nach dem Alter zur Zeit des Eintritts abgestuft werden, es müßten 
vielmehr zur Vermeidung großer Schwierigkeiten bei der Erhebung der 
Beiträge und der Durchführung der Versicherung Durchschnittsbeiträge 
eingeführt werden, die vom Eintrittsalter unabhängig sind. Unter Be- 
rücksichtigung, daß auch das Heilverfahren der Invalidenversicherung 
Platz greiten soll, kommt die Denkschrift schließlich zu dem Ergebnis, 
daß, wenn nur die Personen bis zum Alter von 40 Jahren in die Ver- 
sicherung aufgenommen werden, 18,88 Proz. des Gehaltes an Prämien, 
daß, wenn man auch die älteren hinzunehmen will, 19,01 Proz. zu 
zahlen sind. 

Wenn man sich auch in den maßgebenden Kreisen der Privatange- 
stellten durchaus nicht der Ansicht verschlossen hat, daß eine staatliche 
Zwangsversicherung nur mit ziemlich erheblichen Opfern erkauft werden 
kann, so dürfte dieses Ergebnis doch etwas allzu pessimistisch sein. 


amten zum Bezuge von Witwengeld nicht berechtigt war, '/, des Witwen- 
geldes für jedes Kind. 
7) Das Recht auf den Bezug des Witwen- und Waisengeldes erlischt: 
a) für jeden Berechtigten mit dem Ablaufe des Monats, in welchem er sich 
verheiratet oder stirbt, 
b) für jede Waise außerdem mit dem Ablaufe des Monats, an welchem sie das 
18. Lebensjahr vollendet. 
8) Die Pension, sowie das Witwen- und Waisengeld wird monatlich im voraus 
gezahlt. 
52* 


820 Miszellen. 


Eine ganze Reihe von namhaften Führern der Privatbeamtenbewegung 
hat von vornherein den Standpunkt vertreten, auf eine selbständige 
Versicherung zu verzichten und den weiteren Ausbau der bestehenden 
Invalidenversicherung zu befürworten. Von den meisten Organisationen 
ist jedoch dieser Weg als nicht gangbar bezeichnet und verworfen 
worden. Ob dies richtig ist, kann hier nicht untersucht werden. Jeden- 
falls steht der Reichstag und die Regierung einer selbständigen Ver- 
sicherung syınpathischer gegenüber. Es ist wohl kaum anzunehmen, 
daß der deutsche Gesetzgeber einen Zuschuß zu den Pensionssätzen ab- 
lehnen wird, wie dies in Oesterreich der Fall ist. Ferner ist auch 
nicht anzunehmen, daß die Arbeitgeber vollständig beitragsfrei bleiben 
werden. Die deutschen Arbeitgeber haben durch ihre zahlreichen Stift- 
ungen und sonstigen Einrichtungen auf dem Gebiete der Fürsorge für 
ihre Privatangestellten bewiesen, daß ihnen das Wohl dieser für das 
Gedeihen der deutschen Volkswirtschaft außerordentlich wichtigen Be- 
völkerungsklasse sehr am Herzen liegt. Andererseits wird der deutsche 
Gesetzgeber nicht unberücksichtigt lassen können, daß diese Institutionen 
den Arbeitgebern lieb geworden sind, und daß ein Verschwinden der- 
selben die Opferwilligkeit herabzumindern geeignet sein kann. Daher 
wird der Gesetzgeber den bestehenden Zustand berücksichtigen und im 
einzelnen Falle tragen müssen, ob den gesetzlichen Vorschriften genügt 
wird. Diejenigen Arbeitgeber, welche einer Beitragsleistung nicht 
sympathisch gegenüberstehen, sollten bedenken, daß die Privatange- 
stellten bei größeren Streiks, von denen nur wenige Betriebe verschont 
bleiben, in der Regel treu zu ihren Arbeitgebern gehalten haben, und 
daß ein schroff ablehnendes Verhalten dazu führen kann, die Organi- 
sationen der Privatbeamten, welche zur freudigen Mitarbeit mit ihren 
Arbeitgebern gewillt sind, in gewerkschaftliche Bahnen mit überwiegen- 
dem Kamptescharakter zu drängen. 


Miszellen. 821 


XVII. 


Das Gemeineigentum in den Pyrenäen und seine Wirkung. 
Von Karl Schneider- München. 


Ueber das in den Pyrenäen, sowohl auf der spanischen wie be- 
sonders auf der französischen Seite noch in großer Ausdehnung vor- 
handene gemeinschaftliche Bodeneigentum der Gemeinden gibt das 
„Bulletin de la Societ& de Géographie Commerciale de Bordeaux“ vom 
4. Juni d. J. einige interessante Angaben. Danach beträgt das Ge- 
meindeeigentum in den Pyrenäen-Departements (Basses-Pyrénées, Hautes- 
Pyrénées, Haute-Garonne, Ariège, Pyr&ne&es-Orientales) fast den fünften 
Teil dieser Departements und umfaßt 44 Proz. der gebirgigen Teile der- 
selben; im Departement Hautes-Pyrénées beträgt es mehr als ein Drittel 
der gesamten Bodenfläche. Die landwirtschaftliche Untersuchung von 
1892 ergab, daß 47 Proz. dieses Gemeindeeigentums unter die nicht 
bebaute Bodenfläche fielen, während die bebaute Fläche 53000 ha 
Wiesen und 215000 ha Wald umfaßte, wovon 50000 ha nicht unter 
der staatlichen Forstordnung standen. Im Laufe der letzten Jahre ist 
indessen ein großer Teil dieser Wiesen und Wälder nach Angabe des 
genannten Blattes so vernachlässigt worden, daß er ebenfalls zur un- 
bebauten Fläche gezählt und dieser fast zwei Drittel des gesamten Ge- 
meineigentums zugerechnet werden müssen. Eine Eigentümlichkeit des 
Gemeineigentums in den Pyrenäen besteht in der Ausdehnung der Mit- 
eigentümer über die üblichen Grenzen; nicht nur zwischen Angehörigen 
einer und derselben Gemeinde, sondern auch zwischen mehreren ver- 
schiedenen Gemeinden, die sogar in manchen Fällen zum Teil auf 
französischem, zum Teil auf spanischem Boden gelegen sind, ist dort 
der Boden in gemeinsamem Eigentum geteilt. Diese Fälle sind durch 
besondere Grenzverträge und weitere Abmachungen zwischen den beiden 
Pyrenäenstaaten geregelt, so durch den Vertrag vom 14. April 1862 
und den Zusatz vom 27. Februar 1863. Die Wirkungen dieses Ge- 
meineigentums bezeichnet die erwähnte Zeitschrift als überwiegend un- 
günstig, sowohl im Hinblick auf die Verwüstung des Landes durch 
Ueberschwemmungen, da keiner der Miteigentümer eine kräftige Reg- 
samkeit zum Schutze des oft von Ueberschwemmungen heimgesuchten 
oder von den Gießbächen mit fortgerissenen Bodens ergreifen wolle, 
wie auch in Bezug auf die übermälige Ausnutzung des Bodens durch 
das Weidevieh, die eine Hauptursache der zunehmenden Wertverminde- 


822 Miszellen. 


rung des dortigen Bodens sei. Gegenwärtig sei durch den übermäßigen 
Zutrieb zu diesen Gemeinweiden und die Vernachlässigung jeder plan- 
mäßigen Fürsorge für die Erhaltung der Humusschicht der Boden be- 
reits in solchen Maße geschädigt, daß ernste Gefahr für die Zukunft 
dieser Gegend bestehe, deren Bevölkerung sich in den letzten 60 Jahren 
um ein volles Viertel vermindert habe. Von dem Eingreifen des Staates 
erwartet der Verfasser des Artikels, ein höherer Beamter, keinen Er- 
folg, da auch die Bestimmungen über die Ausübung der Weide vom 
Jahre 1882 keinen Erfolg gehabt hätten, sondern vielmehr nur von 
der systematischen Belehrung der Bevölkerung, aus privater Initiative, 
wie sie sich vor allem die Association pour l'Aménagement des Mon- 
tagnes in Bordeaux zum Ziel gesetzt habe. Diese Gesellschaft, die die 
Bedeutung einer geregelten Wald- und Forstwirtschaft im Gebirge auch 
für die Bewohner des Flachlandes und besonders für die regelmäßige 
Tätigkeit der Flüsse erkannt hat, beabsichtigt, selbst mit langfristigen 
Pachtverträgen Weideland aus diesem Gemeineigentum in Betrieb zu 
nehmen und durch bessere Bewirtschaftung, Aufforstung u. s. f. der 
Bevölkerung die Schädlichkeit ihrer jetzigen Wirtschaftsweise und den 
Nutzen einer besseren praktisch vor Augen zu führen. 


Miszellen. 823 


XVIII. 


Ueber eine Umkehrung des „von Thünenschen Gesetzes“. 
Von Prof. Adolf Mayer. 


Die Volkswirtschaftslehre verdankt von Thünen bekanntlich die Auf- 
stellung des Gesetzes, welches ausspricht, daß die Preise der landwirt- 
schaftlichen Produkte sich richten nach den Produktionskosten auf dem 
unter den ungünstigsten Verhältnissen produzierenden Ackerland, das noch, 
um die vorhandene Nachfrage zu decken, notwendig bebaut werden muß. 
Auf diese Weise entsteht für das bessersituierte Land die Grundrente, 
welche dort dem produzierenden Unternehmer in den Schoß fällt. — 
Der Nachweis wurde geführt durch die Fiktion des abgeschlossenen 
Landes mit inneren und äußeren Kreisen verschiedener Intensität des 
Betriebes — „der isolierte Staat“ — also durch glückliche Abstraktion. 

Ich weiß nicht, ob auch von der Möglichkeit einer Umkehrung 
dieses Gesetzes in der Wissenschaft der Volkswirtschaftslehre schon 
die Rede war. Die angesammelte Literatur ist ja enorm und für den 
Außenstehenden schwierig zu übersehen. Aber gewiß gibt es Fälle — 
und ich bin mit einem derselben in meiner Tätigkeit als Agrikultur- 
chemiker praktisch in Berührung gekommen — wo nicht die eherne 
Nachfrage, sondern das eherne Angebot die Sache regelt. Fäkalien 
werden durch die großen Städte naturnotwendig erzeugt, und soweit 
nicht Kanalisation ohne Berieselung besteht, was doch noch lange nicht 
allgemein durchgeführt ist und wovon, soweit sie durchgeführt ist, man 
auf die Dauer wohl wieder wird abkommen müssen, entsteht dadurch 
ein Angebot von Düngestoffen, dem eine sehr zögernde Nachfrage nach 
denselben gegenübersteht. Die Analogie wird vollständig gemacht durch 
den Umstand, daß sich diese Nachfrage in Zonen voneinander gliedert, 
ganz ähnlich wie die konzentrischen Kreise des Thünenschen Staates. 
Zunächst um die große Stadt herum finden sich in der Regel gärtnerische 
Betriebe, denen der Gebrauch der städtischen Auswurfstoffe sehr genehm 
ist, da sie beinahne gar keine Transportkosten aufzuwenden haben, um 
dieselben zu gebrauchen. Dann wird aber in den weiteren Entfernungen 
die Sache je länger je schwieriger, da die Transportkosten mehr und 
mehr steigen, bis wir endlich die Zone erreichen, wo der Gebrauch 
überhaupt unmöglich wird, weil die Transportkosten den vollen Betrag 
des Gebrauchswertes der Düngmittel erreicht haben. 


824 Miszellen. 


Da nun die Fäkalien zu jedem Preise von der Hand gesetzt 
werden müssen, so ergibt sich, daß, da auch hier das obige Gesetz mit- 
spricht: auf einem Markt die Preise bestimmt werden 
durch den Gebrauchswertder Fäkalien derjenigenäußer- 
sten Zone, die noch notwendig an dem Ankauf sich be- 
teiligen muß, um alles abzusetzen. — 

Bei Verbesserung der Transportmittel oder der Transportfähigkeit 
der Ware (das letztere z. B. auf dem Wege der Poudrettefabrikation) 
rücken die maßgebenden Zonen nach außen, im umgekehrten Falle, z. B. 
infolge der Verdünnung durch Wasserspülung, nach innen. — Dasselbe 
ist ja variatis variandis auch beı dem von Thünenschen Staate der 
Fall. Das Gesetz bleibt darum doch bestehen. Es müssen nur andere 
Variabeln in die Gleichung eingesetzt werden. In jedem Falle erhellt, 
daß die Gebraucher der inneren Zone infolge der Umstände eine 
Prioritätsrente genießen, die darin besteht, daß sie zu demselben Preise 
mitkaufen können, welche den äußeren Zonen durch die Notwendigkeit 
auferlegt wird. Auch die Grundrente ist ja nur ein besonderer Fall 
für das, was man später unter dem mehr allgemeinen Ausdruck von 
Prioritätsrente zusammengefaßt hat. — Offenbar muß es auch andere Fälle 
geben, in denen dieselbe Gesetzmäligkeit sich geltend macht. Meine 
Absicht war nur, ganz prinzipiell auf diese Umkehrung eines an und 
für sich schon bekannten Prinzipes aufmerksam zu machen. Wer weil, 
wo dasselbe eine nützliche Anwendung findet. 


Literatur. 825 


Literatur. 


IV. 


Literatur über die Produktions- und Absatzverhältnisse 
im Bergbau. 


Von Dr. Hermann Levy. 


1) Bosenick, A., Der Steinkohlenbergbau in Preußen und das 
Gesetz des abnehmenden Ertrages. Tübingen (Laupp) 1906. VI + 
114 SS. 

2) Stillich, O., Steinkohlenindustrie. Leipzig (Jäh und Schunke) 
1906. VI -+ 357 SS. 

3) Thomas, A., The Growth and Direction of our foreign Trade 
in Coal. Journal Royal Statistical Society. 30. September 1903. 

4) Uhde, K., Die Produktionsbedingungen des deutschen und eng- 
lischen Steinkohlenbergbaues. Jena (Gustav Fischer) 1907. XI + 
216 SS. 

5) Stoepel, K. Th., Die deutsche Kaliindustrie und das Kali- 
syndikat. Halle a. S. (Tausch und Grosse) 1904. IV + 329 SS. 

6) Heimann, R., Die neuere Entwickelung des Kalisyndikats. 
Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung etc. 1906. 

Die genannten Abhandlungen ermöglichen insofern eine zusammen- 
fassende Besprechung, als sie insgesamt die Produktions- und Ab- 
satzverhältnisse des Bergbaus, insbesondere des Kohlen- und Kali- 
bergbaus, untersuchen. Wenn wir diesen Stoff als den Kernpunkt 
jener Schriften herausschälen, zeigt es sich vor allem, wie verschieden 
die Methode einer Klarlegung jener Verhältnisse sein kann. 

Dr. Bosenick, der bereits ein bemerkenswertes Buch über die 
Arbeitsteilung im Kohlenbergbau geschrieben hat, versucht die Produk- 
tionsverhältnisse im preußischen Kohlenbergbau nach der theoretischen 
Seite hin zu behandeln. Er stellt sich die Aufgabe, den Einfluß des 
Gesetzes vom abnehmenden Ertrage auf den Kohlenbergbau zu ent- 
wickeln und gewinnt damit einen geeigneten Ausgangspunkt für die 
Beurteilung und Analyse unserer Kartellentwickelung und deren Wir- 
kungen. 

Die Anwendung des Gesetzes vom abnehmenden Ertrage auf den 


826 Literatur. 


Bergbau ist nicht neu. Dagegen ist es lehrreich, an der Hand der 
Ausführungen des Verfassers zu verfolgen, wie sich jenes Gesetz ge- 
rade im preußischen Kohlenbergbau in dessen einzelnen Produktions- 
stadien offenbart. Die für den Nationalökonomen etwas ermüdenden 
detaillistischen Erörterungen über Technik und Oekonomie der Förde- 
rung, über Grubenausbau und Schächte dienen dazu, im einzelnen die 
Wirksamkeit jenes genannten Gesetzes zu erweisen und zugleich dar- 
zulegen, welche Mittel dem Unternehmer zu Gebote stehen, um die ihm 
nachteiligen Wirkungen desselben zu supendieren. Das Hauptmittel 
hierfür ist: eine Steigerung der Kapitalkonzentration. Diese ermöglicht, 
wie Bosenick zeigt, daß die Kosten des maschinellen Transportes, also 
die Kosten der Förderung im Gegensatze zu denen der Gewinnung, dem 
Gesetz des zunehmenden Ertrages unterworfen werden. So ent- 
steht in dem Male, wie sich bei der zunehmenden Tiefe des Bergbaus 
das Gesetz vom abnehmenden Ertrage geltend macht, die Tendenz, durch 
eine beständige Vermehrung und Konzentration des Maschinenkapitals 
der Wirkung jenes Gesetzes auf die Rentabilität des Bergbaus ent- 
gegenzuarbeiten. 

Mit außerordentlichem Fleiß hat der Verfasser einen großen Schatz 
von Material gesammelt, an dessen Hand er die einzelnen Züge jener 
Entwickelungstendenz genau analysiert. Die zunehmende Kapitalkonzen- 
tration geht danach unter einer ausgeprägten Kapitalimmobilisation vor 
sich, d. h. das stehende Betriebskapital wächst im Vergleich, ja zum 
Teil auf Kosten des umlaufenden (in Löhnen und Material verausgabten 
Kapitals. Es ist nun unleugbar, daß diese Tendenz die Möglichkeit und 
Basis einer Kartellorganisation der Produzenten erweitert. Denn der 
steigende Anteil des fixen Kapitals im Produktionsprozeß erschwert 
sicherlich das Aufkommen neuer Konkurrenz, die sich weit eher da 
bildet, wo das Schwergewicht der Produktion noch in der Handarbeit 
beruht. Weiter verstärkt auch die Kapitalimmobilisation das Bedürfnis, 
den Wettbewerb auszuschalten, in dem Maße, wie sie die Schwerüber- 
tragbarkeit des Betriebskapitals erhöhte, und daher den Wunsch der 
Produzenten steigert, den kapitalentwertenden Konkurrenzkampf nicht 
fortzusetzen. Allein, weit über das Ziel hinaus eilt die aus jener Ten- 
denz abstrahierte Folgerung des Verfassers: daß „die große Kapital- 
immobilisation und die damit einhergehende Schwerübertragbarkeit und 
Schwervermehrbarkeit der Kapitalien den letzten Grund für die 
Entstehung kartellartiger Gebilde“ darstelle. Dies hat wohl auch Bren- 
tano, der zuerst jenen ganzen Zusammenhang aufdeckte, nicht gemeint. 
Die Kapitalimmobilisation verstärkt einerseits die Monopolisierbarkeit 
eines Produktionszweiges, sie verstärkt also die Voraussetzungen der 
Monopolorganisation. Sie erhöht andererseits die Gefahren eines 
Verlustes auf seiten der Unternehmer, verstärkt also das Streben 
nach Ausschaltung des Wettbewerbs. Allein trotz Kapitalimmobilisation 
gibt es keine Kohlenkartelle in England! Das hätte dem Verfasser 
bei Auffindung des „letzten Grundes“ der Kartellbildung zu denken 
geben müssen. Er hätte dann vielleicht einsehen müssen, dab 
nicht die Monopolisierbarkeit der Produktion, wie sie durch die 


Literatur. 827 


Schwervermehrbarkeit entsteht, allein maßgebend für die Entstehung der 
Kartelle ist, sondern auch die Monopolisierbarkeit des Ab- 
satzes und daß diese sowie die Gründe, welche zu ihrer Ausnützung 
führen, notwendigerweise ebenfalls für die Entstehung einer Monopol- 
organisation maßgebend sind. Ein Vergleich zwischen den Absatz- 
verhältnissen der deutschen und englischen Kohlenindustrie, von denen 
die eine eine Monopolisierbarkeit des Absatzes aufweist, die andere nicht, 
wäre dem Verfasser in dieser Hinsicht nützlich gewesen, indem er ihn 
vor einer etwas voreiligen Zuspitzung seiner Schlußfolgerungen bewahrt 
hätte. 

Zustimmen kann man im allgemeinen den letzten Erörterungen der 
Schrift. Sie schildern den Weg vom Kartell zum Trust. Es ist richtig, 
daß einem Trust weniger als einem Kartell daran gelegen ist, alle 
Betriebe, auch die ungünstigsten, zu erhalten, und daß daher das Streben, 
das Gesetz vom abnehmenden Ertrage zu suspendieren, beim Trust am 
stärksten in Erscheinung treten muß. Es ist auch anzunehmen, daß die 
Tendenz zur Vertrustung fortschreitet, in dem Maße wie die Föder- 
beschränkungen den günstig arbeitenden Werken Opfer zu Gunsten der 
ungünstig wirtschaftenden Gruben auferlegen. Daß aber in praxi ein 
Trust die ungünstig arbeitenden Betriebe durchaus nicht immer aus- 
schaltet, das haben die Erfahrungen in Amerika gezeigt. Dort besitzt 
z. B. der Stahltrust eine ganze Reihe von Werken, die zu hohen Kosten 
und nur in Haussezeiten an der Produktion teilnehmen, und der Schutz 
„der schwachen Betriebe“, den Bosenick beim Trust beseitigt sieht, 
spielt nach wie vor eine mächtige Rolle. Also auch hier sind allzu 
scharfe Schlußfolgerungen nicht am Platze! 

Im ganzen aber wird die Schrift Bosenicks einen sehr günstigen 
Eindruck auf den Leser ausüben. Denn sie zeigt überall das wissen- 
schaftliche Streben, aus der Fülle der Einzeltatsachen das einheitliche 
Zusammenwirken derselben zu erkennen und darzulegen. Einen An- 
spruch auf Wissenschaftlichkeit in diesem Sinne kann die Schrift von 
Stillich nicht erheben. Er scheint dies selbst empfunden zu haben, 
denn er entschuldigt sich in seiner Einleitung mit den Worten: „Die 
Behandlung ist in erster Linie deskriptiver Natur und erhebt sich nur 
an Punkten besonderer Veranlassung auf die Höhe theoretischer Be- 
trachtung.“ Angesichts dieses Selbstgeständnisses die Monographien von 
sechs industriellen Betrieben als „nationalökonomische For- 
schungen“ zu bezeichnen, ist vermessen. Jeder Handelskammerbericht, 
jeder Leitartikel einer großen Fachzeitschrift über eine neue industrielle 
Unternehmung wäre dann eine „nationalökonomische Forschung“. Auf 
der anderen Seite wird ein jeder Doktorant, der eine nationalökonomische 
Arbeit anzufertigen hat, darauf verwiesen, daß es sich nicht um eine 
deskriptive Aneinanderfügung wirtschaftlicher Tatsachen handeln 
dürfe, sondern um die wissenschaftliche Analyse gewisser sozialer Massen- 
erscheinungen und um ein einheitliches, auf das Ganze gerichtetes Ur- 
teil, welches die Probleme der jeweils zu behandelnden Frage zu er- 
forschen und zu klären sucht. Man kann daher auch angesichts dieses 
zweiten Bandes der Stillichschen Forschungen nur denen Recht geben, 


828 Literatur. 
die bereits früher ihnen das Prädikat „nationalökonomisch“, im wissen- 
schaftlichen Sinne, versagt haben. 

Allein selbst wenn der von Stillich als Ausnahme bezeichnete Son- 
derfall eintritt, daß sich seine Forschung auf die „Höhe theore- 
tischer Betrachtung“ erheben will, so ist das Resultat dieses 
Strebens ein recht problematisches. Der Verfasser beschränkt sich 
darauf, ein kurzes Resumé in fettgedruckten Lettern einer jeden seiner 
Monographien beizufügen, so dab nunmehr ein kleines Mosaik von wirt- 
schaftlich-technischen Einzelheiten den Abschluß bildet. Geradezu 
märchenhafte Höhen aber erreicht seine theoretische Betrachtung, wenn 
er hier und da ein wirkliches Gesetz zu sehen glaubt. So findet er 
z. B. bei Erörterung der „Hibernia“ ein „Preisgesetz“ der Kohle: 
„Der Preis der Kohle(!) steht in einem proportionalen(!) Verhältnis zu 
ihrer Größe.“ (Gemeint ist, daß der Preis einer bestimmten Quantität 
Kohle, soweit nicht die Normalqualität, sondern die Stücksorte 
in Frage kommt, mit der Größe der Stücke steigt. Was das speziell 
„proportionale“ dabei sein soll, ist nicht klar, und auch von Stillich 
nicht erörtert. Nach seiner Formulierung müßte es erscheinen, als ob 
der Preis „der“ Kohle überhaupt von ihrer Stückgröße abhinge, also 
die verschiedenen sonstigen Kriterien der Qualität gar nicht in Frage 
kämen. Aus jener oben von mir verdeutlichten Erscheinung aber ein 
„Preisgesetz für den Kohlenverkauf“, etwa wie eine Rententheorie oder 
ein Gesetz vom Ausgleich der Gewinne, konstruieren zu wollen, erscheint 
mehr als kühn, selbst wenn man jenen Zusammenhang in verständlichere 
Worte und Terminologie kleidet, als der Verfasser es getan hat. 

Was nun die deskriptive Arbeit angeht, so ist anzuerkennen, daß 
der Verfasser in seinen Schilderungen, besonders in den Erörterungen 
über die „Hibernia“, „Gelsenkirchen“ und die Aktiengesellschaft „Königs- 
born“ ein recht ansehnliches Material gesammelt hat, das dem Weiter- 
studierenden von Nutzen sein kann. ‚Jedoch überwiegt überall die 
Uebernahme bereits vorhandenen Materials in wörtlicher oder fast wört- 
licher Fassung und die eigenen Ergänzungen, vor allem aber das eigene 
Sichten, Gruppieren und Konzentrieren jenes Materials tritt stark in den 
Hintergrund. Selbst zu der Hiberniaangelegenheit äußert sich der Ver- 
fasser nicht selbständig, sondern er begnügt sich, ein getreues Referat 
der Argumente für und wider die Verstaatlichung des Kohlenbergbaus 
zu geben, und dann schließt sich das dem Verfasser eigene Resumé in 
fettgedruckten Lettern an, das aber ebenfalls kein einziges neues Resul- 
tat bringt. Hier wäre doch Gelegenheit gewesen, mit jenem eigen- 
artigen System des bloßen Referats bereits bekannter Gedanken zu 
brechen und einmal etwas wissenschaftliche „Urproduktion“ dem Leser 
darzubieten. Allein lassen wir dem Verfasser seine Schreibweise, die 
ihm schon in seiner Arbeit über die englische Agrarkrisis, der fast 
wortgetreuen Uebernahme eines parlamentarischen Enqueteberichtes, an- 
haftet. Dieses zweite Buch „nationalökonomischer Forschungen“ kann 
im besten Falle nur den Wert haben, den Liefmann einst nach scharfer 
Bemängelung dem ersten Buche zugesprochen hat: den Wert einer 
Materialsammlung, welche zeigt, „wie sich einige schon allgemein fest- 


Literatur. 829 


gestellte volkswirtschaftliche Erscheinungen in den Verhältnissen einzelner 
großer Unternehmungen spiegeln“. 

Während hier ein Angehöriger der nationalökonomischen Wissen- 
schaft diese, selbst bei gewiß emsigen Einzelstudien, nicht merklich zu 
bereichern vermochte, hat ein englischer Kohlenindustrieller, der Ab- 
geordnete D. A. Thomas, eine Studie veröffentlicht, welche neben den 
aus eigener Erfahrung hervorgegangenen Sonderuntersuchungen äußerst 
beachtenswerte Gesamtresultate wissenschaftlichen Charakters liefert. 
Thomas untersucht zunächst historisch die Entwickelung der englischen 
Kohlenindustrie, die Triebtedern und Umstände, welche ihr bereits seit 
dem Ende des 18. Jahrhunderts zu ihrer heutigen Weltstellung ver- 
holfen haben. An Hand eingehender statistischer Untersuchungen werden 
von ihm dann im zweiten Teile seiner Abhandlung die Kohlenexport- 
verhältnisse, insbesondere die Richtung des Fxports und die Chancen 
seiner Weiterentwickelung geschildert. Der Verfasser hat das riesige 
Exportgebiet englischer Kohle in zehn Gruppen oder Distrikte zerlegt 
und unter genauer Berücksichtigung der Preis- und Frachtverhältnisse 
für jeden einzelnen dieser Distrikte die heutigen Absatzverhältnisse eng- 
lischer Kohle geschildert. Die Frage, wie hohe Kohlenpreise in Eng- 
land den Auslandsabsatz beeinflussen, führt den Vertasser zu einer 
Untersuchung der Momente, welche zu den zeitweiligen enormen Preis- 
schwankungen in Kohle zu führen pflegen und eine Kohlennot wie in 
England die von 1873 und 1900 hervorrufen. Vielleicht wäre hier 
einiges über die früheren Kartelle, die ja Thomas bekannt sind, zu 
sagen gewesen und über die Art der heutigen Preisbildung in England 
selbst. Denn da in Deutschland der von Thomas oft erwähnte steigende 
Kohlenexport nicht zum geringsten einen Ausfluß der Kartellpolitik dar- 
stellt, so wäre es wichtig gewesen, die Stellung des nichtkartellierten 
Unternehmertums in England zur Exportfrage zu erörtern. Dann hätte 
man freilich Untersuchungen über den inländischen Preis anstellen 
müssen, der, wie man aus dem Buch von Ashley (Adjustment of 
Wages) entnehmen kann, auch in England auf unbestrittenen Märkten 
höher gehalten wird als da, wo eine Konkurrenz der verschiedenen 
Produktionszentren herrscht. Allein auch ohne jene Erörterung sind 
die Resultate des Verfassers wertvoll: obschon die Kohlenexporte Eng- 
lands im ganzen ein großes und ständiges Wachstum zeigen, hat der 
anderweitige Wettbewerb den Absatz englischer Kohle auf vielen 
Märkten, die früher ganz von England abhingen, stark ge- 
schmälert. Teils ist in einzelnen Ländern die Eigenproduktion an 
Stelle der Einfuhr getreten, wie z. B. in den Vereinigten Staaten von 
Amerika, teils haben sich einzelne Länder zu wichtigen Exportstaaten 
entwickelt. So empfindet England die deutsche Kohlenkonkurrenz 
in den verschiedensten europäischen Ländern, im fernen Osten dagegen 
die immer stärker anwachsenden Exporte Indiens und Japans. Von 
wichtigen Märkten, welche Englands Kohle noch so gut wie ausschließ- 
lich beherrscht, sind noch übrig: Teile der französischen und der Mittel- 
meerküste, Brasilien, Uruguay, Argentinien und die Westküste Afrikas. 

Dr. Uhde, der die Produktionsbedingungen des deutschen und eng- 


830 Literatur. 


lischen Kohlenbergbaus miteinander vergleicht, hätte gut getan, sich mit 
den Ausführungen von Thomas bekannt zu machen, da sie ihm bei der 
Erörterung des Außenhandels sicherlich wertvolle Dienste geleistet hätten. 
Auch in seiner Schrift spielt der Wettkampf zwischen englischer und 
deutscher Kohle eine wichtige Rolle, obschon nicht die Absatz-, sondern 
die Produktionsverhältnisse der Kohle den Hauptgegenstand seiner Er- 
örterungen bilden. Die Arbeit Uhdes ist sorgfältig durchgeführt und 
mit reichlichem statistischen Material versehen. Die Abschnitte über 
Kapitalbesitz und Kapitalstatistik dürften besonderes Interesse erregen. 
Ebenso bieten die Preisvergleiche manche interessanten Ergebnisse: 
ein Vergleich der englischen Preise von Steinkohle ab Werk mit denen 
der drei großen deutschen Bezirke in der Zeit von 1882—1903 zeigt, 
daß die Preissteigerung der letzten 5 Jahre jener Periode in England 
nicht geringer war als in Deutschland. Im übrigen wird die Schrift 
Uhdes wohl hauptsächlich als eine deskriptive und orientierende Arbeit 
aufzufassen sein, die wohl geeignet ist, weiteren Forschungen auf diesem 
Gebiete als Grundlage zu dienen. 

Die Arbeit von Dr. Stoepel über die Kaliindustrie ist eine volks- 
wirtschaftliche Studie, die allgemeine Beachtung verdient. In dem 
ersten Teile der Arbeit erfahren wir die Geschichte der Kaliindustrie, 
insbesondere auch die Entstehungsgeschichte des Kalisyndikats, dessen 
Anfänge auf die Jahre 1872—1874 zurückreichen. Es folgt im zweiten 
Abschnitt eine für den Nichtfachmann wichtige Beschreibung der 
einzelnen Kalirohsalze und deren Fabrikate, dann wird die Bedeutung 
der Kaliindustrie für die Landwirtschaft und die chemische Industrie 
erörtert, wobei es dankenswert ist, daß die einzelnen Zweige der 
chemischen Industrie, für welche Kali von Bedeutung ist, einzeln und 
ausführlich behandelt werden. Der Leser hat dann genug von der 
technischen und wirtschaftlichen Bedeutung des Kali erfahren, um mit 
Verständnis den Ausführungen über das Kalisyndikat und die, jene 
Frage umgebenden Probleme folgen zu können. Im letzten Abschnitte 
werden uns gewisse Retormvorschläge vorgeführt: so die Reform der 
rechtlichen Verhältnisse im hannöverschen Kalibergbau, die Frage der 
monopolistischen Ausgestaltung des Kalibergbaus, das Projekt eines 
Kaliausfuhrzolls, die Abwässerungsfrage u. s. w. Der Verfasser sieht 
in dem Kalisyndikat ein Fiskuskartell, das auch für die organisatorische 
Ausgestaltung anderer Industrien, z. B. der Kohlenindustrie, vorbildlich 
sein könne. Demgegenüber verwirft er die Idee einer Verstaatlichung 
des Kalibergbaues, gegen die er verschiedene, durchaus stichhaltige 
Argumente anführt. Bedeutsam sind auch die Ausführungen über das 
Ausfuhrzollprojekt, das ja seit dem Erscheinen des Stoepelschen Buches 
infolge eines — freilich vorläufig gescheiterten — Antrags im Reichs- 
tag wieder neues Interesse gewonnen hat. Stoepel weist den Gedanken 
eines Ausfuhrzolls aus verschiedenen Gründen ab. Unwahrscheinlich 
ist seine Annahme, daß ein Ausfuhrzoll zu einer Steigerung der aus- 
ländischen Kaliproduktion führen würde. Diese ist so unbedeutend und 
im Vergleich zu der unserigen so kostspielig, daß sie ein deutscher Aus- 
fuhrzoll von geringer Höhe nicht wesentlich rentabler machen würde. 


Literatur. 831 


Richtiger ist es, wenn Stoepel darauf verweist, daß bei unseren uner- 
meßlichen Schätzen an Kali und der bisherigen Politik des Syndikats, 
an das Ausland teuerer zu verkaufen als an das Inland, insbesondere 
die deutschen Landwirte, eine Maßnahme ungerechtfertigt erscheinen 
müsse, die der deutschen Kaliindustrie den Absatz im Auslande nur er- 
schweren könne. Die Zeit, welche seit dem Erscheinen des Buches 
verflossen ist, hat dem Verfasser nicht in allem recht gegeben. So hat 
er augenscheinlich die Machtstellung des Syndikats im Auslande über- 
schätzt, wenn er es so hinstellt, als ob das Syndikat seine outsiders 
auf fremden Märkten mit Leichtigkeit niederkonkurrieren könne. Die 
jüngsten Erfahrungen des Syndikats widersprechen dieser Ansicht. Sie 
haben gezeigt, daß potente outsiders (Sollstedt) auch im Auslandsabsatze 
mit dem Syndikat erfolgreich konkurrieren können, während Stoepel 
gemeint hatte, daß ihr Wettbewerb mit dem Syndikat „auf dem Welt- 
markte“ „undenkbar“ sei. 

Im Gegensatz zu dem zuvor besprochenen Buch von Uhde muß 
betont werden, daß die Arbeit von Stoepel in angenehmem Styl und 
fließender Darstellung verfaßt ist und nicht nur als brauchbare Material- 
sammlung, sondern auch als anregende wirtschaftspolitische Lektüre be- 
trachtet werden kann. 

Im Mittelpunkte der Arbeit von R. Heimann, die hier noch kurz 
erwähnt werden soll, steht ebenfalls die Frage des Staatsmonopols in 
der Kaliindustrie sowie das Problem eines Ausfuhrzolles.. Heimann be- 
handelt eingehend den Antrag auf Einführung eines Kaliausfuhrzolls, 
der am 1. März 1906 in der Steuerkommission des Reichstags zur Ver- 
handlung kam. Gegen die Einführung eines Ausfuhrzolls spricht nach 
Heimann: 1) Das reiche Vorkommen der Kalisalze, das eine Erschöpfung 
in absehbarer Zeit nicht befürchten läßt. 2) Das Bestehen des Kar- 
tells, das keine Schleuderpolitik treibt. 3) Die Möglichkeit einer Ab- 
wälzung des Ausfuhrzolls auf den inländischen Konsumenten durch Er- 
höhung der Inlandspreise. 4) Die Gefahr von Retorsionsmaßnahmen. 
Daß Amerika, wie Heimann meint, auf Petroleum oder Kupfer Retor- 
sionsausfuhrzölle gegen Deutschland erheben werde, ist höchst unwahr- 
scheinlich. Denn die Zollerhebung bei der Ausfuhr nur nach einem 
bestimmten Lande wäre hier in ihrer technischen Durchführung geradezu 
unmöglich. 5) Als letztes Argument gegen den Ausfuhrzoll führt Hei- 
mann dessen geringen fiskalischen Ertrag an und schließt so die Kette 
seiner Einwände, deren Mehrzahl wir beipflichten können. Die Arbeit 
Heimanns bildet in manchen Teilen eine lehrreiche Ergänzung des 
Stoepelschen Buches. 


832 Literatur. 


W 
Zur Gewerbegeschichte und -politik. 


Von Fritz Schneider-Sorau N.-L. 


Badtke, Walther, Zur Entwickelung des deutschen Bäcker- 
gewerbes. Samml. nationalök. u. statist. Abhandl. d. staatsw. Seminars 
zu Halle a. S., Bd. 52. Jena (Gustav Fischer) 1906. 216 SS. 

Rabius, Wilhelm, Der Aachener Hütten-Aktien-Verein in Rote 
Erde 1846—1906. Volksw. u. wirtschaftsgesch. Abhandl. von Stieda, 
N. F., Heft 8. Jena (Gustav Fischer) 1906. VII u. 145 SS. 

Gehrke, Franz, Die neuere Entwickelung des Petroleumhandels 
in Deutschland. Ergänzungsheft 20 der Zeitschr. f. d. ges. Staatsw., 
Tübingen (H. Laupp) 1906. VII u. 121 SS. 

Lochmüller, W., Zur Entwickelung der Baumwollindustrie in 
Deutschland. Abhandl. des staatsw. Seminars zu Jena, Bd. 3, Heft 3. 
Jena (Gustav Fischer) 1906. VII u. 127 SS. 

Leontief, Wassilij, Die Lage der Baumwollarbeiter in St. Peters- 
burg. München (Ernst Reinhardt) 1906. 114 SS. 

Brauns, Heinrich, Der Uebergang von der Handweberei zum 
Fabrikbetrieb in der Niederrheinischen Samt- und Seidenindustrie und 
die Lage der Arbeiter in dieser Periode. Staats- u. sozialw. Forsch. 
von Schmoller u. Sering, Bd. 25, Heft 4. Leipzig (Duncker & Humblot). 
XII u. 256 SS. 

Reimers, Charlotte, Die Berliner Filzschuhmacherei. Staats- 
u. sozialw. Forsch. von Schmoller u. Sering, Bd. 21, Heft 4. Leipzig 
(Duncker & Humblot). VIL u. 84 SS. 

Rosenhaupt, Karl, Die Nürnberg -Fürther Metallspielwaren- 
industrie in geschichtlicher und sozialpolitischer Beleuchtung. Münch. 
volksw. Studien von Brentano u. Lotz, 82 Stck. Stuttgart (Cotta) 1907. 
X u. 219 SS. 

Bernhard, Ludwig, Handbuch der Löhnungsmethoden. Leipzig 
(Duncker & Humblot) 1906. XLIV u. 234 SS. u. 4 graph. Tafeln. 

Gemeinsam ist den vorliegenden Arbeiten (außer der letztgenannten) 
in erster Linie der äußerliche Umstand, daß sie in Seminarien zu Disser- 
tationszwecken entstanden sind. (Bernhard hat eine deutsche Bear- 
beitung des Buchs von Schloss „Methods of industrial remuneration“ 
geliefert.) Gemeinsam ist ferner allen aufgeführten Arbeiten, daß sie 


Literatur. 833 


sich mit gewerblichen Gegenständen befassen. Ich habe sie nach der 
üblichen Gewerbeeinteilung aneinandergereiht und bespreche sie einzeln 
in dieser Folge. — Badtke stellt auf Grund eingehender, selbständiger 
Studien die älteste und die zünftlerische Geschichte der Bäckerei dar, 
schildert dann den Uebergang zur Gewerbefreiheit und die neueste Ent- 
wickelung an der Hand der Statistik. Wir verfolgen so durch die 
Jahrhunderte die Umgestaltung von der Lohn- zur Marktbäckerei. 
Haus-, Lohn- und Marktbäckerei haben freilich von jeher nebeneinander 
bestanden wie heute, aber streitig ist namentlich für die älteste ger- 
manische Zeit, in welchem Umfange. B. legt Gewicht darauf, von An- 
fang an die Preisbäckerei nachzuweisen. Die mittelalterliche Zunft- 
geschichte wird aufs gründlichste behandelt und mit Hilfe eigener 
archivalischer und anderer Studien insbesondere nach der wirtschaft- 
lichen Seite in manchen Beziehungen geklärt. Wesentliches bietet sich 
hier nicht, die Zunftgeschichte ist ja nach allen Seiten bearbeitet. Die 
Untersuchung der neuzeitlichen Verhältnisse wird sehr zweckmäßig nach 
Großstädten im einzelnen und für das Reich im ganzen (an der Hand 
der Berufszählungen) durchgeführt. Nun reicht infolgedessen die Dar- 
stellung nur bis zum Jahre 1895. Wir haben neuerdings durch den 
deutschen Bäckerverband eine bis 1906 reichende Enquete erhalten, 
welche im ganzen zwar die Resultate B.s bestätigt, aber doch zeigt, daß 
gerade im letzten Jahrzehnt die Entwickelungstendenz der kapitalisti- 
schen Konzentration sich schärfer! ausprägt, als B. annehmen mußte. 
B. konnte feststellen, daß die Gewerbefreiheit die Entwickelung zum 
größeren Betriebe zweifellos inauguriert habe, daß aber eine Ueber- 
setzung des Gewerbes nicht eingetreten sei. Indes kann er nicht ver- 
schweigen, daß eine große Zahl unrationeller Zwergbetriebe entsteht 
und vergeht. Man muß hervorheben, daß B. seinen Gegenstand aufs 
sicherste beherrscht und nach allen Richtungen aufs sorgfältigste bear- 
beitet hat; durch das Ganze leuchtet insbesondere die praktische Kennt- 
nis der konkreten Verhältnisse, und es scheint mir deshalb auch er- 
wähnenswert, daß B. sich bei seiner abweichenden Festsetzung der 
Grenze des Bäckereigroßbetriebes (mindestens 10 Arbeiter) in Ueberein- 
stimmung mit der Enquete des Bäckerverbandes befindet. — Rabius’ 
Darstellung der Entwickelung des Hütten-Vereins Rote Erde ist im 
wesentlichen ein Ruhmesblatt der die letzten drei Jahrzehnte umfassen- 
den Verwaltung Kirdorf-Magery. Das Buch soll nicht getadelt werden, 
obwohl eine geschlossen fortschreitende, organisch zusammenhängende 
Darstellung zu vermissen ist, während mehr die historische Durchführung 
einzelner Seiten der Verwaltung in getrennter Darlegung, manchmal 
sogar aus dem Zusammenhang heraus zurück- und vorgreifend geboten 
wird. Wertvoller wäre es zweifellos für die Bereicherung der Wirt- 
schaftsgeschichte gewesen, wenn R. sich bemüht hätte, die Geschichte 
der ersten 30 Jahre gründlicher zu bearbeiten und für diese Zeit eine 
Darstellung zu bieten, die den Blick in den inneren Mechanismus des 
Hütten-Vereins-Betriebes, in den Werdegang der Geschäftsleitung und 
wirtschaftlichen Organisation eröffnet. hätte. Denn für die moderne 
Industrieentwickelung, namentlich in Rheinland-Westfalen, haben wir 
Dritte Folge Bd. XXXII (LXXXVIII). 53 


834 Literatur, 


Material und Bearbeitung genug. — Gehrkes Arbeit bringt eine mit 
Rücksicht auf die neuere Bewegung des Petroleummarktes in Deutsch- 
land sehr dankenswerte Uebersicht der Lage gewissermaßen als Fort- 
setzung der bekannten R. Schneiderschen Arbeit von 1902. Nach kurzer 
Darlegung des Standes der Industrie an den verschiedenen Fundstätten 
der Welt schildert G. die Handelsorganisation und den Wettbewerb der 
Petroleum-Großmächte sowie die Entwickelung der Preisbewegung. Die 
Darstellung ist knapp und klar auf Grund einer völligen Beherrschung 
des Stoffes, soweit sie für einen außenstehenden Beobachter möglich. 
Wenn G. zwar etwas naiv Meinungen über Aussichten und Entwicke- 
lungstendenzen der Industrie vorträgt, so wird man doch im ganzen 
(bei Differenzen in Nebenpunkten) der umsichtigen, verständigen und 
objektiven Beurteilung der Lage zustimmen müssen. — Lochmüller 
bringt eine Skizze der heutigen Lage der deutschen Baumwollindustrie 
mit Vorbemerkungen über die Baumwolle, über die technische und wirt- 
schaftliche Entwickelungsgeschichte der Industrie und statistischen Ta- 
bellen. Die Arbeit betrachtet etwas eingehender die brennenden Tages- 
fragen: die Zollpolitik, den Börsenhandel, die Arbeiterfrage und die 
Kartellbewegung. Verfasser sieht die Baumwollindustrie so an, wie sie 
sich etwa vom Bureau des Zentralverbandes deutscher Industrieller aus 
darstellt, und der Generalsekretär des Baumwollgarn-Konsumenten-Ver- 
bandes dürfte nicht gerade angenehm berührt sein von seiner nachdrück- 
lichen Anrufung im Vorwort. Ich will nicht sagen, daß L. sich nicht 
der Objektivität befleiligt, aber weder gelingt es ihm, dies Ziel zu er- 
reichen noch bereichert er die Wissenschaft oder Praxis, noch können 
die Bemerkungen des Vorworts die Mängel der Arbeit entschuldigen. 
Namentlich das Kapitel über die Arbeiterverhältnisse ist mehr als 
dürftig. — Leontief liefert eine ausgezeichnete Darstellung der 
Arbeitsverhältnisse in der russischen Baumwollindustrie, insbesondere 
derjenigen Petersburg. Weder die offiziösen und halboffiziösen 
russischen Werke über die dortige Industrie noch deutsche Reise- 
studien können uns die tatsächlichen Verhältnisse so unverstellt 
und konkret naherücken, und man muß wünschen, daß wir noch 
recht viel derartige Spezialarbeiten wie die von L. bekommen. 
Die landsmännische Kenntnis der heimischen Zustände mit dem 
Blick für die richtige Einordnung des Einzelnen ins Allgemeine 
und dem vorurteilslosen Streben nach wissenschaftlicher Objektivität 
läßt ein Bild entstehen, welches jedes Detail im Zusammenhang der 
nationalen Eigenart lebendig werden und organisch hervorwachsen läßt, 
ohne die ständige Verbindung mit der modernen Weltwirtschaft zu ver- 
nachlässigen. Es ist ein Vorzug des Buches, daß aus dieser eindring- 
lichen und umfassenden Behandlung der Aufgabe eine Erhöhung der 
nationalökonomischen zur Kulturskizze hervorgegangen ist. Und so gibt 
diese Spezialbearbeitung auch wieder ein Bild der russischen Industrie- 
verhältnisse im ganzen, in ihrer Entwickelung und ihrer gegenwärtigen 
Lage, bezeichnend für das, was man als „russische“ Zustände kennt, 
lehrreich für den Wirtschaftspolitiker und den deutschen Exporteur. — 
Brauns bringt in Ergänzung der Arbeiten von Thun und Gottheiner 


Literatur. 835 


über die niederrheinische Seidenindustrie eine sehr gründliche und um- 
fassende Darstellung der Krefelder Industrie im Uebergang von der 
Haus- zur Fabrikindustrie. Der größere Teil des Buchs ist der 
Hausindustrie gewidmet, und die mechanische Weberei wird gewisser- 
malen von unten her, d. h. vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der 
Arbeiterlage betrachtet. (Daher auch die etwas zu ausgiebige Behand- 
lung der Technik.) Im übrigen soll dies kein Vorwurf sein, da der 
Ausgangspunkt des Verfassers eben die „sozialpolitische“ Seite der Sache 
ist. Die geschilderten Verhältnisse sind für die Textilhausindustrie 
typisch, und B. hat sie nach allen Richtungen der eingehendsten Be- 
leuchtung unterzogen. Man wird seine Beurteilung der Hausindustrie 
nicht anzweifeln können, während die Kritik und die Forderungen be- 
züglich der Fabrikindustrie etwas beeinflußt sind von dem vorher ge- 
meldeten Prinzip der Arbeit. — Reimers stellt in einer durch Kürze 
und dabei eindringendes Sachverständnis ausgezeichneten Arbeit in einem 
nach allen Seiten klar beleuchteten Bilde die Berliner Filzschuhmacherei 
als Haus- und Fabrikindustrie dar. Wir haben es hier nicht mit einer 
nüchternen Dissertation zu tun, sondern mit einem wohlabgerundeten 
Werke, in dem sich eine Persönlichkeit mit scharfem Blick, Kenntnis 
der Volkswirtschaft und warmem Herzen für ihren Gegenstand doku- 
ımentiert. Die Natur der Aufgabe bringt es mit sich, daß die Verfasse- 
rin die Darlegung der Arbeiterverhältnisse in den Vordergrund schiebt, es 
rechtfertigt sich daraus auch ihre Beurteilung der volkswirtschaftlichen 
Bedeutung der Berliner Schuhindustrie. Man kann danach im ganzen 
der Verfasserin die Anerkennung einer wohldurchdachten, konsequenten 
Auffassung nicht versagen, ohne durchaus mit ihr einverstanden zu sein. 
— Eine ähnliche Arbeit, dem Gegenstande und der Anlage nach, ist die 
von Rosenhaupt über die Nürnberg-Fürther Spielwarenindustrie Die 
Fürther Industrie hat sich erst im 18. Jahrhundert neben und im 
dauernden Wettbewerb mit der Nürnberger entwickelt, bis beide um 
die Mitte des vorigen Jahrhunderts durch den Handel, für den die ge- 
samte Spielwarenindustrie dort arbeitet, wieder zum Ganzen verschmolzen 
werden. In Nürnberg haben die Großbetriebe mehr Uebergewicht, in 
Fürth die Mittel- und Kleinbetriebe. Das gesunde Nebeneinander dieser 
verschiedenartigen Betriebe ist der Arbeitsteilung, der stets wechseln- 
den Mannigfaltigkeit dieser Produktion zu danken. Dabei ist allerdings 
die Lage der Hausarbeit und Heimarbeiter eine sehr schlechte, teils 
infolge der Abhängigkeit vom Handel und der Kapitallosigkeit, teils 
infolge der Beschränktheit und Energielosigkeit der Leute. Rosenhaupt 
führt das in umfassender Untersuchung mit sorgfältiger Abwägung 
aller Momente im Detail aus. Unter den Vorschlägen zur Hebung der 
Hausindustrie legt R. mit Recht größten Wert auf die genossenschatt- 
liche Organisation und die Fachschulbildung. Hinsichtlich der Heim- 
arbeit ist hervorzuheben, daß die Kinderarbeit noch immer und trotz 
des Gesetzes von 1903 eine große Rolle spielt. — Bernhards „Be- 
arbeitung“ des Buchs von Schloss ist von zweifelhaftem Wert, eine Aus- 
gabe des Sch.schen Werkes wäre verdienstvoller gewesen. Sch.s Dar- 
stellung hat mit ihrer veralteten, an die „klassische“ Schule anknüpfen- 
53* 


836 Literatur. 


den Methode und ihrem beschränkten Gesichtspunkt nur noch historischen 
Wert und ist inzwischen von deutschen Arbeiten überholt worden. 
Wenn nun schon keine Ausgabe, sondern eine „Bearbeitung“ vorge- 
nommen werden sollte, dann hätte der Bearbeiter allerdings nicht nur 
Lohnfragen-Spezialist, sondern Nationalökonom sein müssen. Daß die 
sogenannten Löhnungsmethoden (Zeit-, Akkord- und Prämienlohnsystem, 
woraus Bernh. sechs Systeme macht) keine verschiedenen Welten, sondern 
Ausdrucksformen eines einzigen Prinzips sind, das hätte für den National- 
ökonomen keiner Entdeckung durch Bernh. bedurft, und daß jenes 
Prinzip nicht etwa, wie Bernh. mit Schloß denkt, der Preis der Arbeits- 
leistung, sondern das allgemeine Verteilungsproblem ist, das hätte der 
Nationalökonom gewußt. Bernh. bleibt völlig in dem Sch,schen Stadium 
primitiver volkswirtschaftlicher Betrachtung. Es ist weder volkswirt- 
schaftlich gedacht, noch privatwirtschaftlich nützlich, lediglich die Löh- 
nungsmethoden aufzuzählen und, illustriert durch Beispiele, darzustellen. 
Die Volkswirtschaftslehre verlangt eine eindringende Untersuchung über 
die tatsächliche Anwendung, Verbreitung und Wirkung, und zwar ist 
dies der grundsätzliche Gesichtspunkt für die Bearbeitung, nicht ein 
nebensächlicher. Bei solcher Auffassung der Aufgabe könnte es nicht 
vorkommen, daß die Lohnfrage nur vom technisch-privatwirtschaftlichen 
Gesichtspunkt (hauptsächlich des Unternehmers) betrachtet wird (wie 
B. das tut), sondern es würde eine sozialpolitische Klärung unter gleich- 
mäßiger Berücksichtigung des Interesses auch der Arbeiter und der 
Nation, sowie der außer dem Geldpreise für Arbeitsleistung maßgeben- 
den Momente (Arbeitsorganisation, Wohlfahrtseinrichtungen u. s. w.) 
stattfinden. Dann würde auch der untrennbare Zusammenhang mit der 
Entlöhnung der Beamten und sogenannten freien Berufe nicht verloren 
gehen, und es könnte nicht passieren, daß man (der Mitarbeiter B.s: 
Th. Harms) von „absolut richtigen Lohnsystemen“ spricht. Hiernach 
hat es keinen Zweck, noch über das Buch im einzelnen oder über B.s 
Panegyrikus auf den Akkordlohn zu sprechen. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Ausland. 837 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands 
und des Auslandes, 


1. Geschichte der Wissenschaft. Enoyklopädisches. Lehrbücher. Spezielle 
theoretische Untersuchungen. 

Bernstein, Eduard, Die Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung. Ein 
Kapitel zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. 1. Teil. Vom Jahre 1848 bis 
zum Erlaß des Sozialistengesetzes. Illustriert. (In 17 Lieferungen.) 1. Lief. Berlin, 
Buchhandlung Vorwärts, 1907. Lex.-8. VI— S. 1—16. M. 0,30. 

Lensch, Paul, Sozialistische Literatur. 2 Vorträge. Leipzig, Leipziger Buch- 
druckerei Aktiengesellschaft, 1907. 8. 23 SS. M. 0,15. 

Marx, Karl, Zur Kritik der politischen Oekonomie. Herausgeg. von Karl 
Kautsky. 2., verm. Neuausg. Stuttgart, J. H. W. Dietz Nachf., 1907. 8. LVIII—203 
SS. M. 2.—. 

Saitzeff, Helene, William Godwin und die Anfänge des Anarchismus im 
XVIII. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte des politischen Individualismus. Berlin, 
O. Häring, 1907. gr. 8. 77 SS. M. 2.—. 

Weissfeld, M., Kants Gesellschaftslehre. Bern, Scheitlin, Spring & C°, 1907. gr. 8. 
III—136 SS. M. 1,50. (Berner Studien zur Philosophie und ihrer Geschichte. Bd. 52.) 

Zepler, G. (Berlin-Charlottenburg), Sozialrevisionistische Demokratie. Neue Wege 
für Demokratie und Sozialismus. Ein Ruf an Revisionisten und Mitläufer. Berlin, 
Hermann Walther, 1907. gr. 8. 43 SS. M. 1.—. 

Bakounine, Michel, Oeuvres. Tome 1. Fédéralisme, Socialisme et Antithéolo- 
gisme. Lettres sur le Patriotisme. Dieu et l’État. 5. édition. Paris, P.-V. Stock, 1907. 
8. XL—326 pag. fr. 3,50. (Bibliothèque sociologique. N° 4.) 

Bouglé, C. (Prof.), Qu'est-ce que la sociologie? Paris, Félix Alcan, 1907. 8. 
175 pag. fr. 2,50. 

Caird, Ed., Philosophie sociale et religion d’ Auguste Comte. Traduit de Panglais 
par Miss May Crum et Charles Rossigneux. Préface de Boutroux. Paris, Giard et 
Brière, 1907. 8. fr. 4.—. (Bibliothèque sociologique internationale. Tome 35.) 

Denis, H., Histoire des systèmes économiques et socialistes. Tome Il: Les fon- 
dateurs. Paris, Giard et Brière, 1907. 8. fr. 10.—. (Bibliothöyue internationale d’éco- 
nomie politique.) 

Axon, William E. A., Cobden as a citizen. A chapter in Manchester history. 
A facsimile of Cobden’s pamphlet “Incorporate your borough”, with an introduction 
recording his career as a municipal reformer and a Cobden bibliography. Ilustrated. 
London, T. Fisher Unwin, 1907. 8. XII—207 pp. 21/.—. 

Blackmar, Frank W. (Prof.), Economics. London, Macmillan & C°, 1907. 
Cr. 8. 546 pp. 6/.—. 

Headlam, Stewart D., The socialist’s church. London, G. Allen, 1907. 18. 
V—84 pp. 1/.—. (Labour Ideal Series.) 

Laycock, F. U., Political economy in a nutshell. London, Swan Sonnenschein 
& C°, 1907. Cr. 8. XVI—208 pp. 2/.6. 

MacDonald, J. Ramsay, Socialism and Society. 5. edition. London, Inde- 
pendent Labour Party, 1907. 8. XX—186 pp. 1./—. (The Socialist Library. II.) 

De Luca, Francesco, La dinamica delle forze sociali. Napoli 1907. 8. VIII 
—223 pp. 1. 3,50. 

Trucco, A. M., Il governo economico internazionale. Vol. II: Risoluzione del 
problema economico. Milano 1907. 16. 900 pp. l. 6.—. 


838 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


2. Geschichte und Darstellung der wirtschaftlichen Kultur. 

Dyhrenfurth, Gertrud, Ein schlesisches Dorf und Rittergut. 
Geschichte und soziale Verfassung. (Staats- und sozialwissenschaftliche 
Forschungen. 25. Band, 2. Heft.) Leipzig 1906, Verlag von Duncker 
und Humblot. X und 178 SS. 

Georg Hanssen, der zuerst in vollkommen befriedigender Weise die 
Entstehung der großen Gutsherrschaft im nordöstlichen Deutschland ge- 
schildert hat, erläuterte diesen Vorgang an dem Beispiel des Gutes 
Rundhof in Angeln. Seitdem hat man die Entwickelung der Guts- oder 
Grundherrschaft und des landwirtschaftlichen Betriebs oft mit Erfolg 
an der Geschichte eines einzelnen Besitzes erläutert. Das Allgemeine 
spiegelt sich im einzelnen wider, und andererseits kann man eine zu- 
verlässige Anschauung von dem Allgemeinen nur durch die Berück- 
sichtigung des Einzelnen gewinnen. Monographien über ein einzelnes 
Gut oder eine einzelne Ortschaft werden daher stets willkommen ge- 
heißen, wenn nur die Quellen für ihre Geschichte so reichlich fließen, 
daß ihre Durchforschung ein Resultat verspricht. Bei der vorliegenden 
Arbeit, die sich mit dem Gut und Dorf Jacobsdorf im schlesischen 
Kreis Neumarkt beschäftigt, ist diese Voraussetzung vorhanden. Be- 
sonders für das 13. und 14. Jahrhundert und noch mehr für die Zeit 
seit dem 17. liegt schönes Quellenmaterial vor. In einem ersten, histo- 
rischen Teil der Arbeit wird dieses verwertet. Die Untersuchung wird 
neben den bisher vorliegenden Schriften, die sich mit der schlesischen 
Agrargeschichte beschäftigen, ihren Platz behaupten. Um ein paar 
Einzelheiten hervorzuheben, so sind die Ausführungen über die Zehnt- 
pflicht lehrreich. Als „Ritterrecht“ gilt die Befugnis, den Zehnten in 
einer besonderen Art zu entrichten, und dies Privileg kommt denjenigen 
Aeckern zu, die die Ritter mit eigenem Pfluge bebauen (S. 8 f.). Die 
Nachrichten über die Zehntenzahlung unterrichten uns somit zugleich 
über die Eigenwirtschaft der Ritter. Seite 18 führt die Verfasserin 
eine Notiz aus dem 14. Jahrhundert an, wonach zwei Deutsche als 
„Gärtner“ im Dienst sind. Es ist nun die Frage, ob wir diese Angabe 
als einen Beweis des Niederganges der im 13. Jahrhundert in Schlesien 
angesiedelten deutschen Kolonisten anzusehen haben. Die Verfasserin 
hat gewiß recht, wenn sie auf die Möglichkeit hinweist, daß der Ein- 
tritt von Deutschen in ein abhängiges Dienstverhältnis hier damit zu- 
sammenhängt, daß das Land schon knapp geworden war. Jüngere 
Söhne der deutschen Kolonisten konnten nicht immer mehr selbst Bauern- 
güter erhalten. Interessant ist die Mitteilung über den schnellen Be- 
sitzwechsel des Rittergutes Jacobsdorf: in den Jahren 1730—1852 
wechselte es nicht weniger als fünfzehnmal den Eigentümer (S. 40). 
Man ersieht daraus wiederum, daß die Verhältnisse der alten Zeit keines- 
wegs immer so stabil waren, wie man es sich oft vorstellt. Die Theorie 
von der altslavischen Zadruga wird von der Verfasserin zu zuversicht- 
lich verwandt. Vergleiche dazu meinen Aufsatz „Das kurze Leben 
einer viel genannten Theorie (über die Theorie vom Ureigentum)“ in der 
Beilage der Allg. Zeitung, Jahrgang 1903, Nr. 11 und 12 und 
Seeligers Histor. Vierteljahrschrift, Jahrgang 1904, S. 61 ff Zu 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 839 


wünschen wäre, daß die Verfasserin mehr Hinweise auf die anderen 
Arbeiten zur schlesischen Agrargeschichte, vor allem G. Dessmanns Buch 
„Geschichte der schlesischen Agrarverfassung“ (Straßburg 1904) und 
Opitz’ Arbeit über die Laudemien gegeben und sich mehr mit ihnen 
auseinandergesetzt hätte. Solche Hinweise haben ja nicht dekorative 
Bedeutung, sondern dienen dazu, dem Leser das Studium zu er- 
leichtern. 

Der zweite, umfangreichere Teil der vorliegenden Schrift schildert 
die heutigen sozialen Verhältnisse in Jacobsdorf. Die Verfasserin spricht 
hier auf Grund zuverlässigster und umfassendster Beobachtung (sie ist, 
wie es scheint, die Schwester des jetzigen Besitzers des Ritterguts 
Jacobsdorf). Die Schilderung der jetzigen Verhältnisse und ihre Kritik 
fließen aus ehrlicher Liebe zum Lande. Es werden uns eingehend vor- 
geführt: Lohnverhältnisse, Budgets der Arbeiterfamilien und der Renten- 
empfänger, Arbeitszeit und Gesundheitliches, Wohnungszustände, Fragen 
der Erziehung, Bildung und Sittlichkeit. Obwohl ja die schlesischen 
Verhältnisse nicht als typisch für die ostdeutschen Verhältnisse über- 
haupt gelten können, so wird doch jeder, der der Landarbeiterfrage 
seine Aufmerksamkeit widmet, diese Ausführungen mit Nutzen lesen. 
Eben weil die Verfasserin gut unterrichtet ist, vermag sie anschaulich 
zu zeigen, wie die spezifisch wirtschaftlichen Motive von anderen ge- 
kreuzt werden. So z. B. ist es interessant, daß viele Gutsarbeiter ein- 
fach aus Liebe zu den Pferden dazu geführt werden, ein Gespann zu 
übernehmen, obgleich sie sich damit die Arbeit vermehren (S. 71). Da 
die Verfasserin näher auf die gemütliche Seite im Leben des Land- 
arbeiters und des Baueru eingeht, so mögen dazu noch einige Be- 
merkungen gemacht werden. Einen erhöhten Status erhält das Leben 
der Landleute da, wo die religiöse Bewegung im Volk tiefer Wurzel 
schlägt. Wir finden dann lebhafte Vereinstätigkeit, Organisation, ver- 
mehrte Lektüre; Bauer und Arbeiter, die sonst oft schroff einander 
gegenüberstehen, nähern sich. Diese Bewegung wirkt auch wieder auf 
die wirtschaftliche Tätigkeit. Ein Kollege in Tübingen, ein geborener 
Württemberger, sagte mir, daß in Württemberg die intelligentesten 
Bauern meistens „Pietisten‘ ‘seien. Es wäre gewiß lohnend, Distrikte, 
in denen eine solche, wirklich volkstümliche Bewegung (äußerliche Kirch- 
lichkeit genügt natürlich nicht) besteht, eingehend zu schildern. Der- 
artige Bezirke finden sich nicht bloß z. B. in Württemberg und am Nieder- 
rhein, sondern auch mehrfach in Ostdeutschland. Die Verfasserin spricht 
auch von der Gelegenheit zu heiterer Unterhaltung, die den Landleuten 
geboten wird. Hierzu mag eine Beobachtung notiert werden, die Andrä- 
Roman in seinem Buch „Aus längst vergangenen Tagen“ (Bielefeld und 
Leipzig 1899) macht, daß nämlich die Landleute im Osten Deutschlands, 
im Gegensatz zu denen im Westen, auffallend wenig Sinn für volks- 
tümliche Spiele haben. Ob diese Beobachtung für den ganzen Osten 
zutrifft, darüber wage ich kein Urteil abzugeben. Bei Andrä-Roman 
kann man sich übrigens über ältere Bemühungen der Gutsherrschaft 
für edlere Unterhaltung der Gutsarbeiter (Leseabende u. s. w.) unter- 
richten. 

Freiburg i. B. G. v. Below. 


840 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Adams, Brooks, Das Gesetz der Zivilisation und des Verfalles. Vollständige 
und autorisierte Uebersetzung nach der englischen und französischen Ausg. Mit einem 
Essay von Theodor Roosevelt. Wien, Akademischer Verlag, 1907. gr. 8. XXXII—+440 
SS. M. 10.—. 

Brons, Bernhard, Geschichte der wirtschaftlichen Verfassung und Verwaltung 
des Stiftes Verden im Mittelalter. Münster i. W., Franz Coppenrath, 1907. gr. 8. 
VI—120 SS. mit 1 Karte. M. 2,40. (Münstersche Beiträge zur Geschichtsforschung. 
Neue Folge. XIII.) 

Brunnhofer, Hermann (Priv.-Doz., Bern), Oestliches Werden. Kulturaustausch 
und Handelsverkehr zwischen Orient und Ökzident von der Urzeit bis zur Gegenwart. 
Neuere Essays. Bern, Victor Schlüter, 1907. gr. 8. VI—440 SS. M. 8.—. 

Chamberlain, Housten Stewart, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts. 
2 Hälften. (VIII. Aufl.) Volksausg. München, F. Bruckmann A.G., 1907. 8. XXI 
—1240 SS. M. 6.—. 

Eggert-Windegg, Wilhelm, Eduard Mörikes Haushaltungsbuch aus den 
Jahren 1843 bis 1847. Stuttgart, Strecker & Schröder, 1907. gr. 8. III—18-—34 SS. 
M. 4.—. 

Hübner (Oberstleutn. z. D.), Die französische Sahara. Versuch einer geographisch- 
wirtschaftlichen Studie. Mit einer Kartenskizze und zwei kleinen Skizzen. Leipzig, 
Dieterich’sche Verlagsbuchh., 1907. gr. 8. 76 SS. M. 1,60. 

Karminski, Friedrich (Sekt.-R.), Der Einfluß des russisch-japanischen Krieges 
auf die wirtschaftliche Entwicklung Japans. Wien, Manz, 1907. gr.8. 29 SS. M. 050. 

Rabe, Alexander, Aerztliche Wirtschaftskunde mit besonderer Rücksicht auf 
Buchführung, Gebührenwesen und soziale Gesetzgebung. Leipzig, Werner Klinkhardt, 
1907. Lex.-8. XIV—361 SS. M. 6.—. 

Vallentin, W., Argentinien und seine wirtschaftliche Bedeutung für Deutschland. 
Vortrag. Berlin, Hermann Paetel, 1907. gr. 8. 47 SS. M. 0,40. 

Wirtschaftsvereine, Mitteleuropäische, in Deutschland, Oesterreich und Ungarn. 
Verhandlungen der ersten gemeinsamen Konferenz in Wien 1906. Wien und Leipzig, 
Carl Fromme, 1907. Lex.-8. VIII—263 SS. (Veröffentlichungen der Mitteleuropäischen 
Wirtschaftsvereine, zugleich Heft III der Veröffentlichungen des M.E.W.V. in 
Deutschland.) 


Hocquart de Turtot, E., Le tiers état et les privilèges. Paris, Perrin et C“, 
1907. 8. 286 pag. fr. 3,50. 

Nolte, Alice, Essai sur le Montenegro. Paris, C. Levy, 1907. 16. fr. 6.—. 

Sergi, G., La Sardegna. Note e comenti. Illustrata con tavole e figure. Torino, 
Fratelli Bocca, 1907. VIII—211 pp. 1. 3.—. 


3. Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik. Auswanderung 
und Kolonisation. 


Eisenbahnen, Die, Afrikas. Grundlagen und Gesichtspunkte für eine koloniale 
Eisenbahnpolitik in Afrika. Berlin, C. Heymann, 1907. 4. 363 SS. mit eingedruckten 
Kartenskizzen und 1 farbigen Karte. M. 5.—. 

Erzberger, M. (Reichstags-Abg.), Die Zentrumspolitik im Reichstage, mit beson- 
derer Berücksichtigung der Kolonialpolitik. Eine Uebersicht über die Tätigkeit der 
Zentrumsfraktion in der 11. Legislaturperiode vom 3. Dezember 1903 bis 13. Dezember 
1906. Berlin, Germania, 1907. gr. 8. 79 SS. M. 1,50. 

Falkenhausen, Helene v., Ansiedlerschicksale. 11 Jahre in Deutsch-Südwest- 
afrika 1893—1904. 4. Aufl. Berlin, Dietrich Reimer, 1907. 8. VI—260 SS. M. 3.—. 

Hubert, Lucien, Französisch-Westafrika. Vortrag. Berlin, Dietrich Beimer, 
1907. gr. 8. 35 SS. M. 0,50. 

Kuhn, Philalethes (Stabsarzt), Gesundheitlicher Ratgeber für Südwestafrika. 
Mit Abbildungen im Text und 1 Bildertafel. Berlin, Ernst Siegfried Mittler und Sohn, 
1907. 8. VI—230 SS. M. 3,60. 

Obst, J. G., Unser Kolonialbesitz. Zeitgemäße wirtschaftliche Studie zur Auf- 
klärung für Jedermann. Gotha, Paul Hartung, 1907. gr. 8. 48 SS. M. 1.—. 

Parkinson, R., 30 Jahre in der Südsee. Land und Leute, Sitten und Gebräuche 
im Bismarckarchipel und auf den deutschen Salomoinseln. Herausgeg. von (Dir.-Assist.) 
B. Ankermann. (In 28 Lieferungen.) 1. Lief. Stuttgart, Strecker & Schröder (1907). 
gr. 8. S, 1—32 mit Abbildungen und 2 Tafeln. M. 0,50. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 841 


Passarge, S. (Prof.), Die Buschmänner der Kalahari. Mit 2 Tafeln, 24 Abbil- 
dungen im Text und 1 Karte. Berlin, Dietrich Reimer, 1907. gr. 8. 144 SS. M. 3.—. 

Plehn, H., und Helmut Sarwey, Kolonialpolitik. Im Lichte der kolonialen 
Entwicklung Englands, Frankreichs und Deutschlands. Prenzlau, A. Mieck, 1906. 8. 
109 SS. M. 1.—. (Deutsches Wollen! Eine nationale Bücherei. Bd. 4.) 

Ruhland, G. (Prof.), Kolonialpolitik und Bauernpolitik in den letzten zweieinhalb 
Jahrtausenden. Vortrag. (Veröffentlichung der Landwirtschaftskammer für die Provinz 
Posen.) Posen, Friedrich Ebbecke, 1907. Lex.-8. 20 SS. M. 0,30. (Aus: Landwirt- 
schaftliches Centralblatt für die Provinz Posen.) 

Schwerin-Putzar, Graf v., Besiedelung des platten Landes, mit besonderer 
Berücksichtigung des Kreises Anklam. Vortrag. Anklam, Richard Poetteke Nachi., 
1907. 8. 16 SS. M. 0,20. 

Steuber (Öberstabsarzt), Ueber die Verwendbarkeit europäischer Truppen in 
tropischen Kolonien vom gesundheitlichen Standpunkte. Berlin, Ernst Siegfried Mittler 
und Sohn, 1907. gr. 8. 38 SS. mit 5 Abbildungen. M. 0,80. (Aus: Vierteljahrshefte 
für Truppenführung und Heereskunde.) 

Doucet R., Doit-on aller aux colonies? Paris, Comité Dupleix, 1907. 8. fr. 2,50. 

Mauritanie, La. (Gouvernement général de l’Afrique française. Notices publiées 
par le Gouvernement général A Poccasion de PExposition coloniale de Marseille.) (Mar- 
seille) Éd. Crété, 1907. 8. 122 pag. fr. 3,50. 

Neame, L. E., The Asiatic danger in the colonies. London, Routledge, 1907. 
8. 208 pp. 3/.6. 

Siegfried, André, The race question in Canada. London, Eveleigh Nash, 1907. 
8. VIII—343 pp. 7/.6. 

Cimbali, Eduardo, La politica coloniale conforme al nuovo indirizzo del 
diritto internazionale e alla vera civiltà. Roma 1907. 8. 72 pp. 1. 2,50. 

Italia, D’, all Estero. Rivista quindicinale di politica estera e coloniale. Anno I, 
n? 1, 1° gennaio 1907. Roma, tip. Roma, 1907. 4. 16 pp. 1. 0,20. 

Parisi, G., Storia degli Italiani nell’ Argentina. Roma 1907. 8. 650 pp. 1. 6.—. 


4. Bergbau. Land- und Forstwirtschaft. Fischereiwesen. 


Berichte des landwirtschaftlichen Instituts der Universität Königsberg i. Pr. 
Herausgeg. von (Prof.) Albert. VIII. Das Studium der Landwirtschaft an der Univer- 
sität Königsberg i. Pr. Unter Mitwirkung der Herren Fachdozenten zusammengestellt 
von (Prof.) Albert. Berlin, P. Parey, 1907. Lex.-8. 35 SS. M. 0,50. 

Conradi, A. (Oekonomie-R.), Betriebslehre. 4., verb. Aufl. Berlin, P. Parey, 1907. 
8. 92 SS. M. 1.—. (Landwirtschaftliche Unterrichtsbücher.) 

Frey (Kreisarzt), Die Zinkgewinnung im oberschlesischen Industriebezirk und ihre 
Hygiene seit Erlaß der Bekanntmachung des Bundesrats betr. die Einrichtung und den 
Betrieb der Zinkhütten vom 6. II. 1900. Berlin, August Hirschwald, 1907. gr. 8. 60 SS. 
mit 9 Figuren und 3 Tafeln. M. 2.—. (Erweiterter Sonder-Abdr. aus: Vierteljahrsschrift 
für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitätswesen.) 

Gaucher, Nicolaus (Direktor), Handbuch der Obstkultur. Aus der Praxis für 
die Praxis bearbeitet. 4., vollständig neubearb. Aufl. Mit 625 Original-Holzschnitten 
und 16 Tafeln. (In 20 Lieferungen.) 1. Lief. Berlin, P. Parey, 1907. Lex.-8. S. 1— 
80. M. 1.—. 

John, G. (Landwirt), Bauernpersonalismus. Eine antijunkerliche Abhandlung gegen 
Staatssozialismus, Staatsnationalismus und Bodenreform. Dresden, E. Pierson (1907). 8. 
VII—102 SS. M. 2.—. 

Knispel, Oskar (Bureauvorsteher), Die Verbreitung der Rinderschläge in Deutsch- 
land, nebst Darstellung der öffentlichen Zuchtbestrebungen. 2. Aufl. Dazu 2 Ueber- 
sichtskarten. Berlin, P. Parey, 1907. Lex.-8. XVI—237 SS. M. 5.—. (Arbeiten der 
deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft. Heft 23.) 

Lemberg, Heinrich, Die Steinkohlenzechen des niederrheinisch - westfülischen 
Industriebezirks, des Aachener Bezirks und des Saargebiets, der Pfalz und von Elsaß- 
Lothringen sowie die Braunkohlengruben des rheinischen Braunkohlengebiets. 13. Aufl. 
Dortmund, C. L. Krüger, 1907. 8. IV—189 SS. M. 3.—. 

Marx, W., Bilder und Skizzen aus der Landwirtschaft. Mit 33 Abbildungen. 
Wien, Carl Gerold’s Sohn, 1907. 8. VIII—408 SS. M. 5.—. (Archiv für Landwirt- 
schaft. XLII.) 


842 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Maucher, Wilhelm (Dipl.-Ing.), Die sächsischen Erz- und Kohlenvorkommen. 
Anhang zum Leitfaden für den Geologie-Unterricht an Bergschulen. Freiberg (Sa.), 
Craz & Gerlach, 1907. 8. 40 SS. M. 1.—. 
~ Niess, Hermann (Berginspektions - Assist.), Die Bekämpfung der Wassersand- 
(Schwimmsand-) Gefahr beim Braunkohlenbergbau. Freiberg (Sa.), Craz & Gerlach, 1907. 
Lex.-8. 104 SS. mit 19 Skizzen. M. 3,60. 

Rau, Gustav, Die Not der deutschen Pferdezucht. Stuttgart, Schickhardt & Ebner, 
1907. gr. 8. VIII—256 SS. M. 4.—. 

Rodewald, H. (Prof.), und H. Quante, Die Hafer-Anbauversuche der deutschen 
Landwirtschafts-Gesellschaft in den Jahren 1901—1904. In Bezug auf die Kornerträge 
besprochen und berechnet nach den Regeln der Ausgleichungsrechnung. Berlin, P. Parey, 
1907. Lex.-8. VII—51 SS. M. 1.—. (Arbeiten der deutschen Landwirtschafts-Gesell- 
schaft. Heft 125.) 

Rümker, K. v. (Prof.), Tagesfragen aus dem modernen Ackerbau. 1. Heft. Der 
Boden und seine Bearbeitung. 3., neubearb. Aufl. Berlin, P. Parey, 1907. gr. 8. 
62 SS. M. 0,80. 

Schultze, Leonhard (Priv.-Dozent), Die Fischerei an der Westküste Süd-Afrikas. 
Bericht über Untersuchungen au der deutsch-s-w-afrikanischen Küste und am Kap der 
guten Hoffnung, der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amts erstattet. Mit 12 Tafeln. 
Berlin, Otto Salle, 1907. Lex.-8. VI—57 SS. M. 4.—. (Abhandlungen des deutschen 
Seefischerei-Vereins. Bd. 9.) 

Stolzenwald (Hütteningenieur), Zinkgewinnung. Mit 19 Abbildungen. Hannover, 
Max Jänecke, 1907. kl. 8. 83 SS. M. 1,40. (Bibliothek der gesamten Technik. 
Bd. 41.) 

Struck, Hermann, Ernst Mahnkopf und Wilhelm Kegel, Aus der 
Praxis der Binnensee- und Flußfischerei. 3 Vorträge. Neudamm, J. Neumann, 1907. 
Lex.-8. 65 SS. M. 1,60. 

Sydow, E. (Pastor), Der Arbeitermangel auf dem Lande. Berlin, J. Harrwitz 
Nachf., 1907. 8. 18 SS. M. 0,50. 

Sympher (Geh. Ober-Bau-R.), Der Talsperrenbau in Deutschland. Nach der Fest- 
rede zum Schinkelfest des Architekten-Vereins zu Berlin am 13. März 1907. Berlin, 
W. Ernst & Sohn, 1907. Lex. 8. 34 SS. mit 25 Abbildungen. M. 0,50. (Aus: Zentral- 
blatt der Bauverwaltung.) 

Teleki, Andor, Die Rekonstruktion der Weingärten mit Rücksicht auf die rich- 
tige Auswahl der amerikanischen Unterlagsreben. 2., vollständig umgearb. und bedeutend 
erweiterte Aufl. Wien, A. Hartleben, 1907. gr. 8. VII—200 SS. mit 23 Abbildungen. 
M. 4.—. 

Wimmenauer, Karl (Geh. Forst-R.), Grundriß der Waldertragsregelung 
Frankfurt a. M., J. D. Sauerländer, 1907. gr. 5. 48 SS. M. 1.—. 

Wlachoff, Christo, Die landwirtschaftliche Entwickelung Bulgariens. Diss. 
Sofia, Christo Wlachoff, 1907. 8. X—81 SS. mit 4 Tabellen. M. 1,50. 

Wölfer (Landwirtschafts-Lehrer), Grundsätze und Ziele neuzeitlicher Landwirtschaft. 
2., neubearb. u. verm. Aufl. Berlin, P. Parey, 1907. gr. 8. XlI—504 SS. M. 6.—. 


Simiand, Francois, Le salaire des ouvriers des mines de charbon en France. 
Contribution à la théorie économique du salaire. Paris, Édouard Cornély & C", 1907. 
8. 520 pag. fr. 10.—. 

Cyclopedia of American Agriculture. Edited by L. H. Bailey. In 4 volumes. 
Vol. 1 — Farms. New York, The Macmillan Company, 1907. 4. XVI—618 pp. $ 5.—. 

Slater, Gilbert, The English peasantry and the enclosure of common fields. 
London, Archibald Constable & C°., 1907. Cr. 8. VII—337 pp. 10/.6. (Studies in 
Economics and Political Science. N°. 14.) 

Webb, Wilfred Mark, The principles of horticulture, A series of practical 
scientific lessons. London, Blackie, 1907. 4. 136 pp. 2/.—. 


5. Gewerbe und Industrie. 


Arbeitsnachweis, Der. Mitteilungen des Reichsverbandes der allgemeinen Ar- 
beitsvermittelungsanstalten Oesterreichs. Herausgeg. von (Prof.) Ernst Mischler (Graz) 
und (Bezirkskommissär) Rudolf von Fürer (Troppau). Jahrg. 1, Heft 1, 1. Jänner 1907. 
Troppau, Otto Gollmann. gr. 8. M. 1.—. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 843 


Dasbach, G. F. (Reichs- u. Landtags-Abg.), Soll das deutsche Buchdruckgewerbe 
und damit die deutsche Presse und Literatur von der Sozialdemokratie abhängig werden ? 
Trier, Paulinus-Druckerei, 1907. gr. 8. 96 SS. M. 0,75. 

Denkschrift des Arbeitgeberverbandes für das Buchdruckgewerbe an die Hohen 
Staatsregierungen, die Mitglieder der Parlamente, die Kommunalverwaltungen und alle 
vaterlandsliebenden Staatsbürger. Berlin, Fr. Zillessen, 1907. 4. 28 SS. M. 1.—. 

Ehrhardt, R. (Fabrikdirektor), Die Kaliindustrie. Mit 25 Fig. im Text und 
1 graphischen Darstellung. Hannover, Max Jünecke, 1907. kl. 8. 76 SS. M. 1,40. 
(Bibliothek der gesamten Technik. Bd. 26.) 

Freytag, E. (General-Direktor a. D.), Die Laufbahn des Ingenieurs. Hannover, 
Max Jünecke, 1907. 8. 209 SS. M. 4.—. 

Fromm, Max, Das Mühlengewerbe in Baden und in der Rheinpfalz. Karlsruhe, 
Braunsche Hofbuchdruckerei, 1907. gr. 8. 153 SS. M. 2,50. (Volkswirtschaftliche Ab- 
handlungen der Badischen Hochschulen. Bd. IX. Heft 4.) 

Giesberts, J. (Reichstags-Abg.), Die christlichen Gewerkschaften in der Arbeiter- 
bewegung, der Volkswirtschaft und im öffentlichen Leben. Vortrag. Cöln, Generalsekre- 
tariat der christl. Gewerkschaften Deutschlands, 1907. 8. 55 SS. M. 0,50. (Schriften 
des Ges:mtverbandes der christlichen Gewerkschaften Deutschlands. Heft 8.) 

Goldschmidt, Karl, Die deutschen Gewerkvereine (Hirsch-Duncker). Eine 
kurzgefußte Geschichte ihrer Begründung und Entwickelung. Berlin, Verband der deut- 
schen Gewerkvereine, 1907. 8. 68 SS. M. 0,80. 

Haushofer, Max (Prof.), Der Industriebetrieb. Ein Handbuch der Geschäfts- 
lehre für technische Beamte, Industrielle, Kaufleute ete. sowie zum Gebrauche an tech- 
nischen Hochschulen. 2., vollständig umgearb. Aufl. (Neue [Titel-] Ausg.) München, 
A. H. Müller (1907). gr. 8. XI—423 SS. M. 10.—. 

Heilborn, Otto (Ger.-Assess.), Die „freien“ Gewerkschaften seit 1890. Ein Ueber- 
blick über ihre Organisation, ihre Ziele und ihr Verhältnis zur sozialdemokratischen Partei. 
Jena, Gustav Fischer, 1907. gr. 8. VI—197 SS. M. 4.—. 

Kalisky, Käthe, Die Hausindustrie in Königsberg i. Pr. mit besonderer Berück- 
sichtigung der Lage der Arbeiter und Arbeiterinnen. Leipzig, Duncker & Humblot, 1907. 
gr. 8. 57 SS. M. 1,40. 

Michel, Hugo (Civil-Ingenieur), Anleitung zum Erfinden. Ein Weg zum Reich- 
tum. Berlin, Deutsche Verlagsanstalt Patrig (1907). gr. 8. 128 SS. M. 3.—. 

Müller, Albert (Rechtsanwalt), Die Rechtsformen der Kartelle. (Diss.) Stutt- 
gart, Carl Grüninger, 1907. 8. 58 SS. M. 1.—. 

Müller, Fr., Ferdinand von Steinbeis. Sein Leben und Wirken 1807—1893. 
Eine Gedenkschrift. Mit einem biographischen Begleitwort von R. Piloty. Mit 2 Por- 
träts. Tübingen, H. Laupp, 1907. 5. gr. 8. VI—215 SS. M. 3.—. 

Pannekoek, Anton, Der Kampf der Arbeiter. 7 Aufsätze aus der Leipziger 
Volkszeitung. Leipzig, Leipziger Buchdruckerei Aktiengesellschaft, 1907. 8. 31 SS. 
M. 0,20. 

Sondermann, Franz, Geschichte der Eisen-Industrie im Kreise Olpe. Ein 
Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte des Sauerlandes. Münster (Westf.), Franz Coppenrath, 
1907. gr. 8. VIII —173 SS. mit 1 Karte. M. 3,50. (Münstersche Beiträge zur Geschichts- 
forschung. Neue Folge. X.) 

Tänzler, Fritz (Syndikus), Die Hauptstelle Deutscher Arbeitgeberverbände. 
2. veränderte u. verm. Aufl. Berlin, J. Guttentag, 1907. gr. 8. 52 SS. M. 1.—. 
(Schriften der Hauptstelle Deutscher Arbeitgeberverbände. Heft II.) 

Troeltsch, Walter, Das Problem der Arbeitslosigkeit. Kaisergeburtstagsrede. 
Marburg, N. G. Elwert’sche Verlagsbuchh., 1907. gr. 8. 46 SS. M. 0,75. (Marburger 
akademische Reden. N’. 17.) 

Merlin, Roger, Le contrat de travail, les salaires, la participation aux bénéfices. 
Paris, Felix Alcan, 1907. 8. 164 pag. fr. 2,50. 

Black, Clementina, Sweated industry and the minimum wage. With an intro- 
duction by A. G. Gardiner. London, Duckworth & C°., 1907. 8. XXIV—281 pp. 3/.—. 

MacDonald, J. Ramsay, Labour and the Empire. London, G. Allen, 1907. 
18. XV—112 pp. 1/.—. (Labour Ideal Series.) 

Macrosty, Henry W., The trust movement in British industry. A study of 
business organisation. London, Longmans, Green, and Co., 1907. 8. XVI—398 pp. 9/.—. 


844 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Borri, Lorenzo (prof.), Gli infortuni del lavoro sotto il rispetto medico-legale. 
Fasc. 1—4. Milano, Società editrice libraria, 1907. 8. p. 1—192. 1. 4.—. 


6. Handel und Verkehr. 


Behrend, Enquĉte über die weiblichen Handlungsangestellten, veranstaltet von 
der Handelskammer zu Magdeburg. Magdeburg, Heinrichshofen’sche Buchh. (1907). 
Lex.-8. 26 SS. M. 0,75. 

Findeisen, C. F. (Prof.), Leitfaden der Handelswissenschaft. Neu bearb. von 
(Handelsschul-Dir.) H. Messien. 11. Aufl. Leipzig, Ferdinand Hirt & Sohn, 1907. gr. 8. 
123 SS. M. 1,50. 

Görk, Friedrich (Buchhalter), Lehrbuch der deutschen doppelten Buchführung. 
Neue, einfachste und übersichtlichste Form der doppelten Buchführung. Praktisch be- 
arbeitet. 2., genau durchgesehene Aufl. Leipzig, Verlag der modernen kaufmännischen 
Bibliothek (1907). 8. VIII—11S SS. M. 2,75. (Moderne kaufmännische Bibliothek.) 

Hintze, Otto (Prof.), Die Seeherrschaft Englands, ihre Begründung und Be- 
deutung. Ein Vortrag. Dresden, von Zahn & Jaensch, 1907. gr. 8. 35 SS. M. 1.—. 
(Neue Zeit- und Streit-Fragen. Jahrg. 4, Heft 9.) 

Juritsch, Georg, Handel und Handelsrecht in Böhmen bis zur husitischen 
Revolution. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte der österreichischen Länder. Nach 
Quellen bearbeitet. Wien, Franz Deuticke, 1907. gr. 8. XVI—126 SS. M. 4.—. 

Kohlmann, Ludwig (Bücherrevisor), Die Theorien unserer Doppel-Buchhaltung 
und ihre Anwendung in der Praxis. Linz, Zentraldruckerei vorm. E. Mareis, 1907. 
gr. 8. IV—299 SS. mit 1 Tabelle. M. 5.—. (Aus: Zeitschrift für Buchhaltung.) 

Laris, Eugen, Holzproduktion, Holzverkehr und Holzhandelsgebräuche in 
Deutschland. (Neue Folge der Handels-Usancen im Weltholzhandel und -Verkehr.) 
Eisenach, E. Laris Nachfolger, 1907. gr. 8. VIII—349 SS. M. 6.—. 

Lehrbuch der Handelswissenschaft. Unter Mitarbeiterschaft von Claussen, Eckert, 
C. Fischer u. a. herausgeg. von (Prof.) Alfr. Manes. Leipzig, Jacobi & Quillet, 1907. 
Lex.-8. VIII—870 SS. M. 10.—. 

Oetelshofen, G., Das Schutzzoll- und Prämienproblem. Eine volkswirtschaftliche 
Studie. Köln, Paul Neubner (1907). 69 SS. M. 2.—. 

Persuhn, Werner (Postdirektor a. D.), Unser Postwesen. Stuttgart, Ernst 
Heinrich Moritz (1907). 8. 176 SS. M. 1,50. (Bibliothek d. Rechts- u. Staatskunde, 
Bd. 20.) 

Saenger, S., Die wirtschaftlichen Aussichten des britischen Imperialismus. Vortrag. 
Berlin, Leonhard Simion Nf., 1907. gr. 8. 34 SS. M. 1.—. (Volkswirtschaftliche Zeit- 
fragen. Heft 226.) 

Söderberg, Gunnar, Die Handelsbeziehungen zwischen Schweden und Deutsch- 
land. Diss. Stockholm, C. E. Fritze’sche Hofbuchh., 1906. 8. V—1S0 SS. M. 3,20. 

Werden und Wirken des Verbandes deutscher Handlungsgehülfen zu Leipzig von 
1881—1906. Zur Feier seines 2djährigen Bestehens. Leipzig, Verband deutscher Hand- 
lungsgehülfen (1906). gr. 8. 108 SS. M. 0,30. (12. Schrift des Verbandes deutscher 
Handlungsgehülfen zu Leipzig.) 

Freeman, W. G., and S. E. Chandler, The world’s commercial products. 
London, J. Pitman, 1907. 4. 432 pp. 10/.6. 

Higinbotham, Harlow N., The making of a merchant. London, Nash, 1907. 
Cr. 8. 210 pp. 2/.6. 


7. Finanzwesen. 

Arndt, Adolf (Prof.), Schiffahrtsabgaben, in welchen Fällen und bis zu welcher 
Höhe sie zulässig sind. Berlin, O. Häring, 1907. gr. 8. 45 SS. M. 1,20. 

Delbrück, Denkschrift von 1548 über die Regelung der Verhältnisse der deutschen 
Wasserstraßen in der Reichsgesetzgebung, insbesondere über die Erhebung von Abgaben 
auf den deutschen Wasserstraßen. Im Auftrage der Handelskammer Dresden heraus- 
geg. von A. Karst. Dresden, C. Heinrich, 1907. Lex.-8. IV—19 SS. M. 0,80. 

Kumpmann, Karl, Die Wertzuwachssteuer. Tübingen, H. Laupp, 1907. gr. 8. 
VIII—124 SS. M. 3,60. (Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. Ergänzungs- 
heft 24.) 

Lippe, A. v. d. (Generalmajor a. D.), Ein mitteleuropäischer Zollbund. Berlin, 
Wilhelm Süsserott (1907). gr. 8. 16 SS. M. 0,50. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.. 845 


Ludwig, Wilhelm (Handels-Akad.-Doz.), Lehrbuch der politischen Arithmetik. 
Wien, Carl Fromme, 1907. gr. 8. IV—188—32 SS. M. 3,75. 


8. Geld-, Bank-, Kredit- und Versicherungswesen. 


Buff, Siegfried, Der gegenwärtige Stand und die Zukunft des Scheckverkehrs 
in Deutschland. München, Ernst Reinhardt, 1907. gr. 8. 112 Ss. M. 2,50. 

Calmes, Albert (Dozent an d. Handelshochschule in Berlin), Das Geldsystem 
des Großherzogtums Luxemburg. Leipzig, Duncker & Humblot, 1907. gr. 8. 68 SS. 
M. 2.—. 

Dilloo, Wilhelm, Pensionseinrichtungen für Privatbeamte. Ein Wegweiser zur 
Schaffung und Reorganisierung von Beamtenpensionseinrichtungen bei Privatunter- 
nehmungen. Berlin, C. Heymann, 1907. gr. 8. VIII—204 SS. M. 4.—. (Schriften 
der Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen. Nr. 32.) 

Durmayer, A., Das Recht der öffentlichen Vieh- und Pferde-Versicherungs- 
Vereine Bayerns, systematisch dargestellt. Diss. Speyer (Dr. Jäger) 1907. gr. 8. VI 
—145 SS. M. 2.—. 

Grossmann, Ludwig, Fragmente neuerer mathematisch-technischer Disziplinen 
der Versicherungs- und Finanzwissenschaft, begründet auf Ergebnissen selbständiger, 
exakt wissenschaftlicher Forschung; mit Kommentaren und Ergünzungen zu dem Werke 
„Die Mathematik im Dienste der Nationalökonomie“. 2. Teil. Wien, Ludwig Grossmann, 
1906. Lex.-8. 68 SS. M. 5.—. 

Lausberg, C. (1. Bibliothekar), Die Vereinigung von Sparkasse und Volksbiblio- 
thek. Ein Vorschlag. Leipzig, O. Harrassowitz, 1907. 8. 12 SS. M. 0,50. (Aus: 
Blätter für Volksbibliotheken und Lesehallen.) 

Pape, Richard (Handwerkskammer-Syndikus), Erwerbs- und Wirtschaftsgenossen- 
schaften. Berlin, H. Hillger, 1907. kl. 8. 95 SS. mit 1 Bildnis. M. 0,30. (Hillger’s 
illustrierte Volksbücher. 73.) 

Rocke (Handelskammer-Syndikus) und (Handelskammer-Assist.) Limburg, Was 
jeder Kaufmann vom Versicherungswesen wissen muß! Gemeinverständlich und für 
den praktischen Gebrauch dargestellt. Hannover, Selbstverlag, 1906. 8. 88 SS. 
M. 1,60. 

Roubi@ek, Hermann, Technik der Lebensversicherung. Ein Leitfaden für 
Beamte, Agenten und für jeden, welcher für das Versicherungswesen ein Interesse hat. 
Prag, K. Andrösche Buchh., 1907. gr. 8. 109 SS. M. 3.—. 

Sartorius Freiherr von Waltershausen, A., Das volkswirtschaftliche 
System der Kapitalanlage im Auslande. Berlin, Georg Reimer, 1907. gr. 8. I1I—442 SS. 
M. 10.—. 

Schnitzler, Ferdinand (Regier.-R.), Drei Vorträge über das Versicherungs- 
wesen. Brünn (C. Winkler) 1907. 8. 61 SS. M. 0,30. (Sammlung gewerblicher 
Vorträge. Herausgeg. vom mährischen Gewerbeverein in Brünn. II.) 

Spangenthals Auskunftsbuch über Wertpapiere. 6. Aufl. Berlin-Charlottenburg, 
S. Spangentlhal, 1907. kl. 8. IV—717 SS. M. 4,50. 

Walling, E. (Bankdirektor), Der Verkehr des Publikums mit der Reichsbank 
und deren Nebenanstalten. Leipzig, Gustav Weigel (1907). 8. VII—87 SS. M. 1.—. 

Weilandt, C., Die Vieh-Rückversicherung von Ortsviehversicherungs-Vereinen. 
Vorschläge zur Reform der Viehversicherung. Berlin, C. Weilandt, 1907. 8. 22 SS. 
M. 1.—. (Aus: Mitteilungen für Versicherungs- Vereine.) 

Zacher (Geh. Reg.-R.), Die Arbeiter-Versicherung im Auslande. 17. Heft. Die 
Arbeiter-Versicherung in den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika. Bearb. von 
(Arbeiterversich.-Komm.-Sekr.) Charles Richmond Henderson. Grunewald-Berlin, A. 
Troschel, 1907. Lex.-8. 64—131 SS. M. 6.—. 

Zahner, Josef (Öberkontrolleur), Unsere Postsparkasse, ein österreichischer Erfolg. 
Vortrag. Wien, Wilhelm Frick, 1907. gr. 8. 36 SS. M. 0,80. (Aus: Zeitschrift für 
Post und Telegraphie.) 


Mazerolle, F., La monnaie. Paris, H. Laurens, 1907. 8. fr. 7.—. 

Poley, A. P., and F. H. Carruthers Gould, The history, law, and practice 
of the stock exchange. London, J. Pitman, 1907. 8. IV—338 pp. 5/.—. 

Wolff, Henry W., Co-operative banking, its principles and practice, with a 
chapter on co-operative mortgage-eredit. London, P. S. King and Son, 1907. 8. XI 
—301 pp. 7.6. 


846 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Leva, Giovanni, La borsa e il suo meccanismo. Manuale pratico dell’ azionista 
e del piccolo capitalista, Torino 1907. 16. 120 pp. 1. 1,50. 


9. Soziale Frage. 

Biederlack, Josef (S. J.), Die soziale Frage. Ein Beitrag zur Orientierung 
über ihr Wesen und ihre Lösung. 7. Aufl. Innsbruck, Fel. Rauch’s Buchh., 1907. 8. 
xX—304 SS. M. 2,40. 

Brügelmann, Wilhelm (Sanitäts-R.), Die Frauenbewegung im besonderen und 
die soziale Bewegung im allgemeinen. Vom wissenschaftlichen Standpunkt betrachtet. 
Leipzig, Georg Thieme, 1907. gr. 8. VIII—106 SS. M. 2.—. 

Burns, John (Parlaments-Mitglied), Arbeit und Trunk. Vortrag. Uebersetzt von 
G. Wilder. Wien, Brüder Suschitzky, 1907. 8. 63 SS. M. 0,40. 

Dufour, Geschichte der Prostitution. 3 Bde. in je 2 Teilen. 5. [Titel-]Aufl. 
Groß-Lichterfelde-Ost, P. Langenscheidt (1907). Lex.-8. XVI—219, 220, 211, 223, 215, 
239 SS. M. 30.—. 

Key, Ellen, Das Jahrhundert des Kindes. Studien. Volksausg. in gekürzter 
und veränderter Form. (Uebertragen von Francis Mars.) 1.—6. Tausend. Berlin, 
8. Fischer, 1907. kl. 8. 230 SS. M. 1,50. 

Kraepelin, Emil (Prof.), (Dir) Friedrich Vocke und Hugo Lichten- 
berg, Der Alkoholismus in München. München, J. F. Lehmann’s Verlag (1907). gr. 8. 
31 SS. M. 0,60. 

Miethke, W., Skizzen zur Alkoholfrage. Kurze Sammlung wichtigen Materials. 
Herausgeg. von der ständigen Ausstellung über den Alkoholismus. Bremen, Otto 
Melchers (1907). 8. 31 SS. mit Abbildungen. M. 0,20. 

Ramus, Pierre, Mutterschutz und Liebesfreiheit. Berlin, Communistische Ver- 
lags-Anstalt, 1907. 8. 11 SS. M. 0,20. 

Voigt, Andreas (Prof.), Zum Streit um Kleinhaus und Mietkaserne. Eine Ant- 
wort auf die Angriffe von Dr. Rudolf Eberstadt in Berlin und Prof. Dr. Carl Johannes 
Fuchs in Freiburg i. B. Dresden, O. V. Böhmert, 1907. gr. 8. 31 SS. mit Figuren. 
M. 0,50. 


Bettencourt, Victor, et R. P. Rutten, Une fondation nécessaire. Les secré- 
tariats d'œuvres sociales. Paris, Victor Lecoffre, 1907. 98 pag. fr. 1.—. 

Starke, J., Alcohol, the sanction for its use scientifically established. London, 
Putnam's Sons, 1907. Cr. 8. 6/.—. 

Sutter, Julie, Britain’s hope. An open letter concerning the pressing social 
problems to the Rt. Hon. John Burns, M. P. London, J. Clarke, 1907. Cr. 8. 160 pp. 1/.6. 

Pistolese, Amedeo, Alcoolismo e delinquenza: studio sociologico-giuridico, con 
prefazione del prof. Napoleone Colajanni. Torino, Unione tipografico-editrice, 1907. 8. 
XV—235 pp., 4 diagrammi e 32 tavole. 1. 5.—. 

Sollima, Pasquale, I predisposti contro la vita: suicidi, omicidi, omicidi-suicidi. 
Studio di patologia sociale. Roma 1907. 8. 213 pp. l. 4.—. 


10. Gesetzgebung. 

Finger, Chr. (Landgerichts.-R.), Reichsgesetz zur Bekämpfung des unlauteren 
Wettbewerbs vom 27. Mai 1596 nebst dem Rechte an Namen (§ 12 BGB.) und § 826 
BGB. Erläutert. 2. Aufl. Berlin, Franz Vahlen, 1907. gr. 8. VI—402 SS. M. 9.—. 

Frank, Alfons (Amtsger.-R. a. D.), Verkehrsleben und Rechtsentwickeluug. Ein 
Vorschlag zur einfacheren und volkstümlicheren Gestaltung von Verfassung und Ver- 
fahren der Gerichte. Freiburg i/B., J. Bielefeld, 1907. 8. 14 SS. M. 0,50. 

Fuchs, Ernst (Rechtsanwalt, Karlsruhe i. B.), Schreibjustiz und Richterkönigtum. 
Ein Mahnruf zur Schul- und Justizreform. Leipzig, Teutonia-Verlag, 1907. gr. 8. 
115 SS. M. 2.—. 

Haenschke, Richard (Rechtsanwalt), Das bürgerliche Gesetzbuch. Volkstūm- 
lich bearbeitet. Berlin, Schriftenvertriebsanstalt (1907). kl. 8. 160 SS. M. 1.—. 

Haerdtl, Heinrich Frhr. v., Das Privatbeamtenversicherungsgesetz. Vorträge. 
Ausgearb. durch Friedrich Ritter v. Haymerle. Wien, Carl Fromme, 1907. Lex.-8. 
48 SS. M. 0,85. 

Ingwer, J., und J. Rosner, Volkstümliches Handbuch des österreichischen 
Rechtes. 2. verm. u. umgearb. Aufl. 1. Bd.: Verfassungsrecht— Verwaltungsrecht. Wien, 
Wiener Volksbuchh. (1907). gr. 8. IV—812 SS. M. 7.—. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 847 


Knapp, Hermann, Die Zenten des Hochstifts Würzburg. Ein Beitrag zur Ge- 
schichte des süddeutschen Gerichtswesens und Strafrechts. Mit Unterstützung der Savigny- 
stiftung herausgegeben. I. Bd. Die Weistümer und Ordnungen der Würzburger Zenten. 
1. und 2. Abteilung. Berlin, J. Guttentag, 1907. gr. 8. XII—IV—1405 SS. mit 
3 farbigen Tafeln. M. 45.—. 

Niemeyer, Th., Internationales Recht und nationales Interesse. Rektoratsrede. 
Kiel (Lipsius & Tischer) 1907. gr. 8. 18 SS. M. 0,60. 

Pilenko, Alex (Privatdozent, Petersburg), Das Recht des Erfinders. Die Privi- 
legien auf Erfindungen und ihr Schutz im russischen und internationalen Recht. 
Historisch-dogmatische Untersuchung. Vom Verfasser genehmigte Uebersetzung von 
M. Augustin. Durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von F. Siebenbürgen. 
Berlin, C. Heymann, 1907. gr. 8. XX—704 SS. M. 16.—. 

Schneider, Kurt (Med.-R.), Das preußische Gesetz betreffend die Bekämpfung 
übertragbarer Krankheiten vom 28. August 1905 und die Ausführungs-Bestimmungen 
dazu in der Fassung vom 15. September 1906. Nebst dem Text des Reichsgesetzes, 
betr. die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten vom 30. Juni 1900. Erläutert. 
Breslau, J. U. Kern, 1907. 8. VII—230 SS. M. 5.—. 

Staub’s Kommentar zur allgemeinen deutschen Wechselordnung. 5. Aufl., benrb. 
von J. Stranz und M. Stranz. Berlin, J. Guttentag, 1907. gr. 8. VIII—315 SS. M. 7,50. 

Uth, H. (Rechtsanwalt, Düsseldorf), Zur Auslegung des $ 150 des Allgemeinen 
Berggesetzes. Berlin, J. Guttentag, 1907. gr. 8. VIII—-63 SS. M. 1,50. 

Vargha, Julius (Prof.), Das Strafprozeßrecht, Systematisch dargestellt. 2. verm. 
Aufl. Berlin, C. Heymann, 1907. gr. 8. XII—468 SS. M. 10.—. (Kompendien des 
österreichischen Rechtes.) 

Werner, Die Aktien-Zeichnung als Grundlage für die Gründung der Aktien-Ge- 
sellschaft. Ein Beitrag zur Erforschung der Rechtsnatur der Aktienzeichnung. Gotha, 
Verlagsanstalt und Druckerei (H. Bartholomäus) (1907). gr. 8. 63 SS. M. 1,50. 


Tardieu, Basset, Smet et Carrière, Traité théorique et pratique de la 
législation des pensions de retraite. Paris, P. Dupont, 1904. 4. fr. 20.—. 

Notizie sull’ applicazione della legge 19 giugno 1902, n. 242, sul lavoro delle 
donne e dei fanciulli. (Ministero di agricoltura, industria e commercio: ufficio del 
lavoro.) Roma 1907. 4. 245 pp. l. 3.—. 


11. Staats- und Verwaltungsrecht. 


Brauchitsch, M. von, Die neuen preußischen Verwaltungsgesetze. Nach dem 
Tode des Verfassers umgearb., fortgeführt und herausgeg. von von Studt und von Braun- 
behrens. 7. Bd. Berlin, C. Heymann, 1907. gr. 3. XKII—646 SS. M. 10.—. 

Dreger, A. (Geheim-R.), Die Berufswahl im Staatsdienste. 9. Aufl., neu bearb. 
u. verm. von W. A. Dreger. Dresden, C. A. Koch, 1907. 8. VIII—375 SS. M. 3,60. 

Hage, Paul, Grundriß der deutschen Staats- und Rechtskunde. Wegweiser für 
unser öffentliches Leben. Mit 7 Abbildungen, 2 Karten und ausführlichem Register, 
2. durchgesehene [Titel-]Aufl. Stuttgart, P. Hobbing (1907). 8. XXVIII—230 SS, 
M. 1,20. 

Heere, Reinhold, Rechts- und Bürgerkunde für das tägliche Leben. Dem Ge- 
brauch in der gewerblichen Fortbildungsschule gewidmet. Wittenberg, R. Herrose, 1907. 
8. XXI-528 SS. M. 3,80. 

Koppel, A., Die Lage der Gemeindebeamten Preußens. Im Auftrage und auf 
Grund einer Erhebung des Zentralverbandes der Gemeindebeamten Preußens. Mit einem 
Vorwort des Verbandsvorstandes. Berlin (R. Kühn) 1907. gr. 8 VIII—311 SS. mit 
1 Tabelle. M. 4,50. 

Petsch, Reinhold, Verfassung und Verwaltung Hinterpommerns im 17. Jahr- 
hundert bis zur Einverleibung in den brandenburgischen Staat. Leipzig, Duncker & Hum- 
blot, 1907. gr. 8. XIV—271 SS. M. 6,50. (Staats- und sozialwissenschaftliche For- 
schungen. Heft 126.) 

Schmidt, Alfred, Niccolò Machiavelli und die allgemeine Staatslchre der 
Gegenwart. Karlsruhe, G. Braunsche Hofbuchdruckerei, 1907. gr. 8. 106 SS. M. 2,40. 
(Freiburger Abhandlungen aus dem Gebiete des öffentlichen Rechts. Heft XI.) 


Stubbs, W., Histoire constitutionnelle de l’Angleterre, Édition française, avec 
introduction, notes et études historiques inédites, par Ch. Petit-Dutaillis, Traduction de 


848 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 


Vanglais d’après la dernière édition, par G. Lefebvre. Tome I. Paris, Giard et Brière, 
1907..8. fr. 16.—. (Bibliothèque internationale de droit public.) 

Creasy, Sir Edward, The rise and progress of the English Constitution. 17% 
edition, revised. London, Macmillan & Co., 1907. Cr. 8. 348 pp. 3/.6. 

Dealey, James Quayle (Prof.), Our state constitutions. Philadelphia, The 
American Academy of Political and Social Science, 1907. 8. 98 pp. (Supplement to 
The Annals of the American Academy of Political and Social Science. March, 1907.) 


12, Statistik. 
Allgemeines. 


Elderton, W. Palin, Frequeney-curves and correlation. Published for the In- 
stitute of Actuaries by Charles and Edwin Layton. London 1907. 8. 7/.6. 


Deutsches Reich. 


Drucksachen des Kaiserlichen Statistischen Amts, Abteilung für Arbeiterstatistik. 
Erhebungen Nr. 7. Erhebung über die Arbeitszeit im Binnenschiffahrts - Gewerbe. 
Bearb. im Kaiserlichen Statistischen Amt, Abteilung für Arbeiterstatistik. Berlin, C. 
Heymann, 1907. Imp.-4. IV—87 SS. M. 0,80. 

Drucksachen des Beirats für Arbeiterstatistik. Verhandlungen. Nr. 17. Proto- 
kolle über die Verhandlungen des Beirats für Arbeiterstatistik vom 22. März 1907. 
Berlin, C. Heymann, 1907. Imp.-4. I11I—-6—32 SS. M. 0,40. 

Mitteilungen zur deutschen Genossenschaftsstatistik für 1905. Bearb. von (Prof.) 
A. Petersilie. Berlin, Verlag des Königlich Preußischen Statistischen Landesamts, 1907. 
Imp.-4. 1V—86—78 SS. M. 3,60. (Zeitschrift des Königlich Preußischen Statistischen 
Landesamts. Ergänzungsheft XXVI.) 

Statistik des Deutschen Reichs. Bearb. im Kaiserlichen Statistischen Amt. Bd. 
174, III—IV. Die Seeschiffahrt im Jahre 1905. Teil 3 u. 4. Seeverkehr in den 
deutschen Hafenplätzen — Seereisen deutscher Schiffe. Berlin, Puttkammer & Mühl- 
brecht, 1907. Imp.-4. 152—110—-40 SS. M. 4.—. — Bd. 179, IIIb. Die Strom- 
gebiete des Deutschen Reichs. Hydrographisch und orographisch darpestellt mit be- 
schreibendem Verzeichnis der deutschen Wasserstraßen. Teil IIIb: Gebiet der Donau. 
Ebenda 1907. Imp.-4. 51 SS. M. 1.—. 

Statistik, Preußische. (Amtliches Quellenwerk.) Herausgeg. in zwanglosen 
Heften vom Königlich Preußischen Statistischen Landesamt in Berlin. 202. Statistik der 
Landwirtschaft (Anbau, Saatenstand, Ernte, Hagelwetter und Wasserschäden) im preußi- 
schen Staate für das Jahr 1906. Berlin, Königliches Statistisches Landesamt, 1907. 
Imp.-4. IV—XLIV—65 SS. M. 3.—. 

Uebersicht, Alphabetische, sämtlicher Ortschaften des Königsreichs Sachsen mit 
Angabe der politischen Gemeinde, der Amtshauptmannschaft, des Amtsgerichts, des 
Standesamts, des Kirchspiels, der Bestellungspostanstalt, der Eisenbahnverkehrsstelle und 
der Dampfschiffshaltestelle sowie der endgültig ermittelten Einwohnerzahl bei der Volks- 
zählung am 1. XII. 1905. Dresden, C. Heinrich, 1907. gr. 8. VI—148 SS. M. 1,25. 


Frankreich. 
Résultats statistiques du recensement général de la population, effectué le 24 
mars 1901. Tome II. III. (Ministère du commerce. Direction du travail. Service de 
recensement.) Paris, Berger-Levrault, 1907. 8. Chaque vol. fr. 10.—. 


` 


Oesterreich-Ungarn. 

Gemeindelexikon der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder. 
Bearb. auf Grund der Ergebnisse der Volkszählung vom 31. XII. 1900. Herausgeg. von 
der k. k. Statistischen Zentralkommission. XII. Galizien. Wien, k. k. Hof- und Staats- 
druckerei, 1907. 4. X—1024 SS. M. 42.—. 

Mitteilungen des statistischen Landesamts des Königreichs Böhmen. Deutsche 
Ausg. VIII. Bd. 2. Heft. Finanzen der größeren Gemeinden für die Jahre 1398 und 
1900. Prag, J. G. Calve’sche k. u. k. Hof- und Univ.-Buchh., 1906. Lex.-8. I’—CXLI 
—126 SS. M. 5.—. 

Mitteilungen, Statistische, über Steiermark. Herausgeg. vom Statistischen 
Landesamte des Herzogtums Steiermark. 17. Heft. Das Findelwesen in Steiermark. Im 
Statistischen Landesamte von Steiermark verfaßt von Otto Wittschieben., Graz, Leuschner 
& Lubensky’s Univ.-Buchh., 1907. Lex.-8. X—118 SS. M. 3.—. 


Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 849 


Statistik, Oesterreichische. Herausgeg. von der k. k. Statistischen Zentral- 
kommission. 79. Bd. II. Heft. Statistik des Sanitätswesens in den im Reichsrate ver- 
tretemen Königreichen und Ländern für das Jahr 1903. Wien, Carl Gerold’s Sohn, 1907. 
gr. 4. II —XXIX—253 SS. M. 8,50. 


Rußland. 


Jokinen (Chefarzt), Zur Sanitätsstatistik der Armee Finnlands während der Jahre 
1881/1906. Berlin, E. 8. Mittler & Sohn, 1907. Lex.-8. XI—248 SS. mit Figuren. 
M. 6.—. 


Schweiz, 


Mitteilungen des statistischen Amtes des Kantons Basel-Stadt. Nr. 10. Die im 
Jahre 1906 im Kanton Basel-Stadt erstellten Neubauten von F. Mangold. Basel, C. F. 
Lendorff, 1907. gr. 8. 35 SS. M. 0,60. 


13. Verschiedenes. 


Böhmert, Viktor (Prof.), Die Entstehung der Gesellschaft für Verbreitung von 
Volksbildung. Zur Ehrung des 70jährigen Hauptbegründers Professor Fritz Kalle in 
Wiesbaden. Berlin, Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung, 1907. kl.8. 20 SS. 
M. 0,25. 

Brugerette, Joseph (Abbé), Die Lehren der Niederlage oder das Ende eines 
Katholizismus. Autorisierte Uebersetzung aus dem Französischen von Ludwig Fahrland. 
Stuttgart, Strecker & Schröder, 1907. 8. 101 SS. M. 1,50. 

Engels, H. (Prof.), Die Not ums Wasser. Vortrag. Dresden, von Zahn & Jaensch, 
1907. gr. 8. 25 SS. M. 1.—. (Neue Zeit- und Streitfragen. Jahrg. 4, Heft 8.) 

Galster (Vizeadmiral a. D.), Genügt unsere Küstenverteidigung? Wilhelmshaven, 
Carl Lohse Nchfl., 1907. gr. 8. 19 SS. 

Hilmer, Hermann, Amerikanische und deutsche Volksbildung. (Ein Vergleich.) 
Vortrag. Leipzig, Teutonia-Verlag, 1907. 8. 38 SS. M. 0,60. 

Hochschulen, Die deutschen. Illustrierte Monographien, herausgeg. von Theodor 
Kappstein. Bd. 1. Freiburg im Breisgau von Fritz Baumgarten. Berlin, Wedekind & Co., 
1907. Lex.-8. 199 SS. M. 4.—. 

Kerschensteiner, Georg, Grundfragen der Schulorganisation. Eine Sammlung 
von Reden, Aufsätzen und Organisationsbeispielen. Leipzig, B. G. Teubner, 1907. gr. 3. 
VI—296 SS. M. 3,20. 

Mengers, Christian, Der Kulturkampf in Vergangenheit und Gegenwart. 
Freie Gedanken eines deutschen Arbeiters, niedergeschrieben für Arbeiter aller Kon- 
fessionen. Mit dem Bildnis des Verfassers. Leipzig, Wigand, 1907. gr. 8. V—62 SS. 
M. 1,50. 

Metzger, H. (Stadt-R.), Städte-Entwässerung und Abwässer-Reinigung. Hand- und 
Hilfsbuch für technische Gemeinde- und Verwaltungsbeamte. Berlin, C. Heymann, 1907. 
Lex.-8. XII—300 SS. mit Abbildungen. M. 7.—. 

Müller, Hugo (Oberlehrer, Darmstadt), Die Gefahren der Einheitsschule für 
unsere nationale Erziehung. Gießen, Alfred Töpelmann, 1907. gr. 8. VIII—142 SS. 
M. 2,40. 

Rost, Hans, Gedanken und Wahrheiten zur Judenfrage. Eine soziale und poli- 
tische Studie. Trier, Paulinus-Druckerei, 1907. gr. 8. 103 SS. M. 1,20. 

Seesselberg, Friedrich, Volk und Kunst. Kulturgedanken. Berlin, Schuster 
& Bufleb, 1907. gr. 8. 246 SS. M. 4,50. 

Spahn, Martin (Prof.), Der Kampf um die Schule in Frankreich und Deutsch- 
land. Kempten und München, Jos. Kösel, 1907. Lex.-8. 33 SS. M. 0,70. 

Stumpi, C., Zur Einteilung der Wissenschaften. Berlin (G. Reimer) 1907. Lex.-8. 
94 SS. M. 3,50. (Aus: Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften.) 

Swierezewski, Stanislaus, Wider Schmutz und Schwindel im Inseraten- 
wesen. 3. erweiterte Aufl. Leipzig (Deutscher Kampf-Verlag) 1907. 8. 89 SS. 
M. 1.—. 

Tolstoj, Graf Leo, Der Weg zur sozialen Befreiung. Aufruf an die russische 
Regierung, die Revolutionäre und das Volk. Herausgeg. von Eugen Heinrich Schmitt. 
Autorisierle Uebersetzung von Albert Skarvan, 1. bis 3. Tausend. Berlin, Franz Wunder 
(1907). 8. 53 SS. M. 0,80. 

Dritte Folge Bd. XXXIII (LXXXVIII). 54 


850 Die periodische Presse des Auslandes. 


Villaret, A., Friedensbewegung, Haager Konferenz, Abrüstungsfrage. Stuttgart, 
Ferdinand Enke, 1907. gr. 8. 20 SS. M. 0,80. 

Walcker, Karl (Priv.-Doz.), Die religiösen und politischen Entwicklungs- 
tendenzen der Kulturwelt. Sondershausen, F. A. Eupel, 1907. gr. 8. XII—66 SS. 
M. 1,50. 

Winterstein, Franz, Polnische Auferstehung. (Polonia rediviva.) Ernste Be- 
trachtungen und Mahnungen. Lissa, F. Ebbecke, 1907. gr. 8. III —92 SS. M. 1,50. 


Barre, André, La menace allemande. Paris, Louis-Michaud (1907). 8. 282 pag. 
fr. 3,50. 

Wassilieff, N. P., La vérité sur les „cadets“. Paris, A. Lanier, 1907. 8. 
fr. 1,50. 

Fraser, John Foster, Red Russia. With 48 full-page plates from photographs. 
London, Cassell and Company, 1907. 8. XII—288 pp. 6/.—. 

Galton, Arthur, Church and State in France, 1300—1907. London, E. Arnold, 
1907. 8. 314 pp. 12/.6. 

Pares, Bernard, Russia and reform. London, Constable, 1907. 8. 592 pp. 10/.6. 


Die periodische Presse des Auslandes, 


A. Frankreich. 
Bulletin de Statistique et de Législation comparée. XXXI’ année, 1907, mars 
Produits des contributions indirectes pendant l’annee 1906. — L’impöt sur les opérations 


de bourse. — ete. 
Journal des Fconomistes. 66° Année, 1907, 15 avril: Théorie de évolution: 


progrès nécessités par la fondation des Etats, par G. de Molinari. — Le mouvement 
financier et commercial, par Maurice Zablet. — La ligne souterraine Nord-Sud de Paris, 


par E. Letourneur. — Lord Goschen (1831—1907), par A. Raffalovich. — ete. 

Journal de la Société de Statistique de Paris. Année 48, 1907, N° 3, Mars: Le 
progrès de Pile de Formose sous la domination japonaise (suite et fin), par Paul Meu- 
riot. — Chronique de statistique judiciaire, par Maurice Yvern®s. — Chronique des 
questions ouvrières et des assurances sur la vie, par Maurice Bellom. — ete. — N° 4, 
Avril: Le peuple algérien. Essais de démographie algérienne, par V. Demontès (analyse 
par E. Levasseur) — La répartition des industries aux États-Unis d’après le Census 
de 1900, par Yves Guyot. — Les émissions et remboursements d’obligations des six 
grandes compagnies de chemins de fer en 1906, par Alfred Neymarck. — Les pensions 
civiles, par Malzac. — ete. 

Réforme Sociale, La. XXVI’ année, n° 32, 16 avril 1907: L’impöt sur le revenu 
à Pétranger et en France, I, par Hubert-Valleroux. — L’action sociale des catholiques 
belges, par Louis Rivière. — Société d’&conomie sociale: les communautés de famille en 
Auvergne, par M"=° Lucie Achalme, avec observations de Georges Blondel, Vicomte 
Combes de Lestrade, Papillon, Hubert-Valleroux, Paul Nourrisson et Frèrejouan du 
Saint. — ete. — n° 33, 1" mai 1907: Le taudis, ses dangers, ses remèdes, par E. 
Cheysson. — L’impöt sur le revenu (dernier article), par Hubert-Valleroux. — Le faux 
libéralisme, A propos d’un livre récent, par Alfred des Cilleuls. — L’oeuvre de 
„L’ouvriere au grand air“ A Chambéry, par le Marquis d’Oncieu de Chaffardon. — ete. 

Revue générale d'administration. XXX” année, 1907, mars: Pensions de retraite 
des employés départementaux et communaux, par Jacques Buzzo. — Le domaine des 
hospices de Paris depuis la Révolution (suite), par Amédée Bonde. — etc. 

Revue internationale de Sociologie. XV° Année, 1907, N° 3, Mars: La méthode 
d’enseignement en économie politique (suite et fin), par Emile Worms. — L’övolution 
de Vintelligenee sous le régime des castes, par Charles Valentino. — Séance de la 
Société de Sociologie de Paris, 13 février 1907: Les types professionnels: le bon juge. 
Communication de Paul Magnaud. Discussion par Emile Worms, Ch. Séré de Rivières, 
Vabb& Clamadieu, B. Roussy, Paul Vibert, Charles Limousin, René Worms, Alfred 
Lambert, — etc. 


Die periodische Presse des Auslandes. 851 


B. England. 


Century, The Nineteenth, and after. No. 363, May 1907: The problem of 
Empire, by Sir Charles Tupper (ex-Prime Minister of Canada). — Will the British 
Empire stand or fall? By J. Ellis Barker. — South African loyalty, by Lord Monk 
Bretton. — Religion and the child, by Havelock Ellis. — The firmness of consols, by 
Hartley Withers. — What to drink, by (Lieut.-Colonel) F. A. Davy. — The pearl 
fishery of Ceylon, by Somers Somerset. — etc. 

Edinburgh Review, The. N° 420, April, 1907: The land question. — Colonial 
preferential tariffs. — Political parties and the country. — etc. 

Journal of the Institute of Bankers. Vol. XXVIII, Part III, March, 1907: Bank 
balance-sheets, by R. H. Inglis Palgrave. — Bankers’ advances on title-deeds to landed 
property, III, by Bernard Campion. — Stamping of securities, by 8. E. Perry. — etc. 
— Part IV, April, 1907: The international money market, by Cornelis Rozenraad. — 
Gilbart lectures, 1907, I and II, by Sir John Paget. — ete. 

Journal of the Royal Statistical Society. Vol. LXX, Part 1, 31* March, 1907: 


Correlation of the weather and crops, by R. H. Hooker. — Statistics of production and 
the census of production act (1906), by G. Udny Yule. — On the representation of 
statistical frequency by a series, by (Prof.) F. Y. Edgeworth., — Prices in commodities 


in 1906, by A. Sauerbeck. — Roumania’s forty years’ progress, 1866—1907, by Leon 
Gaster. — ete. 

teview, The Contemporary. No. 497, May, 1907: The government and its 
problems, by J. A. Spender. — The Spanish people, by Havelock Ellis. — Imperial 


organisation and the colour question, I, by W. Wybergh. — Country schools for town 
children, by J. E. G. de Montmorency. — The Americans in the Philippines, by John 
Foreman. — etc. 


Review, The Economic. Published for the Oxford University Branch of the 
Christian Social Union. Vol. XVII, 1907, No. 2, April: First impressions of India, by 
(Rev.) J. Carter. — Immigration and transmigration, by N. B. Dearle. — Unemploy- 
ment, I, by A. Mercer. — Infant mortality, by L. A. M. Priestley McCracken. — ete. 

Review, The National. No. 291, May, 1907: Some suggestions for a unionist 
policy, by H. O. Arnold Forster. — The failure of liberalism, by Joseph Clayton. — 
Game preservation in East Africa, by Lord Cranworth. — Church and state in France, 
by W. Morton Fullerton. — The Scotch land bill, by the Earl of Erroll. — etc. 

Review, The Quarterly. No. 411, April, 1907 : Labour and socialism in Australia. 
— The income tax. — The colonial conference. — The Irish university question. — 
The prospects of constitutional government in Russia. — ete. 


C. Oesterreich-Ungarn. 
Handels-Museum, Das. Herausgeg. vom k. k. österr. Handels-Museum. Bd. 22, 


1907, Nr. 16: Unruhen und Geschäftsverhältnisse in Rumänien. — Oesterreichisch- 
portugiesische Handelsbezichungen. — ete. — Nr. 17: Unruhen und Geschäftsverhält- 
nisse in Rumänien. — Die Geschäftslage in Rußland. — ete. — Nr. 18: Die Erhöhung 
des Einfuhrzolles und die wirtschaftliche Lage in der Türkei, von Gustay Hertl (Kon- 
stantinopel). — Rumänische Handelsverträge, von Viktor v. Riedl. — etc. — Nr. 19: 
Das neue deutsch-amerikanische Handelsabkommen, von Sigmund Schilder. — Die neuen 
Handelsverträge Serbiens, — etc. 


Mitteilungen, Volkswirtschaftliche, aus Ungarn. Herausgeg. vom königl.-ung. 
Handelsministerium. Jahrg. I, 1906, Heft 3: Organisierung des Exporthandels (Forts. 
u. Schluß). — Der Donau-Theiß-Kanal. — ete. — Heft 4: Die landwirtschaftlichen 
Verhältnisse der Länder der ungarischen Krone und einige wichtigere landwirtschaftliche 
Industriezweige. — ete. — Heft 5/6: Eisen- und Metallindustrie-Ausstellung in Buda- 
pest. — Gewerbe-Unfalls-Statistik. — ete. — Heft 7: Wirtschaftliche und Kulturver- 
hältnisse Budapests. — Die Ernte Ungarns im Jahre 1906. — ete. — Heft 8: Die 
ungarische Eisen- und Metallindustrie. — Statistik der Krankenunterstützungskassen in 
den Jahren 1898—1904. — ete. — Heft 9/10: Gesetzentwurf über die Kranken- und Un- 
fallversicherung der gewerblichen, Fabriks- und Handelsangestellten. — ete. — Heft 11: 
Das ungarische Post-, Telegraphen- und Telephonwesen im Jahre 1905. — ete. — 
Heft 12: Die landwirtschaftlichen Verhältnisse der Länder der ungarischen Krone und 
einige wichtigere landwirtschaftliche Industriezweige im Jahre 1905. — Die ungarischen 


54* 


852 Die periodische Presse des Auslandes. 


Eisenbahnen im Jahre 1905. — Das ungarische Post-, Telegraphen- und Telephonwesen 
im Jahre 1905 (Schluß). — ete. — Jahrg. II, 1907, Heft 1: Die ungarischen Eisen- 
bahnen im Jahre 1905 (Schluß). — Die Aus- und Rückwanderung in Ungarn im Jahre 
1905. — ete. — Heft 2: Das ungarische Versicherungswesen im Jahre 1905. — Das 
ungarische Genossenschaftswesen. — ete. — Heft 3: Der Bergwerk- und Hüttenbetrieb 
in Ungarn. — Die ungarische Forstwirtschaft. — Die öffentlichen Straßen Ungarns. 
— etc. 

Monatschrift, Statistische. Herausgeg. von der k. k. Statistischen Zentral- 
kommission. Neue Folge, Jahrg. XII, 1907, März-Heft: Das österreichische Straßen- 
wesen 1891—1904, von Franz Weyr. — Die zeitliche Verteilung der Verunglückungen 
im österreichischen Bergbau, von Siegfried Rosenfeld. — Die Oesterreicher in den Ver- 
einigten Staaten von Amerika, von H. Fehlinger. — etc. 

Rundschau, Soziale. Herausgeg. vom k. k. Arbeitsstatistischen Amte im Handels- 
ministerium. Jahrg. VILI, 1907, Märzheft: Arbeitszeitverlängerungen in den fabriks- 


mäßigen Betrieben Oesterreichs im IV. Quartale 1906. — Tarifverträge im Deutschen 
Reiche. — Die Hausweberei in Oesterreich nach den Daten der Betriebszählung vom 


3. Juni 1902. — ete. 


F. Italien. 


Giornale degli Economisti. Serie seconda, Anno XVIII, 1907, Febbraio: Appunti 
sui metodi per la rivelazione dell’ andamento del mercato del lavoro, di Riccardo Bachi. 
— Due recenti libri sul commercio internazionale e la politica commerciale, di Augusto 
Graziani. — Sulla funzione revisoria della corte dei conti, di Francesco Vicario. — etc. 


G. Holland. 


Economist, De, opgericht door J. L. de Bruyn Kops. LVI’ jaarg., 1907, April: 
Het ontwerp ziekteverzekeringswet 1907 van een geneeskundig standpunt beschouwd, 
door J. W. Deknatel. — ete. 


H. Schweiz. 

Blätter, Schweizerische, für Wirtschafts- und Sozialpolitik. Jahrg. XV, 1907, 
Heft 2: Postcheck- und Giroverkehr der Schweiz, von Jul. Landmann (Basel). — 
Uebersicht über die Feuerversicherung der Gebäude, sowie des Mobiliars in der Schweiz 
und im Auslande, von (Groß-R.) Kurt Demme (Bern). [Schluß.] — ete. — Heft 3: 
Arbeitsämter und Kollektivstreitigkeiten, von (Vorst. des Arbeitsamtes Rorschach) Jakob 
Lorenz. — ete. 

Monatsschrift für christliche Sozialreform. Jahrg. 29, 1907, April: Der Posi- 
tivismus, von (Prof.) M. Defourny. — Zur Wirtschaftsgeschichte des Kongostaates, von 
Max Büchler (chem. Justizbeamten im Kasai-Distrikt). — Wirtschaftliche Tagesfragen, 
von Sempronius (Wien). — Ueber Arbeiterseelsorge. Briefe an einen städtischen Vikar. 
VIII. Brief, von (Prof.) J. Beck. — ete. 


J. Belgien. 

Revue Économique internationale. 4° Année, 1907, Vol. II, N. 1, Avril: Le ré- 
gime commercial de l’Europe et les États-Unis d'Amérique, par Alexandre von Matle- 
kovits. — La crise des syndicats miniers et siderurgiques allemands, par Albert Haas. — 
Le futur régime des chemins de fer en Russie, par Marcel Lauwick. — La production 
agricole au Japon, par (Prof.) René Gonnard. — ete. 


M. Amerika, 


Annals, The, of the American Academy of Political and Social Science. Vol. 
XXIX, 1907, N°. 2, March: Railway and traffic problems: Public regulation of street 
railway transportation, by Emory R. Johnson. — Prussian railway administration, by 
Ernest S. Bradford. — Prussian railway rate making and its results, by G. G. Huebner. 
— An argument against government railroads in the United States, by William All- 
mand Robertson. — ete. 

Journal of Politieal Economy. (University of Chicago Press.) Vol. 14, 1906, 
N° 10, December: Our trade relations with Latin America, by Burdette Gibson Lewis. 
— Harriet Martineau and the employment of women in 1836, by Edith Abbott. — ete. 
— Vol. 15, 1907, N° 1, January: Employment of women in industries: eigar-making 


Die periodische Presse Deutschlands. 853 


— its history and present tendencies, by Edith Abbott. — The quantitative theory of 
prices, by Albert S. Bolles. — ete. — N° 2, February: Secretary shaw and precedents 
as to treasury control over the money market, by Eugene B. Patton. — Labor in the 
packing industry, by Carl William Thompson. — ete. — N° 3, March: The nature of 
capital and income, by Frank A. Fetter. — The trade-union programme of “Enlightened 
selfishness”, by John Cummings. — ete. — N° 4, April: The tendency of modern com- 
bination, I, by Anna Youngman. — Economic problems in agriculture by irrigation, by 
Henry C. Taylor. — etc. 

Magazine, The Bankers. Vol. LXXII, LXXIII, January to December 1906: 
Trust companies — their organization, growth and management (continued), by Clay Her- 
rick. — A practical treatise on banking and commerce, by G. H. — ete. — Vol. LXXIV, 
January to April 1907: A practical treatise on banking and commerce (continued), by 
G. H. — Trust companies — their organization, growth and management (continued), by 
Clay Herrick. — Farm mortgage loans as investments, by Edgar van Deusen. -— Wall 
Street and Lombard Street, by W. R. Lawson. — Bank direetors, their powers, duties 
and liabilities, by John J. Crawford. — Stock shares of private corporations, by Edgar 
van Deusen. — etc. 

Publications, Quarterly, of the American Statistical Association. New series, 
N° 76, December, 1906: The determination of racial stock among American immigrants, 
by (Prof.) Richard Boeckh. 


Die periodische Presse Deutschlands. 


Alkoholfrage, Die. Vierteljahrsschrift zur Erforschung der Wirkungen des Al- 
kohols. Jahrg. IV, 1907, Heft 1: Die „Trinkfestigkeit‘‘ vom ärztlichen Standpunkt aus, 
von (Dr. med.) Meinert (Dresden). — Antialkoholunterricht in der Volksschule, von 
(Schuldirektor) Karl Kohlstock (Gotha). — Probe einer Alkoholbelehrung in der Unter- 
sekunda eines Gymnasiums, von R, Ponickau (Leipzig). — Die Mitarbeit der evangeli- 
schen Kirche im Kampfe gegen den Alkoholismus, von (Pastor) Ernst Baars (Vegesack). 
— Mithülfe der katholischen Kirche im Kampfe gegen den Alkoholismus, von (Pfarrer) 
Neumann (Mündt bei Titz). — ete. 

Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft. 
Jahrg. 40, 1907, N’ 4: Die Mittel zur Erzielung vollständiger Kapitalrentenbesteuerung 
im neuesten französischen Steuergesetzentwurf und anderen Steuergesetzen, von Eugen 
von Ziegler (Berlin). — ete. 

Archiv für Bürgerliches Recht. Bd. 29, 1906, Heft 1: Der Rechtscharakter des 
gewerblichen Akkordvertrages, von (Privatdozent) Carl Koehne (Charlottenburg). — Preis- 
bestimmung und $ 826 BGB., von Josef Kohler. — etc. — Heft 2: Staatsschuldbuch, 
Staatsschuldentilgung und Treuhänderschaft in Genua im Jahre 1303, von Josef Kohler. 
— ete. — Bd. 30, 1907, Heft 1: Inhaberschuldverschreibungen und Kreationstheorie, 
von (Prof.) Langen (Münster). — Ein Beitrag zur rechtlichen Betrachtung des Girover- 
kehrs, von (Rechtspraktikant) Mez (Müllheim, Baden). — etc. 

Archiv für Eisenbahnwesen. Herausgeg. im Königlich Preußischen Ministerium der 
öffentlichen Arbeiten. Jahrg. 1907, Heft 3, Mai und Juni: Die Eisenbahnen der Erde. 


— Die Betriebssicherheit der Eisenbahnen, von Guillery. — Deutschlands Getreideernte 
im Jahre 1905 und die Eisenbahnen, von Thamer. — etc. 

Archiv, Allgemeines statistisches, herausgeg. von Georg von Mayr. Bd. 7, 
Halbbd. 1, 1907: Die Berechtigung der Moralstatistik, von Georg v. Mayr. — Ueber 


den Anteil germanischer Völker an der Entwicklung der Statistik, von Otto Behre. — 
Methodologisches zur Verwertung der Einkommensteuerstatistik, von E. Huncke. — 
Ueber die Notwendigkeit systematischer Arbeitsteilung auf dem Gebiete der Bevölkerungs- 
(Sozial-) Statistik, von H. Bleicher. (Forts. u. Schluß.) — Zur Methodik und Technik 


statistischer Karten, von Georg v. Mayr. — Kartographische Darstellung der Volks- 
dichtigkeit, von (Prof.) G. H. Schmidt. — Zur Geschlechtsgliederung der städtischen 
und ländlichen Bevölkerung, von W. Feld. — Ueber die spezifische Sterblichkeit der 
beiden Geschlechter, von (Regierungs-R.) L. Knöpfel. — ete. 


Blätter, Volkswirtschaftliche. Jahrg. VI, 1907, N' 8: Philosophie und Statistik, 
von Reinhold Jaeckel (Charlottenburg). — Kindererziehungsrenten, von Borgius. — 


854 Die periodische Presse Deutschlands. 


Welche Form ist für eine Darlehns- und Unterstützungskasse des D.V.V. zweckmäßig? 
Von Bittermann und Wernicke. — ete. — N" 9/10: Volkswirte und Volkswirtschafts- 
lehre in den Sommer-Programmen der deutschen Hochschulen, von (Prof.) K. Thiess 
(Danzig). — Zur Errichtung einer ständigen Ausstellungskommisson für die deutsche 
Industrie, von Erhard Hübener (Berlin). — ete. 

Export. Jahrg. XXIX, 1907, N’ 17: Zur wirtschaftlichen Lage in Rumänien. — 
Die afrikanischen Eisenbahnen (Forts.), von Léon Jacob. —- ete. — N' 18: Das Handels- 


abkommen mit den Vereinigten Staaten. — Die afrikanischen Eisenbahnen (Forts. und 
Schluß), von Léon Jacob. — ete. — N" 19: Zum deutsch-amerikanischen Handelsprovi- 
sorium. — ete. — N’ 20: Der deutsche Außenhandel. — Wirtschaftsverhältnisse in 
Skandinavien. — ete. 


Finanz-Archiv. Zeitschrift für das gesamte Finanzwesen. Jahrg. XXTII, 1906, 
Bd. 2: Die Entwicklung des japanischen Steuerwesens vom Altertum bis zur Gegen- 
wart, von (Prof.) Masao Kambe. — Die Staatsschulden Japans, von (Prof.) Masao Kambe. 
— Aus der englischen Steuerpraxis, von C. H. P. Inhulsen. — Geschichte der Besteue- 
rung des Salzes in Deutschland bis zum Jahre 1867 (Schluß), von Albrecht Offenbächer. 
— Die Entwicklung der direkten Steuern in Elsaß-Lothringen, von Ludwig Gieseke. — 
Die Novelle zum preußischen Einkommensteuer- und Ergünzungssteuergesetz, von Maatz. 
— Die Reichsfinanzreform, von Georg Schanz. — ete. — Jahrg. XXIV, 1907, Bd. 1: Ver- 
waltungskosten im Bereich der Zölle und indirekten Steuern, von Albert Manicke. — 
Die Sanierung der österreichischen Staatsbahnfinanzen, von Gustav Herlt. — Die dänische 
Steuerreform von 1903, von Nic. Hertel-Wulff. — Die oldenburgische Finanzreform 
und insbesondere die neue Einkommensteuer- und Vermögenssteuergesetzgebung, von 
(Ober-Finanz-R.) Joh. Meyer. — Die Novelle vom 21. April 1906 zum sächsischen Ver- 
mögenssteuergesetz vom 2. Juli 1902, von Georg Schanz. — etc. 

Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich. 
Jahrg. 31, 1907, Heft 2: Zur Philosophie der Herrschaft. Bruchstück aus einer Sozio- 
logie, von Georg Simmel. — Zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre. IV. Eine 
Replik, von Ferdinand Tönnies. — Emil Steinbach als Sozialpbilosoph, von Leo Witt- 
mayer. — Das Rentenprinzip in der Verteilungslehre, II, von Joseph Schumpeter. — 
Das Geldsystem des Großherzogtums Luxemburg, von Albert Calmes. — Organisation, 
Lage und Zukunft des deutschen Buchhandels, zugleich ein Beitrag zur Kartellfrage, II, 
von August Koppel. — Ueber Arbeitslosenversicherung und Arbeitsnachweis, II, von 
K. Oldenburg. — Die Entartungsfrage in England, von Heinrich Herkner. — etc. 

Jahrbücher, Landwirtschaftliche. Bd. XXXVI, 1907, Heft 2: Untersuchungen 
über den Einfluß der Ernährung auf die Milchsekretion des Rindes, von (Prof.) W. 
von Knieriem und (Dozent) A. Buschmann. — Ein Beitrag zur Kenntnis der Korre- 
lationen im pflanzlichen Stoffwechsel, von B. Hansteen. — Arbeiten aus dem landwirt- 
schaftlichen Institut der Universität Königsberg i. Pr., Abteilung für Pflanzenbau. 
1. Mitteilung. Eine chemische Bodenanalyse für pflanzenphysiologische Forschungen, 
von Eilhard Alfred Mitscherlich. 

Jahrbücher, Preußische. Bd. 128, Heft 2, Mai 1907: Kiautschau, von Aug. 
Menge (Tokio). — Die letzten Reichstagswahlen und die Zukunft der Sozialdemokratie, 
von Robert Jaffe (Charlottenburg). — Die Grundwertsteuer und die Wohnungsreformer, 
von (Justiz-R.) Georg Baumert (Spandau). — ete. 

Industrie-Zeitung, Deutsche. Jahrg. XXVI, 1907, N" 16: Die Großbanken 
im Jahre 1906 (Schluß), von Steinmann-Bucher. — Denkschrift über das Kartellwesen, 
von ©. Ballerstedt. — ete. — N’ 17: Der Achtstundentag in französischen Staats- 
betrieben, von O. B. — ete. — N’ 18: Präsident Roosevelt und die „Verstaatlichung“ 
der Kohlenfelder. — ete. — N’ 19: Das deutsch-amerikanische Handelsabkommen. — etc. 
— N' 20: Das neue preußische Berggesetz, von O. B. — Einnahme und Verdienst in 
den Vereinigten Staaten von Amerika im Jahre 1906. — ete. 

Mitteilungen des Handelsvertragsvereins. (Jahrg. 6) 1907, N’ 8: Die Verlänge- 
rung des Handelsprovisoriums mit den Vereinigten Staaten, von M. Nitzsche. — Die 
wirtschaftlichen Bedenken gegen eine staffelfürmige Mühlenumsatzsteuer, von M. — ete. 
— N" 9: Die deutsch-spanischen Handelsbeziehungen, von Rud. Breitscheid. — Deutsch- 
land und Kanada, von Max Nitzsche. — ete. 

Monats-Hefte, Sozialistische. Jahrg. XIII, 1907, Mai: Die Stellung der sozial- 
demokratischen Partei zur sozialpolitischen Gesetzgebung, von Johannes Heiden. — 
Wann wird die Sozialdemokratie das Agrarproblem in Angriff nehmen? Von August 


Die periodische Presse Deutschlands. 855 


Müller. — Kartelle und Sozialdemokratie, von Richard Calwer. — Die gegenwärtige 
Lage des amerikanischen Gewerkschaftswesens, von Morris Hillquit. — Trinkgeld und 
Lohn, von Hugo Poetzsch. — etc. 

Oekonomist, Der Deutsche. Jahrg. XXV, 1907, N" 1269: Die auswärtige 
Politik und die wirtschaftlichen Aussichten. — ete. — N" 1270: Ueber Spekulation und 
Kapitalanlage in Wertpapieren. — ete. — N’ 1271: Ueber die Grundlagen und Aus- 
sichten der industriellen Konjunktur, — ete. — N" 1272: Die Politik unter dem Ge- 
sichtspunkte der Geschäftswelt. — ete. — N" 1273: Reform des Scheckwesens ohne 
Scheckgesetz, von F. Maeder (Iserlohn). — ete. 

Plutus. Jahr 4, 1907, Heft 17: Trust oder Kartelle? III. Der Nutzen der 
Begriffsverwirrung, von G. B. — ete. — Heft 18: Patentgesetz, Entwurf zu einem dem 
Deutschen Reichstag vorzulegenden Gesuch um Aenderung des deutschen Patentgesetzes, 
von (Patentanwalt) Georg Neumann (Berlin). — ete. — Heft 19: Die englische Garten- 
stadt-Bewegung, von Erich Eyck (Berlin). — Trust oder Kartell? IV. (Schluß.) Der 
Zwerg und das Riesenproblem, von G. B. — ete. — Heft 20: Gewinnsteuer auf Patente, 
von (Prof.) E. Budde (Charlottenburg). 

Rechtsschutz, Gewerblicher, und Urheberrecht. Jahrg. 12, 1907, N’ 4: Ent- 
wurf einer Novelle zum Patentgesetz nebst Motiven, von (Rechtsanwalt) Richard Alexander- 
Katz. — etc. 

Revue, Deutsche. Jahrg. 32, 1907, Mai: Was ist sozial? Von Herzog Ernst 
Günther von Schleswig-Holstein. — Der Seehandel, das Seekriegsrecht und die Haager 
Friedenskonferenz, von Freiherrn von Schleinitz. — Die Agrarunruhen und das Mini- 
sterium Sturdza in Rumänien, von Rudolf Graf Waldburg. — ete. 

Revue, Politisch-Anthropologische. Jahrg. VI, N' 2, Mai 1907: Houzes Kritik der 
Gesellschaftsanthropologie, von Georges de Lapouge. — Ueber den Einfluß der Blut- 
mischung auf die Charakterzucht hervorragender Männer, von Albert Reibmayr. — ete. 

Revue, Soziale. (Essen-Ruhr.) Jahrg. VII, 1907, Quartalsheft II: Das unehe- 
liche Kind in den größeren Städten, von Hans Rost (Augsburg). — Zur Frage des Be- 
sitzwechsels und der Entschuldung des ländlichen Grundbesitzes, von (Prof.) Martin 
Fassbender (Berlin). — Die soziale Tätigkeit der Stadtgemeinde Essen, von T. Kellen 
(Essen). [Schluß.] — Die Förderung des gewerblichen Mittelstandes, von Anton Retz- 
bach (Freiburg). — Zum Kampf gegen den Alkoholismus im Jahre 1906, von F. Keller 
(Heimbach, Baden). — Die neueste Entwiekelung von Sozialdemokratie und Liberalis- 
mus. Die Sozialpolitik im neuen Reichsfag, von Hermann Flamm (Freiburg i. B.). 
— ete. 

Rundschau, Masius’. Blätter für Versicherungswissenschaft. Neue Folge. 
Jahrg. XVIII, 1906, Heft 7—12: Die Todesursachen bei den Versicherten der Gothaer 
Lebensversicherungsbank, auf Grund der Beobachtungen von 1829—1896, von R. Goll- 
mer (Gotha). — Die deutsche Lebensversicherung im Jahre 1905. — Die Neuregelung 
des preußischen Knappschaftswesens, von Fr. W. Günther. — Fünfter internationaler 
Kongreß für Versicherungs-Wissenschaft. — Der Versicherungsbegriff, von A. Emming- 
haus (Gotha). — Der 4. internationale Kongreß für Versicherungsmedizin und seine Er- 
gebnisse speziell für die Lebensversicherung. — etc. — Jahrg. XIX, 1907, Heft 1: 
Zum Gesetzentwurf über den Versicherungsvertrag und zur Feuerversicherung, von 
A. Langhans. — ete. — Heft 2: Der neue schweizerische Gesetzentwurf über die Kran- 
ken- und Unfallversicherung. — etc. — Heft 3 u. 4: Das luxemburgisch-belgische und 
das belgisch-französische Abkommen über Unfallversicherung, von Fr. W. Günther. — 
Die Vereinsversicherungsbank für Deutschland, von Mehliss. — Kritische Bemerkungen 
zu der neuen Haftpflichtvorsorgeversicherung der Viktoria, von M. Sachse (Köln). -— ete. 
— Heft 5: Private Pensions-Einrichtungen für Privatbeamte. — Zur Frage der Feuer- 
lösch-Steuer, von A. Langhans. — etc. 

Wirtschafts-Zeitung, Deutsche. Jahrg. III, 1907, N’ 9: Unsere handels- 
politischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, von Max Nitzsche. — Die gegen- 
wärtige wirtschaftliche Lage und die Aussichten für die Fortdauer der Hochkonjunktur, 
von (Prof.) L. Pohle. — Die Mittel zur Bekämpfung der Geldnot (Schluß), von Ludwig 
Bendix. — Deutschlands chemische Industrie im Anfang des 20. Jahrhunderts, von 
H. Grossmann (Berlin). — Ein Beitrag zur Frage der Streikklausel (Schluß), von Walter 
Abelsdorff (Berlin). — ete. 

Zeit, Die Neue. Jahrg. 25, 1907, N" 29 u. 30: Positive Leistungen der Sozial- 
demokratie, ein Beitrag zur Geschichte der Gesetzgebung, von Hermann Molkenbuhr. 


856 Die periodische Presse Deutschlands. 


(Forts. u. Schluß.] — ete. — N" 31: Die Konjunktur, von Rudolf Hilferding. — ete. 
— N' 32: Rententheorie und Kapitalgewinn, von Julius Deutsch. — ete. 

Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Kolonialwirtschaft. Herausgeg. 
von der Deutschen Kolonialgesellschaft. Jahrg. IX, 1907, Heft 4, April: Der Wasser- 
weg zum Nyassasee, von (Kpt.) M. Prager. — Parlamentarische Studienfahrt nach Deutsch- 
Öst-Afrika (Schluß), von (Amtsgerichts-R.) Schwarze. — Südwest-Afrika eine Sand- 
wüste?? Von (Oberregier.-R. a. D.) Boehm. — Die Handelsbeziehungen zwischen 
Deutschland und Portugal, speziell in Kolonialprodukten, von Carl Singelmann (Braun- 
schweig), — Die Eisenbahnen im östlichen Kongostaat, von D. Kürchhoff. — Koloniale 
Probleme: B. Kleinkolonisation oder Plantagenbetrieb in Ostafrika? Von (Prof.) C. Ballod. 
— Die Bekämpfung der Malaria, von L. Sofer. — etc. 

Zeitschrift für Sozialwissenschaft. Jahrg. X, 1907, Heft 5: Die Gebiete der 
offenen Tür in der Weltwirtschaft, von Sigmund Schilder (Wien). — Heiratsbeschrän- 
kungen, II (Schluß), von Max Marcuse (Berlin). — Der Selbstmord bei den afrikanischen 
Naturvölkern, I, von (Dozent) S. R. Steinmetz (Utrecht). — Die Arbeiterversicherungs- 
gesetze in der russischen Montanindustrie, von Paul Martell (Berlin). — etc. 

Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. Jahrg. 63, 1907, Heft 2: Wege 
und Abwege der Steuerpolitik, von Georg v. Mayr. — Die Reform der direkten Steuern 
in Frankreich, von P. G. Hoffmann. — Die geschichtliche Entwickelung der deutschen 
Arbeitgeberorganisation, von Gerhard Kessler. — Volks- und Pensionsversicherung 
und die Vereinsversicherungsbank für Deutschland, von (Regierungs-R.) Seidel (Allen- 
stein). — Ergebnisse des V. Internationalen Kongresses für Versicherungswissenschaft, 
von Gerhard Wörner. — ete. 

Zeitschrift des Königlich Preußischen Statistischen Landesamts. Ergänzungs- 
heft XXVI. Mitteilungen zur deutschen Genossenschaftsstatistik für 1905. Bearb. von 
(Prof.) A. Petersilie. 

Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft. Bd. XXVI, 1906, Heft 3: 
Literaturbericht. — Heft 4/5: Die Reform der Untersuchungshaft, von (Landgerichts-R.) 
Werner Rosenberg (Straßburg i. E.). — ete. — Heft 6: Das Finanzstrafrecht, von (Re- 
gierungs-R.) Kurt Dronke (Königsberg). — Vier Jahre Fürsorgeerziehung in Preußen, 
von (Prof.) Kohlrausch. — ete. — Heft 7/8: Das richtige Recht, von (Prof.) J. Maka- 
rewicz (Krakau). — ete. — Bd. XXVII, 1907, Heft 1: After Prison — What? by 
Maud Ballington Booth. — Der Determinismus und die Verantwortlichkeit der Mensched 
für ihre Handlungen, von (Beichsgerichts-R. a. D.) Petersen (München). — Die Sozial- 
demokratie und die Strafrechtsreform, von Franz Dochow (Heidelberg). — etc. — Heft 2: 
Amerikanische Kriminalpolitik, von Prof. B. Freudenthal (Frankfurt a. M.). — ete. — 
Heft 3: Literaturbericht. — Heft 4.5: Die Kriminalstatistik für das Deutsche Heer 
und die Kaiserliche Marine, Teil I. II, von (Kriegsgerichts-B.) Heinrich Dietz (Rastatt). 
— ete. — Heft 6: Die Umgrenzung eines Verbrechenschutzrechtes, eine Verteidigung, 
von (Prof.) Thomsen. — Die Bejahung der jeweiligen Staats- und Rechtsordnung durch 
den Anarchismus als Grundlage für die Strafrechtsreformbestrebungen der Anarchisten, 
von Harald Gutherz (Berlin). — ete. 

Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft. Bd. VII, 1907, Heft 2: 
Die Bedeutung der drahtlosen Telegraphie für die Versicherung, insbesondere die See- 
versicherung, von (Oberleutnant) Lodemann (Berlin). — Der Einfluß der Dimensionen 
des Feuerrisikos auf den Prämiensatz, von (Prof.) Serge von Savitsch (St. Petersburg). 
— Die dentsche Viehversicherung in ihren Hauptformen, von (Versicherungsrevisor) Her- 
mann Ehrlich (Berlin). — Die englische Arbeiter-Unfallversicherung nach der Novelle 
zum Haftpflichtgesetz, von Henry W. Wolff (London). — Der Einfluß des künftigen 
Reichsgesetzes über den Versicherungs-Vertrag auf die bestehenden Versicherungsbedin- 
gungen, von (Justizrat) Stefan Gerhard (Berlin). — Beitrag zur Zinstheorie, von (Privat- 
dozent) J. V. Pexider (Bern). — Zur Verteidigung der Haftpflichtgarantie-Versicherung, 
von (Direktor) Hans Kohl (Berlin). — etc. 


Frommannsche Buchdruckerei (Hermann Pohle) in Jena. 


- ma — 


INN 
32101 067873487